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Angst vor Protesten bei Tour de France: Gefahr von den Rändern - taz.de
Angst vor Protesten bei Tour de France: Gefahr von den Rändern Die Tour de France kehrt nach Frankreich zurück. Mit den Unruhen im Land wächst die Sorge, die Rundfahrt könnte Ziel von Protesten werden. Noch auf dem Weg nach Frankreich: das Peloton auf der zweiten Etappe im Baskenland Foto: Stephane Mahe/reuters Die Probleme der Heimat holen die Tour de France ein. Bereits beim Grand Depart im spanischen Bilbao waren Menschen zu sehen, die mit einem großen Transparent am Rande der Rennstrecke „Gerechtigkeit für Nahel“ einforderten. Nahel ist der Jugendliche, der letzten Dienstag während einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre von einem Polizisten erschossen wurde. Der 17-Jährige wurde mittlerweile beerdigt. Aber in vielen Städten Frankreichs gingen Menschen auf die Straße und protestierten gegen Polizeigewalt und rassistische Vorurteile bei den Ordnungskräften. In den letzten Tagen nahm die Quantität der Proteste offenbar ab, die Qualität der Gewalt nahm aber zu. In zwei Städten, der Hauptstadt Paris und der südfranzösischen Stadt Nîmes, wurden Projektile auf Polizisten abgefeuert. Allein in der Nacht von Samstag auf Sonntag wurden nach einem Bericht des Innenministers 719 Personen festgenommen und 45 Polizisten verletzt. Die Sorge geht um, dass auch die Tour de France zum Ziel von Protesten und Ausschreitungen wird. „Wir stehen, wie jedes Jahr, in permanentem Austausch mit den Sicherheitsbehörden in allen Departments, durch die die Tour de France führt. Wir beobachten die Situation mit großer Aufmerksamkeit“, sagte Christian Prudhomme, Direktor vom Tourorganisator ASO. 28.000 Polizisten sind ohnehin zum Schutz des größten Radrennens der Welt mobilisiert. 300 Polizisten sind als ständige Begleiter dabei. Genau das allerdings könnte die Tour zu einem besonderen Ziel machen. Denn es war ja ein Polizist, der den Todesschuss abfeuerte. Die Veranstalter wollten keine Auskünfte zu besonderen Sicherheitsmaßnahmen geben. Traditionell hat die Tour eine Säuberungstruppe, die vor der Durchfahrt von Werbekarawane und Peloton politisch motivierte Parolen von der Straße tilgt. Sie soll auch etwaige Hindernisse entfernen und Gefahrenstellen wie Öllachen, die im letzten Moment entstanden, beseitigen. Reißzwecken auf dem Asphalt Nicht immer klappt das. Etwa zwei Dutzend Fahrer erlitten bei der 2. Etappe am Sonntag einen Platten, weil Unbekannte Reißzwecken auf den Asphalt gestreut hatten. Das führte zu wütenden Reaktionen von Fahrern. „Danke für diesen neuen Beweis für menschliche Dummheit. Man kann stürzen und sich schwer verletzen, ihr Idioten“, twitterte der französische Profi Lilian Calmejane. Die meisten Reißzwecken waren offenbar zwar am Fuße des Anstiegs zum Jaizkibel, dem letzten Berg des Sonntags, verstreut. Am Berg ist man langsamer, das Gefahrenpotenzial nicht ganz so groß. Einige Fahrer hatten aber einen schleichenden Plattfuß und bemerkten erst auf der Abfahrt, dass sich ihr Hinterreifen mit schwindender Luft anders in den Kurven verhielt. Wer der Verursacher war und welche Motive dahinterstecken mögen, ist ungeklärt. Der Vorfall zeigt die Verletzlichkeit der Tour de France. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu derartigen Störungen. 2012 bremsten Reißzwecken unter anderem den Mann in Gelb, Bradley Wiggins, und den Toursieger des Vorjahres, Cadel Evans, aus. 1996 gab es Nägel auf der Fahrbahn, ebenfalls 1992, beim letzten Start im spanischen Baskenland. Ob es beim Vorfall am Sonntag eine Verbindung zu den Protesten um den Tod von Nahel gibt, ist unbekannt. Dennoch wächst die Anspannung angesichts der Rückkehr der Tour ins Heimatland. Die Reaktionen der Fahrer sind unterschiedlich. „Ich habe nicht mal etwas davon mitbekommen. Ich konzentriere mich hier auf das Rennen“, sagte Adam Yates, der Mann im Gelben Trikot. Französische Profis hingegen geben zu, dass sie die Nachrichten durchaus beunruhigen. „Wir sind auch Bürger, nicht nur Radfahrer“, sagte Cofidis-Profi Guillaume Martin. Die Polizei macht, was in ihrer Logik liegt: Sie rüstet technisch auf. In Bordeaux und Libourne etwa, Etappenstädte am Freitag und Samstag, will das Centre opérationnel départemental (COD) der dortigen Polizei Drohnen fliegen lassen.
Tom Mustroph
Die Tour de France kehrt nach Frankreich zurück. Mit den Unruhen im Land wächst die Sorge, die Rundfahrt könnte Ziel von Protesten werden.
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Erneuerbare Energien fördern: Sechs Punkte für den Ausstieg - taz.de
Erneuerbare Energien fördern: Sechs Punkte für den Ausstieg Umwelt- und Wirtschaftsministerium einigen sich auf einen neuen Rahmen für die Energiepolitik. Zugleich stoppen die Atomkonzerne Zahlungen an den Ökofonds. Bund und Länder wollen sich gemeinsam um neue Standorte für Windanlagen bemühen Bild: dpa Mit einem 6-Punkte-Plan haben Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) den neuen Rahmen für die Energiepolitik der Bundesregierung abgesteckt. Grundsätzlich Neues ist darin freilich nicht zu finden - aber auch das ist einen Monat nach Beginn der Probleme im japanischen Atomkraftwerk Fukushima eine interessante Meldung. Im Zusammenhang mit dem Atomausstieg sollen vor allem die erneuerbaren Energien stärker gefördert, Stromnetze und Speicher ausgebaut und die Energieeffizienz erhöht werden. Bund und Länder wollen sich gemeinsam um neue Standorte für Windanlagen bemühen; ein 5-Milliarden-Euro-Sonderprogramm soll den Ausbau der Offshore-Windkraft beschleunigen. An Land will man das sogenannte Repowering forcieren, den Austausch älterer Anlagen durch moderne und oft leistungsstärkere Maschinen. Zügig ausgebaute Stromnetze sollen den Windstrom aus dem Norden in die Industriezentren transportieren. Das ist aber ebenso wenig neu wie die Idee, intelligente Netze zu schaffen, damit Endkunden den Verbrauch - wenn möglich - auf Zeiten verlagern, in denen das Angebot groß und die Nachfrage gering ist, und so den Bedarf an Stromspeichern verringern. Die konventionellen Kraftwerke sollen flexibler werden, um Schwankungen bei den erneuerbaren Energien auszugleichen. Das ergibt sich allerdings fast zwangsläufig, wenn Atommeiler durch dezentralere Kraftwerke ersetzt werden. Zudem soll auch die Forschung stärker auf Alternativen zur Atomkraft ausgerichtet werden. Da ein beschleunigter Atomausstieg weniger Energieverbrauch erfordert, wenn der CO2-Ausstoß nicht steigen soll, will die Regierung auch ihr Gebäudesanierungsprogramm auf 2 Milliarden Euro aufstocken. "Logische Folge des Moratoriums" Zugleich wurde am Wochenende bekannt, dass die Betreiber der Atomkraftwerke ihre Zahlungen in den Ökofonds wegen des dreimonatigen Moratoriums der Bundesregierung für ältere AKWs eingestellt haben. Damit sollte ein Teil der Zusatzgewinne abgeschöpft werden, die den Konzernen aus der 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerung erwachsen.. Bei EnBW hieß es, der Stopp sei "logische Folge des Moratoriums". Ein RWE-Sprecher sagte, das Unternehmen werde seine Raten "bis zur Klärung des Moratoriums auf ein Sonderkonto zahlen". Unterdessen ist das Tempo des Ausstiegs weiterhin unklar. Manche Koalitionäre möchten die Atomkraft bis weit ins nächste Jahrzehnt hinein nutzen. Es sei "unrealistisch, 2022 das letzte Kernkraftwerk vom Netz zu nehmen", sagte FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Einen überraschenden Kurswechsel in der Endlagerfrage vollzog am Wochenende die Niedersachsen-FDP: Neben der Erkundung des Salzstocks Gorleben soll "umgehend" mit der Suche nach Alternativen begonnen werden. Dabei sollen "alle technisch und physikalisch möglichen Aufbewahrungskonzepte geprüft werden", auch eine Lagerung über Tage.
Bernward Janzing
Umwelt- und Wirtschaftsministerium einigen sich auf einen neuen Rahmen für die Energiepolitik. Zugleich stoppen die Atomkonzerne Zahlungen an den Ökofonds.
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Amiland is calling... - taz.de
Amiland is calling... ■ 7.300 Kilometer unterseeische Kabel für transatlantische Plauderei Amiland is calling... 7.300 Kilometer unterseeische Kabel für transatlantische Plauderei „Als säße man sich gegenüber“ — mit solchen Urteilen belegen Telfon-KundInnen und technische Fachleute der Deutschen Bundespost Telekom das neue Transatlantikkabel, das seit einigen Wochen in Betrieb ist. Es ist das zehnte Kabel, das Europa mit der „Neuen Welt“ verbindet, aber das erste, das direkt zwischen Deutschland und den USA verlegt wurde — zwischen der ostfriesischen Stadt Norden und Greenhill im US-Bundesstaat New Jersey. Etwa ein Jahr haben die Techniker gebraucht, um das Transatlantikkabel TAT 10, das nur zwei Zentimeter Durchmesser hat, im Meeresboden einzugraben oder zu verankern. Insgesamt ist es rund 7.300 Kilometer lang. Zwei Glasfaserpaare ermöglichen 60.000 Telefongespräche gleichzeitig. Mit der Glasfasertechnik in bis zu 6.500 Meter Tiefe können aber auch alle anderen Fernmeldedienste — beispielsweise Computerdaten, Telex, Fotos — übertragen werden. An dem Projekt sind 39 weltweit tätige Ferndemeldegesellschaften aus 28 Ländern beteiligt. Auch Japaner gehören dazu, die Telefonverbindungen zwischen Europa und ihrem Heimatland über Amerika vermitteln. Nach Angaben des Telekom-Vorstandes stieg die Nachfrage so unerwartet und schnell, daß unverzüglich zusätzliche Telefonkapazität mit den USA geschaffen werden mußte. Ursachen dafür sind die deutsche Vereinigung und die allgemeine Öffnung osteuropäischer Länder. Rund 500 Millionen Mark kostet das Transatlantikkabel einschließlich Verlegung. Allein Telekom zahlt dafür 100 Millionen Mark. Doch dabei wird es nicht bleiben: Die Gesellschaften haben bereits die Einrichtung eines zweiten Kabels TAT 11 vertraglich beschlossen, das die Verbindung zwischen Frankreich und England einerseits und den USA andererseits herstellt. Wer nun von irgendeinem Ort in Deutschland in die USA telefonieren will, braucht nur normal zu wählen. Der Stromimpuls wird automatisch über die Seekabelendstelle in Norden und von dort durch das Kabel nach Amerika geführt. Sollte das Transatlantikkabel voll besetzt sein, wird das Gespräch automatisch über Satelliten geleitet. Da Telefonsatelliten aber 36.000 Kilometer über der Erde stationiert sind, spricht man „rauf und runter“ über einen 72.000 Kilometer langen Umweg miteinander. Das ist etwa das Zehnfache der Kabellänge, woraus sich ein störendes Echo ergibt. Dietrich Wieland/dpa
dietrich wieland
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Die Wahrheit: Der Gesang der Schnitzelbrötchen - taz.de
Die Wahrheit: Der Gesang der Schnitzelbrötchen Was, wenn ausgerechnet der Sohn des Metzgers die Spitzengrillprodukte seines Vaters verabscheut und den Laden nicht übernehmen will? Coolness war das Wichtigste für Bennie und seine Freunde. Selbstverständlich wollten sie den Planeten retten, aber wenn der Globus am Ende doch in einem großen Feuerball verglühen sollte, wollten sie dabei wenigstens cool bleiben: Gerade so, als ob sie das alles nichts anging. Besonders cool wirkten sie allerdings nicht, als sie ins Café Gum hereinstürmten, eher wie die panischen kleinen Schweinchen auf der Flucht vor dem bösen Wolf. „Was ist los?!“, rief Luis seinem Sohn zu. „Hier!“, keuchte Bennie und schob Kalli nach vorne: „Ihr müsst ihm helfen!“ – „Helfen?“ – „Ja“, rief Bennie: „Jetzt!“ Kalli war der Sohn des Bio-Metzgers vom Goetheplatz, und Oxer, der Metzger, ging davon aus, dass Kalli den Laden später mal übernehmen würde. Anders als Oxer, der so aussah, als ob er den Sauen, die er zu Schnitzeln verarbeitete, mit seinen bratpfannengroßen Händen höchstselbst den Hals umdrehte, war Kalli indes eher klein und zart. Vor allem aber verabscheute er Schnitzel. „Oxer hat auf einer Schnitzelmesse die ideale Schwiegertochter gefunden“, keuchte Bennie: „Eine Metzgerstochter aus Bielefeld, die ihm grillmäßig krass passt.“ – „Er will was?! Er will Kalli verheiraten?“, rief Raimund: „Aber das ist ja total mittelalterlich!“ – „Phhh … einem Grillriesen ist das echt egal!“ – „Außerdem“, zischte Luis Raimund zu, „hätte sich das Problem längst erledigt, wenn du und die anderen Fleischfresser mal aufgehört hättet, totes Tier zu vertilgen und bei ihm einzukaufen.“ „Stimmt ja“, sagte Raimund gequält, „aber seine Schnitzelbrötchen sind ’ne Wucht! Wenn der Duft der frischen Schnitzel über den Goetheplatz zieht, folge ich dem willenlos bis an seine heiße Theke.“ Draußen hörten wir Holzpantinen klappern. „Er kommt!“, kreischte Bennie, und Raimund griff sich unwillkürlich an die Kehle, als spüre er bereits den Bratpfannengriff. Sogar Luis wich zwei Schritte zurück. Nur Petris, Gumwirt, Grieche und Stoiker, nahm Kalli am Arm, schob ihn ins Bierlager und schloss die Tür. Sekunden später kam Oxer rein. „Wo ist Karl?!“, schnaubte er. „Nicht hier“, entgegnete Petris bestimmt. „Lass mich durch, warum versperrst du den Weg in dein Bierlager?“ Doch Petris trat nicht zur Seite. Er verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte ihn wie ein Schlangenbeschwörer. Wir kniffen die Augen zusammen, weil Oxer Petris im nächsten Moment zu Bifteki verarbeiten würde. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen ließ Petris den Schlachter durch pure Willenskraft auf Zwergengröße zusammenschnurren, und Oxer sagte: „Hm … na, dann geh ich wieder.“ Und verschwand. Bennie und seine Jungs hingegen erklärten die Griechen zum coolsten Volk der Welt, und Kalli verstand den Wink des Schicksals, nahm den Bus nach Athen und versuchte dort sein Glück mit einer veganen Gyrosbude. Aber so cool waren die Griechen dann doch nicht. Die Wahrheit auf taz.de
Joachim Schulz
Was, wenn ausgerechnet der Sohn des Metzgers die Spitzengrillprodukte seines Vaters verabscheut und den Laden nicht übernehmen will?
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Kubas ehemaliger Staatspräsident. 13. August 1926 – 25. November 2016: Fidel Castro - taz.de
Kubas ehemaliger Staatspräsident. 13. August 1926 – 25. November 2016: Fidel Castro Foto: Javier Galeano ap Von Jean-Paul Sartre Castro hat mir einmal gesagt, dass er Revolutionär aus Berufung sei, und als ich ihn fragte, was er darunter verstehe, sagte er: „Weil ich die Ungerechtigkeit nicht ertragen kann.“ Er gab mir Beispiele, die er aus seiner Kindheit und aus seiner Jugend schöpfte. (...) Was mir an dieser Antwort gefiel, war, dass dieser Mann, der sich für ein ganzes Volk geschlagen hatte (...), mich zunächst mit seiner persönlichen Empörung, mit seinem privaten Leben bekannt machte. Er habe sich nie etwas gefallen lassen, sagte er mir. Er habe Streich um Streich zurückgegeben, und zwar so, dass man ihn beinahe von der Schule gejagt hatte. Ich stellte ihn mir mit 15 Jahren vor, ein kleiner Streithans, ein kleiner Rowdy, unbezähmbar und sicher verloren. Dieser Sohn eines Zuckerrohrfarmers, Internatsschüler in Santiago, verbrachte seine Ferien auf „Manacas“, dem Besitz seines Vaters. (...) Fidel hoffte damals, durch die Wissenschaft aus der Verlegenheit zu entrinnen. Sie sollte ihm ihre Fackeln leihen. (...) Dann würde er das Vipernnest in seinem Innern ausrotten können, die dunkle Gewalttätigkeit, an der er erstickte. Er zog nach Havanna, er studierte und wurde enttäuscht. Er lernte, dass Worte leer sind. Die Professoren redeten vor jungen Leuten, die sich um die Zukunft sorgten. Aber sie sagten in Wirklichkeit nichts. (...) Damals, so scheint mir, war es, dass er seinen tiefsten Gedanken, die unleugbare Quelle all seiner späteren Taten, aussprach: Wie wichtig auch die objektiven Verhältnisse des Lebens sein mögen – die Übel, von denen die Menschen heimgesucht werden, kommen von nirgendwo anders her als von anderen Menschen. Jean-Paul Sartre, französischer, 1980 verstorbener Philosoph, reiste 1960 mit seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir durch Kuba. Sie fuhren dort mit Fidel Castro durchs Land
Jean-Paul Sartre
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Siegerentwurf für Mühlendammbrücke: Zeitgenössisch gerundet - taz.de
Siegerentwurf für Mühlendammbrücke: Zeitgenössisch gerundet Die neue Mühlendammbrücke soll verkehrswendegerecht sein – und etwas hermachen. So richtig deutlich wird der Unterschied aber noch nicht. Foto: Arup/COBE, SenUVK Breit, flach und grau überspannt sie die Spree, die Mühlendammbrücke unweit des Nikolaiviertels. MobilitätsaktivistInnen schelten das täglich von Zigtausenden Autos überquerte Bauwerk schon lange als Quasi-Autobahn – aber nicht deshalb will die Verkehrsverwaltung sie bis 2028 neu bauen lassen: Der Spannbeton ist marode, und eine Notsperrung wie im Fall der Treptower Elsenbrücke will man hier unbedingt vermeiden. Seit die Pläne bekannt wurden, gab es eine Menge Zoff, vor allem zwischen Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) und dem Stadtrat von Mitte, Ephraim Gothe (SPD). Gothe wollte – wie viele BürgerInnen – eine viel schmalere Brücke, die – neben der geplanten Tram vom Alex zum Potsdamer Platz – nur noch Raum für eine einzige Kfz-Spur bieten sollte. Vom Verein Changing Cities kam die Anregung, wie vor dem Krieg ein Gebäude auf die neue Brücke zu setzen, am besten ein BürgerInnenforum. All das war mit der Senatsverwaltung nicht zu machen, weil sie ein neues Planfeststellungsverfahren vermeiden wollte. Der Kompromiss: Die Maße ändern sich nur wenig, anfangs fahren die Autos noch zweispurig pro Richtung, je eine Spur wird nach Inbetriebnahme der Tram und der erwarteten Abnahme des Kfz-Verkehrs später zurückgebaut. Die Verwaltung lobte ein „europaweites, nichtoffenes Wettbewerbsverfahren“ aus, um auch etwas Schickes an dieser Stelle bauen zu können. Nun steht der Siegerentwurf fest: Er stammt vom Berliner Ingenieurbüro Arup Deutschland GmbH und den Architekten von COBE A/S aus Kopenhagen. Letzterer ist vielversprechend, denn die dänische Hauptstadt steht für smarte zeitgenössische Architektur und mutige Verkehrslösungen. Senatorin Günther findet denn auch, dass der Entwurf „ästhetisch und funktional überzeugt“. Man werde „eine Brücke für die Berliner Mobilitätswende“ bauen, die sich „durch ihre ansprechende Gestaltung in die historische Mitte Berlins einfügt und an dieser Stelle über der Spree eine ganz neue Aufenthaltsqualität bietet“. Kühne Schwünge COBE hat ausweislich seines Portfolios im Netz tatsächlich schon Beeindruckendes gebaut, kühn geschwungene Bahnhöfe oder ein futuristisches Hochhaus aus einem alten Getreidesilo im Kopenhagener Nordhavn, allerdings auch wenig funktionales Stadtmobiliar entwickelt wie stahlglänzende Fahrradständer, an die man nur das Vorderrad anschließen kann („Felgenbrecher“ nennt man so was hier). Und die neue Mühlendammbrücke? Die kommt formensprachlich, wenn die ersten Bilder nicht täuschen, nur durch eine leicht konkave Rundung und ein paar Sitzstufen am Rand in der Gegenwart an (dass sie mehr Platz für Radfahrende und FußgängerInnen bietet, war der Auftrag und versteht sich von selbst). In erster Linie bleibt sie, was sie war: breit, flach und grau. Ein Symbol für die Verkehrswende? Zumindest nicht ästhetisch.
Claudius Prößer
Die neue Mühlendammbrücke soll verkehrswendegerecht sein – und etwas hermachen. So richtig deutlich wird der Unterschied aber noch nicht.
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Lebensschützer verhindern ambulante Abtreibung - taz.de
Lebensschützer verhindern ambulante Abtreibung ■ Arzt ringt seit zwei Jahren um kassenärztliche Zulassung in München München (taz) – Seit knapp zwei Jahren führt der Arzt Andreas Stapf in seiner Stuttgarter Praxis ambulante Abtreibungen durch, zuvor hatte er eine Praxis in Wiesbaden. Weil er aus dieser Zeit den erzwungenen „Abtreibungstourismus“ bayerischer Frauen kennt, will er nun in München eine Praxis für ambulanten Schwangerschaftsabbruch eröffnen. Räume im Münchner Westen sind bereits seit dem 1.Februar angemietet, die Umbauten im Gange, doch seit Monaten ringt er um eine kassenärztliche Zulassung. Am 15. Februar wurde die Entscheidung darüber bereits zum dritten Mal vertagt. Die ersten beiden Male, so Stapf, scheiterte es daran, daß unklar war, ob die Gesetzlage in Bayern eine derartige Einrichtung überhaupt zulassen würde. Beim dritten Mal hieß die Begründung, gegen Stapf laufe zur Zeit ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren. Nicht ganz unbeteiligt an diesem Ermittlungsverfahren ist die Prominenz der bayerischen „Lebensschützer“. War man doch bereits im Vorfeld aktiv geworden und hatte dafür gesorgt, daß selbst Unbeteiligten der „Fließbandabtreiber“ Stapf suspekt erscheinen mußte. Auf einer Pressekonferenz der katholischen „Aktion für das Leben“ (AfdL) im Dezember letzten Jahres ließ Ermin Brießmann, Vorsitzender Richter am bayerischen Oberlandesgericht, bereits verlauten: „Der Staat kann kein Recht auf Tötung vergeben.“ Brießmann war schon im Zusammenhang mit den Memminger Prozessen als Hardliner aufgefallen. An seiner Seite kämpft Hans Wagner, Professor für Zeitungswissenschaft und Vorsitzender der AfdL. Er prangerte an, die „Abtreibungsmentalität“ verursache einen „Dammbruch der sittlichen Einstellungen“, jede Tötungshemmung werde dabei aus „Hirn und Herzen“ hinausgelogen. Man könne nicht naiv so tun, als habe das keine Folgen: Die wachsende Gewalt gegen Ausländer, Juden und Behinderte würde nur die „angeblich so emanzipatorischen Handlungs- und Wertemuster der Abtreibung“ reproduzieren. „Lebensschützer“, die zunehmend wegen ihrer Rechtslastigkeit ins Gerede kommen, sind offensichtlich zur Vorwärtsverteidigung übergegangen. Zumindest der dritte im Bund der Gegner der ambulanten Abtreibung, der Gynäkologe Ingolf Schmid-Tannwald, hat auch allen Grund dazu. Der Leiter der Familienplanungsstelle in der Frauenklinik im Münchner Klinikum Großhadern ist nämlich Mitbegründer einer neuen „Lebensschutz“-Vereinigung „Ärzte für das Leben“ (ÄfdL). Offensichtlich zur Mitglieder- Werbung, hat diese Organisation schon mehrfach lange Artikel inklusive Bezugsadresse für weiterführende Informationen in diversen rechtsradikalen Zeitungen veröffentlicht. In der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Zeitschrift Code ließ der Vorsitzende der ÄfdL, Claus von Aderkas aus Neumünster, zum Thema Abtreibungsgesetzgebung verlauten: „In Gewissensfragen hat das Mehrheitsprinzip keinen Platz.“ Als zweiter Vorsitzender der „Ärzte für das Leben“ unterzeichnete Schmid-Tannwald seinen jüngsten Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung. Anstatt wie sein Vereinskollege antidemokratische Prinzipien zu vertreten, verfolgt der ÄfdL in der bürgerlichen Presse offenbar eine andere Taktik. Im Leserbrief warf Schmid- Tannwald seinem Berufskollegen Stapf einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz vor, außerdem werde gegen Stapf bereits wegen Mordes ermittelt. Die gleichen Anschuldigungen verbreitete auch die Katholische Nachrichtenagentur. Tatsächlich ermittelt die Wiesbadener Staatsanwaltschaft schon seit Oktober 1991 gegen Stapf wegen der Tötung von vier krebskranken Frauen. Die Vorwürfe fallen in seine Zeit als Assistenzarzt in Wiesbaden von 1973 bis 1975 und waren bereits im Frühjahr 1991 im zeitlichen Zusammenhang mit der Eröffnung der Stapfschen Abtreibungspraxis in Stuttgart aufgetaucht. Damals hatte ein weiterer prominenter bayerischer „Lebensschützer“, Ernst Theodor Mayer, dem baden-württembergischen Oberlandesanwalt Harald Fliegauf einen Wink gegeben: Stapf habe gegenüber Julia Schätzle, der baden-württembergischen Landesvorsitzenden der „Lebensschützer“-Organisation „Christdemokraten für das Leben“, geäußert, er habe „vier krebskranke Frauen auf deren Wunsch durch ,Abspritzen‘ getötet“. Was normalerweise höchstens zu einem Ermittlungsverfahren wegen Tötung auf Verlangen führt und in diesem Fall schon verjährt gewesen wäre, wird nun von den bayerischen Lebensschützern“ als „Argumentationshilfe“ wieder ausgegraben. Daraufhin wurden dem Stuttgarter Arzt von seiner Bank die Kredite für den Ausbau der Ambulanz gestrichen und die kassenärztliche Zulassung verweigert. Sein Anwalt Jürgen Fischer, der schon den Memminger Frauenarzt Horst Theissen verteidigte, reagierte in einem Schreiben an die Mainzer Staatanwaltschaft nur noch ironisch: „Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden läßt sich vor den Karren fanatischer ,Lebensschützer‘ spannen, denen Herr Stapf als der Protagonist allen Übels gilt. Offensichtlich genügt es diesen Missionaren des ,Lebensschutzes‘ nicht, den altbösen Feind in das (Nacht-)Gebet einzuschließen. Den himmlischen Heerscharen soll doch noch irdische Hilfe durch Polizei und Staatsanwaltschaft hinzugegeben werden, um den Sünder zur Strecke zu bringen.“ Elke Amberg
elke amberg
■ Arzt ringt seit zwei Jahren um kassenärztliche Zulassung in München
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Bilanz des taz-EM-Teams: Hübsch war's - taz.de
Bilanz des taz-EM-Teams: Hübsch war's Diese Spanier! Und die Iren! Die Ukraine! Mats Hummels! Verschwitzte Körper! Endlich wieder Hertha! Das EM-Team der taz verabschiedet sich und zieht Bilanz. Feuerwerk in Kiew. Tschüss. Bild: reuters Ich warte auf die nächste Revolution in der Ukraine, um unter anderem wieder so viel wie während der Europameisterschaft über dieses Land schreiben zu können. – Katja Mishchenko Yeah! Yeah! – Frauke Böger Im Endspiel waren die falschen Mannschaften. Das fand ich blöd. Portugal hat im Halbfinale viel raffinierter als Spanien gespielt und ist trotzdem ausgeschieden. Ronaldo war der Beste. – Finn Gerlach, 8 Jahre alt Fast alle dürfen sich nach dieser EM groß fühlen: Spanien natürlich (Blattlinie von Beginn an), Italiens Pirlo, die Deutschen, die wieder enorm viel Potenzial hatten. Diktator Janukowitsch, der doch noch Besuch aus Westeuropa erhielt; und die Uefa, die rigide gegen Unterhosenwerbung und fast genauso streng gegen Rassismus vorging. – Johannes Kopp Fußball braucht Fans voller Leidenschaft statt Event-Konsumenten und künstlich generierter Stimmung. Mehr Irland, weniger Uefa-Anstoß-Countdown! – Erik Peter Menschen, die wildfremden Ausländern ihre Zimmer gratis zur Übernachtung anbieten. Manche Leute haben sogar dafür ihre Kinder zur Oma aufs Land schicken müssen. Couching als Protest gegen die Wucherpreise der Hoteloligarchen. – Juri Durkot Bei dieser Europameisterschaft hat mir Xavi von Spanien sehr gut gefallen. Seine Pässe waren mal wieder richtig gut. Die größte Überraschung war für mich, dass Silva im Endspiel ein Kopfballtor gemacht hat. – Ilja Guthmann, 8 Jahre alt And the winner is: die Ukraine. Natürlich nicht im politischen Sinn, sondern wegen den Ukrainerinnen und Ukrainern, die sich nicht den Spaß am Fußballfest haben verderben lassen. – Markus Völker Die ausgelassene Partystimmung der Fans war ansteckend. Einige der Jungs haben gut ausgesehen. Das macht dann auch mehr Spaß, denen beim Laufen zuzusehen. – Gabriele Lesser Hübsch war’s: Tikitaka, Mats Hummels und spanische Fußballerkinder – wären nur dieses Achtzigerjahre-Blumen-Logo nicht gewesen … – Paul Wrusch „Manchmal kann die Welt doch gerecht sein: Das Gute und das Schöne haben gesiegt! – Richard Rother Diese EM … 1. bot Fußball auf der Höhe der Zeit. 2. durfte genossen werden, nicht nur Ballotellis Triumphpose wegen. Lohnte 3. heftig: was für ein schöner Juni mit spanischem Happy End, das eines für die ganze Fußballwelt gewesen sein sollte. – Jan Feddersen Glückliche Menschen pressen mitten in der Nacht ihre verschwitzten Körper aneinander und tauschen ihre Körpergerüche aus. Sie schreien, singen, lachen, trinken. Kiew im blau-gelben Rausch nach dem Sieg der Ukraine gegen Schweden werde ich so schnell nicht vergessen. Danke Fußball! – Andreas Rüttenauer Gut wegschaubare Spiele. Enge Konstellationen in allen Gruppen. Eine Bildregie ohne viel Schnickschnack und Publikumsimpressionen. Die neue Perspektive aufs Turnier, wenn man es als Teil einer EM-Beilage verfolgt. Slaven Bilics Mütze. Die Tore von Welbeck, Khedira und Balotelli. Das alles war so schön, da kann ich Spaniens dritten Titel in Folge (laaaaangweilig) verkraften. – Michael Brake Endlich ist die EM vorbei, ich bin ausgelaugt. Habe 5 Euro auf „Polen wird Europameister“ gesetzt. Die Deutschen mussten ohne Pokal nach Hause fahren, und gestern Abend saß ich beim Italiener und spekulierte auf eine Lokalrunde. Ernüchtert freue ich mich, dass Hertha wieder trainiert. – Isabel Lott Mir doch egal, ich war in Paris. – Enrico Ippolito Die Ausrichtung eines großen Fußballturniers wird für die Gastgeberländer immer mehr zu einer vierwöchigen Okkupation durch Fifa/Uefa. Diktatur der Sponsoren, getürkte Fernsehbilder, Ausgrenzung alles Nicht-Kommerziellen. Mein Symbol dieser EM: blickdichte Zäune um alle EM-Objekte, sogar um die Fanzonen. Was soll das? – Uli Räther „Es ist gut so!“ – Richard Nöbel Straßenhunde, Menschenrechte, Usedom und Mehmet Scholl. Echter Fußball, falscher Ballboy, Deutschland raus und plattgerollt. Alle Spielerkinder auf dem Platz – schöne Meisterschaft in einem Satz. – Svenja Bednarczyk Drei Wochen Ukraine satt in der taz. Wunderbar! Das kommt wohl so schnell nicht wieder. – Barbara Oertel Iniesta geht durch die Abwehr wie das Messer durch die Butter. Es ist ein Traum. – Stefan Mahlke Die Fehler haben schon im Mittelfeld angefangen. – Jan Scheper Schön war’s. Noch 709 Tage, dann beginnt die WM in Brasilien. Mit der besseren besten deutschen Mannschaft aller Zeiten. Und der besten spanischen Mannschaft der Welt. – Deniz Yücel
taz. die tageszeitung
Diese Spanier! Und die Iren! Die Ukraine! Mats Hummels! Verschwitzte Körper! Endlich wieder Hertha! Das EM-Team der taz verabschiedet sich und zieht Bilanz.
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Geld wirkt. Immer. - taz.de
taz🐾thema: grünes geld die verlagsseiten der taz Geld wirkt. Immer. Kostenlose Seminare für nachhaltiges Investment Venga, der Verein zur Förderung ethisch-nachhaltiger Geldanlagen e. V., bietet Seminare zum Thema nachhaltige Geldanlage an. „Unsere Angebote sind grundsätzlich kostenfrei, außer ihrer Zeit müssen Interessierte nichts investieren“, sagt Geschäftsführer Martin Nieswandt. In seiner Satzung hat sich der Verein unter anderem der Förderung der ethisch-nachhaltigen Finanzbildung in Zusammenarbeit mit Einrichtungen des Verbraucherschutzes und der Verbraucherberatung durch Seminare, Diskussionen und Vorträge verschrieben. Coronabedingt sind die Veranstaltungen, die sonst in Büchereien, Kirchen oder Volkshochschulen stattfanden, ins Internet verlegt worden. „Wir sind überzeugt davon, dass Menschen auch mit kleinen oder mittleren Geldanlagen einen wichtigen Hebel in der Hand haben, um die eigenen ethischen Ziele mit der Geldanlage zu verfolgen.“ Venga richtet sein Angebot auf Menschen aus, „die kein Volkswirtschaftsstudium in der Tasche haben und sich oft noch nicht mit nachhaltigen Geldanlagen auseinandergesetzt haben“, betont der Geschäftsführer und Mitbegründer des Vereins. Viele Menschen, die „im Supermarkt sehr gewissenhaft darauf achten, nachhaltige Produkte zu kaufen“, seien überrascht, in welche Produkte ihre „traditionelle Geldanlage“ fließe. Bis zum Jahresende tragen die Veranstaltungen den Titel „Frei und stark – wie legen Frauen nachhaltig Geld an“ oder gehen der Frage nach, welche nachhaltigen Rezepte es gegen die Inflation gibt. Das Vereinsmotto ist zugleich Programm: Geld wirkt. Immer. Volker Engels www.venga-ev.org/events/
Volker Engels
Kostenlose Seminare für nachhaltiges Investment
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Die Linke bei der Berlin-Wahl: Gar nicht so schlimm - taz.de
Die Linke bei der Berlin-Wahl: Gar nicht so schlimm Die Linke erzielt bei der Berlin-Wahl, gegen den Bundestrend, ein passables Ergebnis. Die Erleichterung ist groß. Nun würde man gerne weiterregieren. Klaus Lederer beim Wahlkampfabschluss der Linken im Festsaal der Berliner Stadtmission- Foto: Carsten Koall/dpa BERLIN taz | Die Spitzen der Berliner Linkspartei liegen sich erleichtert in den Armen, als am Sonntag die erste Wahlprognose um kurz nach 18 Uhr im Statthaus Böcklerpark in Berlin-Kreuzberg verkündet wird. Ein großer Applaus bricht aus: Gut 12 Prozent – das ist wesentlich besser, als es viele hier erwartet haben. Als Spitzenkandidat Klaus Lederer kurz darauf die Bühne betritt, empfängt ihn ein Sprechchor. „Klaus, Klaus, Klaus!“, rufen die etwa 200 Linken-Mitglieder auf der Wahlparty. Zu diesem Zeitpunkt wäre eine Koalition mit SPD und Grünen weiter möglich – obwohl die CDU mit Abstand stärkste Kraft geworden ist. Des großen Applaus ungeachtet, hat die Partei dennoch einige Stimmen verloren. Bei der Wahl 2021 kam die Linke noch auf 14,1 Prozent der Stimmen. Die Linken-Hochburg Berlin, wo die Partei seit 2016 mitregiert, bröckelt also weiter – obwohl Lederer nun erklärt, ihm falle „ein Stein vom Herzen“. Auch für Dietmar Bartsch, Linken-Fraktionschef im Bundestag, ist die Linke „wieder da“. Die Berliner Parteivorsitzende Katina Schubert ruft auf der Bühne: „Wir werden gebraucht in dieser Stadt und diesem Land.“ Und die Linken-Sozialsenatorin Katja Kipping fordert eine Neuauflage einer Regierung mit SPD und Grünen im Land. Es gebe dafür „klare soziale Mehrheiten“. Doch woran liegt es, dass die Partei fortwährend an Stimmen verliert? „Die Partei ist einfach in einem schlechten Zustand“, sagte der innenpolitische Sprecher der Partei, Niklas Schrader, der taz. Entsprechend hat die „Berliner Linke“ im Wahlkampf voll auf Abgrenzung zum Bund gesetzt. Sogar das Parteilogo wurde entsprechend modifiziert. Überzeugen sollten die realen Entlastungen des rot-grün-roten Senats: etwa das zumindest temporäre 29-Euro-Ticket und das 9-Euro-Sozialticket, der Härtefallfonds gegen Strom- und Gassperren oder der Mietenstopp und das Kündigungsmoratorium in den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften. Die Partei setzte auf Vergesellschaftung Zur Wahrheit gehört aber auch: Insbesondere im Kernthema Mieten kann die Partei auf keine strukturellen Gamechanger mehr verweisen, seit CDU und FDP den Mietendeckel weggeklagt und das Bundesverwaltungsgericht das bezirkliche Vorkaufsrecht gekippt hat. Umso wichtiger ist für die Partei der erfolgreiche Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne, dessen konsequente Umsetzung weiter das Alleinstellungsmerkmal der Partei ist. Um den Volksentscheid durchzusetzen, müssen die Linken aber mitregieren. Ob das möglich sein wird, darauf hat die Partei jedoch kaum Einfluss. Der klare Gewinner des Abends ist die CDU. Schafft diese es, eine Koalition mit SPD oder Grünen zu bilden, ist es egal, dass es auch für eine Mehrheit mit SPD und Grünen reichen könnte. Sozialsenatorin Kipping warnte auf der Wahlparty denn auch gleich davor, dass die „Truppe um Kai Wegner“ ins Rote Rathaus kommen könnte – das würde die Stadt weiter spalten. „Wem Berlin am Herzen liegt, kann das nicht wollen“, sagte Kipping, die damit wohl auf den rassistisch aufgeladenen Diskurs der CDU im Nachgang der Berliner Silvesternacht anspielte.
Timm Kühn
Die Linke erzielt bei der Berlin-Wahl, gegen den Bundestrend, ein passables Ergebnis. Die Erleichterung ist groß. Nun würde man gerne weiterregieren.
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Vierzig Jahre Pressefreiheit Wann wird sie was wert sein? Endlich wächst die Anspruchshaltung - taz.de
Vierzig Jahre Pressefreiheit Wann wird sie was wert sein? Endlich wächst die Anspruchshaltung ESSAY Von Sibylle Bartscher und Richard Herding Als es die Redefreiheit gab (und sie meistens auch was wert war)“ - mit diesem Titel erschien vor einiger Zeit die US -amerikanische Alternativzeitung 'Chicago Reader‘. Zu feiern gab es das Jubeljahr einer Einrichtung, eines Clubs sozusagen, aber offen für alle, in der sich während der 20er und 30er Jahre Chicagos Literaten, Querköpfe oder redebegabte Stammtischpolitiker trafen, wöchentlich, je nach Verbotslage mit oder ohne alkoholische Hilfe, und in einer Art „Speakers‘ Corner“ wie im Londoner Hyde Park ohne organisatorische Zutrittsschranken ihre Meinungen verbreiteten. Frauenemanzipation, Hitler, Sozialismus, Korruption in der Stadtverwaltung, Bierverbot: kein drängendes Problem blieb ausgeklammert, die Ideenschmiede sorgte für schöpferische Unruhe in der Stadt. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Bild und Schrift frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ An diesem 40jährigen Grundgesetzartikel (dem einiges an problematischem „Kleingedruckten“ folgte) ist, als Versprechen wohlgemerkt, nichts auszusetzen außer dem Buchstaben „r“ in „jeder“, was jahrzehntelang durchging, bevor uns verdienstvollerweise Alice Schwarzer darauf gestoßen hat. Die Grundsätze fanden alle JubiläumsrednerInnen, auch die skeptischen, lobenswert und allenfalls ihre Verwirklichung gefährdet: Sei es durch Pressekonzentration, Schnüffeleien des Verfassungsschutzes, Scheren in den Köpfen, Computer in Fernmeldeämtern oder Werbeetats bei Radio Luxemburg. Alles richtig, aber etwas Entscheidendes fehlt uns dabei, und darum der Hinweis auf das Jubiläum des Rednertreffs von Chicago: In einem lautlosen, aber machtvollen Prozeß von „Vermündigung“ kommt dieses Grundrecht allmählich zu sich selbst, zu dem Wert, den es haben könnte. Denn obwohl das Grundgesetz in seiner Formulierung klar vom Individuum ausgeht, wurde Pressefreiheit anfangs nur als Schutzrecht von Unternehmen und Anstalten gegen den Staat verstanden. Zaghaft kamen Interpretationsversuche hinzu, auch eine Grenzziehung gegen fusionsgierige Verlagskapitalisten herauszulesen. „Enteignet Springer“ war insofern 1968 eine Parole für die Pressefreiheit. Vor allem die gewerkschaftlich organisierten JournalistInnen verstanden die Pressefreiheit später auch als Schutz gegen diktatorische Verlage und Chefredaktionen, gegen die Redaktionsstatute errichtet wurden. Heute aber wird dieser Artikel 5 des Grundgesetzes immer mehr auch von unorganisierten, gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, Bewegungen und Einzelnen für sich in Anspruch genommen. Die Kämpfe für die erste Pressefreiheit gegen den Staat, für die zweite gegen das Kapital, für die dritte gegen die Abschaffung professioneller Autonomie waren für die vierte Pressefreiheit, die des Zugangs ohne organisatorische oder professionelle Einschränkung, keineswegs unwichtig. Hätte nicht der Sozialdemokrat Sänger die Deutsche Presse-Agentur vor Konrad Adenauers Griff bewahrt, hätten die StudentInnen 1968 nicht Springer blockiert, hätten die 'stern' -RedakteurInnen nicht ihren hitlertagebuchseligen Bossen Tritte gegeben, stünden wir heute entmutigt da. Dennoch: Bei einer auf Unternehmer, Organisationen und Redaktionen ausdrücklich beschränkten Pressefreiheit blieben „die Leute“ außen vor. Erst als Teilnahmerecht an einer partizipatorischen Demokratie kommt Pressefreiheit zu ihrem entfalteten Wert. Der Frankfurter Juraprofessor Erhard Denninger hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, freiheitliche Kommunkation habe seit 1968 einen „allgemeinen Grundrechtsstatus des Bürgers“ erlangt, leider ohne den Wandel historisch zu entfalten. Der zentrale Unterschied: Seit 1968 stimmt Paul Sethes Satz, Pressefreiheit sei die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten, nicht mehr ungebrochen. Bürgerbeteiligung bei der 'Tagesschau‘ forderten die Grünen in ihrem „Wildsachsener Startschuß“ von 1983, meinten damit wohl vorwiegend die Anti-Atomkraft-Bürgerinitiativen - erreicht wurden immerhin einige Ökologie-Sendeplätze und vor allem ein universales Schuldbewußtsein, wenn wieder mal neue ökologische Katastrophen von medialen Holzköpfen heruntergespielt werden. „Das Fernsehen gehört dem Volk, nur sagt ihm das keiner“, polemisierte Christan Longolius schon in den frühen 70er Jahren. Damals nahm eine Reihe von MedienkritikerInnen das drohende Kabelfernsehen und Willy Brandts Parole „Mehr Demokratie wagen“ als Ermunterung, Offene Kanäle einzurichten, in denen jedermensch eigenes Fernsehen machten könnte. Das Selbermachen als Königsweg partizipatorischer Demokratie anzusehen, ist gewiß ein naturalistisches Mißverständnis insofern, als nicht alle BürgerInnen Freizeitjournalismus betreiben müssen. Dennoch bedarf es auch der Möglichkeit, real eigene Medien selbst zu machen. Sie begann in den 70er Jahren mit der Schweizer 'Leser-Zeitung‘ und dem deutschen 'Informations -Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten‘, heute als Freies Redaktionsbüro 'ID-Projekt Alltag‘, mündete in die Freien Radios; sie hatte vielleicht den ersten über die alternative Subkultur deutlich hinausreichenden Erfolg bei der Unterstützung der Rheinhausener Stahlarbeiter durch ihren 'Offenen Kanal‘ 1987. Nicht weniger wichtig als „selbstgemachte“ Medien für die Verwirklichung von Pressefreiheit ist die Freiheit des „Marktzutritts“ für neue Zeitungen und Sender, vor allem aber auch ein Generalangriff auf die fortbestehende Arroganz der meisten Redaktionen gegen „störende“ LeserInnen, HörerInnen, ZuschauerInnen, für die der Querulantenpapierkorb stets bereitsteht. Die neue Qualität der Anspruchshaltung in bezug auf den Pressefreiheitsartikel des Grundgesetzes erscheint um so atemberaubender, je mehr wir uns erinnern, wie unumstößlich er vor 1968 nur als organisatorisches Schutzrecht angesehen wurde. Noch Jürgen Habermas‘ Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit, das 1962 den avanciertesten Stand der medientheoretischen Ideen um Horkheimer und Adorno mit der linken Verfassungstheorie um Abendroth zusammenbrachte, stellte lakonisch fest: „Im Prozeß der massendemokratischen Meinungs- und Willensbildung (behält) die Volksmeinung unabhängig von den Organisationen, von denen sie mobilisiert und integriert wird, kaum eine politisch relevante Funktion mehr.“ Glücklicherweise hat die Medienlinke der Jahre nach 1968, wir lassen die fürchterlichen ML-Parteiblätter einmal beiseite, Habermas‘ resignierte Absage an die Spontaneität nicht aufgenommen. Kurz zurück zu dem einen Punkt, wo schon das Versprechen zu kurz griff: zum maskulinen „r“ in „Jeder hat das Recht...“. Verzeih uns die Duden-Redaktion, daß wir's überhaupt ernst nehmen - aber der Einstieg der Frauen in die Öffentlichkeit repräsentiert den neuen, unorganisierten, chaotischen Anspruch am gewaltigsten, und das fängt beim großen I wie in GöttInnen und SteuerinspektorInnen an. Medienfreiheit im Grundgesetz: trotz des ökonomischen Großangriffs durch die Einführung des Privatfunks, trotz der Neuauflage staatlicher Repression mit den Antiterrorgesetzen ist die neue Anspruchshaltung unübersehbar: Pressefreiheit, die frei ist für das Wörtchen „Ich“. (S.Bartscher und R.Herding arbeiten beim Informationsdienst: Zentrum für alternative Medien, Frankfurt)
richard herding
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„New York Times“ und Karikaturen: Chefredakteur verteidigt Selbstzensur - taz.de
„New York Times“ und Karikaturen: Chefredakteur verteidigt Selbstzensur Der Humor erfülle „nicht die Standards der 'Times'“. Damit hat Dean Baquet die Entscheidung begründet, keine Zeichnungen von „Charlie Hebdo“ zu drucken. Ohne Mohammed-Karikaturen: die „New York Times“. Bild: dpa HAMBURG dpa/taz | Nach den Terroranschlägen in Frankreich hat die New York Times ihre Entscheidung verteidigt, die Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins Charlie Hebdo nicht zu drucken. „Diese Art von Humor ist eine unnötige Beleidigung“, sagte Chefredakteur Dean Baquet dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Der Humor erfülle „nicht die Standards der 'Times'“. Ein großer Teil der Leser bestehe „Menschen, die sich durch Satire über den Propheten Mohammed beleidigt fühlen würden“, erklärte Baquet. „Dieser Leser, um den ich mich kümmere, ist kein IS-Anhänger, sondern lebt in Brooklyn, hat Familie und ist strenggläubig.“ Viele europäische Zeitungen hatten nach dem Angriff auf die Charlie Hebdo-Redaktion vom 7. Januar die umstrittenen Karikaturen nachgedruckt, darunter auch die taz. Baquet sagte: „Wirklichen Mut beweisen Nachrichtenorganisationen dort, wo es darum geht, zu berichten. Sei es, Reporter zu haben, die über den IS recherchieren, nach Bagdad reisen oder über den Afghanistan-Krieg berichten.“ Anders in Europa hatten in den USA viele Medien nur zögerlich die Karikaturen aus Frankreich nachgedruckt. Die erste Ausgabe nach den Anschlägen war dort nur mit einigen hundert Exemplaren vertrieben worden. Erst am Freitag waren noch einmal 20.000 Exemplare in den Verkauf gegangen. Sie waren in New York, Los Angeles und San Francisco zu kaufen.
taz. die tageszeitung
Der Humor erfülle „nicht die Standards der 'Times'“. Damit hat Dean Baquet die Entscheidung begründet, keine Zeichnungen von „Charlie Hebdo“ zu drucken.
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■ Brasilien / BRD: Hilfe für Demarkierung - taz.de
■ Brasilien / BRD: Hilfe für Demarkierung Rio de Janeiro (taz) – Fünf Jahre nach dem Projekt-Entwurf nimmt die brasilianische Regierung deutsche Entwicklungshilfe in Höhe von 17 Millionen Dollar zur Demarkierung von Indianerreservaten in Anspruch. Mit dem Geld, das zu achtzig Prozent von der „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ stammt, sollen 55 Indianerreservate abgegrenzt werden.
taz. die tageszeitung
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Der Würger vom Ennepetal - taz.de
Der Würger vom Ennepetal Mit sechs Jahren komponierte er bereits. Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) war eines der größten Wunderkinder der Geschichte. Paul Esterhazy inszeniert seine Oper „Die tote Stadt“ in Hagen Das Verwirrspiel nimmt in der neuen Inszenierung eine Wendung, die vom positiv verheißungsvollen Schluss des Korngoldschen Originals deutlich abweicht VON FRIEDER REININGHAUS Der Hagener Theater-Intendant stellte sich zum Auftakt der Premierenfeier auf die Treppe zum Erfrischungsraum. Sein Auftritt erinnerte an das Pfeifen des einsamen Mannes im dunklen Wald, der sich versichert, er habe wirklich keine Angst. „Die tote Stadt“, so betonte er nachdrücklich, beziehe sich auf gewisse Dekadenzerscheinungen in Brügge im späten 19. Jahrhundert. Mit dem heutigen Hagen habe die Geschichte Gottseidank nichts zu tun. Eine halbe Stunde raten uns ein paar mit türkischem Akzent sprechende Jugendliche ab, in eines der Lokale in der Bahnhofsstraße zu gehen: Das ist hier nix! Es folgen suchende Blick, ob es eine Alternative gibt - und rasch ein entschiedenes Nein: „Hier ist es doch tot“. Der Augenschein straft dieses Fazit auch an einem frühsommerlich schönen Samstagabend nicht Lügen. Die neue Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds bekanntestem Werk - zuletzt stand „Die tote Stadt“ in Hagen 1928 auf dem Spielplan - vermied alle sichtbaren Anspielungen auf die unmittelbare Gegenwart. Um vordergründige Analogien ging es Paul Esterhazy wohl auch nicht. Der Regisseur, 2000-2005 in Aachen Theater-Intendant, rückt die Handlung in die Mitte zwischen heute und der Entstehungszeit des 1916-1920 geschrieben Werks. Das vom Vater des Komponisten, dem Wiener Musikkritiker Julius Korngold arrangierte Libretto basiert auf Georges Rodenbachs Roman „Bruges-la-Morte“ (1892) und dessen Dramatisierung (“Le Mirage“, 1897). Erinnerungsträchtige Gegenstände, wohin man blickt: Mobiliar, Frisuren und Klamotten in der vollgestopften Wohnung des Herrn Paul, um dessen Erinnerungen und Obsessionen es geht, siedeln die Geschichte in den 50er oder 60er Jahren an. Man sieht den Mief förmlich. Pia Janssen, die Ausstatterin, schuf mit Liebe zum Detail eine vor Devotionalien überbordende „Kirche des Gewesenen“: Nicht nur das vor blauem Hintergrund leuchtende (und zeitweise zum Leben erwachende) Portrait erinnert an die aus dem Leben geschiedene Ehefrau – eine nazarenische Marien-Darstellung. Alles ist hier im Andenken an Maria erstarrt: Die unverändert postierten Sessel, die überreichliche Bebilderung an den Wänden, Geschirr und Gläser auf dem Bord und auf dem Boden, jeder Handgriff in diesem „Tempel der Erinnerung“ künden von Verklärung und Heiligenverehrung. Wie viel Zeit seit dem offensichtlich schweren Schicksalsschlag vergangen sein mag, bleibt offen. Waren es nur ein paar Tage? Eher dürfte es sich um Wochen, Monate oder gar Jahre handeln. Paul Esterhazy ließ den Protagonisten Dario Walendowski, der seine höchst anspruchsvolle Partie achtbar meistert, als frühzeitig gealterten Mann ausstaffieren und agieren. Freund Frank sucht Monsieur Paul zum Wiedereintritt ins Leben zu bewegen. Tatsächlich begegnet er Marietta, die der verstorbenen Maria so verblüffend ähnelt. Die lebenslustige junge Varieté-Tänzerin lässt sich, ohne von anderen Umgangsgewohnheiten Abstand zu nehmen, auf den alten Griesgram ein. Zunächst unwillkürlich, dann absichtsvoll tritt sie in Konkurrenz zur übermächtigen Toten in Pauls Kopf. In diesem Gehirn findet Übertragung statt; rasch regen sich dort freilich auch Schuldgefühle, religiöse und mörderische Phantasien. Die eigentlich vor Pauls Haus vorbeiziehende festliche Prozession siedelte Esterhazy - wie zuvor schon die Fete der Künstler - im Hintergrund der Wohnung an – und der Hausherr setzt sich im Priesterornat an die Spitze. Das fordert Mariettas Spott heraus. Da sie in frivoler Weise mit dem Haar der toten Maria, der wertvollsten Reliquie, zu spielen beginnt, erwürgt er sie auf dem Sofa. Doch die Zuschauer können und sollen keine Gewissheit erlangen: Ist das vielleicht nur ein Alptraum? Taucht Marietta tatsächlich noch einmal leibhaftig auf und fragt nach ihrem vergessenen Parapluie? Oder ist das Tötungsdelikt doch die krude Wirklichkeit und die fleischliche Auferstehung der jungen Schönen mit der etwas überanstrengten Stimme von Dagmar Hesse in der toten Welt schierer Wunschtraum? Das Verwirrspiel zwischen Phantasiegespinsten und Wirklichkeits-Ebenen nimmt in der neuen Inszenierung eine Wendung, die vom positiv verheißungsvollen Schluss des Korngoldschen Originals deutlich abweicht: Herrn Pauls Haushälterin kehrt als Amtsärztin zurück und der vielleicht ein bißchen untreue Freund Frank – der am überzeugendsten singende Frank Dolphin Wong – als Streifenbeamter. Die beiden Sanitäter in ihrem Gefolge müssen jedenfalls zwei Leichen wegschaffen: Mariettas Double, liegen geblieben vorm Kanapee, und einen all die Zeit unter der Bettdecke gelagerten Körper im dritten Frischegrad. Der Weg aus der „toten Stadt“ in eine neue Freiheit ist in diesem Fall wohl der in eine geschlossene Anstalt. Mit der gleichen subtilen Schärfe, mit der Paul Esterhazy 2003 in Aachen Webers „Freischütz“ in einem Berliner Salon des Uraufführungsjahrs 1821 inszenierte, zeigt er nun die Zwanghaftigkeit eines Mannes, dem die Zeit in den 60er Jahren stehen geblieben ist: einen, der zwar noch einmal aus- und aufbrechen will, aber durchs Würgen schließlich wieder zu seinem trostlosen Zustand gelangt. Anthony Hermus hat mit Orchester und Solisten hart gearbeitet und in Hagen ein musikalisch vergleichsweise gutes Gesamtresultat zu Wege gebracht. Der Tonsatz Korngolds, der weiterhin von nassforschen Kritikerinnen als Mann ohne musikalische Eigenschaften denunziert wird, diese virtuos geschriebene Musik prunkt, funkelt, dämmert und vermag zu tänzeln, wenn der Dirigent sie nicht in allzu episch angelegter Breite zerfließen lässt. Sie sehnt sich intensiv und beglaubigt verblüffend (Selbst-) Täuschungen. Vor allem erinnert sie sich und die Hörer beständig. Sie erweist sich als bedeutendste Fingerübung für die großen Filmmusik-Partituren, die das Schaffen dieses in den 30er Jahren endgültig nach Hollywood emigrierten Wiener Komponisten krönen. Die tote Stadt 25. und 29. April, 19:30 Uhr Infos: 02331-2073210
FRIEDER REININGHAUS
Mit sechs Jahren komponierte er bereits. Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) war eines der größten Wunderkinder der Geschichte. Paul Esterhazy inszeniert seine Oper „Die tote Stadt“ in Hagen
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das portrait: Gerd Kochbeleidigt und hetzt weiter - taz.de
das portrait: Gerd Kochbeleidigt und hetzt weiter Hetzen ist sein Hobby: Gerd Koch Foto: Klaus Ortgies „Ist Gerd Koch ein Arschloch?“, war einmal an einer Hauswand in Leer zu lesen. Als Frage formuliert, wie es der Rechtsanwalt gern selbst mit seinen Beleidigungen gegen Frauen, Juden, Sinti und Roma und Behinderte handhabt. Er hofft, dass vor Gericht seine Aussagen als Meinungsfreiheit gewertet werden. Aber das ist selten der Fall. Gerd Koch ist bereits mehrfach verurteilt worden. Eigentlich spricht der Politiker der rechten Allgemeinen Wählergemeinschaft (AWG) gar nicht viel. Besonders nicht in seiner Funktion als Stadtrat und Kreistagsabgeordneter. Nach den Sitzungen allerdings faxte er früher. Deswegen sein Kampfname Faxengerd. Mittlerweile hat er den Computer für sich entdeckt und schreibt ausgiebig auf der Internetseite seiner Partei. Sport, Popmusik, Lokalpolitik, es gibt nichts, wozu Koch nichts zu sagen hätte. Früher durchpflügte er die Stadt wie eine Art Blockwart, um an Informationen zu kommen. Heute werden diese ihm von Freund*innen, der Polizei und der Stadtverwaltung weitergeleitet, wie aus Dokumentationen hervorgeht, die der taz vorliegen. Die Infos verarbeitet Koch sofort im Internet. Das ist ihm jetzt zum Verhängnis geworden. Ende Februar ist Koch wegen Beleidigung, Volksverhetzung und Betrug vom Amtsgericht Leer zu zehn Monaten Haft auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 5000 Euro verurteilt worden. Koch will nun das Urteil wegen Verfahrensfehler anfechten. Hätte der 70-jährige Rechtsanwalt zwölf Monate bekommen, würde er seine Berufszulassung verlieren. Sein Notariat ist schon weg. Nachdem Leeraner Bürger*innen eine Dokumentation seiner Ausfälle erstellt hatten und diese der Notariatskammer zukommen ließen, hat Koch das Notariat selbst zurückgegeben, bevor es ihm durch die Kammer entzogen wurde. Trotz vieler Verurteilungen ist Koch in Leer ein geachteter Bürger. „Der spinnt, aber er ist ein netter Kerl“, sagen manche in der Kreisstadt. Betroffene von Kochs Beleidigungen und Hetzereien sehen das anders. Der Verband der Sinti und Roma Niedersachsen hat ihn aktuell wieder wegen Volksverhetzung angezeigt. Thomas Schumacher
Thomas Schumacher
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An die eigene Nase gefasst - taz.de
An die eigene Nase gefasst Die Bürgerschaft ist sich einig. Aber wie sieht es mit dem Nichtraucherschutz bei Parteien und Fraktionen aus? Die Bürgerschaft hat die Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes einstimmig beschlossen. Damit darf ab dem 1. Januar 2009 auch in Einkaufspassagen und Einkaufszentren nicht mehr geraucht werden. Grünen-Sprecher Matthias Makosch wies daraufhin, dass offene Bereiche wie die Lloyd-Passage entgegen anderslautender Berichte, etwa in der „Bild“-Zeitung, nicht von dem Verbot betroffen sind. Gleiches gilt für Festzelte. Ausnahmen gibt es auch für Gaststätten, die nicht größer als 75 Quadratmeter sind und keine zubereiteten Speisen verkaufen. Sie müssen klar als Raucher-Lokale gekennzeichnet sein und dürfen Jugendlichen unter 18 Jahren keinen Zutritt gewähren. Auf Nachfrage erklärte Makosch, dass der Nichtraucherschutz auch in den Fraktionsräumen der Grünen konsequent umgesetzt werde. Allerdings: Die Abgeordneten gingen in der Regel nicht vor die Tür. Stattdessen machen sie es sich in einem kleinen Hinterzimmer gemütlich – aus diesem „blue salon“ zieht es dann schon manchmal in die Büroräume. „Ein kleines Problem“, wie Makosch zugibt. Während die FDP nur nicht-rauchende Abgeordnete hat gibt es bei der SPD auch einen Raucher-Raum. Die Fraktion bestehe zu einem Drittel aus Rauchern, erklärt SPD-Sprecher André Städler. Bisher habe sich aber noch kein Nichtraucher beschwert. Auch die CDU jagt ihre Raucher nicht komplett aus dem Gebäude: Hier gibt es einen winzigen Balkon, der halb legal als Raucherecke dient. Dabei dürfe man sich allerdings nicht von CDU-Chef Thomas Röwekamp „erwischen lassen“, heißt es im Vorzimmer. Inga Nitz von der Linkspartei – die sich vor allem über die von der Bürgerschaft beschlossenen Zugeständnisse an die Eckkneipen freut – antwortet in Bezug auf die eigene Geschäftsstellen-Praxis mehrdeutig: „Es gibt bei uns im Büro Nichtraucherschutz, aber auch keine Raucherdiskriminierung.“ Steven Heimlich
Steven Heimlich
Die Bürgerschaft ist sich einig. Aber wie sieht es mit dem Nichtraucherschutz bei Parteien und Fraktionen aus?
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Kurze Geschichte des Scheiterns - taz.de
Kurze Geschichte des Scheiterns Nach 20 Monaten elanvollen Windmühlenkampfs gibt die Hamburger Theater Mafia auf  ■ Von Birgit J. Neumann Groß eingestiegen, hart auf's Maul gefallen.“ Zimperliches Reden ist Michael Ehnerts Sache nicht – selbst dann nicht, wenn er mit einem schiefen Grinsen die Geschichte der Hamburger Theater Mafia als eine kurze Geschichte des Scheiterns formuliert. Keine zwei Jahre konnte die Produzentengesellschaft sich halten, obwohl die GesellschafterInnen Ehnert (Schauspieler, Autor), Kristian Bader (Schauspieler) und Catharina Fleckenstein (Regisseurin) seit April 1997 unerhörten Pioniergeist zeigten. Auf eigene Kosten versuchten sie, was die Kulturbehörde Hamburg nicht kann oder will: die Belebung der freien Theaterszene in der Hansestadt. Die Idee war einfach und gut: Durch die Schaffung und Bereitstellung guter Produktionsbedingungen in Form von Proben- und Büroräumen, technischem Equipment, Kontakten zu Spielstätten und professionellem Know-How hat das erfahrene Theaterteam eigene und fremde Produktionen auf den Weg und die Bühne gebracht. Doch um die Fixkosten decken zu können, hätte die freie Szene das Angebot mehr nutzen müssen. Daß das nicht stattfand, führt Ehnert auf ihre faktische Auflösung zurück: „Angesichts der Erkenntnis, daß da kaum jemand mehr ist, der frei produzieren will oder kann oder sich traut oder auch nur Lust dazu hat, daß es also de facto keine freie Szene mehr gibt, muß in der Hansestadt reinste Aufbauarbeit geleistet werden.“ Die Mafia-GesellschafterInnen schufen ein Projekt, das beim Film nicht neu, aber auf dem Theatersektor absolut unüblich ist. Üblich ist es in der zunehmend frustrierten freien Kulturszene Hamburgs, als Einzelkämpfer einen Antrag auf Projektförderung an die Kulturbehörde zu stellen und nach der zehnten Absage umzuschulen oder umzusiedeln. Nicht alle haben den Kampfgeist des Bader-Ehnert-Kommandos. Das Kabarett-Duo, 1997 mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet, kennt die Existenzprobleme freier Theatermacher seit 1990. Sie wußten, worauf sie sich einlassen, als sie das Mafia-Projekt ausheckten und für seine Umsetzung zwei Jahre lang ihre Gagen von Theater-, Film- und Fernsehrollen sparten. Ohne nennenswerte Subventionen haben sie mit Unter der Gürtellinie und Tango im Altonaer Theater, Experiment Bartsch im Theater im Zimmer, Die Capricen der Marianne in der Speicherstadt, McBeth am Millerntor und dem Klinikprojekt im AK Barmbek ein reiches, professionelles Angebot beschert. Ungewöhnliche Spielorte, zuweilen experimentelles, immer zeitgenössisches Sprechtheater mit meist guten Kritiken. Mit dem Jahreswechsel gibt die Hamburger Theater Mafia auf und verläßt die selbst renovierten Räume in der Altonaer Beerenstraße. Um in Hamburg zu arbeiten, hatte das Bader-Ehnert-Kommando die Übernahme des Theaters Zerbrochene Fenster in Berlin Kreuzberg vor drei Jahren abgelehnt. In Hamburg verabschieden sie nun ein Theaterprojekt, in das sie eine Viertel Million Mark investiert haben. Das Tilgen der Darlehen erscheint wie ein verlorenes Gefecht gegen die kulturelle Apokalypse. Aber wahre Mafiosi sind nicht beleidigt. Sympathisanten wissen längst: „Der Kampf geht weiter!“
Birgit J. Neumann
Nach 20 Monaten elanvollen Windmühlenkampfs gibt die Hamburger Theater Mafia auf  ■ Von Birgit J. Neumann
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HARUN FAROCKI - taz.de
HARUN FAROCKI  ■  Ein Motiv der Erlösung Ich las davon, daß die Musikindustrie gerade die gutverkäuflichen Stücke zunehmend schlechter absetzt. Ist nämlich ein Stück in den Rang der zwanzig bis dreißig Bestverkauften gestiegen, so wird es von den zunehmenden Radiostationen in deren zunehmenden Sendungen, die die bestverkäuflichen Stücke spielen, stets wieder und so oft gespielt, daß der Antrieb entfällt, das Stück für sich auf einem Tonträger zu erwerben. Damit haben wir es mit einer Reklame zu tun, die den Absatz einer Ware nicht hebt, sondern senkt. Nehmen wir an, der Musikindustrie läge ein Bauprinzip zugrunde wie dem Propellerflugzeug: macht man den Rotor größer und schneller, so nimmt auch der Luftwiderstand zu, was den Flugapparat bremst. Der Treibstoffverbrauch geht gegen unendlich ohne weitere Steigerung der Fluggeschwindigkeit. Noch bevor er an einen absoluten Grenzwert stößt, muß ein Produzent bedenken, wie er seine Produktion vor allzu großem Erfolg schützen kann, da dieser doch die Absatzkurve senkt. Zu diesem Zweck müßte er über eine gegenwirksame Reklame verfügen, die den Absatzanstieg dosiert bremsen kann. Künftig muß es zwei Reklamen geben. Neben der schon gegebenen, für die wie in keiner Kunstgeschichte um Bilddetails gestritten wird und für die jedes Wort mehr gewogen wird als vor Gericht, muß eine zweite alle Mühe, Intelligenz, Blödigkeit, Selbstverliebtheit, Witzigkeit und Angeberei aufwenden, ihr entgegenzuwirken. Wie einmal jeder Vogel zur Ehre Gottes singen sollte, soll heute jede Farbe, jeder Geruch, Geschmack, Laut und jede Empfindung den Warenabsatz steigern und nun auch begrenzen. Schon im letzten Jahrhundert erkannte der Chemiekonzern Dupont, daß es besser ist, einen Markt nicht ganz, sondern zu sechzig Prozent zu beherrschen und die Produktionsspitze der unterlegenen Konkurrenz zuzuweisen. Bislang verließ ein jedes Musikstück den Markt durch den Hinterausgang, indem es sich schlecht verkaufte. Nunmehr ist Aussicht, daß es sich an der Spitze abspielt. Damit ist dem Druck der Überproduktion eine Öffnung gestoßen, der Durchzug, den dies verschafft, kann auch die Nachricht von der zunehmenden Schlechtverkäuflichkeit des Gutverkäuflichen ins Öffentliche verwirbelt haben. Wenn die Musikindustrie etwas erleidet, was sie an anderer Stelle nicht überkompensieren kann, so deshalb, weil sie ihre Töne an Träger gebunden hat zum Verkauf im Geschäft. Die Gerätentwicklung hat die Bindung gelockert: Fast jeder hat ein Cassettenkopiergerät und ein paar Radios, wenn diese digital empfangen, ist jeder Beiklang des Trägers gelöscht und der Begriff der Kopie gegenstandslos. Der Kunde, der sich keinen bespielten Tonträger kauft, zahlt der Musikindustrie eine Abgabe, wenn er Geräte und Leercassetten kauft. Die Leercassette ist eine Möglichkeitsform und hier sind Einkünfte aus der Leere und Stille. Hängt der Metzger eine Wurst ins Fenster, so ist sie gleich zweimal da: einmal in ihrem Wurstsein und zum zweiten als Zeichen für Wurst. Im Fall der Musik, die im Radio gespielt wird und für die gleiche Musik werben soll, ist die Nähe von Zeichen und Gegenstand, Reklame und Ware noch größer. Der bespielte Tonträger kann nur noch erworben werden wollen, damit man den Zeitpunkt des Abspiels selbst bestimmen kann („während der Nachrichten“, „wenn der Papst stirbt“, „vielleicht nach dem Krieg“), während bei der Wurst Anschauung und Verzehr auseinanderfallen. Hätte ich die Musikindustrie, ist würde die zwanzig, dreißig bestverkäuflichen Titel so lange und so oft spielen, bis der Hörer sie nicht mehr hören kann und kauft, damit sie aus dem Markt sind. Damit hätten wir ein Motiv der Erlösung. Der Filmemacher Harun Farocki produziert seit den sechziger Jahren, ist bekannt durch seine Essayfilme „Etwas wird sichtbar“, „Wie man sieht“, „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“, er arbeitet(e) auch fürs Sandmännchen und die Sesamstraße.
harun farocki
 ■  Ein Motiv der Erlösung
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Raus aus der Geiselhaft des Autos - taz.de
„Wird es jetzt politisch statt ästhetisch?“ Raus aus der Geiselhaft des Autos TEMPORÄRE SPIELSTRASSE Gudvangen – hätten Sie’s gewusst? – liegt nicht zwischen Feucht- und Dürrwangen, sondern am Ende des Nærøyfjords. Der Nærøyfjord ist Norwegens schmalster Fjord, an der engsten Stelle misst er nur 250 Meter. Bei den ganzen Kreuzfahrtschiffen kann’s da schon mal eng werden. Eng ist es auch auf Berliner Straßen, zum Beispiel der Gudvanger Straße in Prenzlauer Berg. Lauter Autos sind da geparkt, bis eine Elterninitiative die Idee hatte, den Abschnitt am Humannplatz zur temporären Spielstraße zu machen. Wenigstens einen Nachmittag in der Woche soll der Asphalt den Kleinen gehören, die sich hier kreativ austoben können und mal nicht auf genormtem Spielplatzmobiliar langweilen müssen. Kinder gibt es in Prenzlauer Berg bekanntlich viele, Autos ebenso. Deshalb bleibt auch der Unmut nicht aus, jetzt, wo das Pankower Bezirksamt dem Wunsch der Initiative nachgekommen ist und seit dieser Woche immer dienstags die Straße sperrt, indem es ein Straßenfest anmeldet (eine Dauerlösung scheint gerichtsfest nicht darstellbar zu sein, wie man so sagt). Anwohner beschweren sich nun darüber, dass sie ihren Pkw regelmäßig umparken müssen. Es ist eben auch im Jahr 2015 kein Leichtes, die Privilegien einer dominanten Gruppe aufzuweichen. Die der Autofahrer nämlich, die riesige Flächen nicht nur in Beschlag nehmen, um von A nach B zu gelangen, sondern um ihre dafür angeschafften Geräte abzustellen. Sollen Sie ja auch dürfen. Aber alles spricht dafür, den öffentlichen Raum zumindest strategisch dosiert aus der Geiselhaft des Autos herauszulösen. Die Kinder aus Prenzlauer Berg sollen ruhig mitbekommen, dass man sich auch ohne Blech urban vergnügen kann. Dann können sie sich später das Geld für den Volvo sparen und ans Nordkap schippern. CLAUDIUS PRÖSSER
CLAUDIUS PRÖSSER
TEMPORÄRE SPIELSTRASSE
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Plan des Verfassungsschutzchefs: Zentrales Register für V-Leute - taz.de
Plan des Verfassungsschutzchefs: Zentrales Register für V-Leute Verzichten will der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nicht auf V-Leute. Dafür aber ein zentrales Register für sie einführen. Die Linke kritisiert das. Hans-Georg Maaßen will „das Instrument“ V-Leute schärfen. Bild: dapd BERLIN dpa | Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, will V-Leute in einem zentralen Register erfassen. „Ein zentrales Wissen ist unabdingbar, um die jeweiligen V-Leute des Bundes und der Landesbehörden für Verfassungsschutz wirksam steuern zu können“, sagte er der Welt am Sonntag. Das Bundesamt in Köln habe bereits klare Regeln und Kontrollinstrumente. Im Zuge der Reform des Verfassungsschutzes werde nun überlegt, „wie diese Instrumente geschärft beziehungsweise auf den gesamten Verfassungsschutzverbund übertragen werden können“. Ein Verzicht des Verfassungsschutzes auf Verbindungsleute ist aus Maaßens Sicht nicht möglich. „Menschliche Quellen sind und bleiben unverzichtbar, um Erkenntnisse über innere Strukturen und Planungen verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu erlangen.“ Nur durch den Einsatz von V-Leuten könne der Verfassungsschutz "Einblicke in extremistische Milieus" gewinnen. „Insbesondere dann, wenn andere Mittel zur Informationsgewinnung nicht ausreichend sind“, sagte Maaßen. Die Linke-Abgeordnete Petra Pau warf Maaßen vor, er wolle „einen Inlandsgeheimdienst alten Stils mit mehr Zentralkompetenz“. Aber der Verfassungsschutz samt V-Leute-Praxis habe versagt, gerade auch im Skandal um die Mordserie der rechtsextremen Terrorzelle NSU. „V-Leute sind keine netten Informanten, sondern vom Staat gekaufte Spitzel und bezahlte Täter. Die Vernunft gebietet: nicht registrieren, sondern abschalten.“ Wie Maaßen plädierte auch der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags, Wolfgang Bosbach, für ein zentrales V-Leute-Register. Zur Zeit müsse der Bund den Ländern melden, wo V-Leute geführt würden – aber umgekehrt bestehe diese Meldepflicht nicht für die Länder an den Bund, sagte der CDU-Politiker dem RBB-Inforadio. Somit wisse die größte Verfassungsschutzbehörde der Bundesrepublik nicht, welche V-Leute für die Länder tätig seien. Dies sei eine kuriose Lage. „Hier brauchen wir nicht unbedingt die Klarnamen der V-Leute. Aber wir müssten doch wenigstens wissen, wo und in welcher Funktion diese Rechtsextremisten tätig sind“, sagte Bosbach.
taz. die tageszeitung
Verzichten will der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nicht auf V-Leute. Dafür aber ein zentrales Register für sie einführen. Die Linke kritisiert das.
