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Bildungsarmut | Bildungsmisere | bpb.de | Einleitung
In Deutschland gibt es zwischen (Aus-)Bildung und Sozialpolitik kaum Bezüge; bestenfalls werden Nach- und Weiterqualifizierung als den Arbeitsmarkt entlastend angesehen. Demgegenüber wurde in angelsächsischen Ländern unter social policy immer schon education und social security verstanden. Diese integrierte Sichtweise stand Pate für die angelsächsische Reform des Wohlfahrtsstaats gleich nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie war zugleich massiv Bildungsreform. In den USA hatte sich zudem schon im 19. Jahrhundert das Bildungswesen weit stärker und als eine Art Sozialstaatsersatz entwickelt. Das wirkt sich noch heute in der Bildungspolitik als Standortvorteil aus. In Deutschland (und Frankreich) werden beide Bereiche ressortgebunden getrennt, und die Sozialreform wurde seit 1955 zunächst vorrangig auf den so genannten "Trichter" der Rentenreform verengt, wobei eine nachholende Bildungsreform später - seit den siebziger Jahren - unabhängig von der Sozialpolitik einsetzte. Bis Mitte der neunziger Jahre war materielle "Armut" zudem selbst in der amtlichen Sozialpolitik des Bundes tabu, wie die deutsche Haltung zu den Armutsprogrammen der EG über Jahrzehnte gezeigt hat: "Es gibt keine Armut in Deutschland."
Erst in jüngerer Zeit wurde versucht, Bildungs- und Sozialpolitik zusammen zu sehen, allerdings eher erfolglos. Das entspricht den heutigen Wahrnehmungsmustern der "sozialen Frage".
Wir nennen zunächst die Ausgangspunkte der Verflechtung von Bildungs- und Sozialpolitik, um danach entsprechende Standards für eine systematische nationale Berichterstattung zu skizzieren. Zwei Definitionsgrundlagen von Bildungsarmut werden verglichen: Bildungszertifikate, also Prüfungsnachweise, und Bildungskompetenzen. Um die Verteilung von Kompetenzarmut und -reichtum geht es in einem internationalen Vergleich: Es lassen sich "vier Welten" der "Kompetenzproduktion" unterscheiden. Wir schließen mit perspektivischen Betrachtungen zur deutschen Bildungspolitik nach Erscheinen der internationalen Schülerleistungsstudie PISA über die Grundkompetenzen 15-Jähriger. I. Bildung und Sozialpolitik
Ungleichgewichte von Bildung führen zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen wie Analphabetismus (bei manchen) und Ausschluss (für nicht wenige) von normalen Integrationsformen wie Hauptschule und dualem System. Diese Defizite im Generationenverband hinterlassen Spuren und werden vergleichsweise leicht weitergegeben. Die besondere politische Herausforderung liegt daher darin, die Verteilung von Humankapital im Sinne von Bildung in eine laufende Sozialberichterstattung zu integrieren. Dieser muss sich Politik heute stellen, weil die Fortentwicklung von Humankapital und seine gleichgewichtige Verteilung für die Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft im europäischen Verbund ausschlaggebend sind. Zudem geht es hier auch um soziales, politisches Kapital, auf dem in einer Demokratie das Staatswesen aufbaut.
Im Rahmen der europäischen Integration werden Bildung und Soziale Sicherung als "Sozialpolitik" betrachtet und nicht - wie in der Bundesrepublik - in getrennten Ressorts gegeneinander abgeschottet. Für beide Bereiche werden die zentralen Verteilungsfragen gleichermaßen und integriert aufgeworfen. So können Verteilungs- und Lebenslagen präventiv beeinflusst und gegebenenfalls gestaltet werden.
Die unterschiedlichen Perspektiven nationaler Sozialpolitik zeigt M.G. Schmidt: Vergangenheitslastige Sozialpolitikaufgaben werden mit zukunftsgerichteten Bildungs- und Forschungsaufgaben anhand der Staatsausgaben verglichen. Dabei ergeben sich zwei Marschrichtungen: In den angelsächsischen Ländern wird, verglichen mit Deutschland, mehr in Bildung als in Sozialpolitik inves-tiert. In Skandinavien wird auf gleichem, wenn nicht höherem Niveau in klassische Sozialpolitik investiert, aber ebenso in Bildungspolitik. Wir verharren bewegungslos zwischen diesen Ländern: Wir tätigen anhaltend niedrige Investitionen in die Bildungs- und immer höhere in die Sozialpolitik. II. Bildungsarmut und ihre Messung
Was ist Bildungsarmut? Die Beantwortung dieser Frage ist für eine nationale Berichterstattung von zentraler Bedeutung. Man könnte ähnlich vorgehen wie bei anderen individuellen Armutslagen (unangemessenes Wohnen, schlechte Gesundheit und mangelndes Einkommen) und einen absoluten Maßstab an die Verteilung von Bildungsressourcen anlegen: einen reinen Mindeststandard. Dieses Minimum könnte durch Alphabetisierung, Absolvieren der Haupt- und der Berufsschulpflicht oder das Erreichen bestimmter Kompetenzen bestimmt werden. Ein relativer Maßstab würde auf das ganze Bildungs-Ressourcen-Gefüge abheben, auf die Positionierung in einem Verteilungsspektrum. So wären etwa alle im unteren Quintil oder Quartil der Bildungsverteilung bildungsarm.
Wir können die Verteilung von Bildungsressourcen national - in Deutschland - oder international betrachten, so im Vergleich der EU-Mitgliedstaaten. Personen, die national gesehen "bildungsreich" sind, können international "bildungsarm" sein. Die internationale Öffnung der Märkte - bei Waren und Arbeitnehmern - lässt eine nur nationale Sicht auf Reichtum und Armut an Humankapital immer hinfälliger werden: Das Veralten einzelner Berufsbilder in Ausbildungsberufen lässt sich nur vor diesem Hintergrund verstehen. Schnell verarmen hier Reiche, man betrachte nur die veränderte Beruflichkeit rund um die Neuen Technologien in den letzten 20 Jahren. Die Diskussion, welche die deutsche akademische Ausbildung an den USA misst und im oberen Bereich des Humankapitals ansetzt, trägt dieser transnationalen Vernetzung Rechnung.
Folgt man dieser Logik, eröffnet dies Perspektiven für eine Berichterstattung über Armut und Reichtum, in der die "Produktion" von Bildung systematisch in den Blick kommt. Aus einer Vielfalt möglicher Messgrößen sollten dabei nur wenige zentrale herausgegriffen werden: Zertifikate und Kompetenzen.
1. Zertifikate
Absolute Bildungsarmut ließe sich nationalstaatlich anhand fehlender Abschlusszertifikate messen. Wie beim Existenzminimum der Sozialhilfe ergäbe sich so ein zwingender Mindeststandard für alle. Er wird durch die umfassende Haupt- und Berufsschulpflicht vorgegeben. Wir haben also einfunktionales, institutionelles Äquivalent für den Mindestlohn (der angelsächsischen Länder, der Niederlande) oder das Mindestauskommen (Sozialhilfe-Regelsatz usf.). Da in der Bundesrepublik nicht die Dauer des Schulbesuchs, sondern der erfolgreiche Abschluss (Zertifikat) belohnt wird, ist ein Fehlen des Hauptschul- bzw. beruflichen Bildungsabschlusses ein hartes, klares Merkmal für Unterversorgung mit schulischer Bildung. Darauf kann eine Berichterstattung abstellen. Das betrifft im Bundesdurchschnitt bald zehn Prozent eines Abschlussjahrgangs.
Bei relativer Bildungsarmut würde sich eine zertifikatsorientierte Berichterstattung auf jenen Kreis ausweiten, der - in Zertifikaten, also Prüfungsnachweisen gemessen - weniger Bildung aufweist als der Durchschnittsdeutsche. So wird auch relative Armut gemessen, und ein solches Vorgehen wäre in Deutschland besonders wichtig. Denn akademische Bildung gilt hier nicht - wie in den angelsächsischen Ländern - als Schlüssel zu befriedigendem gesellschaftlichem Auskommen. Vielmehr wird auf eine breite, allgemeine Durchschnittsqualifikation geachtet, und zwar über das duale Berufsausbildungssystem. Entsprechend sind die staatlichen Ausgaben gewichtet. In Deutschland ist "Beruflichkeit" - nicht der job - Grundtypus sozialer Integration. Eine Berichterstattung muss daher auch der soliden Grundlegung unterhalb akademischer Qualifikationen besondere Aufmerksamkeit schenken.
Wie steht es um absolute Bildungsarmut im internationalen Vergleich? Sie bezeichnet Personen, denen als Analphabeten in allen modernen Gesellschaften die Fähigkeit zum Mindestanschluss fehlt. Bei uns handelt es sich um 0,5 bis 1,9 Millionen Menschen. Dieser - im Vergleich zu Menschen ohne Hauptschulabschluss eher kleinen - Gruppe sollte besondere Aufmerksamkeit zukommen, weil sie heute zu den "extrem Armen" zählt.
Auch relative Bildungsarmut lässt sich international bestimmen: Wie unterschiedlich ist die Verteilung auf den unteren und oberen Zertifizierungsstufen einer Kohorte, einer Jahrgangsgruppe der Bevölkerung? Gibt es Länder mit prekärer Bildungsarmut, in denen ein Gutteil der Zertifizierten sich ganz unten ballt? Oder mit einem "Durchschnittsbauch", in denen die mittlere Zertifikatsstufe die Masse auf sich zieht? Oder solche, die auf klare Polarisierung zusteuern?
2. Kompetenzen
Seit PISA lässt sich Bildungsarmut auch über Kompetenzen messen. PISA berichtet über das Verteilungsspektrum von Schülerleistungen in Leseverständnis, Mathematik, Naturwissenschaften und fächerübergreifenden Kompetenzen, so dass Armuts- und Reichtumsindizes für die Leistungen selbst entwickelt werden können.
Absolute Bildungsarmut könnte als Nichterreichen der untersten von insgesamt fünf Kompetenzstufen (= Kompetenzstufe I) definiert werden, gleichzusetzen mit funktionalem Analphabetismus. "Diese Jugendlichen sind gleichwohl keine Analphabeten. Sie besitzen elementare Lesefertigkeiten, die jedoch einer praktischen Bewährung in lebensnahen Kontexten nicht standhalten." Dies gälte für eine national wie international ansetzende Definition, jedenfalls in der OECD-Welt.
Auch relative Bildungsarmut ließe sich über Kompetenzstufen bestimmen, über das (jeweilige) innerstaatliche bzw. internationale Verteilungsspektrum. Welche Werte erreichen jene Schüler(innen), die im unteren Zehntel nationaler Verteilung liegen?
Empirisch ergibt sich: Die an nationalen und internationalen Standards gemessene absolute Bildungsarmut beläuft sich nach PISA 2000 auf zehn, OECD-weit auf sechs Prozent. Dieses Zehntel kompetenzarmer 15-Jähriger unter der Kompetenzstufe I besteht bei uns zu zwei Dritteln ausJungen, überwiegend 15-Jährige aus Haupt- (50 Prozent) und Sonderschulen (34 Prozent). DieEltern fast der Hälfte - wie auch sie selbst - sind in Deutschland geboren, und die Umgangssprache in der Familie ist Deutsch. Über ein Drittel (36 Prozent) dieser Bildungsarmen sind im Ausland geboren.
Wenn Armut relativ im Gesamtgefüge der Kompetenzverteilung verortet wird, fällt Bildungsarmut in Deutschland weitgehend mit absolut gemessener zusammen. Die relativ Kompetenzarmen sind dies auch absolut, da der untere Rand der Verteilung unterhalb der Kompetenzstufe I liegt. International verglichen ist das Ausmaß der Kompetenzarmut noch deutlicher: Im OECD-Durchschnitt umfasst der untere Rand der Verteilung nur wenige absolut Kompetenzarme: "In Deutschland erreichten die 5 Prozent leistungsschwächsten [Schüler(innen)] maximal 284 Punkte im Gesamttest. Das sind 51 Punkte weniger als für Kompetenzstufe I erforderlich sind. In 14 Teilnehmerstaaten liegt der entsprechende Wert dagegen innerhalb der Grenzen der Kompetenzstufe I. In diesen Staaten (...) sind also die 5 Prozent leistungsschwächsten [Schüler(innen)] mindestens in der Lage, Anforderungen zu bewältigen, die mit Kompetenzstufe I verknüpft sind. In Deutschland (...) liegt erst das zehnte Perzentil innerhalb der Kompetenzstufe I, und zwar genau auf der unteren Grenze des mit dieser Stufe abgesteckten Leistungsbereichs."
Auch für Bildungsreichtum lassen sich einfache Maßzahlen bestimmen. Absoluter Bildungsreichtum könnte mit Erreichen der höchsten Kompetenzstufe V gegeben sein, relativer Bildungsreichtum, wenn Personen sich zwischen 90 und 95 Prozent in der nationalen Verteilung befinden. In Deutschland überschreiten die absolut Kompetenzreichen (etwa acht Prozent der 15-Jährigen) die Kompetenzstufe V kaum und unter den relativ Kompetenzreichen sind auch Personen, die absolut betrachtet nicht kompetenzreich sind. Bei uns geht im OECD-Vergleich ausgeprägte Bildungsarmut mit eher durchschnittlichem Bildungsreichtum einher: "Es gelingt nicht, leistungsschwache Schüler heranzuführen, aber auch nicht, eine Elite zu bilden."
3. Kompetenzen versus Zertifikate
Betrachtet man den Personenkreis, welcher bei einer zertifikatsbezogenen Messung als arm gälte, und jenen, der kompetenzarm zu nennen wäre, so dürften beide Maße empirisch auseinander fallen: Von allen Schüler(inne)n, die unterhalb Kompetenzstufe I liegen, werden 89 Prozent von ihren Lehrkräften als "nicht schwache Leser" eingestuft und nur 11 Prozent als "schwache Leser". Bis zum Bildungsabschluss fortgedacht, finden wir auch Kompetenzarme unter denen, die einen Abschluss machen. Das Zehntel Zertifikatsarme wäre dann nur eine konservative Schätzung wirklich Bildungsarmer. Allerdings können unter den Zertifikatsarmen durchaus auch Kompetenzreiche sein. Dazu gibt die PISA-Studie keine Hinweise: Die 15-Jährigen sind zu jung, um einen Abschluss vorzuweisen.
Wie sind diese Maße von Bildungsarmut vergleichend zu bewerten? Welches Maß ist vorzuziehen? Zunächst scheint vieles für Kompetenzmessung zu sprechen:
1. Kompetenzstufen sind feiner graduiert als Schulstufen bzw. Abschlusszertifikate. Sie erfassen Unterschiede und Veränderungen einfacher, genauer und schneller.
2. Bei der Zertifikatmessung können die Schulen wesentlich stärker die Anforderungen bestimmen. Sie haben immer einen gewissen Spielraum, wenn sie Zertifikate vergeben und Leistungsanforderungen bestimmen. Bei der Kompetenzmessung geht es um schulextern entwickelte Anforderungsprofile. Somit lassen sich Unterschiede zwischen Schulen nicht mehr auf unterschiedliche Anforderungsniveaus der Schulen zurückführen.
3. International können Kompetenzstufen viel einfacher verglichen werden, da sich Unterschiede zwischen Bildungssystemen nicht verzerrend auswirken. Allerdings kann man von internationalen Unterschieden in der durchschnittlich erreichten Kompetenzstufe durchaus auf Unterschiede zwischen Bildungssystemen rückschließen.
In Deutschland steht dem die wichtige Frage entgegen: Inwieweit sind Kompetenzen als solche für den Eintritt ins Beschäftigungssystem und für Karrieremobilität überhaupt wesentlich? Arbeitgeber fragen selten nach Kompetenzen, sondern nach Zertifikaten. Bildungsarmut über Zertifikatsmangel zu bestimmen wäre angemessener, wenn dies die relevante Schaltgröße ist und weil seine Auswirkungen bekannt sind. Über die langfristigen Folgen geringer Kompetenz wissen wir wenig. Geht es um Folgen von Bildungsarmut für die Integration in den Arbeitsmarkt, wären in Deutschland Zertifikate aufschlussreicher als Kompetenzen. Das Gegenteil gilt, wenn wirtschaftliche Prosperität, also Innovationsfähigkeit der Wirtschaft, betrachtet werden soll, wenn es um individuelle, nicht am wirtschaftlichen Erfolg zu messende Entfaltungsmöglichkeiten geht. Beides hängt wesentlich von den grundlegenden Kompetenzen der Individuen ab, nicht von der Papier-, der Zertifikatsform.
Kompetenz- oder Zertifikatsmaße? Solange beide Messungen sich nicht überlappen, sind Bildungsarme über beide Maße gleichermaßen zu bestimmen. Mit Kompetenzmaßen sind Zertifikatsmaße von Armut nicht zu ersetzen, nur zu ergänzen. III. Vier Welten der Kompetenzverteilung
Bislang berichteten wir über Bildungsarmut als institutionell geprägtes, auf individueller Ebene gemessenes Merkmal. Aggregiert kann man auf das gesamte Verteilungsspektrum abstellen. Bildungssysteme in ihrer Gesamtheit lassen sich danach beurteilen, wie eine Jahrgangskohorte sich auf unterschiedliche Bildungsabschlüsse verteilt, aber auch danach, wie und in welchen Kompetenzwertbereichen sie über Kompetenzstufen hinweg streut.
Ein solcher Ländervergleich lässt Muster erkennen, die sich aus dem Zusammenwirken absoluter Kompetenzarmut mit absolutem Kompetenzreichtum ergeben. "Vier Welten" der Kompetenzverteilung lassen sich unterscheiden: In einigen Ländern treten Bildungsarmut und -reichtum gleichzeitig auf, die Kompetenzverteilung umfasst das gesamte Spektrum von absoluter Bildungsarmut bis zu absolutem Bildungsreichtum: so etwa in Deutschland, den USA und der Schweiz. Diagonal gegenüber finden sich die wenigen Länder, die weder absolute Kompetenzarmut noch -reichtum kennen: Korea und Spanien. Alle anderen Länder liegen zwischen diesen beiden Polen: Sie kennen nur absolute Kompetenzarmut, aber keinen absoluten Kompetenzreichtum: etwa Mexiko, Brasilien und Luxemburg. Oder sie kennen - spiegelverkehrt - nur absoluten Kompetenzreichtum, aber keine absolute Kompetenzarmut: etwa Finnland, Schweden und Frankreich. Diese einfache Zusammenstellung beruht auf zwei Bausteinen, dem Grad der Differenzierung von Kompetenzen zwischen Personen und dem durchschnittlichen Niveau der Kompetenzbildung: Bildungssysteme, bei denen der Abstand zwischen den oberen fünf Prozent (den Kompetenzhöchsten) und den unteren fünf Prozent (den Kompetenzniedrigsten) hoch ist, sind hoch differenzierend und erzeugen hohe Ungleichheit. Systeme mit einer geringen Streuung (Bandbreite) zwischen den Kompetenzhöchsten und -niedrigsten sind demgegenüber egalitär. Vom Differenzierungs- ist der Niveaueffekt zu unterscheiden: Liegen die differenzierenden bzw. nivellierenden Bildungssysteme auf durchschnittlich hohem oder niedrigem Kompetenzniveau?