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Geschäft ist Geschäft - taz.de
Geschäft ist Geschäft AUS MOGADISCHUJOCHEN STAHNKE Abdullahi Nur al-Nuurie handelt mit Waffen. Er sitzt in seinem kleinen Kiosk auf dem Bakara-Markt von Mogadischu und freut sich. Die Preise für automatische Gewehre sind innerhalb der letzten zwei Monate um 25 Prozent gestiegen, sagt al-Nuurie. Die angespannte Atmosphäre auf dem Markt scheint ihm keine Angst zu machen. Gelegentlich knallt ein Schuss: Käufer testen ihre Ware. Doch solange auf den ersten kein zweiter folgt, geht hier alles seinen normalen Gang. Der Bakara-Markt gilt als der größte offene Waffenmarkt Afrikas. Er besteht aus zwei Straßenzügen, gesäumt von Bretterbuden, Wellblechverschlägen und rudimentären Betonhäuschen, flankiert von wild wuchernden Kakteen, in denen sich Abfall verfangen hat. Der heruntergekommene Eindruck täuscht. Ganz offen werden hier Kleinwaffen aller Art feilgeboten, wie Obst liegt in offenen Kisten die dazugehörige Munition aus. Auch das deutsche G 3-Sturmgewehr ist im Angebot. Trotzdem: „Die paar Waffen hier sind doch nur Show“, sagt al-Nuurie und deutet auf seine Gewehre, Bazookas und Pistolen, die er locker und ungeschützt in seinem grob gezimmerten Unterstand lehnen hat. Schweres Gerät nämlich halten die Waffenhändler versteckt – so ein Marschflugkörper könnte dem einträglichen Geschäft schnell ein Ende bereiten. Von der unvermeidlichen Kalaschnikow AK-47 über äthiopische Panzerfäuste bis hin zu schweren Flugabwehrgeschützen ist hier nahezu jeder Artikel binnen vierundzwanzig Stunden lieferbar. „Ich verkaufe Waffen einfach an jeden, der welche verlangt“ – das ist al-Nuuries Lebensversicherung. Dreißig Jahre alt und im Bürgerkrieg groß geworden, hat er ein sicheres Auskommen in der Kriegsökonomie Somalias gefunden. „Die Mullahs“ seien augenblicklich seine besten Kunden, erzählt Kriegsgewinnler al-Nuurie. Der wachsende Einfluss radikaler Islamisten im einst kosmopolitischen Mogadischu ist nicht zu übersehen: Es gibt kaum noch unverschleierte Frauen auf der Straße, Restaurants bleiben während des Fastenmonats Ramadan geschlossen. Einzig islamische Scharia-Gerichte bieten so etwas wie Rechtssicherheit, auch wenn sie gnadenlosen Gesetzen folgen. Islamische Milizen betreiben Checkpoints und verlangen einen geringeren Wegzoll als die Posten der übrigen Warlords. Erst kürzlich haben die Scharia-Milizen die Projektoren der altehrwürdigen Bollywood-Kinos von Mogadischu zerstört, anschließend plünderten sie die Filmbibliothek Somalias und verschleppten sechs ihrer Mitarbeiter. „Bitte teilt der Welt mit, dass wir hier kurz vor einer Machtübernahme der Taliban stehen“, fleht uns ein somalischer Journalist an, der sein Büro schon geräumt und seine Fotoausrüstung versteckt hat. Der Scheich lächelt Einen charismatischen Führer haben die somalischen Islamisten: Scheich Hassan Dahir Aweys heißt der Mann, nach dem die US-Regierung wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrornetzwerk al-Qaida fahndet. Verantwortlich gemacht werden Scheich Hassan und seine Kampfgruppe „al-Ittihad al-Islamia“ für den Bombenanschlag auf ein Hotel im kenianischen Mombasa mit 13 Toten im November 2002 sowie für den versuchten Abschuss einer israelischen Boeing dort wenige Minuten später. Scheich Hassan zu treffen gestaltet sich schwierig. Per Mobiltelefon wird man kreuz und quer durch den Süden Mogadischus geleitet, eine Fehlinformation jagt die nächste. Plötzlich bremst der Fahrer abrupt auf der Staubpiste neben einer unscheinbaren Häuserzeile. Jugendliche Kalaschnikowträger winken uns in eine kleine Moschee, von außen kaum als solche zu erkennen. Dort, auf einer schäbigen Matratze in der Ecke, sitzt Scheich Hassan. Er lächelt bescheiden, blickt jedoch nicht auf. Die Beine übereinander geschlagen, blättert er versonnen im Koran. Neben ihm steht ein mittelschweres Maschinengewehr. Es ist die einzig sichtbare Waffe in dem Gotteshaus, doch es wimmelt nur so von seinen sehr jugendlichen und wachsamen Jüngern. Er höre jetzt wieder öfter die Spähflugzeuge der Amerikaner, erklärt der Scheich dem Besucher. Aber der Mann mit dem prägnanten roten Bart wirkt fröhlich und aufgeräumt, von Angst keine Spur. Scheich Hassan hat große Pläne: Er strebt ein Kalifat über ganz Somalia an. Eine demokratische Regierung lehnt er per se als unislamisch ab. Und er will Krieg. Seine Kampfgruppe al-Ittihad, sagt der Scheich, sei erst kürzlich in der von ihm gegründeten Partei „Somali Salvation and Unity Council“ aufgegangen. „Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Waffen“, erklärt er selbstbewusst. Der Erzfeind des Islamisten Hassan ist die international anerkannte Übergangsregierung von Somalia unter Präsident Abdullahi Yusuf. Sie wurde vor einem Jahr auf einer Friedenskonferenz in Kenia gebildet und wird vor allem von Äthiopien unterstützt und mit Waffen in erschreckend großer Zahl versorgt. „Äthiopien ist für Ostafrika das, was Israel im Nahen Osten ist“, doziert Scheich Hassan und lässt dabei keinen Zweifel daran, dass er beide Länder für Pestbeulen hält. Die Clans streiten In der Tat scheint Äthiopien in Somalia vor allem eine destabilisierende Politik zu verfolgen. Zankapfel ist seit je die äthiopische Ogaden-Region, die hauptsächlich von Somalis bewohnt wird und wo Guerillatruppen seit vierzig Jahren für den Anschluss an Somalia kämpfen. Scheich Hassan und große Teile der somalischen Opposition unterstützen die Rebellen im Ogaden. Laut UN-Experten wird der Scheich dabei von Eritrea versorgt, das damit seinen Erzfeind Äthiopien schwächen will. Der Rumpfstaat Somalia ist der Spielball der Regionalmächte Äthiopien, Jemen und Eritrea. Mogadischu galt einst als Perle Afrikas, davon zeugt auch der atemberaubend schöne Naturhafen aus Korallenstein. Doch eine Mischung aus Warlords, autonomen Mordbanden, militanten Islamisten und ausländischen Geheimdiensten macht aus der Stadt eine Gefahr für die gesamte Region. Hätten die Bretterverschläge der vielen Waffenkioske in Mogadischu Türen – die Kunden würden sich die Klinke in die Hand geben. Somalia steht vor seinem nächsten großen Krieg. Die Übergangsregierung unter Abdullahi Yusuf integriert zwar weitgehend alle Clans und Warlords, ist aber selbst tief gespalten. Sie ist bereits der 14. Versuch seit dem Zerfall des somalischen Zentralstaates vor 14 Jahren, eine Regierung für Somalia zu bilden. Doch auch diesmal stehen ihre Chancen schlecht. Präsident Yusuf und seine Anhänger vom großen Darod-Clan haben ihr Hauptquartier in Jowhar bezogen, einer kleinen Stadt neunzig Kilometer nördlich von Mogadischu. In der Stadt selbst sitzt die innere Opposition, vor allem Angehörige des Hawiye-Clans. Hinzu kommt: Die mit 42 Ministerien und 91 Kabinettsmitgliedern völlig überdimensionierte Übergangsregierung liest sich wie ein Who’s who der Kriegsverbrecher. Sicherheitsminister zum Beispiel ist Qanyare Afrah, der wohl mächtigste Warlord in und um Mogadischu. Seinen Reichtum verdankt er dem von ihm kontrollierten Flughafen Dayniile. Wiewohl nicht viel mehr als eine Sandpiste, wirft Dayniile täglich bis zu 10.000 US-Dollar Profit an Lande- und Sicherheitsgebühren ab. Denn den internationalen Flughafen Mogadischu fliegt niemand mehr an, er kann von fast jedem beliebigen Ort in der Stadt aus unter Feuer genommen werden. Somit landen auch UN-Maschinen in Dayniile – und zahlen. Für einen einzigen Tagessatz hat Qanyare an einem Märztag fünfzig AK-47-Sturmgewehre auf dem Bakara-Markt gekauft. Eigentlich steht Somalia ja unter UN-Waffenembargo. Aber niemand hält sich daran. In die Waffentransaktionen seien „auch 10 Minister sowie der Präsident der Übergangsregierung selbst verwickelt“, lautet das Fazit der UN-Experten, die das Embargo überwachen sollen, in ihrem jüngsten Bericht. Der Warlord kassiert Einer der wenigen regierungstreuen Warlords in Mogadischu ist Hussein Farah Aidid, stellvertretender Premierminister der Übergangsregierung. Sein Ruhm leitet sich hauptsächlich daraus her, dass sein Vater, ein erfahrener Rebellenführer, 1992 die US-Armee aus Mogadischu verjagt hat. Deshalb wohnt Sohn Aidid heute im ehemaligen Präsidentenpalast. Doch präsidiale Atmosphäre will sich trotz üppiger Plüschsessel im großen Empfangsraum nicht einstellen. Denn die „Villa Somalia“ ist eine zerschossene Ruine, in der nicht einmal die Treppen von Trümmern und Abfall geräumt sind. Ausgebildet in den USA und Veteran der US-Marines, gibt sich Aidid weltgewandt und souverän. Natürlich befürworte er einen Umzug der Übergangsregierung nach Mogadischu, erklärt er dem Besucher. Für ihre Sicherheit könne er persönlich garantieren. Hat er denn nicht von Scheich Hassan und seinen Islamkriegern gehört? Aidid beugt sich vor, die leuchtend blaue Krawatte wölbt sich über dem massigen Bauch: „Scheich Hassan kann gerne Scharia-Gerichte aufbauen. Aber er kann nicht in die Politik gehen. Das verbietet der Koran.“ Der Mann im karierten Maßanzug mit den kurzen Ärmeln scheint dabei auszublenden, dass er selbst nur noch etwa zwei Straßenzüge um die Villa Somalia herum kontrolliert. Genau wie die riesige Villa ist auch der Name Aidid nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Für ein paar Checkpoints reicht es noch. Gerade genug, um Geschäfte zu machen. Frieden will hier niemand, der auch nur eine Hand voll Milizen besitzt. Waffenhändler al-Nuurie erwartet den Krieg „sehr bald“. Beobachter sagen einen Angriff durch Scheich Yusuf zuerst auf die strategisch wichtige Stadt Baidoa voraus, danach den Vorstoß auf Mogadischu. Die Warlords dort werden sich zum Häuserkampf vereinen. Nuurie beunruhigt das nicht. Geschossen wird auf jeden Fall, Geschäft ist Geschäft.
JOCHEN STAHNKE
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"Tahrir 2011" - Arabischer Frühling im TV: Der Geist der Revolution in 3-D - taz.de
"Tahrir 2011" - Arabischer Frühling im TV: Der Geist der Revolution in 3-D "Tahrir 2011" bringt den Arabischen Frühling in die Wohnzimmer - um 23.15 Uhr im WDR. Die Geschichte der Revolution wird aus Teilnehmer-Perspektive erzählt. Demonstranten flüchten vor dem Tränengas der Staatssicherheit zwischen stehende Militärpanzer. Bild: WDR/Mediacenter Tahrir-Platz "Mutig ist mutig, und feige ist feige / Heute Nacht ist dieser Platz unsere Bleibe / Er liegt sehr weit weg und ist trotzdem nicht unerreichbar." So meldet sich das ägyptische Volk zu Wort nach langen Jahren der Angst, Unterdrückung und Korruption unter dem Regime von Husni Mubarak. Es ist der Tag des Zorns, ein Dienstagmorgen am 25. Januar 2011 am Tahrirplatz in Kairo, die Proteste beginnen gerade. Im Sonnenschein stehen rund 15.000 Menschen mit ihren selbst geschriebenen Plakaten, sie singen Parolen gegen Mubarak. Der Arabische Frühling hat Ägypten erreicht. "Die Organisatoren der Demonstration waren überrascht, dass die Proteste ein solches Ausmaß hatten", beteuert ein junger Aktivist, der als Student Mitglied bei den Muslimbrüdern geworden ist. "Eine Revolution auf Bestellung, indem man auf Facebook einen Aufruf startet?", fragt eine junge Frau aus der Mittelschicht. Sie gehören zu den Protagonisten des Dokumentarfilms von Tamer Ezzat, Ayten Amin und Amr Salama, "Tahrir 2011". Tahrir bedeutet "Befreiung". Von hier aus fing die "Facebook-Revolution" in Ägypten an; deren Geschichte der Film aus der Perspektive der jungen Revolutionäre erzählt. Die Facebook-Revolution Nur 18 Tage später war es geschafft, die 30 Jahre dauernde Diktatur war gestürzt, Mubarak trat zurück. Mit bislang im Fernsehen nicht gezeigten Aufnahmen werden die Demonstrationen und Straßenkämpfe gezeigt sowie Porträts einiger Widerstandskämpfer gezeichnet. Ein Zusammenschnitt aus verwackelten Amateurfilmen, Handyvideos und Augenzeugenberichten. Hysterisch heulende Männer, kampfwütige Frauen - der Tahrirplatz wird zum gemeinsamen Camp und zeigt einen Querschnitt der Gesellschaft. "Die Guten", so heißt dieser erste Teil des Films, in dem der Zuschauer sich als Teil der Demonstranten fühlt. Im zweiten Teil werden "die Bösen" dargestellt: Polizisten und Sicherheitskräfte, die über ihre Einsätze gegen die Revolutionäre berichten. "Ich habe nur meinen Job gemacht", verteidigt sich einer mit verpixeltem Gesicht. Trotz des Filmverbots haben die Dokumentarfilmemacher Sicherheitskräfte zu Wort kommen lassen, eine vielschichtige Darstellung entsteht. Das Volk und der Palast "Wie werde ich Diktator?", fragt der satirische Teil drei: "Der Politiker". In zehn Punkten wird das "Modell Mubarak" zusammengefasst: Wie aus dem Sadat-Nachfolger von 1981 der Diktator Mubarak werden konnte. Gespräche mit Insidern, ehemaligen Mitarbeitern, Parteipolitikern, Journalisten und Intellektuellen bringen die letzten Tage des Regimes aus Sicht des Palastes in Erinnerung und geben auf ironisch-amüsante Weise Einblicke in die Funktionsweise einer Diktatur. "Tahir 2011" gelingt es, den Geist der ägyptischen Revolution zu transportieren und über ihre Helden und Feinde ein dreidimensionales Porträt zu zeichnen. Dies liegt sicherlich auch daran, dass die drei Filmemacher selbst aktiv an der Revolution beteiligt waren. Bemerkenswert ist auch, dass der Film zeitnah an den historischen Ereignissen entstanden ist. "Tahrir 2011" feierte im September 2011 bei der Mostra di Venezia seine Weltpremiere und ist bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden. Es werden wohl noch einige Filme folgen, die jene Geschehnisse analysieren werden. Donnerstag um 23.15 Uhr im WDR
Anna Frenyo
"Tahrir 2011" bringt den Arabischen Frühling in die Wohnzimmer - um 23.15 Uhr im WDR. Die Geschichte der Revolution wird aus Teilnehmer-Perspektive erzählt.
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Der Nationalpark New Forest: Zäune aufstellen ist verboten - taz.de
Der Nationalpark New Forest: Zäune aufstellen ist verboten Ein Paradies für Naturfreunde: Der Nationalpark New Forest südlich von London setzt auf nachhaltigen Tourismus. Rund 4.500 halbwilde Ponys laufen dort frei herum. Nicht jeder mag es, wenn die Pferde bis an die Theke kommen. Bild: imago/Chromorange Achtung! Abbremsen! Mitten auf der Straße steht eine fette schwarz-weiße Sau. Ihre drei Ferkel wühlen am Straßenrand nach Eicheln. Gemächlich setzt sich das Schwein in Gang und lässt uns vorbeifahren. Einige Kurven weiter bremsen wir schon wieder. Diesmal weiden braune und schwarze Ponys und Fohlen am Straßenrand. Wenig später überquert eine Kuh mit ihrem Kälbchen die Straße. Im Nationalpark New Forest, etwa eineinhalb Stunden südlich von London, sind Tiere auf der Straße, in Vorgärten und auf Parkplätzen ein alltäglicher Anblick. Aber die meisten sind natürlich da, wo sie hingehören: auf den Wiesen und in den Wäldern. Die Gegend ist berühmt für ihre 4.500 halbwilden Ponys und ihre monatelang frei lebenden Esel und Rinder. Im Herbst dürfen auch noch die Hausschweine frei herumlaufen. Sie sollen die vielen abgefallenen Eicheln fressen, die für die Ponys und Rinder giftig sind. Die Schweine übernehmen diesen Job gerne. „Und sie werden dabei schön fett für den Weihnachtsbraten“, erläutert Richard Stride diesen speziellen New-Forest-Kreislauf. Stride ist Commoner, also ein Landwirt, dessen Tiere im New Forest frei grasen dürfen. Er ist aber auch Verderer, das heißt, er wurde von den anderen Bauern in den zehnköpfigen Verderers‘-Court gewählt, der im New Forest alle wichtigen Entscheidungen über den Umgang mit der Natur und den Tieren trifft. Stolz zeigt uns der 61 Jahre alte Engländer mit der typischen Schirmmütze auf dem Kopf das am Waldrand stehende Haus seines Sohnes. „Ist das nicht ein wunderbarer Platz für ein Haus? Ein Paradies!“ Zwanzig Schweine und etliche Ponys und Rinder der Familie Stride sind in den Wäldern rund um das Haus unterwegs. „Und wie fangen sie die Tiere wieder ein?“, fragen wir erstaunt. Infos zum New ForestAnreise: Mit dem Zug von London Waterloo Station nach Ashurst, Brockenhurst oder Lyndhurst. Fahrzeit etwa 90 Minuten. Die Hin- und Rückfahrt ist ab 54 Euro erhältlich.Flug: Einen Hin- und Rückflug von Deutschland nach London gibt es ab 40 Euro. Flüge über Paris oder Amsterdam nach Southampton kosten ab 300 Euro.Übernachtung: Cottage Lodge New Forest B&B, Sway Road, Brockenhurst. Doppelzimmer mit Frühstück 95 Euro bis 120 Euro. cottagelodge.co.uk Literatur: Emily Laurence Baker: Slow New Forest. Bradt Travel Guides. März 2013, 12 EuroWeitere Infos: New Forest National Park Verwaltung: newforestnpa.gov.uk, Informationen für Touristen: thenewforest.co.uk, New Forest Volunteer Rangers: newforestvrs.org.uk, Geführte Touren: hiddenbritaintours.co.uk „Kein Problem“, sagt Stride, „die Schweine und Rinder kommen freiwillig wieder nach Hause und die Ponys werden nur einmal im Jahr eingefangen.“ Das Recht, die Tiere frei herumlaufen zu lassen, stammt aus dem Jahr 1079, als Wilhelm der Eroberer „Nova Foresta“ zu seinem Jagdgrund erklärte und das für die Jagd hinderliche Aufstellen von Zäunen verbot. Der New Forest ist also weder neu, noch besteht er vornehmlich aus Wald. Wiesen und Heideland machen über die Hälfte des Nationalparks aus. Dort wachsen vor allem Gras, Ginsterbüsche und Heidekraut. Wald und Heide sind von Wanderwegen und Fahrradrouten durchzogen. Gleich bei unserer ersten Wanderung erleben wir einen magischen Moment: Hinter einem großen Ginsterbusch kommt plötzlich ein braunes Pony hervor. Hinter ihm folgt ein weißes und noch eines und noch eines. Ergriffen sehen wir zu, wie sich die ganze Herde in Bewegung setzt und über die weiten Wiesen Richtung Waldrand galoppiert. Zu zahm ist auch nicht gut Wenig später begegnen wir einer anderen Herde, die friedlich zwischen den Büschen grast. Eines der Ponys kommt zutraulich auf mich zu. Obwohl ich es gerne streicheln würde, halte ich mich zurück. Ich erinnere mich an ein Kapitel in unserem New-Forest-Führer. Dort stand, man solle die Tiere nicht streicheln, weil sie sich sonst zu sehr an die Menschen gewöhnen und sich das Risiko erhöht, dass sie in die Ortschaften laufen. Die Ponys leisten durch fleißiges Grasen auch einen Beitrag zum Erhalt der lichten Wälder und der Heidelandschaft. New Forest Ponys sind weniger empfindlich als andere Pferde, Wind, Regen und Kälte können ihnen nichts nichts anhaben. Mit ihren rauen Zungen fressen sie sogar stacheligen Ginster und die harten Blätter der Stechpalme. Nicht alle Ponys leben allerdings frei. Einige von ihnen werden in Reitställen gehalten, die Ausritte anbieten. „Die Ponys sind sehr friedlich und etwas kleiner als Pferde. Sie eigenen sich besonders gut dazu, von Kindern geritten zu werden“, erzählt Landwirt Richard Stride. Kennzeichen für die Ponys Er gibt uns den Tipp, dass am nächsten Tag in der Nähe des Ortes Burley eine „Drift“ stattfindet. Dabei schwärmen die Landwirte und ihre Helfer auf Pferden und zugerittenen New-Forest-Ponys aus, um die frei herumziehenden Ponys einzufangen und zu kennzeichnen. Als wir am Driftplatz mitten in der Heide ankommen, stehen die Helfer mit langen Stangen schon erwartungsvoll da. Wir sollen ganz am Rand des Platzes stehen bleiben, rufen sie uns zu. Plötzlich kommt Bewegung in die Menge. Laut „Hoh!“ und „Heh“ rufend preschen die Reiter heran, in ihrer Mitte einige halb-wilde Ponys mit ihren Fohlen. Gemeinsam mit den Helfern treiben sie die eingefangenen Tiere hinter die Einzäunung. Dort werden die Ponys auf Krankheiten untersucht und bekommen das Brandzeichen des Hofes, in dessen Nähe sie eingefangen wurden. Denn die Ponys leben zwar frei, aber sie gehören alle zu einem der Höfe im New Forest. Ihren Besitzern bringen die Ponys im Gegensatz zu den Rindern und Schweinen allerdings kaum etwas ein. „Früher waren sie von den Pferdefreunden begehrt, aber heute können sich die Leute keine Reitponys mehr leisten“, berichtet Landwirt Stride. Deshalb entlassen die Commoner nur noch wenige Hengste in die Freiheit. So wollen sie verhindern, dass sich die Tiere weiter vermehren und eines Tages nicht mehr genügend Gras für alle da sein wird. Esel und Pferde Doch in diesem Jahr geht die Rechnung nicht auf: „Weil es weniger Hengste gab, haben sie sich von den Eseln decken lassen“, erzählt Stride: „Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass weniger männliche Esel draußen herumlaufen.“ Kaum ein Commoner kann heute noch von seinen Tieren leben. Stride und seine Söhne arbeiten hauptberuflich für die Forestry Commission, die das Miteinander von Tourismus, Natur und frei laufenden Tieren im New Forest organisiert. Natürlich kommt es immer wieder zu Konflikten: „Touristen füttern die Ponys und wundern sich, wenn diese dann zudringlich werden“, erzählt Stride. „Oder sie lassen ihre Hunde frei laufen und unsere Ponys und Schweine angreifen.“ Das größte Problem aber sind die Raser: „Jede Woche werden einige Ponys oder Esel von Autos totgefahren“, klagt Stride. Die Landwirte legen den Ponys reflektierende Halsbänder an, um noch mehr Unfälle zu verhindern. Ab und zu gibt es auch Ärger wegen der frei laufenden Schweine: „Einmal ist eines in den Supermarkt in Brockenhurst eingedrungen. Ein anderes mussten wir aus einem Swimmingpool fischen.“ Stride schimpft ausgiebig über die „reichen Stadtmenschen, die hier Häuser kaufen, die Grundstückspreise in die Höhe treiben und unser Leben nicht verstehen“. Unterschiedliche Lebenseinstellungen prallen hier hart aufeinander: Mitten im kleinen Städtchen Lyndhurst bietet ein Autohändler Ferraris und Maseratis an. Autos und Motorräder knattern durch den Ort und stauen sich vor den Ampeln. Uralte Eichen Wenige Kilometer entfernt begegnen wir bei unserer Waldwanderung stundenlang keinem Menschen. Zwischen Buchen und Stechpalmen steht plötzlich eine riesige Eiche. „Sie hat fast sieben Meter Umfang und dürfte 450 Jahre alt sein“, sagt unsere Begleiterin Gillie Hayball, Leiterin der National Park Ranger. Ihre Aufgabe ist es, den Besuchern das ökologische Gleichgewicht im New Forest zu erklären. „Leider gibt es nicht mehr viele alte Eichen, denn aus dem Holz wurden früher die Schiffe gebaut. Sehr viele Eichen wurden im 18. Jahrhundert für Admiral Nelsons Flotte abgeholzt“, erzählt die Rangerin. Ein graues Eichhörnchen flitzt an uns vorbei. Auch dazu fällt ihr sofort eine Information ein: „Die Grauen sind eingewandert und haben unsere Roten ausgerottet.“ Sie macht uns auch darauf aufmerksam, dass die Laubbäume erst in etwa zwei Meter Höhe Blätter tragen. Darunter haben die Ponys alle abgefressen. „Aber noch lieber fressen sie junge Baum-Sprösslinge. Das ist gut so, denn dadurch bleibt der Wald licht, für die Tiere bewohnbar und für die Menschen begehbar“, sagt Gillie Hayball. Im Sumpf steht wieder das Wasser Ökologin Sarah Oakley zeigt uns eine malerische Waldlichtung, durch die sich ein Bach schlängelt. „Wir haben ihm sein altes Bett zurückgegeben, jetzt ist hier wieder natürliches Sumpfland, in dem Frösche und andere Reptilien leben.“ Der Bach war vor 150 Jahren begradigt worden, um den Sumpf auszutrocknen. Inzwischen hat man erkannt, dass der Sumpf ein schützenswerter Lebensraum ist. „Wie ein Schwamm bewahrt er das Wasser und gibt es nach und nach an den Wald ab“, erläutert die Ökologin. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen Menschen, Tieren und Natur ist in diesem relativ dicht besiedelten Nationalpark nicht einfach zu wahren. Zu den 34.000 Einwohnern kommen im Jahr noch 13 Millionen Touristen hinzu. Die Regionalverwaltung wirbt sehr dafür, dass die Touristen nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug anreisen sollen. Sie zeichnet Betriebe, die besonders nachhaltig wirtschaften, mit dem Zertifikat „Green Leaf“ aus und fordert Touristen auf, gezielt nach Unterkünften und Geschäften mit dem „Grünen Blatt“ zu suchen. In jedem Ort im New Forest gibt es Elektroautos, E-Bikes und Fahrräder zu mieten. Im Sommer bietet ein oben offener Touristenbus eine Fahrt zu den schönsten Orten an. Die Betreiber unseres gemütlichen Bed & Breakfast „Cottage Lodge“ in Brockenhurst verarbeiten in der Küche vor allem Lebensmittel von lokalen Anbietern. Das Frühstück, mit Omelette, Pilzen, Bohnen, Würstchen, Toast, Marmelade und Früchten schmeckt wunderbar. Lokale Produkte Abends verwandelt sich der Frühstücksraum in das ausgezeichnete, aber etwas teure Feinschmeckerlokal „Fallen Tree“, das von anderen Betreibern geführt wird. Auch dieses Restaurant setzt wie die meisten anderen Lokale, Hotels, Pensionen, Cafés und Pubs auf Produkte aus der Gegend. Das bekannteste Pub ist das „Royal Oak“ in Fritham. In dem alten Holzhaus aus dem 17. Jahrhundert sitzen Einheimische und Touristen beim Mittagessen. Es gibt ausdrücklich keine Pommes, dafür aber eine warme Suppe, Pasteten, Bauernschmaus und viele Sorten Ale vom Fass. Waldarbeiter und Landwirte treffen sich hier auf ein, zwei oder noch mehr Pints. Lauthals verkünden sie, wie hart das Leben im New Forest ist – und wie unendlich viel schöner es hier ist als in der Stadt.
Tina Stadlmayer
Ein Paradies für Naturfreunde: Der Nationalpark New Forest südlich von London setzt auf nachhaltigen Tourismus. Rund 4.500 halbwilde Ponys laufen dort frei herum.
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EU vs. Microsoft - taz.de
EU vs. Microsoft Zum zweiten Mal hat die EU-Kommission gestern ein Zwangsgeld gegen Microsoft verhängt. Der US-Konzern soll 280,5 Millionen Euro zahlen. Der Konzern missbrauche seine marktbeherrschende Stellung, so Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes gestern. „Alle Unternehmen, die in der EU tätig sind, müssen sich an die EU-Vorschriften halten.“ Kroes verwies auf eine Marktstudie, nach der Microsoft den Löwenanteil am europäischen Softwaremarkt hält. Microsoft habe angekündigt, die erforderlichen Unterlagen nachzuliefern. „Es ist schade, dass sie unseren Forderungen nicht vor zwei Jahren nachgekommen sind“, sagte Kroes. Vor zwei Jahren hatte die Kommission bereits eine Strafe von 497 Millionen Euro verhängt, gegen die Microsoft Einspruch eingelegt hat. Mit einem Urteil wird erst für nächstes Jahr gerechnet. Sollten die von der Kommission geforderten technischen Details bis Ende Juli nicht in Brüssel vorliegen, erhöht sich das Zwangsgeld auf 3 Millionen Euro pro Tag. Für weitere Maßnahmen wäre dann ein neuer Kommissionsbeschluss erforderlich. DW Details unter http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/cases/microsoft/index.html
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Die taz auf Papier: taz print - taz.de
Die taz auf Papier: taz print Die täglich taz in der klassischen Ausgabe, zusätzlich die taz digital. Lesen Sie Ihre Zeitung gern klassisch auf Papier? Dann ist dieses Abo das Richtige für Sie. Zusätzlich erhalten Sie ohne weitere Kosten den Zugang zur digitalen Ausgabe. Mit dem taz-Solidarpakt ist der monatliche Preis dieses Abos frei wählbar (41,80 € / 62,90 € / 74,90 €). Es beinhaltet: ● Die gedruckte Ausgabe der täglichen taz von Montag bis Freitag ● Die gedruckte Ausgabe der wochentaz am Samstag + KONTEXT:Wochenzeitung ● Monatlich die gedruckte Ausgabe der LE MONDE diplomatique ● Zusätzlich die ganze digitale Ausgabe der taz ● Dauerhaft günstig: 10% Rabatt auf ihre Einkäufe in unserem taz Shop Die digitale Ausgabe steht bereits am Vorabend des Erscheinungstages zur Verfügung. Für das bequeme Lesen auf digitalen Endgeräten finden Sie die taz-App im Google Playstore und im App Store. Den Preis des Abos können Sie nach unserem Solidarpakt wählen. Preise gelten innerhalb Deutschlands. Auslandsabos zzgl. Versandkosten für die Printausgabe. AbobestellungDie mit * gekennzeichneten Felder sind Pflichtfelder Ihre E-Mail-Adresse E-Mail* Lieferadresse Vorname Name* Namenszusatz Straße/HausNr* Land* PLZ* Ort* Telefonnummer Lieferhinweis Vorderhaus Hinterhaus rechter Seitenflügel linker Seitenflügel Einfamilienhaus Briefkasten innen außen Rechnungsadresse nur notwendig, falls nicht identisch mit Lieferadresse Vorname Name Namenszusatz Straße/HausNr. Land PLZ Ort Telefon monatlicher Bezugspreis 62,90 EUR (Standard Preis) 74,90 EUR (Politischer Preis) 41,80 EUR (Ermäßigter Preis) Versandkosten Deutschland (inklusive) Landweg: 5,70 EUR/Woche Luftpost: 7,90 EUR/Woche Zahlungsrhythmus monatlich (nur per Bankeinzug) vierteljährlich halbjährlich jährlich Zahlungsart Bankeinzug Rechnung Meine Bankdaten Ihre IBAN finden Sie auf Ihrem Kontoauszug. Unsere Gläubigeridentifikationsnummer ist DE9200100000011699. EU-Konten können am SEPA-Lastschriftverfahren teilnehmen. Zahlungen sind ausschließlich in Euro möglich. IBAN BIC KontoinhaberIn Widerruf Mir ist bekannt, dass ich diese Bestellung ohne Begründung innerhalb von 14 Tagen schriftlich bei der taz-Aboabteilung, Postfach 610229, 10923 Berlin widerrufen kann. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. Widerrufsgarantie Ihre Hinweise (max. 250 Zeichen) Zeichen übrig (maximal 250) Datenschutzerklärung Ich habe die Datenschutzerklärung zur Kenntnis genommen. Ich stimme der Nutzung meiner E-Mail-Adresse für taz-Abonnement-Informationen zu. Diese Zustimmung kann ich jederzeit per E-Mail an abo@taz.de widerrufen. Das Abo verlängert sich um den angegebenen Zahlungszeitraum zum gültigen Bezugspreis, wenn es nicht drei Wochen vor Ablauf des Zahlungszeitraums schriftlich gekündigt wird.
taz. die tageszeitung
Die täglich taz in der klassischen Ausgabe, zusätzlich die taz digital.
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Kinotipp der Woche: Die Ukraine im Jahr 2025 - taz.de
Kinotipp der Woche: Die Ukraine im Jahr 2025 Goethe Insitut im Exil: Das ACUD zeigt Werke von Oleksandr Dovzhenkos, der zur wichtigen Bezugsfigur der ukrainischen Filmgeschichte wurde. Wie nur den Donbass dokumentieren? Szene aus Iryna Tsilyks „The Earth is Blue as an Orange“ (2020) Foto: Goethe-Institut im Exil Etwa ein Drittel von Oleksandr Dovzhenkos „Zemlya“ („Erde“) von 1934 vergeht bevor der Protagonist des Films auf der Leinwand erscheint. Die Be­woh­ne­r:in­nen des Dorfs lassen alles stehen und liegen und stürzen herbei, die Angehörigen des lokalen Komsomol stolzieren. Die „Kulaken“ beugen sich fassungslos von der Anhöhe herab, von der sie eben noch stolz hinab blickten. Vasyl, menschliche Hauptfigur des Films, steuert ihn, den Traktor, der das eigentliche Zentrum der Handlung von Dovzhenkos Film ist, Richtung Dorf. Die Abgase des Fordson-Putilovets nebeln die Komsomolzen tüchtig ein, aber all das kann den Stolz nicht mindern. Der sowjetische Nachbau eines amerikanischen Traktors wird Vasyl das Leben kosten. Die Maschine wirft nicht nur die überkommenen Arbeitsweisen der Bauern über den Haufen, sie pflügt auch soziale Hierarchien um. „Zemlya“ ist ein Loblied auf die Kollektivierung der Landwirtschaft. Der ukrainisch-sowjetische Film wurde schon zeitgenössisch von Regiekollegen in aller Welt bewundert – von Eisenstein bis Paul Rotha. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine wuchs die Bedeutung Oleksandr Dovzhenkos als Bezugsfigur ukrainischer Filmgeschichte weiter, mit „Zemlya“ als einem zentralen Klassiker. Am Donnerstag läuft der Film nun mit neuer Musik der Band DakhaBrakha im Berliner Kunsthaus ACUD als Auftakt einer Reihe von ukrainischen Filmen. Das Filmprogramm ist Teil einer größeren Veranstaltungsreihe, die Kulturschaffende aus der Ukraine in Berlin präsentiert. Das FestivalUkrainische Kulturen in Berlin / Auftakt „Goethe-Institut im Exil“: Kunsthaus ACUD, 6.–9.10., Veteranenstr. 21 Diese Veranstaltungsreihe wiederum ist der Auftakt des Goethe-Instituts im Exil im Kunsthaus ACUD. Das Goethe-Institut im Exil soll, so die Pressemitteilung, „Kulturschaffenden stellvertretend für alle weltweit aus politischen Gründen geschlossenen Goethe-Institute einen Ort der Begegnung, Schutzraum und Bühne“ bieten. Das Programm des Auftaktfestivals umfasst Theater, Musik, Performances, Lesungen, eine Kammeroper und Diskussionen. Das Filmprogramm wurde zusammengestellt von Nadia Parfan, Gründerin von takflix.com, einer Streamingplattform für ukrainischen Film. Neben Dovzhenkos Klassiker läuft eine Auswahl von aktuelleren ukrainischen Filmen. Kate Gornostais „Stop-Zemlia“ ist ein Coming-of-Age-Film über zwei Schulfreundinnen, über Liebe und Krieg im letzten Schuljahr. 2021 gewann er den Gläsernen Bären der Berlinale. „My Thoughts are Silent“ von Antonio Lukich zeigt den ukrainischen Tontechniker Vadim auf einer skurillen Reise auf der Jagd nach Tieraufnahmen in Transkarpatien. Eine Familie im Donbass will in Iryna Tsilyks Dokumentation „The Earth is Blue as an Orange“ kurz vor Beginn des neuerlichen russischen Angriffs auf die Ukraine einen Film über das Leben in der Region drehen, in die der Krieg schon Jahre früher eingefallen ist. tazplanDer taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz. Der unheimlichste Film der Reihe ist Valentyn Vasyanovychs „Atlantis“ von 2019. „Atlantis“ blickt voraus ins Jahr 2025, ein Jahr nach dem Ende des Kriegs mit Russland und zeigt eine Gruppe Männer, einige von ihnen Stahlarbeiter, auf der Suche nach einem Leben nach dem Krieg. Zu einigen der Filme wird es Gespräche mit den Fil­me­ma­che­r:in­nen geben. Film- und Veranstaltungsreihe sind eine Gelegenheit zu geballter Begegnung mit Kulturschaffenden aus der Ukraine.
Fabian Tietke
Goethe Insitut im Exil: Das ACUD zeigt Werke von Oleksandr Dovzhenkos, der zur wichtigen Bezugsfigur der ukrainischen Filmgeschichte wurde.
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Demos gegen Banken und Sparzwänge: Bewegte Welt - taz.de
Demos gegen Banken und Sparzwänge: Bewegte Welt Die Proteste beim weltweite Aktionstag verliefen größtenteils friedlich. Hunderttausenden demonstrierten in 82 Ländern und 951 Städten gegen die Macht der Banken. Platzbesetzer mit Attac-Fahnen auch vor dem Berliner Kanzleramt. Bild: dpa Weltweit haben am Wochenende Hunderttausende Menschen gegen die Macht der Banken und Börsen und gegen die staatlichen Sparmaßnahmen demonstriert. Nach dem Vorbild der spanischen "Empörten" und der "Occupy Wall Street"-Bewegung. SPANIEN Die spanische Protestbewegung der "Empörten" ist vitaler, als viele geglaubt hatten. 500.000 Menschen waren in Madrid dem Aufruf zur Kundgebung nach Angaben der Veranstalter gefolgt, in Barcelona 140.000. Auch in Valencia, Sevilla, Bilbao und sogar im asturianischen Mieres demonstrierten jeweils mehr als 10.000 Menschen. In Madrid war die Freude über den Erfolg so groß, dass die Debatten der anschließenden öffentlichen Vollversammlung diesmal weniger im Vordergrund standen. Zum von zahlreichen fliegenden Händlern herbeigeschafften Dosenbier setzten sich die meisten einfach auf den Platz und feierten ihre Fiesta. Dazu hatten sie allen Grund. In den Diskussionsrunden der vielen kleinen konservativen Digitalkanäle war die Bewegung immer wieder verhöhnt worden als Ansammlung Flöten spielender Obdachloser, die politisch nicht ernst zu nehmen seien, und von denen sich die Spanier zunehmend distanzierten. Das Bild am Samstag war jedoch genau das Gegenteil: Die Basis der Protestbewegung ist in Spanien breiter geworden. Ursprünglich waren die Proteste von Schulen, Hochschulen und Kollektiven wie "Jugend ohne Zukunft" ausgegangen, diesmal trieb die schlechte finanzielle Situation in den öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäusern auch viele ältere Menschen auf die Straße. Statt neuer Rettungspakete für Finanzinstitute forderten die Demonstranten "eine Räumungsklage gegen die Banken" - eine Anspielung auf die 160.000 Zwangsversteigerungen, die die Banken in diesem Jahr gegen spanische Wohnungskäufer eingeleitet haben. GRIECHENLAND In Athen kamen etwa 7.000 Menschen vor das Parlament auf den Syntagmaplatz, wo ein Protestkonzert stattfand, bei dem griechische Rockstars und Alternativmusiker auftraten. Es wurde zu weiteren Protestaktionen aufgerufen, griechische Fahnen wurden geschwenkt und Parolen gegen EU, EZB und IWF skandiert. Umjubelt wurde ein Konvoi aus hunderten Motorradfahrern, die gegen die Sparpolitik der Regierung protestierten. Eigentlich wollten die Veranstalter an die Massendemonstrationen der "empörten Bürger" vor dem Parlament im vergangenen Sommer anknüpfen, aber das ist ihnen wohl nicht ganz gelungen. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass "die Demonstranten sich erst warm machen müssen für den Generalstreik" am Mittwoch, wie die linke Athener Tageszeitung Avgi kommentierte. FRANKREICH In Paris versammelten sich rund 5.000 vorwiegend jüngere Leute auf dem Platz vor dem Rathaus. Diese "Indigné(e)s" sind indirekt Stéphane Hessels "Enkelkinder". Der 94-Jährige hatte mit seinem Manifest "Indignez-vous!" ("Empört euch!") einen Appell lanciert, der mittlerweile in mehr als vier Millionen Exemplaren verbreitet und mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden ist. Ein Zwanzigjähriger rief den jungen Demonstranten in Erinnerung, dass sich Gleichaltrige während der Besetzung in der Widerstandsbewegung für dieselben Ziele der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit engagiert hatten. Diese Grundwerte der Demokratie seien in Vergessenheit geraten. Jetzt müssten andere Generationen "wie damals die Résistance" den Kampf fortsetzen. Die für die französische Kapitale eher bescheidene Demo-Mobilisierung soll erst ein Anfang sein. Es zirkuliert bereits ein Aufruf, am 5. November das Business-Viertel "La Défense" im Westen der Hauptstadt zu besetzen. GROSSBRITANNIEN In London hielten in der Nacht zum Sonntag mehr als 400 Demonstranten, umzingelt von der Polizei, den Platz vor der Sankt-Pauls-Kirche neben der London Stock Exchange besetzt. "Noch müssen wir uns erst mal finden", sagte die Sprecherin der Organisatoren der taz. Doch mehr als 80 Zelte sind inzwischen aufgeschlagen, es gibt eine Küche und - solange der Aggregator funktioniert - Strom. Scotland Yard hat am Sonntagmorgen die Einsatzpolizisten, ausgestattet mit Helmen und Handschuhen, abgezogen und die Polizeipräsenz verringert, nachdem Pastoren der Kirche die Demonstranten willkommen hießen und die Polizei aufforderte zu gehen. Bis zu 5.000 Menschen waren im Verlauf dieses Samstags an die Kirche gekommen. Die Polizei hatte den Platz jedoch abgeriegelt und hinderte die Demonstranten, an dem Protest teilzunehmen. Der ursprüngliche Plan, am Samstag statt dem Kirchenvorplatz den Börsenvorplatz zu besetzen, war ebenfalls an Blockaden der Polizei gescheitert. Kurz nachdem die Besetzung am Samstag begonnen hatte, feierte Wikileaks-Gründer Julian Assange unter Jubel und Pfiffen aus der Menge einen Auftritt auf den Stufen vor dem Hauptportal der Kirche. Er prangerte Geldwäsche an, zog Verbindungen zu den Protesten in Kairo und warf dann Gummibärchen in die Menge, bevor er in einen feinen französischen Brötchenladen ging, um dort zu Mittag zu essen. CHILE In der derzeitigen Hochburg systemkritischer Proteste in Südamerika gingen wieder Zehntausende auf die Straße. In Santiago zogen über 30.000 Menschen vom besetzten Hauptgebäude der staatlichen Universität von Chile über die Prachtallee Alameda. Neben SchülerInnen und Studierenden waren viele Familien und auch Rentner unterwegs. Thematische Schwerpunkte der Demonstranten waren ihre Forderungen nach einem guten und kostenlosen Bildungs- und Gesundheitssystem, nach neuen Umweltgesetzen, der Abschaffung der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur. Auch dem Finanzsystem, den Banken und großen Supermarktketten widmeten sie eine Kundgebung. Schwerpunkt der "Empörten" aber war die Bildungsfrage. Immer lauter werden die Rufe nach einer verbindlichen Volksabstimmung. Für Dienstag und Mittwoch hat die Bildungsbewegung zu einem Generalstreik aufgerufen. USA Von ihrem Quartier auf der Liberty Plaza zogen die BesetzerInnen der Occupy-Wall-Street-Bewegung am Samstag zum Washington Square und machten mehrmals Halt an verschiedenen Banken. Die Kundgebung endete abends auf dem Times Square, auf dem etwa 50 Leute festgenommen wurden. Insgesamt wurden im Verlauf des Tages in New York mehr als 80 Demonstranten in Gewahrsam genommen. Insgesamt gab es in New York mehrere Demonstrationszüge. Da aber keine Demoroute angemeldet worden war, marschierten die Leute auf den Trottoirs. Auch in zahlreichen anderen US-amerikanischen Städten kam es am Samstag zu Protesten. AUTOREN: J. PAPADIMITRIOU / J. HIMMELREICH / H. KELLNER / D. HAHN / R. BALMER / G. DILGER
taz. die tageszeitung
Die Proteste beim weltweite Aktionstag verliefen größtenteils friedlich. Hunderttausenden demonstrierten in 82 Ländern und 951 Städten gegen die Macht der Banken.
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Ausbildung von ukrainischen Soldaten: Krieg in der Heide - taz.de
Wüste Landschaft: Blick auf das Militärgelände bei Bergen in Niedersachsen Foto: Chris Emil Janßen/ddp Ausbildung von ukrainischen Soldaten:Krieg in der Heide Auf einem Nato-Truppenübungsplatz in Niedersachsen trainieren ukrainische Soldaten am Kampfpanzer Leopard 2. Ein Manöver-Besuch. Ein Artikel von Rob Savelberg 23.3.2023, 13:33  Uhr Die Heide zwischen den Nadelbäumen zittert. Die Salven hallen nach, der Ton folgt einige Sekunden nach dem Mündungsfeuer. Vier Kampfpanzer fahren mit hoher Geschwindigkeit einen Hügel hoch, feuern gleichzeitig aus schweren Rohren. Es sind ohrenbetäubende Explosionen auf dem Nato-Truppenübungsplatz bei Bergen in der Lüneburger Heide. Hier wird schon lange für die Kriege dieser Welt geübt: Seit mehr als 100 Jahren gibt es das Militärgelände. Bleischwere, gepanzerte Kettenfahrzeuge zerpflügen die karge, für deutsche Verhältnisse nur spärlich bewohnte Landschaft. Die Militärübung an diesem Vorfrühlingstag findet im Rahmen der Europäischen Militärischen Assistenz-Mission für die Ukraine, kurz EUMAM, statt. Diese hat von der EU ein zweijähriges Mandat, ein Budget von 106 Millionen Euro und ein Hauptquartier im belgischen Brüssel, wo auch die Nato residiert. Auf dem Truppenübungsplatz in Bergen werden ukrainische Soldaten am Kampfpanzer Leopard 2 ausgebildet. Deutschland hat zugesagt, insgesamt 18 dieser Panzer zu liefern, insgesamt ein Bataillon. Am Dienstag hieß es vom Sonderstab Ukraine aus dem Bundesverteidigungsministerium, dass die ersten Panzer Ende März in der Ukraine eintreffen können. Seit dem 24. Februar 2022, als der russische Machthaber Wladimir Putin den Befehl zur Invasion seines Nachbarlandes gab, ist die Welt für die ukrainischen Menschen, die hier in der Lüneburger Heide auf den Panzern sitzen, eine andere. Die Geschosse, mit denen sie auf der Schießbahn mit der Nummer 9 lediglich trainieren, entscheiden daheim an der Front über Leben und Tod. Die Gesichter der Männer sind ernst, müde, erschöpft teilweise. Logisch, wenn man weiß, dass sie 16 Stunden am Tag üben und direkt von der Donbas-Front kommen. Die deutschen Leopard-Panzer sollen dort zum Einsatz kommen. Nato-LageberichtMehr Geld Die 30 Nato-Staaten haben 2022 rund 1,2 Billionen US-Dollar für Verteidigung ausgegeben. Im Vergleich zu 2021 entsprach dies einem Anstieg um 1,9 Prozent, wie aus einem am Dienstag veröffentlichten Bericht von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hervorgeht. Dass der Anstieg nicht höher ausfiel, liegt vor allem daran, dass die Budgets für 2022 von den Regierungen bereits 2021 und damit vor der russischen Invasion in die Ukraine geplant wurden. Stoltenberg sagte, man bewege sich „nicht schnell genug“. Deutschland verfehlte das Nato-Ziel, 2 Prozent des Brutto­inlandsprodukts für Rüstung auszugeben; erreicht wurden 1,5 Prozent.Mehr Panzer Das US-Verteidigungsministerium will Insidern zufolge die geplante Lieferung von 31 Abrams-Kampfpanzern in die Ukraine um ein Jahr vorziehen. Die Panzer sollten nun bereits bis Herbst 2023 geschickt werden, sagte ein Vertreter der US-Regierung am Dienstag. (dpa, rtr) „Letztes Jahr haben wir bereits 1.100 ukrainische Soldaten ausgebildet. Dieses Jahr werden es 9.000 sein“, sagt Generalleutnant Andreas Marlow der taz. Der 60-Jährige sitzt in einem Besprechungsraum in einer schmucklosen Kaserne, die schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten, in der Weimarer Republik und unter Hitler benutzt wurde. Historische Fotocollagen an der Wand zeugen von Besuchen verbündeter Mächte, zum Beispiel aus Kanada oder Frankreich. Laut Marlow ist Deutschland im Ukrainekrieg „die Drehscheibe der europäischen Ausbildung“ von ukrainischen Soldaten: „Wir üben mit Leopard- und Marder-Panzern, Patriot- und Iris-T-Luftabwehrsystemen, Scharfschützen und Panzerhaubitzen. Wir üben mit Sanitätseinheiten und trainieren die Errichtung von Hauptquartieren für Brigaden und Bataillone.“ Nirgendwo in Europa werden laut Zahlen der Bundeswehr so viele Soldaten ausgebildet wie in Deutschland, an zweiter Stelle steht Großbritannien. Die Bundeswehr verfüge derzeit über 885 Ausbilder. Auf dem Übungsgelände: Die 120-Millimeter-Bordkanone und das Maschinengewehr schießen, Hubschrauber und Fußsoldaten werden gemeldet Dann geht es zum Übungsplatz. In einem Aussichtsturm kann mit Fernrohr überprüft werden, wie die Ukrainer mit dem Leopard 2 manövrieren. Zum Schutz bekommt man Ohrstöpsel gereicht – was auch nötig ist, wie sich schnell herausstellt. Verschiedene hohe europäische Militärs, die an der EUMAM-Übung beteiligt sind, sind gekommen. Sie wollen sehen, wie die ukrainischen Gäste sich mit dem High-Tech-Panzer schlagen. Der steckt voller komplizierter Technik: 360 Grad-Kameras, Laser und Sensoren, gebaut von den Waffenschmieden Kraus-Maffei Wegmann und Rheinmetall. Ziel der Übung ist es, feindliche Ziele zu fixieren und anschließend abzuschießen. Als wären es Fußsoldaten, poppen ferngesteuerte Zielscheiben im Gelände kurz auf – und müssen dann aus der Distanz schnell getroffen werden. Danach verschwinden diese mobilen Zielscheiben wieder. Ein General erklärt, dass diese Ziele etwa zwei mal zwei Meter groß seien: „Wenn die das hier auf ein oder zwei Kilometer Entfernung treffen, dann können sie auch einen viel größeren feindlichen Panzer abschießen.“ Dann ertönen die Funksprüche der vierköpfigen ukrainischen Besatzung des Panzers an die Einsatzleitung, die am Waldrand in einem Kommandostand steht. Die Kommandos kommen auf Russisch. Warum nicht auf Ukrainisch? „Weil die meisten Russisch beherrschen und wir viel mehr russische Sprachmittler bei der Bundeswehr haben als die paar, die Ukrainisch können“, sagt ein Übersetzer, der einen dunklen Schal hoch über sein Gesicht gezogen hat. Die Kommandos der Panzer-Crew kommen als Stakkato: Bravo eins meldet einen feindlichen Panzer „auf 1.700 Meter gesichtet“. Ein Schuss ist zu hören. Bei der Übung wird scharfe Munition verwendet. Der nächste Funkspruch: „Fahrzeug neutralisiert.“ Auch Hubschrauber und Fußsoldaten werden gemeldet. Nicht nur die 120-Millimeter-Bordkanone schießt, sondern auch das Maschinengewehr. Bravo drei meldet sich: „Keine Munition für das MG.“ Das ist die Abkürzung für Maschinengewehr. Ukrainische Soldaten trainieren auf der Panzerschießbahn in Bergen Foto: Manon Wachner/Bundeswehr Gut 80 Prozent der Ziele werden bei der Übung auf der Schießbahn abgeschossen, zeigt sich später in der Auswertung. Ein guter Durchschnitt sei das, heißt es vonseiten der Ausbilder Schießbahn 9 hat Senken, viele Unebenheiten und Versteckmöglichkeiten. Es gibt einen Waldrand und am Horizont einen Hügel, auf denen sich die fiktiven Gegner befinden. Das Terrain hat auch verlassene Gebäude, Eispfützen und Schlammwege. Hat der Truppenübungsplatz Ähnlichkeit mit den Schützengräben bei Bachmut, der umkämpften Stadt bei Donezk in der Ostukraine? Die Ukrainer sagen, dass bei ihnen oft kein Baum mehr steht. Es ist nur schwer zu fassen, hier in der Lüneburger Heide, die jenseits des Truppenübungsplatzes friedlich daliegt: Bei diesen Soldaten, die hier trainieren, herrscht gerade ein heißer Krieg – zu dem sie zurückkehren werden. „Der Ansatz der Russen ist menschenverachtend. Wie im Mittelalter schieben sie Einheiten nach vorne, um sie zu opfern“, sagt Oberst Michael Sack, verantwortlich für die Ausbildung in dem EUMAM-Programm. Wie viele Menschen täglich an der Front alleine bei Bachmut derzeit sterben, lässt sich nicht verifizieren. Der britische Guardian zitiert einen Nato-General, der von 1.500 toten Soldaten täglich allein auf russischer Seite spricht. Die Bilder aus Bachmut sind brutal: Total zerstörte Landschaften sind in sozialen Netzwerken, etwa auf Telegram, zu sehen. Leblose Körper sind dort zu sehen, die nach der Schlacht im Schlamm oder Schnee stecken bleiben; zerschossene Bäume. Welch ein Unterschied zur beschaulichen Ruhe in Niedersachsen, wo die roten Backsteinhäuser und Fachwerkhöfe eine Idylle verbreiten, die nur vom Kanonenlärm des Kampfpanzers unterbrochen wird. Hier sind die Wälder intakt, die Häuser frisch gestrichen und mit Solarpanels auf den Dächern bestückt. Ein krasser Gegensatz zur Realität im Donbas, die hier dennoch auf eigentümliche Art, in Gestalt der ukrainischen Soldaten, ganz nah herankommt. Noch in einem Umkreis von vielen Kilometern um das abgesperrte Militärgelände herum hören Anwohner und Bahnreisende die ohrenbetäubenden Panzerschüsse. Die Männer sind in Munster stationiert, ein Katzensprung vom ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo auch UkrainerInnen im Zweiten Weltkrieg inhaftiert und ermordet wurden. In der damaligen Zeit wurde die Wehrmacht hier trainiert, für die Vernichtungsfeldzüge im Osten. Der „Leo 2“ soll eine positive Entscheidung in der Schlacht um den Donbas bringen. Zusammen mit den britischen Challenger-Panzern und den Abrams der Amerikaner. Seit der vom Kanzler deklamierten „Zeitenwende“ im Frühjahr 2022 hat sich der politische Wind in Deutschland gedreht: Lange Zeit war, weit überden friedensbewegten Teil der Grünen hinaus, „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“ populär. Heute befürworten auch ehemalige PazifistInnen Waffenlieferungen an die Ukraine. Brigadegeneral Björn Schulz über die Ausbildung der ukrainischen Soldaten„Dies ist eine besondere Arbeitsbeziehung. Sie gehen zurück in den Krieg. Das lässt uns nicht kalt“ In einer Suppenküche am Rande des Truppenübungsplatzes wird in einer Pause Gulasch serviert. Auf dem Boden sind mit farbiger Kreide militärische Stellungen und Zahlen eingezeichnet. Mit Spielzeugpanzern wird Taktik geübt. Draußen rauchen Soldaten aus der von den Russen belagerten Region eine Zigarette. Sie sehen fertig aus, nicht nur von der sechswöchigen Ausbildung, sondern auch von den Monaten an der Front: Sie seien aus Bachmut gekommen, sagen sie. Aber eigentlich dürften sie kein einziges Wort mit der Presse wechseln. Ein ausgewählter ukrainischer Soldat darf dann doch, völlig anonym, etwas sagen. Welche Hoffnungen er auf die europäisch-amerikanischen Panzerlieferungen setze? „Wir haben nur alte sowjetische Panzer vom Typ T72“, sagt er. „Mit den Kampfpanzern könnten wir Stellungen durchbrechen. Außerdem wird sich unsere Infanterie in ihrem Schutz sicherer fühlen.“ Um seine Identität zu schützen, trägt er eine orangefarbene Brille und ein grünes Halstuch vor dem Gesicht. „Die Russen haben Angst und sind sehr nervös wegen des Leopard 2“, sagt schließlich noch ein anderer ukrainischer Militär. „Zu Recht“, schiebt er noch nach. Über Angst vor der Front will niemand von ihnen sprechen: „Mein Heimatland ist bedroht. Ob ich Angst habe, ist irrelevant“, sagt der anonyme Soldat. Auch auf einem Truppenübungsplatz haben Panzer nicht überall Vorfahrt Foto: Chris Emil Janßen/ddp Ob er etwas zu seinem Beruf, seinem Alter verraten möchte? Nein, nur so viel: „Ich bin ein Vertreter des Volkes“, sagt er knapp. Alle hier seien „Patrioten“, die im Krieg ihre Heimat verteidigten. Vor der russischen Invasion habe er einen „normalen“ Beruf gehabt. Der deutsche Ausbilder Jörg T.* sagt, dass viele ihrer ausländischen Auszubildenden im Crashkurs am Kampfpanzer – normalerweise dauert die Ausbildung zwei Jahre – vor dem 24. Februar 2022 Bauern, IT-Spezialisten oder Lehrer waren. Brigadegeneral Björn Schulz, Kommandant der Panzertruppenschule in Bergen, erklärt in nüchternem, aber emphatischen Ton die Art der Zusammenarbeit mit den Ukrainern: „Dies ist eine besondere Arbeitsbeziehung. Kameradschaft. Das lässt uns nicht kalt. Sie gehen zurück in den Krieg. Manche sterben dort oder werden verwundet. Das ist nicht schön, das mag niemand“, sagt der 55-Jährige. Zugleich dürften solche Gefühle im Alltag keine Rolle spielen, meint er. „Das ist Teil unserer Realität.“ Schulz sagt, die Motivation der ukrainischen Soldaten sei beeindruckend. Eine Kameradschaft zwischen den Frontkämpfern, die 2.000 Kilometer weit weg von zu Hause sind, und den Soldaten der Bundeswehr, die nicht fürchten müssen, an die Front geschickt zu werden: Ist das nicht ein bisschen übertrieben, vielleicht sogar anmaßend? Ausbilder T. sagt, man wisse, dass manche der ukrainischen Männer, die jetzt hier in der Lüneburger Heide üben, den Krieg in ihrer Heimat möglicherweise nicht unversehrt überstehen. T. sagt, die Bedeutung dieses Kriegs auch für andere Länder in Europa sei allen klar: In der Ukraine werde „auch für unsere Freiheit“ gekämpft. Vizeadmiral Hervé Bléjean ist dieser Tage extra aus Belgien angereist zur EUMAM-Übung. Der Franzose ist Generaldirektor des Europäischen Militärstabs und Leiter der Militärplanung. „Es ist wichtig“, sagt er, „dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann, sie kämpfen gegen einen Tsunami von 300.000 Soldaten.“ In Deutschland formuliert man eher etwas vorsichtiger: Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen, ist die gültige Sprachregelung von Kanzler Scholz. Ob es also darum gehe, den Donbas und die besetzte Krim zurückzuerobern? Das kann und will Bléjean dann aber doch nicht so sagen: „Die Definition dessen, was nötig ist, um den Krieg zu gewinnen, kommt von der Ukraine.“ Der Franzose fordert aber mehr Investitionen für die Europäische Verteidigungsagentur, die es seit 2004 gibt. Damals gab es mit der sogenannten Orange Revolution den ersten demokratischen Aufstand in Kyjiw. Die europäische Verteidigungsagentur stellt den Bedarf für Militäroperationen fest. Sie monitoren auch die technologische Ausstattung de Waffenindustrie. Der französische Vizeadmiral redet schnell, erwähnt dann die „Europäische Friedensfazilität“, ein anderes Instrument der EU-Außen- und -Sicherheitspolitik. Es ist eine Art Extrahaushalt für Militärausgaben, auf den sich die EU-Mitglied­staaten bereits im März 2021 verständigt hatten. Bléjean sagt, dass in den kommenden Jahren bis 2027 bereits weitere 5 Milliarden Euro vorgesehen seien. Der Leopard-2-Panzer, neben dem er hier in Bergen steht, könne ein „Game-Changer“ sein im Ukrainekrieg, ist er überzeugt. Und dann plädiert Bléjean, wie schon Wolfgang Ischinger, bis 2022 Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, entschieden für eine Kriegswirtschaft: „Alles muss schneller produziert werden, Munition und Waffen. Nichtinvestitionen sind keine Option.“ In diesen Tagen wurde bekannt, dass Rheinmetall, einer der Rüstungskonzerne, die am Leopard 2 mitbauen, eine eigene Fabrik in der Ukraine bauen will. Die Remilitarisierung Deutschlands schreitet voran: nach vielen Jahrzehnten der sogenannten Friedensdividende, als die Rüstungs- und Verteidigungsausgaben nach dem Kalten Krieg runtergefahren wurden, um den Staatshaushalt zu entlasten. Die Nato auf der einen Seite und der Warschauer Pakt unter der Führung der Sowjetunion auf der anderen Seite hielten sich im Kalten Krieg die Waage. Beide Seiten drohten dem Gegner mit Abschreckung bis hin zur Vernichtung. Inzwischen redet nicht mehr nur Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) versuchte kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eine Debatte darüber anzuzetteln. Viel politischen Zuspruch erhielt er allerdings nicht. Klar für eine Wehrpflicht spricht sich im politischen Parteienspektrum in Deutschland derzeit nur die rechte AfD aus. Zurück zur EUMAM-Übung in Bergen. Der Leopard-2-Panzer, bei der Bundeswehr sagen sie „die Katze“ zu diesem Kriegsgerät, kann sehr schnell wenden, hat sowohl nach vorne als nach hinten richtig Dampf. Das kann entscheidend sein, da auch im Rückwärtsgang geschossen wird. Ausbilder Jörg T., erklärt, dass der alte T72 im Kampf einfach wendet und abhaut, wobei die Gefahr, von hinten angeschossen zu werden, groß ist: „Da ist viel weniger Panzerung als vorne.“ Mittelfristig sollen die Ukrainer sich selbst ausbilden können, sagt Generalleutnant Marlow. Das sei das Ziel. „Wir werden dann nur noch monitoren und beobachten.“ Pünktlich zum Frühlingsanfang kehren die ukrainischen Soldaten zurück zum Kampfgeschehen an die Front. Die Meldungen dieser Tage verlautbaren, dass die russischen Truppe in den nächsten Wochen eine Offensive planen könnten. In der Lüneburger Heide, viele Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt, hören die versammelten Soldaten zwischen den Bäumen Vögel zwitschern. Es hat, solange nicht geschossen wird, etwas Friedliches. *Name aus Sicherheitsgründen geändert *Hinweis: In einer früheren Version stand, dass der Leopard-2-Panzer vorne und hinten Geschützrohre hat. Dem ist nicht so.
Rob Savelberg
Auf einem Nato-Truppenübungsplatz in Niedersachsen trainieren ukrainische Soldaten am Kampfpanzer Leopard 2. Ein Manöver-Besuch.
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Schwaben-Schelte: Thierse sagt, er habe Humor - taz.de
Schwaben-Schelte: Thierse sagt, er habe Humor Der Bundestagsvizepräsident äußert sich enttäuscht, dass die Medien seine Schwaben-Aussagen so ernst nehmen. Thierse mit Schrippe, aber ohne Spätzle. Bild: dapd Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sieht den Streit um seine Schwaben-Schelte zunehmend kritisch. "Ich glaube, in den vergangenen 23 Jahren ernsthafte politische Arbeit geleistet zu haben.", sagte Thierse am Dienstag. "Das Echo darauf war niemals so groß, wie jetzt auf eine so unernste Nebensächlichkeit." Er wünsche sich ein Ende der Debatte. Sie stehe in keinem Verhältnis. "Es hat mich sehr überrascht, mit welcher Welle an Belehrungen, Beschimpfungen und Beleidigungen Schwaben und andere auf zwei heiter-lästerliche Bemerkungen reagiert haben." Thierse nimmt am Mittwoch im Europa-Park in Rust bei Freiburg die Goldene Narrenschelle der Vereinigung Schwäbisch- Alemannischer Narrenzünfte (VSAN) entgegen. Seine Äußerungen über Schwaben in Berlin und die Reaktionen darauf seien eine Narretei, heißt es zur Begründung. Thierse hatte sich in einem Interview darüber geärgert, dass in seinem Berliner Heimatbezirk Prenzlauer Berg die Schrippe inzwischen Weckle genannt und der Pflaumenkuchen zum -datschi werde. "In Berlin sagt man Schrippen - daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen." Trotz des Schwaben-Streits werde er auch in diesem Jahr seinen Urlaub in Baden-Württemberg verbringen, sagte Thierse. Zur närrischen Preisverleihung komme er gerne. "Und zwar weil ich - gegen mancherlei Vorurteil - ein ziemlich humorvoller Mensch bin, wie ja auch meine zwei lockeren, ironischen Bemerkungen zu den Schwaben zeigen." (dpa)
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Der Bundestagsvizepräsident äußert sich enttäuscht, dass die Medien seine Schwaben-Aussagen so ernst nehmen.
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Forscherin zu kleinen Häusern: „Man muss sich einschränken“ - taz.de
Forscherin zu kleinen Häusern: „Man muss sich einschränken“ Ein ganzes Haus auf 10 bis 40 Quadratmetern? Das bieten sogenannte Tiny Houses. Julia Susann Helbig erklärt, warum die Minihäuser so gefragt sind. Klein und fein: Tiny House in Weimar Foto: dpa taz: Frau Helbig, was hat ein kleines Haus, was ein durchschnittliches Haus oder eine Wohnung nicht hat? Julia Susann Helbig: Auf den ersten Blick bieten Tiny Houses alles, was wir in unserer Gesellschaft zu den grundsätzlichen Ansprüchen einer Wohnung zählen würden: eine Küche oder zumindest eine Kochnische, ein Bad sowie einen Wohn- und Schlafbereich. Aber: Die starke Reduktion des Wohnraums ist es, was ein durchschnittliches Haus nicht hat. Tiny Houses haben meistens nur 10 bis 40 Quadratmeter Fläche. Man muss sich also beim Gestalten, Einrichten und Wohnen zwangsläufig einschränken und Prioritäten setzen. Es geht also um Verzicht? Nein, eher im Gegenteil. Das Beschränken ist Zweck und Ziel dieser Wohnform. Es geht quasi um ein Gegengewicht zum gesteigerten Konsum und Überfluss. Und natürlich um einen ganz praktischen Vorteil: um Flexibilität. Es gibt mobile Formen auf Rädern, mit denen etwa ein Umzug beispielsweise in eine andere Stadt mit dem Eigenheim möglich wird. Das hat ganz viel mit Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit zu tun. im Interview:Julia Susann HelbigFoto: privatJulia Susann Helbig ist Kulturanthropologin und Volkskundlerin und forscht an der Universität Hamburg zur Tiny-House-Bewegung. Was für Menschen entscheiden sich für ein Tiny House? Natürlich sind Tiny Houses etwas, das gerade im Trend liegt. Aber sie adressieren ganz unterschiedliche Bedürfnisse und fügen sich in ein paar aktuelle Entwicklungen ein. Zum Beispiel nimmt die Zahl der Haushalte, in denen mehrere Personen leben, ab. Gleichzeitig sehen wir, besonders in Ballungsräumen, stark steigende Mieten. Dazu kommt: Minihäuser haben meist einen geringen Energiebedarf, sind also umweltfreundlicher. Auch das kann ein Beweggrund sein, sich für diese Wohnform zu entscheiden. Und sie sind eine Geldanlage, und zwar in einem recht überschaubaren Rahmen. Wenn man einiges selber macht und sich nicht für eine Luxusvariante entscheidet, kann man ein Tiny House schon für 10.000 Euro bekommen. Eine Wohnung gibt es dafür vielerorts nicht. Und welche Rolle spielt der Minimalismus-Gedanke? Der zieht sich quasi durch alle Ebenen durch. Die Minihäuser ermöglichen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern, ein minimalistisches und bewussteres Leben zu leben und das auch zum Ausdruck zu bringen. Dazu kommt: Die Akteure der Tiny-House-Bewegung sehen in der Konsumkultur marktorientierter Wirtschaftssysteme eine Ursache aktueller globaler Konflikte. Die Lösung dafür sehen sie im Downsizing. Und da gehört alles mit rein: ein bewusstes Verkleinern, quasi ein Gesundschrumpfen des gesamten Lebensstils, ein eingeschränktes Konsumverhalten, eine ökologisch verantwortungsvolle Lebensweise, und im Ergebnis ein Wandel hin zu einer Postwachstumsökonomie. Jetzt ist ja materieller Verzicht in Zeiten der Digitalisierung auch einfacher zu leben. Musik, Filme, Bücher, Kalender, Tagebücher – ganz viel lässt sich mittlerweile durch digitale Pendants ersetzen, das schafft Platz. Ja, es ist natürlich reizvoll, damit den materiellen Besitz zu reduzieren. Aber die Digitalisierung von Inhalten wird in Minimalismus-Kreisen auch kritisch diskutiert. Die Kritik: Das Vorgehen, Inhalte in diesen digitalen Bereich zu verschieben, schaffe nur oberflächlich Freiheit, führe aber letztendlich nicht zu wirklicher Achtsamkeit und Klarheit. Denn eigentlich geht es ja beim Minimalismus nicht darum, die Dinge aus dem Blickfeld zu haben. Sondern darum, sich bewusst mit Dingen, und seien sie digital, auseinanderzusetzen. Sich bewusst einschränken, heißt aber auch, man hätte die Möglichkeit, es nicht zu tun. Ja, natürlich setzt ein bewusster Verzicht voraus, dass man die Wahl hat. Allerdings ist hier nicht immer ganz klar, wo die Linie verläuft zwischen bewusster Distinktion und einer kapitalbewahrenden Strategie, die sozusagen aus der Not eine Tugend macht. Gegenstände stehen häufig für Bindungen. Zu anderen Menschen oder auch zu sich selbst. Was bedeutet es, auf Materielles verzichten zu können? Wer sich von Gegenständen trennt, setzt sich mit seiner eigenen persönlichen Geschichte und Identität auseinander. Wer Besitz reduziert, leistet so gesehen auch Identitätsarbeit. Auf Materielles verzichten zu können, kann aber auch zeigen, wie jemand von anderen verstanden werden will: Zum Beispiel als Person, die nichtmateriellen Bereichen des Lebens mehr Beachtung schenkt. Damit werden andere Lebensbereiche aufgewertet, wie die geteilte Zeit mit Freunden und der Familie, das Pflegen von Hobbys oder das Praktizieren eines spirituellen Weges.
Svenja Bergt
Ein ganzes Haus auf 10 bis 40 Quadratmetern? Das bieten sogenannte Tiny Houses. Julia Susann Helbig erklärt, warum die Minihäuser so gefragt sind.
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Überwachung: Selfies für Fussballstadien - taz.de
Überwachung: Selfies für Fussballstadien Die Straftaten in Bundesligastadien gehen zurück. Dennoch rüsten Vereine ihre Stadien mit Kameras auf, die zu Problemen mit dem Datenschutz führen. Beweisfoto: Der HSV filmt seine Fans, auch wenn er nicht darüber sprechen mag Bild: Philipp Szyza/imago HAMBURG taz | Obwohl die Gewalt in den Fußballstadien weniger wird, rüsten die Vereine ihre Sicherheitstechnik auf. Immer häufiger beschaffen sie hochauflösende Kameras, die das ganze Spiel über eingeschaltet bleiben und jeden Zuschauer identifizieren können. In Niedersachsen dürfen solche Videos anlasslos gespeichert werden. Hannover und Braunschweig setzen die Technik bereits ein. Nach Angaben der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) gehen die Straftaten in Bundesligastadien seit Jahren kontinuierlich zurück. Die Zahl der Straftaten erscheint überschaubar: In der Saison 2012/ 13 besuchten mehr als 18 Millionen Zuschauer die insgesamt 612 Spiele der ersten und zweiten Bundesliga. Laut ZIS kam es dabei zu 1.698 Körperverletzungen, 750 Verstöße gegen das Gesetz für explosionsgefährliche Stoffe und 571 Sachbeschädigungen. Im Schnitt gab es also fast drei Körperverletzungen und weniger als eine Sachbeschädigung pro Spiel zu beklagen. Demnach ist ein Stadionbesuch sicherer als ein Besuch des Oktoberfestes. 300.000 Euro pro System Dennoch verstärken viele Bundesligisten ihre Sicherheitsmaßnahmen mit besonders hochauflösenden Kameras. Dafür greifen sie tief in die Tasche: Rund 300.000 Euro kosten die Systeme für ein Stadion. Im Unterschied zu normalen Überwachungskameras bestehen diese aus mehreren Objektiven, die auf einzelne Bildausschnitte ausgerichtet sind. Damit können sie große Bereiche scharf aufzeichnen und Menschen in einer Entfernung von bis zu 160 Metern identifizieren. Die Kameras zeichnen ihr Bild in einem weiten Winkel auf und verwenden eine extrem hohe Auflösung. Im Gegensatz zu herkömmlichen Modellen bewegt sich die Kamera nicht bei der Aufnahme, sondern zeichnet ihr Bild mit einer festen Einstellung auf und speichert dieses digital. Bei Bedarf kann das Bild am Computer beliebig gespult und gezoomt werden, wie beim Festplattenrekorder im Wohnzimmer. Das bedeutet einen großen Vorteil für die Polizei. Bisher mussten Beamte die Kameras zunächst auf das Geschehen ausrichten, doch dann war es oft bereits zu spät. Pyrotechnik brennen in der Regel Vermummte ab. Die modernen Kameras nehmen durchgehend auf und erlauben es, die Entstehung von Situationen im Nachhinein zu analysieren. So können kleinste Fehler bei der Verkleidung auffallen und Leuten zugeordnet werden. Vereine und Polizei teilen sich die Arbeit. Die Vereine stellen die Kamerasysteme, die Polizei bedient sie. Die Arbeitsteilung ist nicht neu und war bisher auch kein Problem. Bei den herkömmlichen Kameras wurde erst aufgenommen, sobald der Verdacht auf eine Straftat bestand. Nun aber wird permanent aufgenommen. Das betreffende Datenschutzgesetz ist Ländersache, was im Norden zu unterschiedlichen Rahmenbedingungen führt. In Hamburg ist es der Polizei verboten Überwachungsvideos anlasslos zu speichern, in Niedersachsen ist dies hingegen erlaubt. Die Aufnahmen dürfen dort für eine Woche gespeichert und ausgewertet werden. Kein Bedarf bei St. Pauli Die Folge ist, dass für eine sehr überschaubare Anzahl an Straftätern die Mehrheit der Stadionbesucher eindeutig identifizierbar unter einem Generalverdacht gespeichert werden – nicht nur für einen kurzen Ausschnitt des Stadionbesuches, sondern über die Zeit seines gesamten Aufenthaltes. Aus diesem Grund ist die Technik unter Datenschützern und Juristen umstritten. Auch auf Vereinsseite wird das Thema kontrovers diskutiert. Der FC St. Pauli investiert lieber in den Stadionausbau und ist mit der vorhandenen Technik zufrieden. Sven Brux, zuständig für die Sicherheit im Millerntorstadion, verweist auf die Leistung der herkömmlichen Kameras. Diese seien auch sehr leistungsfähig und „zeichnen alles auf, wenn sie scharf gestellt sind“. Der HSV äußert sich aus „Datenschutzgründen“ nicht zum Thema Kameraüberwachung. 2013/ 14 verhängte der Deutsche Fußball Bund mehr als 1.7 Millionen Euro Strafen für das Zünden von Pyrotechnik, das Werfen von Gegenständen und das Betreten des Spielfeldes. Hannover ist mit rund 110.000 Euro Spitzenreiter dieser Aufstellung. Braunschweig musste 77.500 Euro zahlen, der HSV 60.000 Euro. St. Pauli kam ohne Strafzahlungen aus.
Jan Stau
Die Straftaten in Bundesligastadien gehen zurück. Dennoch rüsten Vereine ihre Stadien mit Kameras auf, die zu Problemen mit dem Datenschutz führen.
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NICOLA LIEBERT ÜBER DIE GELDPOLITIK DER US-NOTENBANK: Und wieder wächst die Blase - taz.de
NICOLA LIEBERT ÜBER DIE GELDPOLITIK DER US-NOTENBANK: Und wieder wächst die Blase Die nächste Finanzmarktkrise ist lediglich eine Frage der Zeit – nur nimmt sie diesmal wahrscheinlich nicht in den USA ihren Ausgang, sondern in den Schwellenländern, vielleicht in Indonesien oder in der Türkei. Warum dieser Pessimismus? Hat die US-Notenbank Fed nicht gerade das einzig Richtige gemacht und die Zinsen auf ihrem Tiefststand belassen? Das ist das Problem. Die Fed kann weitermachen wie bisher; oder sie kann das Ende ihrer Politik des reichlichen und billigen Geldes einläuten. Doch als sie einen solchen Schritt vor der Sommerpause andeutete, kam es sogleich zu einer bedrohlichen Kapitalflucht aus den Schwellenländern und einem Verfall von deren Währungen. Zudem will sie auch in den USA das etwas enttäuschende Wirtschaftswachstum nicht durch höhere Zinsen abwürgen. Doch damit sind ja die Probleme nicht gelöst, die die lockere Geldpolitik mit sich bringt. Wegen der extrem niedrigen Zinsen in den USA und Europa suchen Anleger nach renditeträchtigeren Anlagen, zum Beispiel in den Schwellenländern. Dort löste das viele Geld einen höchst instabilen Boom aus, insbesondere auf den Immobilienmärkten. Auch in den USA selbst gelten Immobilien ebenso wie Aktien inzwischen wieder als sehr teuer. Man spricht nur diesmal nicht von Blasenbildung, sondern von „Vermögenspreisinflation“. In Wirklichkeit aber unterscheidet sich die Situation kaum von den Nullerjahren – auch wenn die Fed diesmal gerne frühzeitiger reagiert hätte. Aber der Druck, die Party noch ein bisschen laufen zu lassen, ist stark. Wenn die Schwellenländer jetzt nicht die Zeit, die ihnen die aktuelle Entscheidung gibt, für starke Reformen nutzen, wird auch diesmal ein böser Kater folgen. Und die einfache Bevölkerung in den Krisenländern wird die Zeche zahlen. Wirtschaft + Umwelt SEITE 5
NICOLA LIEBERT
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Die reine Leere des Andreas Schmitten - taz.de
Die reine Leere des Andreas Schmitten Mit ironischer Distanz zur Minimal Art greift der Bildhauer Andreas Schmitten auf deren Umgang mit Möbeln zurück: In Bremerhaven zeigt er in Handarbeit glanzvoll idealisierte Spülen, Hauben und Spiegel Der Blick in die Ausstellung wirft die Betrachterin auf sich zurück. Den Betrachter natürlich auch. Mit solcher Freiheit von Objekten zurechtzukommen, fällt vielen schwer Foto: Kunstverein Bremerhaven Von Radek Krolczyk Es ist meistens so: Je abstrakter, je stiller und je leerer eine künstlerische Arbeit ist, desto bedeutender erscheint sie. Was kann aufgeladener sein als ein bloßer Kreis? Was göttlicher als das bloße Licht? Es mag seltsam wirken, aber je größer die Leere, desto leerer das Pathos. In der Geschichte der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts lässt sich das an mehreren Momenten nachvollziehen. In den 1960er-Jahren etwa fielen Bildhauer der Minimal Art wie Donald Judd, Carl Andre oder Dan Flavin auf, indem sie Wandsockel, Bodenplatten und leere, aber beleuchtete Vitrinen ausstellten. All dieses Nichts war zugleich Alles. Es geht dabei nicht zuletzt um Vorstellungskraft. Nur eine leere Bühne hat Platz für alle Dramen dieser Welt. Der Düsseldorfer Bildhauer Andreas Schmitten, dessen Arbeiten zurzeit im Bremerhavener Kunstverein zu sehen sind, steht durchaus in der Tradition der US-amerikanischen Minimalisten. Im Ausstellungssaal befinden sich drei Plexiglaskuben, die der Künstler schützend über zunächst alltäglich wirkende Möbel gestülpt hatte: Es handelt sich um Spülbecken, Kühlschrank und Bett. Im Korridor davor steht zusätzlich noch ein kleiner Hocker, auch er, wie eine Art Heiligtum geschützt, unter einer Glasglocke. Die Titel weisen über die Möbel hinaus, sie denken ihre Betrachterinnen und Betrachter mit: sitzend im Becken, liegend auf dem Schrank, kniend vor dem Bett, stehend auf dem Hocker. Möbel unter oder hinter Glas haben in der Ausstellungswelt eine Geschichte. Gerade Betten (meist Totenbetten) finden sich in Schlössern, Kirchen, Mausoleen geschützt hinter gläsernen Absperrungen. Oftmals sind diese Liegen leer, oftmals aus Marmor, manchmal sind auch die Kissen aus Marmor gefertigt. Die Möbel sind Zeugen (oder Symbole) großer Geschichte. Sind sie leer, steigert das noch die Größe. Die Körper der Großen müssen dort gelegen haben, erst noch mit Geist, dann ohne, nun ist alles fort. Wo aber liegt das Pathos eines weniger universellen Möbelstückes, das zum Abwaschen von Geschirr gemacht ist? Andreas Schmitten, der 1980 in Mönchengladbach geboren wurde, hat durchaus eine ironische Distanz zu Nachkriegs-Avantgarden wie der Minimal Art. Seine Möbel sind bei genauerem Hinsehen auch keine Möbel, sondern Modelle von Möbeln. In ihrer Makellosigkeit, mit den abgerundeten Ecken, den sanften Farben und den samtigen, leicht transparenten Oberflächen sind sie die Ideale von Möbeln. Sie sind so sehr ideal, dass sie es selbst sind, die sich ihren Betrachtern gegenüber sichtbar machen. Denn das elektrische Licht, das die Plexiglaskuben und schließlich den ganzen Raum erhellen, kommt aus ihrem Inneren. Bei Möbeln, die für einen so profanen Gebrauch gemacht sind, wie eine Spüle? Das wirkt zunächst spleenig, vielleicht auch etwas lustig. Denn diese Möbel, ihre Hauben und ihr Licht füllen in Bremerhaven schließlich eine ganze Ausstellungshalle. Sind sie der Rest vom Ausverkauf eines Möbellagers? Schmittens künstlerische Karriere begann vor knapp zehn Jahren mit einem Abschluss an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er bei Georg Herold studierte. Seitdem stellte er in bedeutenden Häusern aus, dem Kunstmuseum Bonn oder der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Vertreten wird er von der Berliner Galerie König. Während seines Studiums verbrachte er drei Jahre In Los Angeles, wo er sein Faible für Filmkulissen und Präsentation von Waren entwickelte. Hier mag einer der Schlüssel zum Verständnis der Möbelmodelle liegen. „Mir fiel auf, wie formvollendet und mit Liebe zum Detail dort Bars, Restaurants und Geschäfte inszeniert sind“, erzählte er im vergangenen Jahr in einem Interview für das Kulturmagazin „AD“. Tatsächlich spielt in Schmittens Werk gerade auch der Schein von Dekor, Requisiten und Modellen eine große Rolle. Wobei er ihn nicht als falschen Schein oder als Lüge abtut, sondern, im Gegenteil, sich in seinem Atelier äußerst detailverliebt hingibt. So künstlich und kühl seine Plastiken auch wirken, sie entstehen nicht im Auftrag des Künstlers in einer Gießerei oder einem Kunsthandwerksbetrieb. Er verarbeitet Textil, Kunststoff, Holz und Papier selbst und bringt sie mit Geduld und handwerklichem Geschick in ihre perfekte Gestalt. Um die perfekte Gestalt der Modelle zu schützen, gibt es die Glashauben. Aber wie jede Idealgestalt wird auch diese von der Wirklichkeit widerlegt. Denn natürlich findet man auf den Kunststoffoberflächen Staubpartikel, natürlich haben auch die heiligenscheinhaften Glaskuben Schlieren. Im Kabinett des Kunstvereins zeigt Schmitten zusätzlich einige Exemplare einer neueren Werkgruppe. Es sind Zeichnungen, die unter dem Titel Chimera Electrified firmieren. 2017 veröffentlichte er eine Sammlung solcher Zeichnungen als Künstlerbuch. Es handelt sich um drastische, aber emotionslose Anweisungen zur Zurichtung von Körpern. Schmitten selbst äußerte gegenüber der Zeitschrift „Kunstforum“ lakonisch, er wollte den Menschen in sein Werk holen. Und so ist zu sehen, wie eine Axt auf den Hals einer Frau trifft, zwei Hände den Kopf abnehmen und stattdessen eine Festplatte senkrecht aufgesetzt wird. Ein anderes Blatt zeigt eine Stichsäge im Nacken eines Mannes. Anschließend wird ein Fön durch die Öffnung geschoben, das durch den geöffneten Mund bläst. Die bloß technische Art der Darstellungen überrascht sehr. Sein Vorbild sind Zeichnungen aus japanischen Kochbüchern. Die Gegenstände, die er den menschlichen Figuren einverleibt, sind selbst am menschlichen Körper orientiert, wie er betont. Nun fusionieren sie gewaltsam. Andreas Schmitten, „Stehend im Raum“: bis 25. 8., Kunstverein Bremerhaven Der Autor ist Betreiber der Galerie K’in Bremen
Radek Krolczyk
Mit ironischer Distanz zur Minimal Art greift der Bildhauer Andreas Schmitten auf deren Umgang mit Möbeln zurück: In Bremerhaven zeigt er in Handarbeit glanzvoll idealisierte Spülen, Hauben und Spiegel
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Neue Regierung in Schweden: Eine Ampel gegen rechts - taz.de
Neue Regierung in Schweden: Eine Ampel gegen rechts Stefan Löfven ist neuer Ministerpräsident Schwedens. Seine rot-grüne Minderheitsregierung eint die Abneigung gegen die Schwedendemokraten. Stefan Löfven, neuer Ministerpräsident Schwedens, nach der Wahl am Freitag mit seiner Frau Ulla Foto: reuters STOCKHOLM taz | Mehr als vier Monate nach der Parlamentswahl hat Schweden eine neue Regierung bekommen. Am Freitag wählte der Reichstag in Stockholm den sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Stefan Löfven mit 115 Ja-Stimmen und 77 Enthaltungen zum neuen Ministerpräsidenten. Löfven will am Montag das Programm und das Kabinett seiner Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und grüner Miljöpartiet vorstellen. Eine solche hat Schweden bereits in den letzten vier Jahren regiert. Löfvens Regierung wird erneut eine Minderheitsregierung sein. Bislang konnte sich Rot-Grün vor allem auf die Stimmen der Linkspartei stützen. Weil diese Konstellation nach der Wahl im Herbst keine Mehrheit im Reichstag mehr hat, brauchte Löfven eine breitere parlamentarische Grundlage. Zwei liberale Parteien wollten zwar nicht in seine Regierung eintreten, handelten mit ihm aber ein „sachpolitisches Übereinkommen“ aus. Das hauptsächliche Motiv dafür, dass die Liberalen und die liberale Zentrumspartei dafür ihre bisherige Allianz mit den Konservativen aufkündigten, war der Wunsch, jeglichen Einfluss der rechtsextremen Schwedendemokraten auf eine Regierung zu blockieren. Abgesehen von Neuwahlen, die vermutlich in etwa das gleiche Ergebnis wie die Wahl am 9. September gebracht hätten, wäre die einzige Alternative eine Rechtskoalition gewesen. Sie wäre für alle politischen Entscheidungen von den Schwedendemokraten – mit 17,6 Prozent drittstärkste Partei hinter Sozialdemokraten und Konservativen – abhängig gewesen. Konservative und Christdemokraten wären dazu bereit gewesen, nicht aber die beiden liberalen Parteien. Eines ihrer Wahlversprechen war gewesen, den aus der Neonaziszene stammenden und in weiten Teilen rassistischen Schwedendemokraten keinerlei direkten Regierungseinfluss einzuräumen. „Schwierige Legislaturperiode“ steht bevor Die jetzige Regierung ist damit auch eine Art Anti-Schwedendemokraten-Regierung. „Unsere Parteien haben unterschiedliche ideologische Ausgangspunkte. Sie vereint aber die Verteidigung der Grundlagen der liberalen Demokratie“, heißt es in dem zwischen den rot-grünen und liberalen Parteien geschlossenen Abkommen. Dazu gehöre unter anderem ein starker Rechtsstaat, ein unerschütterlicher Schutz der Freiheits- und Menschenrechte jedes Einzelnen, Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit und ein Eintreten für unabhängige, freie Medien. Stefan Löfven, Ministerpräsident„Ein gemeinsames Projekt für eine offene Gesellschaft“ Nach seiner Wahl griff der neue Regierungschef diesen Faden auf und sprach von seiner Regierung als „gemeinsamem Projekt für eine offene Gesellschaft“. Auch wenn eine „schwierige Legislaturperiode“ bevorstehe, sei Schweden der größte Gewinner, betonte Löfven: „Wir haben eine handlungsfähige Regierung, die nicht auf den Schwedendemokraten beruht.“ Deren Vorsitzender Jimmie Åkesson sprach dagegen davon, dass seine Partei künftig die „starke, dominierende Kraft“ in dem „konservativen Block“ sein werde. „Die Schlacht um die Regierungsmacht ist vorüber“, kommentiert die Tageszeitung Aftonbladet: „Aber der Kampf, den rechtspopulistischen Vormarsch zu stoppen, hat erst begonnen.“
Reinhard Wolff
Stefan Löfven ist neuer Ministerpräsident Schwedens. Seine rot-grüne Minderheitsregierung eint die Abneigung gegen die Schwedendemokraten.
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Kolumne Liebeserklärung: Spottgesang der Blaukehlchen - taz.de
Kolumne Liebeserklärung: Spottgesang der Blaukehlchen Auch dieses Jahr wollten sich Rechte wieder in Themar treffen. Keiner schien das verhindern zu können. Zum Glück gibt es den Naturschutz. Vielleicht lauert auf dem nächsten Grundstück das Braunkelchen. Dem könnten die Rechten nicht böse sein, oder? Illustration: TOM Einer muss es ja machen. Wenn schon Vernunft und gute Argumente nichts bewirken, dann müssen halt Juchtenkäfer oder Kleine Hufeisennase ran, um den gröbsten Unsinn zu verhindern oder wenigstens zu bremsen. Nicht umsonst unkte der Pharmamolch Jens Spahn missvernügt: „Wir müssen endlich verhindern, dass jeder vermutete Nistplatz von Lurchen etwas jahrelang verhindern kann.“ Diesmal sind es allerdings sichere Nistplätze von Vögeln, die eine besonders unappetitliche Umweltverschmutzung verhindern: 2017 fand im thüringischen Themar ein Aufmarsch von 6.000 Halb-, Ganz- und Anderthalb­nazis unter dem Motto „Rock gegen Überfremdung“ statt. Aus der geplanten Wiederholung im August scheint nun erst mal nichts zu werden. Weil am angrenzenden See Blaukehlchen nisten, wurde die Reichssause gemäß Bundesnaturschutzgesetz verboten, denn sie stelle eine „erhebliche ­Störung“ dar. Und das kann man ja wohl auch sagen. Ausgerechnet das Blaukehlchen verhindert also, dass Tausende Schweralkoholisierte zu Klängen von Bands wie Stahlgewitter, Blutzeugen oder Flak mitgrölen. Deren Fans jetzt ziemlich beleidigt reagieren, obschon ihnen sonst immer so sehr am Schutz ihrer Heimat gelegen ist, zu der die heimische Tierwelt aber doch ganz unzweifelhaft gehört. Aber die kleinen Vögel sind den Hinterwäldlern ohnehin ein paar Schnabellängen voraus. Während die einen ihr freudloses Leben dauerhaft in Thüringen oder ähnlich tristen Landstrichen verbringen, ziehen die Blaukehlchen im Winter lieber dorthin, wo es schön ist: nämlich nach Nordafrika. Von dort kehren sie jetzt im Frühjahr allmählich zurück. Es sind also waschechte Migranten aus dem Maghreb, die in Thüringen die Drecksarbeit erledigen, den Rechten den Mund zu verbieten. Wie hübsch, dass sie das auch noch mit besonders intensivem Spottgesang – heißt wirklich so! – verbinden. Der Veranstalter mit der Überfremdungsparanoia hat derweil angekündigt, vor Gericht gegen das Verbot vorzugehen. Sollte er damit scheitern, will er auf ein anderes Grundstück aus­weichen. Wenn da mal nicht schon das Braunkehlchen lauert. Das ist nämlich noch strenger geschützt. Und was könnten grölende Nazis schon gegen ein richtiges Braunkehlchen vorbringen?
Heiko Werning
Auch dieses Jahr wollten sich Rechte wieder in Themar treffen. Keiner schien das verhindern zu können. Zum Glück gibt es den Naturschutz.
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Mutmaßliche illegale Rückführungen: Bundesregierung weiß von fast nichts - taz.de
Mutmaßliche illegale Rückführungen: Bundesregierung weiß von fast nichts Hat Griechenland Bootsflüchtlinge zurückgedrängt und gegen UN-Recht verstoßen? Die Bundesregierung hat Schiffe vor Ort, aber keine Informationen. Kann nicht alles sehen: Bundeswehr-Soldat in der Ägäis Foto: dpa BERLIN taz | Schiffe von Bundeswehr und Bundespolizei beobachten seit Monaten Flüchtlingsboote in der Ägäis. Von einer mutmaßlichen illegalen Rückführung in der vergangenen Woche haben die Besatzungen laut Regierungsangaben aber nichts mitbekommen. Auch stellte die Bundesregierung keine Fragen an die griechische Küstenwache oder die EU-Grenzagentur Frontex, nachdem der Vorfall bekannt wurde. „Die Bundeswehr hat keine Erkenntnisse über den Vorgang. Soweit ich die Medienberichte verstehe, haben die Bundeswehr und die Nato da gar keine Rolle gespielt“, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Freitag. „Bei mir liegen auch keine über die Medienberichte hinausgehenden Erkenntnisse vor“, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. Die EU, Griechenland und die Türkei würden die Bundesregierung laufend über die Umsetzung des gemeinsamen Flüchtlingsabkommens informieren. Daher bedürfe es auch „gar keines aktiven Informationsverlangens, um über solche Sachverhalte aufgeklärt zu werden.“ Sprich: Die Bundesregierung wartet ab, bis die beteiligten Behörden von sich aus nach Berlin berichten. Hat Frontex zugesehen? Nach Angaben betroffener Flüchtlingen griff die griechische Küstenwache am Freitag vergangener Woche 53 Menschen auf einem Schlauchboot auf – in griechischen Gewässern. Anstatt sie zunächst auf griechische Inseln zu bringen, wie es das internationale Recht vorsieht, hätten die Beamten sie kurz darauf unter Gewaltandrohung an ein Schiff der türkischen Küstenwache übergeben. Diese habe sie sofort zurück ans türkische Festland gebracht. Fotos der Betroffenen stützen die Angaben und zeigen zudem, dass sich in Sichtweite der Aktion ein Frontex-Schiff befand. Solche sogenannten „Pushback-Aktionen“ sind illegal. Auch für den Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei gelten die Regeln der UN-Flüchtlingskonvention: Ohne individuelles Asylverfahren darf kein Flüchtling aus Griechenland zurück in die Türkei abgeschoben werden. Wer in griechischen Gewässern aufgegriffen wird, muss für sein Verfahren auf die griechischen Inseln gebracht werden – auch wenn seine Chancen auf Asyl dort relativ gering sind. Die Bundespolizei stellt Frontex derzeit zwei Boote samt Besatzung zur Verfügung, um gemeinsam mit der griechischen Küstenwache die Hoheitsgewässer in der Ägäis zu überwachen. Die Bundeswehr hat ein Schiff in der Region im Einsatz. Im Auftrag der Nato beobachtet es Flüchtlingsbewegungen zwischen der Türkei und Griechenland und meldet sie an die Küstenwachen beider Länder. Grenzagentur prüft den Fall Frontex prüft den Vorfall aus der vergangenen Woche derzeit und hat dafür bereits mit Vertretern der griechischen Küstenwache gesprochen. Ruben Neugebauer, Sprecher der Hilfsorganisation Sea Watch, hält die Angaben der Betroffenen für plausibel. Weil nach dem EU-Türkei-Deal die Zahl der Flüchtlinge in der Ägäis gesunken sei, hätten viele Organisationen ihre teuren Einsätze in der Region beendet. „Wir haben selbst festgestellt, dass der Ton der Frontex-Leute wieder rauer wird, seitdem das Auge der Zivilgesellschaft nicht mehr so sehr auf der Ägäis liegt“, sagt er. Über den konkreten Fall habe jedoch auch seine Organisation keine eigenen Informationen.
Tobias Schulze
Hat Griechenland Bootsflüchtlinge zurückgedrängt und gegen UN-Recht verstoßen? Die Bundesregierung hat Schiffe vor Ort, aber keine Informationen.
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Das Bild der Kanzlerin im Ausland: Na, wie bin ich? - taz.de
Das Bild der Kanzlerin im Ausland: Na, wie bin ich? In der Eurokrise ist die weltpolitische Bedeutung von Angela Merkel gestiegen. Wie aber wird die Kanzlerin im Ausland wahrgenommen? Drei Sichtweisen. Die Kanzlerin im Profil. Bild: dpa USA: Beeindruckend uninteressant Wie wir Amerikaner Maggie Thatcher vermissen! Ob man sie liebte oder hasste – und die Amerikaner taten beides –, die ehemalige britische Premierministerin war immer interessant. In den USA, wo sich die Bevölkerung wenig für ausländische Politiker interessiert, wurde ihr nun das größtmögliche Kompliment gemacht: Hollywood verfilmte ihr Leben. Von all den Frauen, die an die Spitze der internationalen Politik gelangten, faszinierte uns allenfalls noch die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, deren Lebensgeschichte in Broadway-Musicals verarbeitet wurde. Meir und Thatcher waren hart im Nehmen. Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, sahen manche US-Medien in ihr eine deutsche Thatcher. Damals schien einiges dafür zu sprechen: Sie war das antikommunistische Produkt des ostdeutschen Dissidenten-Milieus. Ihr Wahlkampf ließ mutmaßen, dass eine Dosis von Thatchers marktfreundlicher Medizin genau das Richtige für Deutschland sei. Dazu war sie proamerikanischer eingestellt als ihr Vorgänger Gerhard Schröder. Die AutorenCHARLES LANE, 50, ist Redakteur und Kommentator der US-amerikanischen Tageszeitung Washington Post. Zuvor arbeitete er unter anderem als Chefredakteur der Newsweek, der Zeitschrift The New Republic und als Deutschlandkorrespondent der Newsweek.***ADAM KRZEMINSKI, 67, ist Publizist und Redakteur des polnischen Wochenmagazins Polityka. In Polen gilt er als einer der besten Kenner Deutschlands. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt der Essayband „Schuld & Sühne und Stolz & Vorurteil – Polen und Deutsche“.***PHILIP OLTERMANN, 30, wuchs vor den Toren Hamburgs auf und lebt seit 1997 in England, wo er als Redakteur der Tageszeitung The Guardian arbeitet. Sein Buch „Keeping Up with the Germans: A History of Anglo-German Encounters“, erschien im Februar gerade bei Faber & Faber. (taz) Merkel wurde aber nie dieser Rolle gerecht – und das nicht nur, weil sie aufgebracht reagierte, als George W. Bush ihr ungebeten eine Schultermassage beim G-8-Gipfel 2006 verpassen wollte. In ihrer ersten Legislaturperiode wich sie vom strikt marktwirtschaftlichen Kurs ab. Zudem tat sie nur das Minimum, um Amerika in Afghanistan zu helfen und beteiligte sich nicht an der Mission in Libyen. Die Kanzlerin wollte die pazifistisch eingestellte deutsche Bevölkerung nicht aus ihrer Komfortzone herausbewegen. Merkel verlängerte erst die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke, um nach Fukushima sich von der Kernenergie zu verabschieden – anstatt die damalige Panik in der deutschen Bevölkerung als Herausforderung zu begreifen. Zuletzt hatte sie in der Staatsschuldenkrise andere Ansichten als Barack Obama. Außerdem erschien sie nicht besonders berührt, als der amerikanische Präsident ihr letztes Jahr die Medal of Freedom verlieh und ihr zu Ehren im Weißen Haus ein Dinner gab. Thatcher genoss den Konflikt mit der Europäischen Union. Merkel wiederum arbeitete daran, die EU zusammenzuhalten. Es ist allen klar, dass ihr Deutschland heute mehr Macht über Europa hat als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber Merkel macht daraus keine große Nummer. Oder kann sich irgendjemand an einen erinnernswerten Satz aus einer ihrer Reden erinnern? Auf unserer Seite des Atlantiks tun wir uns jedenfalls schwer. Merkel erscheint uns als fordernde, aber auch milde, an Paragrafen festhaltende Regierungschefin – als eine, die stets bemüht und bedacht ist, ihre Anweisungen bilateral mit ihrem französischen Kollegen Nikolas Sarkozy zu verkünden. Merkel übt ihre Macht äußerst professionell und pragmatisch aus und agiert nur im Notfall rücksichtlos. In den Augen eines Amerikaners wirkt sie – wie auch ihr Land – beeindruckend, aber nicht besonders interessant. Das könnte sich allerdings ändern, und das wird es auch vermutlich, wenn Merkels Politik scheitert und Europas Wirtschaftsprobleme auf Amerika übergreifen. Bisher gibt es jedenfalls nicht genug Drama, das für ein Drehbuch gereicht hätte. CHARLES LANE (Übersetzung: Ulrich Goll) Polen: Weitgehend verlässlich Die im Westen offen bemitleideten und insgeheim gering geschätzten „Brüder und Schwestern aus der Soffjettzone“, wie sie Konrad Adenauer einmal nannte, haben es geschafft! Schon bald werden zwei Menschen zu den wichtigsten Gesichtern Europas gehören, die durch das Leben in der DDR-Provinz geprägt wurden. Joachim Gauck wird seine Europaidee für das 21. Jahrhundert noch präzisieren müssen. Als Chef der „Gauck-Behörde“ und danach als Festredner war er vor allem rückwärtsgewandt. Seine öffentlichen Aktivitäten waren mehr gegen das Vergessen als auf die Lösung der heutigen Herausforderungen ausgerichtet. Deswegen stänkern in Deutschland junge Menschen auch, dass die „Generation Gauck“ keine Antworten auf die Probleme der Zeit habe. Angela Merkel ist in einer besseren Position. Sie hat wunderbare Umfragewerte, und Deutschland ist wirtschaftlich Hauptnutznießer des Euros und politisch der Eurokrise. In Polen wettern die Nationalkonservativen, dass Merkel – mit dem Bild der Zarin Katharina auf dem Schreibtisch – mit Wladimir Putin dabei sei, Polen unter Deutschland und Russland aufzuteilen. Bei den regierenden Liberalkonservativen von der Bürgerplattform hingegen hat Merkel einen guten Ruf. Nicht nur die Chemie zwischen ihr und Donald Tusk stimme, auch die halbwegs gemeinsame Danziger Heimat. Er ist Kaschube, ihre Großmutter wuchs in derselben Gegend auf. Beide verbindet die „volksdemokratische“ Lebenserfahrung und politisches Talent für einen Zickzackkurs. Beide waren mal konservativ und fortschrittlich, neoliberal und sozial, vertraten heute das eine und morgen das Gegenteil. Und trotzdem kann man beiden eine gewisse Geradlinigkeit nicht absprechen. In der polnischen Öffentlichkeit kommt Merkel gut an. Man rechnet ihr hoch an, dass sie schon oft die Rolle der Solidarnosc gewürdigt hat. Viele Kommentatoren ätzen allerdings, dass nette Worte nur für die polnische Öffentlichkeit bestimmt seien. So bereitete das Bundeskanzleramt 2009 die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer als deutsch-deutsches Event mit Beteiligung der Großmächte vor. Es war die Berliner SPD, die es möglich gemacht hat, dass am 9. November Lech Walesa die Dominosteine am Brandenburger Tor symbolisch zu Fall bringen konnte. Auch wenn es nicht allein um politische Symbole, sondern um die Substanz einer gemeinsamen Vision von Europa geht, ist aus polnischer Perspektive auf Merkel Verlass – mit Abstrichen. Im Jahr 2007 parlierte sie zwar mit den Brüdern Kaczynski freundlich auf der Halbinsel Hela, setzte zugleich aber beim EU-Gipfel das störrische Brüderpaar mit der Drohung unter Druck, den Lissabon-Vertrag gegebenenfalls ohne Polen auszuhandeln. Die Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit wirft ihr auch jetzt vor, dass sie trotz der angeblichen Anbiederung der Tusk-Regierung Polen außen vor lasse. Solange aber die „polnische Wirtschaft“ gut dasteht, hält die regierende Bürgerplattform das PiS-Gezänk nur für ein festes Element des Spiels. Auf Merkel ist Verlass – bislang zumindest. ADAM KRZEMINSKI Großbritannien: Ein bisschen Hitler ist immer Nirgends zeigt sich das Ansehen von Politikern in der britischen Öffentlichkeit wie in den Editorial Cartoons der Zeitungen. Anders als in Deutschland geht es dabei weniger um strenge Analyse als um instinktive Wertschätzung: Je unbeliebter der Politiker, desto grotesker wird verzerrt. So wurde bei Gerald Scarfe von der Sunday Times aus der schwungvollen Margaret Thatcher ein menschenfressender Vampir, der charmante Tony Blair war am Ende bei Steve Bell im Guardian ein böse starrendes Riesenauge. Angela Merkel konnte man vor Kurzem als echte eiserne Kanzlerin bewundern, samt Lederoutfit und Pickelhaube. Sollte man sich im Kanzleramt deswegen Sorgen machen? Kritik an der Politik, zu der Deutschland Europa zurzeit drängt, gibt es ausreichend. Aus dem linken Lager beklagt man die protestantische Moralisierung der griechischen Schuldenlage, die selbstgefällige Ablehnung Keynes’scher Wachstums-strategien und die neue deutsche Blindheit für die eigene Geschichte: Basiert nicht der wirtschaftliche Erfolg nach 1945 auf so einem Wiederaufbauprogramm, das man den Griechen partout nicht bieten will? Die Härte, mit der Merkel die Riemen des EU-Budgets festschnüren wolle, so Larry Elliot im Guardian, erinnere an Leopold von Sacher-Masochs „Venus im Pelz“. Unter den Konservativen gibt man sich sowieso skeptisch gegenüber dem gesamten europäischen Projekt – in diesen Tagen noch mehr als sonst. In den rechtsgerichteten Blättern wird routinemäßig die Geschichte von dem Vierten Reich aufgewärmt, in welches die Deutschen die EU umwandeln wollten. Was Hitler nicht schaffte, wolle man jetzt durch Handel und finanzielle Disziplin erzielen, behauptete Simon Heffer in der Daily Mail. Das deutsche Ideal eines politisch vereinten Europas ist gescheitert – da sind sich Linke wie Rechte einig. Persönliche Attacken auf Merkel aber sind überraschend selten, selbst in der Boulevardpresse. Sicherlich hat das auch mit Verwirrung über ihre Person zu tun: Ist die deutsche Kanzlerin eine Rebellin gegen die Finanzmärkte oder nur ein Spielball der Banken? Ist sie eine Austeritätsideologin oder nur eine Karrierepolitikerin mit angelsächsischem Pragmatismus? In den letzten Monaten konnte man all diese Interpretationen in der englischen Presse lesen. Ein anderer Grund mag sein, dass die Briten von Merkels Innenpolitik beeindruckt sind. Keine Woche vergeht zurzeit ohne Gastbeiträge von Politikern und Wirtschaftsweisen, in denen die Vorteile deutschen Arbeitsrechts, deutscher Landesbanken oder deutscher Ausbildungsprogramme gepriesen werden. David Camerons Nein zur EU-Vertragsreform schien das Verhältnis zu Deutschland zerrüttet zu haben. Als richtiges Feindbild taugt Merkel deswegen aber noch nicht – erst recht nicht für Camerons konservative Partei, die genauso stur an ihrem Sparkurs festhält wie die deutsche Regierung. Inwiefern auf die kämpferischen Worte auch Handeln folgen wird, ist noch unklar. Im Augenblick scheint sich der britische Premier mit seiner stockenden Reform des staatlichen Gesundheitsdiensts und der brodelnden Debatte um eine Unabhängigkeit größere Sorgen zu machen. In den Cartoons von Bell erscheint der britische Premierminister übrigens nur noch mit einem Kondom über dem Kopf. PHILIP OLTERMANN
C. Lane
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Interview mit Daniela Dröscher: Der Kern des Patriarchats - taz.de
Interview mit Daniela Dröscher: Der Kern des Patriarchats Die Autorin Daniela Dröscher über ihren neuen Roman „Lügen über meine Mutter“ und das Mehrgewicht der eigenen Familie. „Wenn Care-Arbeit nicht läuft, dann läuft gar nichts“ – Autorin Daniela Dröscher Foto: Carolin Saage taz am wochenende: Frau Dröscher, Sie haben schon häufiger über Ihre Mutter beziehungsweise eine dicke Mutter geschrieben. Etwa in „Zeige deine Klasse“ oder in Ihrer abgründigen Erzählung „Ophelia, mach hinne“. Daniela Dröscher: Es ist eines meiner Lebensthemen. Trotzdem, so heißt es, haben Sie gezögert, diesen Roman nun zu schreiben. Marguerite Duras hat rund 20 Bücher und 40 Jahre gebraucht, um irgendwann „Der Liebhaber“ schreiben zu können. Um das unverstellt aus der Sicht des Kindes zu schreiben, musste ich einfach älter, musste ich 45 Jahre alt werden. Ich hatte vorher nicht den notwendigen Abstand und anfangs auch keine Sprache dafür, es gab den heutigen Bodypositivity-Diskurs ja auch noch nicht. Zudem fragte ich mich, ob ich als normalgewichtig geltende Autorin diese Geschichte überhaupt schreiben darf. im Interview:Daniela DröscherDaniela Dröscher, geboren 1977 in München, schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Ihr Romandebüt „Die Lichter des George Psalmanazar“ erschien 2009. Es folgten der Erzählband „Gloria“ und der Roman „Pola“ sowie das Memoir „Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“. Daniela Dröscher wurde unter anderem mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie auch Ministerin im Ministerium für Mitgefühl. Ihr neuer Roman „Lügen über meine Mutter“ erscheint dieser Tage im Kölner Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch (442 Seiten, 24 Euro). Sie erzählen aus der Perspektive eines zu Beginn 6 Jahre alten Kindes. Warum? Mir war es wichtig, immer „ich“ zu sagen und immer aus der Perspektive des Kindes zu sprechen, weil ich mir nicht anmaße, zu wissen, wie es sich anfühlt, einen dicken Körper zu haben. Der Roman beschränkt sich auf die Jahre 1983 bis 1986. Ich hätte das Ganze auch episch schreiben können, aber die Theaterautorin in mir wollte die Verdichtung, die szenische Verknappung. Warum es gerade diese Jahre sind, liegt in meiner Biografie begründet. Ich wurde 1977 geboren und finde diese Zeit auch vor ihrem gesellschaftlichen Horizont sehr interessant. Diese sogenannte BRD-Noir-Zeit, mitten in der Kohl-Ära, noch weit vor 1989 und der Wiedervereinigung. Ich fand spannend, noch mal zu schauen, was da eigentlich los war. Das Patriarchat stand damals noch in voller Blüte, Männer hatten Priorität, und von heute aus betrachtet fragt man sich, warum da viele mitgemacht haben? Eine gute Frage. Die Mutter im Buch ist nicht politisch organisiert, sie kommt gar nicht auf die Idee, sich mit anderen zu verbünden. Diese unhinterfragte Rollengläubigkeit ist eindrücklich. Die Autorin Heike Geißler, die ostsozialisiert ist, hat den Text gelesen und gemeint: „Bin ich in den 1960ern? Was war los bei euch?“ In dem Familienhaushalt im Buch funktioniert gar nichts, wenn die Mutter nicht da ist. Da scheint sich einiges geändert zu haben. Andererseits hängt Care-Arbeit auch heute noch weitgehend an den Frauen. Stimmt, und diese unbezahlte Arbeit ist das Fundament von allem. Wenn das nicht läuft, dann läuft gar nichts. Ich bin gerade in Italien und meine Gastgeber haben eine 7 Monate alte Tochter und ich denke: Was für eine Arbeit ist es, ein Kind aufzuziehen. Es ist so eine Arbeit! Es gibt viele Ideen und Lösungen, aber das muss man wollen. Care-Arbeit zu bezahlen, scheint nicht der Weisheit letzter Schluss. Wir müssen die Arbeit umverteilen, die Erwerbsarbeit darf nicht das Goldene Kalb bleiben. Doch das rüttelt am Leistungsprinzip, weil Menschen, die Kinder aufziehen, nicht so leistungsfähig sind, beziehungsweise ihre Leistung woanders vollbringen. Das berührt den Kern des Patriarchats und des Kapitalismus. Die Geschichte, die Sie erzählen, ist eine Nora-Geschichte, also im Sinne von Henrik Ibsens Stück „Nora oder ein Puppenheim“ aus dem Jahr 1879. Ein Stück, das heute gern für obsolet erklärt wird. Das ist tatsächlich eine Nora-Geschichte. So oft ist mir diese westdeutsche Nora noch nicht begegnet und ich dachte, vielleicht ist das etwas, was erzählt werden muss. Es ist eine Emanzipationsgeschichte. Absolut. Am Ende steht eine Befreiung, die für diese Figur möglich ist. Aber ich finde, es sollte mehr Geschichten geben von selbstbewussten, dicken, fröhlichen Frauen, die einmal quer durchs Patriarchat marschieren und ihr Ding machen. So ist meine Figur jedoch nicht. Sie versucht, es sehr vielen recht zu machen, und ist eine Gefangene ihres Rollenbilds und des Rollenbilds ihrer Zeit. In ihrem Dicksein ist sie nach heutiger Lesart emanzipierter als andere, weil sie mehr Raum beansprucht. Die Mutter selbst hat auch gar kein Problem mit ihrem Körper, aber sie lässt zu, dass ihr Gewicht immer wieder zum Problem gemacht wird. Sie lässt sich auf die Waage zwingen, in Kur schicken, unterzieht sich diesen Diäten. Sie verweigert sich erst am Ende. Sie ist eine schöne, selbstbewusste, eigenwillige Person, die zulässt, dass ihr Körper zum Gefängnis wird. Das Dicksein lässt sich auch als Chiffre für Nichtzugehörigkeit lesen. Ja, ich hoffe, dass das Buch beide Lesarten mitbringt. Einerseits ist es sehr konkret und ich denke, Dickenfeindlichkeit ist eines der letzten Tabus im Vergleich zu anderen Diskriminierungen. Andererseits gibt es Ähnlichkeiten zu anderen Formen der Diskriminierung. Die Künstlerin Katharina Bill, die zu Performativität von Körperfett und normativen Darstellungskonventionen forscht, sagt, dass hinter Dickenfeindlichkeit oft Frauenhass stecke. Da würde ich absolut zustimmen. Ich habe mich schon als Jugendliche in Bezug auf meine Mutter gefragt: Was ist eigentlich die Provokation dieses Körpers. Ein weiblicher Körper, der sich Raum nimmt, ist nicht vorgesehen. Ob Mann oder Frau, der Vorwurf lautet, man habe sich nicht im Griff, verhalte sich gesundheitsschädigend. Eine Kollegin, die mehrgewichtig ist, sagt, wenn sie zum Arzt gehe, könne sie etwas an den Augen haben, und er behauptet, es liege daran, dass sie zu dick sei. Menschen werden auf dieses eine Merkmal reduziert; dann wird gesagt, sie seien faul, undiszipliniert, egoistisch, und die Stereotype rattern los. Im Roman erwischt die Tochter die Mutter eines Nachts im Keller beim Naschen. Ist das mit der Selbstdisziplin wirklich ein Vorurteil? Ich glaube, das muss jeder beim Lesen für sich selbst beantworten. Ich habe es so gebaut, dass sich die Lesart aufdrängt, jemand, der so viel arbeitet wie diese Mutter, braucht vielleicht eine Art Ent- und Belohnung. Der Körper reichert auch Fett an, um Stress zu verarbeiten. Sie haben vorhin das Wort „mehrgewichtig“ verwendet, im Buch ist die Rede von „dick“. Hadija Haruna-Oelker schreibt in ihrem Buch „Die Schönheit der Differenz“, das Wort „übergewichtig“ sei abwertend. Ich stimme zu, in dem „über“ ist schon ein „zu“ enthalten. Wer darf das über wen sagen? Ich finde, „mehrgewichtig“ ist ein schönes Wort, vielleicht wird es geläufiger, wenn wir es häufiger verwenden. Im Roman sage ich „dick“, weil es für die Zeit und diese Figur passender ist. Im Roman heißt es, Schreiben und Schreien seien nur ein winziges „b“ voneinander entfernt. Ist Ihr Roman auch ein Schrei? Ich glaube, es ist ein sehr geformter und kontrollierter Schrei. In „Zeige deine Klasse“ sagen Sie, Schrei­ben bedeute auch, die Wirklichkeit zu verändern. Ich schreibe nur über Dinge, die ich nicht verstehe und die ich für mich klären muss. Aber ich glaube, ich habe meinen Frieden gemacht. Mittlerweile hat sich viel getan. „Bodyshaming“ und „Bodypositivity“ scheinen keine Fremdwörter mehr zu sein. Sind wir auf einem guten Weg? Ich hoffe es, aber es hat wirklich mit Sichtbarkeit zu tun. Wir brauchen mehr solche tollen Schauspielerinnen wie beispielsweise Crissy Metz. Künstlerinnen, die einen ganz eigenen Körper mitbringen und damit selbstbewusst performen. Wie Stefanie Reinsperger vom Berliner Ensemble. Richtig! Wir brauchen solche Frauen, und zwar in allen Berufen. Ich habe Ihren Roman als eine große Liebeserklärung an die eigene Mutter gelesen. Wenn sich das transportiert, habe ich meinen Job gut gemacht!
Shirin Sojitrawalla
Die Autorin Daniela Dröscher über ihren neuen Roman „Lügen über meine Mutter“ und das Mehrgewicht der eigenen Familie.
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Kunst von Frauen aus Afghanistan und Iran: Es braucht die Bilder - taz.de
Kunst von Frauen aus Afghanistan und Iran: Es braucht die Bilder Künstlerinnen aus Afghanistan und Iran werden hierzulande virtuell oder in richtigen Ausstellungen sichtbarer. Für sie ist das ein Risiko. Eine Fotografie von Aziza Asadullah, aufgenommen in Afghanistan​ Foto: Aziza Asadullah Eine Frau mit offenem Haar und im roten schulterlosen Top reckt den Kopf empor, im Hintergrund ist die Kulisse von Persepolis zu sehen; doch dort, wo die Sonnenbrille sein sollte, sind ihr die Augen verbunden. Gemalt hat das beklemmende Bild die nach Hamburg geflohene iranische Künstlerin Mina Irani Benimar. Dann sind da die Fotografien von Aziza Asadullah (Name geändert), aufgenommen in ihrer Heimat Afghanistan. Man sieht: eine Frau im Türrahmen, über ihrem Gesicht das Gitter des hellblauen Schleiers, neben ihr zwei Türketten. Hermetisch, abgeriegelt, verschlossen. Diese Bilder sind derzeit in einer Ausstellung in Hamburg-Bergedorf zu sehen, an einem für die Kunst eher untypischen Ort in einem Einkaufszentrum, wo eine Initiative ein Atelier eingerichtet hat. Deren Titel „Frau Leben Freiheit – Zan Zendegi Azadi – Woman Life Freedom“ greift einen Slogan der Proteste im Iran auf, die Schau bringt die dortigen Geschehnisse nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 in Teheran zusammen mit der Situation der Afghaninnen nach Abzug der westlichen Truppen im August 2021. In beiden Regimen werden Frauen brutal unterdrückt, im Iran werden täglich Oppositionelle und Frauen hingerichtet. Amnesty International fordert den Internationalen Strafgerichtshof dazu auf, zu prüfen, ob die Repressionen gegenüber Frauen unter dem afghanischen Taliban-Regime als Völkerrechtsverbrechen zu werten sind. Frauen, die Kunst machen, werden in Afghanistan mit dem Tod bedroht, sie arbeiten häufig im Untergrund, halten ihre Bilder versteckt. Die Ausstellungen„Frau Leben Freiheit“. Offenes Atelier Bergedorf im CCB, bis 8. Juli„Hope in Darkness“ online: hope-in-darkness.de Es ist besonders, dass in dieser Ausstellung überhaupt Bilder von sieben afghanischen Künst­le­r:in­nen an die Öffentlichkeit gelangen – einige von ihnen leben noch in Afghanistan. „Die Menschen dort brauchen eine Stimme, insbesondere die Frauen, die nur noch mit blickdichter Burka an den Checkpoints sicher sind und die nicht mehr arbeiten oder studieren dürfen“, sagt Juli Bandelow, eine der Kuratorinnen. Da es so gut wie unmöglich ist, deren Werke sicher außer Landes zu schaffen, sind in Hamburg Duplikate ausgestellt. Auch das Projekt „Hope in Darkness“ widmet sich derzeit der Kunst afghanischer Frauen. „Hope in Darkness“ ist als Wanderausstellung konzipiert, ab dem 16. Juli ist sie in der Städtischen Galerie Fruchthalle in Rastatt bei Karlsruhe zu sehen. Weitere Ausstellungsorte sollen folgen. Die Schau zeigt 35 Werke von jungen Frauen aus dem westafghanischen Herat, die Originale sollen unter Risiken außer Landes geschmuggelt worden sein. Ausstellung verbunden mit politischer Forderung Für die Kuratorinnen in Hamburg-Bergedorf ist die Sichtbarmachung dieser Bilder auch mit einer politischen Forderung verbunden. Die Adressaten: das Bundesaußenministerium und das Land Hamburg. Das Bundesaufnahmeprogramm für bedrohte Afghan:innen, das im Dezember 2022 gestartet wurde, ist nach zwischenzeitlichem Stopp zwar nun wieder aufgenommen worden, doch kein einziger Mensch ist darüber bislang nach Deutschland gelangt. Die Ku­ra­to­r:in­nen fordern auch deshalb ein Landesaufnahmeprogramm für Hamburg, ähnlich wie Hessen es gerade eingeführt hat. Etwa 14.000 Af­gha­n:in­nen warten laut NDR Info auf die Einreise nach Deutschland, die meisten sind noch in Afghanistan. Nun sollen monatlich 1.000 Menschen nach Deutschland kommen können, Menschenrechtsorganisationen schlagen seit langem Alarm, dass alles viel zu lange dauere – in Fällen, wo Menschen akut mit Tod oder Folter bedroht sind. In Iran sind laut Schätzungen von Men­schen­recht­le­r:in­nen mehr als 20.000 Oppositionelle inhaftiert, auch hier werden die Forderungen an die Bundesregierung lauter, einen neuen Kurs in der Iranpolitik einzuschlagen. Bilder können lügen, doch die, die hier nun langsam über die Ausstellungen in Hamburg-Bergedorf oder „Hope in Darkness“ sichtbar werden, lügen sicher nicht. Sie mögen manchmal plakativ sein – ein Schleier aus Draht, ein Land hinter Gittern – und einen aktivistischen Impetus haben, aber sie machen auf die bedrohliche Lage der Frauen im Iran und Afghanistan aufmerksam. Es braucht wohl noch mehr solcher Bilder.
Jens Uthoff
Künstlerinnen aus Afghanistan und Iran werden hierzulande virtuell oder in richtigen Ausstellungen sichtbarer. Für sie ist das ein Risiko.
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„Berliner Schule“ in Moskau: Außenstellen eines Begriffs - taz.de
„Berliner Schule“ in Moskau: Außenstellen eines Begriffs Das Filmfestival von Moskau zeigt Filme der „Berliner Schule“. Im Kontext des russischen Kulturkampfs gewinnen sie unerwartete Konturen. Am 19. Juni 2014 wurde das Internationale Filmfestival von Moskau eröffnet. Auf dem Roten Teppich: das Team des US-amerikanischen Dokumentarfilms „Red Army“. Bild: dpa Eigentlich wollte ich mich um den Begriff „Berliner Schule“ nicht mehr kümmern. Der heimische Diskurs darüber war mir in den letzten Jahren müßig geworden, oft schien das Sprechen hier von Missgünstigen mit kaum verhohlener Niedertracht angezettelt oder von Wächterfiguren geführt, die es vor allem auf Ein- und Ausschlüsse absehen. Ende letzter Woche jedoch war ich in Moskau genau dafür als Experte eingeladen vom Goethe-Institut, das dort auf dem Internationalen Filmfestival eine Retrospektive organisiert hatte. Größtenteils als russische Premieren wurden acht Filme gezeigt, die im Deutschland der nuller Jahre produziert wurden und dem zugerechnet werden, was „Berliner Schule“ genannt wird: Filme von Angela Schanelec, Valeska Grisebach, Maren Ade, Maria Speth, Christian Petzold, Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler und Ulrich Köhler. Mit mir aus Berlin nach Moskau war auch Saskia Walker gereist, Regisseurin und Mitherausgeberin der Filmzeitschrift Revolver, welche manche als publizistisches Zentralorgan der Schule bezeichnen. Unsere Aufgabe war es, mit dem Publikum über die Filme und deren Zusammenhänge zu sprechen. Auf dieses Sprechen in der Fremde war ich neugierig. Vielleicht ließe sich dabei die Dichotomie von neidvoller Eifersucht und formelhafter Bewunderung auflösen, ließe sich anderes an den Filmen entdecken. Politische Spannungen Dieser andere Kontext (Moskau! Russland!) sorgte mich auch. Vor der Reise verfolgte ich die Nachrichten aus der Ukraine genau und las von den immer totalitaristisch-nationalistischer werdenden Gesetzen, die die Duma verabschiedete. Auch das Festival selbst ist von politischen Spannungen durchzogen. Nikita Michalkow, Oscarpreisträger und Präsident des Festivals, die mächtigste Figur im russischen Regisseursverband und eng mit Putin verbandelt, hatte ein paar Tage zuvor die Bevölkerung der Ukraine zu Widerstand gegen die gerade gewählte Regierung aufgerufen; zeitgleich hatte jedoch ein anderer zentraler Regisseur, Alexander Sokurow („Faust“, „Vater und Sohn“), dem wie Michalkow gute Verbindungen zum Kreml nachgesagt werden, die Freilassung aller politischen Gefangenen in Russland gefordert. Auch wusste ich, dass manche der eingeladenen Berliner Regisseure aus politischen Gründen nicht nach Moskau kamen. Will man in einem Land Filme zeigen, dessen Regierung in einen Krieg einzutreten sich vorbereitet? Sendet man damit ein Signal, und wenn ja: an wen, an die reaktionären oder die progressiven Kräfte im Land? Tatjana Kirjanowa, die Initiatorin der Schau, hatte in den nuller Jahren in Frankreich und Deutschland die Filme der Berliner Schule gesehen und in ihnen ihre eigene Wahrnehmung vom Leben in Deutschland präzise wiedergegeben gefunden. Zusammen mit Mikhail Ratgauz, Filmkritiker und Redakteur der Website www.colta.ru, verantwortete sie nun auch die erste russische Buchveröffentlichung über die „Bewegung“ der Berliner. Der Band erschien parallel zum Festival. Neue narrative Formen Im Versuch, die Besonderheit der Filme zu charakterisieren, entwickelt Ratgauz darin eine filmgeschichtliche Verortung, die die Berliner Schule als eine der letzten Gruppenbewegungen charakterisiert, die im historischen Vakuum der Transformationszeit der 90er und nuller Jahre das Kino vorangetrieben haben. Die Filmemacher, so Ratgauz, reagierten auf einen Mangel an Gegenwärtigkeit im (deutschen) Kino, das formal von postmoderner Referentialität und ökonomisch vom heillosen Simulieren amerikanischer Filmindustrie geprägt war. Dem setzten sie explizite Suchbewegungen nach Realitätsreflexionen und neuen narrativen Formen entgegen. Das Kino als Erzähl- und Darstellungssystem wurde wieder riskanter, auseinandersetzender aufgefasst. In den Diskussionen mit uns und dem Publikum war Ratgauz nun daran gelegen, ein Verständnis der Filme mit dem in Russland der letzten Jahren immer dramatischer zutage tretenden „Kulturkampf“ zu verbinden. Mit diesem Begriff bezeichnet er die von Putin forcierte Abwendung von der westlichen Orientierung hin zu einer neuen, russisch-eurasischen Identität, die (spätestens seit der Annexion der Krim) von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt werde. Zeitgleich mit dem neuen Nationalismus setze aber auch eine Emigrationsbewegung der gebildeten Schichten ein, die in den 90er und nuller Jahren noch hofften, dass die Transformation der Gesellschaft sich in Richtung westlicher Kultur bewege. Einige der gezeigten Filme wurden aus dieser russischen Perspektive auf die Suche nach einem neuen Selbst neu lesbar als Verhandlung von Tauschbeziehungen und Identitätsbestimmungen. Die Bewegungen von Yella (Nina Hoss) im gleichnamigen Film von Christian Petzold, der 2007 eine Geschichte aus der Perspektive einer Toten erzählte, die sich mit dem Sterben noch nicht abgefunden hat, ließen sich so als einer fantasmatisch-zerstörerischen Traumlogik folgend beschreiben, welche ausschließlich von ökonomischen Kategorien bestimmt ist. In Angela Schanelecs „Marseille“ wird die Identität der Hauptfigur Sophie (Maren Eggert) von einem konstellativ befremdenden Realen aufgesogen. Diese beiden Extrempositionen der Berliner Schule – einer politischen Kritik der Imagination (bei Petzold) und einer Montage-orientierten Öffnung auf Realitätseffekte (bei Schanelec) – gewannen durch den Moskauer Kulturkampf-Kontext tatsächlich neue Konturen. Zumindest für mich markieren sie nun die Außenstellen eines reflektierten Gegenwartskinobegriffs, der es beispielsweise erlauben würde, Alternativen zum bei der Filmkritik unangemessen beliebten, transzendental-kontemplativen Kino und seiner Selbstschau zu entwerfen. Vielleicht taugt der Berliner-Schule-Begriff schließlich doch noch zu etwas.
Michael Baute
Das Filmfestival von Moskau zeigt Filme der „Berliner Schule“. Im Kontext des russischen Kulturkampfs gewinnen sie unerwartete Konturen.
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Skurrile Essenspräsentation: Wir! Wollen! Teller! - taz.de
Skurrile Essenspräsentation: Wir! Wollen! Teller! Kreative Restaurants servieren Essen in Hundenäpfen, Schuhen oder Waschbecken. Der Brite Ross McGinnes sammelt diesen Horror auf Twitter. Coleslaw im Einkaufswagen, ein Schraubglas, ein Burger und die Frage: Warum? Foto: @bobgranleese Kreativität ist ein fluides, störrisches Ding, ungefähr so zähmbar wie ein Bündel junger Katzen. Braucht man sie, schaut sie einen geistesabwesend mit dem Hinterteil an. Genauso wenig lässt sie sich zurückhalten: Wo immer geistige Unterforderung unbesetzten Raum bietet, da macht sich Kreativität breit – und nutzt gnadenlos die menschliche Schwäche aus, etwas Besonderes erschaffen zu wollen. Muss man Essen denn unbedingt auf Tellern servieren, fragte sich irgendwann ein von sich selbst gelangweilter Chefkoch. Kann man da nicht was … Originelleres benutzen? Denn, hey: What could possibly go wrong?!? Tja, ziemlich viel. Denn kreativ ist leider nicht zwingend gleich gut. Auf dem Höhepunkt der Vollbart-Hipstermode gehörten Marmeladengläser, Schiefertafeln und Holzbretter auf einmal zum Standard-Inventar sich individuell fühlender Restaurants von Brooklyn bis Berlin. Dass das nur die Spitze des Eisbergs ist, zeigt Ross McGinnes. Der Brite führt seit 2015 einen Kreuzzug gegen die Scheußlichkeiten der Essenspräsentation und zeigt diese auf seinem Twitter-Account @WeWantPlates, garniert mit trockenen Kommentaren. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Bügeleisen, Klemmbretter, Damenschuhe Da wird Brot in einem Korb aus Legosteinen serviert und Beef Wellington, aufgespießt auf Stacheldraht. Es gibt Essen in und auf Spielzeuglastern, Schaufeln, Bügeleisen, Klemmbrettern, in kleinen Einkaufswagen und in Schuhen, immer wieder in Schuhen: Flipflops, Clogs, Pumps – alles kann, nichts sollte. Sogar bei einem gemeinsamen Dinner von Shinzo Abe und Benjamin Netanjahu vor rund einem Jahr wurde der Nachtisch in Herrenschuhen serviert. Ein anderes Problem sind Pint-Gläser. Gegen die ist an sich natürlich nichts einzuwenden – es sei denn, es sind Spaghetti Bolognese darin. Und in welchem Kreis der Hölle serviert man Erbspüree in einer Sauciere? Oder verwendet ein Holzbrett ohne Rand für Pfannkuchen, die mit flüssigem Sirup übergossen werden? Es mag irre klingen, aber es gibt gute Gründe, warum Dinge gewisse Formen haben. @WeWantPlates hat über 150.000 Follower, und Ross McGinnes bekommt immer neues Bildmaterial aus aller Welt zugesandt. Seine Mission ist noch lange nicht vorbei. Denn die Rechnung kommt zum Schluss. Im schlimmsten Fall in einer Schreibmaschine. Als Buch Ross McGinnes: „We Want Plates“, Prestel Verlag, London 2017, £ 8,99.
Michael Brake
Kreative Restaurants servieren Essen in Hundenäpfen, Schuhen oder Waschbecken. Der Brite Ross McGinnes sammelt diesen Horror auf Twitter.