Eine nach Differenzierung und Niveau gebildete Typologie hat vier Ausprägungen: Als egalitäres, kompetenzhohes und damit zentrales Land kann Finnland gelten, als ungleiches, kompetenzhohes und damit zentripetales Land Großbritannien, als ungleiches, kompetenzarmes und damit zentrifugales Land Deutschland und als ungleiches, kompetenzarmes und peripheres Land Brasilien.
Differenzierung und Niveau entsprechen vor allem zwei organisatorischen Stellgrößen: Differenzierung wird über die organisationale und regionale Gliederung des Bildungssystems gestaltet und ist bei starker Gliederung und früher Selektion besonders ausgeprägt. Das Niveau variiert stark mit Bildungsausgaben, Lehrplänen und Ausmaß der Bildungsexpansion.
Den Differenzierungseffekt hat vor allem das dreigliedrige Schulsystem mit seiner frühen, nur schwer revidierbaren Selektion von Schüler(inne)n in drei unterschiedliche "Bildungsklassen". Bildungsferne, sprachferne und kompetenzschwache Schüler(innen) können nicht in einem Lehr- und Lernzusammenhang mit ihrem starken Gegenüber wachsen. Empirische Untersuchungen in den USA und Großbritannien haben immer wieder belegt, dass kompetenzheterogene Lernumwelten kompetenzarmen Schülern helfen und kompetenzreichen Schülern kaum schaden.
Der Niveaueffekt dürfte vor allem mit der vergleichsweise niedrigen deutschen Bildungsausgabenquote zusammenhängen. Besondere Defizite bestehen in der Finanzierung des primären, unteren sekundären und tertiären Bereichs; die Finanzierung konzentriert sich auf den oberen Sekundarbereich und die berufliche Bildung, also auf "die Ausbildung für die mittleren bis höheren Berufspositionen einer Industriegesellschaft". PISA misst die mangelnden Grundkompetenzen knapp hinter dem Ende dieser langen (relativen) Vernachlässigung. Die mangelnden Kompetenzen von Kindern im sekundären Bereich lassen sich also durch ein Zusammenwirken von fehlenden Bildungsausgaben und einer Konzentration der Ausgaben im oberen Sekundarbereich erklären.
Weitere Gründe dürften mit Niveau- und Differenzierungseffekten gleichermaßen verbunden sein. Die zeitliche Beschränkung des Unterrichts auf wenige Stunden am Tag überbetont Rezeption und Abstraktion und verzichtet, verglichen mit Ganztagsschulen, eher auf Anwendung der Wissensinhalte. Weiterhin scheinen sich deutsche Kinder-"gärten" als reine Kinderpflegestätten zu verstehen, nicht aber als Bildungsstätten mit curricularem Auftrag. Bildung setzt also spät, nicht früh und spielerisch an. Das schmal gehaltene "Schulfenster" und die Vernachlässigung des Kindergartens als Lernherausforderung lässt der Differenzierung nach Herkunft ihren "natürlichen" Herkunfts-Lauf. Der untere Kompetenzbereich ist keiner pull-Wirkung nach oben ausgesetzt, die das durchschnittliche Niveau anhöbe. Auch Herausforderungen für höhere Kompetenzstufen bleiben so eng begrenzt.
Gehen wir den "vier Welten der Kompetenzproduktion", angelehnt an G. Esping-Andersen, nach bzw. mit F. G. Castles den Families of Nations, so finden sich einige interessante Anhaltspunkte. Die Families, die auf Verwandtschaft im allgemein politisch-kulturellen Rahmen abstellen, dürften dabei aufschlussreicher sein.
Die Homogenität, also die geringe Differenzierung, ist in den skandinavischen Ländern weit deutlicher ausgeprägt als in den angelsächsischen Ländern. Die konservativen Länder gehen noch einen kleinen Schritt weiter in Richtung höherer Differenzierung (mit Österreich als leichtem Ausreißer nach oben). Beim Niveau kehrt sich die Reihenfolge um: Hier kommen die angloamerikanischen Länder als erste ins Ziel, gefolgt von den skandinavischen Ländern und dann, als einzige Weltengruppe unter der OECD-Durchschnittsmarke liegend, von den konservativen Ländern, darunter Deutschland.
In föderal organisierten OECD-Ländern ist die Differenzierung nur etwas betonter als im allgemeinen OECD-Durchschnitt, in den europäischen Föderalstaaten allerdings noch betonter, und dann überraschend stark in den zwei besonders ausgeprägten kontinentalen Bundesstaaten: in Deutschland und der Schweiz. Im Niveau liegen alle föderalen Länder zusammen über dem OECD-Mittelwert. Allerdings liegen die kontinentalen Föderalstaaten schon etwas unter dem Mittelwert, und - vernachlässigt man Österreich als eher föderalistisch verkleideten Einheitsstaat - so finden wir Deutschland und die Schweiz als Schlusslichter auch im Niveau deutlich abgesetzt. Föderalismus wirkt als ein "Verstärker": Er schützt dezentrale Tendenzen zur stärkeren Gliederung des Bildungssystems ebenso wie nicht hinreichende Investitionen in Bildung. IV. Perspektiven
Die Betrachtung von Risikoschüler(inne)n bzw. Bildungsarmen führt in eine Diskussion über Schulstruktur (Dreigliedrigkeit), Ganztagsschulen und Zuschnitt von Kindergärten. Es ist hier jedoch weder Ort noch Platz, zu dieser Diskussion beizutragen.
Diskussionen dieser Grundfragen wurden bei uns allerdings überhaupt erst wieder nach diesen Kompetenzmessungen, vergleichenden Auswertungen und ihrer großen öffentlichen Resonanz möglich, bislang aber ohne Identifizierung der Schulen selbst. Diese Studien sollten ausgebaut, fortgeführt und die Daten auch für einzelne Schulen offen gelegt werden. Nur so kann eine Reformdynamik entstehen, welche die zu beklagende Ausgangslage verändert.
Eine Kompetenzmessung ist zusätzlich nötig, um stärker an den Schulen selbst, an den Ursachen vor Ort ansetzen zu können. An britischen Schulen wurde Kompetenzmessung flächendeckend eingeführt und mit Wahlmöglichkeiten bei fiskalischen Auswirkungen auf die Schule gekoppelt. Schüler haben erhebliche Kompetenzgewinne erzielt, und die durchschnittlichen Kompetenzwerte aller britischen Schulen wurden wesentlich gesteigert. Markante Schereneffekte wurden befürchtet, haben sich aber nicht bestätigt. Vielleicht schlägt in Deutschland die weit verbreitete Aversion gegen Kompetenzmessung in ein Erkennen ihrer Nützlichkeit für Bildungsreform um?
Wer bislang auf Bildungsarmut hinwies, dem wurde entgegnet: "Diese Kinder können es nicht besser", sie sind dumm. Großbritannien, Finnland und (Süd-) Korea zeigen deutlich, dass die Umwelt dieses Könnens-Potenzial ganz erheblich ausschöpft oder, wie in Deutschland, unterfordert bzw. begrenzt. Structure matters: Die Schulumwelt bestimmt die erreichbaren Kompetenzstufen. Absolut gemessene Bildungsarmut ist vermeidbar, wie der PISA-Erfolg von 14 Ländern zeigt. Ferner können so auch Gruppen, die zertifizierungsarm, aber kompetenzreich sind, stärker ins Bildungssystem integriert werden.
Bemerkenswert bleibt, dass Kultusministerien und Lehrergewerkschaften einige Energie darauf verwandten, der PISA-Erhebung einen Riegel vorzuschieben bzw. sie nur in begrenzter Weise zuzulassen, also keine konkreten Schulvergleiche zu erlauben. Ein Protest gegen diese Intransparenz hat bislang nirgends stattgefunden. Die Eltern sind zufrieden? Der Bund schaut zu? Die Schulen selbst meiden den Wettbewerb? Die Länder haben parteiübergreifend kein Interesse an genaueren Informationen? Die Gewerkschaften suchen Solidarität in der Informationsvermeidung?
Mit Blick auf Großbritannien und die USA, wo diese Daten routinemäßig erhoben werden, ist diese Stille verdächtig. Sie könnte zur Ruhe vor dem Sturm werden, wenn nicht wenigstens eine begrenzte, kontrollierte Öffnung versucht wird, um an die Ursachen für Unterschiede im realen Schulvergleich heranzukommen - und Abhilfe zu schaffen. Bei allem Unbehagen an Neoliberalem werden wir uns auch ein wenig in Richtung eines "Quasi-Markts" bewegen müssen.
Bei öffentlichkeitswirksamer Thematisierung von Bildungsarmut und nötigen Reformen stehen wir vor einer Hürde, die nur wenige Staaten mit uns teilen: Ein ausgeprägter Föderalismus und eine Sozialpolitik, die alle anderen Themen kraftvoll verdrängt, wirken zusammen. Der Tanker "Sozialversicherungsstaat" drängt mit 60 Prozent der Staatsausgaben die kleinen Bildungsboote in Ländern und Gemeinden ab. Diese Lage besteht in der OECD-Welt vornehmlich in Deutschland.
Zwei Instrumente "sozialen Risikomanagements" gegenüber Armut sind - anders als in Großbritannien - dem Zentralstaat, wegen der vertikal geteilten Kompetenzordnung, bei uns nur begrenzt zugänglich: Sozialhilfe und Bildungswesen. Bei Einkommensarmut und -reichtum ist die Lage insofern anders als bei Bildung, als der Steuerzugriff weitgehend beim Bund liegt. Der Bund müsste also soziale Kohäsion bei der Bildungsarmut gerade dort als Perspektive einbringen, wo er direkt kaum tätig werden kann. Eine nationale Berichterstattung tendierte auf einmal zu Ersatz-Politik und Politik-Ersatz: Ersatz-Politik, denn dem Bund ist der Zugang föderalistisch versperrt, also verlegt er sich aufs Symbolische, Berichtende; Politik-Ersatz, denn das bundesweite politische Räsonnieren geschieht im "Als-ob", tritt an die Stelle politischen Handelns, ersetzt bzw. vertagt eine durchgreifende Bildungspolitik und Bildungsreform.
"Quasi-Markt" in einem föderalen Deutschland hieße aber auch, ihm eine andere Bedeutung als in Großbritannien zu geben: Diesem Wettbewerb wären durch neue institutionelle Rahmenbedingungen, durch ergebnisorientierte föderale Verbundsysteme, Möglichkeitsräume zu geben und Grenzen zu ziehen: Wir bekommen in der Bildungspolitik keinen britischen Einheitsstaat und keinen Einheitsmarkt, aber wir könnten auf einen koordinierten Bildungs-Föderalismus zusteuern, der die Abhängigkeit der Sachausstattung von den Gemeindefinanzen, der Personalausstattung von den Ländern und die diversen Struktur-Trennungen - Dreigliedrigkeit, Bildung versus Betreuung - deutlich und nachvollziehbar relativiert. Schonung und Einhegung des deutschen Föderalismus sind der Weg.
Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005 könnte an der für den deutschen Föderalismus besonders kritischen Schnittfläche von Sozial- und Bildungspolitik erheblich weiter gehen. Ohne verlässliche Berichterstattung zur Bildung des Humankapitals bewegt sich ein Land wie Deutschland, das von Bildung und Wissen so stark abhängt, im "sozialpolitischen Blindflug". Vor allem die unterschiedlichen wissenschaftlichen (Teil-)Disziplinen, die sich mit Bildungsfragen befassen, wären zu ermutigen, der Sozialpolitik der Verteilung der Bildungsressourcen, also der Chancengleichheit des 21. Jahrhunderts, mehr Aufmerksamkeit zu widmen und in der Grundlagenforschung deutliche Akzente zu setzen.
Können wir uns zwischen den zwei Marschrichtungen entscheiden? Zwischen angelsächsischem Weg, bei dem prioritär in Bildungs- statt Sozialversicherungspolitik zu investieren ist? Oder dem skandinavischen Weg, bei dem auf hohem Niveau in beide Bereiche investiert wird? Oder gehen wir einen "dritten", brasilianischen Weg, wo beide Bereiche getrost vernachlässigt werden? Buridans deutscher Esel könnte immerhin zwei tragfähige internationale Eselsbrücken nutzen. Das brächte uns kompetenzorientiert und kontrolliert zurück zum demokratischen Ausgangspunkt der Bildungsreform der siebziger Jahre: "Die Schule der Nation (...) ist die Schule" (Willy Brandt).
Vgl. T. H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: ders., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates Frankfurt/M. 1991, S. 33 - 94 (zuerst 1950; 1949 A. Marshall Lecture, Cambridge) - den englischen Klassiker der Sozialpolitikforschung zur Zeit des Beveridge-Plans.
Vgl. A. J. Heidenheimer, Education and Social Security Entitlements in Europe and America, in: P. Flora/A. J. Heidenheimer (Hrsg.), The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick, NJ - London 1981, S. 269 - 306.
Vgl. H.G. Hockerts, Sozialpolitische Reformbestrebungen in der frühen Bundesrepublik - Zur Sozialreform-Diskussion und Rentengesetzgebung 1953 - 1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, (1977) 25 S. 341 - 372.
Vgl. J. Allmendinger/S. Leibfried, Bildungsarmut im Sozialstaat, in: G. Burkart/J. Wolf (Hrsg.), Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen, Opladen 2002, S. 287 - 315, hier S. 288f.; J. Allmendinger, Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik, in: Soziale Welt, 50 (1999) 1, S. 35 - 50; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bd. 2: Daten und Fakten. Materialband zum ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2001, S. 155 - 162.
Vgl. M. G. Schmidt, Das politische Leistungsprofil der Demokratien, in: M. Th. Greven (Hrsg.), Demokratie - eine Kultur des Westens. 20. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft, Opladen 1999, S. 181 - 200. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag des Autors in dieser Ausgabe.
Der ostasiatische Weg ist noch ausgeprägter auf Humankapital orientiert. Vgl. M. G. Schmidt, Warum Mittelmaß? Deutschlands Bildungsausgaben im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 43 (2002) 1, S. 3 - 19; E. Rieger/S.Leibfried, Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik in Ostasien. Der Einfluss von Religion im Kulturvergleich, in: G. Schmidt/R.Trinczek (Hrsg.), Globalisierung. Ökonomische und soziale Herausforderungen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Baden-Baden 1999, S. 414 - 499.
Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von M. G. Schmidt in dieser Ausgabe.
Vgl. J. Allmendinger (Anm. 4).
Vgl. M.G. Schmidt (Anm. 6).
Vgl. G. Weißhuhn, Gutachten zur Bildung in Deutschland (BMBF Publik), Berlin-Bonn 2001.
Im Folgenden beziehen wir uns ausschließlich auf Angaben zur Lesekompetenz.
Zu einem breiten Überblick vgl. UNICEF, A League Table of Educational Disadvantage in Rich Nations, in: Innocenti Report Card, (2002) 4.
Die komplexe Konstruktion der Kompetenzstufen wird erläutert in: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 88 - 97. Die Anforderungen der Kompetenzstufe II sind als Mindeststandard anzusehen. Kompetenzstufe I markiert also einen noch darunter liegenden Schwellenwert, also die Unterschreitung eines Mindest-Mindeststandards.
Ebd., S. 363.
Um extreme Werte am untersten Rand auszuschließen, berichten wir nur die Werte zwischen dem 5. und 10. Perzentil (Hundertstelwert) der Gesamtverteilung von Kompetenzen.
Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu etwa den Beitrag von Cornelia Kristen in dieser Ausgabe.
Deutsches PISA-Konsortium (Anm. 13), S. 108.
OECD, Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000, Paris 2001, S. 29 (gew.de/standpunkt/aschlagzeilen/schule/pisa/texte/pisa.pc).
Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Anm. 13), S. 119.
Vgl. J. Allmendinger/S. Leibfried (Anm. 4), S. 304, Abbildung 4.
Vgl. ebd., S. 305, Abbildung 5.
Diese Zusammenhänge lassen sich für Deutschland, für das eine ausgeprägte Differenzierung besteht, veranschaulichen: Die Standardabweichung beträgt 111 Punkte und fällt damit wesentlich höher als der OECD-Durchschnitt von 100 oder der USA-Wert von 105 aus. Beim Niveau liegen wir mit dem Mittelwert von 484 Punkten in der Endgruppe der OECD-Länder. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 500, mit den USA bei 504 Punkten und Spitzenreiter Finnland bei 546. Deutschland ist ein kompetenzmäßig "zentrifugal" aufgestelltes Land, geprägt durch eine Tendenz weg von der Reichtumsmitte hin zur Armut. Mit den "zentripetalen" USA kontrastiert Deutschland, weil die Chancengleichheit geringer ist als in den USA und ein Weniger an durchschnittlicher Bildung geboten wird.
Nach der PISA-Studie funktioniert diese Zuweisung weitgehend: Das durchschnittliche Kompetenzniveau von Sonder-, Haupt-, Mittelschule und Gymnasium unterscheidet sich deutlich. Zur Leistungsverteilung nach Bildungsgängen vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Anm. 13), S. 120 - 127.
M. G. Schmidt (Anm. 6) stellt auf ein Bündel von neun Ursachen für die mäßigen deutschen Bildungsinvestitionen ab. (Anmerkung der Redaktion: Siehe den Beitrag von M.G. Schmidt in dieser Ausgabe.) Zu einer Kontroverse über den Zusammenhang zwischen Ausgabenentwicklung und Schülerkompetenzen vgl. E. Gundlach/L. Woessmann/J. Gmelin, The Decline of Schooling Productivity, in: OECD Countries Economic Journal, 111 (Mai 2001), S. 135 - 147, die einen OECD-weiten "Produktivitätskollaps" sehen, wobei die Lehrer mit ihren Gehältern die eigentlichen Gewinner sind. Vgl. auch M.G. Schmidt (Anm. 6), S. 9; und ferner H. Glennerster, United Kingdom Education 1997-2001, London 2001, S. 19 (CASEpap. 50), der jedenfalls für Großbritannien in den letzten 5 Jahren von einer "Produktivitätsexplosion" ausgeht, wobei die Schüler die Gewinner sind.