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Ein Denkmal der Idiotie - taz.de
Ein Denkmal der Idiotie Nicht gegendarstellungsfähig: Jony Eisenbergs juristische Betrachtungen. Heute: Gebautes Elend in Kreuzberg Wir Kreuzberger haben ein feines Denkmal menschlicher Unzulänglichkeit, zu dessen Besichtigung ich alle Berlinreisenden herzlich einlade. Der Stadtteil ist bekanntlich massiv verdichtet, Parkflächen sind rar. Grün gibt es nicht. Daher wurde das Görlitzer Bahnhofsgelände mitten in SO 36 umgenutzt. Seit den 80ern werkeln Planer, Beamte und Bezirkspolitiker „bürgernah“ daran rum. Mehr als 30 Millionen sollen sie schon versenkt haben. Zentrales Element ist eine Nachbildung der südwesttürkischen Sinterterrassen Pamukkale, die 1999 eröffnet – und auch wieder geschlossen wurde. Es sollte ein begehbares Wasserspiel auf Betonterrassen mit Bühne werden. Der wasserundurchlässige Beton ist mit einem portugiesischen Naturstein verblendet. Schnell stellte sich heraus, dass der Stein Kreuzberger Fröste nicht erträgt und zerbröselt. Fiskalisch denkende Kommunalverantwortliche klagen seither gegen den gestaltenden Künstler und sonst wen. Wie üblich schieben Land- und Kammergericht die Sache vor sich und hin und her. Wenn dereinst der arme Künstler zum Schadensersatz verurteilt werden sollte (was nicht sicher ist), dann werden die famosen Kläger schnell feststellen, dass bei dem Manne nichts zu holen ist. Ein äußerst sinnvolles Unterfangen also, dieser Prozess. Für dessen Dauer aber lässt man das Ding so liegen, wie es liegt, als Mahnmal unzulänglicher Berliner Bau- und Verwaltungskunst. Seit geschlagenen sieben Jahren verwehren nun schon Zäune den Zugang, das Bauwerk ist unzugänglich und gammelt vor sich hin, der Blendstein löst sich auf. Saniert wird nicht. Dabei ist die Sache, wenn man sie nicht aus der Position verantwortungsscheuer Sesselfurzer betrachtet, ganz einfach: Der Park muss genutzt werden können, daher gibt es ihn. Aufgabe der Verwaltung ist die Daseinsvorsorge – und nicht das Führen von Prozessen. Ist der Steinbelag erst abgeschlagen, ist der Rest leicht nutzbar zu machen. Also ist es die Sache des Eigentümers (Berlin), die Kosten vorzuschießen. Hernach kann man die Bürger auf den Betonterrassen lustwandeln, spielen und sitzen lassen und im Innenrund sogar Theater und Konzerte veranstalten. Die Idioten, die die Blendung geplant und die Bauschäden verursacht haben, können wohl kaum Urheberrechte gegen eine solche Zwischennutzung einwenden. Eine nutzbare Terrassenlandschaft aus Beton ist allemal besser als eine Bauruine mit bröselndem Blendwerk. Die Ausrede, im laufenden Verfahren dürfe der Zustand dieses Mahnmals menschlicher Fehlbarkeit nicht verändert werden, zieht nach sieben Jahren nicht mehr: Da müssen eben endlich und sofort und abschließend die Beweise gesichert werden. Und zwar notfalls durch Privatgutachter. Eilen muss sich der Reisende, der das Elend noch sehen will, gleichwohl nicht. Denn wir sind in Berlin, und hier gilt: Wer nichts macht, macht auch keinen Fehler. Zum 10. Jahrestag der Bauzaunerrichtung gibt es dann ein großes Fest. Mit Ansprachen unserer Kreuzberger Bezirkspolitiker. Unser Autor ist Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Berlin
Jony Eisenberg
Nicht gegendarstellungsfähig: Jony Eisenbergs juristische Betrachtungen. Heute: Gebautes Elend in Kreuzberg
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„Kultur des Teilens“ auf der Cebit: Eigentum war gestern - taz.de
„Kultur des Teilens“ auf der Cebit: Eigentum war gestern Das Teilen und Mitnutzen von Birnenkuchen bis Bohrmaschine wird beliebter – gerade unter Jüngeren. Auf der Cebit wirbt die IT-Industrie dafür. Gemeinsam Fahrräder benutzen ist viel schöner. Bild: thetank / photocase.com BERLIN taz | In Regensburg gibt es zum Beispiel Birnenkuchen. In Rostock Vierkorn-Milchbreipulver und in Berlin Rooibostee mit Mandelaroma. Alles umsonst, bitte selbst abholen, angeboten über die Internetplattform Foodsharing.de. Über 1.000 Übergaben zählen die Macher des Portals seit dem Start im Dezember. Das Weitergeben von Nahrungsmitteln ist nur das neueste Beispiel. Wer will, kann mittlerweile einen guten Teil seines Lebens über Mitnutzungs-Portale im Internet organisieren: Das Teilen von Autos und Unterkünften ist schon ein Klassiker, doch auch Werkzeuge, Sportgeräte, Kameras, Boote und Gärten lassen sich gemeinsam nutzen. Beim Tauschen ist vor allem Kleidung populär, aber auch Spielzeug, Bücher und PC-Spiele. Collaborative Consumption nennen Wissenschaftler das Phänomen. Eine Studie der Leuphana-Universität Lüneburg im Auftrag des Vermittlers für Privatunterkünfte, Airbnb, kommt zu dem Schluss, dass zwölf Prozent der Bevölkerung in Deutschland mithilfe von Online-Portalen Dinge teilen. Bei den 14- bis 29-Jährigen seien es 25 Prozent. Besonders populär: Bikesharing. Neun Prozent der Internet-Nutzer beteiligen sich einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom zufolge daran. Grundsätzlich gilt laut den Lüneburger Forschern: Vor allem jüngere Personen mit höherer Bildung und höherem Einkommen in einem urbanen Umfeld nutzten Online-Verleihsysteme. Insgesamt machten sie bei 60 Prozent der Befragten „postmaterialistische Werte“ aus. Das Teilen lohnt sich immer mehr Auch die Computermesse Cebit, die Dienstag für das Publikum öffnet, hat sich das Thema zum Motto gemacht. Passend zum IT-Umfeld geht es nicht nur um das gemeinschaftliche Nutzen von Gegenständen, sondern auch um das Teilen von Wissen, oder Crowdfunding, also die gemeinschaftliche Finanzierung eines Projekts. Das Teilen werde „in Zeiten kürzer werdender Innovationszyklen und sich verknappender Rohstoffe zu einer zentralen Fragestellung“, heißt es in der Vorstellung des Themas. Dabei tut sich gerade die Computerbranche wenig als ökologischer Musterschüler hervor. Das beginnt schon bei der fehlenden Nachhaltigkeit von Geräten. Zwar sind die immer weiter verbreiteten Notebooks sparsamer als stationäre Computer, und Tablets verbrauchen noch einmal weniger. Doch das Umweltbundesamt hat ausgerechnet, dass die Produktion so energieintensiv ist, dass ein Gerätewechsel sich für die Umwelt erst nach jahrzehntelangem Gebrauch lohnen würde. Darüber hinaus nimmt die Recyclingfähigkeit ab. Die Hersteller verbauen einzelne Teile wie Akkus zunehmend fest in die Geräte. Bei einem Defekt muss der Nutzer es einschicken und die Tendenz, sich gleich ein neues zu kaufen, nimmt zu. Und die Absatzzahlen steigen: Allein der Verkauf von Tablet-Computern hat sich im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt. Bei Smartphones waren es 21,7 Millionen verkaufter Geräte nach fast 16 Millionen im Vorjahr. Die Hersteller fördern den Austausch nach Kräften. Da ist nicht nur die von den Unternehmen stets dementierte geplante Obsoleszenz – Schwachstellen in Geräten, damit diese nach einer bestimmten Zeit den Dienst versagen. Auch mittels Software lassen sich Käufer dazu bewegen, alte Geräte gegen neue auszutauschen, wenn etwa das neue, bessere oder sicherere Betriebssystem nur auf einem neuen Handy läuft. Grundvertrauen unter Digital Natives Dennoch könnte gerade die Generation der Digital Natives – also junger internetaffiner Menschen, die vergleichsweise viele Endgeräte nutzen – die Entwicklung in Richtung Teil- und Tauschgesellschaft maßgeblich voranbringen. Denn sie verfügt laut Dorothee Landgrebe, Referentin für Ökologie bei der Heinrich-Böll-Stiftung, über eine entscheidende Voraussetzung: Vertrauen. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat in ihrer Studie „Nutzen statt Besitzen“ unter anderem analysiert, welche Zielgruppen besonders offen für neue Formen des Konsums sind. „Es gibt hier eine kulturelle Veränderung“, sagt Landgrebe. Die Digital Natives besäßen ein Grundvertrauen darein, dass der Nutzer, mit dem man gerade einen Tausch vereinbart hat, das Produkt auch losschickt und dass der teure Flachbildschirm auch nach der Rückkehr in die an Fremde überlassene Wohnung noch da ist. „Die Digital Natives sind nicht die Super-Ökos, aber sie sind es, die die Gesellschaft in der Frage vorantreiben“, sagt Landgrebe. Und wie sieht es aus mit missbrauchtem Vertrauen? Autos und Bohrmaschinen, die nicht zurückgegeben werden, Kleider, die mit Flecken und Computerspiele, die mit Kratzern auf der DVD ankommen? „Es passiert extrem wenig“, sagt Landgrebe. Bekannt geworden sei ein großer Fall, in dem vermeintliche Feriengäste in den USA eine Wohnung völlig verwüstet zurückgelassen hätten. Zu einem vertrauensvollen Verhältnis beitragen dürfte auch der Netzwerkcharakter der Teil- und Tauschbörsen: gegenseitige Bewertungen und soziale Kontrolle inklusive.
Svenja Bergt
Das Teilen und Mitnutzen von Birnenkuchen bis Bohrmaschine wird beliebter – gerade unter Jüngeren. Auf der Cebit wirbt die IT-Industrie dafür.
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G7, Thunberg und der Regenwald: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? - taz.de
G7, Thunberg und der Regenwald: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? Während Greta den kategorischen Imperativ lebt, schlingert die SPD dem Ende der Groko entgegen. Der Regenwald brennt derweil weiter. Thunberg am Freitag in New York Foto: ap taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche? Friedrich Küppersbusch: Müssen für die vielen Berichte über den Wald eigentlich Wälder sterben? Und was wird besser in dieser? taz-online-Abo. Der G7-Gipfel in Biarritz fand am vergangenen Montag seinen Abschluss mit dem traditionellen Gruppenfoto. Mit 23 zu 1 ist Angela Merkel als Frau in der klaren Unterzahl. Das traurige Ebenbild unserer globalen Gesellschaft? Wenn sie irre wäre, ließe sich immerhin deuten „es braucht 23 Therapeuten, unsere Staatspeinlichkeit zu hätscheln“. Theresa May fehlt, Christine Lagarde war früher dabei, bald steht Ursula von der Leyen da mal herum. Und der Schwerpunkt „Neue Strategien für Afrika“ brachte eine Rutsche männlicher Nebendarsteller aufs Foto. Vom nächsten Gastgeber Donald Trump ist nicht zu erwarten, dass er Ihre Beobachtung umsetzt und einen Genderakzent setzt. Im Gegenteil, er lädt in seinen privaten locker room. Da stimmt dann aber die Auslegung mit dem Sonderling und seinem Pflegeteam. Die ganze Welt sorgt sich um den brennenden Amazonas. Außer US-Präsident Donald Trump, der möchte stattdessen Teile des Tongass Nationalparks, eines der größten Regenwälder Nordamerikas, zur Abholzung freigeben. Was würden Sie dem Holzfäller am liebsten sagen? „Irland ist genau so groß und sieht aus wie ein Vorher-nachher-Foto des abgeholzten Tongass-Parks.“ Wenn Sie vielleicht mal schauen wollen. Trump soll laut Washington Post seinem Landwirtschaftsminister zugeraunt haben, ein paar Clinton-Richtlinien mit der Motorsäge zu verschönern; Gott gab dem Mann den sprechenden Nachnamen perdu, George Sonny Perdue. Rodungen und Straßenbau würden die Holzindustrie fördern, die bedeutende Fischwirtschaft schädigen und den Tourismus – nun ja. Man kann dann überall hinfahren und gucken, was nicht mehr da ist. Für die Suche nach Öl, Fracking-Gas und Kohle hat Trump bereits mehrere Schutzgebiete aufheben lassen. Fossilien halten zusammen. Nach zwei Wochen auf hoher See ist Greta Thunberg sicher in den Hafen von New York eingelaufen. Ihr Besuch, ein großer Schritt für die Klimabewegung in den USA oder eine überbewertete Geste – was meinen Sie? Für ihre Fans kann sie nix. Thunberg lebt kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“ Obacht: Das gibt’s in der Geschmacksrichtung: „Mach der ganzen Welt Vorschriften!“ – oder auch nur: „Sieh zu, dass du einverstanden in den Spiegel schauen kannst!“ Letzteres ist schwer genug, und man kann sich auch einfach mitfreuen, wenn’s mal jemandem gelingt. Während sich in Italien eine neue Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und den Sozialdemokraten – ohne den Beach­boy Salvini – formiert, ruft der Lega-Chef in Rom zu einer Großdemo auf. Er will zurück an die Macht. Hat Europa zu früh aufgeatmet? Italien hatte 64 Regierungen in 72 Jahren. Kabinett Conte I liegt mit 14 Monaten im Schnitt und kann jetzt drauflegen. Berlusconi erreicht bereits das Stadium „Geschminkter Kompost“, Salvini wird weiter mussolieren. Wenn das britische Parlament nicht macht, was Johnson will, erlegt er ihm eben eine Zwangspause auf. Rechtlich ist das zwar möglich, aber ist es auch eine gute Idee? All in. Johnson pokert, dass das Parlament in wenigen verbleibenden Tagen kein Misstrauensvotum hinbekommt und kein Gesetz gegen einen No-deal-Brexit. Ihm ist der Brexit eigentlich wumpe, er will mit maximaler Selbstverherrlichung schnell zu Neuwahlen, in die er als starker Mann geht. Kann klappen. Sachsen und Brandenburg haben gewählt. Wird der Osten jetzt wieder vergessen? Nee, Thüringen kommt im Oktober noch. In historischer Perspektive sind viele WählerInnen noch in der Phase, das Vorgefundene zu demolieren. Nach Maschinensturm kommt Gewerkschaftsgründung, nach Wutwahl Ernüchterung. Das ist optimistisch gedacht und dauert Jahrzehnte. Die Bewerbungsfrist für die Nachfolge von Andrea Nahles als Parteivorsitzende ist am Sonntag abgelaufen. Wer wird denn nun künftig die SPD grundlegend erneuern? Geywitz/Scholz eher „Weiter so“, Scheer/Lauterbach eher Linksbesinnung. Allen gemein scheint die Aussicht, im Dezember die Groko abzuwerfen. Den ersehnten Beigeschmack von „Festplatte löschen, Projekt neu starten“ bietet keins der Duos. Und Kevin Kühnert ist jetzt auch Berufspolitiker und tritt nicht an. Uli Hoeneß hängt das Amt des Vereinspräsidenten und des Aufsichtsratsvorsitzenden der FC Bayern München AG an den Nagel. Haben Sie ein paar Worte des Abschieds für den Bayern? Ja klar. Hau ab! Und was machen die Borussen? Beweisen Geschmack bei der Auswahl der Gegner, gegen die sie verlieren. Fragen: ck
Friedrich Küppersbusch
Während Greta den kategorischen Imperativ lebt, schlingert die SPD dem Ende der Groko entgegen. Der Regenwald brennt derweil weiter.
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Privat fährt billiger - taz.de
Privat fährt billiger ■ Jürgen Schilling, der Direktor der Villa Massimo in Rom, klagt gegen seine Suspendierung wegen angeblicher Misswirtschaft Andiamo a Villa Massimo stasera? Sehn wir uns heut abend in der Villa Massimo? Oft genug bekam ich in den letzten Monaten die Frage zu hören, von Freunden aus Rom, durch die Bank Italiener, die kein Wort Deutsch sprechen – und die es dennoch in die Accademia tedesca, die Deutsche Akademie, zog, zu einem Ballettabend, einer Ausstellung, einem Konzert. Kein Ghetto mehr für deutsche Kunststipendiaten, die verschanzt hinter den Mauern der Villa ein Jahr still vor sich hin schaffen, die zwei-, dreimal in Sammelausstellungen ihre Werke einem an ein paar Händen abzuzählenden Publikum präsentieren, die schließlich Rom verlassen, ohne je mit der Stadt, mit ihren Menschen in Kontakt getreten zu sein – das war die Devise von Jürgen Schilling, dem 1992 angetretenen Direktor der Akademie. Eine Devise, die der Kunsthistoriker und Fachmann für Klassische Moderne und Gegenwartskunst, Schilling, tatkräftig realisierte. Sommer für Sommer strebten unter seiner Ägide tausende Römer in den prächtigen Garten der Villa Massimo, um sich die Aufführungen des „Invito alla danza“, der „Einladung zum Tanz“ anzuschauen, „verirrten“ sich vor und nach den Ballett- oder Flamencodarbietungen in die Werkschauen der Stipendiaten. Und immer wieder gab es Ausstellungen, in denen das Schaffen der deutschen Künstler mit dem italienischer Kollegen konfrontiert wurde, gab es nun auch die Werke großer italienischer Gegenwartskünstler von Enzo Cucchi zu Mario Schifano in den Räumen der Villa Massimo zu sehen. Doch damit ist jetzt Schluss. Andiamo a Villa Massimo? – bis auf weiteres erübrigt sich die Frage. Nicht nur hatten die Kulturverwalter von Minister Naumann die brillante Idee, die Akademie ausgerechnet im Heiligen Jahr 2000, wo alle Welt nach Rom schaut, zur Rundumsanierung zu schließen; sie verstanden den Sanierungsauftrag deutlich radikaler. Mag sein, dass Jürgen Schilling eine hervorragende Bilanz kulturellen Wirkens in Rom vorzuweisen hat – doch bei „Bilanz“ denken Bonner Ministeriale nicht eben an Kultur. Stattdessen reden sie von Reisekostenrecht, von Buchungstiteln und Verwaltungsvorschriften. Unsauber gewirtschaftet habe Schilling – und das soll ihm nun den Kopf kosten. Anfang Dezember wurde Schilling auf Weisung des offenbar erneut schlecht beratenen Kulturminister Naumann vom Dienst supendiert. Den Grund präsentierte der Bundesrechnungshof mit einem (aus Bonn angeforderten) Gutachten, einer langen Liste vorgeblicher Verfehlungen. Gut 150 Mark habe sich Schilling den Spaß kosten lassen, sein Auto am Flughafen Rom zu parken. Ein Taxi hätt's doch auch getan. Die Rechnungsprüfer sparten sich den Hinweis auf die Taxipreise: Rom – Fiumicino und zurück 160 Mark. Schilling habe zudem der Außendarstellung der Bundesrepublik geschadet, da er des Deutschen unkundige Pförtner angeheuert habe. Wie für nicht mal 2.000 Mark Gehalt perfekt zweisprachiges Hilfspersonal aufzutreiben sein soll, wird im Gutachten nicht erklärt. Dann habe Schilling sich – noch von Minister Kanther genehmigt – eine teure Privatwohnung in der Stadt geleistet; kein Wort im Gutachten davon, dass die Dienstwohnung der Villa auf Grund der miserablen Heizung im Winter unbewohnbar ist. Und kein Wort schließlich davon, was Schilling mit womöglich manchmal unorthodoxen Methoden in Bewegung gesetzt hat. Konsterniert reagierte die Kulturszene in Rom auf die Entwicklung in der Villa Massimo. „Jürgen Schilling ist ein Mann, der in seinem ganzen Wirken immer nur die Kunst im Auge hatte, mit Herz und Seele. Er hat hier in Rom geradezu als Vorbild gewirkt“, kommentiert Rossella Siligato von der Oberintendanz für Kulturgüter der Stadt Rom. „Er hat die Villa Massimo zu einem Ort des Austauschs, der Begegnung gemacht. Er hat dafür gesorgt, dass es zu einer gegenseitigen Durchdringung zwischen dem Kunstschaffen an der Deutschen Akademie und dem Wirken italienischer Künstler kam. Und das ist doch der eigentliche Auftrag einer solchen Akademie. An der Villa Massimo gab es unter Schilling immer wieder deutsch-italienische Ausstellungen, und ich selbst gehe gern dorthin, um mir für meine Arbeit Inspirationen zu holen. Zum Beispiel habe ich in der Villa die Videoinstallationen des Künstlerduos M & M, Marc Weiss und Martin De Mattia, gesehen; daraufhin haben wir eine weitere Schau der beiden organisiert.“ So erfolgreich war die Villa Massimo in den letzten Jahren, dass sie schnell Nachahmer fand: Auch die Französische Akademie Villa Medici sucht nun den Kontakt zur Kulturwelt Roms. Schilling selbst nützt das alles wenig; wenn es nach der Bonner „Kultur“-Verwaltung Naumanns geht, soll er in die Wüste geschickt werden. Heute freilich ist erst einmal der Termin beim Arbeitsgericht Berlin, vor dem Schilling gegen seine Suspendierung klagt. Die ist eigentlich nur rechtens zur Abwendung einer drohenden Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland. Aber die geht von dem rekonvaleszenten Jürgen Schilling, der sich von einer schweren Transplantationsoperation erholt, wohl kaum aus. Marina Collaci
Marina Collaci
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Jugendengagement: Ein anderer Blick auf die Natur - taz.de
Jugendengagement: Ein anderer Blick auf die Natur Zum Auftakt des Freiwilligen Ökologischen Jahres verzeichnen die Träger wachsendes Interesse bei jungen Menschen - auch weil viele Schulabgänger nicht sofort einen Ausbildungsplatz bekommen. Auch dieser Pilz ist nicht sicher vor den jungen Engagierten Bild: DPA Das Interesse von Jugendlichen für den Umweltschutz ist ungebrochen. Das besagen jedenfalls die Zahlen von Umweltsenatorin Katrin Lompscher (Linke) für das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ). Insgesamt 1.760 Jugendliche hätten sich dieses Jahr dafür beworben, 220 einen Platz in Berlin ergattern können. "Damit kommen auf jeden Platz acht Bewerber", so Lompscher. Weitere 75 Plätze sind für Kriegsdienstverweigerer reserviert. Anfang der Woche hat das diesjährige FÖJ begonnen. Die Freiwilligen, darunter überdurchschnittlich viele Frauen, bekommen für ihr Engagement ein sogenanntes Teilnehmer-Entgelt von monatlich 355 Euro. Angeboten werden Arbeitsplätze unter anderem in Museen und Laboren, in pädagogischen Einrichtungen und Vereinen. Schwerpunkt ist dabei immer der Umweltschutz. Nach wie vor sind es überwiegend Abiturienten, die sich für das FÖJ bewerben. Doch in den vergangenen fünf Jahren haben die drei Träger des FÖJ - die Stiftung Naturschutz, das Jugendwerk Aufbau Ost (JAO) und die Vereinigung Junger Freiwilliger (VJF) - einen regen Zuwachs an Real- und Hauptschülern festgestellt. Mittlerweile stellen sie 40 Prozent der Teilnehmer, so Lompscher. "Das liegt an der schwierigen Situation auf dem Ausbildungsmarkt", mutmaßt Bernd Kuhlmann, Projektleiter FÖJ bei der Stiftung Naturschutz. Viele Real- und Hauptschüler bekämen nicht sofort einen Ausbildungsplatz. Das FÖJ stelle für sie eine sinnvolle Alternative dar, mit der sie zudem ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern könnten. "Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Jugendlichen aus Real- und Hauptschule heute auch viel besser über dieses Angebot informiert werden als früher", ergänzt Karsten Wäsch von der VJF. Dies sei zum einen den Arbeitsämtern zu verdanken, die die Informationen an die Ausbildungssuchenden weitergeben würden. Zum anderen werde aber auch an den Schulen inzwischen viel mehr Werbung gemacht, berichtet Wäsch. Doch woher kommt das allgemein gestiegene Interesse der Jugendlichen für dieses Engagement? "Sicher nicht daher, dass die jungen Leute auf einmal alle Umweltschützer werden wollen", sagt Norbert Schuldt vom JAO. Vielmehr liege es daran, dass das FÖJ erst in den vergangenen fünf Jahren richtig bekannt geworden sei. Nicht nur die Träger selbst, sondern auch die Einsatzstellen hätten ihre Werbung verstärkt. Zudem habe die Senatsverwaltung für Umwelt viel dafür getan, die Anzahl der Plätze und damit die Popularität des Projekts kontinuierlich zu erhöhen. Im Moment stehe Berlin mit seinem Angebot an der Spitze der Bundesländer. Das Land ist in diesem Bereich schon lange Vorreiter. Bereits 1987 hatte der Senat eine Art kooperierendes FÖJ eingeführt, indem er 15 Plätze in Einrichtungen des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) für ökologisch interessierte Jugendliche anbot. Nach einem größer angelegten Modellversuch des Landes Niedersachsen ging das Projekt am 1. Juli 1991 bundesweit in die Pilotphase und wurde 1993 gesetzlich verankert. Seitdem haben sich die damals 20 Plätze für die Freiwilligen mehr als verzehnfacht. Und sollen in Zukunft noch weitersteigen.
Jenny Bohse
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Klimalichtblick der Woche: Steakgenuss mit gutem Gewissen - taz.de
Klimalichtblick der Woche: Steakgenuss mit gutem Gewissen Geht doch – und das gerade noch rechtzeitig zum Angrillen: Wieder kommt eine neue Fleischalternative aus dem Biolabor. Mal ehrlich: lecker ist doch anders! Totes Tier auf dem Grill Foto: dpa BERLIN taz | Rechtzeitig zum Beginn der Grillsaison kommt hier die gute Nachricht für alle LiebhaberInnen von Steaks und Rinderwurst: Fleisch aus dem Biolabor könnte nicht nur dem Gaumen, sondern auch dem Gewissen schmeicheln, weil es nicht nur schmeckt wie totes Tier, sondern auch Rohstoffe spart und vor allem die Regenwälder rettet. Das hat zumindest eine neue umfangreiche Studie aus dem Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ergeben. Demnach könnten mit einem Fleischersatz, der auf Basis von Pilzkulturen hergestellt und dann fermentiert wird, nicht nur die Leiden der Tiere, sondern auch massive Abholzungen für das Rinderfutter vermieden werden: Schon „20 Prozent des Rindfleischkonsums durch mikrobielles Protein zu ersetzen, könnte die weltweite Entwaldung bis 2050 halbieren“, schreiben die ForscherInnen. Anders als bei anderen Studien hätten die Computersimulationen nicht nur einzelne Lebensmittel betrachtet, sondern auch Ernährungsgewohnheiten, Bevölkerungswachstum, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und die Landnutzung berücksichtigt, hieß es. Fazit: „Die marktreife Fleischalternative ähnelt echtem Fleisch in Geschmack, Konsistenz und Nährwert, verbraucht aber deutlich weniger Ressourcen“. Denn immerhin machen Produktion und Konsum von Lebensmitteln ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen aus, heißt es vom PIK – und Rindfleisch ist dabei der größte Brocken. Damit gibt es eine Alternative zum sonstigen Ersatz-Fleisch, das entweder auf pflanzlicher Basis wie Soja beruht oder aus Fleischzellen im Labor weitergezüchtet wirde. „Die Menschen müssen keine Angst haben, dass sie in Zukunft nur noch Gemüse essen sollen“, sagt Studienautor und PIK-Forscher Florian Humpenöder, „sie können weiterhin Burger & Co. essen, nur werden die Burger-Pattys dann anders hergestellt“. Was so schlimm daran sein soll, Zucchini, Tomaten, Schafskäse und Chamigons zu grillen, haben die ForscherInnen aber noch nicht untersucht.
Bernhard Pötter
Geht doch – und das gerade noch rechtzeitig zum Angrillen: Wieder kommt eine neue Fleischalternative aus dem Biolabor.
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Rechtsextremismus bei der Polizei: Polizisten im Nazichat - taz.de
Rechtsextremismus bei der Polizei: Polizisten im Nazichat In der Polizeidirektion Osnabrück laufen derzeit sechs dienstrechtliche Ermittlungen wegen Verdachts auf rechtsextreme Gesinnung. Alles Einzelfälle? Mitunter gleicher Gesinnung: Rechtsextremist und Polizist bei einem Aufmarsch 2015 in Goslar Foto: Swen Pförtner/dpa OSNABRÜCK taz | Carsten Rose, der Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen, ist ein Optimist. Anlässlich des Bildungsprogramms „Polizeischutz für die Demokratie“ der Polizei Niedersachsen, Ende 2019 gestartet als „Zeichen für unsere freiheitliche Demokratie, für den Rechtsstaat und für eine offene und pluralistische Gesellschaft“, sagt er: „Jede und jeder Einzelne in der Polizei“ stehe zu diesen Werten. Dass das nicht stimmt, zeigt sich derzeit an der Polizeidirektion Osnabrück: Wegen des Verdachts auf „rechtsextreme Gesinnung“ laufen gegen vier aktive Polizeibeamte, einen aktiven Verwaltungsbeamten und einen pensionierten Polizisten dienstrechtliche Ermittlungen. Sie laufen schon seit Herbst 2020, und so viel ist auszuwerten, dass bis zu ihrem Ende noch Wochen vergehen. Bei Durchsuchungen Ende 2020 im Emsland und in der Grafschaft Bentheim wurden bei ihnen mehr als 20 technische Geräte sichergestellt, darunter Mobiltelefone, PCs und Tablets, sowohl private als auch dienstliche, zudem Speichermedien. „Nach unseren Erkenntnissen waren teilweise mehrere Hundert Bilder und Videos mit verdächtigen Inhalten unter den Betroffenen verschickt worden“, sagt Marco Ellermann, Sprecher der Polizeidirektion Osnabrück, auf taz-Anfrage. Darunter seien „verstörende und indiskutable Bilder, die teilweise das Dritte Reich oder das Führerprinzip verherrlichen“. Verfassungsfeindliche Symbole seien zu sehen, Fremdenfeindliches. Messenger kamen zum Einsatz, hauptsächlich Whatsapp. Drei der Polizisten sind vorläufig suspendiert, ein vierter bereits seit März 2020, wegen eines anderen Vorwurfs, der Verwaltungsbeamte tut weiter Dienst. Das Strafverfahren, wegen Volksverhetzung und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, hat die Staatsanwaltschaft Osnabrück zwar eingestellt – die Dateien fanden keine öffentliche Verbreitung –, aber intern werde „auf Hochtouren“ weiterermittelt, sagt Ellermann. Im äußersten Fall droht eine Beendigung des Dienstverhältnisses, eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Getauscht worden seien „verstörende und indiskutable Bilder, die teilweise das Dritte Reich oder das Führerprinzip verherrlichen“ „Die Vorfälle müssen schnell und lückenlos aufgearbeitet werden“, sagt Polizeipräsident Michael Maßmann. „Falls sich der Verdacht bestätigt, werden wir konsequent und mit der notwendigen Härte handeln. Ich sage klipp und klar: Beamte, die durch ihr Gedankengut und ihre Handlungen den obersten Grundwerten unserer Demokratie widersprechen, haben in der Polizei nichts verloren.“ Die sechs Fälle schaden dem Ruf der Direktion massiv. Sie tut viel zur Stärkung der demokratischen Resilienz, nicht zuletzt durch die wegweisende Arbeit ihrer Dialogbeauftragten Sabina Ide. Aber das ist offenbar nicht genug. Man gehe „von Einzelfällen in der Polizeidirektion Osnabrück aus, nicht von strukturellen Problemen“, sagt Ellermann. Er sagt es faktisch, nicht abwiegelnd. Einzelfälle? Mag sein, hier. Aber: „Dass es keine Einzelfälle sind, wenn PolizistInnen rassistisches Gedankengut verbreiten und auch entsprechend handeln, sollten langsam alle begriffen haben“, sagt Heidi Reichinnek, Landesvorsitzende der Linken in Niedersachsen. „Umso unverständlicher ist es, dass eine umfassende Studie zu Rassismus in der Polizei weiter auf sich warten lässt. Demokratiefeindlichkeit lässt sich nicht aussitzen und kann bei der Polizei tödlich sein!“ PolizistInnen in solchen Fällen gegen PolizistInnen ermitteln zu lassen, in der Hoffnung auf Sachneutralität, findet Reichinnek problematisch. Sie fordert eine unabhängige Meldestelle. „Die würde auch den vielen bei der Polizei den Rücken stärken, die keine rassistischen Einstellungen haben. An dieser Stelle schauen wir ganz klar auf Innenminister Pistorius, der ‚die Antifa‘ verbieten will, aber sich hier entspannt zurücklehnt.“ „Da darf nichts unter den Tisch gekehrt werden“, sagt Filiz Polat, Bundestagsabgeordnete aus Bramsche bei Osnabrück und Obfrau im Innenausschuss für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. „Die Verbreitung von rechtsextremen Inhalten, ob intern oder öffentlich, stellt eine ganz klare Grenzüberschreitung dar und muss mit aller Härte und Konsequenz verfolgt werden.“ Wer das Gewaltmonopol des Staates ausübe, müsse „mit aller Festigkeit auf dem Boden des Grundgesetzes stehen“. Wenn die Polizei ein Spiegelbild der Gesellschaft sei, gebe es auch in der Polizei Fehlverhalten, so Polat. Folglich sei davon ausgehen, „dass es auch in der Polizei einen gewissen Prozentsatz gibt, der rechtsextreme und rassistische Einstellungen teilt.“ 23 Verdachtsfälle von 2015 bis Mitte 2020 23 Verdachtsfälle „rechtslastigen Verhaltens“ rechnet Svenja Mischel, Sprecherin des Niedersächsischen Innenministeriums, für 2015 bis Mitte 2020 vor. 21 Disziplinar- und arbeitsrechtliche Verfahren waren die Folge. Manches führte zu Geldbußen, zu Verboten der Führung der Dienstgeschäfte, zur Abmahnung, zur Kündigung, manches erhärtete sich nicht. In 14 der Fälle kam es zudem zu Strafverfahren. Zwei endeten mit einer Geldstrafe, eines mit einem Täter-Opfer-Ausgleich, die meisten der Verfahren wurden eingestellt, mangels hinreichenden Tatverdachts. Zu den sechs Osnabrücker Fällen hält sich das Ministerium bedeckt. Noch sei keine abschließende Beurteilung möglich. Und dann zählt Mischel auf, was Niedersachsens Polizei alles zur „Stärkung der Demokratiefähigkeit“ tut, von der „Polizei Niedersachsen Strategie 2027“ bis zu Roses „Polizeischutz für die Demokratie“. Viele gute Programme, zum Schutz der Demokratie. Man gehe „mit aller Konsequenz gegen jegliche Anzeichen rechtsextremer und rassistischer Gesinnung vor“, sagt Boris Pistorius, Niedersachsens Innenminister. Aber vielleicht braucht die Demokratie zuweilen Polizeischutz vor Polizisten?
Harff-Peter Schönherr
In der Polizeidirektion Osnabrück laufen derzeit sechs dienstrechtliche Ermittlungen wegen Verdachts auf rechtsextreme Gesinnung. Alles Einzelfälle?
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Aktivistin von Ende Gelände zu Protesten: „An die Orte der Zerstörung gehen“ - taz.de
Aktivistin von Ende Gelände zu Protesten: „An die Orte der Zerstörung gehen“ Ende Gelände und Fridays for Future mobilisieren wieder für Streiks und Blockaden. Wie soll das zu Coronazeiten funktionieren? Proteste gehen wieder los, hier am Samstag am Tagebau Garzweiler Foto: dpa taz: Fridays for Future hat für den 25. September zum globalen Massenstreik aufgerufen, Ende Gelände lädt für das Wochenende danach ins Rheinland. Ist die Zeit der Onlineproteste vorbei? Kim Solievna: Ja und nein. Wir haben lange überlegt und verschiedene Szenarien geprüft. Letztlich haben wir uns für eine Massenaktion entschieden, aber es wird anders als in vergangenen Jahren ablaufen. Können Sie eine Massenaktion verantworten? Das Hygienekonzept steht bei uns an erster Stelle. Wir entwickelt es derzeit noch, aber es sind ja noch zwei Monate bis zur Aktion. Wir müssen sehen, wie sich die Zahlen und Bestimmungen bis dahin entwickeln und unser Konzept anpassen. Was wird in diesem Jahr anders laufen? „Dezentral“ ist das Stichwort für alles. Es wird nicht ein riesiges Camp geben, sondern etwa zehn kleine Anlaufpunkte, wo man sich informieren, organisieren und schlafen kann. Auch die An- und Abreise soll dezentral laufen, die Aktionsgruppen werden kleiner sein als in anderen Jahren, auch die Finger, in die sich die Protestzüge aufteilen, werden deutlich kleiner sein. Klingt nach viel Organisation. Lohnt sich das? Es ist ein wesentlich größerer Aufwand und erfordert viel Abstimmung. Unsere Kommunikation findet größtenteils noch digital statt. Das ist sehr herausfordernd. Aber physische Präsenz verleiht Protesten immer mehr Stärke. Die Zeit im Lockdown war spannend hinsichtlich der Frage, wie wir uns trotzdem organisieren können. Aber wir mussten feststellen, dass Protest im digitalen Raum viel leichter überhört wird. Für Ende Gelände ist es außerdem wichtig, an die Orte der Zerstörung zu gehen und zu zeigen, wo Ungerechtigkeiten passieren. im Interview:Kim SolievnaKim Solievna, 27, kommt aus dem Ruhrgebiet und ist seit 2018 bei Ende Gelände. Der Kohlekompromiss ist in trockenen Tüchern, Datteln 4 ist im Regelbetrieb. Gibt es im Rheinland überhaupt noch was zu gewinnen? Indem wir wieder ins Rheinland gehen, stellen wir uns hinter den Widerstand in den Dörfern, die durch die Tagebaue bedroht sind. Da darf keine weitere Kohleabbaggerung stattfinden. Der sogenannte Kohlekompromiss ist absurd. Das Kohleaustiegsgesetz schreibt die angebliche Notwendigkeit des Tagebaus Garzweiler fest, obwohl die bereits wissenschaftlich widerlegt worden ist. Deswegen müssen wir klar machen, dass dieses Gesetz klimapolitischer Wahnsinn ist. Einige fordern, dass reiche Industrieländer, die die Klimakrise maßgeblich verursacht haben, Reparationen an ärmere Länder zahlen, die die Folgen ausbaden müssen. Fordert Ende Gelände das auch? So konkret nicht, aber wir weisen immer auf globale Ungerechtigkeit und koloniale Strukturen hin, die wir zerstören müssen. Im Konflikt um Datteln 4 etwa haben wir Blutkohle in den Fokus gerückt und aufgezeigt, welche Ungerechtigkeiten dieses Kraftwerk auf globaler Ebene reproduziert. Die Steinkohle, die dort verbrannt wird, kommt zum größten Teil aus dem sibirischem Kuzbass und Nordkolumbien, wo die Regionen unter dem Abbau leiden. Während der Sommer für die Klimabewegung eher ruhig war, hat Black Lives Matter Massen auf die Straße gebracht. Welchen Einfluss hat das auf die überwiegend weiße Klimabewegung? Die Debatte, dass wir zu weiß sind, haben wir schon länger. Antirassismus ist eine Grundkomponente der Klimagerechtigkeit, wir beschäftigen uns schon lange damit und haben zum Beispiel interne Antirassismus-AGs. Über die Proteste von BLM haben wir uns sehr gefreut. Klimagerechtigkeit kann es nur in einer antirassistischen Gesellschaft geben.
Katharina Schipkowski
Ende Gelände und Fridays for Future mobilisieren wieder für Streiks und Blockaden. Wie soll das zu Coronazeiten funktionieren?
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Neuer Stufenplan des Berliner Senats: Berlin bleibt auf Lockdown-Kurs - taz.de
Neuer Stufenplan des Berliner Senats: Berlin bleibt auf Lockdown-Kurs Der Senat diskutiert über einen Coronastufenplan. Dieser sieht Lockerungen aber erst ab einer Inzidenz von 35 vor. Bisher dürfen nur Erst- bis Drittklässler in die Schule. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern Foto: dpa BERLIN taz | Nach der jüngsten Sitzung des rot-rot-grünen Senats am Dienstag deutet viel darauf hin, dass der bis zum 7. März befristete Coronalockdown verlängert wird. Die beiden Vizeregierungschefs Klaus Lederer (Linkspartei) und Ramona Pop (Grüne) machten nach dem Treffen vor Journalisten klar, dass es zwar einen Entwurf für stufenweise Öffnungen gibt. Der Senat orientiere sich aber dennoch weiter an einem Inzidenzwert von 35, von dem Berlin mit aktuell 57,2 deutlich entfernt ist. „Zurzeit ist der lineare Weg zur Inzidenz 35 nicht erkennbar“, sagte Pop. Bis vergangene Woche war der Wert, der sich auf Neuinfektionen binnen 7 Tagen pro 100.000 Einwohner bezieht, binnen einem Monat von rund 200 auf um die 50 gesunken. Seither steigt er wieder leicht. Zwar sprach keins der beiden Senatsmitglieder ausdrücklich davon, den Lockdown fortsetzen zu wollen. „Wir schauen uns dann die Zahlen an und warten die Ministerpräsidentenberatung ab“, sagte etwa Pop ausweichend auf die Frage nach einer Verlängerung des Lockdowns. Die Länderchefs haben sich für den 3. März zu einer erneuten Sitzung mit der Bundeskanzlerin verabredet. Lederer wandte sich aber ausdrücklich gegen Öffnungsvorstöße aus einzelnen Bundesländern: „Ich wundere mich, wenn einige schon wieder Ankündigungen machen. Wir werden das nicht tun.“ Beide bestätigten, dass der Senat einen Stufenplan für Öffnungen diskutiert hat. Lederer betonte aber, dass alles Bisherige nur einen Zwischenstand der Überlegungen abbilde. Überhaupt fiel die Wortwahl der beiden Politiker vorsichtig aus. Laut Pop waren sich die Senatsglieder „in der Gesamtbewertung“ einig, dass der Stufenplan ein gangbarer Weg sei. Den Überlegungen in der Senatskanzei kommt auch deshalb besondere Bedeutung zu, weil Berlin den Vorsitz bei den Ministerpräsidentenrunden führt. Steht die Schulöffnung wieder auf der Kippe? Neben den bereits auf Bundesebene verabredeten Lockerungen in den Schulen und für Friseure sieht der Berliner Plan bei Werten zwischen 35 und 50 nur eine Änderung vor: dass Kinder bis zwölf Jahre in festen Gruppen draußen Sport treiben können. Das war in Berlin im vor Weihnachten vereinbarten Lockdown bereits möglich, wurde aber bei einer Verschärfung gestrichen. In die andere Richtung denkend baut der Senat dem Vernehmen nach vor, falls der Inzidenzwert wieder über 100 steigt: Dann soll der seit Wochenbeginn teilweise wieder mögliche Kita- und Schulbesuch erneut auf der Kippe stehen.
Stefan Alberti
Der Senat diskutiert über einen Coronastufenplan. Dieser sieht Lockerungen aber erst ab einer Inzidenz von 35 vor.
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Aus für Kieler Sexualmediziner befürchtet: Trübe Aussichten für die Opfer - taz.de
Aus für Kieler Sexualmediziner befürchtet: Trübe Aussichten für die Opfer Das Kieler Institut für Sexualmedizin genießt wegen seiner Präventionsarbeit einen guten Ruf in der Fachwelt, bei der Justiz und in Teilen der Landespolitik. Doch die Finanzierung wackelt, das Haus macht Miese. Unbeschwert schaukeln: Kinderschutz ist eine Aufgabe von Projekten der "Sektion für Sexualmedizin" in Kiel. Trotzdem fehlt es an Geld. Bild: dpa RENDSBURG/HAMBURG taz | Die "Sektion für Sexualmedizin" in Kiel ist in Gefahr: Die Abteilung des angeschlagenen Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) macht Minus - es kursiert die Zahl von 155.000 Euro. Deshalb werden Mitarbeiter abgezogen, möglicherweise droht die Schließung. Für den schleswig-holsteinischen Richterverband sind die Kürzungen "unverantwortlich". Das Kieler Institut ist das einzige seiner Art im Land. Lehrstuhlinhaber Professor Hartmut Bosinski und sein kleines Team behandeln Frauen und Männer mit sexuellen Problemen, sowohl organische Störungen als auch Neigungen wie etwa Pädophilie. Gerade für die davon Betroffenen holte Bosinski das Projekt "Dunkelfeld" nach Schleswig-Holstein, ein Angebot für Pädophile, die "Kein Täter werden" wollen, so der Name des verwandten Angebots an der Berliner Charité. Neben Behandlung und Forschung, etwa zur Geschlechtsidentität, gehören gerichtliche Gutachten zu den Aufgaben der Sexualmediziner. Unter anderem geht es um die Frage, ob ein Sexualstraftäter mutmaßlich rückfällig wird. Das UKSH prüft, die Sexualmedizin an das Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) auszulagern, einen Tochterbetrieb des UKSH. Was für Folgen dieser Schritt für das Angebot hätte, ist unklar. Auch, ob er die finanziellen Probleme lösen kann. Das macht die SektionNach eigener Darstellung gehört zu den Aufgaben der Kieler Sektion für Sexualmedizin:Patientenversorgung: bei sexuellen Störungen, Störungen des soziosexuellen Verhaltens, Problemen der Findung der sexuellen IdentitätService: Gutachten bei Sexualstraftätern, Beratung von Behörden, Ärzten und Heimen, Therapie von Sexualstraftätern im RegelvollzugForschung: Verarbeitung sexueller Reize, Geschlechtsidentität, Konzepte zur Behandlung von Menschen mit abweichenden sexuellen NeigungenLehre: Vorlesungen für Studenten der Medizin, Jura, Psychologie, Pädagogik und Biologie Der Richterverband, der auch Staatsanwälte vertritt, setzt sich massiv für das Institut ein: "Ohne Fachgutachten sind vor allem die gravierenden Fälle für Richter und Staatsanwälte nicht zu bearbeiten", sagt der Vorsitzende Wilfried Kellermann. Die Arbeit des Instituts sei "hervorragend". Eine Streichung der Mittel treffe letztlich die Opfer. Bei einer Tagung im Herbst hatte Bosinski davor gewarnt, Gerichtsgutachten Therapeuten mit fehlender Erfahrung auf diesem Gebiet zu überlassen. Auch kostenlose Kurse und von Nicht-Therapeuten geleitete Beratungsgruppen könnten kein Ersatz für die Arbeit von Fachleuten sein. Der Professor zählt zu den renommiertesten Forschern seines Faches in Deutschland. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft wählte Bosinski kürzlich zu einem ihrer Vorsitzenden. Das schleswig-holsteinische Wissenschaftsministerium kritisiert aber Bosinskis "Publikationsleistungen" als unterdurchschnittlich. Zeitweise habe Bosinski auf Platz 103 von 117 Professoren der Kieler Christian-Albrechts-Universität gestanden. "Damit ist der Bereich der Forschung nicht besonders ausgeprägt", heißt es in der Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage. Doch in der Landespolitik gibt es auch Unterstützer, nicht nur in der Opposition. Kirstin Funke, forschungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, sagt: "Die Sektion für Sexualmedizin des UKSH leistet hervorragende Arbeit für unser Land." Diese Arbeit müsse fortgeführt werden, "da wir auf gut ausgebildete Gutachter im Bereich der Sexualmedizin nicht verzichten können". Der Grüne Rasmus Andresen sieht eine Mitverantwortung der schwarz-gelben Koalition für die "Unterfinanzierung der Hochschulen", die zum Druck auf die Unis führe. Das Justizministerium will die Vorgänge nicht kommentieren, das Wissenschaftsministerium verweist bei Presse-Anfragen zum Fall an das UKSH. Dort fährt die Leitung einen strikten Sparkurs. Als Folge konzentriert sich das UKSH auf die Kernaufgabe, wie Sprecher Oliver Grieve sagt: "Wir sind für Krankenversorgung zuständig." Es sei schön, dass die Forschung und Gutachten der Sexualmedizin gelobt würden - "aber dann muss die Finanzierung stimmen". Jede Abteilung müsse sich wirtschaftlich tragen, durch Krankenkassenleistungen oder Drittmittel. Das tut die Bosinski-Sektion bisher nicht. Die Idee, die Sektion an das ZIP zu verschieben, hält Grieve für "theoretisch denkbar". Allerdings könne das Klinikum darüber nicht allein entscheiden: "Wir müssen uns mit der Uni Kiel ins Benehmen setzen, der Aufsichtsrat muss entscheiden." Bei der Hochschule fühlt man sich nicht für die Kürzungen verantwortlich: "Die Universität hat mit den unternehmerischen Entscheidungen des UKSH nichts zu tun, hält sie an dieser Stelle aber für problematisch", sagt Präsident Gerhard Fouquet. Die Universität finde es "äußerst bedauerlich", dass es nicht gelungen sei, eine einvernehmliche Lösung herbeizuführen, sagt Fouquet. Deshalb wolle man zu einem runden Tisch einladen - man suche nach einem Termin ab Mitte Februar.
E. Geisslinger
Das Kieler Institut für Sexualmedizin genießt wegen seiner Präventionsarbeit einen guten Ruf in der Fachwelt, bei der Justiz und in Teilen der Landespolitik. Doch die Finanzierung wackelt, das Haus macht Miese.
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Die Lieblinge der Franzosen - taz.de
Die Lieblinge der Franzosen Die französische Fremdenlegion kann vom Staatspräsidenten eigenmächtig in alle Welt geschickt werden / Ein Vaterland für 8.500 Soldaten  ■ Aus Paris Bettina Kaps Wenn die Fremdenlegionäre am 14. Juli gemessenen Schrittes über die Champs-Élysées defilieren, braust heftiger Applaus auf. „Das war schon immer so“, sagt sergent de chef Günter Bartling zufrieden: „Bei der Parade gibt es zwei Lieblinge der Franzosen: die Pariser Feuerwehrleute und uns, die Legionäre. Die Leute belohnen uns für das, was wir für das Land tun.“ Der deutschstämmige Legionär ist stolz darauf, daß er am diesjährigen Nationalfeiertag in Paris an der Spitze der Pioniere marschieren durfte. Getragene Musik, die eindrucksvollen Vollbärte der Pioniere, ihre Lederschürzen – das Brimborium gibt den Legionären an diesem Tag einen folkloristischen Anstrich. Die Berichterstatter erinnern nur zu gern an die Legenden, welche das traditionsreiche Korps umranken. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute schmiedet die Legion nicht mehr abenteuerlustige Adelige, Bischöfe, Dichter und Mörder zusammen. Statt dessen zieht sie vor allem arbeits- und orientierungslose Männer an, die hier Halt und Sicherheit suchen. Nach offiziellen Angaben wollen sich jedes Jahr 7.500 Kandidaten zu Söldnern drillen lassen, die meisten aus Osteuropa und aus dem ehemaligen Jugoslawien. Doch nur 1.200 werden in die 8.500 Mann starke Elitetruppe aufgenommen, die als härter gilt als die amerikanischen Ledernacken. „Es gibt keine einzige Kampftruppe, die die Fremdenlegion an kriegerischer Leistung, Professionalität und Mut übertrifft“, lobte selbst die US- amerikanische Marinezeitschrift die französische Konkurrenz. An der Grundidee hat sich bis heute nichts geändert. Traditionsgemäß dürfen in der Fremdenlegion keine Franzosen dienen, abgesehen natürlich von den Offizieren. Als die Legion 1830 zur Unterstützung der Eroberungskriege gegründet wurde, wollte Frankreich die eigenen Söhne davor bewahren, ihr Blut in den Kolonien zu vergießen. Legionäre haben keine Mütter. Wer in die Legion eintritt, ändert seinen Namen und verschwindet für seine Angehörigen. Das macht die Legion auch heute noch für die französischen Präsidenten so praktisch und leicht einsetzbar. Seit dem ersten Einsatz 1831 in Algerien, so brüstet sich die Legion, sind in den Kriegen rund um die Welt 35.000 Fremdenlegionäre gefallen: jeder achte ist für die „Patria nostra“, für das Vaterland der Legionäre, in den Tod gegangen, wie es im soldatischen Ehrenkodex heißt. Ein Drittel sind dennoch Franzosen. Das soll auch so bleiben, sagt Rekrutierungsoffizier Norbert Simonet, denn sonst sei nicht gewährleistet, daß die Ausländer die Befehlssprache lernen. Um der Tradition Genüge zu leisten, nehmen die Franzosen bei der Verpflichtungserklärung eine andere Nationalität an. „Hier bin ich Schweizer“, sagt ein junger französischer Koch nach der Militärparade auf den Champs-Élysées. Im Gegenzug bietet die Legion Schutz vor Verfolgungen im zivilen Leben. Wer sich im bürgerlichen Leben strafbar gemacht hat, kann unter neuem Namen ein anderes Leben beginnen, doch „Perverse, Drogenabhängige oder Gewalttäter haben bei uns keine Chance“, sagt Pressesprecher René Tomatis. Umfangreiche medizinische, psychologische und technische Tests entscheiden, wer den Fünf-Jahres-Vertrag unterschreiben und unter französischem Oberkommando marschieren darf. Denn die Offiziere stammen überwiegend aus der regulären Armee, lediglich zehn Prozent des Fußvolks dürfen auch Karriere machen. Die Berufssoldaten dienen als schnelle Einsatztruppe überall da, wo es brenzlig wird. Für den französischen Staat hat die Fremdenlegion unschätzbaren Wert: Zum einen setzt der Tod eines aus dem Ausland stammenden Legionärs viel weniger Emotionen und Proteste frei als etwa das Sterben eines jungen Wehrpflichtigen. Zum anderen kann der Staatspräsident die Legion ohne Zustimmung der Nationalversammlung jederzeit nach Belieben ausschicken – dies ist der grundsätzliche Unterschied zur regulären Armee, von der sich die Fremdenlegion ansonsten nicht unterscheidet. Ob im Golfkrieg, in Somalia oder Ruanda – wo immer Frankreich militärisch eingreift oder sich an internationalen Einsätzen beteiligt, ist die Legion an vorderster Front. Doch sie operiert auch in einem Dutzend weiterer Staaten, die nicht in den Schlagzeilen stehen, vorwiegend in Afrika. Oft sind es nur eine Handvoll Militärberater, die meist in der Nähe der amtierenden Machthaber eingesetzt werden, um diese zu stützen und den französischen Einfluß zu sichern. Was die Legionäre dort im einzelnen tun, bleibt auch der französischen Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
bettina kaps
Die französische Fremdenlegion kann vom Staatspräsidenten eigenmächtig in alle Welt geschickt werden / Ein Vaterland für 8.500 Soldaten  ■ Aus Paris Bettina Kaps
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Anwalt ist der Lieblingsberuf – bei Eltern - taz.de
Anwalt ist der Lieblingsberuf – bei Eltern CHANCENGLEICHEIT Viele Migranten-Kinder finden keine Berufsausbildung. Ein Grund dafür ist die fehlende Information der Eltern. Jetzt soll gezielte Elternarbeit den Übergang von der Schule in den Beruf verbessern Interkulturelle ElternarbeitDen Trägervereinen stehen für ihre interkulturelle Elternarbeit 1,71 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF), von der Behörde für Wirtschaft und Arbeit und der Behörde für Schule und Berufsbildung zur Verfügung. Wer sich näher über die Projekte informieren möchte, kann sich an folgende Ansprechpartner wenden:■ KWB e. V./BQM Interkulturelle Elternarbeit, Alexei Medvedev ☎ 040 - 63 78 55 - 46■ Basis & Woge e. V. Interkulturelle Elternarbeit am Übergang Schule – Beruf, Edith Kleine-Kathöfer ☎ 040 - 39 87 08 - 29 / 30■ Verikom e. V. Eltern ins Boot – Interkulturelle Elternarbeit zum Übergang Schule – Beruf, Anne-Gaëlle Rocher, Ute Grütter ☎ 040 - 42 90 25 - 72 / 73 / 74■ Unternehmer ohne Grenzen e. V. Eltern aktiv, Mine Bagatar, Hasan Erkan ☎ 040 - 43 18 30 63 VON ANGELA DIETZ Viele Kinder mit Migrationshintergrund scheitern in Hamburg beim Übergang von der Schule in den Beruf. Die Zahl derer, die nach der Schule in der Dualen Ausbildung landen, ist seit der Jahrtausendwende rückläufig. Von den Schulabgängern ohne deutschen Pass waren es 2007 gar nur rund sechs Prozent. Es gibt Maßnahmen, um die Lage zu verbessern, aber wenig im Blick sind dabei die Eltern. Gerade sie haben Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder. Doch die Migranten kennen häufig das Schulsystem und die Duale Ausbildung in Deutschland nicht. Und sie haben Erwartungen an die berufliche Karriere ihrer Kinder, die mit der Realität der Arbeitswelt kollidieren. „Es gibt Eltern, beispielsweise viele Russen und Türken, die glauben, man kann nur mit einem Studium einen guten Beruf bekommen“, berichtet Alexei Medvedev von der Beratungs- und Koordinierungsstelle zur beruflichen Qualifizierung von jungen MigrantInnen. In der Folge kommen bestimmte Berufe von vornherein nicht infrage, etwa eine Laufbahn im Öffentlichen Dienst. „Die fielen im Personalamt der Stadt aus allen Wolken, als ich ihnen das erklärt habe“, erzählt Medvedev. Sein Kollege von Unternehmer ohne Grenzen, Hasan Erkan, ergänzt schmunzelnd: „Alle Kinder sollen Rechtsanwalt oder Arzt werden, dann können sie was für ihre Community tun.“ Die Anforderungen in der Türkei sind im Vergleich zu Deutschland gering: acht Jahre Schulpflicht und Learning-by-doing im Handwerk. Nur, wer eine eigene Werkstatt führen will, muss eine Prüfung ablegen. In Russland sind zwei Schulabschlüsse vorgesehen, nach neun und elf Jahren. Den zweiten braucht man fürs Studium, für das junge Leute außerdem eine Aufnahmeprüfung bestehen müssen. Und das Handwerk, laut Medvedev zurzeit in Russland „nicht gerade en vogue“, wird in einer Berufsschule erlernt. Hierzulande gibt es dagegen 350 Ausbildungsberufe, ganz zu schweigen von den über 12.000 Studienfächern an den Hoch- und Fachhochschulen. Aber wer kennt all diese Berufsbilder? Fehlt außerdem der Kontakt zwischen Eltern und Schule, laufen gegenseitige Erwartungen und Ansprüche ins Leere. Viele Eltern glaubten, die Schule sei wie im Herkunftsland für alles zuständig, berichtet Erkan. Folglich wüssten sie gar nicht, dass sie sich um die Ausbildung ihrer Sprösslinge bemühen müssen. „Und die Schule setzt oft voraus, dass die Eltern sich engagieren“, erläutert Anne-Gaëlle Rocher vom Bildungsträger Verikom. So bleiben die Jugendlichen auf der Strecke. Sie wissen nicht, welchen Beruf sie wählen könnten. Hinzu kommt, dass sie sich häufig ihrer Kompetenzen jenseits der Schulfächer nicht bewusst sind. Die spielen jedoch bei der Berufswahl eine Rolle. Oberstes Gebot, um aus der Sackgasse zu kommen, sind also das knüpfen von Kontakten und die Aufklärung über Schule, Ausbildung und Berufswelt. Alle Träger, die sich dieser Aufgabe widmen, erhalten bis Ende 2009 insgesamt 1,71 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds, von Wirtschaftsbehörde und Schulbehörde. Sie informieren auf großen Veranstaltungen und beraten Eltern wie Schüler einzeln. „Die vielen Wege zur Berufsausbildung rufen Erstaunen hervor“, erzählt Edith Kleine-Kathöfer vom Verein Basiswoge. Kein Wunder, dass es häufig nicht bei einer Beratung bleibt. Mindestens genauso wichtig sind informelle Kontakte, die den Einzelberatungen oft vorausgehen. Die knüpfen die Berater vor allem bei Elterncafés in den Schulen. „Wir brauchen für den Vertrauensaufbau andere Strukturen als die offiziellen“, sagt Rocher. Die Sozialpädagogin kennt jede Menge Eltern aus den Migrantencommunities, die als Kind schlechte Erfahrungen mit der deutschen Schule machten. Gemeinsam mit Kollegin Ute Grütter berät sie Eltern im Müttercafé der Gesamtschule Kirchdorf. Viele der Eltern dort sind erwerbslos, es gibt wenig Akademiker. Bei Kaffee und Tee tauschen sich die Frauen über ihre Kinder aus. Alle finden es schwierig, einen Ausbildungsplatz zu finden. Viele Eltern glauben, die Schule sei wie im Herkunftsland für alles zuständig Gülsen Hirlak bemüht sich nach Kräften, ihren Sohn Yusuf (16) zu unterstützen. Der junge Mann hat einen Misserfolg zu verdauen und tut sich schwer, sich neu zu orientieren. Voller Ehrgeiz hatte er auf ein großes Unternehmen gesetzt – und scheiterte: 1.000 Bewerber, 60 Ausbildungsplätze, ein sechsstündiger Test – eine geringe Chance. Gemeinsam mit anderen Müttern hat Hirlak danach ihren Sohn zur Lehrstellenbörse begleitet. „Wir haben ihn durch die Halle gejagt“, erzählt die selbstbewusste Frau lachend. Nicht immer hilft Humor, um mit der Lage umzugehen. Es gibt auch kritische Töne in der Mütter-Runde: Manche Eltern kümmerten sich nicht, andererseits würden Firmen die Migrantenkinder nicht wollen. Die Themen im Elterncafé im Hamburger Gymnasium Hamm sind andere. Wie wirken sich die neuen Profiloberstufen auf die Studienwahl aus? Die Eltern sind oft Akademiker. Doch die so genannten Bildungsfernen kommen auch. Betriebswirtin Mine Bagatar von Unternehmer ohne Grenzen erläutert das so: „Die wissen, wie es ist, schlecht ausgebildet zu sein, und wollen was für die Kinder erreichen.“ Erst seit elf Monaten leben die Chilenin Jenny Álvarez und Ehemann Olaf Götz mit Álvarez’ Tochter Katalina (15) in Hamburg. Die Hürden, die das Familien- und Aufenthaltsrecht für das binationale Paar bildeten sind überwunden. Nun kümmern sie sich um die Schullaufbahn. Katalina besucht eine Vorbereitungsklasse, in der sie intensiv Deutsch lernt, bevor sie in die achte Klasse am Gymnasium wechselt. Mutter Jenny Álvarez kennt das chilenische Bildungssystem gut. Sie war Lehrerin an der Grundschule in Chile, die bis zur achten Klasse reicht. Nicht in allen Schulen nutzen Migranten das Elterncafé. Basiswoge probiert deshalb im Stadtteil Billstedt Neues. „Wir sind auf die Moschee zugegangen und machen dort ein Frauenfrühstück“, erzählt Kleine-Kathöfer. Die Mütter zu erreichen ist wichtig, denn sie spielen im Alltag ihrer Kinder die größere Rolle. „Obwohl die Berufswahl dann oft die Väter entscheiden“, fügt Anne-Gaëlle Rocher hinzu.
ANGELA DIETZ
CHANCENGLEICHEIT Viele Migranten-Kinder finden keine Berufsausbildung. Ein Grund dafür ist die fehlende Information der Eltern. Jetzt soll gezielte Elternarbeit den Übergang von der Schule in den Beruf verbessern
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Nukleares Endlager: Konrad-Planung kritisiert - taz.de
Nukleares Endlager: Konrad-Planung kritisiert Seit Baubeginn des Endlagers Schacht Konrad sind 60 Änderungsgenehmigungen erteilt worden. Die Öffentlichkeit hat davon nichts erfahren. Wird für die Aufnahme von Atommüll vorbereitet: Schacht Konrad Foto: Julian Stratenschulte/dpa GÖTTINGEN taz | Atomkraftgegner haben wieder einmal die Aufgabe des Schachts Konrad in Salzgitter als nukleares Endlager verlangt. Anlass ist die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des Linken-Abgeordneten Victor Perli aus Niedersachsen. Ihm zufolge wurde und wird Schacht Konrad „anders gebaut als ursprünglich genehmigt“. Unter dem Deckmantel von „unwesentlichen“ Änderungen seien seit Beginn der Umrüstung des ehemaligen Eisenerzbergwerks bereits 60 Änderungsgenehmigungen ohne Öffentlichkeitsbeteiligung erteilt worden. Nachdem schon 2009 und 2014 die Einlagerung von 91 weiteren Radionukliden im Rahmen von „unwesentlichen“ Änderungen genehmigt wurden, sind laut Regierungsantwort inzwischen fast alle Bereiche des Atommülllagers von Änderungen betroffen – von der Kontaminationsüberwachung über mobile Abschirmwände und die Anlieferung der Abfallgebinde bis zum Management der radioaktiven Abwässer und der Abluft. „Ohne dass die Öffentlichkeit überhaupt informiert wird, errichtet die BGE unter der Hand ein ganz anderes Endlager als gedacht“, kritisiert Ludwig Wasmus, Vorstand der atomkraftkritischen Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad. Viele Änderungen hätten Auswirkungen auf die Sicherheit. Trotzdem schreckten die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) und die Bundesregierung ­bisher vor einer ordentlichen Änderungsplanfeststellung zurück. Eine solche, ist Wasmus überzeugt, müsste nämlich zur Überprüfung des gesamten Projekts und damit zwangsweise zum Aus führen: „Hier wird mit der Sicherheit der Bevölkerung gespielt und Genehmigungsrecht umgangen, nur um Konrad mit aller Macht durchzudrücken“, sagt Wasmus. „Wir fordern den sofortigen Baustopp.“ Fehler sollen nicht wiederholt werden Aus Sicht von Perli belegen die ständigen Planungsänderungen, Verzögerungen und die Kostenexplosion erneut, „dass Schacht Konrad nicht als Endlager geeignet ist“. Die Bundesregierung versuche hier „passend zu machen, was nicht passt“. Die neue Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) dürfe nicht den Fehler ihrer Vorgängerinnen wiederholen, die alle Probleme mit Konrad ausgesessen hätten. Ludwig Wasmus, Atomkritiker„Hier wird mit der Sicherheit der Bevölkerung gespielt“ Die laufende Endlagersuche, verlangt Perli, müsse für eine Alternative zu Schacht Konrad geöffnet werden. Bislang wurde nur das Suchverfahren für ein Endlager für den hoch radioaktiven Müll neu gestartet. Die BGE sieht die Vorgänge weniger dramatisch. Sie beantrage während der Errichtung in Einzelfällen Abweichungen vom Planfeststellungsbeschluss beim Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), sagte BGE-Sprecherin Monika Hotopp der taz – etwa wegen geänderter gesetzlicher Bestimmungen oder wegen neuerer Materialien. Das BASE überprüfe das und müsse bei „unwesentlichen Veränderungen“ seine Zustimmung erteilen. Wesentliche Veränderungen hingegen, die beim niedersächsischen Umweltministerium beantragt werden müssten, seien „bislang nicht erforderlich“ gewesen. Was aus ihrer Sicht wesentliche und was unwesentliche Änderungen sind, erläuterte die BGE nicht. Eine angefragte Stellungnahme des niedersächsischen Umweltministeriums stand am Mittwochnachmittag noch aus. Auf Stand von Wissenschaft und Technik? Unabhängig von den jetzt bekannt gewordenen Änderungen hatten die Umweltverbände BUND und Nabu im Mai von Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) eine Rücknahme des Planfeststellungsbeschlusses für Schacht Konrad verlangt. Sie begründen dies damit, dass das Lager längst nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik entspreche. Lies hatte bei Entgegennahme des Antrags betont, der Planfeststellungsbeschluss sei wirksam. Gleichzeitig sei aber klar, dass sich bei einem viele Jahrzehnte umfassenden Vorhaben wie Schacht Konrad „der Stand von Wissenschaft und Technik weiterentwickelt“. Der Minister fügte hinzu: „Wir nehmen das sehr ernst und werden sehr genau prüfen mit Blick auf eventuell weitreichende, rechtliche Konsequenzen.“
Reimar Paul
Seit Baubeginn des Endlagers Schacht Konrad sind 60 Änderungsgenehmigungen erteilt worden. Die Öffentlichkeit hat davon nichts erfahren.
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hintergrund - taz.de
hintergrund Die palästinensischen Flüchtlinge Das palästinensische Flüchtlingsproblem ist Folge zweier Kriege, dem israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 und dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Nach 1948 lebten gut 700.000 Palästinenser im Exil. Die UN-Resulution 194 aus dem Jahr 1948 hält fest, dass „die Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, das Recht dazu haben sollten“. Inzwischen ist die Zahl der Flüchtlinge nach Angaben der UNO auf über 3,5 Millionen angewachsen. 1,5 Millionen Palästinenser leben in Jordanien (rund 60 Prozent der Gesamtbevölkerung). Sie sind dort integriert, im Besitz eines jordanischen Passes und nehmen an Wahlen teil. Die jeweils rund 350.000 Palästinenser im Libanon und in Syrien leben mehrheitlich in Flüchtlingslagern. Im Libanon unterstehen die Palästinenser zudem scharfen Kontrollen, dürfen nicht im öffentlichen Dienst und in 70 weiteren Berufen arbeiten. In Syrien dürfen die Palästinenser nicht wählen. Die übrigen rund 1,5 Millionen Palästinenser leben im Westjordanland und im Gazastreifen, davon rund die Hälfte in Lagern. SUSANNE KNAUL
SUSANNE KNAUL
Die palästinensischen Flüchtlinge
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„Europas Nationen reichen sich die Hände gegen die Dritte Welt“ - taz.de
„Europas Nationen reichen sich die Hände gegen die Dritte Welt“ ■ Interview mit der indischen Feministin und Ökologin Vandana Shiva über das Scheitern des Realsozialismus und die Auflösung der weltpolitischen Blöcke, über das „EineWelt„-Bewußtsein und die „sanften“ Technologien / „In der Dritten Welt gibt es weiterhin einen großen Bedarf an Sozialismus“ taz: In Europa scheint man zur Zeit völlig mit sich selbst und dem europäischen Vereinigungsprozeß beschäftigt zu sein. Menschen, die sich für die Dritte Welt engagieren, warnen davor, daß über der Ost-West-Politik die Probleme der armen Länder vergessen werden. Sehen Sie eine solche Gefahr? Vandana Shiva: Diese Gefahr besteht tatsächlich, denn die Erste Welt hat heute die Fähigkeit, die Ressourcen der Dritten Welt zu nutzen, ohne die Menschen der Dritten Welt zu brauchen. Nach zwei Jahrhunderten der Kolonisation, nachdem die natürlichen Strukturen zerstört sind und es überall Monokulturen gibt, wirft man diese Menschen weg wie Müll. Es gibt aber auch Länder, die als Märkte und Lieferanten von Rohstoffen weiterhin wichtig sind für die Erste Welt - sie werden in Zukunft noch stärker diszipliniert. Die Dritte Welt wird selektiv genutzt, um die neue Runde des kapitalistischen Wachstums zu nähren. Die Vereinigung von Europa ist in der Tat nur nützlich und nutzbar gegen die Dritte Welt. Hierzulande wird seit dem Beginn der neuen Ost-West-Politik das Scheitern des Sozialismus konstatiert. Der Trend der osteuropäischen Länder gen Westen, der Niedergang ihrer Volkswirtschaften und ihre dramatischen ökologischen Probleme beweise endgültig - so wird fast ohne Diskussion festgestellt - die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaft und des freien Marktes. Sieht man das in der Dritten Welt genauso? Für die Dritte Welt ist es entscheidend zu verstehen, welche Art von Sozialismus in Osteuropa gescheitert ist. Es ist der zentralisierte, hochindustrialisierte und hochmilitarisierte Sozialismus, der entstanden war aus der europäischen Industrialisierung und aus europäischen Kriegen. Die Logik der sozialen und ökonomischen Organisation war aber die gleiche wie im Westen, nur etwas zentralisierter vom Staat. In der Dritten Welt gibt es weiterhin einen großen Bedarf an Sozialismus, um gegen den neuen Stand der Ungleichheit zu kämpfen. In unseren Zusammenhängen ist es sehr wichtig, Konzepte von Gerechtigkeit lebendig zu erhalten. Der Kampf um den Sozialismus beginnt für uns jetzt, nachdem die Ablenkung durch die Konfrontation zwischen den beiden Supermächten nachgelassen hat. Wenn die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR nachläßt, ist das eine Chance für die Länder der Dritten Welt? Ich sehe dabei zwei Aspekte. Wenn die Konfrontation zwischen den Supermächten nachläßt, braucht die Rüstungsindustrie trotzdem weiterhin Märkte. Und diese vielen kleinen, aber ständigen Kriege in Ländern der Dritten Welt - im Libanon, in Afghanistan, in Sri Lanka, im Punjab und in Kaschmir - basieren auf dem gleichen militärischen System. Es gibt ganz klare Anhaltspunkte dafür, daß das Nachlassen der militärischen Bedrohung im Norden zu einem sprunghaften Anstieg der militärischen Auseinandersetzungen in der Dritten Welt geführt hat. Der einzige positive Aspekt an der Entspannung zwischen den USA und der UdSSR für die Dritte Welt ist, daß nun der Konflikt zwischen den Supermächten nicht mehr von den wirklichen politischen und ökonomischen Gründen ihrer Abhängigkeit ablenkt. Hat die Dritte Welt jetzt, da die Blöcke bröckeln, mehr Freiheit zu denken und zu entscheiden, was sie wirklich will? Nein, nicht mehr Freiheit zu denken, was sie wirklich will, sondern mehr Möglichkeiten klar zu sehen, wie der Kapitalismus funktioniert. Nun ist viel klarer, daß die europäischen Nationen sich die Hände reichen gegen die Dritte Welt. Bei uns gab es gerade eine breite Medienkampagne für „Eine Welt“, in der - wie in fast allen Öffentlichkeitskampagnen für die Dritte Welt heutzutage - die ökologische Krise und ihr weltweiter Zusammenhang ein Schwerpunkt war. Meinen Sie, daß in der westlichen Welt tatsächlich das Bewußtsein wächst, daß es nicht eine erste, zweite und dritte, sondern nur eine Welt gibt? (lacht) Das Bewußtsein, daß es eine Welt ist, wächst tatsächlich - aber im alten imperialistischen Sinne. Daß es eine Welt ist und alles uns gehört und alle anderen Leute, die wirklich die Einwohner des Landes sind, Eindringlinge sind in dieser einen Welt von uns. Der Regenwald gehört uns, weil er Einfluß auf das Klima hat, in dem wir leben - warum, um Himmels wollen, können dann die Brasilianer mit dem Regenwald machen, was sie wollen?! Wir waren so frei, den Regenwald zu zerstören, als es uns paßte. Aber die Brasilianer sind nicht so frei, den Regenwald zu zerstören, weil es uns jetzt nicht mehr paßt. Möglicherweise ist die politische und ökonomische Praxis auf internationaler Ebene so unterdrückerisch, aber wir sprachen über das Bewußtsein. Meinen Sie denn, die Leute, die sich für „Eine Welt“ und Ökologie interessieren, sind sich dessen bewußt oder gar damit einverstanden? Ich meine, da ist überhaupt kein Bewußtsein darüber da, wie sehr die Produktion, der Konsum und der ganze westliche Lebensstil auf der Zerstörung der Dritten Welt beruht. Hier glaubt man, alles, was wir brauchen, um Wohlstand zu schaffen, sind neue Technologien - so, als schafften neue Technologien aus dem Blauen heraus den Reichtum. Es gibt keinerlei Bewußtsein darüber, wie die Natur arbeitet, daß das bestehende System die Zerstörung der Natur einschließt. Aber es gibt ein hohes Bewußtsein über die Gefahren, die die Dritte Welt in die Erste bringt. Deshalb stehen im Brennpunkt des Interesses die Bevölkerungsfragen und der Versuch, die Dritte Welt in der Umweltpolitik zu kontrollieren. Was müßte sich denn in den westlichen Ländern konkret ändern? Wenn ich Ihre politischen Theorien höre, kann ich sie auf hochindustrialisierte Länder schlecht übertragen. Es gibt für sie kein einfaches Zurück zur Selbstversorgung auf lokaler Ebene. Situationen verändern sich nicht über Nacht. Der erste Schritt in eine ökologische Zukunft für alle auf dem Planeten wäre, ehrlicher und offener anzuerkennen, welche Kosten die industriellen Prozesse tatsächlich innerhalb und außerhalb der Grenzen des Nordens verursachen. Dann wäre es möglich zu sehen, wie viel von der Natur geraubt und zerstört wird. Dann findet jede Gesellschaft Wege, die Zerstörung einzudämmen und sich anzupassen. Wenn man im Westen über die Kosten der Industrialisierung diskutiert, wird sofort der Ruf nach neuen Technologien laut, die weniger Energie verbrauchen und deshalb auch als „sanft“ bezeichnet werden. Eine dieser neuen und „sanften“ Technologien sollen die Bio - oder Gentechnologien sein. Heutzutage nimmt man allgemein an, die fossilen Energieträger und die chemische Industrie seien die Hauptprobleme, und man glaubt, mit den neuen Technologien würde man diese Probleme irgendwie loswerden. Woran man nicht denkt, ist das grundlegende ökologische Prinzip des Lebens auf diesem Planeten: Wie reproduziert die Natur sich selbst und wie verhalten sich die neuen Stoffe, die wir in die Natur bringen? Jetzt wird eine neue Runde eingeläutet: Jetzt kommt der noch gefährlichere, irreversible Schäden anrichtende Abfall aus der Gentechnik. Bringen diese neuen Technologien spezielle Gefahren für Frauen? Frauen sind immer dann besonders gefährdet, wenn die Biologie und die Reproduktion betroffen sind. Beispielsweise sind Chemikalien für Frauen besonders gefährlich. Sie schaffen Unfruchtbarkeit, Problemschwangerschaften, Fehlgeburten und Mißbildungen bei Neugeborenen. Das erkennt man heute, etwa in Bhopal, wo fast alle Frauen, die überlebten, anschließend diese Probleme hatten. Was die Gentechnologie jedoch noch gefährlicher macht als die chemische Industrie: Sie zielt auf den Körper der Frau, auf Reproduktion als eine Hauptquelle des Geschäfts. Der Körper der Frau wird zu einem neuen Ort für die Kapitalakkumulation. Das ist ein riesiger Markt schließlich gibt es viele Frauen auf diesem Planeten. Interview: Gunhild Schöller
gunhild schöller
■ Interview mit der indischen Feministin und Ökologin Vandana Shiva über das Scheitern des Realsozialismus und die Auflösung der weltpolitischen Blöcke, über das „EineWelt„-Bewußtsein und die „sanften“ Technologien / „In der Dritten Welt gibt es weiterhin einen großen Bedarf an Sozialismus“
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Kolumne Die eine Frage: Mehr Sozialökologie wagen - taz.de
Kolumne Die eine Frage: Mehr Sozialökologie wagen Selbst in der Wirtschaft mehren sich Anzeichen für eine sozialökologische Wende. Aber kann auch die CDU Klimapolitik? Hat den Hut auf und urteilt hart über ihre Partei: CDU-Politikerin Diana Kinnert Foto: dpa Das Beste, was man für die SPD tun kann, ist, ihr eine Pause zu gönnen. Medial, weil ihre ewigen „Fahrpläne“ (Superwort!) und Personalwechsel ja nur die Herrschaft des bürokratischen Aktionismus ausstellen und damit das inhaltliche Vakuum. Und eine Pause in der Regierungsverantwortung sowieso, sonst hat die alte und noch älter aussehende Partei überhaupt keine Chance mehr, sich unter Einbeziehung der zentralen zukunftspolitischen Felder neu zu erfinden. Wodurch sich zwangsläufig die Frage nach der CDU Deutschlands stellt, denn mit irgendwem werden die Grünen ja im kommenden Jahr koalieren müssen. Die gesellschaftliche Frage ist sehr wahrscheinlich nicht mehr, ob sie zusammen regieren, sondern wie man sie dazu bringt, sich nicht entlang der alten Quatschfolklore aufzustellen, sondern entlang der neuen Konflikte und entscheidenden Zukunftsfragen. Die junge Unternehmerin und CDU-Politikerin Diana Kinnert hat in einem Essay in der Welt die Union als „uneins, strategisch und programmatisch überfordert“ beschrieben. Während sich die Anzeichen mehren, dass auch die Wirtschaft tatsächlich zu einem (behutsamen) sozialökologischen Aufbruch bereit sein könnte, keilt die Union mit müfflig riechendem Material aus der guten alten Zeit der national und patriarchal organisierten Industriegesellschaft gegen die urbanen und urban sein wollenden Leistungsträger der Mittelschicht und ihre protestierenden Kinder. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Wie soll das weitergehen? Mir fallen drei Szenarien ein. Nummer 1: Die CDU verstärkt den von Annegret Kramp-Karrenbauer personifizierten Sound des Verächtlichmachens ihrer eigenen gesellschaftlichen Liberalisierungserfolge und framt die Erderhitzung als Erziehungsprojekt von linken Spinnern. Was doppelt danebengeht: Erstens ist Klimaproblembewusstsein Mainstream, zweitens haben sich linke Spinner nie für die Klimakrise interessiert. Nummer 2: Die CDU steuert radikal um und macht die Erderhitzung zum zentralen Politikfeld. Diana Kinnert hat diese Neuerfindung skizziert: eine moderne Partei, die nicht die Grünen imitiert, sondern komplementär funktioniert und kulturell auch mit Gesellschaftskonservativen verknüpft. Nummer 3: Bundeskanzlerin Merkel gelingt ein Befreiungsschlag, mit dem sie den Eindruck erzeugt, dass die Regierung und die Union die Klimaverträge von Paris einzuhalten bereit und in der Lage sind. Worauf die Mehrheitsgesellschaft glücklich zurücksackt, doch wieder CDU wählt und sich ihren Marotten und Klassikern zuwendet. Bis ihr eines Tages auffällt, dass immer noch nichts passiert ist. 1, 2 oder 3 – was es am Ende wird? Okay, Nummer 2 ist unwahrscheinlich. Aber das Verlässliche am CDU-Abgeordneten ist seine Pragmatik: Wenn er denkt, er könne seinen Wahlkreis mit Klimapolitik verteidigen, wird er sie anbieten. Wenn nicht, dann nicht. Es geht also darum, sie als gesamtgesellschaftlich prioritäres Politikprojekt zu verstehen und einzufordern. Die entscheidende Frage der nächsten Bundestagswahl ist also weniger, wer mit wem regiert – sondern wozu Die entscheidende Frage der nächsten Bundestagswahl ist also weniger, wer mit wem regiert – sondern wozu. Die radikal-realistische Politikaufgabe im Sinne von Robert Habeck lautet: Wie und mit welchen Leuten, Kompetenzen, Ministerien, Vernetzungen jenseits des Status quo kriege ich das in vielerlei Hinsicht sehr gut funktionierende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland sozialökologisch und europäisch upgedatet? Man kann Angst kriegen, klar. Aber man kann auch sagen: Geil, dies ist die Chance, bei einer historischen Sache dabei zu sein, die sogar den westdeutschen Nachkriegsaufbruch von Willy Brandt in den Schatten stellen kann. Wir wollen mehr Sozialökologie wagen.
Peter Unfried
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Flucht verarbeitet: Unverdauliche Kunst - taz.de
Flucht verarbeitet: Unverdauliche Kunst In Hamburg zeigt die Ukrainerin Maria Kulikovska ihre Installation „Table 2“. Sie gibt tiefe Einblicke in ihre Fluchterfahrung. Maria Kulikovska, „Table 2“: Angerichtet sind Krieg, Flucht und Vertreibung Foto: Christian Grasse HAMBURG taz | Strahlend weißes Keramik-Service, Silberbesteck, Rotwein und Rosen: das, was man einen gut gedeckten Tisch nennt. Doch die Atmosphäre des einladenden Dinner-Ensembles täuscht. Bei genauerem Hinsehen erkennt man auf den Tellern eingebrannt, amtliche Briefe und bürokratische Formulare, die mit Aquarell-Malereien verziert sind. Die bunten Farben überdecken jedoch nicht den düsteren Inhalt der Dokumente: „Ausweis für Vertriebene“ ist dort unter anderem zu lesen. Schnell wird klar, es handelt sich dabei um die Zeugnisse einer Flucht: die der Künstlerin selbst. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter ist die ukrainische Architektin und Künstlerin Maria Kulikovska im Februar 2022 von Kyiv nach Linz gekommen. Bekannt ist sie unter anderem durch die Friedens-Performance „254“, für die sie 2014 in St. Petersburg zeitweilig in Haft war. In ihrer sehr persönlichen Arbeit „Table 2“, die nun in der Freien Akademie der Künste in Hamburg zu sehen ist, hat sie ihren Weg nach Deutschland künstlerisch verarbeitet. Thematisch spiegelt sich darin der Krieg, ihre Fluchterfahrungen und Ängste sowie Gedanken zu ihrer Rolle als Mutter wider. Das Unsagbare erzählen Wie emotional aufgeladen die Werke für Kulikovska sind, merkt man ihr an. Es fällt ihr schwer, über all das zu sprechen: „Ich habe noch nicht einmal in meiner eigenen Sprache die richtigen Worte dafür“, sagt sie. Die Kunst sei der Versuch, das Unsagbare zu erzählen und gleichzeitig eine Form der Therapie. Kernstück der Arbeit sind unterschiedliche amtliche Dokumente, die sie während ihrer Flucht gesammelt und mit Aquarell-Farben bemalt hat. Darunter sind Asyl- und Wohnungsanträge und Briefe von Hilfsorganisationen. Die so entstandenen Werke sind anschließend auf zwölf Ess- und Vorspeiseteller sowie zwei Serviceplatten gebrannt worden. Geboren wurde die Künstlerin in der ukrainisch-autonomen Republik Krim. Aufgrund der russischen Annexion sah sich 2014 erstmals gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Auf ihrer Flucht sei sie, damals wie heute, immer wieder auf bürokratische Hürden gestoßen. Gerade an den Grenzen werde versucht, Menschen in Kategorien einzuteilen: „Als weibliche Künstlerin fällt man für die Migrationsmaschine aus dem Raster.“ Die verwendeten Dokumente stehen somit unter anderem für den Kampf mit den Behörden um Akzeptanz und eine Antwort auf das Bewusstsein „als geflüchtete Person als Mensch zweiter Klasse zu gelten“. Dieses Gefühl bleibe, sagt sie und damit auch die Ungewissheit, wo sie in den nächsten Monaten zu Hause ist und mit welcher Sprache ihre Tochter aufwächst. Maria Kulikovska, Künstlerin„Ich kann nicht wirklich froh sein und mein Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben“ Die Aquarellmotive bedecken die schwarz-weißen Dokumente und verschlucken durch ihre intensiven Farben teilweise deren Inhalt. Blumen, Frauenkörper, aber auch Schriftzüge hat sie darüber gemalt. So steht auf einem Brief, der ihre Wohnsituation betrifft, in roten Buchstaben: „In which country I will be a human being not a refugee?“. Auch ihre Rolle als Mutter spielt eine entscheidende Rolle. So bittet sie ihre Tochter um Entschuldigung, in eine Familie von politischen Flüchtlingen geboren zu sein. Nicht nur in den Werken selbst steckt Symbolik, das Ensemble ist in seiner Gänze als Kuration zu verstehen. Die auf dem Tisch drapierten Rosen seien ganz nach Joseph Beuys Werk „Rose für direkte Demokratie“, ein Zeichen für die freie Gesellschaft, so auch die Aquarell-Blumen: Ein Stück fragile Natur, die ohne Zutun stirbt, so erklärt sie es. Zusammen mit den überwiegend roten Aquarellmalereien bildet der Rotwein einen starken Kontrast zur weißen Tischdecke und dem Service. Es ist jedoch nicht nur ein farblicher Gegensatz, viel mehr trifft eine vermeintlich entspannte und willkommen-heißende Atmosphäre auf etwas Bedrohliches. So löst die rote Farbe des Rotweins und der Malereien im Kontext der Arbeit eine blutige Assoziation aus, die den dargestellten Frauenkörpern jegliche Erotik nimmt und sie fragil und verletzlich erscheinen lässt. Die Darstellung von Weiblichkeit sei dabei auch als ein Protest am Patriarchalen-System in Russland zu verstehen, erzählt sie. Die Vorstellung, sich zu setzen und genüsslich am Rotwein zu nippen, bekommt einen bitteren Beigeschmack. Installation „Die Tafel 2“: wieder vom 19. bis 31. 3., Freie Akademie der Künste, Klosterwall Hamburg. Weitere Infos sowie ein Mitschnitt der Eröffnungsrede von Reinhold Engberding: www.fadk.deDie Geschirrteile, insgesamt je zwölf große und kleine Teller sowie zwei Fleischplatten, stehen in der Ausstellung zum Verkauf. Dazu gibt es jeweils ein Zertifikat von Maria Kulikovska. „Ich kann nicht wirklich froh sein und mein Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben“, sagt Kulikovska. Auf einem der Teller steht dazu der eindrückliche Satz: „We are safe, but frustrated, we are ok, but in pain, we feel ashamed to be alive.“ Die Themen dieser Arbeit sind schwer verdaulich, darüber täuscht auch der schön gedeckte Tisch nicht hinweg. Durch die bestehenden Gegensätze entsteht ein emotionales Zusammenspiel, das nicht nur die persönliche Geschichte einer Flucht erzählt, sondern auch zeigt, dass der Krieg nicht bei einem netten Abendessen vergessen werden kann: Eine Arbeit, die durch ihre Eindringlichkeit in Erinnerung bleibt.
Paul Weinheimer
In Hamburg zeigt die Ukrainerin Maria Kulikovska ihre Installation „Table 2“. Sie gibt tiefe Einblicke in ihre Fluchterfahrung.
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US-Sklaverei-Roman in deutscher Version: Schleuser in die Freiheit - taz.de
US-Sklaverei-Roman in deutscher Version: Schleuser in die Freiheit Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“ folgt dem Weg von Cora aus der Sklaverei und erzählt vom Netzwerk der Unterstützer. Frederick Douglass, legendärer Abolitionist und ein Verfasser von sogenannten „slave narratives“ Foto: ap „Das Sonderbare an Amerika war, dass Menschen Dinge waren.“ Recht bald fällt dieser Satz in Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“, der heute auf Deutsch erscheint. Und der Satz beschreibt in seiner nüchternen Präzision auch, um was es in Whiteheads Roman geht: Die Darstellung der entmenschlichten Dimension von US-Sklaverei und die Gewalttätigkeit ihrer BefürworterInnen, die bis weit ins 19. Jahrhundert eine amoralische Rechtfertigung für sadistische Gewalt und Unterdrückung aus Religion und Philosophie herleiteten, um Menschen wie Vieh behandeln zu können. Warum die Sklaverei in den USA, anders als in Westeuropa, so lange in Kraft war, ist immer noch nicht restlos ergründet. Europäische Mächte verdienten am Sklavenhandel mit, sie brauchen sich daher nicht überlegen fühlen. Heute ist weitgehend vergessen, wie verbreitet die Sklaverei auch im Norden der USA war. Manche mag es überraschen, dass es auch im Süden unterschiedliche Positionen gab: Der (zurecht wegen Kriegsverbrechen im Bürgerkrieg) umstrittene Südstaatengeneral Robert E. Lee klagte die Sklaverei etwa 1856 „als moralisches und politisches Übel“ an, während der Nordstaatengeneral William T. Sherman noch 1860 sagte, er wolle sie „nicht abschaffen und modifizieren.“ Das riesige Land hatte sich mit der Sklaverei für lange Zeit arrangiert. Die Beschäftigung mit ihrer Bedeutung für die afroamerikanische Geschichte blieb selbst in der jüngeren Vergangenheit auf Spezialisten beschränkt. Diese Leerstelle besetzt Colson Whitehead nun mit seinem Roman. In „Underground Railroad“ geben bizarre Vorkommnisse – etwa Sklavenauktionen und Bestrafungsaktionen aus nichtigen Anlässen – dem namenlosen Grauen einen Bezugsrahmen. Doppelt prekäre Beziehungen Das Buch ist aber auch Fanal dafür, welche Mühen Einzelne auf sich genommen haben, um sich aus diesem Unrechtssystem zu befreien. Whitehead stellt die Geschehnisse anhand der Odyssee von Cora dar, einer jungen Sklavin, die im Georgia des 19. Jahrhunderts ihren unwürdigen Umständen entflieht; er erzählt von ihrem Alltag als Feldsklavin, dem gefahrvollen Übertritt aus dem Süden in die Nordstaaten, der chaotischen Flucht aus der Unterwerfung in ein selbstbestimmtes Leben, wie sie aus dem „Social Death“ einer Baumwollplantage zu freieren Entfaltungsmöglichkeiten kommen will, in den liberalen Gesellschaften größerer US-Städte. Zu den großen Themen des Romans gehört, die Geschichte von Coras Emanzipation aufzufächern und von der Unmöglichkeit zu erzählen, dem erlittenen Unrecht jemals völlig zu entkommen. „Underground Railroad“ ist ein Meisterwerk und ein Roman, dessen historische Implikationen natürlich Schatten auf heute werfen Coras Leben in den 1820ern und ihre Familiengeschichte hat Whitehead zu einem packenden Plot verzahnt, der weder rührselig verkitscht noch drastisch überzeichnet daherkommt. Verschiedene Handlungsstränge werden zu einem grandiosen Mosaik angeordnet. Ungeschminkt, nie paternalistisch, schildert Whitehead dies, obwohl er als Autor über eine Frau schreibt. Gerade die Schilderungen des Dreiecks der doppelt prekären Beziehungen schwarzer Frauen zu schwarzen und weißen Männern sind eine Stärke von „Underground Railroad“. Man kann sich seinem erzählerischen Sog nicht entziehen, sobald man mit der Lektüre begonnen hat. Die Buchstaben und die Sterne lesen Nikolaus Stingl hat in seiner Übersetzung dankenswerter Weise auf allzu karnevalistische Eindeutschungen von Slang verzichtet, je sachlicher der Ton, desto mehr nimmt die Sprache den Fluss des Geschehens auf und zieht die LeserInnen in den Bann. Noch etwas ganz Grundsätzliches schwingt zwischen den Zeilen mit. Wir wüssten heute wenig über die Lebensumstände von verschleppten Schwarzen, gäbe es keine slave narratives, Berichte ehemaliger Sklaven wie Frederick Douglass und Harriet Jacobs, die das Lesen und Schrei­ben im 19. Jahrhundert beigebracht bekamen oder sich selbst beibrachten. Jene triumphalen Zeugnisse der Selbstwerdung markieren ja überhaupt den libertären, aus der Misere geborenen Aufbruch der afroamerikanischen Literatur. Auf ihrer Flucht bemerkt Cora an einer Stelle, wie ihr Vertrauter Caesar „Sterne ebenso lesen konnte wie Buchstaben“. Der Historiker Bruce Dorsey hat in seiner Studie „Gender and Race in the Antebellum Popular Culture“ darauf hingewiesen, dass slave narratives immer „zugleich wirklich und imaginär“ seien. Ein eigenes literarisches Genre. Whiteheads Roman ist natürlich kein Tatsachenbericht, sondern Gegenwartsliteratur, sehr genau recherchiert, wiewohl auch fantastische Einfälle einsetzend, um zur Pointe zu kommen, aber selbstverständlich erneuert Colson Whitehead eine alte Tradition. Innere und äußere Unruhe Sein Romantitel ist einem realen historischen Schleusernetzwerk entlehnt, das Sklaven auf ihrer Flucht aus dem Süden der USA in den Norden logistisch unterstützt hat, seine Mitglieder waren weiße Abolitionisten, aber auch freie Schwarze und ehemalige Sklaven; sie erkundeten Fluchtrouten, sorgten für sichere Unterkünfte und falsche Papiere, gingen aber auch nach geglückter Flucht zurück in den Süden, um Familienangehörige und Freunde nachzuholen, oftmals unter Lebensgefahr. Whitehead lässt diese Underground Railroad als unterirdische Eisenbahn mit einem verzweigten Tunnelsystem, geheimen Bahnhöfen und Stationsvorstehern wiederauferstehen. Das fiktionale Verkehrsmittel kurbelt Action und Geschwindigkeit der Story mit an. Unterwegssein, das hat der britische Soziologe Paul Gilroy in seinem Werk „Black Atlantic“ herausgestellt, war zentral für die schwarze Identitätsbildung. Die innere und äußere Unruhe von Cora ist ebenfalls wiederkehrendes Motiv in „Underground Railroad“, zu merken in der Fragilität der (aus­ein­andergerissenen) Familienbeziehungen; Frauen, Kinder und Männer auf sich allein gestellt, das Zusammenfinden von Ersatzfamilien und Kollektiven. Whitehead zeichnet die Figuren mit vielen Konturen: Die Skrupellosigkeit weißer und schwarzer Kopfgeldjäger, die im Süden und im „freien“ Norden als Broterwerb Sklaven jagten, genauso die bourgeoise Lebensart der Southerner, quasiaristokratischer Plantagenbesitzer, wie die Gewissensbisse und religiös oder gesellschaftspolitisch grundierten Motive von Abolitionisten. Tief im kulturellen Code verwurzelt Auch die Kommunikation von Sklaven untereinander, die, die sich mit ihrem Dasein abgefunden hatten und die, die sich dagegen auflehnten, der Kulturschock der aus dem Süden kommenden Sklaven im Norden, all das wird in „Underground Railroad“ thematisiert. Das BuchColson Whitehead, „Underground Railroad“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Hanser Verlag, München 2017, 349 Seiten, 24 Euro Wie oft war die Rede von der „Great American Novel“, die angeblich niemand mehr zu schrei­ben imstande sei, weil es zu kompliziert sei, Geschichte und Gegenwart in eins zu setzten und zu fiktionalisieren. „Underground Railroad“ ist nichts weniger als ein Meisterwerk, ein Roman, dessen historische Implikationen natürlich Schatten auf heute werfen. Über die Frage der Sklaverei und ihre wirtschaftlichen Folgen, die Aus­ein­andersetzung zwischen agrarischer oder industrieller Ökonomie, über die die USA von 1861 bis 1865 in einen Bürgerkrieg gerieten. Aktuell sei an die todbringenden Auseinandersetzungen um „White Supremacy“ und das rassistische Erbe der USA vergangene Woche in Charlottesville, Virginia, erinnert. Die Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt konfliktreich und schwierig. Das weiß auch Whitehead: In einem dem Roman vorangestellten Interview bezeichnet er die Sklaverei als „einen unserer fundamentalen Irrtümer; einen Fehler, der tief im kulturellen Code verwurzelt ist“. Sein Roman wurde in den USA mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Colson Whitehead, geboren 1969 in New York, wo er noch heute lebt, trägt übrigens lange Dreadlocks, so wie die jamaikanischen Rastafarians.
Julian Weber
Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“ folgt dem Weg von Cora aus der Sklaverei und erzählt vom Netzwerk der Unterstützer.
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Drittes Anlegeverbot für die „Karin B.“ - taz.de
Drittes Anlegeverbot für die „Karin B.“ Hafenarbeiter in Livorno wollen Entladung des Giftschiffs verweigern / Sollte ihr Protest umgangen werden, versprechen Gewerkschafter und Umweltschützer einen Generalstreik / Livornos Bürgermeister erläßt drittes Anlegeverbot / Inhalt der Giftfässer noch immer unklar  ■  Aus Livorno Werner Raith Schon beim Überfliegen der „Karin B.“ hart am Rande der Dreimeilenzone vor Livorno sieht man vom Flieger aus den gewaltigen Unterschied zu jenem Schiff, das wir vor drei Monaten aus derselben Cessna beäugt hatten: die „Zanoobia“, in syrischen Diensten mit italienischem Giftmüll unterwegs nach Genua. Dort, auf der „Zanoobia“, waren die Fässer in heillosem Durcheinander kreuz und quer gestapelt. Die „Karin B.“ dagegen, so zeigt sich dann später auf Deck noch deutlicher, ist ausschließlich mit Containern beladen, die meisten davon fest verschlossen, fein geordnet nach Beschriftung. Einige der jungen bundesdeutschen Matrosen der jüngste ist erst 17 - haben während der Fahrt über Kopfschmerzen geklagt und Zusammenhänge mit einem stechenden Geruch aus einem der Behälter vermutet. Kapitän Richard Hinterleitner führt die Schmerzen allerdings eher auf „die übliche Frustration nach mehreren Monaten Fahrt in der Sommerhitze“ zurück und vor allem auf „die sich einander ständig widersprechenden Orders“ während der langen Odyssee des Schiffs durch die Meere. Unklar bleibt, ob der Kapitän die Kopfschmerzen-Diagnose vor allem deshalb so stellt, um endlich in den Hafen einlaufen zu dürfen. Jedenfalls hat er schon weit draußen die gelbe Fahne aufziehen lassen, die den Behörden signalisiert, daß das Schiff und seine Ladung ohne Schäden ist. Das hat ihm kurz vor unserer Ankunft auch der Sonderkommissar Admiral Alati bestätigt: Nach erster Augenscheinnahme sei alles okay. Der von der Regierung als Oberaufseher für die Verwahrung der Giftfässer an Land ernannte toskanische Regionalpräsident Gianfranco Bartolini möchte jedoch ganz genau wissen, was in den einzelnen Behältern drin ist. Diese Auskunft konnte ihm der Sonderkommissar bis gestern mittag immer noch nicht geben. Bartolini sitzen diesmal nicht nur die Grünen im Nacken auch die Gewerkschaften haben mobil gemacht. Die Hafenarbeiter werden nach Auskunft ihrer Sprecher „nicht einen Finger rühren, um die hundertsechzig Dinger von Bord zu bringen“. Sollte die Regierung per Dekret dann Militär zum Entladen einsetzen, „gibts hier wirklich Zoff“, versichert ein Flugblatt der drei großen Gewerkschaften CGIL/CISL/UIL: „Dann treten wir in beiden Regionen in Generalstreik“. Daß die Behörden zumindest vorerst den starken Mann hervorkehren wollen, wird alsbald so unangenehm wie hautnah klar. Das Gespräch mit der Besatzung wird jäh durch hartstrahlige eiskalte Wassergüsse unterbrochen. Wasserwerfer blockierten Greenpeace-Mitglieder, die die „Karin B.“ mit ihrem Schiff einige Male umrundet und dann versucht haben, den Frachter zu entern. Unbeeindruckt von der Admirals-Visite erläßt Roberto Benvenuti, kommunistischer Bürgermeister von Livorno, ein drittes Mal sein Anlegeverbot für die „Karin B.“. Zwei Mal bereits hat es ihm der zuständige Amtsrichter mit dem Hinweis auf die „einmalige Notsituation“ zerrissen. Vorsichtshalber hat der Bürgermeister in sein neues „Nein“ auch den Satz hineingeschrieben: „Es besteht Anlaß zur Sorge, daß die 'Karin B.‘ entgegen der Versicherung der Regierung nicht der einzige Fall sein wird, der uns hier belasten könnte.“ Da hat er wohl recht. Die Besatzung der „Karin B.“ berichtet, daß am Hafen von Koko in Nigeria, wo sie ihre Ladung aufgenommen haben, „Tausende teils völlig offener, stinkender und rauchender Fässer daliegen.“ Und die sollen nach Angaben der nigerianischen Behörden demnächst allesamt nach Italien zurückgesandt werden.
w. raith
Hafenarbeiter in Livorno wollen Entladung des Giftschiffs verweigern / Sollte ihr Protest umgangen werden, versprechen Gewerkschafter und Umweltschützer einen Generalstreik / Livornos Bürgermeister erläßt drittes Anlegeverbot / Inhalt der Giftfässer noch immer unklar  ■  Aus Livorno Werner Raith
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32,019
Klimaproteste der „Letzten Generation“: Merz fordert härtere Strafen - taz.de
Klimaproteste der „Letzten Generation“: Merz fordert härtere Strafen Merz will eine Verschärfung des Strafrechts für Kli­ma­ak­ti­vis­t:in­nen. Stephan Weil kritisiert die Proteste, lehnt aber härtere Strafen ab. Will eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten: CDU-Bundesvorsitzender Friedrich Merz Foto: Boris Roessler/dpa BERLIN epd | In der Debatte um die Protestformen der Klimabewegung „Letzten Generation“ hat CDU-Chef Friedrich Merz härtere Strafen bei Blockaden und Sachbeschädigungen gefordert. „Wir beobachten eine Radikalisierung von Gruppierungen wie der ‚Letzten Generation‘ mit immer häufigeren Grenzüberschreitungen in den strafrechtlichen Bereich hinein“, sagte Merz den Zeitungen der Funke Mediengruppe am Sonntag. Er plädiere für „eine Verschärfung der Straftatbestände zur Sachbeschädigung und Nötigung“. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) kritisierte ebenfalls die Proteste, lehnte aber härtere Strafen ab. Um auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen, blockieren Mitglieder der „Letzten Generation“ immer wieder Straßen und Autobahnzufahrten, indem sie sich auf dem Asphalt festkleben. Zuletzt bewarfen Aktivisten in mehreren Museen Kunstwerke mit Flüssigkeiten. Merz erklärte, zwar ließen sich gesellschaftliche Probleme nicht allein mit dem Strafrecht lösen. „Aber eine hinreichende Abschreckungswirkung des Strafrechts gehört im Sinne einer Generalprävention mit dazu“, erklärte der CDU-Parteivorsitzende. Bei schweren Fällen von Sachbeschädigung und Nötigung solle es eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten geben. „Die Straßenblockierer und Museumsrandalierer diskreditieren das eigentliche Ziel, das wir alle miteinander teilen, nämlich beim Klimaschutz weiter voranzukommen“, betonte Merz. Weil sagte der Neuen Osnabrücker Zeitung am Samstag, er halte es für komplett inakzeptabel, wenn Ak­ti­vis­t:in­nen sich auf Straßen festkleben oder Kunstwerke attackieren. „Was um Himmels willen hat die Klimakrise zu tun mit Nudeln, die man auf ein Gemälde wirft? Das erschließt sich mir nicht, und das muss die Gesellschaft auch nicht hinnehmen.“ Eine Auseinandersetzung innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen müsse immer möglich sein, betonte Weil. „Diese Grenzen werden aber durch Festkleben und Angriffe auf Kunstwerke deutlich überschritten.“ Rufen nach härteren Strafen schloss sich der niedersächsische Regierungschef aber nicht an: „Da ich Jurist bin, weiß ich, dass das aktuell mögliche Strafmaß in aller Regel ausreicht, um zu angemessenen Strafen zu kommen.“
taz. die tageszeitung
Merz will eine Verschärfung des Strafrechts für Kli­ma­ak­ti­vis­t:in­nen. Stephan Weil kritisiert die Proteste, lehnt aber härtere Strafen ab.
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Reporter in Syrien: Drei Journalisten verschollen - taz.de
Reporter in Syrien: Drei Journalisten verschollen In Syrien wurden seit Beginn des Aufstands zehn Journalisten getötet. Jetzt werden drei weitere vermisst. Eine Miliz hat vermutlich zwei von ihnen entführt. Auch sie wurde in Syrien getötet: Reporterin Marie Colvin. Bild: dapd BERLIN taz | In Syrien werden derzeit drei ausländische Journalisten vermisst. Zwei von ihnen waren mit der japanischen Fernsehreporterin Mika Yamamoto unterwegs, als diese am 20. August in Aleppo erschossen wurde. Bei den beiden handelt es sich um den jordanischen Reporter palästinensischer Abstammung, Bashar Fahmi, und Cuneyt Unal, seinen türkischen Kameramann. Sie arbeiten für den von den USA unterstützten Fernsehsender Al-Hurra. In Yamamotos letztem Video vor ihrem Tod sieht man Fahmi hinter ihr in einem Kastenwagen sitzen. Yamamoto sagte, sie seien unterwegs zu einer Stelle in Aleppo, die gerade von Regierungskräften bombardiert worden sei. Es wird befürchtet, dass Fahmi und Unal von einer regimetreuen Miliz gefangenen genommen wurden, aber es ist nicht bekannt, in wessen Händen sie jetzt sind oder wo sie festgehalten werden. Der türkische Außenminister Ahmed Davutoglu sagte, die Regierung bemühe sich nicht nur um die Freilassung Unals, sondern auch um die Fahmis, weil dieser mit einer Türkin verheiratet sei. „Wir verfolgen seinen Fall wie den eines türkischen Staatsbürgers“, sagte Davutoglu gegenüber der Nachrichtenagentur Anatolia. Fahmi, der vor allem über das tägliche Leben von Syrern angesichts des Bürgerkriegs berichtet, hat mit seiner Frau in Istanbul zwei Kinder. Unal lebt mit seiner Familie ebenfalls dort. Bei dem dritten Journalisten, der vermisst wird, handelt es sich um den US-Bürger Austin Tice. Er arbeitet unter anderem für die Washington Post und die McClatchy Pressegruppe. Zu ihm gibt es seit zwei Wochen keinen Kontakt mehr. Laut Reporter ohne Grenzen sind in Syrien seit Beginn des Aufstands zehn Journalisten getötet worden, darunter fünf ausländische Korrespondenten.
Jasper Mortimer
In Syrien wurden seit Beginn des Aufstands zehn Journalisten getötet. Jetzt werden drei weitere vermisst. Eine Miliz hat vermutlich zwei von ihnen entführt.
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Heiße Kämpfe in dem Leipziger Mietdschungel - taz.de
Heiße Kämpfe in dem Leipziger Mietdschungel ■ Mieterhöhungen ohne fristgerechte Benachrichtung
nana brink
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„Ein erheblicher Ansehensschaden“ - taz.de
„Ein erheblicher Ansehensschaden“ Im oberfränkischen Marktflecken Pretzfeld sorgt sich die Gemeinde nach der Schändung des jüdischen Friedhofs um ihr Image / Oberfranken gilt als heimliche Nazi-Hochburg  ■ Von Manfred Otzelberger Pretzfeld (taz) – Die Lettern sind kaum noch zu identifizieren. „Hier ruht nach gottesfürchtigem und stets ehrenhaftem Lebenswandel Wolf Heller – Friede seiner Asche“, steht auf dem Grab. Der fromme Jude, der sich hier 1894 auf dem jüdischen Friedhof im oberfränkischen Pretzfeld bestatten ließ, würde sich im Grab umdrehen, wenn er die andere Inschrift auf seinem Grabstein lesen könnte: „Sieg Heil“. Unbekannte sprühten diese und ähnliche Parolen mit schwarzem Werkstofflack auf achtzehn Gräber des alten jüdischen Friedhofs am Ortsrand von Pretzfeld, einem idyllischen Dorf in der Fränkischen Schweiz zwischen den Städten Nürnberg und Bayreuth. Mit „Romantik und Erholung im Kirschenzentrum“ umwirbt die Gemeinde normalerweise Touristen. Vor allem viele Berliner machen hier Kurzurlaub und wandern durch die schattigen Wälder am Pretzfelder „Judenberg“. Wo im Juli Tausende von Zechern das berühmte „Kirschenfest“ neben den Bierkellern genießen, beseitigen Arbeiter derzeit ein paar hundert Meter weiter die rechtsradikalen Parolen auf dem verwitterten Sandstein. Vor etwa drei Wochen wurden die Sprüche auf den Grabsteinen des 1632 eingeweihten Friedhofs von einem Wanderer zufällig entdeckt. „Tod den Juden“ heißt es da, auf anderen Steinen tauchen immer wieder das Hakenkreuz und SS-Runen auf. Von den Tätern gibt es bisher keine Spur. Und daß obwohl die Gemeinde spontan die ungewöhnlich hohe Belohnung von 5.000 Mark aussetzte. Sogar das bayerische Landeskriminalamt hielt diese Summe für „zu hoch“, aber das biedere Kirschendorf ist ums bisher makellose Image besorgt. Mit der Hiobsbotschaft von den Schändungen ging man erst nach der Schamfrist von einer Woche an die Öffentlichkeit. Gegen den Rat der Polizei. Die wollte das Ganze erst mal totschweigen, weil sie Nachahmungen fürchtet. Ihre Ermittlungen gehen bisher nur zäh voran. „Wir hoffen auf Hinweise aus der Szene“, sagt Edgar Pfahlmann, Pressesprecher der Bamberger Kripo, Abteilung Staatsschutz, die für die seit 1980 schlimmste antisemitische Tat im Oberfränkischen zuständig ist. Bisher war hier nur einmal ein Friedhofsschild mit Davidstern in Bayreuth geklaut worden, anderswo warfen alkoholisierte Jugendliche im Suff ein paar Grabsteine um. Trotzdem gilt Oberfranken als heimliche Neonazi-Hochburg: Rechtsradikale bespitzelten in Coburg den „linken Mob“. Das wegen der berüchtigten Todeslisten bundesweit bekannt gewordene Hetzblatt Der Einblick soll hier in der Erstauflage gedruckt worden sein. Und die jährlichen Wallfahrten zum Todestag des Wunsiedeler Stadtsohnes Rudolf Heß sind immer wieder ein Ärgernis fürs nahe Bayreuth, das Wagner-Anbeter Adolf Hitler einst als seine „süße Stadt“ rühmte. Pretzfelds Bürgermeister Walter Zeißler schickt natürlich Stoßgebete gen Himmel, daß die Täter nicht aus seiner 2.300-Seelen-Gemeinde stammen. In ihr gab es einst drei Synagogen und noch heute drei jüdische Friedhöfe. Dem politischen Umfeld an den Stammtischen scheint eine solche Tat jedoch durchaus zuzutrauen zu sein. Bei der letzten Bundestagswahl kamen die „Republikaner“ in Pretzfeld auf satte 9,24 Prozent, bei der Europawahl gar auf 24,65 Prozent. Tröstlich, daß im Marktgemeinderat noch kein Rechtsradikaler sitzt. Der Rat verurteilte denn auch einstimmig die „verabscheuungswürdige“ Tat: „Die Täter fügen damit auch dem Markt Pretzfeld und seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen erheblichen Ansehensschaden zu.“ Auch die Kirchen reagierten prompt. „Lübeck ist überall“, meinte der evangelische Pfarrer Steffen Weeske. Er und sein katholischer Amtskollege Peter Brandl fragten sich, „wie die Leute wohl reagiert hätten, wenn ein christlicher Friedhof geschändet worden wäre“. Beide verfaßten deshalb einen offenen Brief, den sie im Gottesdienst verteilten: „Wenn wir als Christen in diesen Tagen auch der Grablegung Jesu Christi, des Sohnes einer jüdischen Mutter gedenken, dann dürfen wir unsere Augen nicht vor der Ungeheuerlichkeit des hier Geschehenen verschließen. Die Ruhe eines Toten zu stören, ist dem jüdischen Gefühl ein unerträglicher Gedanke, eine Vorstellung, die den Lebenden erschauern läßt.“ Die Polizei forderten die beiden Pfarrer auf, „alle Zeugnisse, die uns an jene Menschen erinnern, die einst mit und unter uns lebten, noch stärker unter ihren besonderen Schutz zu stellen“. Das ist einfacher gesagt als getan. Die bemoosten Mauern des Pretzfelder Friedhofs sind leicht zu überwinden. Das Tor ist zwar stets geschlossen, aber das dazugehörige Schild dürfte Neonazis kaum abschrecken. Da steht geschrieben: „Dieser Friedhof wird dem Schutz der Allgemeinheit empfohlen. Beschädigungen, Zerstörungen und jeglicher beschimpfender Unfug werden strafrechtlich verfolgt.“ Seit gut 55 Jahren leben in Pretzfeld keine Juden mehr. Die letzten jüdischen Einwohner, zwei alte Ehepaare und ein alter Mann, wurden 1938 nach Theresienstadt deportiert. Nur in die USA emigrierte Nachkommen besuchen heute die Gräber und manchmal auch das alte Pretzfelder Schloß. Das wurde in der „Reichskristallnacht“ verwüstet, weil es Nachfahren des neoimpressionistischen Malers Curt Hermann gehörte. Seine Frau war Jüdin, seine Enkel sind längst emigriert: Sie leben heute lieber in London als in der „lieblichen“ Fränkischen Schweiz.
manfred otzelberger
Im oberfränkischen Marktflecken Pretzfeld sorgt sich die Gemeinde nach der Schändung des jüdischen Friedhofs um ihr Image / Oberfranken gilt als heimliche Nazi-Hochburg  ■ Von Manfred Otzelberger
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An der Grenze, die keine war - taz.de
Ostukraine Vor allem für alte Menschen ist der Konflikt lebensgefährlich. ­Aktivisten der Organisation Vostok SOS versuchen zu helfen An der Grenze, die keine war Im Donbass herrscht ein Stellungskrieg. Was früher ein Land war, ist geteilt durch die Waffenstillstandslinie. Sie zerreißt Familien und Ortschaften. Viele glauben, dass die neue Bruchlinie von Dauer ist Um die Menschen im Donbass zu erreichen, müssen sich die Helfer der NGO Vostok SOS zwischen die prorussischen und die proukrainischen Stellungen wagen Foto: Cedric Rehman AUS STANITSA LUHANSKA CEDRIC REHMANN In der Nacht betet Nina Gratchowa, 87, dass der Tod gnädig ist. Sie hofft auf einen Treffer, der sie und ihre 93-jährige Schwester Nadja auslöscht. Keine abgetrennten Gliedmaßen, kein Wimmern unter rauchenden Trümmern, nur endlich Ruhe. In ihrer Straße in Stanitsa Luhanska hat es schon das Haus gegenüber getroffen. Ihre eigene Wand ist voller Krater, die Fenster ohne Glas sehen aus wie leere Augenhöhlen. Gratschowa schlurft in Pantoffeln auf die Helfer der Organisation Vostok SOS zu. Mit dünnen Armen greift sie nach einem der Männer. „Spasiba“, „danke“, sagt sie auf Russisch. Dann fließen Tränen. Ihre Geschichte gleicht dem, was die Helfer schon oft gehört haben. Alte, meist Frauen, zurückgelassen in einer Geisterstadt, die ohne Hilfe nicht überleben könnten. Die meisten Familien haben den Ort längst verlassen, wo es jederzeit Granaten regnen kann. Die Tränen der Alten fließen vor Dankbarkeit oder vor Scham, wenn die Helfer ihre Pakete mit Öl, Fleischkonserven und Seife abliefern. In den Häusern riecht es nach Verwahrlosung. In Küchen schimmelt das schmutzige Geschirr. „Wer keine Familie hat, die anderswo Fuß gefasst hat, der bleibt und versucht zu überleben“, sagt Dmytro Thedobass, Aktivist von Vostok SOS. Die Initiative entstand 2014 aus zwei Menschenrechtsorganisationen aus Luhansk und der von Russland annektierten Krim. Thedobass ist frühmorgens aufgebrochen. Er steuert seinen Geländewagen über staubige Pisten, um nach Sta­nitsa Luhanska zu kommen. Der Krieg hat jeden Straßenbau im Donbass unterbrochen. Auf der ungeteerten Strecke dauert es Stunden, rund ein Dutzend Kilometer zurückzulegen. Thedobass hat Boxen an sein Smartphone angeschlossen. Die russische HipHop-Band Krovostok singt von Drogen, der Mafia und Mädchen. Thedobass liebt die Rapper aus dem Feindesland. Er kurbelt das Fenster herunter, um zu rauchen. An der Brücke dort habe es kürzlich einen Hinterhalt gegeben, da auf der Sandpiste seien Zivilisten aus der Kampfzone geflohen. Zwischen Anekdoten und Zigaretten analysiert er den Krieg zwischen Kiew und den Separatisten. Schuld am Elend der Region sei die Grenze, die vor 2014 keine war. Sie teilt den Verwaltungs­distrikt Luhansk in einen von der ukrainischen Armee kon­trol­lierten Norden und die Separatistenrepublik im Süden. Die Stadt Luhansk liegt nur 15 Kilometer von Stanitsa Luhanska entfernt, doch sie ist nur über den Checkpoint in der Stadt zu erreichen. Wer im Hinterland wohnt, muss manchmal einen Tag lang anreisen. „Vor dem Krieg haben die Menschen aus der ganzen Region in Luhansk gearbeitet“, sagt Theobass. Jetzt sind die Jobs, Krankenhäuser und Geschäfte für die Leute auf der ukrainischen Seite wie auf einem anderen Planeten. Die örtlichen Ärzte sind geflohen Auch die Landwirtschaft bringt kaum noch Einkünfte. Erdbeeren oder Tomaten aus der Region Luhansk wurden vor dem Krieg nach Russland verkauft. Zwar hat die Ukraine eine neue zivilmilitärische Verwaltung errichtet, aber ihr fehlen die Mittel, um das Elend zu lindern. In Sjewjerodonezk, 124 Kilometer nördlich von Stanitsa Luhanska, steht das einzige Krankenhaus der Region. Ärzte aus Kiew und anderen Städten leisten dort in ihrem Urlaub Dienst. Sieben Chirurgen für 57.000 Menschen. Die örtlichen Ärzte sind längst geflohen. Die Landstraße nach Luhansk führt zu den Hügeln, auf denen die Truppen der „Volksrepublik Luhansk“ stehen. An einer zerschossenen Tankstelle am Stadtrand haben die ukrainischen Truppen zwei Baracken aufgestellt und eine blau-gelbe Fahne gehisst: das einzige Nadelöhr in der Grenze, die sich über Hunderte von Kilometern zieht. Es sind viele Babuschki, Großmütterchen, wie sie auf Russisch heißen, die sich in Schlangen auf die Grenze zubewegen. Sie schultern Pakete oder schieben sie auf Rollwagen. Eine Frau antwortet unwirsch auf die Frage, was sie auf die andere Seite bringt: ein paar Tomaten für ihre Verwandten. Mit dem Gemüse, das sie trägt, könnte sie Tomatensoße für eine ganze Fußballmannschaft kochen. Dmytro Thedobass lacht. „Das verkauft sie drüben, wo sie den doppelten Preis bekommt“, sagt er. In der Volksrepublik haben die Menschen Hunger auf Obst und Gemüse. Auf ihrer Seite stehen die Kohleminen. Die Felder im Norden hat das Minsk-II-Abkommen vom Februar 2015 den Ukrainern überlassen. Die Menschen in der Volksrepublik sitzen nun auf Kohlebergen, die sie nicht mehr in die Ukraine verkaufen können. „Was sie an Lebensmitteln aus Russland geliefert kriegen, ist teuer. Und die meisten Menschen verdienen nichts mehr, weil niemand ihre Kohle kauft. Die Russen haben eigene Minen“, sagt Thedobass. Hüben wie drüben nimmt die neue Grenze den Menschen die Lebensgrundlage, und es sieht so aus, als werde die Teilung von Dauer sein. Während Kiew die vorgesehenen Wahlen nur abhalten will, wenn die Waffen schweigen, wollen die Separatisten Wahlen mit Gewalt erzwingen. Unzufriedene ukrainische Soldaten an einem Posten nahe Stanitsa Luhanska murren, dass Kiew die Volksrepubliken gar nicht loshaben will. Der Krieg diene der Regierung als Ausrede für alles, was nicht vorangeht in der Ukraine. Ein Brandherd, der die Unzufriedenen in Freiwilligenbataillone lockt und in den Osten lenkt. Dort könnten sie die Oligarchen und Seilschaften aus der Janukowitsch-Zeit nicht mehr stören. Die Babuschkas in der Stadt warten unterdessen mit hungrigen Mägen auf den Tod aus der Luft. Wenigstens können sie ab und zu ihre früheren Nachbarn übervorteilen. Dmytro Thedobass lehnt den Begriff „Kriegsgewinnler“ dafür ab. „Was sollen sie sonst machen?“ Er versucht, die Menschen aus dem Donbass zu verstehen. Er ist einer von ihnen und auch wieder nicht. Mit seiner Biografie steht er für die Zerrissenheit der Region. Thedobass wurde in Sjewerodonezk nördlich von Stanitsa Luhanska geboren. Seine Sprache ist Russisch, und seinen Vater bezeichnet er als „Sowok“. Einen Sowjetmenschen, der das Ende der UdSSR nie verwunden hat. Thedobass ging gleich nach der Schule nach Kiew. Er wollte Jura studieren. Vor allem aber wollte er weg. Er tanzte in Kiew in Technoclubs, statt sich wie die jungen Männer von Sjewerodonezk am Lenin-Denkmal zu betrinken. „Wer nicht anderswo Familie hat, der bleibt und versucht zu überleben“Dmytro Thedobass, Vostok SOS Mit der Waffe in die alte Heimat Dann kam der Maidan und mit der Revolution der Gedanke, dass bald die ganze Ukraine so sein würde wie er: neugierig, risikobereit, lebenshungrig. Theobass stand im Winter 2013/2014 mit Hunderttausenden in der Kälte und skandierte: „Bandu het“ – Banditen raus. Ein paar Monate später zog er mit der Waffe in die alte Heimat, die sich gegen die neue Ukraine erhoben hatte. Nachbarn und Jugendfreunde sahen in ihm einen Faschisten, der Russen ermorden will. Mit seinem Vater kommt er bis heute nicht klar: „Wenn ich nur die Scheiße aus seinem Kopf kriegen könnte.“ Seit dem Ende seines Militärdienstes 2015 fährt er als Helfer immer wieder in den Donbass zurück. Er glaubt, dass die Menschen mit Geduld und Solidarität für die Ukraine gewonnen werden. Er sei nicht der einzige Kämpfer gewesen, der Russisch spricht und dennoch für die Ukrai­ne kämpft. „Der Krieg hat Familien zerrissen“, sagt er. Die Helfer von Vostok SOS brausen im Geländewagen von Dmytro Theobass den Fluss Siwersky Donezk entlang, der das letzte Stück Ukraine markiert. Theobass wagt sich ungern in die 500 Kilometer lange und 20 Kilometer breite Zone zwischen den Stellungen. Rings um den Ort Loba­dschewo aber drohe weniger Gefahr als anderswo, sagt er. Dort haben beide Seiten einen Waffenstillstand ausgehandelt. Loba­dsche­wo ist ein geteiltes Dorf. Niemand hat ein Interesse daran, dass Geschosse über den Fluss fliegen. Deswegen gelingt hier, was im Donbass sonst nur eine Forderung auf dem Papier ist: Die Waffen schweigen. Die Helfer von Vostok SOS übergeben einer Mutter Medikamente gegen die Epilepsie ihrer Tochter. Sie schreiben sich die Adresse eines Mannes auf, der an Grauem Star leidet und langsam erblindet. Vielleicht kann die Organisation dafür sorgen, dass der Mann einen Spezialisten außerhalb des Donbass aufsuchen kann. Sie tragen Pakete zu einem Lebensmittelgeschäft, das kaum noch Waren in den Regalen hat. Auf den Stufen vor dem Eingang sitzen Babuschkas und alte Männer. Sie warten. Als die Pakete verteilt sind und die Alten aufbrechen wollen, taucht ein Soldat auf. Eine Gruppe Babuschkas fleht ihn an, sie ziehen zu lassen. Sie sind mit dem Boot von der anderen Seite gekommen, um Hilfspakete zu holen, die nicht für sie bestimmt sind. Sie seien doch nur alte Frauen. Eine klagt, dass sie früher am 1. Mai doch alle zusammen gefeiert hätten. Ach, käme sie doch zurück, die alte Sowjetunion! Der Soldat ruft trotzdem die Polizei.
Cedric Rehman
Im Donbass herrscht ein Stellungskrieg. Was früher ein Land war, ist geteilt durch die Waffenstillstandslinie. Sie zerreißt Familien und Ortschaften. Viele glauben, dass die neue Bruchlinie von Dauer ist
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Junges Theater: Neue Spielräume - taz.de
Junges Theater: Neue Spielräume Das Braunschweiger Festival „Fast Forward“ zeigt Theaterstücke junger RegisseurInnen aus ganz Europa mit gesellschaftspolitischer Dimension. Bei Markus & Markus wird Peer Gynt zum Dementen. Foto: Paula Reissig BRAUNSCHWEIG taz | Auf einer Lichtung sitzen die fünf Freunde am Lagerfeuer, wollen etwas über sich selbst herausfinden und echte Abenteuer erleben. Doch so weit kommen sie gar nicht, reden stattdessen darüber, was sie in den letzten Jahren erlebt haben auf dem Monte Amici – und dass sie später wissen werden, dass dies ihr letzter echter, gemeinsamer Sommer gewesen sein wird. „Société des amis“ ist eines von sieben Gastspielen beim Festival „Fast Forward“ in Braunschweig, das noch bis Sonntag aktuelle Theaterstücke junger RegisseurInnen aus ganz Europa zeigt. Um die ProtagonistInnen der Kinderhörspielreihe „Fünf Freunde“ herum spinnen die Schweizer RegisseurInnen Jan Koslowski und Nele Stuhler ein flottes Stück, das große Fragen nach Freundschaft und dem Individuum aufwirft. Lakonisch kommentieren die fünf DarstellerInnen ihre eigene Handlung, gekonnt transportieren sie nicht nur bei den im Chor gesprochenen Texten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das, längst rissig, kaum noch mehr ist als der „hässliche, fleischige Kern“, der übrig bleibt, wenn man die Abenteuer und das Sprechen darüber abzieht. Dabei bleibt das Stück stets spielerisch, oft an der Grenze zum Slapstick, ohne aber ins Alberne zu kippen. Das liegt auch am Kostüm, das aus dem Pfadfinderfilm „Moonrise Kingdom“ von Wes Anderson entlehnt scheint und mitsamt des Bühnenbildes mit seinen reflektierenden Sonnen, Bäumen und Bergen aus Alufolie eine wunderbare Atmosphäre in Sepia schafft. Auch im spanischen Gastspiel „Escenas para una conversación después del visionado de una película de Michael Haneke“ von Pablo Gisbert, kippen immer wieder unterhaltsam seichte Bilder unerwartet in tiefe Ernsthaftigkeit, schiebt sich der Tod zwischen elektronische Musik und die Ironie einer Welt, in der alle zugleich glücklich und traurig, einsam und gemeinsam sind. Zwölf mehr oder weniger zusammenhanglose Szenen für ein Gespräch über einen Film Michael Hanekes hat Gisbert zu einem Potpourri voller popkultureller Anspielungen und nackter Haut collagiert. Bereits zum fünften Mal findet das „Fast Forward“-Festival statt. Noch bis Sonntag werden auf drei Braunschweiger Bühnen vierzehn Stücke junger RegisseurInnen aus sieben europäischen Ländern gezeigt. Und es lohnt sich, die Vielfalt der unfertigen Handschriften und neuen Perspektiven europäischen Theaters zu sehen. Die Bandbreite der Produktionen ist enorm, sogar ein Tanzstück und eine Opernarbeit sind dabei. Das Hildesheimer Kollektiv Markus&Markus etwa zeigt eine Adaption von Ibsens „Peer Gynt“, die rumänische Regisseruin Nicoleta Esinencu inszeniert mit „American Dream“ am Samstagabend ein überdimensioniertes Monopolyspiel über illegale Arbeitsmigration. Die Performance „Stop Being Poor“ aus Norwegen wiederum stellt den Dienstleistungskapitalismus infrage, der eine ganze Generation in Wettbewerb und Selbstoptimierung drängt. Und „Before You Die“ des ungarischen Nachwuchsregisseurs Martin Boross stellt die abstrusen Sehnsüchte einer Generation aus, die Listen mit Dingen anlegt, die sie noch erleben will. „Die jungen TheatermacherInnen stellen in ihren Arbeiten die Frage nach dem ‚richtigen Leben‘ zwischen Glücksversprechen und Realität“, sagt Festivalkuratorin Barbara Engelhardt. Es gehe um Umbrüche in der gegenwärtigen Gesellschaft ebenso wie um die Spielräume für individuelle Entscheidungen und Verantwortung. Die Auswahl der eingeladenen Produktionen verdeutlicht dabei, wie wichtig den Verantwortlichen war, die gesellschaftspolitische Dimension zu zeigen, die junges Theater in Europa hat.
Kornelius Friz
Das Braunschweiger Festival „Fast Forward“ zeigt Theaterstücke junger RegisseurInnen aus ganz Europa mit gesellschaftspolitischer Dimension.