Vgl. M.G. Schmidt (Anm. 6), S. 6f.
Vgl. K. Gottschall, Erziehung und Bildung im deutschen Sozialstaat. Stärken, Schwächen und Reformbedarfe im europäischen Vergleich, Bremen 2001 (Universität, ZeS /AP 9/01).
Vgl. G. Esping-Andersen, The Three World of Welfare Capitalism, Princeton - Cambridge 1990.
Vgl. F. G. Castles (Hrsg.), Families of Nations. Patterns of Public Policy in Western Democracies, Aldershot 1993.
Vgl. J. Allmendinger/S. Leibfried (Anm. 4), S. 308, Abbildung 6.
Vgl. H. Glennerster (Anm. 24).
Vgl. H. Schmoll, Mit PISA soll die Leistung von Schülern geprüft werden. GEW lehnt das Programm zum Leseverständnis ab/Konferenz der Kultusminister, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 16. 3. 2000, S. 4.
H. Glennester, Quasi-Markets for Education?, in: Economic Journal, 101 (Sept. 1991), S. 1268 - 1276, ist noch skeptisch.
Ein so ausgeprägter Föderalismus findet sich nur noch in der Schweiz, Österreich, den USA, Kanada und Australien. Viele dieser Länder stehen sich allerdings bildungspolitisch besser als Deutschland.
Vgl. M.G. Schmidt (Anm. 6).
Vgl. H. Glennester (Anm. 24).
Selbst die Reformparolen überlappen sich inzwischen: In der Sozialhilfe ist der in Richtung Arbeitsmarkt "aktivierende Sozialstaat" und "Fördern und Fordern" bundesweit das Panier, von Roland Koch bis Florian Gerster. Die gleiche Maxime ("Fördern und Fordern") gilt nun auch im Bildungswesen, etwa in Hessen. Vgl. D. Wenz u.a., Ein heilsamer Schock. Wie die Bundesländer auf die schlechten Ergebnisse der PISA-Studie reagieren wollen (Versammlung von vielen Lehrern), in: FAZ vom 7. 12. 2001, 4. Absatz.
| Article | Allmendinger, Jutta / Leibfried, Stephan | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27619/bildungsarmut/ | Bildung wird in Deutschland nicht als Bestandteil der Sozialpolitik betrachtet. Ein ausgeprägter Föderalismus und eine übermächtige Sozialpolitik machen es schwer, Bildungsarmut öffentlich zu thematisieren und notwendige Reformen durchzusetzen. | [
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Vita von Marina Weisband | Deutschland Archiv | bpb.de | Marina Weisband wurde am 4. Oktober 1987 in Kiew in der Ukraine als Tochter eines Informatikers und einer Ökonomin geboren. Ihre Familie zog sechs Jahre später im Zuge der Regelung für Kontingentflüchtlinge nach Deutschland.
Schon als Jugendliche hat sie angefangen, mit Java zu programmieren. 2006 machte Marina Weisband in Wuppertal ihr Abitur und studierte im Anschluss Psychologie in Münster. Sie engagierte sich ehrenamtlich im Wuppertaler Elternverein 3×3 e.V., der Migrant:innenfamilien betreut.
Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin und Mitglied des Bundesvorstands der Piratenpartei Deutschland, wo sie für die Meinungsbildung innerhalb der Partei und für die Repräsentation nach außen zuständig war. 2012 ließ sie sich nicht erneut zur Wahl aufstellen.
Marina Weisbands politische Schwerpunkte liegen in den Bereichen der Bildung und der Bürger:innenbeteiligung. In ihrem Buch "Wir nennen es Politik" (2013 erschienen im Tropen-Verlag) schildert sie für Politik-Neueinsteiger:innen die Möglichkeiten neuer demokratischer Online-Beteiligungsformen.
Seit 2014 leitet sie bei der NGO politik-digital.de e. V. das von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderte Projekt "aula" zu politischer Bildung von Jugendlichen. Seit 2018 ist sie Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und engagiert sich dort in den Themenbereichen Digitalisierung und Bildung.
Außerdem ist sie Radio-Kolumnistin beim Deutschlandfunk und betreibt seit dem 5. November 2020 in ihrer Freizeit gemeinsam mit Eliyah Havemann bei YouTube die Videoreihe "FragEinenJuden" ("ein humoristisches Video mit sehr ernstem Inhalt"). Die Diplompsychologin ist Mutter einer Tochter, die zweisprachig aufwächst. Im Oktober 2021 erscheint ihr neues Buch "Frag uns doch. Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben".
Externer Link: https://marinaweisband.de/about/, zuletzt aufgerufen am 3.5.2021.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-08-18T00:00:00 | 2021-07-29T00:00:00 | 2022-08-18T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/337345/vita-von-marina-weisband/ | Marina Weisband wurde am 4. Oktober 1987 in Kiew in der Ukraine als Tochter eines Informatikers und einer Ökonomin geboren. Ihre Familie zog sechs Jahre später im Zuge der Regelung für Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. | [
"Marina Weisband"
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Hintergrund-Informationen | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de |
Interner Link: Zielgruppen, Nutzertypologien (65 KB) Interner Link: TAMMETER: Die Anfänge der Quotenmessung (56 KB) Interner Link: Zuschauerforschung in der DDR (57 KB) Interner Link: Der Suppen-Spot im "Exorzist" 65 (KB) Interner Link: TC Score: Das neue GfK-System der Quotenmessung (55 KB) Interner Link: Funktionen der Massenmedien (60 KB) Interner Link: Agenda Setting (60 KB) Interner Link: Öffentliche Meinung (56 KB) Interner Link: Fernsehen als Sozialisationsagentur (70 KB) Interner Link: Familiäre Fernsehnutzung (59 KB) Interner Link: Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien (59 KB) Interner Link: Offene Kanäle (55 KB) Interner Link: Medienausstattung und Fernsehnutzung (149 KB) Interner Link: Programmvielfalt (64 KB) Interner Link: Reichweiten ausgewählter Fernsehangebote (423 KB) Interner Link: Fernsehnutzung (356 KB) Interner Link: WebTV (275 KB) Interner Link: Reichweiten (262 KB) Interner Link: Mobile Bewegtbildnutzung (137 KB)
Interner Link: Literaturverzeichnis "Nutzung und Nutzer" (70 KB)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-04T00:00:00 | 2017-05-07T00:00:00 | 2022-07-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/247870/hintergrund-informationen/ | Hier finden Sie viele zusätzliche Hintergrund-Informationen zum Themenbereich "Nutzung und Nutzer". | [
"Hintergrund-Informationen"
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Die größten Multinationalen Unternehmen (ohne Finanzbranche) | Globalisierung | bpb.de | Multinationale Unternehmen (MNU) sind zentrale Akteure der Globalisierung. Die – nach Vermögenswerten im Ausland – 100 größten MNU hatten im Jahr 2015 ein Gesamtvermögen von 12,9 Billionen US-Dollar, davon entfielen 62,0 Prozent auf das Ausland. Der Umsatz der Top 100 lag bei 7,7 Billionen US-Dollar, wovon 64,2 Prozent im Ausland erzielt wurden. Und von den 16,1 Millionen Beschäftigten der Top 100 MNU waren 56,9 Prozent im Ausland unter Vertrag. Insgesamt erhöhte sich das Auslandsengagement der MNU in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich. In der Gruppe der nach Vermögenswerten im Ausland 100 größten MNU ist die ökonomische Bedeutung nochmals stark konzentriert: Allein auf die Top 10 MNU entfielen 25,4 Prozent der Vermögenswerte und 25,1 Prozent des Umsatzes. Im Jahr 2015 hatten von den 100 größten MNU 92 ihren Hauptsitz in einem ökonomisch entwickelten Staat. Acht MNU hatten ihren Hauptsitz in einem ökonomisch sich entwickelnden Staat.
Fakten
Multinationale Unternehmen (MNU) können als treibende Kraft der Globalisierung betrachtet werden, da sie über die organisatorischen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen, um eine Strategie des 'global-sourcing' umzusetzen. Durch brancheninterne Fusionen, Unternehmenskäufe und -beteiligungen bzw. durch die hieraus resultierende Markterschließung, Marktsicherung und Kostenersparnis haben die MNU ihre Marktmacht weiter ausgebaut.
Die – nach Vermögenswerten im Ausland – 100 größten MNU hatten im Jahr 2015 ein Gesamtvermögen von 12,9 Billionen US-Dollar, davon entfielen 8,0 Billionen US-Dollar auf das Ausland (62,0 Prozent). Der Umsatz der Top 100 lag im selben Jahr bei 7,7 Billionen US-Dollar, wovon 4,9 Billionen US-Dollar im Ausland erzielt wurden (64,2 Prozent). Von den 16,1 Millionen Beschäftigten der Top 100 MNU waren 9,2 Millionen in ausländischen Tochtergesellschaften beschäftigt (56,9 Prozent).
In der Gruppe der nach Vermögenswerten im Ausland 100 größten MNU ist die ökonomische Bedeutung nochmals stark konzentriert: Allein auf die Top 10 MNU entfielen 25,4 Prozent der Vermögenswerte (3,3 Billionen US-Dollar) und 25,1 Prozent des Umsatzes (1,9 Billionen US-Dollar). Der Anteil an den Beschäftigten lag mit 11,9 Prozent nur leicht über dem Durchschnitt (1,9 Millionen). Von den Vermögenswerten der Top 10 MNU entfielen 65,9 Prozent auf das Ausland, 66,5 Prozent des Gesamtumsatzes wurden im Ausland erzielt und 57,0 der Beschäftigten der Top 10 MNU waren im Ausland unter Vertrag.
Der Transnationalisierungsindex (TNI), der die Aktivitäten eines Unternehmens im Ausland misst, lag 2015 bei den Top 10 MNU bei durchschnittlich 65,3 Prozent. Dabei war der Wert des TNI bei dem Telekommunikationsunternehmen Vodafone am höchsten (81,2 Prozent) und bei dem Energieunternehmen Chevron am niedrigsten (53,7 Prozent). Insgesamt erhöhte sich das Auslandsengagement der MNU in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich: Zwischen 1995 und 2000 stieg der TNI-Wert der Top 100 MNU von durchschnittlich 51,5 auf 55,7 Prozent und zwischen 2005 und 2015 von 59,9 auf 65,4 Prozent. Im Jahr 2015 hatten 84 der 100 größten MNU einen TNI-Wert von mindestens 50 Prozent.
Trotz der zunehmenden Transnationalisierung bleibt die ökonomische Bedeutung des jeweiligen Heimatmarktes bei den meisten Unternehmen groß. Der Hauptgrund hierfür ist, dass sich die Auslandsvermögenswerte, der Auslandsumsatz und die im Ausland beschäftigten Personen in der Regel auf eine Vielzahl von Staaten verteilen: Die Zahl der Staaten, in denen die Top 100 MNU im Jahr 2015 mit Tochterunternehmen vertreten waren, lag im Durchschnitt bei mehr als 50.
Die zehn größten MNU des Jahres 2015 hatten ihren Hauptsitz alle in einem ökonomisch entwickelten Staat (USA (4), Vereinigtes Königreich (3), Japan, Frankreich und Deutschland). Von den 100 größten MNU hatten im selben Jahr 58 ihren Hauptsitz in Europa (darunter 17 im Vereinigten Königreich, 13 in Deutschland, 9 in Frankreich und 5 in der Schweiz). 21 MNU hatten ihren Hauptsitz in den USA, 11 in Japan und jeweils ein MNU war in Australien und Israel ansässig. Acht MNU hatten ihren Hauptsitz in einem ökonomisch sich entwickelnden Staat (China (2 plus Hongkong), Brasilien, Malaysia, Mexiko, Südkorea und Taiwan). 1993 hatte von den 100 größten MNU kein einziges Unternehmen seinen Hauptsitz in einem ökonomisch sich entwickelnden Staat.
Von den 100 größten MNU, die im Jahr 2014 ihren Hauptsitz in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten, in Süd-Osteuropa oder der GUS hatten, entfielen 33 auf China (darunter 17 auf Hongkong), 10 auf Singapur, jeweils 8 auf Indien und Taiwan, jeweils 7 auf Südafrika und Südkorea sowie jeweils 5 auf Brasilien und Malaysia. Darauf folgten Mexiko (4), die Vereinigten Arabischen Emirate (3), Russland (2) und acht weitere Staaten, in denen jeweils ein MNU ansässig war.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Die Multinationalen Unternehmen (MNU) sind hier nach den jeweiligen Vermögenswerten im Ausland sortiert. Bei Auswahl eines anderen Kriteriums – zum Beispiel Vermögenswerte im In- und Ausland oder Anzahl der Beschäftigten – würde sich die Rangfolge der Top 100 MNU entsprechend ändern. Die MNU bestehen aus einem Mutterunternehmen und den dazugehörenden Tochterunternehmen. Bei der Zuordnung der MNU zu den einzelnen Staaten ist der Hauptsitz des Mutterunternehmens entscheidend.
Seit einigen Jahren bildet die UNCTAD nur noch Daten zu den Nicht-Finanzunternehmen ab. Daten zu den MNU der Finanzbranche finden Sie hier:
Interner Link: The top 50 financial TNCs - 2012Interner Link: The top 50 financial TNCs - 2011
Zur Berechnung des Transnationalisierungsindex (TNI) wird der prozentuale Anteil der Auslandsvermögenswerte an den Gesamtvermögenswerten, des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz und der Anteil der im Ausland Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung eines Unternehmens errechnet. Der Mittelwert dieser drei Prozentangaben ist gleich dem Wert des TNI. Je höher der Wert des TNI eines Unternehmens ist, desto ausgeprägter sind die Aktivitäten dieses Unternehmens im Ausland.
Zu den Vermögenswerten eines Unternehmens gehören immaterielle Vermögensgegenstände (Konzessionen, Lizenzen, Patente, Marken), Sachanlagen (Grundstücke, Gebäude, technische Anlagen, Maschinen, Betriebs- und Geschäftsausstattung), Finanzanlagen (Unternehmensanteile, Beteiligungen, Wertpapiere des Anlagevermögens), Vorräte (Rohstoffe, Waren), Forderungen, Wertpapiere, Barreserven und andere liquide Mittel.
GUS – Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (CIS – Commonwealth of Independent States)
Die 10 größten Multinationalen Unternehmen (ohne Finanzbranche)
Nach Vermögenswerten im Ausland, 2015
Royal Dutch Shell Toyota General Electric Total BP Rang 1 2 3 4 5 Unternehmenssitz GB Japan USA Frankreich GB Branche Bergbau, Erdöl Kraft-fahr-zeuge Energie, Luftfahrt, Gesundheit u.a. Energie Energie Vermögenswerte im Ausland,in Mrd. US$ 288 273 258 237 217 Vermögenswerte insgesamt,in Mrd. US$ 340 422 493 245 262 Anteil der Auslandsvermögens-werte an den Gesamtver-mögenswerten, in Prozent 84,7 64,7 52,3 96,7 82,8 Umsatz im Ausland,in Mrd. US$ 170 165 64 124 146 Umsatz insgesamt, in Mrd. US$ 265 237 117 159 223 Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz, in Prozent 64,1 69,8 54,6 77,9 65,3 Beschäftigte im Ausland 68.000 148.941 208.000 65.773 46.700 Beschäftigte insgesamt 93.000 348.877 333.000 96.019 79.800 Anteil der im Ausland Beschäftigten an der Gesamt-beschäftigung, in Prozent 73,1 42,7 62,5 68,5 58,5 Transnationalisierungsindex (TNI)1 74,0 59,1 56,5 81,0 68,9 Exxon Mobil Chevron Volks-wagen Vodafone Apple Rang 6 7 8 9 10 Unternehmenssitz USA USA Deutsch-land GB USA Branche Energie Energie Kraft-fahr-zeuge Tele-kommuni-kation Computer Vermögenswerte im Ausland,in Mrd. US$ 193 192 182 167 144 Vermögenswerte insgesamt,in Mrd. US$ 337 266 417 192 290 Anteil der Auslandsvermögens-werte an den Gesamtver-mögenswerten, in Prozent 57,5 72,1 43,6 86,8 49,5 Umsatz im Ausland,in Mrd. US$ 167 48 190 52 152 Umsatz insgesamt, in Mrd. US$ 259 130 237 61 234 Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz, in Prozent 64,5 37,2 80,2 84,8 65,0 Beschäftigte im Ausland 44.311 31.900 334.076 75.666 65.585 Beschäftigte insgesamt 73.500 61.500 610.076 105.300 110.000 Anteil der im AuslandBeschäftigten an der Gesamt-beschäftigung, in Prozent 60,3 51,9 54,8 71,9 59,6 Transnationalisierungsindex (TNI)1 60,7 53,7 59,5 81,2 58,0
Fußnote: 1 zur Berechnung des Transnationalisierungsindex (TNI) wird der prozentuale Anteil der Auslandsvermögenswerte an den Gesamtvermögenswerten, des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz und der Anteil der im Ausland Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung eines Unternehmens errechnet. Der Mittelwert dieser drei Prozentangaben ist gleich dem Wert des TNI. Je höher der Wert des TNI eines Unternehmens ist, desto ausgeprägter sind die Aktivitäten dieses Unternehmens im Ausland.