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+++ Corona News am 22. Juni +++: Von der Leyen, Shakira, Beckham - taz.de
+++ Corona News am 22. Juni +++: Von der Leyen, Shakira, Beckham EU-Komissionschefin will bei Geberkonferenz mit Stars Spenden für Impfstoff sammeln. Zweite Welle trifft Südkorea. Nachrichten zum Coronavirus im Live-Ticker. Shakira fordert Investitionen für „Tests, Medikamente und Impfstoffe für alle Menschen“ Foto: Greg Allen/ap Den Live-Ticker bearbeitet Anselm Denfeld. Berater von Trump schließt zweite Welle in USA aus 15.30 Uhr: Der Wirtschaftsberater von US-Präsident Donald Trump sieht keine zweite Welle der Coronavirus-Pandemie in den Vereinigten Staaten. Zwar gebe es in Bundesstaaten wie Florida ein Aufflackern bei den Neuinfektionen, sagt Larry Kudlow dem TV-Sender CNBC. Es sei aber unwahrscheinlich, dass es im ganzen Land weit verbreitete Shutdowns geben werde. „Es gibt einige Hotspots. Wir sind dran“, sagt Kudlow. „Es wird keine zweite Welle kommen.“ (rtr) Grüne fordern Massentests in Gütersloh nach Virus-Ausbruch 15.21 Uhr: Nach dem Corona-Ausbruch in einem Fleischbetrieb im Kreis Gütersloh hat Grünen-Chefin Annalena Baerbock flächendeckende Virus-Tests für alle Bürger dort gefordert. Erst dann könne entschieden werden, ob für die Region wieder strenge Einschränkungen angeordnet werden müssten, sagte Baerbock in Berlin. Die Massentests müssten nun „unverzüglich“ erfolgen. Sie sollten sicherstellen, dass „die Erfolge der letzten Monate nicht wieder komplett kaputt gemacht werden“. Die Grünen-Chefin forderte zudem Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, CDU, auf, ein Krisentreffen mit den betreffenden Ministerien aus Bund und Ländern einzuberufen. (afp) Lufthansa sucht Einigkeit mit Investoren, Gewerkschaften 15.01 Uhr: Vor ihrer Aktionärsversammlung am Donnerstag setzt die Lufthansa alles daran, die Zustimmung zum Rettungspaket zu sichern. Wie am Montag aus Kreisen in Berlin verlautete, kamen hierfür am Vormittag Bundesfinanzminister Olaf Scholz, SPD, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, und Konzernvertreter mit dem kritischen Lufthansa-Großaktionär Heinz Hermann Thiele zusammen. Gleichzeitig verhandelt die Airline weiter mit Gewerkschaftsvertretern über den Beitrag der Beschäftigten zur Sanierung. Der Unternehmer Thiele hatte die Staatshilfen kritisiert und seine Zustimmung offen gelassen. Er ist der größte Einzelaktionär des Konzerns und könnte das Rettungspaket blockieren – denn bei der virtuellen Versammlung am Donnerstag stimmen weniger Aktionäre:innen ab als von der Lufthansa erhofft. Wie Konzernchef Carsten Spohr mitteilte, haben die Anteilseigner weniger als 38 Prozent des Kapitals für die Hauptversammlung angemeldet. Die Airline will demnach bis Donnerstag eine konsensfähige Lösung für alle Beteiligten präsentieren und eine Insolvenz so verhindern. (afp) Indien meldet meiste Neuinfektionen binnen 24 Stunden 14.54 Uhr: Indien hat einen Höchstwert an Neuinfektionen gemeldet. In den vergangenen 24 Stunden wurden mehr als 15.000 Fälle registriert, wie das Gesundheitsministerium mitteilt. Damit steigt die Gesamtzahl auf über 425.000 – nur die USA, Brasilien und Russland haben noch mehr. Mehr als 400 Inder:innen starben binnen eines Tages. Seit dem ersten Fall in dem Land im Januar sind damit fast 14.000 Menschen ums Leben gekommen. (rtr) Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben EU-Spendengipfel mit Konzerten von Shakira und Coldplay 14.32 Uhr: Shakira, Coldplay, Usher, Justin Bieber – EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat für ihren Spendengipfel am kommenden Wochenende die Unterstützung einer ganzen Reihe von Stars gewonnen. Im Rahmenprogramm der zweiten Online-Geberkonferenz für den weltweiten Kampf gegen das neuartige Coronavirus werde es am Samstagabend ein großes Benefizkonzert geben, kündigte von der Leyen am Montag an. Nach Angaben der EU-Kommission überträgt in Deutschland die ARD das Konzert. Online wird es etwa auf der Facebook-Seite der Brüsseler Behörde und deren Youtube-Kanal zu sehen sein. Die EU hat seit einer ersten internationalen Geberkonferenz Anfang Mai mittlerweile über 10 Milliarden Euro gesammelt. Es soll in die Entwicklung eines Impfstoffs und die Ausweitung von Behandlungsmöglichkeiten und Testkapazitäten fließen. Während sich die erste Geberkonferenz vor allem an Staaten und internationale Organisationen richtete, sollen nun auch Unternehmen, Bürger und eben Stars Gelegenheit haben, sich zu engagieren. (afp) Niederlande melden Tag ohne Corona-Todesfall 14.11 Uhr: Die Niederlande haben erstmals seit dem 9. März keinen neuen Todesfall im Zusammenhang mit dem Coronavirus registriert. Zudem melden die Gesundheitsbehörden mit 69 Neuinfektionen einen anhaltenden Rückgang bei den Ansteckungen. (rtr) Auch Linksfraktion fordert nach Stehempfang Rücktritt 13.53 Uhr: Hamburgs Innensenator Andy Grote gerät wegen eines von ihm trotz Pandemie organisierten Empfangs zu seiner Wiederernennung als Senator weiter unter Druck. Nach CDU und AfD forderte am Montag auch die Linke den Rücktritt des SPD-Politikers. „Diese Verletzung der Corona-Regeln ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, erklärte der Innenexperte der Linksfraktion, Deniz Celik. Grote habe sich bereits „durch die von ihm zu verantwortenden eklatanten Grundrechtsverletzungen während des G20-Gipfels als Innensenator disqualifiziert“. (dpa) Bund setzt auf Eindämmung vor Ort rund um Tönnies 13.27 Uhr: Die Bundesregierung setzt auf umfassende Maßnahmen vor Ort, um die Ausbreitung von Corona-Infektionen rund um den Schlachtbetrieb von Marktführer Tönnies in Westfalen einzugrenzen. Es handele sich um einen „massiven Ausbruch“, der sehr ernst zu nehmen sei, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Für die Region bestehe ein hohes Infektionsrisiko. Über die konkreten Maßnahmen zur Eindämmung entscheide das Land Nordrhein-Westfalen, betonte die Bundesregierung. Sie verwies auch auf schon örtlich verhängte Schließungen von Schulen und Kitas und Anordnungen von Quarantäne in den umliegenden Kreisen. (dpa) China zeigt Bereitschaft für Zusammenarbeit am Impfstoff 13.25 Uhr: China will mit der Europäischen Union enger bei der Suche nach einem Impfstoff und einer Arznei gegen das Coronavirus zusammenarbeiten. Die Volksrepublik sei bereit, gemeinsam mit Europa gegen das neuartige Virus zu kämpfen, sagt Regierungschef Li Keqiang dem chinesischen Staatsfernsehen zufolge beim 22. China-EU-Gipfel. Die Kooperation überwiege den Wettbewerb. China hoffe, dass die EU Exportkontrollen gegen China lockern könne. (rtr) Bulgarien führt Maskenpflicht wieder ein 13.00 Uhr: Nach dem mit 606 Fällen höchsten wöchentlichen Anstieg der Neuinfektionen vergangene Woche ordnet Bulgarien die Maskenpflicht wieder für alle geschlossenen öffentlichen Räume an. Erst zehn Tage zuvor hatte Gesundheitsminister Kiril Ananiew das Tragen von Mund- und Nasenschutz in Innenräumen als „sehr empfehlenswert“, aber nicht obligatorisch eingestuft. Ausgenommen waren Apotheken, der öffentliche Personennahverkehr und medizinische Einrichtungen. Nun muss die Bevölkerung Masken auch wieder in Geschäften, Kinos, Theatern und bei Sportveranstaltungen tragen. (rtr) Industrie kritisiert Einstieg des Bundes bei Curevac 12.21 Uhr: Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat mangelnde Transparenz beim Einstieg des Bundes beim Biotech-Anbieter Curevac kritisiert, der einen Corona-Impfstoff entwickelt. Fälle dieser Art bedürften eines transparenten und geordneten Verfahrens, sagte Hauptgeschäftsführer Joachim Lang am Montag. Nur so lasse sich der Anschein willkürlicher Entscheidungen vermeiden. Das Argument des Gesundheitsschutzes dürfe „kein Freifahrtschein sein, um marktwirtschaftliche Mechanismen auszuhebeln“, sagte Lang. Wirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, hatte in der vergangenen Woche mitgeteilt, dass die staatliche Förderbank KfW für 300 Millionen Euro rund 23 Prozent der Curevac-Anteile übernimmt. Ziel sei, dem Unternehmen von Mehrheitseigner Dietmar Hopp finanzielle Sicherheit zu geben. (dpa) Bisher wurden über 1.000 Tönnies-Beschäftigte positiv getestet Foto: Matthias Rietschel/dpa NGG: Tönnies-Beschäftigte könnten in Heimat gereist sein 12.12 Uhr: Einige Mitarbeiter des vom Coronavirus getroffenen Tönnies-Schlachthofs im Kreis Gütersloh könnten der Gewerkschaft NGG zufolge in ihre Heimatländer zurückgekehrt sein. „Es ist davon auszugehen, dass einige reisen“, sagte der NGG-Landesvorsitzende Mohamed Boudih am Montag. Zudem hätten auch noch nicht alle Mitarbeiter des Schlachthofs mit rund 7.000 Beschäftigten schriftliche Aufforderungen erhalten, sich in Quarantäne zu begeben. In dem Schlachthof sind unter anderem auch Menschen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen beschäftigt. Ein Sprecher des Kreises sagte dazu, es habe mündliche Aufforderungen an die Mitarbeiter gegeben, sich in Quarantäne zu begeben. Zudem hatte der Kreis eine Allgemeinverfügung erlassen, sich bis zum 2. Juli in häusliche Quarantäne zu begeben. “Eine Reihe von Mitarbeitern ist ganz offensichtlich in die Heimat zurückgekehrt, unter anderem Personen, die negativ getestet worden sind und die die sich abzeichnende Quarantäne hier vermeiden wollten“, hatte der Kreis auch erklärt. (rtr) Politisierung der Pandemie verschlimmert Lage laut WHO 11.56 Uhr: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer Politisierung der Pandemie, die die Lage verschlimmert habe. Diese Kritik äußert WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus bei einem virtuellen Gesundheitsforum des „Weltregierungsgipfels“, der jährlich von Dubai organisiert wird. Der Gipfel dient dem Wissensaustausch zwischen Vertretern von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Weltweit haben sich mehr als 8,98 Millionen Menschen nachweislich mit dem Virus angesteckt. Mehr als 468.000 Menschen sind in Zusammenhang mit dem Virus gestorben, wie Reuters-Daten auf Basis offizieller Angaben zeigen. (rtr) Der SPD-Politiker erwartet viele Fälle außerhalb der Tönnies-Mitarbeiterschaft Foto: Bern von Jutrczenka/dpa Lauterbach warnt vor freier Reise für Gütersloher:innen 11.48 Uhr: SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat angesichts des schweren Corona-Ausbruchs bei dem Fleischfabrikanten Tönnies vor freiem Reiseverkehr für Menschen aus der Region Gütersloh gewarnt. „Ich bin sicher, dass deutlich mehr Menschen außerhalb der Mitarbeiterschaft inzwischen infiziert sind“, sagte Lauterbach der Düsseldorfer Rheinischen Post. „Mit dem Start der Sommerferien in der kommenden Woche dürfen dann alle Menschen aus der betroffenen Region ohne Einschränkung überall in Deutschland und in anderen Ländern Urlaub machen und könnten das Virus potenziell sehr weit verteilen“, sagte Lauterbach. „So etwas bei einem Ausbruch dieser Dimension als Ministerpräsident des Landes zuzulassen, ist aus meiner Sicht gefährlich“, sagte der SPD-Politiker und kritisierte damit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, CDU, der sich noch nicht für einen Lockdown in der Region ausgesprochen hatte. (dpa) „Stark ansteigende“ Zahlen von Neuinfektionen in Berlin 11.36 Uhr: Die Zahl der registrierten Neuinfektionen mit dem Coronavirus steigt derzeit in der Hauptstadt laut dem Senat wieder stark an. Das sagte Innensenator Andreas Geisel, SPD, am Montag bei einer Pressekonferenz der Feuerwehr. Er sprach von „stark ansteigenden“ Werten. „Wir werden das morgen in der Senatssitzung noch mal auswerten und die Beschlüsse, die wir fassen wollen, miteinbeziehen.“ Der Senat will morgen laut den Ankündigungen zahlreiche Lockerungen der Corona-Einschränkungen beschließen. In Berlin sind nach dem Stand von Sonntag 7.832 Infektionsfälle aus den vergangenen knapp vier Monaten bekannt. In der vergangenen Woche kamen von Mittwoch bis Sonntag 358 neue Infektionsfälle dazu. An zwei Tagen gab es jeweils deutlich mehr als 100 gemeldete Neuinfektionen. (dpa) Auch Kroatiens Tennisprofi Ćorić mit Coronavirus infiziert 10.43 Uhr: Bei der vom Tennis-Weltranglisten-Ersten Novak Đoković organisierten Adria Tour hat es einen zweiten positiven Corona-Fall gegeben. Nach dem Bulgaren Grigor Dimitrow teilte am Montagmorgen auch der kroatische Profi Borna Ćorić in den sozialen Netzwerken mit, dass er positiv auf Corona getestet worden sei. An dem Show-Turnier mit Stationen in mehreren Städten hat auch der deutsche Tennisstar Alexander Zverev teilgenommen. Der 23 Jahre alte Australian-Open-Halbfinalist verpasste am Sonntag den Einzug in das Finale, das nach dem Bekanntwerden von Dimitrows Positivtest nicht mehr ausgetragen wurde. Das Turnier war schon zuvor in die Kritik geraten, weil die Vorsichtsmaßnahmen nicht allzu ernst genommen wurden. Bei den Spielen waren Zuschauer zugelassen, ein Sicherheitsabstand von einem Meter wurde aber nicht eingehalten, wie auf Fernsehaufnahmen zu sehen war. (dpa) Südkorea spricht erstmals von zweiter Corona-Welle 10.40 Uhr: Südkorea könnte laut dem Bürgermeister von Seoul, Park Won Soon, die Kontrolle über die zweite Infektionswelle des Landes verlieren. Seoul werde die Maßnahmen zum Abstandhalten zwischen den Menschen verschärfen, wenn die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen in den kommenden Tagen nicht unter 30 sinke. Im Zeitraum 30. April bis 11. Juni habe die Reproduktionszahl fast 1,8 erreicht, sagte Park. Die Zahl gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter oder eine Infizierte durchschnittlich anstecken. Wenn dieser Trend nicht gebremst werde, könne es in Südkorea in einem Monat täglich 800 Neuinfektionen geben, sagte Park. Die Gesundheitsbehörden in Südkorea sprechen erstmals von einer zweiten Infektionswelle im Land. Man sei mitten drin, sagt Jeong Eun Kyeong, Direktorin des Koreanischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Vorsorge (KCDC). Zuvor hatte das KCDC stets erklärt, dass die erste Welle im Land nie wirklich aufgehört habe. Nun sei klargeworden, dass das Feiertagswochenende Anfang Mai den Beginn der neuen Welle markiere, sagt Jeong. (dpa) In Seoul wird eine Schule desinfiziert Foto: dpa Trotz Corona zu Ferienbeginn volle Straßen erwartet 10.30 Uhr: Zum Beginn der Sommerferien am nächsten Wochenende rechnet der ADAC in Nordrhein-Westfalen trotz der Pandemie mit vollen Autobahnen. Die höchste Staugefahr bestehe am Freitag ab dem Mittag und am Samstag zwischen 11 und 18 Uhr vor allem in Richtung Nord- und Ostseeküste und auf dem Weg in den Süden, teilte der ADAC Nordrhein am Montag mit. „Wer flexibel ist, sollte wieder auf einen anderen Reisetag ausweichen, zum Beispiel Montag oder Dienstag“, empfahl ADAC-Reiseexperte Roman Suthold. „Wir erwarten wegen der Coronakrise mehr Urlaub mit dem Auto in Deutschland und den Nachbarländern“, sagte Suthold. Andererseits verzichteten viele Urlauber auch ganz auf eine längere Reise. Insgesamt erwartet der Mobilitätsclub weniger Verkehr als 2019. (dpa) Aktuelle Zahlen zur Corona-Warn-App 10.30 Uhr: Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht, wie oft die neue App heruntergeladen wurde. Fragen und Antworten zur Corona-App finden Sie hier. (taz) Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlaubenInfos zur Corona-Warn-App auf https://t.co/kzFkOwYY5mHier der aktuelle Stand der Download-Zahlen: pic.twitter.com/pHsoUsanQd— Robert Koch-Institut (@rki_de) June 22, 2020 NRW-CDU bestreitet Einnahme von Tönnies-Spenden 9.57 Uhr: Seitdem Armin Laschet im Juni 2012 den Vorsitz der NRW-CDU übernommen hat, seien „keine Spenden an den CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen durch die Firma Tönnies eingegangen“. Das teilte der größte CDU-Landesverband der Neuen Westfälischen mit. Wohin die Spendenbeträge der Tönnies Holding in Rheda-Wiedenbrück sonst flossen, verriet auf Anfrage der Zeitung weder die Landes- noch die Bundes-CDU. Laut dem Portal Lobbypedia und dem Rechenschaftsbericht des Deutschen Bundestags hat Tönnies im nordrhein-westfälischen Landtagswahljahr 2017 einen Betrag von 32.500 Euro an die CDU gespendet. Insgesamt soll Tönnies seit 2005 einen Betrag von rund 147.000 Euro an die CDU gespendet haben. „Solche Spenden helfen sicherlich, um gegenüber einer Partei Gehör zu finden“, sagte Ulrich Müller von LobbyControl. (dpa) 7.600 Neuinfektionen binnen 24 Stunden in Russland 9.53 Uhr: In Russland sind binnen 24 Stunden 7.600 Neuinfektionen bestätigt worden. Insgesamt wurde nach Behördenangaben bei 592.280 Menschen das Coronavirus nachgewiesen – das ist die dritthöchste Zahl weltweit nach den USA und Brasilien. 95 weitere Menschen seien an oder mit dem Coronavirus gestorben. Im ganzen Land sind es damit insgesamt 8.206. Am Tag zuvor waren 7.728 Neuinfektionen und 109 Todesfälle gemeldet worden. (rtr) Heil kündigt härtere Maßnahmen für Fleischindustrie an 9.25 Uhr: Nach dem massiven Corona-Ausbruch bei dem Schlachtbetrieb Tönnies will Arbeitsminister Hubertus Heil, SPD, Missstände in der Fleischindustrie beseitigen. Im ARD-“Morgenmagazin“ kündigte er scharfe Maßnahmen an: „Wir machen jetzt Schwerpunktrazzien der Arbeitsschutzbehörden des Zolls. Wir müssen auch dafür sorgen, dass sich im Grunde genommen im System etwas ändert“, sagte Heil. Es müsse mit den vielen Subunternehmen und der Ausbeutung von Menschen Schluss sein, betonte Heil. „Unter der Bedingung der Pandemie wird aus dieser Form von Ausbeutung ein allgemeines Gesundheitsrisiko. Das kann sich diese Gesellschaft nicht länger bieten lassen“, sagte der SPD-Politiker. Bereits in der Vergangenheit habe es immer Anläufe gegeben, die Bedingungen in der Fleischindustrie zu verbessern, doch diese Versuche seien im parlamentarischen Verfahren immer wieder verwässert worden. (epd) Deutsche Baubranche sieht keinen Nutzen in Steuersenkung 9.17 Uhr: Die deutsche Baubranche wird nach eigenen Angaben nicht von der vorübergehenden Senkung der Mehrwertsteuer profitieren. Der mittelständische Verband ZDB moniert „mehr Bürokratie und höhere Kosten“ – ohne dass es zu mehr Investitionen komme. „Denn niemand wird ein Haus bauen, nur weil die Mehrwertsteuer drei Prozentpunkte niedriger ist“, erklärt ZDB-Präsident Reinhard Quast. (rtr) In Krankenhäusern wird für die zweite Welle trainiert 9.07 Uhr: In der EU bereiten sich Krankenhäuser auf eine zweite Infektionswelle vor, indem Reservekräfte ausgebildet und mobiler gemacht werden. „Wir brauchen eine Gesundheitsarmee“, sagt Maurizio Cecconi, gewählter Präsident der Europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin (ESICM) und Chef der Intensivstation eines Krankenhauses in Mailand. „Wenn es eine weitere große Welle gibt, sollten wir bereit sein, Ärzte und Krankenschwestern aus nahe gelegenen Regionen Italiens einzusetzen. Dies ist in der ersten Welle nicht ausreichend geschehen.“ Der amtierende ESICM-Präsident Jozef Kesecioglu sagt, viele Mediziner und Pflegekräfte hätten in der ersten Welle einen Schnellkurs im Umgang mit Covid-19-Patienten erhalten und sollten nun ausführlicher geschult werden. (rtr) Festnahme nach Auseinandersetzung in Göttingen 8.06 Uhr: Nach den Ausschreitungen an einem unter Quarantäne stehenden Wohnkomplex in Göttingen hat es eine Festnahme gegeben. Ein Tatverdächtiger sei am frühen Sonntagabend auf dem Gelände wiedererkannt und festgenommen worden, sagte eine Polizeisprecherin am Montag. Bei den Ausschreitungen wurden am Samstag acht Polizeibeamte verletzt, die Einsatzkräfte wurden nach Polizeiangaben mit Flaschen, Steinen, Metallstangen, Haushaltsgegenständen und Pyrotechnik beworfen. Bereits seit Donnerstag dürfen die rund 700 Bewohner die Gebäude nicht mehr verlassen. Zuvor waren rund 120 von ihnen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Nach Angaben der Stadt leben die Menschen unter prekären Verhältnissen, die Wohnungen sind nur 19 bis 39 Quadratmeter groß – teils sind hier Familien mit vier Kindern untergebracht. (dpa) Spahn fordert entschlossenes Handel im Fall Tönnies 7.55 Uhr: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU, hat ein entschlossenes Handeln zur Eindämmung des Virus-Ausbruchs beim Fleischfabrikanten Tönnies gefordert. Zugleich warnte er vor einem Übergreifen auf ganz Deutschland: „Jetzt gilt es, jeden regionalen Ausbruch umgehend einzudämmen und die Infektionsketten zu unterbrechen“, sagte Spahn der Rheinischen Post. „Nur mit entschlossenem Handeln vor Ort in Ostwestfalen kann ein Übergreifen auf ganz Deutschland verhindert werden“, sagte Spahn. Nach dem massiven Corona-Ausbruch bleibt die Großschlachterei Tönnies im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück geschlossen. Bis Sonntagnachmittag wurden nach Behördenangaben rund 1.330 Beschäftige vor allem aus Osteuropa positiv auf das Coronavirus getestet. Die Landesregierung unter Armin Laschet, CDU, entschied sich am Sonntag aber gegen einen Lockdown und damit das massive Runterfahren des öffentlichen Lebens für die ganze Region. (epd) Zwei neue Coronavirus-Fälle in Neuseeland 6.59 Uhr: Neuseeland hat zwei weitere Coronavirus-Fälle registriert. Damit hat das Land nun neun aktive Fälle, nachdem es zu Beginn des Monats noch frei von aktiven Fällen war. Alle diese Fälle beträfen Menschen, die kürzlich angekommen und nun in Quarantäne seien, und es gebe keine Nachweise von Übertragungen in der Gemeinde, sagten Gesundheitsexperten am Montag. Die jüngsten Fälle betreffen demnach Menschen, die aus Indien und Pakistan wiederkamen. (dpa) Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben RKI meldet 537 Neuinfektionen in Deutschland 5.33 Uhr: In Deutschland ist die Zahl der Corona-Infizierten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts binnen eines Tages um 537 auf 190.359 gestiegen. Drei weitere Todesfälle sind im Zusammenhang mit Covid-19 verzeichnet. Die Zahl der Toten beläuft sich demnach auf 8.882. (rtr) Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Zahl der Neuinfektionen in Peking nimmt ab Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben 4.33: Die nationale Gesundheitskommission in China meldet binnen 24 Stunden 18 neue bestätigte Coronavirus-Fälle, neun davon in Peking. Tags zuvor waren 26 Fälle aufgetreten, darunter 22 in der Hauptstadt. Nach offiziellen Angaben sind sieben weitere asymptomatische Fälle verzeichnet, die in China nicht zu den bestätigten Fällen zählen, da die Infizierten keinerlei Symptome zeigen. (rtr) Spahn: Neustrukturierung der Krankenhäuser notwendig 2.02 Uhr: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU, will mit einer umfassenden Aufarbeitung der Corona-Politik und einem Umbau der Krankenhauslandschaft Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen. „Ich hielte es für eine gute Idee, wenn der Gesundheitsausschuss zusammen mit ausgewiesenen Experten eine große Evaluation erarbeitet, aus der wir für die nächste vergleichbare Situation lernen können“, sagt Spahn in einem Interview der Partnerzeitungen der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollten nicht nur aufgeschrieben, sondern auch zügig umgesetzt werden. Dabei sieht er die Notwendigkeit von Restrukturierungen der Krankenhauslandschaft. Die hohe Zahl an Intensivbetten habe sich zwar bewährt, aber die Coronakrise habe auch gezeigt, „dass wir gute Konzepte für regionale Versorgung brauchen, gerade bei den Krankenhäusern“. (rtr) Belarussische Soldaten bereiten sich auf die Desinfektion eines Krankenhauses vor Foto: Sergei Grits/dpa WHO meldet mehr Neuinfektionen als je zuvor 1.05 Uhr: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldet einen Rekordanstieg bei den weltweiten Coronavirus-Fällen. Die Gesamtzahl der Neuinfektionen steigt nach offiziellen Daten innerhalb eines Tages um 183.020. Laut dem täglichen Bericht der WHO meldet Nord- und Südamerika mit über 116.000 den größten Teil der Neuinfektionen. Weltweit sind nach Angaben der WHO mehr als 8,7 Millionen Menschen an dem Virus erkrankt und mehr als 461.000 an den Folgen von Covid-19 gestorben. Bislang war am 18. Juni mit 181.232 Fällen der größte Anstieg seit dem Ausbruch des Virus verzeichnet worden. (rtr) Mehr als eine Million Infektionen in Brasilien 0.38 Uhr: Brasilien verzeichnet nach offiziellen Angaben im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus mehr als eine Million Fälle und mehr als 50.000 Todesopfer. Die Zahl der Toten ist nach Angaben des Gesundheitsministeriums binnen 24 Stunden um 641 auf 50.617 gestiegen. Weitere 17.459 Infektionen lassen die Gesamtzahl der bestätigten Fälle auf 1.085.038 klettern. Brasilien verzeichnet nach den USA weltweit die meisten Corona-Infektionen und Todesfälle infolge der Atemwegserkrankung Covid-19. Gesundheitsexperten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer mangels breiter Testmöglichkeiten weitaus höher liegen könnte. (rtr) Zahl der Neuinfektionen in USA bleibt hoch 0.00 Uhr: Die Zahl der Neuinfektionen in den USA liegt weiter auf dem höchsten Niveau seit Wochen. Nach Angaben der Seuchenschutz-Behörde CDC klettert die Zahl der Infizierten zuletzt um 32.411 auf knapp 2,25 Millionen. Schon am Samstag hatte sie bei rund 32.000 gelegen, nachdem sie seit Mitte Mai teils deutlich unter diesem Wert gelegen hatte. Die Zahl der neuen Virus-Toten lag mit 560 indes erneut etwas niedriger als an den Vortagen. Insgesamt sind bislang nach amtlichen Angaben 119.615 Menschen in den USA an Covid-19 gestorben. (rtr) Hier finden Sie die Live-Ticker der vergangenen Tage. Alle Texte der taz zum Thema finden sich in unserem Schwerpunkt Coronavirus.
taz. die tageszeitung
EU-Komissionschefin will bei Geberkonferenz mit Stars Spenden für Impfstoff sammeln. Zweite Welle trifft Südkorea. Nachrichten zum Coronavirus im Live-Ticker.
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Einigung zwischen VW und Prevent: Die Zulieferer liefern wieder zu - taz.de
Einigung zwischen VW und Prevent: Die Zulieferer liefern wieder zu Die Produktion kann wieder anlaufen, die beiden Firmen aus Sachsen haben sich mit VW geeinigt. Auf Schadenersatzansprüche wird verzichtet. Carport mal anders: So präsentiert VW in Wolfsburg seine Produkte Foto: dpa HAMBURG afp/rtr | Volkswagen kann seine Produktion wieder hochfahren: Nach einem tagelangen Lieferstopp wichtiger Bauteile konnte sich der Autokonzern am Dienstag mit den beiden Zulieferern einigen. Die Belieferung werde „kurzfristig“ aufgenommen, teilten beide Seiten mit. Der VW-Betriebsrat äußerte sich erfreut. Die Einigung erfolgte nach stundenlangen, teils nächtlichen Verhandlungen. Zu Details äußerten sich beide Seiten offiziell nicht. „Über die Inhalte der Einigung wurde Stillschweigen vereinbart“, hieß es in der gemeinsamen kurzen Mitteilung von Volkswagen und den beiden zur Prevent-Firmengruppe gehörenden Zulieferunternehmen CarTrim und ES Automobilguss aus Sachsen. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung (SZ) allerdings musste der Konzern den Lieferfirmen Zugeständnisse machen und unter anderem die Kündigung einer umfangreichen Kooperation teilweise zurücknehmen. Diese Kündigung hatte den nun beendeten Lieferstopp ausgelöst. Volkswagen und Prevent verzichten demnach außerdem gegenseitig auf Schadenersatzansprüche. Zudem bleiben dem Bericht zufolge die beiden Firmen der Unternehmensgruppe Prevent, die VW bestreikten, bei dem Autokonzern weitere mindestens sechs Jahre lang im Geschäft. Ein Konzernsprecher wollte den Bericht der Zeitung nicht kommentieren und verwies auf das vereinbarte Stillschweigen. Forderungen von 58 Millionen Euro Wegen der gestoppten Lieferung von Getriebeteilen und Sitzbezügen hatte Volkswagen in den vergangenen Tagen damit begonnen, die Produktion in mehreren Werken zu drosseln und für die Beschäftigten „Flexibilisierungsmaßnahmen bis hin zu Kurzarbeit“ einzuführen. Bis zu 28.000 VW-Mitarbeiter wären bei Andauern des Streits betroffen gewesen. Die beiden Zulieferfirmen begründeten den Lieferstopp mit einer angeblichen Weigerung von VW, Schadenersatzzahlungen für einem gestrichenen Auftrag zu bezahlen. Nach einem Pressebericht sollte es um Forderungen in Höhe von rund 58 Millionen Euro gehen. Der SZ zufolge zahlen VW und Porsche nun einen Ausgleich von 13 Millionen Euro. Das Landgericht Braunschweig hatte VW in einem Eilverfahren Recht gegeben und ein Ende des Lieferstopps angeordnet, was die unterlegene Seite zunächst allerdings ignoriert hatte. Ein Sprecher des VW-Gesamtbetriebsrats begrüßte den Durchbruch. „Die Kolleginnen und Kollegen hatten kein Verständnis dafür, dass sie wegen des einseitig verhängten Lieferstopps nicht mehr an ihre Arbeitsplätze gehen konnten“, erklärte er. Auch Niedersachsens Ministerpräsident und Volkswagen-Aufsichtsratsmitglied Stephan Weil (SPD) äußerte sich erleichtert – übte aber Kritik am Verhalten der Zulieferer. „Es bleibt bei mir ein Unbehagen über das Vorgehen der Prevent Group, die nicht bereit war, den in unserem Rechtsstaat vorgesehenen Weg einer Klärung vor den Gerichten zu gehen. Sie hat stattdessen einen Großkonflikt mit beträchtlichen Schäden eröffnet.“ Veränderungen in der Eigentümerstruktur In den Werken in Emden, Wolfsburg, Zwickau sowie Braunschweig hatte VW die Arbeitszeit in Teilen der Fertigung in den vergangenen Tagen bereits reduziert. In Kassel und Salzgitter sollten die Drosselungen am Mittwoch und Donnerstag beginnen. Der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer führte die Eskalation des Streits auf massive Veränderungen in der Eigentümerstruktur der klassischen Zulieferindustrie zurück. Er rief die Autobauer auf, sich bei ihrer Einkaufsstrategie darauf einzustellen. Private Finanzinvestoren kauften gezielt schwächere und teilweise marode Zulieferbetriebe auf, um Zulieferernetzwerke zu bilden und so Druck auszuüben, erklärte er. Derweil geht nach der Einigung in Deutschland der Streit mit der Prevent-Gruppe in Brasilien weiter. Die dortige Tochter des Autobauers erklärte am Dienstag, der seit Monaten anhaltende Konflikt werde vor Gericht geklärt werden müssen. Seit März 2015 sei die Fertigung von etwa 130.000 Fahrzeugen in drei Werken ausgefallen.
taz. die tageszeitung
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Crashkurs in Kapitalismuskritik - taz.de
Crashkurs in Kapitalismuskritik Anja Gronau heftet sich an Rosa Luxemburgs Denken im Theater unter Dach Rosa ist in. Die Grips-Theater-Belegschaft singt sich seit einigen Wochen mit gebotenem Revolutionspathos durch die Lebensstationen der Luxemburg. Jetzt setzt die Regisseurin Anja Gronau im Theater unterm Dach nach. Hier allerdings singt Rosa nicht, sondern erklärt uns die Wirtschafts- und Finanzkrise – und zwar gleich in dreifacher Gestalt. „Der Kredit“, doziert Rosa Nummer eins, „bietet nicht nur das technische Mittel, einem Kapitalisten die Verfügung über fremde Kapitale in die Hand zu geben, sondern bildet für ihn zugleich den Ansporn zu einer kühnen und rücksichtslosen Verwendung des fremden Eigentums, also zu waghalsigen Spekulationen.“ Rosa Nummer zwei ist begeistert: „Das ist toll! Der Artikel ist gut!“ – „Leipziger Volkszeitung, 1899“, klärt die erste Rosa auf. Und die dritte glaubt zu wissen: „Gerade jetzt erwacht das Bewusstsein der Massen.“ Tatsächlich spart Anja Gronau biografische Details fast vollständig aus und setzt ganz auf die Theoretikerin. Gemäß dem Titel „Rosa – ich war, ich bin, ich werde sein“, der hölzerner und (revolutions-)kitschiger klingt, als der Abend tatsächlich ist, versucht sie sich dabei an großen Brückenschlägen. Ihre drei Schauspielerinnen Katharina Eckerfeld, Renate Regel und Martina Schiesser stehen auch für eine Art potenzielle Rosa im Wandel der Zeiten. So lässt sich in die Utopie-Debatte von gestern auch gleich noch prächtig die Abwinkgeneration von heute hereinholen und dem Naivitätsvorwurf entgehen: „Wer will denn so was hören? Das interessiert doch keine Sau!“ Rosa dreifach also: Während die optisch am ehesten am Vorbild orientierte Denkerin im leicht anhistorisierten Damenkostüm ihre Einsichten vorzugsweise in eine klapprige Schreibmaschine hackt, lümmelt sich ihre eher romantisch veranlagte Kollegin in der Arbeiterjacke gern mal auf eine der weißen Bänke, die Mi Ander wie Stege auf die Bühne gebaut hat. Die dritte Rosa, mit Markenbewusstsein und sehr heutigen Gucci- und Givenchy-Aufschriften auf dem T-Shirt, nutzt diese Stege lieber als Podeste zur wirkungssicheren Agitation. Was den Tenor des achtzigminütigen Abends betrifft, sind sich die Rosas jedoch einig: „Hallo! Merkt hier noch jemand was? Gibt es hier noch denkende Menschen oder nur noch Konsumenten?“ Kurzum: Gronau hat – Marx’ „Kapital“ ist zurzeit schließlich auch ein Renner – auf Basis der Luxemburg’schen Theoreme einen kapitalismuskritischen Abend geschaffen, der gut zu den tagesaktuellen Nachrichten passt, faktisch nicht anfechtbar ist und viel erzählt, was man schon weiß. Die schreibende Rosa beziffert noch einmal das Vermögen des älteren Aldi-Bruders Karl Albrecht (21.661.862.735 Euro) sowie den Brutto-Stundenlohn einer Lebensmittel-Discounter-Kassiererin (7 Euro). Die Markenbewuss- te beklagt anhand ihres funktionsuntüchtigen Staubsaugers unlautere Maßnahmen zur Nachfragesteigerung. Und die Romantische bricht das System auf Kindergarten-Niveau herunter. Aus dieser ironischen Rahmenkonstruktion fallen die hehren Weltverbesserungsvorschläge am Ende laut und deutlich heraus: „Eine Welt ohne Ungerechtigkeit und Angst und Unterdrückung – hey! Eine Welt ohne Legebatterien – hey!“, intonieren die Rosas auf Peter Fox’ Song „Hey, wenn’s dir nicht gefällt, mach neu!“ Für Gronau selbst ist dieser Abend der Abschluss einer „Trilogie der starken Frauen“, die in ähnlicher Methodik bereits Leni Riefenstahl und Frida Kahlo beleuchtet hatte. Ihr Verfahren, tatsächlich zum Kern einer Person oder Denkungsart vorzudringen statt biografische Stationen abzuhaken, ist dabei so dankenswert analytisch wie arbeitsaufwändig. Im Falle von „Rosa“ allerdings ließ sich die Regisseurin zu einer Art Kapitalismusanalyse-Crashkurs für Einsteiger verführen. Wer sich aber ein Rosa-Luxemburg-Stück für den Abend aussucht, gehört in der Regel zu den Fortgeschrittenen. CHRISTINE WAHL 14. + 15. März, 20 Uhr, Theater unterm Dach, weitere Spieldaten im Theater Unterm Dach, Danziger Str. 101
CHRISTINE WAHL
Anja Gronau heftet sich an Rosa Luxemburgs Denken im Theater unter Dach
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Volk ohne Parkplatz - taz.de
Volk ohne Parkplatz ■ Das Parkraumkonzept greift nur, wenn man Falschparkern an den Kragen geht / Die entscheidende Frage lautet: Wie? / Innensenator gibt privaten Politessen keine Chance / Rechtsänderung erforderlich Das von den Koalitionsparteien CDU und SPD beschlossene Parkraumkonzept für die Innenstadt hängt weiterhin in der Luft. Bis heute haben es die Experten von Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) nicht geschafft, schlüssig darzulegen, wie die neuen Regelungen überwacht werden sollen. In einer Konzeptvorlage, die bald den anderen betroffenen Verwaltungen zur Mitzeichnung zugehe, würden nicht mehr als Alternativen dargestellt, erklärte Haase- Sprecher Tomas Spahn. Den Fachleuten in der Verkehrsverwaltung ist klar: Die angestrebte rigide „Parkraumbewirtschaftung“ kann nur funktionieren, wenn es den Falschparkern konsequent an den Kragen geht. In der Stadtmitte und West-City will Haase neun verschiedene Gebiete abgrenzen, in denen Anwohner mit einer entsprechenden Vignette kostenlos ihr Auto abstellen dürfen. Den Plänen zufolge wird es in den beiden Stadtzentren ansonsten ausschließlich gebührenpflichtige Stellplätze geben. Im Gespräch sind Gebühren von drei oder vier Mark pro Stunde sowie eine Begrenzung der Parkzeit auf maximal drei Stunden. Hauptsächlich soll damit die Zahl der Langzeitparker reduziert werden. Das Dilemma: Die in der Innenstadt eingesetzten Politessen kapitulieren schon heute vor den Blechlawinen. Zur flächendeckenden Jagd auf Verkehrssünder wären 170 Polizei-Damen zusätzlich erforderlich, rechneten die Spezis im Hause Haases aus. Gleichwohl sieht die Innenverwaltung bislang nur vor, die Zahl der Politessen von derzeit 148 zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt auf 160 aufzustocken. Ob es darüber hinaus noch weitere Politessen gibt, will die Verwaltung erst entscheiden, wenn ihr das überfällige Parkraumkonzept zugegangen ist. Eine Übertragung der Knöllchenverteilung an private Firmen hält die Innenverwaltung zum jetzigen Zeitpunkt für unmöglich. Eine bundeseinheitliche Rechtsregelung fehlt, sagte der Sprecher des Innensenators, Norbert Schmidt. Nur bundesdeutsche Gemeinden und Kommunen könnten als Straßenverkehrsbehörde Honorarkräfte auf die Straße schicken. In den Stadtstaaten hingegen verbiete dies das Ordnungsrecht. Private Trupps zur Verkehrsüberwachung leisten mehr und sind billiger, meinen der CDU-Abgeordnete Giesel sowie die „AG City“, ein Zusammenschluß von Geschäftsleuten. Inzwischen beurteilt nach den Worten von Tomas Spahn auch die Verkehrsverwaltung aus juristischer Sicht die Privatisierungsidee „sehr skeptisch“. Spahn: „Unser Hausjurist sagt, daß man private Parkwächter nicht in irgendeiner Form finanzieren darf. Böse Zungen könnten dann sagen, hier wird Denunziation staatlich gefördert.“ Bleibt der Zugriff auf freigesetzte BVG-Beschäftigte oder Zivilangestellte der West-Alliierten. Bei diesem Personenkreis sei immerhin schon „eine gewisse staatliche Anbindung“ gegeben. Noch nicht intensiv diskutiert worden ist nach Aussage von Spahn ein dritter Vorschlag: Nach dem Gasag- Modell könnte man eine landeseigene Gesellschaft gründen, die sich zu einem gewissen Prozentsatz aus den Parkgebühren finanziert. Thomas Knauf
thomas knauf
■ Das Parkraumkonzept greift nur, wenn man Falschparkern an den Kragen geht / Die entscheidende Frage lautet: Wie? / Innensenator gibt privaten Politessen keine Chance / Rechtsänderung erforderlich
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Nigerias steigende Preise: Es fehlt die Kraft zum Protestieren - taz.de
Nigerias steigende Preise: Es fehlt die Kraft zum Protestieren Verdreifachte Benzinpreise, mehr Armut: In Nigeria waren die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Nachbarländern stets hoch. Nun haben sie erneut zugelegt. Folgen der hohen Preise: Gemüseanbau in Lagos unter einer Autobahnbrücke Foto: Katrin Gänsler LAGOS taz | Ein Mann läuft in weißem T-Shirt, abgetragenen Jeans und schwarzen Badelatschen zügig durch die Straßen von Oworonshoki. Plötzlich bleibt er stehen, stellt sich als Alfred vor und brüllt: „Willkommen in Nigeria! Es ist ein verrücktes Land. Nirgendwo auf der Welt ist Benzin so teuer wie hier!“ Um ihn herum in dem Stadtviertel an der Lagune von Lagos schmunzeln Pas­san­t:in­nen über seinen unvermittelten Wutausbruch. Der hagere Mann spricht aus, was Millionen Menschen in Nigerias Megastadt Lagos täglich erleben. Seit Ende der Benzinsubventionen Ende Juni haben sich die Preise an Nigerias Zapfsäulen verdreifacht. Ein Liter kostet jetzt bis zu 617 Naira, umgerechnet 0,70 Euro – nicht der höchste Benzinpreis der Welt, aber der höchste in Nigerias Geschichte und sehr viel für ein Ölförderland, wo das traditionell sehr billig war. Die Lebenshaltungskosten in Nigeria sind im Vergleich zu den Nachbarländern stets hoch gewesen. In Lagos war es einst üblich, am Wochenende ins Nachbarland Benin, mitunter sogar bis ins 220 Kilometer entfernte Togo zu fahren, um dort Obst, Gemüse und Getreide einzukaufen. Nur Benzin blieb günstig. Als vor elf Jahren Nigerias damaliger Präsident Goodluck Jonathan die Benzinpreise von 65 auf 150 Naira mehr als verdoppeln wollte, legten Gewerkschaften und Zivilgesellschaft das Land mit einem nie dagewesenen Generalstreik lahm. Der subventionierte Preis wurde schließlich auf 97 Naira festgelegt, immer noch sehr günstig. Jetzt fällt tatsächlich mit dem Ende der Subvention ein Relikt aus den 1970er Jahren weg, als Nigeria zur Ölgroßmacht aufstieg und eines der wohlhabendsten Länder Afrikas war. Nicht mal zwei Brote für 1.000 Naira Die Straßen von Lagos, wo rund 20 Millionen Menschen leben, sind nun selbst in der Stoßzeit am späten Nachmittag ungewohnt leer. Das gilt auch für die Tankstellen, vor denen sich vor allem in Zeiten von Benzinknappheit – Nigeria importiert sein Benzin, weil die eigenen Ölraffinerien nicht funktionieren – manchmal Hunderte Meter lange Schlangen bildeten. Es will niemand mehr tanken: zu teuer. Sebastian Okeke ist Taxifahrer, der seine Kundschaft über die App Bolt findet. „Die Preise sind so hoch, dass viele Menschen lieber zu Hause bleiben. Ich brauche viel Geld, um überhaupt tanken zu fahren.“ Zwar sind die Fahrpreise ebenfalls gestiegen, aber das decke die zusätzlichen Kosten nicht. „Alle klagen, dass es so teuer geworden ist.“ Die Zahl der Menschen in Armut steigt. Nach Angaben der Zentralbank CBN liegt Nigerias Inflation bei knapp 23 Prozent. Der staatliche Mindestlohn ist aber seit Jahren mit 30.000 Naira unverändert – das sind heute, nach einem deutlichen Verfall der Landeswährung, gerade noch 34 Euro. Das Gehalt eines staatlichen Grundschullehrers ist nur wenig höher, Putzfrauen und Fahrer verdienen vielleicht das Doppelte. Mit 1.000 Naira kann man nicht einmal mehr zwei Brote kaufen; sechs bis sieben Tomaten kosten aktuell 500 Naira, umgerechnet 0,57 Euro. Gemüse, Obst und Getreide werden mitunter Hunderte Kilometer entfernt angebaut, der Weg nach Lagos ist lang und teuer. Adedoyin Aganlekoko ist 54 Jahre alt und hat fünf Kinder, aber keinen Mann mehr. „Ich bin Witwe und kämpfe jeden Tag, damit ich Lebensmittel und Schulgebühren zahlen kann“, erzählt sie. Wenn sie irgendwo hin muss, geht sie zu Fuß, um jeden Naira zu sparen. Gemeinsam mit einer Gruppe von Frauen hat sie in Oworonshoki begonnen, unter einer Stadtautobahnbrücke Tomaten, Kurkuma, Wassermelonen und Chili anzubauen. Das geschieht in Plastiksäcken, um die Bewässerung einfach zu halten. Erfahrung im Gemüseanbau hat keine von ihnen. Alle eint die Hoffnung, mittelfristig weniger für Lebensmittel auszugeben. Sie haben zusammengelegt, um Gießkannen, Saatgut und Säcke zu kaufen. „Die Regierung unterstützt uns doch nicht. Wir müssen selbst etwas tun.“ Den Staat entlasten Das Ende der Subvention beschloss Nigerias Parlament schon lange vor den Wahlen im Februar. Es soll damit der Staatshaushalt entlastet werden. Nach Angaben der staatlichen Ölgesellschaft NNPC vom Januar gab die Regierung 2022 9,7 Milliarden US-Dollar für Benzinsubventionen aus. Kurz darauf prognostizierte Finanzministerin Zainab Ahmed, dass für die erste Jahreshälfte 2023 7,5 Milliarden US-Dollar nötig seien. Das Geld soll nun anderweitig genutzt werden. Mitte Juli wurde allerdings bekannt, dass im Nachtragshaushalt umgerechnet knapp 80 Millionen Euro für neu gewählte Abgeordnete veranschlagt sind, um ihre Büros auszustatten. Das Büro von Raymond Anoliefo liegt im Stadtteil Yaba mitten in Lagos. Er ist Leiter des Caritas-Komitees für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden in der Erzdiözese Lagos sowie Priester einer katholischen Kirchengemeinde. Täglich kommen Menschen zu ihm, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können und kaum noch Geld für Lebensmittel haben. Raymond Anoliefo kritisiert: Es gibt keine Kompensation für die gestiegenen Benzinpreise Foto: Katrin Gänsler Vor der Wahl im Februar, so Anoliefo, hätten sich alle drei landesweit bekannten Spitzenkandidaten für das Ende der Subventionen ausgesprochen. „Trotzdem fehlt es an Programmen, um diese zu kompensieren.“ Auch im Wahlkampf hätten Wäh­le­r:in­nen verstärkt danach fragen müssen. Präsident Bola Tinubu hat mittlerweile Farmern zugesagt, sie mit Düngemitteln und Getreide zu unterstützen. Was im Land angebaut wird, reicht aber ohnehin nicht für Nigerias 220 Millionen Einwohner:innen. Nach Angaben des NBS wurden vergangenes Jahr Lebensmittel für umgerechnet knapp 2,2 Milliarden Euro importiert. Ausgerechnet jetzt erlebt der Naira ein Rekordtief. Lag der Wechselkurs bei seiner Einführung im Jahr 1973 zeitweilig bei 2:1 zum US-Dollar, sind es aktuell 792:1; ein Euro ist 875 Naira wert. Das hängt auch mit der Suspendierung des Zentralbankchefs Godwin Emefiele zusammen. Lange soll der Naira-Wert künstlich in die Höhe getrieben worden sein. Der Industrieverband MAN warnte schon vor Wochen vor Problemen: Die Einfuhr von Baumaterialien etwa verteuere sich. Proteste gegen die Preisexplosion sind, anders als früher, ausgeblieben. Für Proteste reicht die Energie der Leute nicht mehr. Doch könnte sich künftig die Sicherheitslage weiter verschlechtern und es zu mehr Einbrüchen und Überfällen kommen, befürchtet in Yaba der katholische Priester Raymond Anoliefo. „Die Reichen sind durch Mauern und Zäune geschützt oder können ins Ausland gehen. Nicht aber jene, die selbst nicht viel haben.“
Katrin Gänsler
Verdreifachte Benzinpreise, mehr Armut: In Nigeria waren die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Nachbarländern stets hoch. Nun haben sie erneut zugelegt.
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Islamkritik: Die andere Freiheit - taz.de
Islamkritik: Die andere Freiheit Rücksichtnahme auf religiöse Empfindlichkeit ist keine Selbstzensur und Macrons Variante von Laizismus kein universeller Wert. Plakate mit „Mohammed“-Herzen beim Protest gegen Macron in Pakistan Foto: K.M. Chaudary Lange bevor Prophetenkarikaturen ein globales Thema wurden, hörte ich mir in Malaysia die Freitagsansprache eines Predigers an, dessen Scharfzüngigkeit gerühmt wurde. Es war Ramadan und ich bat meine Dolmetscherin, mir aus dem Malaiischen nur politische Aussagen zu übersetzen. Lange sagt sie nichts. Ich wurde ungeduldig: Wovon spricht er denn? Sie antwortete: Wie der Prophet duftete. Nach einer Weile fragte ich erneut: Und jetzt? Sie sagte: Wie gepflegt sein Bart war. Und beim dritten Versuch: Wie zart seine Haut war. Vielleicht ist die Liebe zu Mohammed, sogar seine Körperlichkeit umfassend, eine Möglichkeit, dem transzendenten, fernen, nicht abbildbaren Gott des Islams ein wenig näher zu kommen. Jedenfalls ist dieses ganz besondere Verhältnis eine Voraussetzung dafür, dass die Herabsetzung des Propheten von vielen Muslimen – nicht von allen – als Stich ins eigene Herz empfunden wird. An Religionen wirkt vieles bizarr – umso mehr an einer, in die man selbst nicht von Kind an hineingewachsen ist. Die Frage ist vielmehr, ob das eigene Nichtverstehen ausgehalten wird. In Deutschland, wo bald 40 Prozent konfessionslos sind, hat sich eher das Dogma durchgesetzt, alles müsse in medialer Kürze verständlich sein und für Unverstandenes brauche die Mühe der Toleranz eigentlich nicht aufgebracht zu werden. Nein, ich verkehre hier nicht die Fronten; niemand muss mich über Terror aufklären. Aber ich definiere Freiheit anders als Emmanuel Macron. Zurückhaltung und Respekt für die Sensibilität anderer ist weder ein Einknicken vor Islamismus noch Selbstzensur. Seit vor anderthalb Jahrzehnten eine dänische Zeitung den jüngeren Reigen der Mohammedkarikaturen eröffnete, hat diese Auseinandersetzung nichts Gutes hervorgebracht, nur vermehrten Hass. Ist etwas deshalb wertvoll, weil es angegriffen wird? Die sexualisierte Häme, wie sie im Stil von Charlie Hebdo gepflegt wird, berührt mich unangenehm. Die Ermordung der Zeichner war entsetzlich, so wie jüngst die von Samuel Paty. Aber ist es deswegen untersagt, für den Verzicht auf diese Art von Karikaturen zu plädieren? Tagtäglich wird vieles nicht kritisiert, nicht verspottet, aus Rücksicht auf die Interessen anderer, oft die von Mächtigen. Und wenn die Verletzung religiöser Gefühle ein Lackmustest auf die Meinungsfreiheit ist, wo sind dann vor Weihnachten die gehässigen Karikaturen der Jungfrau Maria? Tatsächlich wird die Freiheit des Spotts unterschiedlich dosiert. Frauenfeindliche Karikaturen sind seltener geworden, weil viele sie nicht mehr als Meinungsfreiheit, sondern als Diskriminierung empfinden. Beim Thema Antisemitismus bleibt hingegen, wie der Fall Lisa Eckhart zeigt, hoch umstritten, was Satire ist und was sie darf. Im antirassistischen Milieu, sonst sensibel gegenüber Beleidigungen, wird kaum über eine fortschrittliche Haltung gegenüber religiösen Schmähungen debattiert. Wenn wir es falsch finden, die Verwendung des N-Wortes mit Redefreiheit zu legitimieren, sollten uns anders gelagerte Verletzungen nicht gleichgültig lassen. Von links werden Muslime gern abstrakt umarmt, soweit sie als Opfer von antimuslimischem Rassismus gelten können, doch mit ihrer Religiosität will man lieber nichts zu tun haben. Tätergemeinschaft? Die überwiegende Zahl der Opfer von islamistischem Terror sind Muslime, meistens Nichtweiße. Was in Europa geschieht, ist ein sehr kleiner Ausschnitt des weltweiten Terrorgeschehens. Dennoch bilden Muslime aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft stets eine Tätergemeinschaft, nie eine Opfergemeinschaft. Als parallel zu dem Anschlag in Wien die Universität Kabul angegriffen wurde, ging niemand zu den österreichischen Muslimen, um zu kondolieren. Gewiss, nahes Leid berührt mehr als fernes. Aber das allein ist es nicht. Was ein Menschenleben wiegt, bemisst sich weiter nach kolonial geprägten Maßstäben; außereuropäische Tote zählen weniger. Ihre Missachtung hat gerade der War on Terror erhärtet: Unschuldige für einen höheren Zweck zu töten wurde unausgesprochen legitim. In einem seltenen Fall von Ahndung wird nun eine australische Eliteeinheit der Kriegsverbrechen in Afghanistan angeklagt. Nach einer verbreiteten Annahme sind Attentate in Westeuropa ein „Angriff auf Werte“, während der Terror in muslimischen Ländern einfach nur eine beliebige Zahl von Menschen umbringt. Die Studenten und Dozenten von Kabul waren indes kein beliebiges Ziel. Sie starben bei einem Angriff auf säkulare Bildung, auf Wissenschaft. Oder können nur weiße Karikaturisten und ein weißer Lehrer einen überpersönlichen gesellschaftlichen Wert verkörpern? Politischer Missbrauch Sechs Wochen nach dem Tod von Samuel Paty, der als Individuum meine größte Achtung hat, ist deutlich geworden, wie sehr dieser Hingerichtete politisch missbraucht wurde. Er diente der französischen Regierung nach den Worten von Amnesty International dazu, ihren eigenen Angriff auf die Meinungsfreiheit zu starten, mit Sicherheitsgesetzen und Verboten. Halal-Food im Supermarkt steht nun ebenso im Verdacht, den vielzitierten Nährboden für Extremismus zu bereiten, wie Kritik am Kolonialismus. Ein rechtsnationaler Antiislamismus, im Wettstreit mit Marine Le Pen. Aber da ist noch etwas anderes: europäische Selbstüberschätzung. Glaubt Macron wirklich, er könne die Welt auf das französische Verständnis von Laizismus und die französische Wertschätzung von Blasphemie verpflichten? In die Erregung der vergangenen Wochen fiel maulid, der Geburtstag des Propheten, ein Fest, das radikale Muslime ablehnen und friedliebende, besonders Sufis, mit großer Hingabe feiern. In Mali war zu sehen, wie Tausende von ihnen ihre Entrüstung über Macron zum Ausdruck brachten. Das weiße Europa hat noch die Macht zu provozieren, doch längst nicht mehr das Vermögen zu überzeugen.
Charlotte Wiedemann
Rücksichtnahme auf religiöse Empfindlichkeit ist keine Selbstzensur und Macrons Variante von Laizismus kein universeller Wert.
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NPD-Parteitag stimmt gegen neuen Namen: Alles beim Alten - taz.de
NPD-Parteitag stimmt gegen neuen Namen: Alles beim Alten Die NPD wollte sich wegen Dauerkrise in „Die Heimat“ umbenennen. Aber ein Parteitag verhindert die nötige Mehrheit. Der Parteichef ist verbittert. Erstmal keine neuen Shirts: ein NPD-Anhänger auf einem Aufmarsch am 1. Mai in Dortmund Foto: Björn Kietzmann BERLIN taz | Es sollte ein vielleicht letzter Rettungsversuch sein: Nach Jahren der Dauerkrise wollte sich die NPD am Wochenende auf einem Parteitag im hessischen Altenstadt umbenennen. Der Parteivorstand schlug als neuen Namen „Die Heimat“ vor. Aber die Delegierten verweigerten knapp die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit. NPD-Chef Frank Franz hatte im Vorfeld von „dem vielleicht wichtigsten Parteitag, den die NPD je erlebt hat“ gesprochen. „Es geht um die Frage, ob unsere Partei bereit ist, das Notwendige zu tun, um ihr eine Zukunftsperspektive zu geben.“ Tatsächlich befindet sich die NPD seit Jahren im Niedergang. Bei jüngsten Wahlen spielte sie keine Rolle mehr, bei der Bundestagswahl reichte es gerade noch zu 0,1 Prozent. Ihre Mitgliederzahl sinkt beständig, finanziell steht die NPD vor dem Ruin. Franz und andere Parteivorstände hatten deshalb für eine Umbenennung plädiert. Es brauche einen „neuen, frischen Namen“, der die Leute nicht mehr abschrecke, erklärte Franz. In einem Antrag wurde dafür „Die Heimat“ vorgeschlagen. Den Deutschen wurde „der Nationalismus systematisch ausgetrieben“, hieß es in einer Erklärung. „Was aber Millionen Menschen in Deutschland eint, ist die Suche nach Heimat.“ Vielerorts gebe es einen „ausgeprägten Lokalpatriotismus“. Die Partei solle daran anknüpfen und künftig „Netzwerker und Dienstleister des patriotischen Protests“ sein, wo immer dieser auftauche. NPD-Chef spricht von „bitterem Ergebnis“ Die Delegierten in Altenstadt zogen allerdings nicht mit: Laut Franz fehlten am Ende drei Stimmen für eine nötige Zwei-Drittel-Mehrheit. „Das ist ein bitteres Ergebnis“, sagte Franz am Sonntag der taz. „Die Umbenennung wäre ein Aufbruchsignal gewesen, das wir jetzt nicht aussenden können.“ Einige Traditionalisten in der Partei hingen offensichtlich doch sehr an dem Namen, räumte Franz ein. Der 43-Jährige kündigte aber auf Twitter an, die „Umgestaltung“ seiner Partei dennoch umzusetzen. „Kein wesentlicher Verband wird noch unter dem alten Kürzel antreten.“ Trotz des Parteitagsbeschlusses könnten Kandierende seiner Partei bei Wahlen künftig unter dem Namen „Die Heimat“ antreten, sagte Franz der taz. „Das werden wir niemanden verbieten.“ Franz wurde auch zum Parteichef wiedergewählt, er amtiert bereits seit 2014. Sein Gegenkandidat Lennart Schwarzbach, NPD-Chef in Hamburg, erhielt nur halb so viele Stimmen – er hatte sich gegen die Umbenennung ausgesprochen. Als Stellvertreter wurden der frühere Vorsitzende Udo Voigt und die langjährigen Kader Thorsten Heise und Sebastian Schmidtke gewählt. Die Parteijugend drohte mit Abspaltung Die abgelehnte Namensänderung dürfte die Krise der NPD weiter verschärfen. So hatte die Parteijugend „weitreichende personelle Wechsel“ und eine Umbenennung gefordert – andernfalls werde man sich von der Mutterpartei trennen. Sollte eine grundsätzliche Neuaufstellung in nächster Zeit scheitern, müsse man auch über eine Auflösung der Partei reden. Franz sagte am Sonntag, man befinde sich mit der Parteijugend in Gesprächen. „Sie wird nicht von der Fahne gehen.“
Konrad Litschko
Die NPD wollte sich wegen Dauerkrise in „Die Heimat“ umbenennen. Aber ein Parteitag verhindert die nötige Mehrheit. Der Parteichef ist verbittert.
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SPD-Kandidat zur Schleswig-Holstein-Wahl: "Rechts, links oder Mitte? Mir egal!" - taz.de
SPD-Kandidat zur Schleswig-Holstein-Wahl: "Rechts, links oder Mitte? Mir egal!" Der Spitzenkandidat der SPD in Schleswig-Holstein, Torsten Albig, über den Erfolg der Piraten, Kritik an der Schuldenbremse und seine Unterschiede zum Landeschef Stegner. Wunschergebnis 40 Prozent: Wahlkampfmaterial der SPD. Bild: dpa taz: Herr Albig, haben Sie schon Albträume, in denen Piraten vorkommen? Torsten Albig: Nein. Ich träume nicht von Politik. Die Piraten in Schleswig-Holstein sind als Personen, von denen man schlecht träumen könnte, ja noch gar nicht in Erscheinung getreten. Sie sind bisher eher eine viele Menschen anziehende Idee … … die allerdings die Chancen von Rot-Grün stark verringert. Das stimmt. Die Piraten gefährden den rot-grünen Politikwechsel in Schleswig-Holstein. SPD und Grüne müssen das gemeinsam noch deutlicher machen. Nur so können wir deren Aufwärtstrend stoppen. Ansonsten wäre die Folge für Schleswig-Holstein: dass die große Koalition wahrscheinlicher wird. Wer Klein wählt, bekommt Groß. Das ist die Option? im Interview:TORSTEN ALBIGFoto: dapd48, ist SPD-Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein und Oberbürgermeister von Kiel. Er war Sprecher der Finanzminister Oskar Lafontaine, Hans Eichel und Peer Steinbrück. SPD und CDU werden sich dann unterhalten müssen, wenn es keine anderen Mehrheiten gibt. Aber das wollen wir nicht. In Schleswig-Holstein haben wir keine guten Erfahrungen mit der großen Koalition. Was ist das Erfolgsgeheimnis der Piraten? Das ist schwer zu erklären. Politik ist wohl zu fern von dem, was viele Menschen erwarten. Wir müssen an unserer Glaubwürdigkeit arbeiten: uns stärker öffnen. Sie haben das Wahlziel 40 Prozent ausgegeben. 40 Prozent sind die Messlatte einer Volkspartei. Machen Sie sich so nicht vorab zum Wahlverlierer? Nein. Wenn ich mit 36 Prozent Ministerpräsident werde, ist es mir auch recht. Das Ziel der SPD muss bei Wahlen aber dennoch 40 Prozent sein. Sie müssen wegen der Schuldenbremse 125 Millionen Euro jährlich sparen. Wie wollen Sie das schaffen? Politik darf nicht auf das Einhalten der Schuldenbremse reduziert werden. Das wäre eine Bankrotterklärung. Wir brauchen den Gestaltungswillen, das Land zu stärken. Es macht unser Land doch nicht stärker, allein bei dem Landesblindengeld, der Frauenberatung oder der dänischen Minderheit zu kürzen, so wie das die schwarz-gelbe Regierung tut. Wir brauchen auch mehr Einnahmen. Mehr Wachstum. Sie setzen sich für Gemeinschaftsschulen ein. Die CDU wirft Ihnen nun vor, Sie wollten das Gymnasium abschaffen. Das ist ein absurder Vorwurf. Ich will starke Schule. In der Grundschule, im Gymnasium und in der Gemeinschaftsschule. Alles andere ist letztes Jahrhundert. Sie haben mehrere Jahre als Sprecher von Peer Steinbrück gearbeitet und teilen einige politische Einstellungen. Sind Sie in der SPD ein Rechter? Ich orientiere mich an der Realität, will sie verbessern. Der Realität ist unsere Parteiprogrammatik aber oft egal. Ob Sie das für rechts, links oder Mitte halten, ist mir egal. Das verbindet mich sicher mit Peer Steinbrück. Auf der anderen Seite im politischen Spektrum der SPD steht Ihr Landeschef Ralf Stegner. Wie funktioniert die Zusammenarbeit im ungleichen Duo? Sehr gut. Wir haben eine harte, aber faire Auseinandersetzung hinter uns. Jetzt arbeiten wir für das Ziel Wahlsieg zusammen. Also auf Zeit? Eine Zusammenarbeit ist in der Regel auf Zeit. Aber die kann durchaus lang sein. Wenn wir regieren, wird Ralf Stegner ein starker Fraktionsvorsitzender sein. Wo liegen die Unterschiede zwischen Ihnen? In der Wirkung auf Menschen. Das ist für politische Kommunikation und Wahlerfolge von Bedeutung. Da sind Sie besser? Ja. Ich kann leichter Brücken zu den Menschen bauen. Ralf Stegner wirkt distanzierter. Wünschen Sie sich mehr Rückenwind aus Berlin? Es wäre natürlich am besten, wenn wir überall schon bei über 40 Prozent stehen würden. Aber es ist nicht so leicht für die SPD gegen eine starke präsidiale Kanzlerin, die sich von der Schwäche ihrer Regierung entkoppelt. Daran kann auch Sigmar Gabriel nicht auf Zuruf etwas ändern. Muss sich die SPD für die FDP und eine Ampel öffnen? Mit Daniel Bahr oder Philipp Rösler wird die SPD nicht koalieren. Diese FDP ist nicht koalitionsfähig. Eine Partei, deren einziges Koalitionsinteresse eine Koalition ist, ist kein geeigneter Partner. Für 2013 schließen Sie die Ampel aus? Es werden bei der FDP wohl nicht völlig neue Leute auftauchen, die bisher noch im Keller des Thomas-Dehler-Hauses versteckt sind. Ich wüsste nicht, wo diese Leute herkommen sollen, wie diese Partei für uns interessant werden könnte.
E. Geisslinger
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Pharmakonzern Hoffmann-La Roche: Nominiert für den Schmähpreis - taz.de
Pharmakonzern Hoffmann-La Roche: Nominiert für den Schmähpreis Der Pharmakonzern Hoffmann-La Roche soll für medizinische Studien in China Organe von hingerichteten Gefangenen verwenden. Das Unternehmen weist das zurück. Verleihen den Schmähpreis "Public Eye Award": Greenpeace und die "Erklärung von Bern" (EvB) Bild: reuters BERLIN taz | Greenpeace und die globalisierungskritische "Erklärung von Bern" (EvB) werfen dem Arzneimittelkonzern Hoffmann-La Roche vor, für medizinische Versuche in China "höchst wahrscheinlich" Organe von Todeskandidaten zu verwenden. Deswegen haben die Organisationen das Unternehmen für ihren diesjährigen Schmähpreis "Public Eye Award" nominiert, der alljährlich zum Beginn des Weltwirtschaftsforums, des Weltgipfels der Wirtschaftselite, im Schweizer Skiort Davos verliehen wird. Im Mittelpunkt der Kritik stehen unsoziale und unökologische Praktiken der Konzerne. Hoffmann-La Roche bestätigt, "300 Patienten" in China für "Studien rekrutiert" zu haben. Das Unternehmen will herausfinden, wie chinesische Organempfänger auf das La-Roche-Medikament CellCept reagieren. Die Konzernkritiker nehmen freilich an, dass in China "mehr als 90 Prozent aller transplantierten Organe von hingerichteten Gefangenen stammen". Eine La-Roche-Sprecherin sagte der taz, dem Unternehmen sei nicht bekannt, woher die Körperersatzteile kämen. Weiter erklärte La Roche, China habe 2007 ein neues Transplantationsgesetz verabschiedet. "Demnach müssen Gefangene und/oder Familienmitglieder zustimmen, dass ihre Organe zur Transplantation verwendet werden dürfen. Zusätzlich muss ein Gericht die Entscheidung genehmigen." Diese Einschränkung reicht den Konzernkritikern nicht. "Weil die Firma nicht ausschließen kann, dass die Organe von Gefangenen stammen, muss sie die Studie sofort beenden", sagte EvB-Sprecher Oliver Classen. Ein weitere Kandidatin für den Anti-Oskar ist die Royal Bank of Canada. Dem Unternehmen werfen die Kritiker vor, in Kanada auf riesigen Gebieten Ölsand abzubauen und dabei massive Umweltzerstörungen in Kauf zu nehmen. "Öl aus Teersand verursacht dreimal so hohe CO2-Emissionen wie konventionell gewonnenes Öl", schreiben Greenpeace und EvB. Das giftige Abwasser werde im extra dafür gebauten größten Stausee der Welt gespeichert. Die Einwohner in der Umgebung erkrankten an "kaum bekannten Krebsarten". Weiterhin nominiert sind der Stahlkonzern ArcelorMittal, das Energieunternehmen GDF Suez und das Internationale Olympische Komitee. Dieses kritisieren Greenpeace und EvB, weil es sich weigere, indianischen Einwohnern Entschädigungen für die Nutzung ihres Landes bei den Winterspielen 2010 in Vancouver zu zahlen.
Hannes Koch
Der Pharmakonzern Hoffmann-La Roche soll für medizinische Studien in China Organe von hingerichteten Gefangenen verwenden. Das Unternehmen weist das zurück.