Quelle: United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): World Investment Report 2016
Quellen / Literatur
United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): World Investment Report 2016
United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): World Investment Report 2016
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-13T00:00:00 | 2012-01-10T00:00:00 | 2022-01-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52633/die-groessten-multinationalen-unternehmen-ohne-finanzbranche/ | Multinationale Unternehmen (MNU) sind zentrale Akteure der Globalisierung. Die 100 größten MNU hatten im Jahr 2015 ein Gesamtvermögen von 12,9 Billionen US-Dollar, davon entfielen 62,0 Prozent auf das Ausland. Der Umsatz der Top 100 lag bei 7,7 Billi | [
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"Zahlen und Fakten"
] | 31,003 |
"Zuhause ist einfach, wo ich lebe" | Presse | bpb.de | Die Wanderausstellung "Zuhause ist einfach, wo ich lebe" der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Kooperation mit der Stiftung Geisstraße Sieben aus Stuttgart zeigt in Porträtaufnahmen, wie 30 junge Ausländerinnen und Ausländer aus über 20 Herkunftsländern den Alltag in Deutschland erleben. Ihre Träume und Hoffnungen mit denen sie nach Deutschland gekommen sind, werden ebenso dargestellt wie ihre Zukunftsvorstellungen anhand von individuellen Posen oder Gegenständen. Die Ausstellung setzt ein Zeichen für Toleranz und Offenheit und zeigt, dass sehr viel Alltägliches das Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern positiv bestimmt. Ihr liegt ein besonderes Konzept des Fotografen Conny J. Winter zugrunde: Die Jugendlichen sind an einem selbst gewählten Ort porträtiert worden. Gedruckt sind die Aufnahmen auf transparentem Leinwandstoff, der vor Stadtmotive gespannt ist. Die Betrachter erleben dadurch ein ungewöhnliches und spannendes Zusammenspiel aus Porträt, Zukunftswunsch und der Stadt, in der die jugendlichen Einwanderer leben. Salih, 17 Jahre alt aus der Türkei, der mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder zum Vater nach Berlin gezogen ist, ist einer von ihnen. Salihs persönliches Fazit nach fünf Jahren in Deutschland: "Wo meine Heimat ist, weiß ich nicht. Zuhause ist einfach, wo ich lebe, aber Heimat eher, wo ich herkomme. Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme oder wer ich bin, dann sag ich: ich bin ein Mensch." Wir möchten Sie herzlich einladen zum Pressegespräch mit anschließendem Rundgang durch die Ausstellung. Zeit: Donnerstag, 05. Dezember 2002, 11.00 Uhr Ort: Galerie der Stadt Stuttgart, Schlossplatz 2, 70173 Stuttgart. Presseanmeldungen per Fax bitte an die Stiftung Geissstraße Sieben unter: +49 (0) 711/23 60 204. Gesprächspartner:
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Dr. Johann-Karl Schmidt, Direktor der Galerie der Stadt Stuttgart Conny J. Winter, Fotografien und künstlerisches Konzept Dr. Michael Kienzle, Stiftung Geissstraße Sieben
Ausstellungseröffnung: Donnerstag, 05. Dezember 2002, 18.30 Uhr Galerie der Stadt Stuttgart Schlossplatz 2 70173 Stuttgart Laufzeit in Stuttgart: 5. Dezember 2002 bis 26. Januar 2003. Die Ausstellung wird unterstützt von der Diakonie Katastrophenhilfe und Brot für die Welt. Marieluise Beck, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, ist Schirmherrin der Ausstellung. Informationen: Anja Ostermann apex – Kultur- und Bildungsmanagement Reiderweg 18 58285 Gevelsberg Tel +49 (0) 2332 4199 Fax +49 (0) 2332 757056 E-mail: E-Mail Link: ostermann@apex-management.de Pressekontakt: Swantje Schütz Bundeszentrale für politische Bildung: Berliner Freiheit 7 53111 Bonn Tel: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50975/zuhause-ist-einfach-wo-ich-lebe/ | Die Wanderausstellung "Zuhause ist einfach, wo ich lebe" der Bundeszentrale für politische Bildung entstand in Kooperation mit der Stiftung Geisstraße Sieben aus Stuttgart. Sie zeigt in Porträtaufnahmen, wie 30 junge Ausländerinnen und Ausländer aus | [
"Unbekannt (5273)"
] | 31,004 |
Unterrichtseinheit 3.2: Freundschaft – 100 beste Freunde oder zwei beste Freunde? | VorBild – Politische Bildung für Förderschulen und inklusive Schulen | bpb.de | Das Filmbeispiel "Freundschaft – 100 beste Freunde oder zwei beste Freunde".
Diese Übung bearbeitet das Thema Freundschaft aus philosophischer Perspektive. Sie ist gut einsetzbar zur reflexiven Auseinandersetzung der Schüler/innen mit ihrer eigenen Peer-Gruppe. Zur Vorbereitung können Sie sich das Filmbeispiel "Freundschaft – 100 beste Freunde oder zwei beste Freunde" aus der Unterrichtspraxis anschauen.
Houseverstand – 100 beste Freunde
Houseverstand – 100 beste Freunde
VorBild. Soziales Lernen und inklusive politische Bildung: Selbstvertrauen und Vertrauen in Andere – Filme für den Unterricht
Benötigtes Material
Lied "100 beste Freunde" von Houseverstand; Interpret: Houseverstand; Text: F. A. Stanzl; Musik: F. A. Stanzl / P. Runser / M. Hengst; Pate Records, 2002 (mit freundlicher Genehmigung der MedienManufaktur Wien und Franz Stanzl) Laptop Aktivboxen Arbeitsblatt (UE 3.2 AB 1): Liedtext "100 beste Freunde" (F. A. Stanzl)
Interner Link: PDF UE 3.2 AB 1 Liedtext 100 beste Freunde
Arbeitsblatt (UE 3.2 AB 2): Fragen zum Lied "100 beste Freunde"
Interner Link: PDF UE 3.2 AB 2 Fragen zum Lied 100 beste Freunde
Arbeitsblatt (UE 3.2 AB 3): Gedankenkarte "Freundschaft" – leere Vorlage
Interner Link: PDF UE 3.2 AB 3 Freundschaft – Gedankenkarte
je ein Exemplar pro Schüler/in Arbeitsblatt (UE 3.2 AB 4): Gedankenkarte "Freundschaft" – ausgefüllte Vorlage für die Lehrkraft
Interner Link: PDF UE 3.2 AB 4 Freundschaft – ausgefuellte Gedankenkarte für die Lehrkraefte
Arbeitsblatt (UE 3.2 AB 5): Text "Die zwei Freunde
Interner Link: PDF UE 3.2 AB 5 Text – "Die zwei Freunde"
je eine Kopie pro Schüler/in Arbeitsblatt (UE 3.2 AB 6): Fragen zum Text "Zwei Freunde"
Interner Link: PDF UE 3.2 AB 6 Fragen zum Text Zwei Freunde
je eine Kopie pro Gruppe
Durchführung
Warming up: "Bilden Sie einen Stuhl- oder Sitzkreis und spielen Sie den Schüler/innen im Klassenzimmer (oder bei gutem Wetter auf dem Schulhof) das Lied "100 beste Freunde" von Houseverstand vor. Sie können als Leseanlass den Schüler/innen den Liedtext austeilen und die Schüler/innen mitlesen lassen oder den Liedtext im Anschluss verteilen. Anschließend können Sie das Arbeitsblatt mit Fragen zum Liedtext verteilen. Lassen Sie es von den Schüler/innen in Einzelarbeit oder Kleingruppen bearbeiten. [Interner Link: PDF UE 3.2 AB 1 Liedtext 100 beste Freunde, Interner Link: PDF UE 3.2 AB 2 Fragen zum Lied 100 beste Freunde] Es ist auch möglich, direkt in die Diskussion mit den Schüler/innen einzusteigen. Lenken Sie dabei die Fragen in die Richtung, ob so viele beste Freunde sinnvoll sind. Eine Diskussionszeit von etwa 10 Minuten dient dazu, alle Schüler/innen auf das Thema Freundschaft einzustimmen (z. B. "Was kann Freundschaft alles beinhalten?"). Sie können selbst entscheiden, wie weit Sie die Diskussion thematisch laufen lassen möchten. Nach unseren Erfahrungen wird die überwiegende Mehrheit der Schüler/innen schnell skeptisch sein über die große Menge an besten Freunden. Diese Skepsis ist ein guter inhaltlicher Bogen, um sich weiter mit Freundschaft auseinander zu setzen. Verteilen Sie die leere Gedankenkarte "Freundschaft" und geben Sie den Schüler/innen 5 bis 10 Minuten Zeit, um die Gedankenkarte auszufüllen. Sie können sich, wenn Sie wollen, an der ausgefüllten Gedankenkarte orientieren. Die Ergebnisse der Gedankenkarte werden nicht öffentlich diskutiert. Wenn Sie bemerken, dass die Schüler/innen keine Worte finden, um sich selbst zu beschreiben, können Sie mit Impulsfragen ([LINK]) unterstützend eingreifen, um den Gedankenfluss anzuregen. [Interner Link: PDF UE 3.2 AB 3 Freundschaft – Gedankenkarte, Interner Link: PDF UE 3.2 AB 4 Freundschaft – ausgefuellte Gedankenkarte für die Lehrkraefte Verteilen Sie das Arbeitsblatt "Die Zwei Freunde" an jede/n Schüler/in. Die Schüler/innen können den kurzen Text selbstständig lesen. Alternativ können Sie als Lehrkraft den Text langsam vorlesen und dann die Schüler/innen den Text noch einmal für sich durchlesen lassen. [Interner Link: PDF UE 3.2 AB 5 Text – Die zwei Freunde] Bilden Sie Kleingruppen von zwei bis vier Personen. Verteilen Sie anschließend ein Arbeitsblatt mit Fragen zum Text pro Kleingruppe und geben Sie den Schüler/innen genügend Zeit, um gemeinsam das Arbeitsblatt auszufüllen. [Interner Link: PDF UE 3.2 AB 6 Fragen zum Text Zwei Freunde] Bilden Sie nun einen Stuhlkreis und diskutieren Sie die Ergebnisse in der Klassengemeinschaft. Nach der Diskussion lösen Sie den Stuhlkreis auf. Geben Sie den Schüler/innen etwas Zeit, um ihre Gedankenkarten noch einmal auf der Grundlage der Kleingruppenarbeit und der gemeinsamen Diskussion zu bearbeiten. Bitten Sie die Schüler/innen, die Unterrichtseinheit nach der oben vorgeschlagenen Interner Link: Methode zu bewerten.
Impulsfragen zum Thema Freundschaft
Was bedeutet Freundschaft für dich/euch? Wie erkenne ich eine wahre Freundschaft? Wie finde ich einen Freund oder eine Freundin? Hat Freundschaft etwas mit dem Alter zu tun? Kann dein Freund/deine Freundin auch um zehn Jahre älter sein? Was passiert, wenn ich mich mit meinem Freund/meiner Freundin streite? Wann ist eine Freundschaft zu Ende? Endet eine Freundschaft überhaupt jemals? Was darf ich mir von einem Freund/einer Freundin alles gefallen lassen? Wie viel darf ich von einem Freund/einer Freundin erwarten? Woran merkt man, dass man mit jemandem befreundet ist? Muss ich dieselben Interessen haben wie mein Freund/meine Freundin? Ist Freundschaft wichtiger als Familie? Kann eine Freundschaft die Familie ersetzen? Würdest du in einer Freundschaft über alles sprechen? Was würdest du deinem Freund nie erzählen? Hat wahre Freundschaft etwas mit Liebe zu tun? Muss ich Freunde jeden Tag hören oder sehen? Bedeutet Freundschaft, dass man das gleiche fühlt und denkt? Bedeutet Freundschaft, dass man immer füreinander da ist und sich gegenseitig hilft? Kann ich meinem Freund/meiner Freundin immer vertrauen? Muss man in einer Freundschaft auch in schwierigen Situationen zueinander halten? Kann ich meinem Freund/meiner Freundin meine Gefühle zeigen?
Houseverstand – 100 beste Freunde
Houseverstand – 100 beste Freunde
VorBild. Soziales Lernen und inklusive politische Bildung: Selbstvertrauen und Vertrauen in Andere – Filme für den Unterricht
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-20T00:00:00 | 2022-03-25T00:00:00 | 2022-07-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/vorbild/506625/unterrichtseinheit-3-2-freundschaft-100-beste-freunde-oder-zwei-beste-freunde/ | Das Lied "100 beste Freunde" eröffnet die philosophische Diskussion zum Thema Freundschaft. Arbeitsblätter und Impulsfragen vertiefen die Unterrichtseinheit und geben den Schüler/innen Anregungen. | [
"VorBild",
"Selbstvertrauen",
"Vertrauen"
] | 31,005 |
Der "Fall Lisa" | Russlanddeutsche | bpb.de | Eine erfundene Vergewaltigungsgeschichte eines minderjährigen Mädchens aus Marzahn-Hellersdorf im Januar 2016, der sogenannte Fall Lisa, brachte eine rechtsorientierte und anti-demokratische Entwicklung innerhalb "russlanddeutscher" und russischsprachiger Migranten-Communities ans Tageslicht, die schon länger unter der Oberfläche der öffentlichen Aufmerksamkeit brodelte. Dabei spielt die Sozialisation der "postsowjetischen Migranten" in der sozialistischen Diktatur sowie die gegenwärtige Medien- und Informationspolitik Russlands eine zentrale Rolle. Diese Mischung aus anerzogenen Ressentiments und Weltbildern auf der einen und Desinformation und aufrührerischer Berichterstattung russischer Medien auf der anderen Seite verstärkte antidemokratische und rechte Tendenzen in Teilen dieser Migrantengruppe.
Rückblick in die 1990er
Um das Geschehen in seiner Gesamtheit erfassen zu können, bedarf es einer Retrospektive. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden russlanddeutsche (Spät-) Aussiedler und deren Angehörige größtenteils in den westdeutschen Flächenbundesländern angesiedelt. In Berlin hingegen wurden Russlanddeutsche gezielt im Osten des Bundeslandes angesiedelt. Die östlichen Plattenbaugebiete wiesen einen enormen Leerstand auf, da viele zuvor hier lebenden Menschen in den "Westen" gezogen waren. Zurück blieben häufig die so genannten Verlierer der Wiedervereinigung. Dieser verbliebene Teil der Kernbevölkerung projizierte seine Verbitterung über eigene Missstände auf die neuhinzugekommenen Russlanddeutschen und warf ihnen Bereicherung am Deutschen Staat vor, während sie selbst flächendeckend ihre Arbeit verloren.
Die teilweise aggressiven Anfeindungen der Einheimischen enttäuschten die Erwartungen vieler Russlanddeutscher so nachhaltig und tiefgreifend, dass sie sich zum Selbstschutz in eine Parallelgesellschaft zurückzogen. Ein weiterer Faktor, der diesen Rückzug begünstigte, war der diskriminierende Umgang der Ostberliner Behörden mit den Neuankömmlingen. Zum einen wussten die Ostberliner Beamten häufig nicht, wie diese Migranten zu beraten sind, da sie sich selbst in ein neues Verwaltungssystem einarbeiten mussten. Zum anderen projizierten auch sie ihre Frustration auf die Russlanddeutschen, indem sie die Russlanddeutschen beispielsweise falsch berieten oder ohne triftigen Grund täglich bei sich erscheinen ließen. Folglich versäumten es viele der Russlanddeutschen ihre Berufsabschlüsse anerkennen zu lassen und mussten niedrigbezahlte Arbeit aufnehmen.
Einfluss russischer Staatsmedien
Bereits im Sommer 2014 suchte das Team um den damaligen Geschäftsführer des Aussiedlervereins Vision e.V. in Marzahn-Hellersdorf, Alexander Reiser, das Gespräch mit der Kommunalpolitik und weiteren gemeinnützigen Akteuren im Bezirk, die auf den Gebieten Demokratieförderung und Integration tätig sind. Sie wollten auf die Besorgnis erregenden Entwicklungen innerhalb der russlanddeutschen und russischsprachigen Community in Marzahn-Hellersdorf aufmerksam machen.
Seit Beginn des Ukraine-Konflikts im Februar 2014 konnten die aktiven Mitglieder des Vereins Vision e.V. einen deutlichen Einfluss russischer Staatsmedien auf die russlanddeutsche und russischsprachige Community in Marzahn-Hellersdorf beobachten.
Die russischen Staatsmedien, allen voran der Erste Kanal "Pervyj Kanal" mit der noch aus der Sowjetzeit allen Migranten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion vertrauten Nachrichtensendung "Programma Vremja", reagierten auf die Sanktionen seitens der Europäischen Union mit einer Verunglimpfung "des Westens". So propagierten die russischen Medien eine "Dekadenz des Westens" und den wirtschaftlichen Untergang Europas, der nicht zuletzt durch die Sanktionspolitik herbeigeführt werden würde.
Plötzlich befürchteten die Menschen, dass die EU mit Deutschland als wirtschaftliche Spitze sich ins eigene Fleisch schneide. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis alle Menschen in Deutschland die Folgen zu spüren bekämen. Dieses Narrativ verfestigte sich bei vielen russischsprachigen Migranten. Häufig auch bei den russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern. Schließlich hatten viele von ihnen nicht selten den kräftezehrenden Akt einer Auswanderung nach Deutschland in Kauf genommen, um sich wieder sicher fühlen zu können.
Diese Entwicklungen finden kaum Interesse bei der Kommunalpolitik
Auf diesen plötzlichen, starken Aufruhr im Bezirk, der durch den Konsum von russischen Staatsmedien verursacht wurde, wollte Vision e.V. die Kommunalpolitik aufmerksam machen.
Da die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler bis dato seit vielen Jahren nicht negativ auffielen und damit als gut intergiert galten, fand der Apell weder bei der Kommunalpolitik noch bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren die notwendige Resonanz.
Resignierend beendete Vision e.V. die Suche nach Kooperationspartnern, um der Situation im Bezirk entgegenzuwirken. Geschäftsführer Alexander Reiser mahnte: "Es wird bald knallen, wenn keiner was macht" – er sollte Recht behalten.
Flüchtlingskrise als weiterer Katalysator
Während in den deutschen Medien die Ohnmacht der Regierung bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs dauerpräsent war, konnten die Anwohnerinnen und Anwohner in den sozial schwachen Großsiedlungen in Marzahn und Hellersdorf aus ihren Fenstern dabei zusehen, wie die oft überforderten Träger und ehrenamtlichen Helfer über Nacht Turnhallen und andere Gebäude in Flüchtlingsunterkünfte umfunktionierten. Gleichzeitig war vielen Anwohnerinnen und Anwohnern aber klar, dass keine Flüchtlingsunterkünfte in Regionen wie Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf eingerichtet wurden, also den wohlhabenden Teilen des Bezirks. Schulklassen und Kindergartengruppen waren durch die Neuzugänge überfüllt, Unterricht fiel vielerorts bereits vor der Flüchtlingskrise durch chronischen Lehrermangel häufig aus.
Russische Medien nutzen Flüchtlingskrise für Diffamierung
Die russischen Staatsmedien griffen indes die Flüchtlingskrise auf, um einmal mehr "eindeutige Beweise" für den bevorstehenden Untergang des Westens zu erbringen. Die Berichtserstattung konzentrierte sich auf eine für Europa verheerende Flüchtlingswelle und eine damit einhergehende angebliche Kriminalitätszunahme, derer in erster Linie Deutschland nicht mehr Herr werden könne.
Die Komposition dieser drei Faktoren – der Berichterstattung deutscher Medien, der eigenen Erfahrungen im Bezirk sowie der Einfluss russischer Staatsmedien – führten zu einer Verstärkung des Misstrauens gegenüber den Strukturen des deutschen Staates.
So entstand eine Situation, in der sich die russlanddeutsche "Community" vor Ort und die Kommunalpolitik zunehmend weiter voneinander entfernten: Schrittweise bildete sich ein Nährboden für eine Eskalation wie den späteren "Fall Lisa".