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Tiere im Ukrainekrieg: Die Katzen von Butscha - taz.de
Katzen aus den Kriegsgebieten werden in Lwiw umsorgt Foto: Andreas Gregor Tiere im Ukrainekrieg:Die Katzen von Butscha In der Ukraine helfen Tier­schüt­ze­r:in­nen zurückgelassenen Katzen, Hunden, Bären. Ihre Arbeit hilft ihnen auch, mit der eigenen Ohnmacht klarzukommen. Ein Artikel von Andrew Müller 30.7.2023, 08:40  Uhr Olha Horbatsch ist fast den ganzen Tag bei den Katzen. Die Wohnung im Erdgeschoss in einem der vielen Plattenbauten von Sychiw, einem Viertel der westukrainischen Stadt Lwiw, wurde eigens für die Tiere angemietet; durch den Hausflur wabert der intensive Geruch von Katzenfutter. Hier leben 90 Tiere, es miaut aus allen Ecken. Dauernd fällt irgendetwas um, man wird von jeder Seite angeschmust. Auf dem Tisch, dem Sofa, sogar auf dem Fernseher: überall Katzen, in allen Größen und Farben. Die meisten kommen aus den Kriegsgebieten – Mykolajiw, Nikopol, Butscha – und haben Schlimmes erlebt. Eine schwarze Katze kann nicht gehen, sie wurde angeschossen. Viele laufen frei in der Wohnung herum und vertragen sich meistens; andere sitzen in Käfigen, bis sie gegen Tollwut oder andere Krankheiten geimpft sind. Wenn sie Glück haben, werden sie an ein neues Zuhause vermittelt, nach Polen oder auch Deutschland. „Das ist das oberste Ziel“, sagt Olha Horbatsch, die vor dem Krieg eine Zoohandlung betrieb. Jetzt kann sie sich ihr ehrenamtliches Tierschutz-Engagement nur leisten, weil ihr Mann ausreichend verdient. Sie wirkt nachdenklich, aber auch sehr motiviert. Horbatsch würde auch der Armee helfen, sagt sie – aber sie kenne sich eben mit Tieren besser aus. Ihnen zu helfen, ist ihr Ding, das merkt man, wenn man sie mit den Katzen sieht. Zusammen mit anderen Hel­fe­r:in­nen hat Horbatsch seit Kriegsbeginn schon über tausend Katzen retten und vermitteln können. Wenn Bomben einschlagen, leiden auch Tiere. Das betrifft sowohl wilde Tiere als auch solche, die auch in Friedenszeiten stark vom Menschen abhängig sind, nämlich Nutz- und Haustiere. Nachdem Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, gingen auch Bilder um die Welt, wie flüchtende Ukrai­ne­r:in­nen an Bahnhöfen mit Katzenboxen oder kleinen Hunden im Arm an der Grenze zu Polen standen. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Schicksale nicht gegeneinander ausspielen Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber sicher ist: Nicht alle konnten ihre Tiere mitnehmen, zumal die Ausfuhrkontrollen inzwischen strikter sind. Zwar werden Kühe, Schweine oder Hühner so gut es geht weiter versorgt – schließlich ernähren sich viele Menschen von ihnen –, aber vor allem Haustiere leben in der stark zerstörten Ost­ukraine jetzt auf der Straße oder in Ruinen. Sie sind auf sich allein gestellt, hungern und sind auch von Infektionen bedroht. Tierschützer und Tierschützerinnen wie Olha Horbatsch – die meisten sind Frauen und arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen – kümmern sich um Katzen, Hunde, Bären oder Vögel. Sie verteilen Futter, holen Tiere aus den Kriegsgebieten oder versorgen sie in improvisierten Tierheimen. Und alle, mit denen die wochentaz sprach, finden: Man soll menschliches Schicksal nicht gegen das der Tiere ausspielen. Horbatsch zum Beispiel hat auch Geflüchtete bei sich zuhause aufgenommen, sieht aber ihre Kompetenzen vor allem im Bereich Katzen. Für viele Menschen sei es eine große Entlastung, dass sich jemand um ihre geliebten Haustiere kümmert, wenn sie an die Front müssten oder das Land verließen. Das kann sich Claus-Christian Carbon, Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Bamberg, sehr gut vorstellen. Die Bindung von Menschen zu ihren Haustieren sei nicht zu unterschätzen. Allerdings glaubt er, dass die Pflege der Tiere für jene, die sie unter Obhut nehmen, mindestens genauso wichtig ist. Auch wenn die Ressourcen im Krieg begrenzt seien und eine Wohnung voller Tiere einerseits Ballast sein mag, überwiege etwas anderes: „Wer eine Aufgabe hat, hat ein Ziel; wer ein Ziel hat, hält besser durch.“ Schließlich seien die Menschen in einer wirklich bedrohlichen Lage: „Es ist gefährlich, und sie wissen nicht, wie es weitergeht.“ Ihnen sei bewusst, wie viele Menschen die Ukraine verlassen haben, und sie fragten sich wahrscheinlich auch, ob sie fliehen sollten. Sich ein solches Ziel zu suchen, sei dann eine sehr erfolgversprechende Strategie des Umgangs, die psychisch stabilisiert, sagt Carbon. „Wenn man eine gute Begründung hat zu bleiben, dann muss man nicht mehr zaudern.“ Ukrainer:innen, die sich jetzt um Tiere kümmern, kämen besser mit ihrer Ohnmacht klar, glaubt Carbon. „Krieg bedeutet Autonomieverlust, man wird zum Spielball“, sagt er. „Indem man ein Tier versorgt, überwindet man das zumindest kurzzeitig und wird wieder zum Akteur.“ Das habe gerade bei Geflüchteten, die fast alles verloren haben, eine wichtige psychohygienische Funktion. Daher solle man ihnen nicht etwa einreden, dass sie ihr Tier zurücklassen sollen. Manchmal sei es im Gegenteil wesentlich rationaler und nachhaltiger, Menschen ihre Tiere mitnehmen zu lassen. Manchmal aber, wenn die Katze, der Hund oder ein anderes Haustier zu groß ist oder die Mittel zu begrenzt, muss es zurückbleiben. „Eine gruselige Vorstellung“, findet Carbon. Man denke vermutlich die ganze Zeit daran, wie es ihm gehe, was sehr belastend sein kann. Olha Horbatsch jedenfalls gibt ihr Bestes für die Tiere, die ihre Landsleute bei ihr gelassen haben. Doch manche Tiere können wegen ihrer Größe oder Lebensweise nicht in einer Wohnung leben. Sie müssen in ein Tierheim. Zum Beispiel in jenes, in dem Natalia Kuznjezowa arbeitet, etwas außerhalb von Lwiw. Auf dem Gelände am Waldrand leben rund 400 Hunde. Vor der russischen Invasion waren es 280, und schon da war es überfüllt. Die Finanzierung durch die Stadt reiche nur für sieben Monate im Jahr, erzählt Kuznjezowa. Der Fehlbetrag werde mehr schlecht als recht über Spenden abgedeckt. Eigentlich sei sie Unternehmerin und handele mit Auto-Ersatzteilen, am liebsten aber würde sie ausschließlich hier arbeiten. Die meisten der hier untergebrachten Hunde sind mittelgroß bis groß – vielleicht, weil sich die kleinen bei einer Flucht besser mitnehmen lassen. Bringen die jungen freiwilligen Hel­fe­r:in­nen neue Hunde ins Gehege, drehen deren Artgenossen durch: Noch bevor sich das Tor öffnet, bellen Dutzende Hunde. Als eine Frau mit einem Tier im Arm eintritt, steigert sich das Gebell zu großem Getöse. Die Tiere rotten sich zusammen, knurren, fletschen die Zähne und kommen immer näher. Der Ornithologe Viktor Shelvinsky in Kozhychi bei Lviv Foto: Andreas Gregor Damit sich die Hunde untereinander nicht gefährlich werden, dürfen sie nur abwechselnd in größeren Gruppen frei herumlaufen und im Dreck scharren. Aus vielen der Verschläge dringt Jaulen. Hund Michail – sein Besitzer ist an der Front – sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Wolf. In seinem Käfig läuft er stets unruhig im Kreis, springt am Zaun hoch, wedelt aber noch mit dem Schwanz. Ein stolzer Schäferhund aus Nikopol, der von seinen Be­sit­ze­r:in­nen zurückgelassen werden musste, ist krank. Er hat Verdauungsprobleme, kratzt am Gitter und verschmiert einen riesigen Haufen seines eigenen Kots. Es stinkt erbärmlich. Aber gäbe es solche Hilfsprojekte nicht, wären die Tiere noch schlechter dran. Tiere können auf ganz verschiedene Weise von Krieg betroffen sein. Wilde Tiere sind oft in der Lage, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen; in manchen Gegenden werden sie sogar weniger gestört als sonst. Wenn etwa keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, können Insekten wegen der fehlenden Pestizide profitieren. Vor allem größere Tiere können aber auch verstärkt gejagt werden, etwa weil die Versorgungslage schlecht ist und das Essen knapp wird; außerdem lassen sich Naturschutzmaßnahmen meist schlechter durchsetzen. „Alle möglichen Tiere sind stille Opfer des Krieges in der Ukraine“, sagt Natalia Gozak, die von Kyjiw aus als Wildtierretterin für den Internationalen Tierschutzfonds (IFAW) arbeitet. Die aktuellen Verluste seien jedoch schwer zu beziffern, weil Wis­sen­schaft­le­r:in­nen nicht in der Lage seien, die entsprechenden Gebiete zu untersuchen – vor allem, wenn sie umkämpft oder vermint sind. Exakte Daten gebe es daher wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt. „Aber wir wissen, dass 20 Prozent der Schutzgebiete von kriegsbedingter Zerstörung betroffen sind“, sagt Gozak. „Auch die Habitate seltener endemischer Arten, etwa im Bereich des zerstörten Kachowkaer Stausees.“ Auch einige der rund 30 Braunbären der Rettungsstation Domazhyr sind Opfer des Kriegs und, wie die meisten Hunde und Katzen, vollkommen vom Menschen abhängig. Die Station befindet sich etwa 30 Kilometer westlich von Lwiw und wird von der österreichischen NGO „Four Paws“ betrieben. Das 20 Hektar große Gelände im Wald, umgeben und durchzogen von großen Metallzäunen, gab es schon vor dem Krieg. Aber auch hier kamen zuletzt neue Bewohner hinzu. Die meisten Bären sind in Käfigen aufgewachsen, bevor sie hier einzogen, als Attraktion von Hotelrestaurants zum Beispiel. Was übrig bleibt, sind traumatisierte und verstörte Tiere. Besonders traurig ist der Anblick ehemaliger Tanzbären, die jetzt einsam und verloren – ohne Publikum – die sinnlosen Bewegungen wiederholen, die ihnen andressiert wurden. Die Tiere – viele von ihnen haben wegen früherer Fehlernährung Diabetes – könnten in freier Wildbahn nicht überleben. Claus-Christian Carbon, Psychologieprofessor„Indem man ein Tier versorgt, wird man wieder zum Akteur“ Teilweise kennen sie nicht einmal den Geruch von Erde oder das Gefühl von frischem Wind im Fell, wenn sie hier ankommen. Bei manchen dauert es ein Jahr, bis sie sich trauen, mal ein bisschen in den Bäumen zu klettern, erzählt Olha Fedoriv, Mitarbeiterin der Einrichtung. Mit einem der Bären spricht sie regelmäßig, vertraut ihm ihre Sorgen und Geheimnisse an. „Er heißt Potap, ist ein sehr geduldiger Zuhörer und weiß alles über mich“, sagt sie scherzhaft. Ein anderer Bär trägt den Namen Bachmut, er ist nach der gleichnamigen Stadt im Donezk-Gebiet benannt. Mit ihm kann Fedoriv nicht sprechen, er kommt noch nicht einmal aus seiner Hütte heraus. Sie kann nur ahnen, was ihm widerfahren ist: Man fand ihn an ein Haus gekettet, dessen Dach weggebombt worden war. Das Tier war vollkommen verängstigt und ausgehungert; jetzt vertraut es nur ganz wenigen Pflegern. Mit zunächst kleinen Portionen gekochten Futters päppelten sie den Bären auf, um seinen Magen nicht zu überfordern. Langsam werden die Portionen größer, aber es wird noch lange dauern, bis Bachmut sich einigermaßen erholt hat. Zu Beginn des Krieges lebten noch sieben andere Bären hier, sie waren unter Beschuss aus der Region Kyjiw hertransportiert worden, als auch viele Menschen aus der Hauptstadt fliehen mussten. Drei davon wohnen jetzt in Deutschland, beispielsweise im Bärenpark Worbis, die anderen konnten wieder zurück. Die Menschen in der Ukraine hoffen, dass solche Evakuierungsaktionen nicht mehr nötig sein werden. Noch aber ist der Krieg nicht vorbei, und Wildtierretterin Natalia Gozak hat für die Evakuierungen aus den umkämpften Gebieten eine wichtige Beobachtung gemacht: „Haustiere spielen eine maßgebliche Rolle bei Entscheidungen der Zivilbevölkerung, ob sie gehen oder bleiben“. Je mehr Tiere die Leute besäßen und je weniger Einkommen sie hätten, desto weniger wahrscheinlich sei es, dass sie die gefährlichen Gebiete verlassen. „Deswegen sind Evakuierungspläne, denen die Komponente der Tierrettung fehlt, weniger effektiv“, sagt Gozak. Braunbär in der Rettungsstation Domazhyr, 30 km westlich von Lwiw Foto: Andreas Gregor In einer akuten Notsituation gehe zwar immer das Menschenleben vor, sagt Psychologieprofessor Claus-Christian Carbon. Aber die Entscheidung, ob sie ein Tier mitnehmen oder nicht, träfen Menschen selbst in schwierigsten Situationen nicht nach Kriterien der rationalen Nutzenmaximierung, die ohnehin eine psychologisch naive Illusion sei. Stattdessen zeige sich das Bedürfnis, Tiere nicht zurückzulassen, oder sogar zusätzlich welche zu retten. Manche Haustiere haben kein Fell, sondern Federn. Sie sind ein Fall für den Ornithologen Viktor Shelvinskyi von der Nationalen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Kyiw. Dass er auch für die Gestaltung des Naturkundemuseums von Lwiw zuständig ist, sieht man seinem Garten an. In Kozhychi am Rande Lwiws gelegen, erinnert er an das verwunschene Gelände eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobilé aus Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern, und da drüben eine selbst gebaute Hütte mit einem großen, in den Fußboden eingelassenen Aquarium. Das Areal ist nicht groß, doch einmal betreten, wirkt es endlos. In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder größere Volieren, dazwischen stolzieren weiße und grün schillernde Pfauen. Seit vergangenem Jahr leben hier nicht mehr nur einheimische Vögel, sondern auch bunte Papageien. Geflüchtete aus dem Osten des Landes hatten von Shelvinskyis Arbeit gehört und brachten sie her: Halsbandsittiche, einen Graupapagei, Salomon-Kakadus. Im Krieg, sagt der studierte Ornithologe, hätten sie im Grunde die gleichen Probleme wie Menschen: Unsicherheit, Hunger, Angst. Bei ihm jedenfalls sind alle willkommen: In den ersten Kriegsmonaten nahm auch Shelvinskyi geflüchtete Menschen auf sowie deren Hunde und Katzen. Diese seien inzwischen weitergezogen nach Westeuropa oder in andere halbwegs sichere Regionen der Ukraine. Geblieben aber sind ihm die Vögel. Natalia Gozak, Tierretterin„Haustiere spielen eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, ob man flieht oder bleibt“ Shelvinskyi liebt Vögel, seit seiner Kindheit. Wenn er über die Bewohner der Volieren in seinem Garten redet, spürt man seine Begeisterung. Er kann sogar pfeifen wie ein Vogel. Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner eigentlichen Arbeit um verletzte Tiere, die er findet oder die Leute ihm bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche. Oft haben sie gebrochene Beine oder Flügel, können aber nach einer Weile in Shelvinskyis Obhut wieder fliegen. Er lässt sie dann frei und genießt diesen Moment. Manche Vögel kommen weiterhin ab und zu vorbei – um sich füttern zu lassen oder einfach auf einen Besuch. Schon seit vielen Jahren kursiert Shelvinskyis Nummer in den sozialen Medien. Besorgte Menschen rufen ihn an, wenn sie zum Beispiel in ihrem Schuppen eine verschreckte Eule finden. Er stellt dann fachkundige Fragen, etwa: ‚Wie verhält sich das Tier, wie sehen seine Pupillen aus?‘ – „In 90 Prozent solcher Fälle muss man gar nichts tun“, sagt er, „ich erkläre dann, dass sich die Eule nur vor Regen versteckt hat und alleine klarkommt.“ Seit Beginn des russischen Angriffskriegs aber wird Shelvinskyi deutlich häufiger kontaktiert, im März vergangenen Jahres waren es oft 15 Anrufe am Tag. So viele Vögel wie jetzt musste er noch nie versorgen: 286 Individuen aus 53 verschiedenen Arten. Darunter ist eine Rohrweihe aus Saporischschja; sie hat sich den linken Flügel gebrochen. Die drei Steinkäuze aus Mariupol sind schon wieder gesund, müssen aber noch beringt werden, bevor sie losfliegen dürfen. Shelvinskyi berät sogar Ukrainer, die aktiv im Krieg kämpfen: Immer wieder melden sich Menschen aus den umkämpften Gebieten, wenn sie verwundete Vögel finden. Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmäßig und gibt ihm Tipps: wie man den Bruch verbindet oder dass man dem Adler notfalls statt Fleisch rohes Hühnerei oder Insekten zu fressen geben kann. Auch Wildtierretterin Natalia Gozak kennt viele Fälle, in denen Soldaten an der Front sich um Katzen, Hunde, Mäuse, Wildschweine, Tigeriltisse oder andere Tiere kümmern. „Sie tun das mit größter Empathie; es baut Stress ab und gibt ihnen ein Stück Normalität zurück“, sagt sie. Olya Fedoriv arbeitet in der Rettungsstation Domazhyr, wo rund 30 Braunbären leben Foto: Andreas Gregor Genau deswegen sei es in Kriegs- und Krisengebieten auch so wichtig, Theater oder Cafés so früh wie möglich wieder zu öffnen, sagt der Psychologe Claus-Christian Carbon. Man brauche eine gewisse Normalität, etwas, woran man sich festhalten kann. In ähnlicher Weise erinnerten Tiere immer wieder an eine positive, zivile Welt, die gerade verloren scheint. „Tiere lösen Freude aus, und daran mangelt es im Krieg“, sagt er. Schließlich seien sie keine Gegenstände, sondern unersetzliche Lebewesen, die auch resonieren. Man bekomme also gewissermaßen etwas von ihnen zurück: „Tiere, die man versorgt, senden permanent Signale, dass es ihnen gefällt, zum Beispiel in Form von Schnurren“, sagt Carbon. Auch die körperliche Nähe sei nicht zu unterschätzen. An der Front habe man normalerweise nur Nähe zu Kameraden. Jene zu einem Tier sei frei gewählt und öffne somit einen privaten emotionalen Raum. Gerade auch bei Geflüchteten, die oft auch zu wenig Privatsphäre haben, sei das wichtig. „Können sie ihre Tiere nicht mitnehmen, ist es aber natürlich immer noch besser, wenn sich jemand anderes kümmern kann“, sagt Carbon. Dann fehle zwar unter anderem die körperliche Komponente, trotzdem werde gewissermaßen ein Stück verlorene Heimat bewahrt, und es bleibe die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Eigentlich wollte Vogelflüsterer Viktor Shelvinskyi nie exotische Tiere halten, doch jetzt ist er froh, dass er mit seiner besonderen Expertise nützlich sein kann – nicht zuletzt Geflüchteten. Im Frühjahr 2022 brachten ihm viele Menschen auf der Flucht ihre Papageien; auch der Kyjiwer Zoo schickte Dutzende tropische Tauben und Papageien, die dort nicht mehr sicher waren. Die großen roten Aras leben inzwischen wieder in Kyjiw, manche Vögel sind weiter nach Polen gereist. Aber die anderen Papageien bleiben bei Shelvinskyi. Für die bunten Vögel hat er extra ein beheizbares Winterquartier gebaut, aus alten Fenstern und mit einer Dämmung aus Mineralwolle, die er in Bauabfällen fand. Das mag improvisiert sein, erfüllt aber seinen Zweck und fügt sich auch optisch gut in seinen ausgefallenen Garten ein. Das Polycarbonat, ein durchsichtiger Kunststoff fürs Dach, wurde durch Spenden finanziert, die die ukrainische Tierschutz-NGO UAnimals ihm zu sammeln half. Selbst viele Soldaten an der Front kümmern sich um Katzen, Hunde, Mäuse Eine der neuen Bewohnerinnen des Papageien-Hauses ist Jagoda, ein blaurotes Salomon-Edelpapageien-Weibchen. Seine Besitzerin Anna, eine Übersetzerin aus Lwiw, zog mit ihren Kindern wegen der russischen Invasion nach Brüssel. Sie weinte, als sie Jagoda zurückließen. Aber sie konnten das Tier nicht mitnehmen – zu aufwändig ist die Pflege großer sensibler Papageien, zu kompliziert der Transport. Sie brachten Jagoda zu Shelvinskyi, den sie über Freunde kannten – und baten ihn, in Kontakt zu bleiben, bis sie eines Tages zurückkehren und Jagoda wieder selbst versorgen können. Jetzt schickt er ihnen per Viber-Messenger regelmäßig Videos, Fotos oder Tonaufnahmen, auf denen ihr Haustier „Hallo, Jagoda“ plappert. „Das ist ein bisschen wie Telefonsex“, scherzt Shelvinskyi. Für die Familie sei das aber ganz wichtig und helfe ihr, mit der schlimmen Situation klarzukommen. Geld möchte Shelvinskyi für solche Dienste nicht, zumal viele sich das gar nicht leisten könnten. Auch die Führungen, die er für Schulgruppen geflüchteter Kinder aus der Ostukraine anbietet, sind kostenlos. Sie finden in seinem Garten statt; er zeigt dann echte Vogelnester, unterschiedliche Tierschädel aus seiner Sammlung und erzählt, wie man einheimische Tierarten unterscheiden kann. Das Grün seines Gartens, die Einblicke ins Leben der Tiere und überhaupt die Nähe zur Natur tue seinen jungen Besuchern und Besucherinnen gut, sagt Shelvinskyi. Er sieht den teils durch den Krieg traumatisierten Kindern an, wie sie sich hier zwischen den Vögeln plötzlich entspannen. Das bestätigt den Vogelexperten in seiner Arbeit und dem Satz, der für ihn die Grundlage davon ist: Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen.
Andrew Müller
In der Ukraine helfen Tier­schüt­ze­r:in­nen zurückgelassenen Katzen, Hunden, Bären. Ihre Arbeit hilft ihnen auch, mit der eigenen Ohnmacht klarzukommen.
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70 Jahre Luftbrücke: Der Horizont weitet sich - taz.de
70 Jahre Luftbrücke: Der Horizont weitet sich Mythos Tempelhof: Wie erinnert man 70 Jahre nach der Berlin-Blockade an die Luftbrücke? Das ist Thema einer Tagung im AlliiertenMuseum. Kinder sitzen 1948 auf dem Zaun des Flughafens Tempelhof, während ein Rosinenbomber der US-Luftstreitkräfte zur Landung ansetzt Foto: ap Für Cineasten ist die Szene legendär: Ein Flughafen, es ist Nacht, auf dem Rollfeld verabschiedet sich eine Frau von einem Mann. Humphrey Bogart und Ingrid Bergman sind mit dieser Szene unsterblich geworden, der Film „Casablanca“ (1942) ist weltberühmt. Gut 50 Jahre nach dem Filmklassiker spielen Isabella Rossellini (die Tochter der Bergman) und Anthony Hopkins eine gleiche Szene. Wieder dröhnen Propeller, wieder geht es um Liebe und Abschied. Diesmal ist der Flughafen Tempelhof der Ort der Handlung. „The Innocent“ (1993) ist ein Melodram im Nachkriegs-Berlin und – wie seit „The Big Lift“ (1949) – ein Streifen aus einer ganzen Reihe von Filmen, in welcher die historische Rolle von Tempelhof und die Zeit der „Luftbrücke“ (1948/49) als Mythos überhöht wird. Der Flughafen Tempelhof als Filmmotiv bildet den Auftakt in der langen Themenliste der internationalen Tagung „Die Berliner Luftbrücke. Ein Erinnerungsort des Kalten Krieges?“ vom 12. bis 14. März im AlliiertenMuseum Berlin. Das Fragezeichen am Ende des Titels steht dort nicht ohne Grund: Gehörte bis 1989 die Luftbrücke klar zu den Pathos-Formeln westlicher Identitätsstiftung, wie die Kuratoren aus Berlin und Metz meinen, so scheint es knapp 70 Jahre nach der Berlin-Blockade und fast 30 Jahre nach dem Mauerfall notwendig, den Stellenwert der Erinnerung an jene Zeit zu hinterfragen und die Rezeption durch zusätzliche Aspekte neu zu bewerten. Ohne die Hommage an den Westberliner Airport und seine historische Dimension als „Tor zur freien Welt“ kommt freilich keine Tagung zur Luftbrücke aus. Auch diese nicht. „Bis heute gehört die Luftbrücke zu den faszinierendsten Episoden der Nachkriegsgeschichte. Die Versorgung Westberlins aus der Luft war eine logistische Meisterleistung ohne Vorbild. Der Rosinenbomber wurde zum Symbol“, wie Bernd von Kostka, Leiter des AlliiertenMuseums, anführt. Alles Gute kommt von obenDie Berliner Luftbrücke dauerte vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949, offiziell endete sie am 30. September 1949. Über drei Luftkorridore versorgten die Alliierten Westberlin, nachdem die Sowjets die Land- und Wasserwege dorthin blockiert hatten.Den wohl berühmtesten Appell nach draußen machte Ernst Reuter, Stadtrat in Berlin, im September 1948: „Ihr Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt nicht preisgeben dürft!“Die internationale Tagung „Die Berliner Luftbrücke. Ein Erinnerungsort des Kalten Krieges?“ im Alliierten Museum Berlin, Clay­allee 135, vom 12. bis 14. März 2017 wird von Kultursenator Klaus Lederer eröffnet. Der Eintritt ist frei. Infos: www.alliiertenmuseum.de (rola) Was stimmt. Nachdem die Sowjets als Reaktion auf die westdeutsche Währungsreform im Juni 1948 alle Zufahrtswege nach Westberlin blockiert hatten, war die Stadt nur aus der Luft zu versorgen. Bis September 1949 flogen Amerikaner und Briten in 277.560 Flügen rund 2,1 Millionen Tonnen Fracht in die Frontstadt. Die Rettung Berlins aus der Luft gebar die legendären „Candy-Bomber-Piloten“ wie Gail Halvorsen sowie die Geschichten vom Durchhaltewillen der Bevölkerung gegen den Kommunismus. Mehrschichtiger Luftbrückenkomplex Während das Thema Luftbrücke gut in der – besonders Westberliner – Erinnerungskultur verortet ist, es Gedenktage, Denkmäler und museale Institutionen gibt, existieren dennoch inhaltliche „Lücken“, die oft ideologischen Prämissen geschuldet sind, wie der Historiker in der Mauergedenkstätte Gerhard Sälter findet. So sei etwa die Geschichte der sowjetischen Blockade und die Rolle der entstehenden Westberliner Verwaltung noch nicht gut aufgearbeitet worden. Ebenso müsse der Beginn des Ostberliner Grenzregimes, das seinen Anfang in der Blockade nahm, noch beleuchtet werden. Der Luftbrückenkomplex ist also „mehrschichtiger“. Einen weiteren Bogen spannen will darum die Tagung in Richtung USA, Frankreich und Polen, um die dortige Presse unter die Lupe zu nehmen. Schließlich sollen die Konferenz zwei Themenbereiche abrunden: Gatow als zweiter wichtiger Luftbrücken­standort und der Flughafen Tempelhof als Wiege deutsch-amerikanischer Nachrichtendienste. Bis dato sei im Gedächtnis der Berliner hauptsächlich der Flughafen in Tempelhof als Luftbrücken-Erinnerungsort präsent, sagt Doris Müller-Toovey, wissenschaftliche Leiterin des Militärhistorischen Museums Flugplatz Berlin-Gatow. Dies gelte nur „in einem sehr eingeschränkten Maße für den Flugplatz Berlin-Gatow, trotz seiner wichtigen Rolle für den ‚Air Lift‘. Hier war bis 1994 die Roy­al Air Force (RAF) stationiert.“ Kaum bekannt sei, dass zur Zeit der Berliner Luftbrücke ein gutes Drittel der gesamten Fracht über Gatow eingeflogen wurden. Das Ausfliegen von Zivilisten, darunter viele Kinder, aber auch Kranke, geschah größtenteils durch die RAF über Gatow. Und spannend wie ein Thriller dürfte der Beitrag des Historikers Bodo Hechelhammer werden: Die Luftbrücke könne man nicht nur als Beginn der „deutsch-amerikanischen Freundschaft“ bezeichnen, ist sich der BND-Forscher sicher. „Sie gilt historisch als erste gelungene Bewährungsprobe des neu geschaffenen westdeutschen Auslandsgeheimdienstes für die USA nach Kriegsende.“ Während der Blockade übernahm die „Organisation Gehlen“ eine „wichtige nachrichtendienstliche Aufgabe ­für die USA: die Funkaufklärung der sowjetischen Luftwaffe“ – womit wir wieder bei den anfänglichen Filmmotiven wären.
Rolf Lautenschläger
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Entstehung einer ökologischen Klasse: Alte Weltbilder umstülpen - taz.de
Entstehung einer ökologischen Klasse: Alte Weltbilder umstülpen Trotz Alarmsignalen passiert wenig in der Klimakatastrophe. Bruno Latour und Nikolaj Schultz setzen auf den Begriff der „ökologischen Klasse“. Klimagipfel: Die indigene Aktivistin, Umweltschützerin und Politikerin Sonia Guajajara aus Brasilien Foto: Nariman El-Mofty/ap Kurz vor seinem Tod hat der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour noch ein schmales Bändchen veröffentlicht. Darin versucht er zusammen mit seinem Co-Autor Nikolaj Schultz, den Begriff der Klasse zu retten. Als „ökologische Klasse“ bezeichnen sie Menschen, die fundamentale Veränderungen zur Rettung der Lebensgrundlagen für notwendig halten. Allerdings haben diese bisher keine gemeinsamen sozialen Erfahrungen, sondern setzen sich zusammen aus Aktivistinnen, gewöhnlichen Bürgern, Gärtnern, Industriellen, Indigenen und Investoren. Warum die Autoren am Begriff der Klasse unbedingt festhalten wollen, ist nicht plausibel. Auch die Zuschreibung „links“ behalten sie bei und begründen das mit einer „Ablehnung einer Verselbständigung der Wirtschaft auf Kosten der Gesellschaften“. Auf den folgenden Seiten aber finden sich dann doch spannende Gedanken. Die Autoren umkreisen das Paradox, dass seit 40 Jahren die Alarmglocken schrillen, Millionen Menschen durch Dürren und Überschwemmungen bereits ihre Lebensgrundlagen verloren haben und sich die Mehrheit inzwischen unwohl fühlt – und trotzdem so wenig passiert, was die Katastrophe aufhalten kann. „Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die Gefahr.“ Macht euch die Erde untertan Panik und Lähmung resultierten aus der bisherigen Fortschrittsperspektive: Wo es stets darum ging, sich die Erde untertan zu machen, bedeuten Umwelt- und Ressourcenschutz Freiheitsverlust und Einschränkungen. Doch die realistische und von immer mehr Menschen wahrgenommene Per­spek­tive ist: Die Menschheit ist völlig abhängig vom Planeten. Das BuchBruno Latour, Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. edition suhrkamp, Berlin 2022, 93 Seiten, 14 Euro „Auf einmal ist die Natur kein Opfer mehr, das es zu schützen gilt; sie besitzt uns.“ Die Welt, in und von der wir leben, ist der Rahmen, in dem Emanzipation künftig stattfinden muss. Das ist das Gegenteil der von Rousseau beschriebenen Einhegung, bei der Leute einfach Flächen einzäunen und behaupten, der Boden gehöre nun ihnen. Nur die Einsicht, dass wir völlig von der Erde abhängen, kann heute neue Perspektiven und Gestaltungsräume eröffnen. Viele dominierende Vorstellungen müssen umgestülpt werden. Indigene, die als „Wilde“ und „unzivilisiert“ diffamiert wurden, wissen tatsächlich viel mehr von einer zukunftsfähigen Lebensweise als die von Naturwissenschaften geprägten, modernen Ausbeutungskulturen. Die Jugend repräsentiert nicht mehr die Zukunft des Produktionssystems, die archaische Techniken überwindet. Vielmehr betrachten sie die Alten und ganz besonders die Babyboomer als „verwöhnte und unreife Teenis“, die die Zukunft im Voraus verschlungen haben. Noch sind solche Positionen in den wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen marginalisiert, die durch Bürokratie und staatliche Strukturen stabilisiert werden. „Keine Beamtin, kein Abgeordneter vermag anzugeben, wie der Wechsel von Wachstum – und dessen damit einhergehenden Elendsformen – zur Prosperität … gelingen kann.“ Klagen und Proteste in diese Richtung gehen also ins Leere. Den Machtanspruch infrage stellen Zugleich stellen viele Ver­tre­te­r*in­nen marginalisierter Gruppen Machtansprüche per se infrage – schließlich haben sie zu den fatalen Entwicklungen geführt, wodurch die Menschheit heute am Abgrund steht. Demgegenüber fordern die Autoren, dass die „ökologische Klasse“ Institutionen und Funktionen auf allen Ebenen durchdringt und dabei durch vielfältige Vernetzung die Transformation in Richtung Dezentralität, situativer Angepasstheit und vielfältiger und komplexer Bezogenheit vorantreiben. „Es gibt Zeiten, in denen die Versuchung groß ist, sich der Verzweiflung hinzugeben“, räumen die Autoren in ihrem Nachwort ein und verweisen darauf, dass der Krieg gegen die Ukraine wesentlich stärkere Leidenschaften hervorruft als die unbarmherzige Zerstörung der Biosphäre. Doch zugleich gehen sie davon aus, dass die meisten Menschen in ihrem tiefsten Inneren begriffen haben, dass die alte Weltordnung am Ende ist. „Man muss bereit sein, jede unerwartete Gelegenheit beim Schopfe zu packen“, so das Plädoyer. Das Büchlein bezeichnet sich selbst als Memorandum und ist ein durchaus inspirierender Beitrag zu den vielfältigen Suchbewegungen in Richtung Transformation. Die Thesen, die längst nicht alle überzeugend und stringent sind, regen im Kopf der Leserin Auseinandersetzungen mit den eigenen Positionen an – und das ist nicht wenig.
Annette Jensen
Trotz Alarmsignalen passiert wenig in der Klimakatastrophe. Bruno Latour und Nikolaj Schultz setzen auf den Begriff der „ökologischen Klasse“.
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ZDF-Film über Lesben mit Kinderwunsch: Erzeuger gesucht - taz.de
ZDF-Film über Lesben mit Kinderwunsch: Erzeuger gesucht In „Zwei Mütter“ will ein lesbisches Paar endlich ein Kind. Der semidokumentarische Film zeigt überzeugend, welche Hürden sie dabei überwinden müssen. Verzweifelt in „Zwei Mütter“: Isabella (Karina Plachetka). Bild: ZDF/Friede Clausz In der amerikanischen TV-Serie „The L Word“, die bei ProSieben zusätzlich mit „Wenn Frauen Frauen lieben“ betitelt war, geht es unter anderem um ein lesbisches Paar, das sich den Kinderwunsch mithilfe einer Samenspende erfüllen will. Das führt zu schweren Konflikten, und die Beziehung von Bette und Tina geht darüber in die Brüche. Die gleiche Grundkonstellation – und doch ganz anders, vor allem ganz anders gefilmt – zeigt am Montag das ZDF. Katja: „Ich hätt gern ’nen Erzeuger, aber keinen Vater.“ Isabella: „Ich find das gut. Versteh ich gut. So machen wir’s!“ Katja und Isabella führen ein gänzlich unglamouröses Leben in der südwestdeutschen Provinz (wo die Regisseurin, Anne Zohra Berrached, an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert). Katja als stellvertretende Filialleiterin in einer Videothek, Isabella als „Hilfsfloristin“, wie ein etwas rüder Anwalt sie nennt. „Mein Lied oder kein Lied“ steht hinter seinem Schreibtisch an der Wand. Die Rolle wirkt so authentisch wie nach ihm ein Arzt, ein Inseminationsset-Verkäufer und zwei Samenspender. Die Sendung„Zwei Mütter“ läuft am Montag um 23.55 Uhr im ZDF. Zwischen den beiden Frauen und den Männern entfalten sich bizarre Situationen und Dialoge. Zum Beispiel der Inseminationsset-Verkäufer, der in seiner Wohnung Beratungsgespräche auf dem Sofa anbietet: „Ich will Ihnen das mal erklären, das is so ähnlich, wie wenn ich Sie jetzt da unten auf die Straße stelle und Ihnen erkläre, Sie rennen jetzt mal ’nen 30-Kilometer-Marathon. Wenn ich allerdings hergehe und Ihnen ein Taxi rufe und Sie bis 500 Meter vor die Ziellinie fahren lasse, dann schaffen Sie’s locker über die Ziellinie.“ Bei dem Arzt hatte das zuvor noch ganz anders geklungen: „Sie geben Geld aus für eine Behandlung, die in 70 bis 80 Prozent misslingt.“ Schwierige Rahmenbedingungen Die alljährliche „100 % Leben“ (in diesem Jahr: „100 % Frauen“)-Reihe ist eigentlich eine Dokumentarfilmreihe. Das ZDF nennt den – sehr überzeugenden – Auftaktfilm „Zwei Mütter“, der in diesem Jahr auch auf der Berlinale und im Kino zu sehen war, einen „semidokumentarischen Spielfilm“. Die einzigen Schauspieler am Set waren die Hauptdarstellerinen Sabine Wolf als Katja und Karina Plachetka als Isabella. Wie Bette und Tina in L. A. durchleben sie eine konfliktreiche Zeit in Ludwigsburg. Und in Deutschland sind die Rahmenbedingungen noch schwieriger, ist die sogenannte heterologe Insemination, bei der der Samen nicht vom Partner stammt, rechtlich sehr unzureichend geregelt. Dass es dabei nicht so sehr um mutwillige Schikane geht, sondern darum, dass das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung mit dem regelmäßigen Interesse des Samenspenders – und der Empfängerin – an seiner Anonymität schlechterdings nicht vereinbar ist, davon erfährt man im Film nichts. Das ist aber nicht weiter schlimm, konzentriert sich der Film doch ganz auf die Perspektive der beiden Frauen – und die erleben ihren Kinderwunsch erst mal als Kampf gegen Windmühlen. Ihrer Geschichte liegen Erlebnisberichte von realen lesbischen Paaren zugrunde. Dabei könnten prinzipiell alle Probleme so auch in einer heterosexuellen Partnerschaft auftreten. Wenn etwa der unerfüllte Kinderwunsch bei einem Partner immer drängender wird, je länger die Bemühungen andauern. Und es dem anderen irgendwann zu viel wird: „Wollen wir nicht mal wegfahren? Wollen wir nicht mal ’ne Babypause machen?“, schlägt Katja irgendwann vor – vergebens.
Jens Müller
In „Zwei Mütter“ will ein lesbisches Paar endlich ein Kind. Der semidokumentarische Film zeigt überzeugend, welche Hürden sie dabei überwinden müssen.
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Blocos Afros - taz.de
Blocos Afros Olodum und andere brasilianische Kulturgruppen arbeiten an der Reafrikanisierung des Karnevals  ■ Von Petra Schaeber Jeden Sonntag ab acht Uhr abends ist der Pelourinho im Zentrum der Altstadt Salvadors so voll, daß man nur noch drängelnd durchkommt. Hunderte, manchmal mehrere tausend Menschen tanzen auf dem abschüssigen Platz mit dem buckeligen Kopfsteinpflaster – in dessen Mitte stand früher der Schandpfahl, an dem die Sklaven ausgepeitscht wurden. Die ehemals heruntergekommenen Bürgerhäuser rund um den Platz sind heute wieder farbig restauriert, genau wie die blaue, von Sklaven erbaute Kirche Rosário dos Petros. Jeden Sonntagabend probt hier Olodum, der Bekannteste der Blocos Afros aus der Stadt an der Allerheiligenbucht im Nordosten Brasiliens. Ein Dutzend Jungs – manchmal auch ein Mädchen – sind es, die von ihrem Meister Neguinho do Samba an den Trommeln dirigiert werden. Samba-Reggae, hat jemand die Musik genannt, doch es ist viel mehr als Samba und Reggae: Mit dünnen Gerten schlagen sie hart auf die Trommeln, die Repiques und Caixas, daß die klingen wie die Atabaques, die großen, mit Ziegenfell bespannten Holztrommeln bei den Candomblé-Festen in den afro-brasilianischen Tempeln: prasselnd, wie Regentropfen auf ein Blechdach. Die afrikanischen Rhythmen mischen sie mit dem etwas schleppenden Reggae, aber auch mit anderen karibischen Rhythmen, wie Salsa, Merengue oder Rumba. Darunter legen sie den tiefen Wechselbaß der Surdos, der Baßtrommeln, die manchmal wie beim Samba klingen. Auf einer improvisierten Metallbühne wechseln sich die Sänger ab, probieren ihre neu komponierten Lieder aus, konkurrieren mit ihren Stimmen über die voll aufgedrehte Anlage. Ab und zu spielt Bira Reis, der Arrangeur und Instrumentalist Olodums, sein Saxophon dazu. Den Chor singen die Menschen auf dem Platz. Ständig finden sich Gruppen von Tanzenden zu spontanen Choreographien zusammen. Jungs in bunten Bermudas und Träger-T-Shirts oder mit nacktem Oberkörper, das T- Shirt um den Kopf gewickelt, schleudern ihre Arme wie beim afro-brasilianischen Kampftanz Capoeira im Bogen nach vorne, knicken in den Knien ein, drehen den Oberkörper nach beiden Seiten. Herausgeputzte Paare stehen umschlungen in der Menge. Taschendiebe versuchen ihr Glück. Ein paar Touristen ragen weiß und groß aus den Tanzenden heraus. Ab und zu gibt es Schlägereien, dann stoppt der Vortrommler die Musik, und die Sänger versuchen, die Streithähne zu besänftigen. Kurz vor Mitternacht gibt der Musik-Meister der Gruppe ein Zeichen, und Olodum verschwindet, immer noch trommelnd, in einer Seitengasse. Wenig später gehört der verlassene Pelourinho wieder den Katzen und den letzten Spätheimkehrern aus dem Viertel. Populär wie Fußball oder Capoeira Olodum ist nicht nur musikalisch der erfolgreichste Bloco Afro in Brasilien, sondern auch die am eindeutigsten politisch definierte „schwarze“ Karneval- und Kulturgruppe. Die Aktivitäten der Grupo Cultural Olodum, die 1979 im „größten Barock-Slum der Welt“, dem Maciel-/Pelourinho- Viertel in Salvadors Altstadt, gegründet wurde, gehen heute weit über die einer Karnevalgruppe hinaus. Während die Banda de Olodum, die Musikgruppe Olodums, in Brasilien und im Ausland auf Tournee geht, werden zu Hause unermüdlich neue Musiken komponiert, geschrieben und produziert. Thematischer Hintergrund fast aller Lieder ist der Kampf gegen den Rassismus und die Identifizierung mit der eigenen, afrikanischen Herkunft. Über vier Jahrhunderte war Salvador Eingangstor für Millionen afrikanischer Sklaven, die von den Portugiesen nach Brasilien verschleppt wurden. Heute haben über 80 Prozent der Einwohner Salvadors eine dunkle bis schwarze Hautfarbe. Dennoch sind auch in der „afrikanischsten“ Stadt Brasiliens die sozialen Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen deutlich sichtbar und gehört ein – oft subtiler – Rassismus zum Alltag. Das Maciel-/Pelourinho- Viertel war bis vor kurzem ein von staatlichen Stellen aufgegebenes „schwarzes Getto“ mit einer hohen Kriminalitätsrate, Prostitution und Drogenproblemen. „Eines unserer ersten Anliegen war es, die Kinder von der Straße zu holen“, erzählt Joao Jorge, Präsident von Olodum. „Nicht die staatlichen Stellen zu ersetzen, sondern kulturelle Aktivitäten anzubieten und politisch zu arbeiten.“ In der Escola Criativa von Olodum lernen die Kinder das ganze Jahr über trommeln, tanzen und singen, spielen Theater, fabrizieren Masken, erfahren vieles über die „schwarze“ Geschichte Brasiliens, was nicht in den Schulbüchern steht. Über tausend Kinder sind im Karneval mit der Banda Mirim, der Kindergruppe von Olodum, durch die Straßen gezogen. In der „Fabrica do Carneval“ genannten Produktionsstätte sollen 350 Menschen in der Produktion von Karnevalskostümen und T-Shirts beschäftigt werden – die meisten aus dem Viertel. In letzter Zeit ist das „schwarze“ Getto Maciel-/Pelourinho auch bei den weißen Mittelklasse-Jugendlichen in Mode gekommen, die dienstags und sonntags die Proben Olodums besuchen und in den Bars und an den aufgebauten Verkaufsständen Bier und Cravinho, mit Nelken versetzten Zuckerrohrschnaps, trinken. Überall in Brasilien entstehen jetzt Blocos, die für die schwarzen Jugendlichen ähnlich attraktiv geworden sind wie sonst nur Fußball oder Capoeira. Und immer mehr Gruppen, die vor kurzem noch Samba gespielt haben, gehen heute dazu über, Samba-Reggae zu spielen. Reafrikanisierung des Karnevals Mit dem Bloco Afro Ilê Aiyê aus dem Stadtteil Liberdade – einem dichtbewohnten armen Viertel Salvadors, das aus einer ehemaligen Sklavenfluchtburg, einem Quilombo, entstanden ist – hatte 1975 die Reafrikanisierung des bahianischen Karnevals begonnen: Kunstvolle, mit Muscheln geschmückte Flechtfrisuren statt der üblichen glattgezogenen Haare, bunt bedruckte Stoffe, zu weiten afrikanischen Gewändern verarbeitet, statt Pailetten und Straußenfedern, weg von der standardisierten Samba-Karnevalmusik, die in Salvador genau wie in Rio gespielt wurde. Schwarze Schönheit und Werte sollten auf der Straße gezeigt werden – unabhängig von weißen Schönheitsidealen und Denkmustern. Von Anfang an durften bei Ilê keine weißen Mitglieder am Karnevalsumzug teilnehmen. Jeder der Blocos Afros, die sich in Salvador gründeten, entwickelte seinen eigenen Stil – musikalisch, politisch, kulturell. Für die Guerilheiros da Jamaica, die Krieger Jamaicas, des Bloco Afro Muzenza ist Reggae Musik und Message zugleich und Bob Marley das Idol. Der Bloco Afro Ara Ketu kommt aus Periperi, einem Industriegebiet an der Bahia de Todos os Santos, und er war zu Beginn musikalisch und inhaltlich stark am Candomblè orientiert. Seit ein paar Jahren spielt Ara Ketu eine ganz andere Musik: die Trommelgruppen wurden reduziert und die Gruppe durch Gitarre, Baß und Bläser erweitert. Die Musik ähnelt jetzt der einer Popgruppe aus dem südlichen Afrika. In Bahia ist in den letzten Jahren ein eigener Musikmarkt mit Aufnahme- und Mischstudios entstanden. 1992 wurden allein in den zehn Studios in Salvador 150 Platten aufgenommen, die zusammen rund fünfmillionenmal im Bundesstaat verkauft wurden. Von hier gingen immer wieder wichtige Impulse für die Música Popular Brasileira, MPB genannt, aus: Seit den achtziger Jahren sind es die Musiker und Komponisten der Blocos Afros und Reggae-Gruppen – die „Axé-Music“, wie sie im Südosten genannt wird – in den sechziger Jahren waren es die Tropicalisten, allen voran Gilberto Gil und Caetano Veloso. Dennoch ist gerade die bahianische Musik von dem absurden Mechanismus betroffen, daß brasilianische Musik und Interpreten erst nachdem sie im Ausland bekannt geworden sind, bei Plattenfirmen und Publikum im tonangebenden Südosten Brasiliens Erfolg haben. Auch der Durchbruch Olodums kam erst, nachdem der Amerikaner Paul Simon mit der Gruppe seinen Hit „Rhythm of the Saints“ aufgenommen hatte. Einzige Ausnahme: Daniela Mercury, „die weiße Muse der Axé-Music“, wie sie von den Medien bezeichnet wird. Daniela Mercury ist 1992 zum Star und Symbol der bahianischen Musik geworden – vor allem im überwiegend weißen Südosten Brasiliens. Sie interpretiert die Lieder der Komponisten der Blocos Afros, vor allem des Bloco Afro Ilê Aiyê – heraus kommt dabei poppige, leicht zu konsumierende Tanzmusik. Jedes Jahr entstehen in Bahia neue Musik- und Tanzstile, die teilweise nur eine Karnevalssaison Erfolg haben, teilweise stilprägend werden. Carlinhos Brown, 30 Jahre, bahianischer Perkussionist, Sänger und Komponist ist dieses Jahr auf einen Schlag zum Star unter Brasiliens Musikern geworden: Die Timbalada, seine 80köpfige Trommel-Big-Band, eine „Mischung aus High-Tech und Primitivem“ (Brown), ist seit Monaten mit ihrem Hit „Canto pro Mar“ in allen Charts – obwohl es das Lied noch gar nicht auf Platte gibt. Das Beste von Brasilien Ihre Trommeln sind bunt angemalt, und auch auf ihre Körper haben sie mit weißer Farbe seltsame Muster aus Linien, Kreisen und Punkten gezeichnet. Die weiteren Accessoires: dunkle, poppige Sonnenbrillen, ausgerissene Bermudas, Turnschuhe, um Schienbein und Handgelenk gewickelte Stoffetzen und Baseballmützen. Die Hälfte der Timbaleiros spielt Timbals, hohe, konische Trommeln, die bei ihnen wuchtig klingen wie westafrikanische Djembés. Dazwischen Reihen von Perkussionisten mit Agôgos und Cow-Bells, andere mit kleinen Trommeln, die sie mit langen Gerten bearbeiten. Dahinter Jungs mit faßgroßen Surdos, den Marschpauken. Die Rhythmen mischen sich zu einer Musik aus Samba, Rap und Funk, aus karibischem Merengue und Socca, aus Marsch- und Candomblé- Rhythmen – Musik aus einem tropischen Mixer. „Meine Musik soll Spaß machen, das Beste von Brasilien zeigen“, sagt Carlinhos Brown. „Wir machen Popmusik und nicht stereotype Ethnomusik, die unsere Armut demonstrieren soll.“ Ein kauziger, alter Mann mit Muskelshirt und kahlgeschorenem Kopf klettert eine Leiter hinauf, die an einem ungefähr drei Meter hohen Atabaque lehnt, der Trommel mit der im Candomblé die Götter gerufen werden. Der kauzige Alte, Fia Luma, „einer der Meister der Straßen Bahias“, singt zu den tiefen, aufwühlenden Tönen aus demn Atabaque in einem Kauderwelsch aus Yorubá und Portugiesisch – eine schräge Mischung aus Candomblé-Priester und alkoholischem Blues-Sänger. „Die Timbalada ist ein Betrieb der Volksunterhaltung. Kein Afrika, keine Protestmusik“, sagt Carlinhos Brown, der im Candeal Pequeno de Brotas, einem der ärmeren Viertel Salvadors, aufgewachsen ist. Brown, der seinen Namen vom Vorbild James Brown übernommen hat, ist auf Hunderten von LPs als Musiker zu hören, 125 seiner Kompositionen haben andere eingespielt. Letztes Jahr hat Bill Laswell in den USA zusammen mit Brown, Olodum und den Jazzern Wayne Shorter und Herbie Hancock eine Platte aufgenommen. Den Grammy für World-Music hat dieses Jahr der Brasilianer Sergio Mendes für eine Platte mit fünf Stücken von Brown bekommen. Brown will aber kein perkussiver Exot auf den Musikmärkten der Metropolen im Norden sein. „World Music ist ein aggressives, falsches Etikett für alle Musiken der Welt – solange sie nicht amerikanisch sind“, sagt Brown. „Der Ausdruck World Music klingt wie eine zahnlose, wabbelige Sache, wie eine Sache der Armen. Das hat mit unserer Musik nichts zu tun.“ Olodum treten morgen und übermorgen zusammen mit Zap Mama und Vinx beim Festival „Africa meets America“ im Berliner Tempodrom auf.
petra schaeber
Olodum und andere brasilianische Kulturgruppen arbeiten an der Reafrikanisierung des Karnevals  ■ Von Petra Schaeber
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Protest gegen Reform des Arbeitsrechts: Generalstreik in Frankreich - taz.de
Protest gegen Reform des Arbeitsrechts: Generalstreik in Frankreich In Frankreich protestieren Gewerkschaften, Studenten- und Schülerorganisationen gegen eine geplante Reform des Arbeitsrechts – sie sei zu unternehmerfreundlich. Auch am 9. März gab es schon einen Generalstreik Foto: dpa PARIS afp | Mit neuen Protesten haben Gewerkschaften, Studenten- und Schülerorganisationen in Frankreich gegen eine geplante Reform des Arbeitsrechts mobil gemacht. Landesweit waren am Donnerstag nach Gewerkschaftsangaben rund 200 Kundgebungen geplant. Streiks bei der Staatsbahn SNCF und bei den Pariser Verkehrsbetrieben sorgten am Morgen für Behinderungen im Nah- und Fernverkehr, wegen eines Fluglotsenstreiks wurden Flüge gestrichen und es gab Verspätungen. Aus Protest gegen die Pläne der sozialistischen Regierung blockierten Schüler zudem im Großraum Paris die Zugänge zu rund 50 Gymnasien, wie eine Schülerorganisation erklärte. Auch in anderen französischen Städten gab es Blockaden vor Schulen. Die Gewerkschaften gehen schon seit Wochen gegen die Pläne von Präsident François Hollande für eine Lockerung des französischen Arbeitsrechts auf die Barrikaden. Anfang März demonstrierten landesweit nach Angaben der Behörden mehr als 200.000 Menschen gegen die Reform, die Organisatoren sprachen sogar von rund 450.000 Demonstranten. Bei Protesten von Schülern vor einer Woche kam es zu schweren Ausschreitungen. Im Kampf gegen die Rekordarbeitslosigkeit wollen Hollande und sein Premierminister Manuel Valls unter anderem die 35-Stunde-Woche lockern und die Regeln für betriebsbedingte Kündigungen vereinfachen. Gewerkschaften und Studentenorganisationen, aber auch der linke Parteiflügel der regierenden Sozialisten kritisieren die Reform als zu unternehmerfreundlich – und das auch nach Zugeständnissen der Regierung. Das Kabinett hatte die Reform vergangene Woche beschlossen. Die Nationalversammlung wird ab dem 3. Mai im Plenum über das Vorhaben beraten. Bis dahin haben die Gewerkschaften bereits weitere Proteste angekündigt. Die Knackpunkte des Vorhabens von Staatschef François Hollande im Überblick: Lockerung der 35-Stunden-Woche Prinzipiell werden Vereinbarungen innerhalb eines Unternehmens mehr Gewicht eingeräumt als Branchenvereinbarungen. So sollen künftig bereits Vereinbarungen zwischen den Mitarbeitern und der Leitung einer Firma ausreichen, um die Arbeitszeit für bis zu zwölf Wochen auf 46 Wochenstunden auszuweiten und den Lohnaufschlag für Überstunden von 25 Prozent auf zehn Prozent zu begrenzen. Ursprünglich sollte den Chefs kleiner und mittlerer Unternehmen mit weniger als 50 Angestellten zudem erlaubt werden, alleine über eine weitere Lockerung der 35-Stunden-Woche zu entscheiden. Grundlage für die Bezahlung sollten Arbeitstage im Jahr und nicht mehr die Wochenarbeitsstunden sein. Die Regierung verzichtete aber auf das Vorhaben, sehr zum Leidwesen der Chefs kleiner Betriebe. Klarere Regeln für betriebsbedingte Kündigungen Präzisiert werden die Kriterien für betriebsbedingte Kündigungen, um Grauzonen abzuschaffen. Damit soll verhindert werden, dass Unternehmen von Arbeitsgerichten wegen unrechtmäßiger Kündigungen verurteilt werden. Betriebsbedingte Kündigungen sind künftig unter anderem möglich, wenn ein Unternehmen vier Quartale in Folge Auftragsrückgänge oder Umsatzeinbußen verzeichnet oder einen Umstrukturierungsplan für mehr Wettbewerbsfähigkeit vorlegt. Richter sollen sicherstellen, dass internationale Konzerne ihre wirtschaftlichen Probleme in Frankreich nicht aufbauschen, um Entlassungen zu rechtfertigen. Eine empfohlene Obergrenze für Abfindungen Ursprünglich wollte die Regierung eine fixe Obergrenze für Abfindungen nach einer unrechtmäßigen Kündigung einziehen. Nach scharfen Protesten von Gewerkschaften entschied sie sich aber dafür, lediglich einen nicht verpflichtenden Richtwert vorzugeben. Das wiederum hat den Zorn der Arbeitgeber erregt, die auf eine fixe Obergrenze pochen. Arbeitszeiten für Jugendliche Für besonderen Zorn bei Jugendlichen sorgten die Pläne, längere Arbeitszeiten für nicht volljährige Lehrlinge etwa im Bausektor zu erleichtern. Eine Erhöhung der Arbeitszeit von acht auf zehn Stunden pro Tag sollte ohne vorherige Genehmigung der Arbeitsinspektion möglich sein – angesichts der Proteste zog die Regierung das Vorhaben aber zurück.
taz. die tageszeitung
In Frankreich protestieren Gewerkschaften, Studenten- und Schülerorganisationen gegen eine geplante Reform des Arbeitsrechts – sie sei zu unternehmerfreundlich.
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Genmais-Verbot: Europäer trotzen WTO - taz.de
Genmais-Verbot: Europäer trotzen WTO Am Mittwoch verstreicht ein Ultimatum der Welthandelsorganisation, um dass österreichische Verbot von zwei Genmais-Sorten aufzuheben. Nun drohen die USA mit Strafzöllen. In den USA sorgt Genmais längst für keine großen Diskussionen mehr. Bild: ap BERLIN taz Die EU will sich in Sachen Genmais nicht unter Druck setzen lassen. Heute verstreicht eine Frist, die das Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) der EU gesetzt hat, um das österreichische Verbot von zwei genmanipulierten Maissorten aufzuheben. Nun drohen Handelssanktionen, die die Kläger - die USA, Kanada und Argentinien - mit Genehmigung der WTO gegen die EU verhängen können. Allerdings scheint die WTO den Konflikt entschärfen zu wollen. Nach Informationen der grünen Europaabgeordneten Hiltrud Breyer soll die Frist bis Januar verlängert werden. Österreich hat Anbau und Einfuhr der Maissorten Mon 810 des Konzerns Monsanto sowie T25 von Bayer vor Jahren verboten, obwohl beide in der EU zugelassen sind. Das WTO-Schiedsgericht hatte vergangenes Jahr gegen Österreich geurteilt. Ein Verbot könne nur auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse über eine Schädigung von Umwelt oder Gesundheit erfolgen - und die gebe es nicht. Ende Oktober weigerte sich der EU-Umweltministerrat trotzdem, das österreichische Anbauverbot zu kippen. Die Einfuhr dagegen unterstützte eine knappe Mehrheit der Minister. Auf einer so knappen Basis wollte Umweltkommissar Stavros Dimas nicht gegen die Österreicher entscheiden. Er bereitet nun einen neuen Vorschlag vor. Breyer geht fest davon aus, dass die Kommission das österreichische Verbot noch kippen wird: "Hier geht es um einen Kniefall vor der WTO und den USA." Die Kommission werde sich aber auf die Aufhebung des Importverbot beschränken, glaubt Greenpeace-Experte Marco Contiero: "Das wäre ein kluger Schachzug, denn damit kommt sie den USA entgegen, die vor allem ihr genmanipuliertes Tierfutter in die EU exportieren wollen." Zugleich werde die Kommission aber das Anbauverbot intakt lassen, denn gerade beim Anbau ergeben sich Umweltprobleme, etwa durch die Befruchtung normaler Pflanzen mit Genmais-Pollen. Auch bei der anstehenden Zulassung zweier weiterer Maissorten, Bt-11 von Syngenta und 1507 von Pioneer, will sich Umweltkommissar Dimas gegen die WTO und ihre Forderung nach unbedingtem Freihandel stellen. Als Politiker müsse er auch die Sorgen in der Bevölkerung ernst nehmen, also das Vorsorgeprinzip anwenden. Das ist im internationalen Cartagena-Protokoll über biologische Sicherheit auch ausdrücklich vorgesehen, betont Contiero: "Nur die WTO ignoriert es in ihren Entscheidungen." NICOLA LIEBERT
Nicola Liebert
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Compact Magazin und Lina E.: Kein Verdacht - taz.de
Compact Magazin und Lina E.: Kein Verdacht Seit Monaten veröffentlicht das rechtsradikale Compact Magazin zum Fall Lina E. Ermittlungsinterna. Im Fokus: ein Ermittler der Soko Linx. Wer ist hier eine Gefahr für die Gesellschaft? Werbung für Compact Foto: Mark Mühlhaus/attenzione Es ist der Tag vor dem Prozessbeginn gegen Lina E. Anfang September, als auf der Internetseite des stramm rechten Compact-Magazins ein Artikel erscheint. Berichtet wird „über die gefährlichste Linke Deutschlands“, die bei vollem Namen genannt wird: Lina E. Und das Magazin geht noch weiter. Unverpixelt zeigt es Bilder der 26-Jährigen, auch Observationsfotos und Phantombilder der Polizei, sowie ein Privatbild der Leipzigerin mit ihrem Verlobten, der ebenfalls mit vollem Namen benannt wird. Unschuldsvermutung? Schutz von Persönlichkeitsrechten? Hier nicht. Dabei sind das Grundsätze der journalistischen Verdachtsberichterstattung. Für Compact zählt dagegen offenbar etwas anderes: das Ausschlachten des Falls Lina E. für seine politischen Zwecke – und das schon seit Monaten. Schon seit März, noch vor der Anklageerhebung, berichtet Compact – das sonst eher mit rechten Krawallgeschichten statt Recherchen auffällt – über die „brutale Antifa-Hammerbande“ und ihre „mysteriöse Kommandoführerin“. Dass die Bundesanwaltschaft Lina E. vorwirft, eine linkskriminelle Gruppe gegründet zu haben, um mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme zu verüben, passt dem Magazin ins Konzept. Herausgegeben wird es von dem nach rechts abgedrifteten Jürgen Elsässer, es bespielt auch einen 150.000 Abonnenten zählenden Online-TV-Kanal. In mehreren Artikeln und einem ganzen Sonderheft zur „Antifa“ veröffentlicht Compact seitdem Interna aus dem Verfahren. „Der blonde Engel – Terror aus Connewitz“, heißt es da. Benannt werden immer wieder teils volle Namen von Beschuldigten, interne Polizeifotos werden gezeigt, Vorstrafen ausgebreitet, über angebliche „Drogendeals“ geraunt. Zu Lina E. – „roter Nagellack, Minirock“ – fällt der Vergleich mit den „RAF-Terroristinnen wie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin“. Dass hier eine linke Frau angeklagt ist, scheint das rechte Milieu besonders zu triggern. Als Quelle wird angegeben: Polizei Einer der Autoren: Mario Alexander Müller, einst Aktivist der rechtsextremen Identitären, verurteilt wegen Körperverletzung. Und Compact prahlt, man habe „tausende Seiten Fallakten gesichtet“. Als Quelle für die Fotos aus den Ermittlungsakten wird angegeben: „Polizei“. Das ist heikel. Denn der Verfassungsschutz stuft Compact als rechtsextremen Verdachtsfall ein. Das Magazin veröffentliche „Fundamentalangriffe auf demokratische Institutionen und Verfassungsorgane“, pflege Kontakte zu Rechtsextremisten und rufe mit „Revolutionsrhetorik“ selbst zum Sturz der Bundesregierung auf, heißt es dort. Und ausgerechnet hier landen Ermittlungsinterna zum Fall Lina E.? Verfahren wegen Verrats von Dienstgeheimnissen Seit einer Woche nun ist klar: Es wird wegen der Durchstechereien ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz bestätigte der taz, dass im Fall Lina E. ein Verfahren wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen gegen unbekannt eingeleitet wurde. In den Blick genommen werden dafür auch die Ermittler, welche die Vorwürfe gegen Lina E. zusammentrugen: die Soko Linx des LKA Sachsen. Die Ermittlungsgruppe wurde im November 2019 gegründet, nachdem sich in Leipzig Angriffe auf Baustellen, Polizeireviere und Autos häuften, die der autonomen Szene zugerechnet wurden. Größere Ermittlungserfolge aber blieben aus – bis zur Festnahme von Lina E. Doch die Beweislage in ihrem Fall bleibt wackelig, wie sich im bisherigen Prozessverlauf zeigte. „Beispiellose Vorverurteilung“ Neben Compact veröffentlichten auch konservative Medien wie Focus oder Welt früh Ermittlungsinterna. Die Verteidiger von Lina E. stellten deshalb bereits im Dezember 2020 Anzeige bei der Bundesanwaltschaft wegen der strafbaren Weitergabe von Akten durch Ermittlungsbehörden. Auch zu Prozessbeginn vor dem Oberlandesgericht Dresden kritisierten sie die Durchstechereien scharf: Diese sorgten für eine „beispiellose Vorverurteilung“. Offenbar solle das Verfahren „für rechte politische Interessen genutzt“ werden. Im Prozess äußerte der Richter den Verdacht, dass die Informationen von Anwälten der angegriffenen Neonazis weitergetragen worden sein könnten, die dort als Nebenkläger sitzen. Tatsächlich sind diese einschlägig vertreten: durch Frank Hannig etwa, der zuletzt den Lübcke-Mörder Stephan Ernst verteidigte, oder Martin Kohlmann, Chef des rechtsextremen „Pro Chemnitz“. Dass ihr Draht zur rechtsextremen Szene kurz ist, zeigte sich gleich zu Prozessbeginn: Noch im Saal machte Kohlmann ein Foto der Angeklagten – das umgehend der NPD-Aktivist Sebastian Schmidtke auf Twitter veröffentlichte. Gibt die Soko Linx direkt Infos weiter? Die VerteidigerInnen – und nun auch die Staatsanwaltschaft Chemnitz – haben dagegen den Verdacht, dass die Soko Linx auch ganz direkt Informationen an Compact weitergibt. Und eine Person gerät dabei besonders in den Fokus: Soko-Ermittler Patrick H. Vor einer Woche war der Enddreißiger im Prozess gegen Lina E. geladen, sollte zu den Ermittlungen zum Fall des angegriffenen Ex-NPD-Mann Enrico Böhm aussagen. Überraschend erschien Patrick H. aber mit einem Anwalt – und berief sich auf einige Fragen plötzlich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, da möglicherweise Ermittlungen gegen ihn liefen. Und diese laufen tatsächlich. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz bestätigte der taz, dass seit wenigen Tagen gegen Patrick H. wegen Verrats von Dienstgeheimnissen ermittelt werde. Ursache ist ein anderer Ermittlungsfall der Soko gegen einen Leipziger: der von Henry A. Dem 33-Jährigen wird vorgeworfen, im September 2019 an einem Angriff von linken Chemie Leipzig-Fans auf rechte Anhänger des FC Lokomotive Leipzig beteiligt gewesen zu sein – was Henry A. vehement bestreitet und bis heute unbewiesen ist. Die Lok-Fans wurden damals in einer S-Bahn mit Pyrotechnik beschossen, eine Person leicht verletzt. Der Fall Henry A. Ende April erfolgten deshalb Durchsuchungen im Leipziger Stadtteil Connewitz gegen fünf Beschuldigte. Nur einen Tag später berichtete erneut Compact dazu „exklusiv“ Ermittlungsinterna. Als erste benannte es Henry A. als Beschuldigten, seine Arbeitsstelle bei der Stadtverwaltung und die Dauer der Razzia. Wenige Wochen später legte das Magazin nach, veröffentlichte nun auch ein Observationsfoto von Henry A. und interne Polizeiberichte über ihn. Der reagierte mit einer Strafanzeige, ebenso wie Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) als oberster Dienstherr und das LKA Sachsen selbst. Compact löschte darauf beide Artikel über Henry A. aus dem Internet. Laut Staatsanwaltschaft steht Patrick H. nun im Verdacht, im Fall Henry A. Dateien aus einem beschlagnahmten Handy verschickt zu haben. Der Anwalt von Henry A. übermittelte der Behörde dafür einen Schriftsatz mit Indizien. Den Leipziger kennt Patrick H. gut: Schon vor Jahren war er nach taz-Informationen maßgeblich an den Ermittlungen gegen Henry A. und mehrere BSG Chemie-Fans beteiligt, die verdächtigt wurden, als kriminelle Bande Angriffe auf Rechtsextreme verübt zu haben. Patrick H. schrieb dabei auch Personenberichte zu Henry A.. Rund 200 Personen abgehört Der Fall geriet zum Skandal: Rund 200 Personen wurden damals abgehört, auch Gespräche mit Jour­na­lis­t:in­nen oder An­wäl­t:in­nen – das Verfahren 2017 ergebnislos eingestellt. Und es gäbe auch ein aktuelles Motiv: Denn Henry A. genehmigte in der Stadtverwaltung im Frühjahr ein Bauprojekt in der Nachbarschaft von Patrick H. – das eine Bürgerinitiative, an der sich laut A. der Polizist und seine Frau beteiligten, ablehnten. Mehrmals habe H.s Frau sich deshalb auch direkt telefonisch bei ihm beschwert. Sollte Henry A. öffentlich und bei seinem Arbeitgeber diskreditiert werden, um das Bauprojekt noch zu stoppen? Henry A. selbst jedenfalls beklagt eine „jahrelange Kampagne“ gegen sich. „Dass das LKA dafür nun offenbar mit dem rechten Compact paktiert, ist unfassbar“, sagte er der taz. Ist es Ermittler Patrick H., der auch im Fall Lina E. Informationen an Compact weitergab? Die Staatsanwaltschaft verweist hier darauf, dass gegen unbekannt ermittelt werde. Compact wie das LKA Sachsen schweigen dazu auf taz-Nachfragen. Man unterstütze die Aufklärung, sagt ein LKA-Sprecher lediglich. Was an den Vorwürfen dran sei, werde sich am Ende zeigen. Journalistenverband rügt Compact Der Deutsche Journalistenverband rügt Compact dagegen schon heute scharf. Medien hätten sich daran zu halten, dass Angeklagte bis zu einem Urteil als unschuldig gelten, betont Sprecher Hendrik Zörner. „Die Veröffentlichung ungepixelter Fotos und die Verdachtsberichterstattung von Compact sind aber nichts anderes als eine Vorverurteilung.“ Auch müssten die Ermittlungsbehörden beantworten, wie Compact an die Fotos der Beschuldigten gelangte. Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Lina E., kündigt presserechtliche Schritte gegen Compact an. „Die Artikel zu unserer Mandantin werden wir so nicht stehen lassen.“ Schon im Mai hatte Compact eine Unterlassungserklärung kassiert. Zuvor hatte es über angebliche Kontakte der Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel zu einem Beschuldigten im Lina E.-Verfahren berichtet. Nagel bestritt das unter Eid – und bekam vom Leipziger Landgericht recht. Wird die Aussage nun wiederholt, droht Compact ein Strafgeld von 250.000 Euro oder sechs Monate Haft für Herausgeber Elsässer. Auch in diesem Verfahren hatte Elsässer indes behauptet, man habe sich die Information von einem LKA-Ermittler namens Christian M. bestätigen lassen. Das Gericht hielt das für nicht überzeugend. Für Lina E.-Verteidiger von Klinggräff wäre es dagegen „ein echter Skandal“, wenn sich bestätigt, dass Ermittler Aktendetails an rechtsradikale Medien weitergaben. „Das stärkt den Verdacht, dass hier politisch orientiert ermittelt wurde. Hinter die vorgelegten Beweise setzt das ein nochmal viel größeres Fragezeichen.“
Konrad Litschko
Seit Monaten veröffentlicht das rechtsradikale Compact Magazin zum Fall Lina E. Ermittlungsinterna. Im Fokus: ein Ermittler der Soko Linx.
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Streit um Skulptur an der Uni Flensburg: Frauenbild vs. Kunstfreiheit - taz.de
Streit um Skulptur an der Uni Flensburg: Frauenbild vs. Kunstfreiheit An der Uni Flensburg ist die Skulptur einer Nackten entfernt worden, weil sie Frauen aufs Gebären reduziere. Der Asta fordert die Wiederaufstellung. Viel Wind gab's schon mal: Haupteingang der Uni Flensburg nach Schäden durch einen Sturm 2013 Foto: Sönke Rahn / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0) HAMBURG taz | Die Bronzeplastik einer nackten Frau des Künstlers Fritz During ist aus dem Foyer der Europa-Universität Flensburg (EUF) entfernt worden. Beantragt hatte das der Gleichstellungs- und Diversitätsausschuss der Hochschule. Inzwischen steht auf dem Marmorsockel ein regenbogenfarbenes Fragezeichen aus dem 3-D-Drucker. Die Angelegenheit hat eine Kontroverse um Kunstfreiheit, Wokeness und Entscheidungsabläufe an der Uni ausgelöst. Gegen das Abräumen an sich wie auch gegen die Vorgehensweise der Hochschulgremien hat jetzt der Allgemeine Studierenden-Ausschuss (Asta) protestiert. Zuvor hatte der stellvertretende Asta-Vorsitzende Janko Koch eine Petition gestartet mit der Forderung, die „Primavera“ bis auf Weiteres wieder aufzustellen – so lange, bis eine öffentliche Debatte und ein Beschluss des Akademischen Senats über ihre Zukunft entschieden haben. Mehr als 2.000 Menschen haben sie schon unterzeichnet. „Kunst darf nicht einfach so verschwinden“, findet Koch. Die Bronzeplastik war bis Ende Februar im Eingangsbereich des Uni-Hauptgebäudes, im Haus Oslo, aufgestellt. Sie zeigt eine abstrahierte Frauenfigur mit nach vorn versetztem Bein und hinter dem Kopf verschränkten Armen. Es habe Studentinnen und Wissenschaftlerinnen gegeben, die sich beim Anblick der „Primavera“ unwohl fühlten, sagte die Gleichstellungsbeauftragte der Uni, Martina Spirgatis, dem Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag (SHZ). Der taz gegenüber wollte sich Spirgatis nicht äußern und verwies wegen der Dynamik, die das Thema entfaltet hat, an die Pressestelle. Spirgatis und dem Uni-Präsidium ist es wichtig festzuhalten, dass es nicht um die Plastik an sich gehe, sondern um den Zusammenhang von Figur und Ort – sprich die Frage, „ob die Gartenplastik als figürliche Darstellung eines Frauenkörpers an einem so prominenten Ort der Universität richtig platziert sei“. Überkommenes Frauenbild? Die „Primavera“, auch Gartenplastik genannt, erregt Anstoß Foto: Antje Walther/SHZ Spirgatis verwies darauf, dass sich die Plastik an dem gleichnamigen Gemälde des Renaissance-Künstlers Sandro Boticelli orientiere. Das Wort „Primavera“ – übersetzt „Frühling“ – stehe unter anderem für „Neuanfang, Gebären“. Die Figur, die ein ausgeprägtes Becken hat, lasse „nicht einen Hauch von Intellektualität zu“, sagte Spirgatis dem SHZ. Sie symbolisiere ein „überkommenes Frauenbild, das nicht geeignet ist, an so zentraler Stelle einer Universität als Empfangsdame“ zu stehen. „Dass die Darstellung von Weiblichkeit an unserer Universität vollständig von der Interpretation des Gleichstellungs- und Diversitätsausschusses abhängig ist, ist katastrophal“, kritisiert die stellvertretende Asta-Vorsitzende Alina Jacobs. Das Gremium hat sich mit der Petition zum Schutz der Kunstfreiheit ihres Co-Vorsitzenden Koch solidarisiert. Der Asta-Vorsitzende Frank Ellenberger sagt zwar: „Die Bedenken, die insbesondere Teile der weiblichen Mitglieder der Universität hinsichtlich der Statue geäußert haben, sind selbstverständlich ernst zu nehmen.“ Gleiches gelte aber auch für diejenigen, die in der Entfernung der Statue einen Angriff auf die Kunstfreiheit sehen, obendrein ohne öffentliche Diskussion. Nicht hinnehmbar sei, dass der Akademische Senat, in dem auch Studenten vertreten sind, bei der Entscheidung übergangen worden sei. Am Ende werde eine Interessen- und Güterabwägung „auch und insbesondere im Lichte des Grundrechts auf Kunstfreiheit“ getroffen werden müssen. Dazu brauche es einen freien Diskurs. Dieser müsse „in einer (eigentlich) öffentlichen Senatssitzung stattfinden“, findet der Asta-Vorsitzende Ellenberger. Inzwischen hat auch die Universität reagiert. Zur Frage, wie mit der „Primavera“ umzugehen sei, habe das Präsidium das Fach Kunst um Stellungnahme gebeten. Dieses habe empfohlen, „die Plastik (eine solide künstlerische Arbeit ihrer Zeit und ihres Entstehungskontextes) zwar weiterhin auf dem Gelände der EUF auszustellen, aber einen weniger zentralen Ort dafür zu wählen“. Das Fach Kunst empfahl, einen weniger zentralen Ort für die Plastik zu wählen Ihr Schöpfer, Fritz During, Jahrgang 1910, war ein Schüler des von den Nazis als „entarteter Künstler“ verfemten Bildhauers und Glasmalers Ludwig Gies. Sichtbar sind Durings Werke vor allem in Schleswig-Holstein, wo viele von ihnen im Rahmen der Kunst-am-Bau-Programme der 1950er- und 1960er-Jahre entstanden. Durings Nachlass wird seit knapp 30 Jahren in Form einer Stiftung vom Kreis Plön verwaltet und in Ausstellungen zugänglich gemacht. Das Hochschulpräsidium bedauert in einer Stellungnahme, dass Durings Plastik „entfernt wurde, ohne dass im Vorfeld ein entsprechender Diskurs stattgefunden hat“. Das Fragezeichen, das jetzt den Platz auf dem Marmorsockel von Durings „Primavera“ einnimmt, sei von einer unbekannten Person aufgestellt worden, teilt die Universität mit. Es stelle aus ihrer Sicht keinen Ersatz dar. Nach der Sommerpause will das Präsidium die Gelegenheit für eine „breit zu führende öffentliche Diskussion“ schaffen. Der Akademische Senat und der Gleichstellungsausschuss sollen sich über das weitere Verfahren einigen. Im Herbst soll auch Durings Bronzeplastik wieder öffentlich zugänglich gemacht werden. Zurzeit steht sie im Büro des Hausmeisters der Universität.
Gernot Knödler
An der Uni Flensburg ist die Skulptur einer Nackten entfernt worden, weil sie Frauen aufs Gebären reduziere. Der Asta fordert die Wiederaufstellung.