Es knallt im Januar 2016
An einem Sonntag, dem 17. Januar 2016, berichtet die Tante des in Berlin Marzahn-Hellersdorf lebenden russlanddeutschen Mädchens Lisa unter Tränen im russischen Ersten Kanal, dass ihre Nichte von drei Flüchtlingen entführt und in einer Wohnung vergewaltigt worden sei. Die deutsche Polizei habe die darauffolgende Anzeige abgeschmettert. Höhnisch kommentiert der Reporter zum Schluss, er habe versucht mit der deutschen Polizei zu sprechen, jedoch sei an einem Sonntag dort niemand erreichbar. Angeblich hätten sich die Tante und der Onkel des Mädchens ohne das Wissen der Eltern an den Journalisten des Ersten russischen Staatssenders gewandt.
Es vergingen keine 24 Stunden nach der Ausstrahlung des Berichtes und innerhalb russischsprachiger Netzwerke in Deutschland machten wütende Aufrufe zu Demonstrationen gegen "Merkels Flüchtlingspolitik", gegen Flüchtlinge selbst sowie gegen eine angebliche staatliche Vertuschungsstrategie in diesem Zusammenhang die Runde. Die Verbreitung der Aufrufe erfolgte dabei via Messenger-Dienste wie WhatsApp oder soziale Netzwerke wie Odnoklassniki, dem in der "Erlebnisgeneration" (also diejenige, die die Migration im Erwachsenenalter bewusst vollzogen hatte) russlanddeutscher (Spät-)Aussiedler populärem russischen "StayFriends"-Pendant. Deutschlandweit kam es zu zahlreichen Demonstrationen mit insgesamt schätzungsweise 10.000 Demonstranten. So auch vor dem Kanzleramt in Berlin mit geschätzten 1.000 Demonstranten.
Sprachprobleme und mangelnde Kenntnis des Anzeigeablaufs
Wie sich später herausstellte, ist tatsächlich Folgendes passiert: Die 13-jährige Lisa erhielt am Tag ihres Verschwindens ein schlechtes Zwischenzeugnis und wollte es vor ihren strengen Eltern verheimlichen. Das Mädchen übernachtete bei einem ihrer volljährigen männlichen Freunde. Um nicht auch noch dafür von der Familie bestraft zu werden, erzählte Lisa ihren Eltern nach ihrer Rückkehr, drei "Südländer" hätten sie verschleppt, festgehalten und vergewaltigt. Die Eltern fuhren zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Bei der Befragung des Mädchens fiel der Polizei auf, dass sie zwischen verschiedenen Versionen wechselte. Daraufhin bat die Polizei die Eltern mit dem Mädchen allein sprechen zu können. Die Eltern interpretierten dies als einen Versuch der Polizei, das Mädchen davon abzubringen, die Wahrheit zu sagen, um keine negativen Schlagzeilen zur Flüchtlingskrise zu riskieren. Schließlich sorgte ein Sprachproblem der Eltern sowie ihre mangelnde Kenntnis des administrativen Ablaufs dafür, dass sie davon ausgingen, die Anzeige sei abgewiesen worden und dass der Fall somit nicht weiter verfolgt werde.
Deutsche Stellen scheitern daran, die Lage einzuschätzen
Bei allen der russischsprachigen Community bekannten Akteuren in Politik und Vereinswesen liefen aufgrund von zahlreichen wütenden Anrufen die Telefone heiß.
Schockiert über das Ausmaß der eingehenden Beschwerden erbaten Vision e.V. und der Aussiedlerverein Lyra e.V. eine Stellungnahme der Polizei und der Kommunalpolitik zur Beruhigung der Lage.
Tagelang wurden diese Bitten von den entsprechenden Stellen mit der Begründung ignoriert, dass sich die Lage schon von selbst beruhigen werde. Zwischenzeitlich formierten sich bereits erste Demonstrationen, die zunächst von der NPD am Einkaufszentrum "Eastgate" in Marzahn organisiert wurden. Während diesen Demonstrationen prangerten die Angehörigen des Mädchens weiter die angebliche Untätigkeit von Polizei und Politik an.
Eine weitere unangemeldete und zahlreich besuchte Demonstration fand in Marzahn am russischen Lebensmittelgeschäft "Mix Markt" statt. Auch hier mischten sich Vertreter der NPD unter. Die Polizei tolerierte diese Demonstration, bekam jedoch die Wut der Demonstranten stark zu spüren: die Beamtinnen und Beamten wurden angeschrien, angespuckt und geschubst. Einige unbekannte Männer forderten die Demonstranten auf, direkt zu den Flüchtlingsheimen zu ziehen, um dort "für Ordnung" zu sorgen.
Nun reagierten endlich auch Polizei und Politik. Allerdings ohne die Besonderheiten der Situation zu beachten. So veröffentlichte die Polizei eine gewöhnliche Stellungnahme, die besagte, es hätte keine Vergewaltigung gegeben und dass man mehr nicht öffentlich machen könne, da es um den Schutz von Persönlichkeitsrechten des Mädchens gehe. Die Erklärung konnte die aufgeheizte Stimmung nicht mehr beruhigen. Auch die nun einsetzenden Aufklärungsversuche der Kommunalpolitik blieben zunächst wirkungslos.
Die Lage entschärfte sich nur sehr langsam durch die gezielten, andauernden Aufklärungsversuche der Politik und der gemeinnützigen Akteure.
Willkürerfahrungen in den Herkunftsländern wurden auf die Strukturen in Deutschland übertragen
Nachträglich analysierend lässt sich feststellen, dass viele Menschen aus dem post-sowjetischen Raum nur über unzureichende Kenntnisse der Gesetze, der Arbeitsweise von Behörden oder generell von Verfahrensabläufen verfügten. So verfielen sowohl die Familie des Mädchens als auch die Demonstrierenden der russischsprachigen Community dem Irrtum, die Polizei könne selbst beliebig darüber befinden, ob eine Anzeige erstattet werden kann oder nicht. Folglich projizierten russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler sowie weitere russischsprachige Migranten ihre negativen Erfahrungen mit politischer und administrativer Willkür in ihren Herkunftsländern auf die Strukturen in Deutschland. So schien es ihnen plausibel, dass hochrangige Politiker aus Angst über Negativschlagzeilen eine Polizeibehörde dazu zwingen, die Ermittlungen einzustellen.
"Fall Lisa" besonders profitabel für rechte Strömungen
Als besonders profitabel erwies sich die Situation für rechtsgerichtete Organisationen. Wenn anfänglich noch die rechtsextreme NPD und die ebenfalls rechtsradikale Splittergruppe "Internationaler Konvent der Russlanddeutschen" von der Situation profitierten, konnte im Verlauf die AfD den Fall für sich nutzen. In der Folge erfuhr die AfD mancherorts großen Zulauf an Mitgliedern aus der russischsprachigen Community und schuf sogar spezielle Strukturen für sie: wie etwa die Vereinigung "Russlanddeutsche, Aussiedler und Spätaussiedler in der AfD" in NRW oder gleichnamige Arbeitsgruppen in Kreisverbänden der AfD. Dennoch konnte die Partei bei der Bundestagswahl 2017 keine vom bundesdeutschen Durchschnitt stark abweichenden Erfolge bei der Zielgruppe erzielen. Nicht zuletzt sollte hervorgehoben werden, dass der russische Staat, wenn er vorher nicht um den Einfluss seiner Staatsmedien auf die in anderen Ländern lebenden Russischsprachigen wusste, nun Gewissheit haben konnte, die eigenen Medien bei Bedarf zur Schürung vergleichbarerer Konflikte effektiv nutzen zu können.
Schließlich stellt sich die Frage, wie es nun den Russlanddeutschen und den anderen russischsprachigen Migrantinnen und Migranten ergeht, deren Ängste und unzureichende Kenntnisse der Gesetzeslage und Abläufe auf perfide Weise ausgenutzt wurden.
Vision e.V. fiel unmittelbar nach der endgültigen Aufklärung des Falls ein plötzlicher und massiver Rückgang der Teilnehmer an den sonst beliebten Aktivitäten auf.
Durch zielgruppenspezifische Ansprache Defizite in der politischen Bildung beseitigen
Aus persönlichen Gesprächen weiß die Verfasserin, dass viele infolge der Ereignisse ein Mischgefühl aus Scham und Verwirrung verspürten. Auch wenn einige wenige nach wie vor der Überzeugung sind, der "Fall Lisa" sei eine Verschwörung gewesen, scheinen viele Beteiligte mittlerweile anerkannt zu haben, dass es sich um eine Notlüge des Mädchens handelte.
Wie soll sich jemand fühlen, wenn er oder sie noch vor einigen Tagen vor dem Kanzleramt auf Geheiß von Rechtspopulisten gegen Merkel, gegen Flüchtlinge und gegen die deutsche Politik protestiert hat? Wie kann ein Jeder und eine Jede für sich die Frage beantworten, wie es so weit kommen konnte, dass erwachsene Menschen, die es eigentlich besser hätten wissen können, sich von russischen Staatsmedien haben beeinflussen lassen? Wie denken nun die anderen über uns als Russlanddeutsche? Diese Fragen kann sich kaum jemand der Aktiven im Verein Vision e.V. selbst beantworten, ohne sich dabei zu schämen, verführt worden zu sein.
Die zuvor gern diskutierten Themen bei Vision e.V., wie Russlandsanktionen oder Flüchtlingsproblematik, werden nur noch von den rechtsorientierten Aktivisten oder deren Gegenspielern fortwährend diskutiert. Die "Normalbürger" mit russischsprachigem Hintergrund meiden diese Themen nun.
Die Ereignisse rund um den "Fall Lisa" haben deutlich gemacht, dass eine zielgruppenspezifische Ansprache der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler sowie der übrigen Migranten aus dem postsowjetischen Raum durch die Zivilgesellschaft, die politischen Parteien sowie die Bildungsträger notwendig ist. Es ist Aufgabe der politischen Bildung, die aufgedeckten Defizite im Zusammenhang mit den Kenntnissen der Gesetzeslage, Arbeitsweise von Behörden oder generell von Verfahrensabläufen zu beseitigen.
Vgl. Marzahn-Hellersdorf Tendenzen der sozialdemografischen und sozialräumlichen Entwicklung Studie als Beitrag zur Sozialberichterstattung, Wilfried Barthel, Rainer Ferchland, Dieter Zahn, Berlin, Mai 2008. https://www.die-linke.de/fileadmin/download/kommunal-antragsdatenbank/0xx/91/91Mahrzahn-Hellersdorf.pdf
Vision e.V. ist ein Verein der Aussiedler in Berlin und wurde 2000 in Marzahn gegründet als eine Anlaufstelle für niedrigschwellige Orientierungsberatung und Integrationshilfe für russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler und russischsprachige Migranten.
Abb. 1.
"Internationaler Konvent der Russlanddeutschen" ist eine rechtsextreme Kleinstvereinigung unter Leitung von Heinrich Groth, die noch vor dem Fall "Lisa" mangels Arbeitsgrundlage aufgelöst werden sollte.
Externer Link: https://www.uni-due.de/migrantenwahlstudie/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-15T00:00:00 | 2018-07-03T00:00:00 | 2021-11-15T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/271945/der-fall-lisa/ | Die erfundene Vergewaltigungsgeschichte eines minderjährigen Mädchens löste eine Diskussion um die Russlanddeutschen und Russischsprachigen in Deutschland aus. Medina Schaubert beobachtet als aktives Mitglied eines Aussiedler Vereins seit Jahren die | [
"Fall Lisa",
"Russlanddeutsche",
"Deutschland",
"Berlin Hellersdorf-Marzahn"
] | 31,006 |
Ein bürgerfernes Machtspiel ohne Gewinner | Föderalismus | bpb.de | Einleitung
In Deutschland wird über notwendige Reformvorhaben heftig diskutiert und gestritten. Zwar werden zu wichtigen innenpolitischen Politikfeldern grundlegende Reformen in Angriff genommen, aber häufig versanden sie in kleineren, teilweise nicht aufeinander abgestimmten Reformschritten. Die politischen Akteure verspielen ihren Kredit bei den Bürgern; die Politik verliert an Glaubwürdigkeit. Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit, Eigenverantwortung, aber auch Politikverdrossenheit sind einige der Schlagworte, die den politischen Diskurs leiten.
In dieser Situation wird immer wieder die Politikverdrossenheit heraufbeschworen, um Unzulänglichkeiten in der Politik zu beschreiben. Sprachlich und inhaltlich korrekt ist es jedoch, von einer Verdrossenheit gegenüber den Politikern und den Parteien zu sprechen. Nach Umfragen sind Dreiviertel der Befragten der Meinung, dass die politische Elite ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist. Sie sprechen den Politikern ihre Sachkompetenz ab. Politiker- und auch Parteienverdrossenheit der Bürger, die in Wahlen und in Reaktionen auf laufende Reformdiskussionen deutlich zu Tage treten, sind als Symptome allgemeiner Verunsicherung ernst zu nehmen. Sie können in Politik- und Staatsverdrossenheit umschlagen. "Die Deutschen leiden", wie es die Neue Züricher Zeitung treffend beschrieben hat, "derzeit am Zustand ihres Gemeinwesens; sie leiden an den Reformen, die sie bereits verabschiedet haben, und fast mehr leiden sie an den Reformen, die noch ausstehen."
In einem nie gekannten Ausmaß wird in Deutschland grundsätzlich auch über das politische System nachgedacht, über die Mechanismen der Macht, über das Verhältnis von Bürger und Staat, über die Rolle des Individuums im Regelwerk der Institutionen. Das Erscheinungsbild des deutschen Bundesstaates hat, von der Öffentlichkeit zunächst nahezu unbemerkt, bereits seit mehreren Jahren intensiv Wissenschaft und Politik beschäftigt. Problemlage
Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist der Föderalismus im Grundgesetz als festes und unveränderbares Prinzip verankert. Art. 30 GG enthält eine umfassende Zuständigkeitsvermutung für alle staatlichen Aufgaben zugunsten der Länder, die jedoch mit der Einschränkung versehen ist, "soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt". Gleiches gilt nach Art. 70 GG auch für den Bereich der Gesetzgebung. Durch mehrere Grundgesetzänderungen sind Gesetzgebungsmaterien in die Bundeszuständigkeit bzw. von der Länderhoheit in die Rahmengesetzgebung verlagert worden. Roman Herzog charakterisiert diese verfassungsrechtliche Entwicklung als eine "ständige Einbahnstraße von der Landeszuständigkeit zur Bundeszuständigkeit". Auch in der Finanzverfassung haben die Länder Gestaltungsmöglichkeiten verloren. Durch die Grundgesetzänderung vom 12. Mai 1969 hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für alle Steuern erhalten, an deren Aufkommen er beteiligt ist oder bei denen er ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung feststellt (Art. 105 Abs. 2 GG). Den Ländern sind die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern geblieben, "soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind" (Art. 105 Abs. 2a GG).
Ein grundlegendes Problem ist das Postulat, "einheitliche" bzw. "vergleichbare Lebensverhältnisse" herzustellen. Es gründet in der Einheit des Staates, im durch ihn garantierten Sozialstaatsprinzip bzw. in dem Gebot sozialer Gleichheit. Das Postulat wirkt als Schranke bundesstaatlicher Vielfalt und ist gegenläufig zum Bundesstaatsprinzip, das seinerseits länderspezifische Vielfalt legitimiert. Diese Vielfalt stellt sich ihrerseits in unterschiedlichen Lebensverhältnissen dar.
Im Strukturprinzip "sozialer Bundesstaat" findet das dynamische Spannungsfeld zwischen föderaler Vielfalt einerseits und Gleichheit bzw. Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse andererseits seinen Ausdruck. Auf dieses Spannungsfeld wirken politische Veränderungen ebenso wie die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ein. Bis in die siebziger Jahre hat die Tendenz zum "kooperativen Föderalismus" dominiert. Die bundesfreundliche Auslegung der "Bedürfnisklausel" in Art. 72 Abs. 2 GG hat maßgeblich zur Aushöhlung der Länderkompetenzen beigetragen. Danach setzte eine bis heute andauernde Phase der Renaissance des Subsidiaritätsprinzips und damit verbunden auch der Erstarkung des Bundesstaatsprinzips ein.
Die Änderung des Art. 72 Abs. 2 im Jahre 1994 hat die Frage der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung in der konkurrierenden Gesetzgebung justitiabel gemacht. Verfahrensrechtlich wurde diese Absicht dadurch flankiert, dass gleichzeitig in Art. 93 Abs. 1 GG der Kreis der Antragsteller erweitert wurde. Nunmehr kann auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes überprüft werden, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht.
Trotzdem gibt es in der konkurrierenden Gesetzgebung für die Länder nahezu keinen Spielraum mehr. Der Bund hat seine Gesetzgebungskompetenzen in diesem Bereich in einem Maße ausgeschöpft, dass faktisch der Unterschied zwischen der ausschließlichen und der konkurrierenden Bundesgesetzgebungskompetenz nicht mehr besteht. Als Kompensation haben die Länder über den Bundesrat Kompetenzverluste ausgleichen können. Fast zwei Drittel aller Bundesgesetze sind Zustimmungsgesetze. Bei wichtigen oder politisch brisanten Gesetzesvorhaben des Bundes tritt der Bundesrat jedoch häufig nicht als Vertreter spezifischer Landesinteressen auf; er fungiert vielmehr als parteipolitischer Gegenpart zur Bundesregierung. Der Bundesrat handelt dann nicht anders als die parlamentarische Opposition im Bundestag. Er hat dabei jedoch als eigenständiges Gesetzgebungsorgan größere Einflussmöglichkeiten. Verlierer dieser Verflechtung der Entscheidungsstrukturen sind die Landesparlamente in ihrer Funktion als Gesetzgeber und Institutionen dezentraler politischer Verantwortung in der repräsentativen Demokratie.
Indem sich Politik und Rechtsetzung zunehmend von den niedrigeren auf die höheren Ebenen verlagern, hat das Subsidiaritätsprinzip an Geltung verloren. Kompetenzen und politische Verantwortung sind nicht mehr vorrangig der jeweils kleineren Einheit übertragen und damit auch nicht mehr möglichst nah am Bürger angesiedelt. Diese Entwicklung hat sich innerstaatlich im Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern, aber auch im Verhältnis zur Europäischen Union vollzogen.
Diese Verlagerung von Zuständigkeiten schwächt alle Parlamente. An die Stelle der jeweils verlorenen Zuständigkeiten auf der niedrigeren Ebene sind stärkere Beteiligungsrechte der Exekutive an der Rechtsetzung auf der höheren Ebene getreten. Die Kompetenzverlagerung von legislativen zu exekutiven Organen findet sich auch dort wieder, wo den Ländern eigene Gesetzgebungszuständigkeiten geblieben sind. Die Landesexekutiven stimmen sich untereinander - teilweise auch mit dem Bund - in allen möglichen Formen der Kooperationen von der Ministerpräsidentenkonferenz über Fachministerkonferenzen bis hin zu Hunderten von Ausschüssen und Projektgruppen ab. Sie einigen sich auf Entwürfe oder im Kern gleich lautende Regelungen. Den Landtagen wird damit die Möglichkeit der sachlichen Gestaltung entzogen. Es bleibt ihnen dann nur die Alternative, zum vorgelegten Resultat "Ja" oder "Nein" zu sagen. Der entmündigte Bürger
Der Bürger wird permanent mit Gesetzen, Gesetzesänderungen und Rechtsverordnungen konfrontiert, die ihn zwar betreffen, deren Zustandekommen und Auswirkungen aber undurchsichtig sind, weil die Gesetzgebungstechnik nicht mehr nachvollziehbar ist. So ist das Steuerrecht in mehr als 100 Bundesgesetzen geregelt und wird auch vielfach außerhalb von Steuergesetzen geändert. Die Folge ist, dass der Bürger den Sachzusammenhang nicht mehr versteht. Er weiß nicht, welches Ressort oder welche föderale Ebene für welche Maßnahme verantwortlich ist. Sein Vertrauen in den Text des Grundgesetzes wird erschüttert, wenn er von informellen Regelungen erfährt, in denen vorab Absprachen zwischen dem Staat und Gesetzesbetroffenen zu künftiger Gesetzgebung getroffen werden. Wenn dann noch öffentlich gefordert wird, dass "Zusagen" oder "Absprachen" mit der Bundesregierung eingehalten werden sollen, ist der Bürger vollends verunsichert; denn die Gesetzgebungsbefugnis liegt nach dem Grundgesetz doch ausschließlich bei Bundestag und Bundesrat.
Angesichts der undurchschaubaren politischen Entscheidungsprozesse treten die Stärken eines föderalen Staates, der die demokratischen Rechte seiner Bürger wahrt und den verschiedenen politischen Ebenen Gestaltungsmöglichkeiten garantiert, nicht mehr zu Tage. Politische Entscheidungen werden aus der Sicht des Bürgers ohne klare Zuordnung von Verantwortung und damit für ihn weitgehend anonym getroffen. Politik wird von bürgerfernen Bürokratien und Gremien betrieben, deren demokratische Legitimation ihm zumindest fragwürdig erscheinen. Aufgaben und Kompetenzen sind auf allen politischen Ebenen in hohem Maße ineinander verflochten.
Das ist nicht nur ein Staatsorganisationsproblem, sondern auch ein Demokratieproblem. Auf allen Ebenen konfrontieren die Regierungsvertreter ihre Parlamente mit politischen Absprachen, an denen die Vertreter des Volkes nicht mitgewirkt haben. Die Wählerinnen und Wähler sind verwirrt, zumal auch die Verantwortung der einzelnen Parteien für politische Entscheidungen häufig im Dunkeln bleibt. Schließlich fragt sich der Bürger, ob dieses politische System in seiner gegenwärtigen Ausprägung den Herausforderungen im Zeichen des beschleunigten Wandels und der Globalisierung noch gewachsen ist.
Der Verlauf der Reformdebatten in Deutschland trägt dazu bei, dass der Bürger weiter verunsichert wird. Wer welche Entscheidungen trifft und wer für welche Entscheidungen verantwortlich ist, kann der Bürger nicht mehr nachvollziehen. Intransparenz und Politikverflechtung sind nicht nur kennzeichnend für die Kompetenzordnung, sondern betreffen in gleichem Maße auch die Finanzordnung. Für den Bürger ist im gegenwärtigen System nicht mehr erkennbar, an welche Ebene er seine Steuern zahlt und was damit finanziert wird.
Trotz allem schätzt der Bürger die repräsentativen Organe unserer Staatsordnung immer noch hoch ein. Nach jüngsten Meinungsumfragen sind bei über zwei Dritteln der befragten Bürgerinnen und Bürger Bundestag und Landtage und in fast gleich hohem Maße die kommunalen Vertretungen im Bewusstsein fest verankert. Rund ein Drittel der Befragten äußern in Umfragen, dass für sie Bürgernähe ein wichtiger Indikator der Politik ist. Aber gerade die Bürgernähe vermissen die Menschen bei den politischen Akteuren. Reformdiskussion in Deutschland
Die gegenwärtige Reformdiskussion bewegt sich in einem breitem Spektrum zwischen Beteiligungsföderalismus einerseits und Wettbewerbsföderalismus andererseits. Die Verfechter eines kooperativen Föderalismus bzw. Beteiligungsföderalismus gründen ihre Argumentation auf Art. 72 Abs. 2 GG. Gleichwertige Lebensverhältnisse werden als ein "grundlegendes Leitbild des Grundgesetzes" betrachtet. Die Anhänger eines solchen Föderalismusverständnisses argumentieren, dass die Solidarität der Länder untereinander und daraus abgeleitete finanzielle Ausgleichsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse wichtiger seien als der Wettbewerb um beste politische Problemlösungen. Sie sehen in der Politikverflechtung des kooperativen Föderalismus die positiven Züge, dass politische Konflikte gedämpft, die politisch Handelnden zu einer Politik der Mäßigung und des Ausgleichs veranlasst und politischer Konsens herbeigeführt würden.
Die Anhänger eines Wettbewerbsföderalismus berufen sich auf die Offenheit des Grundgesetzes für vielgestaltige rechtliche Regelungen in den Ländern und streben eine Entflechtung der bundesstaatlichen Ordnung an mit dem Ziel, die Gestaltungsmöglichkeiten und Kompetenzen der Länder zu stärken. Neben einer Politikentflechtung wird ein Mehr an Autonomie, Subsidiarität sowie Wettbewerb gefordert. Hierzu ist eine grundlegende Föderalismusreform erforderlich, damit die Stärken des Föderalismus wieder deutlicher hervortreten, nämlich eine Vielzahl politischer Lösungsmöglichkeiten anzubieten, regionale Präferenzen zu fördern und damit auch beste Voraussetzungen für einen bürgernahen Staat zu schaffen, der den Interessen der Bürger vor Ort Rechnung trägt. Die deutschen Landesparlamente haben mit der Idee, einen Konvent aller Landesparlamente und aller dort vertretenen Fraktionen einzuberufen, einen einmaligen Schritt unternommen. In der Lübecker Erklärung vom 31. März 2003 bringen sie zum Ausdruck, dass sie die Föderalismusreform nicht mehr der Bundesebene und den Ministerpräsidenten allein überlassen wollen. Sie fordern alte Kompetenzen zurück, neue Zuständigkeiten hinzu sowie eigene Verfügung über Geld. Die Forderungen sind nicht neu, sie finden sich auch in anderen Reformkonzepten wieder. Neu ist die Methode einer umfassenden Vertretung aller parlamentarischen Kräfte auf Landesebene. Eine neue Dimension hat die Föderalismusreformdiskussion auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene erlangt. Am 15. Oktober 2003 haben sich fünf politische Stiftungen - Konrad-Adenauer-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, Hanns-Seidel-Stiftung - sowie drei parteiunabhängige Stiftungen -Bertelsmann Stiftung, Ludwig-Erhard-Stiftung und Stiftung Marktwirtschaft - zur Stiftungsallianz "Bürgernaher Bundesstaat" zusammengeschlossen. Mit dem Anspruch "Handlungsfähiger Föderalismus erfordert mutige Reformschritte" möchte die Stiftungsallianz die politische Debatte als Impulsgeber und zivilgesellschaftliches Forum begleiten. Parteiübergreifend und im gesamtgesellschaftlichen Interesse möchte diese außergewöhnliche Allianz die in Wissenschaft und Politik geführte Diskussion stärker in die Öffentlichkeit tragen. Die Föderalismusreformdiskussion ist im Herbst 2003 mit der Einsetzung der Bundesstaatskommission auf die politische Handlungsebene ausgeweitet worden. Die Bundesstaatskommission
Die am 16./17. Oktober 2003 eingesetzte gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung hatte den Auftrag erhalten, Vorschläge mit dem Ziel zu erarbeiten, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern. Insbesondere sollte sie die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder, die Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes sowie die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern überprüfen.
Eine grundlegende Reform des deutschen Föderalismus war von vornherein nahezu ausgeschlossen, zumal die beiden wichtigen Themenfelder Finanzausgleich und Länderneugliederung ausgeklammert wurden. Bereits im Vorfeld hatten Bund und Länder ihre Verhandlungspositionen derart festgelegt, dass hohe Barrieren aufgebaut waren. Heterogen waren aber auch die Interessenlagen zwischen den Ländern, d.h. zwischen finanzschwachen und finanzstarken, kleinen und großen, alten und neuen Ländern, außerdem zwischen Landesregierungen und Landesparlamenten. Spürbare Unterschiede bestanden auf der Bundesebene zwischen Bundesregierung und Bundestag. Angesichts dieser Konstellationen mussten Kompromisse auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners eingegangen werden, damit erforderliche Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat zustande kommen könnten.
Die Bundesstaatskommission ist nicht an Erkenntnis-, sondern an Entscheidungsproblemen, d.h. am "Machtproblem", gescheitert. Dass die Kommission in der Bildungspolitik keinen Konsens herbeiführen konnte, war angesichts der Bedeutung des Zukunftsthemas "Bildung" für die Landtagswahlen 2005 und die Bundestagswahl fast vorauszusehen, weil weder die Bundesregierung noch die Länder dieses Thema aus der Hand geben wollten. Aber auch bei einem erfolgreichen Abschluss wäre das Ergebnis - gemessen an Auftrag und Anspruch der Bundesstaatskommission - unbefriedigend ausgefallen und hätte statt größerer Transparenz und höherer Effizienz neue Probleme aufgeworfen.
In der Eröffnungssitzung am 7. November 2003 hatten alle beteiligten Gruppen betont, dass ein wichtiges Reformziel die Reduzierung der Zustimmungsnotwendigkeit von Bundesgesetzen sein müsste. Von den vielfältigen Tatbeständen im Grundgesetz, die eine Zustimmung des Bundesrates erforderlich machen, stand Art. 84 Abs. 1 GG im Mittelpunkt der Reformerwägungen: "Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen." Die einfachste Lösung wäre gewesen, den Nachsatz zu streichen, zumal nicht begründet ist, warum der Bund eine Mitgestaltungsbefugnis bei Behördenorganisation und Verwaltungsverfahren benötigt, wenn die Bundesgesetze von den Ländern als "eigene Angelegenheit" ausgeführt werden.
Herausgekommen ist eine komplizierte Regelung, bei der Entflechtungen durch Zugeständnisse und Ausnahmen an anderer Stelle wieder aufgehoben wurden. Die Sachlogik des neuen Art. 84 GG erschließt sich nur schwer. Der neue Satz 2 "Sofern Bundesgesetze etwas anderes bestimmen, können die Länder davon abweichende Regelungen treffen" lässt viele Fragen offen. Die Sätze 3 und 4 schaffen weniger Klarheit als vielmehr Verwirrung: "Regelungen der Länder gehen den Regelungen des Bundes nach Satz 2 vor. In Ausnahmefällen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeiten für die Länder regeln." Satz 5 legt schließlich fest, dass Bundesgesetze, die nach den nicht definierten "besonderen Bedürfnissen" des Satzes 4 zustande kommen, "der Zustimmung des Bundesrates" bedürfen.
Eindeutig positiv zu bewerten ist nur der letzte Satz: "Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden." Dieser Reformvorschlag entspricht dem Konnexitätsprinzip, also der Verknüpfung von Regelungs-, Durchführungs- und Finanzierungsverantwortung. Das Prinzip - wer eine Aufgabe zuweist, hat auch für deren Finanzierung zu sorgen - wird in der bestehenden Fassung des Art. 84 GG ebenso wie auch an anderen Stellen bislang nicht konsequent umgesetzt. Ob die vorgeschlagene Neufassung des Art. 84 GG die von den Protagonisten dieser Reformmaßnahme versprochene starke Verminderung der Zustimmungsbedürftigkeit erbracht hätte, bleibt auch vor dem Hintergrund des neuen Art. 104a Abs. 3a GG zu bezweifeln, der einen neuen Zustimmungstatbestand für "Bundesgesetze mit erheblichen Kostenfolgen" schafft.
Auf den ersten Blick positiv sind die Bemühungen zu bewerten, Gesetzgebungszuständigkeiten zu entflechten: 13 Gesetzgebungszuständigkeiten sollten in die ausschließliche Kompetenz der Länder und fünf weitere in diejenige des Bundes übertragen werden. Dieser Erfolg ist aber insofern zu relativieren, da 26 Materien in der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 GG verbleiben; d.h., die bisherigen Gesetzgebungsgegenstände sollten vielfach lediglich aufgeteilt werden. Art. 74 GG würde danach noch unübersichtlicher und schwieriger zu handhaben sein. Das gilt z.B. für das in Art. 74 Abs. 11 GG "geregelte Recht der Wirtschaft". Der hierzu bislang bereits umfangreiche Klammerzusatz würde durch die vorgesehene Eingrenzung "ohne das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte" noch komplexer.
Die im Vorfeld scheinbar erzielte Einigung zwischen Bund und Ländern, die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 GG abzuschaffen - auch wegen des zeitraubenden zweistufigen Verfahrens, das angesichts der EU-Richtlinien mit überschaubaren Umsetzungsfristen zunehmend Probleme bereitet -, wurde nur teilweise umgesetzt. Es entfallen zwar die in Art. 74a GG geregelte Einbeziehung der Besoldung und Versorgung im öffentlichen Dienst in die konkurrierende Gesetzgebung sowie die diesbezügliche Rahmengesetzgebung in Art. 75 Abs. 1 GG. Aber die neue Regelung ist wieder nur ein Kompromiss: Die Länder sollen zukünftig für Laufbahnen, Besoldung und Versorgung des Landesbeamten zuständig sein. Die Regelungskompetenz des Bundes wird auf die "Statusrechte und -pflichten der Angehörigen des öffentlichen Dienstes" in einer neuen Ziffer 27 des Art. 74 Abs. 1 GG begrenzt.
Problematisch ist, dass nach dem Reformvorschlag der Bund 15 der 26 Materien der konkurrierenden Gesetzgebung ohne die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG in Anspruch nehmen könnte. Wenn der Bund ohne Begründung in diesen Materien von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch machen kann, warum überträgt man dann nicht gleich diese Befugnisse in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes? Es schließt sich eine zweite Frage an: Warum soll die mit der Verfassungsreform 1994 verschärfte Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG gerade zu dem Zeitpunkt wieder entschärft werden, wo die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht in mittlerweile fünf Urteilen diese Klausel konkretisiert und dem Bund enge Grenzen in der konkurrierenden (und rahmensetzenden) Gesetzgebung gesteckt hat? Kaum Fortschritte wurden beim Abbau der Mischfinanzierungen erzielt. Die intransparenten Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und 91b GG bleiben weitgehend bestehen. Lediglich in Ziffer 1 sollte der Hochschulbau entfallen, jedoch "die Förderung von Großgeräten und Vorhaben nationaler Exzellenz über die GA Forschungsförderung" fortgeführt werden.
Die Interessenkonflikte zwischen den finanzschwachen und den finanzstarken Ländern haben weiter reichende Entflechtungen verhindert. Das gilt für eigene Gesetzgebungskompetenzen der Länder über Steuern, deren Aufkommen allein ihnen zufließen. Statt Möglichkeiten eigener Gestaltung zu begrüßen, befürchteten einige Länder unsolidarischen Wettbewerb und Konkurrenz. Aus gleichen Erwägungen leisteten sie auch Widerstand gegen die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben. Anforderungen an eine künftige Föderalismusreform
Die vorgelegten Verhandlungsergebnisse der Bundesstaatskommission enthalten nur wenige Elemente in Richtung auf eine zukunftsfähige, bürgernahe föderale Ordnung. Die Reformvorschläge, die als Kompromisse auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners zustande gekommen sind, folgten den Kriterien des politisch Machbaren, die sich aus der Sachlogik bestimmter Entscheidungen ergeben. Sie bergen die Gefahr in sich, dass der Blick für perspektivisch angelegte Problemlösungen versperrt wird. Politisches Handeln, das nach Möglichkeit Gleichheit im politischen Ergebnis erreichen möchte, ist weniger effizient als politisches Handeln, das sich vorrangig an der Chancengleichheit und an den demokratischen Rechten der Bürger und damit an den kleinen Einheiten orientiert. Letzteres eröffnet eine größere Bandbreite unterschiedlicher Lösungen. Das Bemühen, einen möglichst hohen Grad an Gleichheit vorzugeben, gefährdet hingegen politische Freiheit. Wenn aber die Realisierung politischer Freiheit und die politische Handlungsfähigkeit des Bürgers das höchste Gut sind, werden auch die Bürgerinnen und Bürger ein gewisses Maß an Unterschiedlichkeit und damit verbundener Ungleichheit akzeptieren; denn solche Unterschiedlichkeit steht nicht im Zusammenhang mit Benachteiligung, sondern ist Ausdruck einer größeren Wahlfreiheit und eines reicheren Spektrums gesellschaftlicher Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger. Unterschiedlichkeit ist in einem transparenten Föderalismus dann Ausdruck des politischen Willens des Bürgers.
Eine Föderalismusreform ist daran zu bemessen, ob sie die Möglichkeiten des Bürgers befördert, Politik zu gestalten. Der Bürger erwartet vom Staat, dass er hilft, gewährleistet, sichert und befähigt. Diese Erwartungen werden nicht erfüllt, solange die Entscheidungsabläufe hoch komplex und undurchschaubar sind und politische Entscheidungen ohne klare Zuordnung von Verantwortung und damit für den Bürger weitgehend anonym getroffen werden. Hinzu kommt, dass aus der Sicht des Bürgers Politik von bürgerfernen Bürokratien und Gremien maßgeblich mitbestimmt wird. Solange der Bürger den Staat aber als ein unübersichtliches, ihm fernes Gebilde erfährt, steht er den politisch Handelnden kritisch bis ablehnend gegenüber. Die Folge sind Politiker- und Parteienverdrossenheit.
Die Bundesstaatskommission hat vor diesem Hintergrund die Chance verspielt, "die demokratischen Potentiale des deutschen Föderalismus im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern". Sie konnte nicht vermitteln, dass Reformen der Strukturen des föderalen Staates eine notwendige Voraussetzung für Reformen in vielfältigen Politikfeldern sind. Die zentrale Frage, was die Verfassungsreform der Bundesrepublik Deutschland insgesamt nützt, ist im Machtspiel der politischen Akteure aus Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung immer mehr zurückgetreten. Stattdessen wurden Kompromisse ausgehandelt nach dem Schema, dass es keine Verlierer geben dürfe.