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Rücktritte und Ausschluss bei der AfD: AfD-Gruppe schließt Pretzell aus - taz.de
Rücktritte und Ausschluss bei der AfD: AfD-Gruppe schließt Pretzell aus Nach Hans-Olaf Henkel verlässt auch Patricia Casale den AfD-Vorstand. Die Gruppe im Europaparlament schließt den Lucke-Gegner Marcus Pretzell aus. AfD-Parteichef Bernd Lucke (links) und der NRW-Vorsitzende Marcus Pretzell waren zuletzt aneinandergeraten. Bild: dpa BERLIN dpa | Bei der Alternative für Deutschland (AfD) geht es turbulent zu. Nach Hans-Olaf Henkel trat am Montag auch Patricia Casale aus dem Bundesvorstand der rechtskonservativen Partei zurück. Außerdem beschloss die siebenköpfige AfD-Gruppe im Europäischen Parlament mehrheitlich den Ausschluss des Abgeordneten Marcus Pretzell, der auch Landesvorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen ist. Casale habe mit sofortiger Wirkung ihr Amt als stellvertretende Sprecherin des Bundesvorstands niedergelegt, teilte Sprecher Christian Lüth mit. Zur Begründung erklärte sie, die Entwicklung der Partei und der Umgang innerhalb des Vorstandes ließen ihr keine andere Wahl. Sie hoffe, dass die Partei in ruhigeres Fahrwasser komme und sich dann wieder verstärkt „den wirklich wichtigen Themen“ zuwenden könne. Casale wohnt im rheinischen Kerpen. Sie war in der Öffentlichkeit als Mitglied des Bundesvorstands kaum in Erscheinung getreten. Der frühere BDI-Präsident Henkel hatte dem Vorstand der rechtskonservativen Partei am vergangenen Donnerstag den Rücken gekehrt. Der Vertreter des liberalen Flügels der Partei hatte sich zuvor eine längere Auseinandersetzung mit Pretzell geliefert. Pretzell sagte nach seinem Ausschluss aus der Gruppe der AfD-Europaabgeordneten: „Sie haben entschieden, dass ich nicht mehr an den Treffen der Gruppe teilnehmen soll.“ Das habe „null Auswirkungen“ auf seine Arbeit. Er dürfe lediglich nicht mehr an der wöchentlichen Sitzung der AfD-Parlamentariergruppe teilnehmen. Er genieße auch nach wie vor großen Rückhalt in seinem Landesverband Nordrhein-Westfalen, betonte Pretzell. Dies werde sich sicher auch auf dem Landesparteitag am 9. Mai zeigen. Der Bundesvorstand hatte Pretzell zuvor bereits wegen seines Verhaltens in der Affäre um die vorübergehend Sperrung der AfD-Parteikonten in NRW abgemahnt. Diese Abmahnung hat allerdings eher symbolischen Charakter und zieht kein Parteiausschlussverfahren nach sich. Pretzell war zuletzt nicht nur mit dem Europaparlamentarier Henkel, sondern auch mit dem Parteivorsitzenden Bernd Lucke aneinandergeraten. Pretzell hatte Henkel unter anderem vorgeworfen, er sei mehr im Urlaub als in seinem Abgeordnetenbüro. Henkel hatte sich seinerseits über Pretzells Finanzgebaren und mutmaßliche „Durchstechereien an die „Presse“ geärgert. Die AfD war 2013 von Gegnern der Euro-Rettungspolitik gegründet worden. Sie scheiterte bei der letzten Bundestagswahl knapp an der Fünf-Prozent-Hürde und ist heute in vier Länderparlamenten vertreten.
taz. die tageszeitung
Nach Hans-Olaf Henkel verlässt auch Patricia Casale den AfD-Vorstand. Die Gruppe im Europaparlament schließt den Lucke-Gegner Marcus Pretzell aus.
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Wenn der Babysitter fehlt - taz.de
Wenn der Babysitter fehlt ■ BRD-Team dümpelt weiter hinterher / Same procedure as every year, Sigi Das 15. Bremer Volleyballnationenturnier der Frauen ist vorbei, das deutsche Team landete auf dem 4. Platz. Aber was heißt das? Erst einmal nicht viel. Wieder einmal zeigte sich, daß die BRD-Auswahl (noch) meilenweit von der Weltspitze entfernt ist. Aber das kennen wir schon aus den vergangenen Jahren. Wer Bundestrainer Siegfried Köhler auf die Zukunft seiner Auswahl anspricht, muß seine Worte mit Bedacht wählen. Der Mann ist dünnhäutig geworden. Der nationale Verband kann ihm offensichtlich bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen nicht helfen, und die einzelnen Vereine wollen nicht. Er habe sich den Mund fusselig geredet, erklärt er mit pessimistischem Blick, aber geholfen habe es kaum. Was will der Trainer? Erst mal Zeit. Mindestens fünf Monate möchte er seine Spielerinnen im Jahr um sich haben. Und er besteht auf einem wesentlich höheren Trainingsaufwand in den Bundesliga- Vereinen. 25 Wochenstunden seien da das Minimum, fordert Köhler. Aber er weiß auch, daß er gegen Windmühlen kämpft. Die Berufsausbildung gerade der Ex- DDR- Spielerinnen (die nach dem Rücktritt der meisten West-Akteure ohnehin das Gros stellen) hat eindeutig Vorrang. Ebenso die finanzielle Absicherung. Wenn es ein Sportverband mit Blickrichtung auf die Olympischen Spiele in Atlanta 1996 nicht einmal fertigbringt, für einen Babysitter für das Kind einer Leistungsträgerin zu sorgen, und diese deshalb nur die Hälfte des Bremer Turniers mitspielen kann, gleicht das einem Armutszeugnis. Gute spielerische Ansätze sind vorhanden. Mit der Zustellerin Ines Pianka steht eine feste Größe im Team. Sie wurde gestern sogar zur besten Zuspielerin des Turniers gewählt. Susanne Lahme, die in Italien mit Volleyball ihr Geld verdient, Christina Schulz und Ute Steppin sind verläßliche (und vor allem großgewachsene) Kräfte im Angriff. Silke Roll, Hanka Pachale oder Jaqueline Riedel heißen die Hoffnungen für Olympia. So heißt es mal wieder abwarten, was aus diesem Potential wird. Das gleiche gilt übrigens für das Bremer Turnier. Abermals wurden die Organisatoren in den höchsten Tönen zurecht gelobt. Es gab großartigen Volleyball-Sport zu sehen, das Team aus Brasilien war sogar eine Augenweide an Athletik und Spielkunst. Aber was im nächsten Jahr sein wird, steht in den Sternen. Kein Sponsor, kein Grand-Prix- Status, nicht genug Fernseh-Sendeminuten, und alles könnte hin sein. Und das wäre nun wirklich jammerschade. Jürgen Francke
Jürgen Francke
■ BRD-Team dümpelt weiter hinterher / Same procedure as every year, Sigi
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Gescheiterter Warntag: Nicht nach Kichern zumute - taz.de
Gescheiterter Warntag: Nicht nach Kichern zumute Probealarme gehörten für mich in der Vergangenheit zum Alltag. Der Warntag letzte Woche war ein Reinfall, viele waren amüsiert, ich beunruhigt. Verlernt man nicht: Übung zur Verteidigung eines Atom- und Luftschlags im Oktober 1983 in Neukalen Foto: imago images Immer mittwochs in der fünften Stunde hielten wir uns die Ohren zu. Wir saßen an unseren Tischen in einer Ostberliner Polytechnischen Oberschule, natürlich wussten wir, dass an diesem wie an jedem Mittwoch Probealarmtag ist – und trotzdem fuhr uns das Geräusch zuverlässig in die Knochen. Eine Minute schwoll der Sirenenton an und ab, und wenn sechzig Sekunden um waren, spürten wir die Stille wie warmen Schaum in unsere Ohren kriechen. Jahrzehnte später, genauer gesagt am vergangenen Donnerstag, sollten ja bekanntlich deutschlandweit die noch verbliebenen Sirenen getestet werden. Passiert ist, nach allem, was man weiß, so gut wie nix. Selbst in unserer benachbarten kleinen Kleinstadt im Brandenburgischen blieb es still. Dabei haben wir intakte Sirenen. Jeden Samstagmorgen um zehn senden sie ihren hohen Ton über die Mark – es ist der Dienst am Kriegsgott versunkener Zeiten. Meine Eltern hatten seine Melodie in ihrer Kindheit noch als Abmarschbefehl in den Luftschutzkeller erfahren. Wir ostdeutschen Babyboomer lernten die Signalsprache dann im Zivilverteidigungsunterricht. Feueralarm, Katastrophenalarm, Atomalarm, chemischer Alarm, Entwarnung – manche Sachen verlernt man nie. Die Zeiten sind angespannt Dass letzte Woche alle so ein bisschen kicherig drauf waren, nachdem sich zum verabredeten Zeitpunkt nichts getan hatte, verwundert mich. Mag sein, ich bin da irgendwie ostdeutsch deformiert; aber ich fände es schon in Ordnung, wenn es funktionierende Sirenen und Warnsysteme gäbe. Die Zeiten, sie sind angespannt. Nach Kichern ist mir jedenfalls nicht zumute – egal ob es die schweigenden Sirenen, die inaktiven Warn-Apps auf meinem Handy oder – wie im Frühjahr – das Fehlen von Schutzmasken und Desinfektionsmitteln ist. Ich hätte gern das Gefühl, dass da jemand den Ernstfall für mich mitbedenkt, damit ich das nicht andauernd tun muss. Es reicht ja, sich jenes Gefühl zu vergegenwärtigen, das sich einstellt, wenn man auf der Autobahn in einen Riesenstau fährt. Wäre es nicht beruhigend, zu wissen, was los ist? Wo der Unfall ist, was man gegebenenfalls tun kann, wie lange es ungefähr dauert? Man sucht statt dessen hektisch im Autoradio den lokalen Sender und muss minutenlange Werbejingles durchleiden, bis eine Frauenstimme unangemessen fröhlich erklärt, wo der Unfall sich ereignet hat. „Rechnen Sie mit neunzig Minuten zusätzlicher Fahrzeit! Und jetzt – Musik von Phil Collins!“ Nichts soll uns spüren lassen, dass sich da vorne in der Blechlawine gerade komplette Biografien wenden, dass Leben enden. Dass da Schmerz ist. Statt dessen Discofox aus den Achtzigern und ein wenig Polstermöbelwerbung. Dass am Donnerstag der letzten Woche nichts gestört hat, weil Vater Staat seine Angelegenheiten nicht geregelt kriegt, finde ich jedenfalls ziemlich beunruhigend.
Anja Maier
Probealarme gehörten für mich in der Vergangenheit zum Alltag. Der Warntag letzte Woche war ein Reinfall, viele waren amüsiert, ich beunruhigt.
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Geschichten ihres Lebens - taz.de
Geschichten ihres Lebens Wer beim Gallery Weekend unterwegs ist, darf diese Schau nicht versäumen: Faith Ringgold in der Galerie Weiss. Hier wird die erste Einzelausstellung der afroamerikanischen Künstlerin in Deutschland gezeigt Faith Ringgold, Flag #3, 2003, Filzstift und Gouache auf Papier, 22 x 25 cm Foto: Galerie Weiss Von Beate Scheder Das Leben der Künstlerin Faith Ringgold ist wie ein offenes Buch. Wer wissen möchte, wer sie ist, braucht sich nur diesen Quilt anzusehen: „Seven Passages to a Flight“ aus dem Jahr 1997. Ringgold erzählt darauf ihre Biografie in Kurzform. Sie beginnt bei ihrer Geburt, berichtet, wie sie sich als asthmakrankes Kind zu Hause mit Malen beschäftigte, wie sie sich schon in der Schule gegen Rassismen zur Wehr setzte, wie sie gegen alle Widerstände Kunst studierte beziehungsweise Kunsterziehung, mehr war damals für sie als Frau nicht möglich. Sie schreibt davon, wie sie sich als Künstlerin entwickelte, und vom privaten Glück mit ihrer Familie. Auf den Bildern dazwischen sieht man sie entsprechend als Baby und Kind, als Studentin, als Künstlerin, als Mutter und Ehefrau. Auf dem Bild in der Mitte fliegt sie lächelnd und mit ausgebreiteten Armen über die George Washington Bridge in New York, als hätte sie Superkräfte. Es ist viel Stoff für einen Quilt, der für Ringgolds Verhältnisse noch nicht einmal besonders groß ist. Man muss ihm direkt gegenüberstehen. Fotografische Abbildungen können kaum alle Details wiedergeben, so ist es bei allen Arbeiten Ringgolds, die wie „Seven Passages to a Flight“ zurzeit in Wilmersdorf in der Galerie Weiss hängen. Die Einzelausstellung, die am Dienstagabend eröffnete, ist Ringgolds erste in Deutschland und fast die erste in Europa – in London geht am Wochenende eine kleine Werkschau zu Ende. Ziemlich unglaublich ist das angesichts Ringgolds sechs Jahrzehnte umfassenden Oeuvres, das hierzulande logischerweise noch nicht viele kennen. Dass sich das nun ändern könnte, ist der Galeristin Kirsten Weiss zu verdanken, die zwei Jahre an der Ausstellung arbeitete und es letztlich nicht nur schaffte, eine Auswahl von Kunstwerken nach Berlin zu holen, sondern auch die mittlerweile 87-jährige Künstlerin selbst. Ringgold reiste zur Eröffnung nach Berlin und hielt bei der Gelegenheit auch gleich noch am Vorabend einen Vortrag in der Humboldt-Universität im Rahmen der W. E. B. Du Bois Lecture vor mehr als vollbesetzten Reihen. Die Veranstaltung musste sogar noch in den Nebenraum übertragen werden. Dabei hätte sie es fast nicht rechtzeitig geschafft. Ringgold steht zwischen ihren Gemälden, Siebdrucken, Story Quilts und Textilskulpturen in der Berliner Ausstellung und lacht den Ärger weg, den sie zwei Tage zuvor am Flughafen in London hatte. Wegen einer Lappalie hatte man sie zunächst nicht ausreisen lassen wollen. Der Vorfall macht sie wütend, aus der Ruhe hat er sie nicht gebracht. Schließlich hat sie in ihrem Leben schon ganz anderes gemeistert. Einer jener Sätze, der sowohl in ihrem Vortrag als auch im Gespräch in der Galerie mehrfach fällt, bringt es auf den Punkt: „Keiner kann mich davon abhalten, das zu tun, was ich möchte.“ Ringgold ist 1930 in Harlem geboren, zurzeit der Großen Depression. Als junge Frau und Mutter von zwei Töchtern erlebte sie die Unruhen der 1960er und 1970er Jahre hautnah mit, die blutigen Auseinandersetzungen, die Demonstrationen der Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung, das Aufkommen der Frauenbewegung. Sie selbst musste sich stets an zwei Fronten behaupten, als Frau und als Afroamerikanerin, maßgeblich war sie unter anderem an Protesten gegen Museen beteiligt, die Kunst von Frauen oder ­People of Color benachteiligten. All das kann man in Ringgolds Künstlerbüchern und in ihrer Autobiografie ebenso nachlesen wie in ihren Bildern. Ringgold fand in den 1960ern ihre Stimme als Künstlerin. Nachdem sie nach ihrem Abschluss am City College zunächst als Lehrerin gearbeitet hatte, stellte sie sich damals in einer Galerie in Manhattan vor, zeigte die figurative Malerei, die sie zu jener Zeit machte, Stillleben und Landschaften, und wurde wieder weggeschickt: „Das kannst du nicht machen. Das ist nicht deine Geschichte“, hieß es. Ringgold fühlte sich zunächst vor den Kopf gestoßen, schließlich war das die Art von Kunst, die sie gelernt hatte, kam aber dann zur selben Überzeugung: „Kunst ist ein Ausdruck dessen, wer du bist und wo du bist, und ein Abbild der Zeit, aus der sie stammt“, sagt Ringgold heute. Glücklich sei sie über alle Arbeiten, die sie im Laufe ihrer Karriere gemacht habe, und aufregend sei es für sie, diese wie jetzt in Berlin retrospektiv zu betrachten. Zum Beispiel die beiden ältesten Arbeiten, die dort hängen, „Man“ (1967) und „Ego Painting“ (1969). Beide stammen aus der Serie „Black Light“, für die sie sich von der abstrakten Malerei der 1960er, von Ad Reinhardts „Black Paintings“ und Mark Rothkos späten, dunklen Arbeiten, inspirieren ließ, jedoch – und das unterscheidet Ringgolds Kunst radikal von der damals angesagten – mit direktem Bezug auf die gesellschaftspolitischen Ereignisse jener Jahre: „Black Light“ ist sozusagen die malerische Übersetzung von „Black is beautiful“ mit Anleihen aus Reinhardts monochromer Abstraktion und aus der grafischen Kunst Westafrikas. Vor allem in den wundervollen Quilts wird die vielleicht größte Gabe Ringgolds deutlich, selbst ernste Themen in spielerische, schöne Bilder zu verpacken „Ich wollte die Farbpalette dieser Künstler benutzen, um ein Statement zu setzen“, sagt Ringgold. „Man“ (1967) ist die zweite Arbeit aus der Serie. Sie zeigt ein maskenhaftes, schwarzes Gesicht. „Ego Painting“ (1969), auf dem sie viermal ihren Namen und jeweils zweimal „America“ und „Black“ schreibt, ist Ausdruck ihrer politischen Identität und die erste Arbeit, in der Ringgold das traditionelle Muster der Kuba aus dem Kongo benutzt. Die Art und Weise, wie Ringgold damals schon Modern Art und Folk Art verknüpfte, nahm sie später wieder auf, als sie ihre Story Quilts als Medium in die Kunst einführte. Neben „Seven Passages to a Flight“ sind in der Galerie noch „Tar Beach 2“ (1990) und „Marlon Riggs. Tongues Untied“ (1994) ausgestellt. Kaum sattsehen kann man sich an ihnen. Vor allem in den Quilts wird die vielleicht größte Gabe Ringgolds deutlich, selbst ernste Themen in spielerische, schöne Bilder zu verpacken. Das ist nämlich der Clou ihrer Verführungsstrategie: Mit vermeintlicher Leichtigkeit, mit fröhlichen Farben und optimistischen Darstellungen feministischer oder homosexueller Su­per­held*innen die Aufmerksamkeit ihres Publikums zu gewinnen, sodass dieses gar nicht mehr anders kann, als sich mit den unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen, die ihm da gerade vorgesetzt werden. Die Zeit scheint reif für Ringgolds Kunst. Im Dezember bringt das MoMA ein Buch in der Reihe „One on One“ über ihr Gemälde „Die“ (1967) heraus. Vor zwei Jahren erst hatte das Museum neun Arbeiten Ringgolds erworben. Erstmals. Für das kommende Jahr hat die Serpentine Gallery in London eine große Soloausstellung angekündigt. Ringgold selbst arbeitet gerade an einer Serie, die sich mit ihren Vorfahren beschäftigt, und an einer zu Trump. Die Themen gehen ihr nicht aus. Bis 9. Juni, Galerie Weiss, Bundesallee 221, Di.–Sa. 13–18 Uhr
Beate Scheder
Wer beim Gallery Weekend unterwegs ist, darf diese Schau nicht versäumen: Faith Ringgold in der Galerie Weiss. Hier wird die erste Einzelausstellung der afroamerikanischen Künstlerin in Deutschland gezeigt
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Debatte über neue Gentechnik: Ein Schnitt in die grüne DNA - taz.de
Debatte über neue Gentechnik: Ein Schnitt in die grüne DNA Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank stößt Diskussion zu Crispr/Cas an: Wegen der Genschere sollten die Grünen ihr Nein überdenken. Filigrane Arbeit: Genschere im Einsatz Foto: Gregor Fischer/dpa HAMBURG taz | Es gehört zum Markenkern der Grünen, an dem Katharina Fegebank rührt: Die Hamburger Wissenschaftssenatorin hat vorgeschlagen, die grundsätzliche Ablehnung ihrer Partei gegenüber der Gentechnik zu überdenken. Im Gespräch mit der taz verwies sie auf die Chancen, die mit den neuen Entwicklungen in der Gentechnik wie der „Genschere“ Crispr/Cas verbunden seien. „Die neue Gentechnik nicht zu nutzen, hätte zur Konsequenz, dass dieses hochinnovative Forschungsfeld abwandert in Länder, die hier weiter sind“, sagte Fegebank. Anlass ist ein Vorschlag der EU-Kommission, die grüne Gentechnik, also deren Einsatz in der Landwirtschaft, neu zu regeln. Die Kommission zieht damit die Konsequenz aus Neuen Gentechnischen Verfahren (NGT) wie Crispr/Cas, mit denen sich das Genom präzise verändern lässt, also genau an der Stelle, wo man es möchte. Dabei kann die DNA an einer bestimmten Stelle aufgeschnitten und ein Gen eingefügt, verändert oder abgeschaltet werden. Die durch NGT erzeugten Pflanzen sollen von den strengen Gentechnik-Regeln der EU ausgenommen werden. Dabei unterscheidet die Kommission Pflanzen in zwei Gruppen: Pflanzen, „die auch auf natürliche Weise oder durch konventionelle Züchtung entstehen könnten“, sollen wie herkömmliche Zuchtpflanzen behandelt werden. Dagegen müssen Pflanzen, die komplexere Modifikationen aufweisen, weiter gesondert gekennzeichnet werden. Anders als bei den klassischen gentechnischen Verfahren muss bei den neuen Techniken keine genetische Information nicht verwandter oder nicht kreuzbarer Arten eingeschleust werden. Sie sind also nicht transgen. Das Ergebnis sei „in der Regel genetisch nicht von konventionell gezüchteten Pflanzen unterscheidbar“, heißt es auf der Internetseite der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Mit dem neuen Verfahren werde das gleiche getan wie bei einer herkömmlichen Züchtung, behauptet die EU-Kommission, nur sei das neue Verfahren „schneller und präziser“. Crispr/Cas eröffne neue Möglichkeiten Fegebank plädiert angesichts dessen für eine „wissenschaftsoffene“ Haltung. „Die Coronapandemie hat uns die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse einmal mehr klar vor Augen geführt“, sagt sie. Im Kampf gegen die großen Krisen unserer Zeit – etwa Klimawandel und Ernährung – sei ein breites Methodenspektrum notwendig. Crispr/Cas eröffne der Forschung neue Möglichkeiten. „Es ist unsere Aufgabe, gentechnische Verfahren dabei immer differenziert nach ihren Potenzialen, ihren Risiken und Folgen zu bewerten“, sagt die Senatorin. „Differenziert“ – das zur Erinnerung – heißt bei der EU-Kommission, dass für mit den neuen Methoden veränderte Pflanzen nicht die strengen Gentechnik-Regeln gelten. Für einige in Fegebanks Partei dürfte das wie ein Paradigmenwechsel klingen. Schließlich gilt das Agrarpolitische Konzept 2025, das die Hamburger Grünen schon in der vergangenen Legislaturperiode 2019 mit ihrem Koalitionspartner SPD vereinbart haben. Darin heißt es: „Hamburg wird die bundesweite Diskussion über die gesetzliche Bewertung neuer Züchtungstechniken verfolgen, spricht sich aber klar gegen eine Aufweichung der Vorgaben des deutschen Gentechnikrechts aus.“ Der Bund solle bei der EU Ausnahmen erwirken, die es ermöglichen würden, die Gentechnik in Deutschland stärker zu beschränken, als es die europäischen Regeln vorsehen. Viel parteiinterne Überzeugungsarbeit nötig Um hiervon abzurücken, wird Fegebank eine Menge Überzeugungsarbeit in ihrer Bürgerschaftsfraktion leisten müssen. Die dort vorhandene Skepsis spiegelt sich in einem bundesweiten Positionspapier grüner Agrar- und Umweltpolitiker aus dem Jahr 2018, das sich insbesondere auf die neuen Züchtungsmethoden bezieht. Mitunterzeichnet hat es damals die Sprecherin für Umwelt und Energie der Bürgerschaftsfraktion, Ulrike Sparr. In diesem Positionspapier für das neue Grundsatzprogramm heißt es: „Die langfristigen Folgen von Agrogentechnik und der neuen Verfahren für Menschen und Umwelt sind nicht absehbar und das geltende Vorsorgeprinzip schützt uns vor unwiderruflichen Schäden.“ Es sei offensichtlich, dass zum einen das Versprechen, durch Agrogentechnik den Hunger in der Welt zu stillen, nicht eingehalten wurde und zum anderen Agrogentechnik vor allem dazu diene, Abhängigkeiten und Machtkonzentrationen zu festigen. „Neue Züchtungsmethoden (z. B. Crispr/Cas) lehnen wir ab“, heißt es kurz und bündig. Aktuell hat die Grünen-Bundestagsfraktion noch einmal bekräftigt, sie trete für „eine strenge Regulierung alter und neuer gentechnischer Verfahren“ ein. Das Positionspapier beruft sich auf Test Bio, ein Institut zur Technologiefolgenabschätzung des Ex-Greenpeace-Mannes Christoph Then. In einer Stellungnahme zum aktuellen EU-Vorschlag warnt Test Bio davor, „bestimmte Gruppen von NGT-Pflanzen von der Risikoprüfung auszunehmen“. Risikobewertung ist notwendig Die NGTs würden in der Regel dazu eingesetzt, um genetische Veränderungen zu bewirken, die über das hinausgehen, was aus konventioneller Zucht bekannt ist. „Deswegen sind in jedem Fall eine detaillierte Analyse und Risikobewertung notwendig, um Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen NGT-Pflanzen und konventioneller Züchtung zu identifizieren, bevor weitere Schlüsse gezogen werden können“, findet das Institut. In ihrem 2020 beschlossenen Grundsatzprogramm betonen die Grünen ebenfalls das Vorsorgeprinzip: „Bei Eingriffen in die Natur müssen nicht verantwortbare Risiken, wie die Ausrottung ganzer Populationen oder Arten durch gentechnische Methoden ausgeschlossen werden.“ Die Landwirtschaft solle sich am Leitbild der Gentechnikfreiheit orientieren. Mit Blick auf die neue Gentechnik wäre das aus Sicht Fegebanks zu modifizieren. „Ökologischer Landbau und die Anwendung neuer Gentechnik widersprechen sich nicht“, findet sie. „Man kann das eine tun und muss das andere nicht lassen.“ Natürlich müssten der ökologische Landbau und Kleinbauern weiterhin unterstützt und Patentfragen so geregelt werden, dass „nicht nur die Großen zum Zuge kommen“. Die Hamburger Grünen wollen das Thema nach der Sommerpause diskutieren. Fegebank zeigt sich optimistisch: „Mein bisheriger Eindruck ist, dass die Debatte heute in der Gesellschaft unaufgeregter geführt wird als noch vor ein paar Jahren.“
Gernot Knödler
Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank stößt Diskussion zu Crispr/Cas an: Wegen der Genschere sollten die Grünen ihr Nein überdenken.
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Debatte EU-Ökozölle: Wenn Ignoranz unrentabel wird - taz.de
Debatte EU-Ökozölle: Wenn Ignoranz unrentabel wird Erstmals diskutiert die EU ernsthaft, sogenannte Ökozölle zu erheben. Damit würde der Wettbewerbsvorteil von Ländern mit geringeren Klimaauflagen buchstäblich einkassiert. Derzeit berät die EU über ihre Klimapolitik. Dabei steht sie vor dem Dilemma: Wie lässt sich der Klimaschutz mit der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen sowie Fragen der sozialen Gerechtigkeit zusammenbringen? In einem freien Weltmarkt nimmt auch die EU am Wettlauf um Unternehmensansiedlungen teil - und damit auch am Wettlauf um immer niedrigere Unternehmensteuern, Sozialstandards und ökologische Auflagen. Ein solcher Wettlauf verhindert die Bekämpfung der Armut im Süden, und er bedroht den westlichen Sozialstaat. Auch in Sachen Klimaschutz unternehmen Norden wie Süden bislang zu wenig. Zwar sind die Klimagasemissionen seit 1990 weltweit um über 30 Prozent gestiegen. Doch Schwellenländer wie China oder Indien sind nach den globalen Klimaabkommen, dem Kioto-Protokoll, erst gar nicht zu einer Reduktion verpflichtet. Und die westlichen Länder werden nicht einmal ihre Mini-Zusage einhalten, die Emissionen bis 2012 - im Vergleich zu 1990 - um 5 Prozent zu verringern. Bisher steigt die Höhe der Emissionen unverändert - und dies trotz des Zusammenbruchs der Industrie in Osteuropa seit 1990. Pro Kopf ist ein Europäer daher immer noch um ein Vielfaches mehr für Emissionen verantwortlich als ein Chinese oder Afrikaner. Im "Wettlauf um die niedrigsten Standards" droht die Macht nationaler Parlamente immer mehr zu schwinden. "Nur moderate" Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen mag nämlich - wie Kürzungen in der Sozialpolitik - als unabweisbarer ökonomischer Sachzwang erscheinen, zumal der Wettlauf auch die Unternehmensteuern betrifft und so die Kassen der Sozialpolitik leert. Auch die bisherigen international bindenden Verträge wie Kioto bringen wenig. Denn zwischen den Staaten besteht der Zwang zum Konsens. So kommen, wie geschehen, nur lasche Zielsetzungen heraus, die auch ignoriert werden können, ohne dass es Sanktionen gibt. Auch das geplante Kioto-Folgeabkommen lässt wenig Gutes erwarten. Sollte die EU deshalb nicht einfach einseitig stärkere Maßnahmen zum Klimaschutz ergreifen? Etwa, indem sie den europäischen Emissionshandel drastisch ausweitet? Das wäre zwar am wirksamsten. Es wäre indes auch ein Wettbewerbsnachteil für die europäische Industrie. Und wenn Firmen vor hohen Energiekosten in die Ukraine flüchten, wo sie weiter Klimagase ausstoßen, wäre fürs globale Klima ja nichts gewonnen. Solche Wettbewerbsnachteile - und damit auch die "Flucht" von Unternehmen vor höheren Kosten - ließen sich jedoch durch ergänzende "Ökozölle" vermeiden. Diese werden jetzt erstmals ernsthaft auf EU-Ebene diskutiert. Produkte aus Ländern mit "weniger kostenintensiven" Auflagen zum Klimaschutz würden dann an den EU-Grenzen nachbesteuert, bevor sie nach Europa eingeführt würden. Umgekehrt würden die heimischen Unternehmen ihre höheren Kosten aus Steuern oder Emissionshandel, die sie in Europa zahlen, bei der Ausfuhr aus der EU zurückerhalten. Auch wenn Politik und Unternehmen gerne anderes behaupten: Solche Ökozölle wären welthandelsrechtlich zulässig, denn sie diskriminieren niemanden im globalen Freihandel. Vielmehr sorgen sie dafür, dass sich Klimaschutzverweigerer wie die USA durch Ökodumping keinen unlauteren Vorteil im globalen Wettbewerb mehr verschaffen können. Ob EU-Zölle auch gegen Sozialdumping - etwa bei katastrophalen Arbeitsbedingungen und Hungerlöhnen in China - zulässig wären, ist dagegen unklar. Doch der westliche Sozialstaat und die globale Armutsbekämpfung würden schon von reinen Ökozöllen profitieren: Als Sofortmaßnahme würden sie den Klimaschutz am wirksamsten befördern, statt ihn durch einen globalen Wettbewerb um die niedrigsten Ökostandards zu untergraben. Doch in Europa verweilt man lieber bei randständigen Details eines eher ineffektiven klimapolitischen Instrumentenwusts. Das zeigt: Die Klimapolitik scheitert keineswegs am Problem, die Industrie "wettbewerbsfähig" zu halten. Sie scheitert vielmehr an Politikern, die um ihre Wiederwahl fürchten. An Stromriesen, die sich nur am Gewinn orientieren. Und an Bürgern, bei denen die Emissionshandelskosten am Ende ankommen. Ökozölle würden es uns zwar nicht ersparen, unseren Lebensstil überdenken zu müssen. Auch gibt es bei höheren Energiepreisen durchaus Verlierer-Industrien. Ferner können Ökozölle zwar eine Vorbildwirkung haben - sie können aber auch Konflikte mit den Entwicklungsländern forcieren, weil sie dem Süden die Chance nehmen, durch Exporte in die Industriestaaten seine Armut zu bekämpfen. Letzteres wäre ein Grund, den Entwicklungsländern die Einnahmen aus Ökozollen teilweise zurückzuerstatten - im Gegenzug für Maßnahmen zum Klimaschutz. Dabei müsste deutlich werden, dass Schritte zu einer ernsthaften Umweltpolitik letztlich auch im Interesse südlicher Länder liegen. Ein Europa, das das Klima schützt, würde allein freilich noch nicht das globale Problem lösen. Ökozölle würden aber zeigen, dass sich Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung nicht ausschließen müssen. Damit könnte die EU Ländern wie China, Indien und den USA ein klimapolitisches Beispiel geben. Nur so wird man wohl die Bereitschaft wecken, ernsthaft über echte globale Klimastandards -oder auch Sozial- und Unternehmensteuerstandards - zu verhandeln. Anders als im Kioto-Protokoll müssten die Ziele dann ambitioniert sein, um auch im Westen viel massivere Anstrengungen zum Klimaschutz zu erzwingen als bisher. Zudem bräuchte es Sanktionen für den Fall der Missachtung - und Wege für Mehrheitsentscheidungen, die Blockierern kein Veto mehr einräumen. Der globale Klimastandard könnte lauten: weltweit gleiche Emissionen pro Kopf. Dann flösse Geld für den Kauf von Emissionsrechten von Nord nach Süd. Was gerecht wäre, weil wir Westler pro Kopf dem Klima mehr schaden. Dies würde nicht nur dem Klimaschutz, sondern auch dem Kampf gegen die Armut im Süden helfen; folglich indirekt den westlichen Sozialstaat vor dem Dumpingproblem schützen. Das Ganze bringt also auch in der EU etwas - selbst wenn zunächst netto Geld abfließt. Klar: Mit einer engagierteren Klimapolitik würden Autofahrten oder Urlaubsflüge teurer und seltener werden. Das aber widerspricht keinesfalls der sozialen Gerechtigkeit. Denn auch ohne Klimapolitik kann sich heute schon nicht jeder Häuser, Urlaubsflüge und Flatscreen-Fernseher leisten. Außerdem: Dass wir auf Kosten künftiger Generationen und der Menschen im Süden eine massive Schädigung des Weltklimas bewirken, ist die eigentliche soziale Ungerechtigkeit. Natürlich sollte auch heute jedem sein Existenzminimum an Strom und Wärme sicher sein. Das spricht jedoch nicht gegen hohe Energiekosten, sondern eher für moderat erhöhte Sozialleistungen. Dann bliebe jedenfalls der Anreiz zum Energiesparen erhalten.
Felix Ekardt
Erstmals diskutiert die EU ernsthaft, sogenannte Ökozölle zu erheben. Damit würde der Wettbewerbsvorteil von Ländern mit geringeren Klimaauflagen buchstäblich einkassiert.
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■ Kohl hat die Außen- zur Wirtschaftspolitik verkommen lassen: Neue Welt-Unordnung, alte Rezepte - taz.de
■ Kohl hat die Außen- zur Wirtschaftspolitik verkommen lassen: Neue Welt-Unordnung, alte Rezepte Daß es langweilig auf der Welt zuginge, nur weil der Wahlkampf langweilig ist, kann man nicht behaupten. Im Gegenteil, es passiert sehr viel. Da gibt es die politischen und militärischen Auseinandersetzungen um nachholende Staatsbildung in einer globalen Staatenwelt. In der UNO hat sie ihre Repräsentation, und bis 1989 war sie durch die Blockbildung imperial geordnet. Jetzt ist der Deckel weg. Die Besetzung Kuwaits durch den Irak war der erste Anschlag auf die UNO-Staatenwelt. Die Kriege um Jugoslawien legten ihre Widersprüche offen. Was zählt mehr: die existierende Staatlichkeit oder das Recht auf Lostrennung von Republiken, die sich als eigene Staaten konstituieren? Die Kette dieser Auseinandersetzungen reicht vom Tschetschenienkrieg über die Grenzstreitigkeiten zwischen Äthiopien und Eritrea bis zu den Kriegen im Kongo. Sie schließt aber auch den auf der Kippe stehenden Nahost-Friedensprozeß ein, aus dem, wenn er gelingt, ein palästinensischer Staat hervorgehen wird. An all diesen Punkten gerät die Staatenwelt, die aus den Weltkriegen und der Entkolonialisierung hervorging und im Kalten Krieg fixiert wurde, ins Schwimmen. Die andere Ereigniskette folgt der krisenhaften Entwicklung der globalisierten Weltwirtschaft, die die Staatenwelt mit einem eigenen Netz überzogen hat. Die „Asienkrise“ steht am Anfang, am Ende droht eine Weltwirtschaftskrise. Die Bedeutung dieser Kette von Ereignissen wird an der Börse gemessen. Deshalb wirken sie abstrakt, obwohl sie Millionen Menschen ins Elend stürzen. Trotzdem spielt die Außenpolitik im Wahlkampf kaum eine Rolle. In der Außenpolitik sei kein Blumentopf zu gewinnen und ohnehin herrsche Konsens, war zu hören. Warum also über Nebensächlichkeiten wie den Kosovo oder die verheerenden Wirkungen der Krise in Asien im Wahlkampf überhaupt reden? Allenfalls weissagte Rexrodt, die Lage in Asien habe auf den Aufschwung in Deutschland keinen Einfluß, und verkündete Waigel, sein Haushalt werde durch nichts berührt. Von der Opposition hörte man im Kanon: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Tatsächlich besteht der vielbeschworene Konsens in der Außenpolitik in einer „Kultur des Schweigens“, bei der zu fragen ist, ob sie auf Ignoranz oder Ratlosigkeit basiert. Wenn Kohl angesichts der Krise in Rußland nun den Kanzlerbonus auszuspielen versucht, der darin besteht, vortäuschen zu können, schon etwas zu tun, wo man sich öffentlich erst mal die Frage zu stellen hätte, was zu tun ist, zeigt dies ein Versäumnis der Opposition. Zwar hat Kohl außenpolitisch keine gravierenden Fehlentscheidungen getroffen, im wesentlichen aber hat er die Außenpolitik wie vieles andere auch schleifen lassen. Das hängt direkt mit der von Kohl getragenen Standortdebatte zusammen. Sie hat Außenpolitik auf Wirtschaftspolitik heruntergebracht. Indem die Regierung zugunsten der Weltwirtschaft immer mehr von der Staatenwelt absah, hat sie einen rein ökonomischen Blick auf die Welt gefördert. Unterderhand hat sie dabei aber auf eine intakte Staatenwelt gesetzt. Für die Fassade hat sie Milliarden springen lassen, vor allem für Rußland. Die Krise in Rußland stellt das Wahlkampfszenario aller Parteien in Frage: Rußland ist kein weltwirtschaftliches, sondern ein weltpolitisches Problem. Im Unterschied zu der Krise in Asien dürfte sie einen politischen Keil in das wirtschaftliche Fettpolster der Bundesrepublik schlagen. Mag sein, daß Kohl daraus Kapital schlagen kann. Für eine weitere Niederlage hätte die Opposition dann aber nicht den weltpolitischen Zufall, sondern sich selbst verantwortlich zu machen. Sie teilt das Kohlsche Weltbild, daß sich alles richten wird. Das ist falsch. Das Aufeinandertreffen von vorgeblich geordneter Staatenwelt und vorgeblich sich selbst organisierender Weltwirtschaft erzeugt wachsendes Durcheinander. Eine ernst zu nehmende Opposition hätte das schon vor Beginn des Wahlkampfes sagen müssen. Mit ihrem absoluten Primat der Innenpolitik hat sie sich dumm gestellt und Kohl ein Loch gelassen. Joscha Schmierer Der Autor ist Redakteur der Zeitschrift „Kommune“
Joscha Schmierer
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Kolumne Besser: Sabra, Schatila, Lieblingsmassaker - taz.de
Kolumne Besser: Sabra, Schatila, Lieblingsmassaker Die Nachrufe auf Ariel Scharon zeigen nicht zuletzt eines: Die Erinnerung an die Gräuel des libanesischen Bürgerkriegs ist ausgesprochen selektiv. Ariel Scharon mit seiner Frau Lily im Juli 1982. Bild: dpa Nachdem der militärische Widerstand bezwungen ist, stürmen die Milizionäre in das palästinensische Flüchtlingslager Schatila. Sie vergewaltigen, sie foltern, sie töten – ungehindert von den ganz in der Nähe postierten Einheiten einer regulären Armee. Die Rede könnte hier vom September 1982 sein, als die christlich-libanesische Falange-Miliz vor den Augen der israelischen Armee mehrere hundert bis zweitausend Palästinenser in Sabra und Schatila niedermetzelt, woran anlässlich des Todes von Ariel Scharon ausführlich erinnert wurde. Die Rede könnte aber ebenso vom Mai 1985 sein, mit den gleichen Opfern, jedoch mit der säkular-schiitischen Amal-Miliz als Killer und der syrischen Armee als zuschauender Verbündeter. Der libanesische Bürgerkrieg ist voll mit solchen Gräueltaten. Im Januar 1976 verüben christliche Milizen ein Massaker im mehrheitlich von Armeniern und Kurden bewohnten, aber von der PLO kontrollierten Beiruter Stadtteil Karantina, kurz darauf massakriert die PLO die Bewohner des christlichen Dorfes Darmur, im August 1976 schlagen christliche Milizen im palästinensischen Flüchtlingslager Tel al-Zaatar zurück usw. Jeder gegen jeden Die Opfer werden mit einigen hundert bis 1.500 beziffert. Dieses Abschlachten setzt sich fort, auch innerhalb derselben Bevölkerungsgruppe – die Falange gegen die Tiger-Miliz, die Hizbullah gegen die Amal usw. Von all diesem Gemetzel ist heute nur ein Ereignis in Erinnerung: Sabra und Schatila, 1982. Das wird noch im selben Jahr von der Mehrheit der UN-Vollversammlung als Genozid verurteilt und steht heute auf einer Stufe mit Lidice und Oradour, mit Son My und Srebrenica. Die anderen Ereignisse hingegen erregten schon damals kaum Aufmerksamkeit und sind heute (die Angehörigen der Opfer wohl ausgenommen) fast vergessen. Der Grund: In diesen Fällen war Israel nicht beteiligt. Auch die womöglich höhere Opferzahl von Sabra und Schatila erklärt den Hass auf Scharon nicht, denn dann müsste das jordanische Königshaus wegen des „Schwarzen Septembers“ noch verhasster sein. Wann wurde Arafat zur Verntwortung gezogen? Gleichwohl rechtfertigt ein Kriegsverbrechen nicht ein anderes. Und Kritiker Scharons können sich auch auf die israelische Untersuchungskommission stützen, die dessen Mitverantwortung feststellte, weshalb er als Verteidigungsminister zurücktreten musste. Man mag dies für unzureichend halten oder es anstößig finden, dass so einer danach noch Karriere machen konnte. Doch es gilt der Gleichheitsgrundsatz: Elie Hobeika, der zuständige Kommandant der Falangisten, wurde später libanesischer Minister, ohne dass jemals eine arabische Kommission seine Schuld festgehalten, geschweige denn Jassir Arafats Verantwortung für Darmur und anderes verhandelt hätte. Wer also Scharon am Sarg „Sabra und Schatila“ hinterherruft, sonst aber von nichts weiß (was sich recht leicht beheben lässt) oder nichts wissen will (was sich nicht so leicht behandeln lässt), macht sich des Verdachts schuldig, dass es ihm um etwas anderes geht als um die Erinnerung an ermordete Zivilisten. Besser: glaubwürdig.
Deniz Yücel
Die Nachrufe auf Ariel Scharon zeigen nicht zuletzt eines: Die Erinnerung an die Gräuel des libanesischen Bürgerkriegs ist ausgesprochen selektiv.
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Jahrelange U-Haft wegen Richtermangel - taz.de
Jahrelange U-Haft wegen Richtermangel Weil das Landgericht Hannover zu wenig Richter hat, sitzen zwei Angeklagte bereits seit über zwei Jahren in U-Haft. Das Bundesverfassungsgericht fordert, sie wieder freizulassen, sollte der Fall nicht schneller bearbeitet werden Das Landgericht Hannover hat sich eine Rüge des Bundesverfassungsgerichtes eingehandelt. Weil das Gericht über zu wenig Richter verfügt, sitzen zwei Albaner, die des Kokainhandels beschuldigt werden, bereits seit mehr als zwei Jahren in U-Haft. Seit Oktober 2005 wird der Fall mit durchschnittlich zwei Terminen im Monat verhandelt. Für ein Verfahren dieses Umfanges seien zwei Termine pro Woche angemessen, teilte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag mit. Das Landgericht Hannover habe aber für Oktober nur einen, für den ganzen November vier Verhandlungstermine angesetzt. Der Haftbefehl sei unverzüglich aufzuheben, wenn das Gericht nicht künftig vermehrt verhandele, sagte das Bundesverfassungsgericht. „Die Richter am Landgericht Hannover haben bereits eine enorme Arbeitsbelastung, weil sie sich mit überdurchschnittlich vielen zeitaufwändigen Haftsachen beschäftigen“, sagt Stephanie Springer, Sprecherin des Oberlandesgerichtes (OLG) Niedersachsen. Der Angeklagte jedoch „hat es nicht zu vertreten, wenn seine Haftsache nicht binnen angemessener Zeit zum Abschluss gelangt, nur weil der Staat die Justiz nicht mit dem erforderlichen richterlichen Personal ausstattet“, teilte das Bundesverfassungsgericht mit. Das ist nicht der erste Fall dieser Art in Hannover. Bereits im September musste ein als gefährlich eingestufter Sexualstraftäter freigelassen werden, weil aus Zeitmangel erst im Januar mit dem Prozess begonnen werden kann. „Er zeigt sich sehr kooperativ“, sagt Springer. Die Justiz habe Möglichkeiten, auch ohne U-Haft in Kontakt mit dem Angeklagten zu bleiben, beispielsweise über eine tägliche Meldung bei der Polizei. Dass der Angeklagte wieder eine Straftat begeht, kann man damit nicht verhindern. „Doch uns ist natürlich daran gelegen, den ‚worst case‘ zu verhindern“, sagt Springer. Bereits Anfang des Jahres habe man dem Landgericht Hannover neue Richterstellen zugeteilt, sagt die Sprecherin, das OLG sei davon ausgegangen, dass das ausreicht. Nun hat das Oberlandesgericht Niedersachsen zweieinhalb neue Stellen vorgesehen. „Die Kassen sind knapp, aber man kann eben nicht unendlich sparen“, sagt Springer. STEFANIE HELBIG
STEFANIE HELBIG
Weil das Landgericht Hannover zu wenig Richter hat, sitzen zwei Angeklagte bereits seit über zwei Jahren in U-Haft. Das Bundesverfassungsgericht fordert, sie wieder freizulassen, sollte der Fall nicht schneller bearbeitet werden
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Verbraucht und versiegelt - taz.de
Verbraucht und versiegelt Der Flächenfraß nimmt weiter zu — trotz des Klimaschutzplans der Bundesregierung. Allein in Niedersachsen wird pro Tag eine Fläche von zehn Fußballfeldern versiegelt. Schuld ist vor allem der Eigenheimbau, doch was lässt sich dagegen tun?20-22, 43–45 Zehn Fußballfelder pro Tag: Etwa 6,4 Prozent der Landesfläche Niedersachsens sind inzwischen undurchlässig. In Schleswig-Holstein sind es 5,9 Prozent, in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen 29,1 bzw. 27,2 Prozent Foto: imago
taz. die tageszeitung
Der Flächenfraß nimmt weiter zu — trotz des Klimaschutzplans der Bundesregierung. Allein in Niedersachsen wird pro Tag eine Fläche von zehn Fußballfeldern versiegelt. Schuld ist vor allem der Eigenheimbau, doch was lässt sich dagegen tun?20-22, 43–45
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Respekt und Entlarvung - taz.de
Respekt und Entlarvung Spiel mit Identitäten und der deutsch-jüdischen Geschichte: Der Badische Kunstverein präsentiert Fotos der amerikanischen Künstlerin Collier Schorr Immer wieder spielt die ungewisse Identität Jugendlicher eine Rolle von GEORG PATZER Ein strahlend blauer Himmel. Der Blick schweift sanft in die Ferne, zum schönen bergverzierten Horizont. Ganz vorne ragt ein kleiner Zaun ins Bild, der dünne Draht ist zwischen den Holzpfählchen gespannt, ein paar Blümchen schaukeln im sommerlichen Wind. Aber eine gelbe Blume ganz oben ist am Draht festgehakt, wie auf einer Wäscheleine aufgehängt, ein Gras mit roter Blüte ist hart festgezurrt. Ein absurdes Arrangement, das die Poesie der unberührten Natur jäh zerstört, den ganzen schönen romantischen Ausblick zunichte macht. Aber vielleicht ist er das ja schon lange. Die amerikanische Fotografin Collier Schorr nähert sich der deutschen Natur auf ihre Weise: drastisch, mit grell ausgeleuchteten Blümchen, die aussehen, als wären sie am Computer nachkoloriert. Deutsche Romantik? Blümchenpoesie? C.-D.-Friedrich-Ausblicke? Die will sie nicht haben. Aber Farbfotos sind selten in ihrem Werk. Im Badischen Kunstverein Karlsruhe präsentiert sie in ihrer ersten deutschen Einzelausstellung vor allem großformatige Schwarzweißfotografien, Porträts von Bekannten und Freunden aus Schwäbisch Gmünd, das sie seit über 18 Jahren jeden Sommer für einige Wochen besucht. Aber auch diese Fotos in verschiedenen Formaten sind keine romantisierenden Ansichten. Schon gar keine normalen Abbilder: Collier Schorr arbeitet mit ihren Protagonisten, gibt ihnen Rollen und lässt sie verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit und Emotionen ausprobieren. Und sie lässt die Interpretation völlig offen. So zeigt sie in „Shrapnel“ einen Jugendlichen, der Wunden auf dem Rücken präsentiert, an der Wirbelsäule, an der linken Schulter. Der Titel legt nahe, dass es Kriegsverletzungen sind, sie stammen aber von einem Skateboard-Unfall. Ein Mädchen zeigt von hinten ihr blondes, wallendes Haar, das übergangslos in die Halme der blühenden Wiese übergeht. Einen kleinen Buben zeigt sie in einer Lederhose, wie man sie vor sechzig Jahren noch getragen haben könnte. Viele ihrer Bilder verweisen auf die deutsche Geschichte, mit der die jüdische Künstlerin in Schwäbisch Gmünd konfrontiert war. Es war eine fremde und befremdende Welt, in der sie die Außenseiterin war. Verwundert war sie über den Umgang mit dem deutschen Patriotismus: Die einzige Flagge im Ort wehte über der US-Army-Base. An einem Hausgiebel fiel ihr die Inschrift „ANN FRAN“ auf: „Ich merkte, dass ich etwas sah, was sonst niemand sah. Keinem der Einwohner ist das je aufgefallen.“ Deswegen sieht man auf einigen Fotos Jugendliche, die eine Naziuniform tragen. Sie stehen in der Gegend, in der ihre Großeltern ihre Uniformen einst vergraben haben. Ein junger, sehr blonder Mann trägt eine SS-Uniform, hält einen Stahlhelm in der Hand und sieht in eine ungewisse Zukunft. Gebrochen wird diese rechtsradikale Stilisierung durch Äpfel und Orangen im Helm. Schorrs Bilder sind perfekt inszeniert, gestochen scharf, mit einem studiohaft künstlichen Aufbau, bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Sehr distanziert beobachtet Schorr ihre Umwelt, und dennoch liegt etwas Geheimnisvolles und Unbestimmtes in den Fotos. Einerseits besitzen die Aufnahmen eine Eindringlichkeit, etwas scharf Analytisches und trotzdem eine große persönliche, fast private Nähe zu den Abgebildeten. So nähert sie sich auch den Modellen mit einer Mischung aus Respekt und Entlarvung, liebevoll, anteilnehmend und gefühlvoll. Wie dem jungen Mann, der für sie die SS-Uniform anzog. Schorr erzählt: „Beim Anziehen ist er durch alle Stadien von Gefühlen gegangen: Staunen, Angst, Scham, Wut. Er hat quasi die emotionale Geschichte Deutschlands in einer halben Stunde durchlebt.“ So nah war er seiner eigenen Geschichte wohl noch nie gekommen. Vier Vitrinen zeigen im Badischen Kunstverein den Ausgangspunkt ihrer Gefühle und Überlegungen: Sammlungen von kleinen Bildern, die sie zu einem Thema komponiert, Bücher und Zeitschriftenausschnitte dazulegt. Zum Beispiel München 1972: Da liegt das Foto eines Freundes, der sich eine Jarmulke aufgesetzt hat neben einem Foto eines Jungen mit einer maskenhaften Skimütze; ein Zeitungsausschnitt über israelische Schwimmer liegt neben dem Bild des siebenfachen Goldmedaillengewinners Mark Spitz. Mit solchen Ensembles erforscht sie bildhaft auch ihre eigene Geschichte und unsichere Identität als Jüdin, als Tochter eines Armeefotografen, der sich einmal mit geliehenen Orden ablichtete, als Amerikanerin nach Vietnam- und Irakkrieg. Immer wieder spielt auch die ungewisse Identität von Jugendlichen eine Rolle, androgyne Gestalten sind zu sehen, noch unfertige. Wie in dem kurzen Film von einem jungen Menschen in einer Uniform: Da wird gar nicht erkennbar, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Oder auf den vielen Fotos von Jugendlichen, die so sicher und unsicher zugleich in der Sommerlandschaft stehen. Collier Schorrs Werk ist sehr vielschichtig. Ihre Fotos sind uneindeutig, erzählen viele Geschichten gleichzeitig, sind nicht festzulegen, sei es auf „jüdische Kunst“ oder Gender Studies. Sie sind hochreflektiert, spielen mit den Genres ebenso wie mit der Geschichte der Fotografie, der Weltgeschichte und den wechselnden Identitäten. Und haben dennoch einen großen, eigenen ästhetischen Reiz. Bis 18. 3., Katalog (Steidl-Verlag) 38 €
GEORG PATZER
Spiel mit Identitäten und der deutsch-jüdischen Geschichte: Der Badische Kunstverein präsentiert Fotos der amerikanischen Künstlerin Collier Schorr
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Die Wahrheit: Die Duschbrille - taz.de
Die Wahrheit: Die Duschbrille Ich glaub, ich werde älter! Ich wurde wach, als ich heute morgen mit der Brille unter der Dusche stand ... Ich wurde wach, als ich heute morgen mit der Brille unter der Dusche stand. Ich hatte bis dahin schon einiges erledigt, Zähne geputzt, in die Zeitung geschaut, und wohl deshalb war die Brille auf meinem Kopf. Langsam habe ich das Gefühl, sie ist mit mir verwachsen. Sie begleitet mich mittlerweile ständig. Aber noch nie in die Dusche. Dabei will ich in der Dusche gar nicht lesen. Außer wenn mir mein Bruder wieder das finnische Teershampoo schenkt, dessen Etikett ich dann vorsichtshalber lesen sollte, weil ich beim letzten Mal sofort diese „Teeren und Federn“-Assoziationen aus den „Lucky Luke“-Heften hatte. Ich habe zum letzten Geburtstag Gesichtscreme bekommen. Dabei bin ich ein Mann! Gesichtscreme. Als ob ich das brauchen würde! Was sind das für Freunde, die so etwas schenken!? Andererseits ist es eine Freundin gewesen, die mir die Dose mit dem Fett überreichte. Frauen verstehen von so was mehr als Männer. Hatte dieses Geschenk einen Subtext? Ich habe in meinem Leben nicht das Gefühl, zu altern. Dass ich nicht mehr so schnell und nicht mehr so weit jogge, liegt einzig an meinem miesen Trainingsstand. Und vielleicht an meinem Gewicht. Mein Gewicht ist ein Ergebnis meiner Genusssucht, von Pasta mit Soße, Rotwein und Haribo. Mit Alter hat das alles nichts zu tun. Gerade Haribo halte ich für ein Zeichen von Jugendlichkeit. Meine Eltern werden älter, meine Freunde und ich nicht. Ich trage immer noch Motorradstiefel und Lederjacke. Allgemein hält man mich für einen Harley-Davidson-Fahrer. Harley-Davidson fahren aber nur Herren, die älter sind. Also habe ich keine. Das Einzige, was sich bei mir verändert hat, ist die Buchstabengröße. Ich war wirklich irritiert, als die Zeitungszeilen verschwammen. Ich kaufte eine Lesebrille. Inzwischen sitze ich mit dem Ding vorm PC, ich lese Bücher damit und im Restaurant kann ich ohne Lesebrille nicht mehr bestellen. Als ein Kollege vor Jahrzehnten für Dialogtexte 16-Punkt-Schriftgröße als Ausdruck forderte, musste ich innerlich jugendlich-arrogant grinsen. In diesem Herbst druckte ich erstmals meine Manuskripte in 16 Punkt. Ich habe eine teure Lesebrille gekauft. Für mehrere hundert Euro. Die ist so exakt vermessen, dass sie bei 40 Zentimeter Abstand topscharf ist. Drüber und drunter allerdings nicht. Meine Zeitung halte ich aber weiter weg als mein Buch, und der Computer steht wieder anders. Außerdem habe ich dauernd Angst, dass der teuren Brille was passiert. Also lese ich seit Monaten mit Brillen für 3,95 Euro von Rossmann. Cool. Schwarz. Meine Freundin sagt: „Eher billig!“ Aber die Billigbrille lässt sich hervorragend auf die Stirn hochschieben. Man hat ja immer irgendetwas zu lesen, selbst um mein Navi einzustellen, brauche ich das Teil mittlerweile. Heute Morgen wollte ich mir dann den Kopf waschen. Selbstverständlich hatte ich es schon erlebt, dass ich meine Brille suchte und sie schließlich auf meinem Schädel fand. Der Klassiker. Aber nun, in der Dusche, auf meinem Kopf? Ich glaub, ich werde älter! Die Wahrheit auf taz.de
Bernd Gieseking
Ich glaub, ich werde älter! Ich wurde wach, als ich heute morgen mit der Brille unter der Dusche stand ...
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Facebook kündigt Maßnahmen an: Task-Force gegen den Hass - taz.de
Facebook kündigt Maßnahmen an: Task-Force gegen den Hass Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen ... Facebook zeigt sich gewillt, gegen Hasskommentare vorzugehen. Drei Dinge sollen künftig helfen. In der Anonymität hinter den Bildschirmen lässt es sich leicht diffamieren. Foto: dpa BERLIN dpa | | Facebook will sich nach scharfer Kritik stärker gegen die Verbreitung von Hassrede im Netz einsetzen. Unmittelbar vor einem Treffen mit Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) kündigte Facebook am Montag einen Katalog aus drei Maßnahmen an. Dazu gehöre eine Kampagne, bei der Gegenargumentation zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auch mit Hilfe internationaler Experten gefördert werden solle. Außerdem regte Facebook eine Task-Force zum Umgang mit Hassbotschaften im Internet an. Dabei gehe es darum, „komplexe Herausforderungen wie Hassrede im Internet aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und anzugehen“. Facebook wolle gemeinnützige Organisationen wie Netz gegen Nazis sowie Vertreter politischer Parteien in Deutschland einladen. Außerdem strebe Facebook beim Umgang mit Hassbotschaften eine Partnerschaft mit der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM) an. „Die Gemeinschaftsstandards von Facebook verbieten bereits Hassrede gegen geschützte Gruppen und die Aufforderung zu Gewalt gegen andere“, betonte das Online-Netzwerk. Facebook steht in der Kritik, weil manche von Nutzern gemeldeten fremdenfeindlichen Kommentare online bleiben, statt gelöscht zu werden. Das Netzwerk will bei Entscheidungen über das Löschen von Inhalten auch das Gefahren-Potenzial in der realen Welt, die Frage der Meinungsfreiheit und die gesellschaftlichen Auswirkungen abwägen. Die gemeldeten Kommentare werden nach Auskunft von Facebook von deutschsprachigen Mitarbeitern geprüft.
taz. die tageszeitung
Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen ... Facebook zeigt sich gewillt, gegen Hasskommentare vorzugehen. Drei Dinge sollen künftig helfen.
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Sibylle Berg „Zu Hause ist, wo man Todesanzeigen liest.“ - taz.de
Sibylle Berg „Zu Hause ist, wo man Todesanzeigen liest.“ Seite 30, 31
Sibylle Berg
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Roman über kindliche Influencer: Big Mother is Filming You - taz.de
Roman über kindliche Influencer: Big Mother is Filming You Eine sechsjährige Influencerin verschwindet. Delphine de Vigans Roman „Die Kinder sind Könige“ erzählt von Ausbeutung in sozialen Medien. In Delphine de Vigans Roman stellen junge Influencer ihr Glück via Youtube-Abo zur Schau Foto: Katja Kircher/plainpicture Ein Mädchen spielt mit Nachbarskindern in der Tiefgarage einer exklusiven Pariser Wohnanlage Versteck. Und verschwindet. Ein Unglück oder die Tat eines Pädophilen? Die Mutter geht bei der Vernehmung gleich von einer Erpressung aus: „Wir sind berühmt, müssen Sie wissen. Die Kinder und ich. Sehr berühmt … Ich bin sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt.“ Keiner der Beamten hat je etwas von dieser Mélanie Diore gehört – eine Verrückte? Keineswegs: Mélanie betreibt einen lukrativen Familienkanal auf Youtube, mit Millionen von Abonnenten. In den Hauptrollen ihre sechsjährige Tochter Kimmy und ihr achtjähriger Sohn Sammy. Delphine de Vigans neuer Roman „Die Kinder sind Könige“ erzählt von einer perfekt ausgeleuchteten, erschreckenden Familienidylle, in der die Wohnung nahtlos in ein Filmstudio übergeht. Und an deren zur Schau gestelltem Glück jeder via Abo teilhaben darf. Weshalb zum Beispiel beim Besuch im Schuhgeschäft die „lieben“ Follower entscheiden dürfen, welche Sneaker für Kimmy gekauft werden. In anderen Videos müssen die Kinder scheinbar verzückt immer neue Überraschungspakete auspacken oder Markenwaren mit No-Name-Produkten vergleichen. Die Kinderzimmer ähneln Spielzeuggeschäften, mit Bergen ungeöffneter Geschenkesets. Also ein durchaus ungewöhnlicher Fall für die Polizei. Dass aber im Roman gleich mehrfach betont wird, wie sehr die Welt der Kinderkanäle die „Vorstellungskraft“ der erfahrenen Ermittler übersteigt, wirkt doch etwas unglaubwürdig, zumal halb Frankreich das Leben der Diores zu verfolgen scheint. „Die meisten Leute mögen uns“, lässt die Autorin ihre Hauptfigur der Polizei erklären. „Das sagen sie uns oder sie ­schreiben es, sie fahren Hunderte von Kilometern, um uns zu sehen … Einfach verrückt, diese ganze Liebe, die wir empfangen. Sie können sich das nicht vorstellen. Aber neuerdings gibt es Gerüchte, Verleumdungen, und jetzt sind uns manche Leute böse. Sie wünschen uns Schlechtes. Weil sie neidisch sind …“ Tatsächlich kommt bald schon der Brief des Entführers, der Mélanie dazu nötigt, ein makabres Unboxing-Video zu veröffentlichen. Das BuchDelphine de Vigan: „Die Kinder sind Könige“. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont, Köln 2022, 320 Seiten, 23 Euro Gescriptete Inszenierung Was macht es mit Kindern, die als Prinz und Prinzessin voller Bewunderer (und Hater) in einer Welt des entfesselten Konsumismus leben und in der das Familienleben vom Moment des Aufstehens an eine gescriptete Inszenierung ist? Nur sensible Zuschauer wie die Ermittlerin Clara Roussel, die sich mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen durch das Archiv des Kanals arbeitet, erkennen, welchem Druck Kimmy und Sammy ausgesetzt sind. Dass die Sechsjährige auf den letzten Clips bevorzugt Kapuzenpullis trägt und sich mit dem Rücken zur Kamera setzt, ist ebenso bezeichnend wie ihr trotzig festgehaltenes Lieblingsspielzeug, ein zerschlissenes Stoffkamel, das ihre Mutter nur verächtlich „Schmuseschmutz“ nennt. In einem der von Clara gesichteten Clips findet Mélanie ihre Tochter einmal sogar allein im Aufnahmestudio; schluchzend und voller Schuldgefühle will das Mädchen seinen Fans gerade „für immer Adieu“ sagen. Prompt wendet sich Mélanie zur Kamera an ihre „Lieben“, die Follower, und kommentiert spöttisch: „Da seht ihr es, wir sind knapp davongekommen. Kimmy wollte einfach von der Bühne abtreten.“ Um Missbrauch und fatale Abhängigkeiten ging es schon in früheren Romanen von Delphine de Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“ (2011) erzählt von einer Frau, die als Mädchen von ihrer Mutter in eine Modelkarriere gedrängt wird; in „Loyalitäten“ (2018) wird ein Zwölfjähriger wegen des Ehekriegs seiner Eltern zum Alkoholiker. Virulentes Thema Mit ihrem neuen Roman hat die französische Autorin ein Thema aufgegriffen, das zwar nicht nur, aber gerade auch in ihrem Heimatland virulent ist. Erst 2020 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, dass Influencer-Kindern das „Recht auf Vergessen“ zusichert. Geschickt benutzt Delphine de Vigan dabei den Krimiplot als Transmissionsriemen zur Anprangerung gesellschaftlicher und medialer Entwicklungen. Zu Recht verortet sie zu Romanbeginn den historischen Wendepunkt, den „Übergang vom Sehen“ zum „Gesehen-, Erkannt- und Bewundertwerden-Wollen“, im Jahr 2001 mit der ersten Staffel der französischen „Big Brother“-Ausgabe „Loft“. Denn mit der Einführung des Reality-TV konnte plötzlich jeder berühmt werden. Gerade für die Protagonistin Mélanie Diore wird dieses Motiv zentral. An ihrem in Rückblenden geschilderten Lebenslauf macht die Autorin exemplarisch die mediale Entwicklung sichtbar: von einer eher desaströsen Teilnahme an einer Dating-Sendung („26 Jahre. JUNGFRAU“, notiert die Casterin begeistert) über Mélanies Faszination für Facebook, später Youtube („eine großzügige, wunderbare, allen zugängliche Welt“), um der Leere und Einsamkeit ihres Hausfrauen- und Mutterdaseins zu entgehen, bis zur lebensverändernden Geschäftsidee, der Entdeckung der ersten Kinderkanäle aus den USA. Illusionen und Selbstlügen So wie der Roman geschickt mit Elementen aus Kriminal-, Medien- und Gesellschaftsroman spielt, so zieht die Autorin auch stilistisch verschiedene Register. Routiniert wechselt sie zum Beispiel vom Protokoll- oder Berichtston zur bedrückenden Sezierung der Innensicht ihrer Figuren mit all ihren Illusionen und Selbstlügen. „Furchtbar gern“ ließen sich ihre Kinder filmen, glaubt die Mutter trotz ihrer Verzweiflung über Kimmys Verschwinden, überhaupt sei ihr Kanal „ein Geschenk, das Glanz in ihr gemeinsames Leben gebracht hatte“. De Vigans engagierter Roman ist, keine Frage, spannend zu lesen, leidet aber daran, seinen Le­se­r:in­nen kein eigenes Urteil zuzutrauen. Ein Ärgernis ist auch die allzu küchenpsychologische Motivierung der beiden Protagonistinnen. Hier Mélanie, die von ihrer Mutter nie ein anerkennendes Wort erfährt und daher lebenslang nach Bestätigung lechzt, dort ihre Gegenfigur: die empathische Polizistin Clara, die aufgrund ihrer Herkunft aus einem linksliberalen Elternhaus mit der Digitalisierung fremdelt und als nerdige Einzelgängerin ein wandelndes Klischee ist. Überhaupt dienen gerade Claras Recherchen allzu offenkundig dazu, eine in Sachen Social Media als gänzlich ahnungslos vorgestellte Leserschaft etwa über die Unterschiede von „Pranks“ und „Challenges“ aufzuklären. Was macht es mit Kindern, die als Mini-Influencer in einer Traumwelt aufwachsen? Der Roman verrät es im Schlusskapitel, einem Blick in die Zukunft des Jahres 2031: Die volljährig gewordene Kimmy verklagt ihre Mutter, ihr paranoid gewordener Bruder traut sich nicht mehr, seine Wohnung zu verlassen. Und ein Psychiater diagnostiziert bei vielen Jugendlichen ein „Truman-Syndrom“: Wie die Filmfigur sind sie davon überzeugt, „dass sie ständig gefilmt werden und dass jede Minute ihres Lebens irgendwo wiedergegeben wird: in einer virtuellen Reality-TV-Sendung, auf einer Social-Media-Plattform oder in den Tiefen des Darknets …“ Das darf, angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der heutige Jugendliche selbst Videos von sich posten, bezweifelt werden.
Oliver Pfohlmann
Eine sechsjährige Influencerin verschwindet. Delphine de Vigans Roman „Die Kinder sind Könige“ erzählt von Ausbeutung in sozialen Medien.
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Sexuelle Gewalt in Indien: Vergewaltigungen ohne Ende - taz.de
Sexuelle Gewalt in Indien: Vergewaltigungen ohne Ende Erneut werden mehrere Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder in Indien bekannt. Doch Öffentlichkeit hilft den Opfern in der Regel nicht. Teilnehmer der Kampagne zum Stopp der Gewalt gegen Frauen in Delhi. Bild: reuters DELHI taz | Es wird nicht besser. Seit die brutale Vergewaltigung einer Medizinstudenten in Delhi im vergangenen Dezember Indien und die Welt schockierte, erfährt die indische Öffentlichkeit täglich von weiteren Vergewaltigungsfällen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die letzten drei Tage lieferten wieder drei neue Horrorgeschichten. Am Freitag wurde der Fall eines sechsjährigen Mädchens aus Delhis Vorort Gurgaon bekannt, das entführt, mehrfach vergewaltigt und dann halb verblutet auf die Straße geworfen worden war. Es schwebt in Lebensgefahr, von dem Täter fehlt jede Spur. Am Samstag berichtete die größte englischsprachige Zeitung der Welt, Times of India, detailliert von einem erst zweijährigen Mädchen in Delhi, das vergewaltigt, und einem dreijährigen Jungen, ebenfalls in der Hauptstadt, der zum Analverkehr gezwungen wurde. Am Sonntag ging es dann um eine Dreizehnjährige im Bundesstaat Tamil Nadu, die von ihrem Onkel und dessen Freunden zehn Monate lang festgehalten und systematisch vergewaltigt worden war. Selten gibt es einen Fall ohne Klage über Polizisten oder Behörden, die das Verbrechen in der Regel vertuschen und als Familienangelegenheit betrachten wollen. Ein Polizist wurde vom Dienst suspendiert, nachdem er die Familie des zweijährigen vergewaltigten Mädchens aus der Polizeistation gejagt hatte. Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit Dabei erfährt die Öffentlichkeit jetzt zwar mehr über einzelne Fälle, doch wird dadurch den Opfern in der Regel nicht geholfen. Stets scheuen sich deren Familien vor der Berichterstattung, da sie glauben, ihr Familienname werde dadurch geschändet. Für die Medien macht das die Sache nicht einfacher. Sie dürfen im Zusammenhang mit Sexualverbrechen keine Namen nennen. Eben weil das den Opfern größeren Schaden zufügen könnte. Auch die Justiz folgt diesem Prinzip: Vergewaltigungsprozesse, wie auch im Fall der Delhier Medizinstudentin, finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Bleibt für die Medien nur das Drama der Straftat. Dabei zeigt sich, dass nur wenige das Thema in den Zusammenhang der allgemeinen Gewalt gegen Frauen in Indien stellen wollen. Man weiß von jährlich über 100.000 sogenannten Brautverbrennungen in Indien – Frauen, die von der Familie ihres Ehemannes getötet werden, weil sie nicht genug Mitgift einbringen. Ebenso bekannt ist die weitverbreitete Praxis der geschlechtsspezifischen Abtreibung: Mindestens 10 Millionen Mädchen wurden in Indien in den letzten 20 Jahren nicht geboren, weil ihre Familien lieber einen Jungen wollten. Doch gerade die aufgeklärte indische Öffentlichkeit will sich nicht als frauenfeindliche Gesellschaft verstehen. Also bleibt es bei den Horrorgeschichten.
Georg Blume
Erneut werden mehrere Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder in Indien bekannt. Doch Öffentlichkeit hilft den Opfern in der Regel nicht.
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