Bei künftigen Verhandlungen über die Reform der bundesstaatlichen Ordnung dürfen zentrale Fragen wie die Finanzordnung in ihrer Gesamtheit oder auch die Länderneugliederung nicht ausgeklammert werden. Die nicht hinreichend klar getrennten Aufgaben- und Ausgabenzuständigkeiten, das Übergewicht der Gemeinschaftsteuern und die hohe Ausgleichsintensität des Finanzausgleichs erfordern eine umfassende Reform auch im Bereich der Finanzverfassung. Zum substantiellen Erhalt der föderalen Struktur gehören leistungsfähige Länder. Auch wenn zurzeit Neugliederungsvorschläge kaum Realisierungschancen haben, ist es dennoch sachlich berechtigt und notwendig, diese Frage aufzuwerfen. Vor allem, weil im Prozess der voranschreitenden europäischen Integration die Bundesländer zunehmend im Wettbewerb mit Regionen in Europa stehen, an denen sie gemessen werden. Die gegenwärtige Intransparenz der finanziellen Folgen der bestehenden Länderstrukturen macht es allerdings den Bürgerinnen und Bürgern schwer, abzuwägen, welchen Preis ihnen die gegenwärtigen Landesgrenzen wert sind bzw. welche Optionen ihnen eine Länderneugliederung bietet.
Eine Reform der föderalen Ordnung ist dann auch zukunftsweisend, wenn sie einen bürgernahen Staat zur Folge hat. Das heißt, die politischen Strukturen und Entscheidungsprozesse müssen transparent und für den Bürger nachvollziehbar sein. Dem Bürger muss aber auch mehr Verantwortung übertragen werden, er muss als mündiger Bürger behandelt werden. Die Reform muss außerdem sicherstellen, dass der bürgernahen politischen Ebene durch die bürgerfernere nicht willkürlich Kompetenzen genommen werden können.
Vgl. Thomas Fischer u.a., Föderalismusreform in Deutschland. Ein Leitfaden zur aktuellen Diskussion und zur Arbeit der Bundesstaatskommission. Forum Föderalismus 2004, Gütersloh 2004.
Roman Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Stand 2003, Art. 20 IV Rn 55.
Zur Reformdiskussion bis zur Einsetzung der Bundesstaatskommission vgl. Udo Margedant, Die Föderalismusdiskussion in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 53 (2003) 29 - 30, S. 6 - 13.
Vgl. Perspektiven einer bürger- und gestaltungsorientierten Reform des bundesdeutschen Föderalismus, Ver.di-Positionspapier zur Föderalismusreform vom 22. März 2004.
Vgl. T. Fischer u.a. (Anm. 1), S. 19 - 51.
Vgl. Stiftungsallianz "Bürgernaher Bundesstaat", Ziele, Presseerklärungen, Tagungsberichte unter: (www.buergernaher-bundesstaat.de).
Vgl. Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung - Position des Bundes und Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung - Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Bund, in: Rudolf Hrbek/Annegret Eppler (Hrsg.), Deutschland vor der Föderalismusreform, Tübingen 2003.
Zur Diskussion in der Bundesstaatskommission über Art. 84 GG vgl. Hans-Jörg Dietsche/Sven Hinterseh, Landesrecht bricht Bundesrecht?, in: Michael Borchard/Udo Margedant (Hrsg.), Föderalismusreform - Vor der Reform ist nach der Reform?, Zukunftsforum Politik Nr. 61, Sankt Augustin 2004.
"Führen die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus, bedürfen diese der Zustimmung des Bundesrates, wenn sie Pflichten zur Erbringung von Geldleistungen oder geldwerten Sachleistungen gegenüber Dritten begründen." Der Begriff "geldwerte Sachleistungen" umfasst nach dem Begleittext zu Art. 104a Abs. 3 auch hiermit vergleichbare Dienstleistungen. Zu diesen weitgefassten Sachleistungen gehören u.a. die Verpflichtung der Länder zur Schaffung und Unterhaltung von Aufnahmeeinrichtungen für Asylbegehrende, die Bereitstellung von Tagesbetreuungsplätzen sowie die Sozialleistungen im Bereich des Sozialgesetzbuches.
Bergbau, Industrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank- und Börsenwesen, privatrechtliches Versicherungswesen.
Es bleiben in Art. 75 GG die Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, das Jagdwesen, den Naturschutz und die Landschaftspflege sowie die Bodenverteilung, die Raumordnung und den Wasserhaushalt bestehen.
Altenpflege-Urteil, Kampfhunde-Urteil, Ladenschluss, Juniorprofessur und Studiengebühren.
Roland Sturm, Föderalismusreform - eine Bilanz der Zwischenbilanz, in: M. Borchard/U. Margedant (Anm. 8), S. 98.
Vgl. Hans Hofmann, Reform der Finanzverfassung in Wechselwirkung zu Kompetenzverschiebungen bei der Gesetzgebung, in: M. Borchard/U. Margedant (Anm.8), S. 37ff.
| Article | Margedant, Udo | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29144/ein-buergerfernes-machtspiel-ohne-gewinner/ | Die Föderalismuskommission ist gescheitert, weil gesamtstaatliche Interessen im Machtspiel der politischen Akteure in den Hintergrund getreten sind. | [
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Religion, Konfession und säkulares Wissen | Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 | bpb.de |
Die Religion hat in der Gesellschaft des Kaiserreichs große Bedeutung und ist geprägt von der Konkurrenz zwischen Katholiken und Protestanten. "Gottesdienst in der Kirche zu Burg" (Spreewald), Farbholzstich von 1893 (© akg-images)
Entgegen einer populären Vorstellung war das 19. Jahrhundert kein Zeitalter der Säkularisierung. In weiter Begriffsverwendung lässt sich Säkularisierung als die Ablösung religiöser durch weltliche, säkulare Deutungsmuster verstehen, mit entsprechenden Folgen für die religiöse Praxis. In diesem Sinne hat der Soziologe Max Weber (1864–1920), einer der einflussreichsten liberal-nationalen Akademiker und Intellektuellen des Kaiserreichs, 1905 vom Prozess der "Entzauberung der Welt" gesprochen. Durch tiefe Kontroversen über den Ort der Religion in der Moderne und angesichts eines anhaltenden Rückgangs der Teilnahme am Abendmahl waren vor allem die protestantischen Kirchen direkt in den Prozess der Säkularisierung verwickelt. Zugleich organisierten Protestanten wie Katholiken jedoch neue Formen der Frömmigkeit und Religiosität. Damit war Religion auch am Beginn des 20. Jahrhunderts eine soziale Tatsache erster Ordnung. Sie prägte die soziale Lebenswelt und die Deutungskultur breiter Bevölkerungsschichten. Selbst die sozialdemokratische Arbeiterschaft, die den christlichen Kirchen zunehmend misstrauisch gegenüberstand, griff an den Lebenswenden wie Geburt, Eheschließung und Tod weiterhin auf vom Christentum geprägte Übergangsriten zurück.
Die anhaltende Bedeutung der Religion lag nicht zuletzt an der konfessionellen Spaltung Deutschlands. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert war sie ein grundlegendes Faktum der deutschen Geschichte. Konkurrenz und Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten prägten die Geschichte des Kaiserreichs dann in erneuerter Intensität. Der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht stellte 1872 deshalb mit Bedauern fest: "Religiöse Fragen sind in keiner Epoche der deutschen Geschichte mit größerem [...] Eifer behandelt worden als in diesem Momente." Allerdings unterschieden sich die Ausgangspositionen, mit denen beide Konfessionen in diesen Konflikt eintraten.
Der Katholizismus in der Defensive
Die Katholiken befanden sich im Kaiserreich in der Defensive. Diese Defensive hatte zunächst eine demografische Dimension. Mit der kleindeutschen Lösung der deutschen Frage waren sechs Millionen deutschsprachige Katholiken in Österreich aus dem nationalen Verbund ausgeschieden. Im Kaiserreich bildeten die Katholiken seitdem eine Minderheit von etwas mehr als einem Drittel der Bevölkerung. Mit Ausnahme Oberschlesiens und des Rheinlandes lebten sie vorwiegend in ländlichen Regionen, die von der Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft noch kaum erfasst waren, wie etwa Altbayern, Westfalen oder der Schwarzwald. Das soziale Profil der Katholiken spiegelte diese traditionale Struktur wider. Unter Unternehmern wie industriellen Arbeitern waren Katholiken deutlich geringer vertreten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Die Defensive hatte – zweitens – eine politische Dimension. Mit dem Kulturkampf verfolgten die Liberalen und Bismarck eine aggressive anti-katholische Politik, die auf eine Zurückdrängung der katholischen Kirche aus dem öffentlichen Raum abzielte.
Zudem positionierte sich die katholische Kirche – drittens –in der Abwehr gegen die rationalistischen und individualistischen Tendenzen der Moderne. Dies stand in Zusammenhang mit der Durchsetzung der ultramontanen, das heißt auf den Papst in Rom fokussierten Ausrichtung, die seit den 1830er-Jahren auf zwei Ebenen erfolgte. In den deutschen Bistümern favorisierten einzelne theologische Fakultäten und Priesterseminare eine Abschottung von der Moderne im Sinne des Ultramontanismus, während die Kurie in Rom diesen Prozess durch eine Reihe von Erklärungen vorantrieb. So dogmatisierte sie 1854 die unbefleckte Empfängnis Marias, indem sie betonte, dass Maria ungeachtet ihrer natürlichen Zeugung bei ihrer Empfängnis von der Erbsünde frei blieb, und so die besondere Heiligkeit der Gottesmutter unterstrich. Im sogenannten Syllabus Errorum ("Verzeichnis der Irrtümer") von 1864 legte Papst Pius IX. eine Liste der zu verdammenden "Irrtümer" der modernen Kultur vor. Zu ihnen zählte er neben Sozialismus und Liberalismus auch die Idee des Fortschritts und der säkularen Menschenrechte. Schließlich setzte sich auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870, das wegen des deutsch-französischen Krieges abgebrochen werden musste, gegen erbitterten Widerstand vor allem deutscher Bischöfe das Dogma der Infallibilität (Unfehlbarkeit) durch. Es bestimmte, dass der Papst in ex cathedra – "vom Bischofssitz in Rom aus" – verkündeten lehramtlichen Entscheidungen unfehlbar sei.
Die Durchsetzung des Ultramontanismus erfolgte nicht ohne Konflikte. Aber am Ende war den Katholiken damit ein Orientierungsrahmen gegeben, der die Abgrenzung nach außen und die Homogenisierung nach innen beförderte. Der Ultramontanismus forderte und förderte eine demonstrative, sichtbare Form der Frömmigkeit. Diese zeigte sich in spektakulärer Form etwa in den Marienerscheinungen. In der saarländischen Bergbaugemeinde Marpingen behaupteten 1876 drei Mädchen, ihnen sei die Jungfrau Maria erschienen. Daraufhin strömten rasch Tausende von Pilgern in den entlegenen Ort, um an dem Wunder teilzuhaben. Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes entsandte der preußische Staat Truppen, um Menschenansammlungen aufzulösen und die Pilger fernzuhalten. Weniger spektakulär, aber nicht weniger eindringlich zeigte sich der Aufschwung ultramontaner Frömmigkeit am Wachstum katholischer Orden. Vor allem weibliche Ordensgemeinschaften, die vielfach in der Krankenpflege tätig waren, erlebten im Kaiserreich ein explosionsartiges und oft über 1918 hinausreichendes Wachstum der Niederlassungen und Mitglieder.
Im Zentrum der rituellen Frömmigkeit aller Katholiken stand der eucharistische Kult, also das Messopfer im Abendmahl mit dem Empfang der heiligen Kommunion, der zumindest einmal jährlich an Ostern die Pflicht jedes Katholiken war. Flächendeckende Zahlen über die Entwicklung der Teilnahme an der Osterkommunion liegen nicht vor, da die katholische Kirche erst ab 1915 statistische Erhebungen einführte. Vereinzelte Hinweise deuten jedoch darauf hin, dass die kirchliche Praxis der Katholiken in Dörfern und Kleinstädten bis 1914 auf hohem Niveau stabil blieb. Nur in Großstädten wie Köln und München war bereits um 1900 vor allem bei der Arbeiterschaft eine Entfremdung von der kirchlichen Praxis sichtbar. Dabei gab es gravierende Unterschiede vor allem zwischen Frauen und den häufiger "abständigen" Männern. Sie sind im Zusammenhang einer tiefgreifenden Feminisierung der Religiosität im 19. Jahrhundert zu sehen, die sich auch am Aufstieg des Marienkultes zum Leitbild ultramontaner Frömmigkeit zeigt. Nimmt man einen Zusammenhang zwischen intensiver Kirchlichkeit und Stimmabgabe für das Zentrum an, so sind noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges rund zwei Drittel aller katholischen Männer kirchentreue, praktizierende Christen gewesen.
Der Kulturkampf beförderte die endgültige Durchsetzung des Ultramontanismus und damit zugleich die Abschottung der Katholiken von der Mehrheitsgesellschaft in einem in sich weitgehend geschlossenen Milieu. Ein wichtiges Mittel der Integration des Milieus nach innen waren katholisch-konfessionelle Vereine. Zu ihnen zählten neben den im engeren Sinne religiösen Vereinen wie Kongregationen und Sodalitäten ("brüderliche Gemeinschaften") auch Missions- und Lesevereine. Hinzu kam ein weites Spektrum von Standes- und Berufsvereinen für Bauern, Handwerker und andere Berufsgruppen. Erst um 1900 war dieses Netz von Vereinen voll ausgebildet, und es blieb regional ungleichmäßig entwickelt, mit starken Schwerpunkten im Rheinland und in Westfalen. Im Kern der Vereine stand die Präsidesverfassung, nach der stets ein Geistlicher von Amts wegen als Vorsitzender eines Vereins fungieren musste. Das entsprach dem Bild klerikaler Bevormundung, das die kulturkämpferischen Liberalen hegten, und führte im Vereinsalltag zu manchen Konflikten.
Daneben kam es aber zu einer stillen Säkularisierung, indem sich viele der in den Vereinen aktiven Männer allmählich von der klerikalen Kontrolle lösten und die Vereinsversammlungen als Lernorte der Partizipation nutzten. In diesem Detail wie insgesamt zeigen die katholischen Vereine die Ambivalenzen, die das katholische Milieu prägten: Auf der einen Seite stand der Versuch der Abschottung von der modernen Welt; auf der anderen Seite war das Prinzip des Zusammenschlusses in Vereinen selbst eine tragende Säule der Zivilgesellschaft, und mit und in den Vereinen öffneten sich die Katholiken schrittweise den Konflikten der bürgerlich-kapitalistischen Moderne.
Beispielhaft für die zweite Tendenz stand der 1890 gegründete Volksverein für das katholische Deutschland in Mönchengladbach. Mit seinen 1914 etwa 800.000 Mitgliedern widmete er sich der Volks- und Arbeiterbildung. Bei strikt antisozialistischer Ausrichtung rezipierte man zugleich die Politik der bürgerlichen Sozialreformer und gelangte so zu einem realistischen Verständnis der Industriegesellschaft. Ab 1900 tobte im katholischen Lager ein "Gewerkschaftsstreit" um die Frage, ob katholische Arbeiter sich in christlichen Gewerkschaften organisieren und mit anderen Gewerkschaften kooperieren sollten. Dabei stand die sogenannte Mönchengladbacher Richtung folgerichtig auf der Seite der Gewerkschaften und gegen die sogenannten Integralisten. Diese lehnten auch den Vorstoß des rheinischen Zentrumspolitikers Julius Bachem ab, der 1906 eine Kooperation mit Protestanten unter dem Motto "Wir müssen aus dem Turm heraus" forderte. Insgesamt war der Vereinskatholizismus zugleich ein Vehikel der Abgrenzung nach außen und der Stabilisierung nach innen.
QuellentextEin Plädoyer für die konfessionelle Öffnung der Zentrumspartei
In der Zentrumspartei tobte seit 1906 ein Streit um die Frage, ob die Partei aus dem "Turm" des katholischen Milieus ausbrechen und sich zu einer christlichen Sammelpartei wandeln sollte. Der Kölner Verleger Julius Bachem (1845–1918) entfaltet 1906 die Argumente der sogenannten Kölner Richtung.
"Der Zentrumsturm […] wurde in der schweren Zeit des kirchenpolitischen Konfliktes errichtet. Er sollte der Abwehr des staatskirchlichen Ansturmes dienen, welcher unter der Führung des gewaltigsten Staatsmannes des 19. Jahrhunderts gegen die katholische Kirche in Preußen unternommen wurde. […]
Es gibt auch noch katholische Kreise, in denen das Zentrum lediglich die ‚katholische Volkspartei‘ ist und der politische Charakter des Zentrums keineswegs immer, wo es angezeigt erscheint, mit einer alle Mißdeutung ausschließenden Klarheit und Entschiedenheit betont wird. […]
Dazu kommt, daß katholischerseits an einzelnen Stellen konfessionelle Abgeschlossenheit auch da noch herrscht, wo sie sachlich nicht berechtigt ist. In dieser Richtung hat offensichtlich am meisten der noch immer nicht aufgegebene Versuch geschadet, die interkonfessionelle berufsgenossenschaftliche Organisation der Arbeiter unter Geltendmachung spezifisch kirchlicher Gesichtspunkte zu vereiteln oder zu erschweren*, während längst für andere Berufsstände (Bauern, Handwerker) interkonfessionelle Organisationen zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen bestehen und unbeanstandet in Tätigkeit sind. Auch diese Ueberspannung des Konfessionalismus nährt mittelbar das noch in so weiten akatholischen Kreisen bestehende Vorurteil, daß im Grunde genommen auch die Zentrumsfraktion ein ausschließlich im Interesse des Katholizismus geschaffenes Gebilde sei. […]
Man muß […] alles aufbieten, um dieses schädliche, ja gemeingefährliche Vorurteil zu zerstreuen, selbst unter Uebung weitgehender Selbstverleugnung.
[…] [W]ir müssen aus dem Turm heraus. Heraus nicht insofern, als wir die starke Verteidigungsstellung aufzugeben hätten. Nein, wir können und sollen sie beibehalten. Damit treten wir niemandem zu nahe. Auch dem konfessionellen Frieden dient nicht, wer sich wehrlos macht. Aber die Abschließung, die Absperrung, welche in dem Bilde des Turmes liegt, darf nicht über die Grenze hinaus gehen, welche durch die Verhältnisse gezogen ist. Wir sollen nicht in dem Turme verbarrikadiert bleiben, sondern uns vor demselben aufpflanzen und in immer weiterem Umkreise mit den Mitteln, welche die Gegenwart an die Hand gibt, für das Programm der politischen Zentrumspartei eintreten, das sich wahrlich sehen lassen kann. Wenn das Zentrum eine wahre Staatspartei ist, so soll es auch als solche sich fühlen und überall als solche sich geltend machen; keines seiner katholischen Mitglieder braucht deshalb ein Tüttelchen seiner religiösen Ueberzeugungen preiszugeben.
Je weiter die Kreise sind, in welchen man die Gesamttätigkeit der Zentrumspartei kennen lernt, um so mehr wird das gegen die Zentrumsfraktion noch bestehende Vorurteil schwinden. […] Es muß unbedingt mit vermehrter Umsicht auf die Wahl von solchen Abgeordneten nichtkatholischen Bekenntnisses hingewirkt werden, welche gute Fühlung mit dem Zentrum zu nehmen und zu unterhalten willens und geeignet sind. […]
Das Zentrum darf nicht unter der Einwirkung der Verschärfung der konfessionellen Gegensätze, an der so viele arbeiten, in eine splendid isolation ["glänzende Isolierung"] geraten, welche die Erfüllung seiner Aufgabe für Reich und Volk aufs äußerste erschweren würde. Dem Bestreben, diese Gefahr zu verringern, sollen die vorstehend entwickelten bzw. angedeuteten Gedanken dienen."
* Bachem spielt hier darauf an, daß die am Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung der Zentrumspartei gegründeten interkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften von einer kleinen, aber von Teilen des deutschen Episkopats unterstützten Gruppe innerhalb der Partei abgelehnt wurden. Die Gegner der Christlichen Gewerkschaften, die meist von ständischen Gesellschaftsvorstellungen ausgingen, wünschten die gewerkschaftliche Abschließung der katholischen Arbeiter innerhalb der besonderen Katholischen Arbeitervereine.
Gerhard A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl., Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1992, S. 140 ff.
Die protestantische Grundierung der Nationalkultur
Charakteristisch für die protestantischen Kirchen war ihre enge Verbindung zu den Landesherren in den Einzelstaaten des Reiches. Sie ging auf die Konfessionalisierung im Zuge der Reformation und der Glaubenskriege seit dem 16. Jahrhundert zurück. Die Landesherren waren zugleich summus episcopus, oberster Bischof der jeweiligen evangelischen Landeskirche. Sie übten damit das Kirchenregiment, die Aufsicht über die inneren Angelegenheiten der Kirche aus. In Preußen geschah dies seit 1850 über den Evangelischen Oberkirchenrat, dem die Konsistorien, die kirchlichen Behörden, nachgeordnet waren. Die Kirchenhoheit dagegen, die staatliche Aufsicht über die Kirche, lag beim preußischen Kultusministerium. Die Pfarrer waren dem König durch ihren Amtseid verpflichtet und in Besoldung und Ausbildung dem Beamtenstatus angelehnt. Diese Kirchenverfassung bewirkte eine ausgesprochene Staatsnähe und eine hierarchisch-konservative Grundanlage der evangelischen Landeskirche nicht nur in Preußen.
Das evangelische Deutschland war in mehrfacher Hinsicht gespalten. Neben den lutherischen Landeskirchen gab es reformierte (das heißt calvinistische) Kirchen, unter anderem im Gebiet des ehemaligen Königreichs Hannover. In Preußen hatte König Friedrich Wilhelm III. reformierte und lutherische Landesteile sowie Regionen, in denen es beide Konfessionen gab, 1817 zur Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (ApU) unter einer einheitlichen Agende (Handlungsanweisung für den Gottesdienst) zusammengefasst. Innerhalb der ApU blieben jedoch weit über 1918 hinaus Spannungen zwischen den Befürwortern der Union und denjenigen Lutheranern bestehen, welche die Union als eine Verwässerung ihres Bekenntnisstandes ablehnten.
Darüber hinaus gab es theologische Differenzen und politische Spannungen zwischen innerkirchlichen Strömungen, die wiederum selbst in verschiedene Gruppen zerfielen. Die beiden wichtigsten Strömungen waren die "positiven", konservativen Vertreter des Luthertums auf der einen und die Rationalisten und Liberalen auf der anderen Seite. Jene sahen die Kirche in erster Linie als eine hierarchische Körperschaft. Diese sollte den Glauben in einer Weise verkündigen, die der harmonischen Einfügung der Gläubigen in die Gesellschaft diente und nicht etwa ihrer Befreiung als Individuen. Die Liberalen befürworteten dagegen eine weniger an Dogmen orientierte, stärker individualistische Ausrichtung des Glaubens. Theologisch versuchten sie, das Christentum mit den Erkenntnissen der modernen, rationalen Wissenschaft zu versöhnen und vor deren Hintergrund zu reinterpretieren. Ihren entschiedensten theologischen Ausdruck fand diese Strömung im Kulturprotestantismus, der Glaube und moderne Bildung versöhnen wollte. Adolf von Harnack (1851–1930) und Ernst Troeltsch (1865–1923), zwei seiner wichtigsten Vertreter, zählten zu den bedeutendsten protestantischen Theologen des Kaiserreichs.
Der Richtungsstreit unter den Protestanten um die richtigen theologischen Antworten auf den rapiden sozialen Wandel im Kaiserreich erfolgte vor dem Hintergrund einer substanziellen Entkirchlichung. Diese betraf die evangelischen Landeskirchen in unterschiedlichem Maße und knüpfte dabei an längerfristige, bis 1800 zurückreichende Entwicklungen an. So beteiligten sich die Mitglieder reformierter Gemeinden in Nordwestdeutschland traditionell weniger am Abendmahl als die Gemeindemitglieder in jenen Teilen von Württemberg und Ostwestfalen, die durch die stärkere praktische Frömmigkeit des Pietismus und der Erweckungsbewegung geprägt waren. Ab 1850 überlagerten Verstädterung und Industrialisierung diese regionalen Unterschiede und verstärkten den Trend zur Entkirchlichung. In der preußischen Provinz Sachsen – die etwa dem heutigen Sachsen-Anhalt entspricht – war die Abendmahlsfrequenz bis 1913 auf 31 Prozent abgesunken, in der Provinz Brandenburg gar auf 24 Prozent. Das heißt auf 100 evangelische Bewohner wurden dort nur 24 Oblaten pro Jahr ausgeteilt, wobei die mehrfache Abendmahlsteilnahme frommer Christen eingerechnet ist. In vielen Großstädten, in denen Kirchenbau und Anstellung von Pfarrern mit dem Bevölkerungswachstum nicht mithalten konnten, war die Lage noch schwieriger. So lag die Abendmahlsfrequenz in Berlin schon 1862 bei nur 17, 1913 dann bei 14 Prozent, und in Breslau oder Dresden gab es noch niedrigere Werte.
Bereits 1848 hatten sich auf Initiative von Johann Heinrich Wichern zahlreiche protestantische Vereine zum "Central-Ausschuß der Inneren Mission" zusammengeschlossen, der die sozial-caritative Arbeit der evangelischen Kirchen koordinierte. Die der Kirche entfremdeten Industriearbeiter ließen sich jedoch auf diese Weise nicht zurückgewinnen. Das musste der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker erfahren, der 1878 die Christlich-Soziale Arbeiterpartei gründete. Damit rückte er zwar die soziale Frage nachhaltig auf die kirchliche Tagesordnung, doch sein unmittelbares Ziel, die Berliner Industriearbeiter für die Kirche zu gewinnen, scheiterte. So wandte er sich ab 1879 dem alten Mittelstand der Handwerker und Kleinhändler zu und vertrat ein offen antisemitisches und zugleich antikapitalistisches Programm.
Bei aller inneren Fragmentierung und Polarisierung innerhalb des evangelischen Deutschlands gab es doch zwei Grundhaltungen, welche die meisten Protestanten im Kaiserreich teilten. Die eine war ein zuweilen militanter Antikatholizismus, der die Sache der Protestanten in erster Linie durch den Gegensatz zu Rom definierte. Er fand seine wichtigste Plattform im Evangelischen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen. 1886 gegründet, erreichte dieser bis 1911 eine Massenbasis von 470.000 Mitgliedern, die er etwa bei den Reichstagswahlen gegen das Zentrum mobilisierte. Der Evangelische Bund war auch ein Beispiel für die Verbreitung der zweiten zentralen Grundhaltung, der Verbindung von evangelischer und nationaler Gesinnung im Nationalprotestantismus. Dieser interpretierte die Reichsgründung mit der theologischen Kategorie der Vorsehung und stellte das 1871 gegründete Reich eng neben das Reich Gottes. Der deutsche Nationalstaat erschien damit als Erfüllung einer besonderen nationalen Mission der Protestanten, die mit der Reformation begonnen hatte.
In der nationalprotestantischen Deutung der Geschichte rückten der Thron der Hohenzollern, der kirchliche Altar und die Nation eng zusammen. Die politische Handlungseinheit Nation wurde so mit sakralem Pathos aufgeladen. Sichtbaren Ausdruck fand diese Haltung etwa in der Feier des Sedantages am 2. September, jenem Tag, an dem Frankreich 1870 nach der Schlacht bei Sedan kapituliert hatte. Der Pfarrer Friedrich Bodelschwingh (1831–1910), Gründer der Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel, hatte dieses Datum 1872 für eine Feier der Buße und zugleich des Dankes für die Gründung des Nationalstaates vorgeschlagen. Der Sedantag entwickelte sich in der Folgezeit zum wichtigsten Datum für die öffentliche Feier des Reichsnationalismus. Er verwies damit zugleich auf die protestantische Grundierung der deutschen Nationalkultur. Denn die Katholiken boykottierten die Feier des Sedantages weitgehend.
Universitäten und Wissenschaften
Religion war im Kaiserreich eines der zentralen kulturellen Muster, mit dem Individuen und Gruppen ihr Leben und die soziale Wirklichkeit deuteten und ordneten. Neben und zum Teil an die Stelle der Religion trat die moderne Wissenschaft. Ihre wachsende Bedeutung hing zunächst mit der rasanten Expansion der Universitäten zusammen. Zu den 19 bereits 1871 bestehenden Universitäten kamen bis 1914 Straßburg, Münster und Frankfurt am Main hinzu. Aus dem Ausbau der früheren Polytechnika entstanden daneben bis 1914 noch elf Technische Hochschulen. Weitaus stärker wuchs die Zahl von Studenten und Lehrenden. Allein an den Hochschulen stieg die Studentenzahl von 13.068 im Jahr 1871 auf 60.853 im Jahr 1914. Das war eine Steigerung um 325 Prozent. Die Zahl der Lehrenden stieg, etwas gemäßigter, um 159 Prozent. Die Hochschulen wurden "Großbetriebe", so der Theologe Adolf von Harnack.
Im Zuge der Expansion des Hochschulsystems erfolgte eine tiefgreifende innere Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften. Zwar bauten nur wenige Universitäten eigene naturwissenschaftliche Fakultäten auf. Aber an den Instituten kam es zur Spezialisierung in eng umgrenzten Schwerpunkten empirischer Forschung. Die Forschungsorientierung der Wissenschaft – seit der Universitätsreform Wilhelm von Humboldts zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Charakteristikum der deutschen Hochschulen – fand nach 1900 neue Formen. Mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911 entstanden bis 1914 vier reine Forschungsinstitute für die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Vom Staat organisiert, aber vorwiegend mit Spenden der Industrie finanziert, markieren diese Institute den Übergang in die moderne Großforschung. Ihre Organisationsform trug maßgeblich dazu bei, dass vor allem in der Physik und Chemie deutsche Wissenschaftler seit 1900 weltweit führend waren und wegweisende Forschungsergebnisse vorlegten. Zugleich zeigte sich, dass auch im Rahmen eines autoritären Staates die funktionale Spezialisierung als ein wichtiges Strukturprinzip der Moderne mit Erfolg angewandt werden konnte.
In den Naturwissenschaften vollzog sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine Revolution des Wissens, die fundamentale Auswirkungen auf das moderne Weltbild hatte. In der Biologie steht beispielhaft dafür die Evolutionstheorie, die der Engländer Charles Darwin (1809–1882) seit 1859 entwickelte. In Deutschland griff der in Jena lehrende Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919) diese Ideen auf und vermittelte sie zugleich an ein breites Publikum. Haeckel trug damit maßgeblich zur Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bei, die nachhaltigen Einfluss auf das Weltbild breiter Bevölkerungsschichten ausübten. Aus der Evolutionstheorie formte Haeckel eine "wissenschaftliche" Weltanschauung, die er Monismus nannte. Er fasste sie 1899 in seinem Buch "Die Welträtsel" zusammen, das rasch in mehr als 400.000 Exemplaren verbreitet wurde. Gerade sozialdemokratische Arbeiter lasen das Buch mit Begeisterung und entwickelten daraus säkulare, das heißt religiöse Erklärungen ablehnende Ideen. In der Physik vollzog sich ein erheblicher Erkenntnisfortschritt sowohl durch die Anwendung experimenteller Methoden als auch durch theoretische Reflexion. Die Quantentheorie von Max Planck (1858–1947) und die Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879–1955) deuteten die Grundlagen von Raum, Zeit und Materie auf fundamental neue Weise.
Die Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelten ebenfalls Forschungsprogramme, die – zum Teil mit einiger Verzögerung – weit über Deutschland hinaus wirkten und bis in die Gegenwart gültige, grundlegende Einsichten in die Struktur moderner Gesellschaften vermitteln. Ein Beispiel ist die Soziologie. Zwar kam es erst 1909 zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, mit der die neue Disziplin erste Schritte zu ihrer institutionellen Stabilisierung unternahm. Aber bereits um 1900 legten Georg Simmel (1858–1918) und Max Weber (1864–1920), die beiden Gründer der deutschen Soziologie, wichtige Befunde zur Deutung der modernen Gesellschaft vor.
Simmel unterstrich die Rolle unpersönlicher Kommunikationsmedien wie etwa des Geldes für die Entfaltung von sozialen Bindungen auch über große Distanzen hinweg. Zugleich richtete er den Blick auf die Beziehungen von Personen in alltäglichen Handlungszusammenhängen. Er betonte, dass sich das Individuum erst in der "Kreuzung von sozialen Kreisen" entfalte, also in unterschiedlichen Kontexten wie Erziehung, Religion, Politik oder Konsum.
Weber verfolgte ähnliche Ideen. In seiner Soziologie der Religion ("Die Protestantische Ethik und der Geist des modernen Kapitalismus", 1905) analysierte er die Herausbildung der von religiösen Motiven befreiten Erwerbswirtschaft als das Ergebnis calvinistischer Vorstellungen über die "innerweltliche", also nicht erst im Jenseits wartende Erlösung. Auf unterschiedliche Weise entwarfen Simmel wie Weber so das Bild einer modernen Gesellschaft, die durch die Ausdifferenzierung von Funktionsbereichen an Komplexität und Dynamik gewinnt. Gerade bei Simmel, dessen Arbeiten stark von der Erfahrung des Lebens in der Metropole Berlin geprägt waren, war dies zugleich eine Selbstbeschreibung der deutschen Gesellschaft um 1900.
Mehr als jedes andere Thema markieren die konkurrierenden Deutungskulturen der Religion und der Wissenschaft das Kaiserreich als eine Epoche des Übergangs. Auf der einen Seite zeigten der Wunderglaube und die Marienverehrung der Katholiken eine heute fremd anmutende Lebenswelt, die auf Spannungen und Konflikte der Moderne in zutiefst traditionaler Weise reagierte. Auf der anderen Seite führten die modernen Natur- und Geisteswissenschaften – unter Einschluss der protestantischen Theologie – das Nachdenken über die Bedingungen menschlichen Daseins in Grenzbereiche hinein, in der alte Gewissheiten schwankten und eine grundsätzliche Neubewertung aller Wissensbestände nötig wurde. Der protestantische Theologe Ernst Troeltsch hat das 1896 prägnant ausgedrückt, als er in einer Versammlung einen kritischen Einwurf mit den Worten begann: "Meine Herren, es wackelt alles."
Nochmals festzuhalten bleibt, dass der konfessionelle Gegensatz von Katholiken und Protestanten – trotz der Entkirchlichung unter den Protestanten – die Geschichte des Kaiserreichs in fundamentaler Weise geprägt hat. Denn der Konfessionsgegensatz trug entscheidend zur Fragmentierung und Segmentierung von Gesellschaft und Politik bei. Damit hemmte er die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung und des Kompromisses, die für die Durchsetzung einer pluralistischen Demokratie von entscheidender Bedeutung sind.
Die Religion hat in der Gesellschaft des Kaiserreichs große Bedeutung und ist geprägt von der Konkurrenz zwischen Katholiken und Protestanten. "Gottesdienst in der Kirche zu Burg" (Spreewald), Farbholzstich von 1893 (© akg-images)
In der Zentrumspartei tobte seit 1906 ein Streit um die Frage, ob die Partei aus dem "Turm" des katholischen Milieus ausbrechen und sich zu einer christlichen Sammelpartei wandeln sollte. Der Kölner Verleger Julius Bachem (1845–1918) entfaltet 1906 die Argumente der sogenannten Kölner Richtung.
"Der Zentrumsturm […] wurde in der schweren Zeit des kirchenpolitischen Konfliktes errichtet. Er sollte der Abwehr des staatskirchlichen Ansturmes dienen, welcher unter der Führung des gewaltigsten Staatsmannes des 19. Jahrhunderts gegen die katholische Kirche in Preußen unternommen wurde. […]
Es gibt auch noch katholische Kreise, in denen das Zentrum lediglich die ‚katholische Volkspartei‘ ist und der politische Charakter des Zentrums keineswegs immer, wo es angezeigt erscheint, mit einer alle Mißdeutung ausschließenden Klarheit und Entschiedenheit betont wird. […]
Dazu kommt, daß katholischerseits an einzelnen Stellen konfessionelle Abgeschlossenheit auch da noch herrscht, wo sie sachlich nicht berechtigt ist. In dieser Richtung hat offensichtlich am meisten der noch immer nicht aufgegebene Versuch geschadet, die interkonfessionelle berufsgenossenschaftliche Organisation der Arbeiter unter Geltendmachung spezifisch kirchlicher Gesichtspunkte zu vereiteln oder zu erschweren*, während längst für andere Berufsstände (Bauern, Handwerker) interkonfessionelle Organisationen zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen bestehen und unbeanstandet in Tätigkeit sind. Auch diese Ueberspannung des Konfessionalismus nährt mittelbar das noch in so weiten akatholischen Kreisen bestehende Vorurteil, daß im Grunde genommen auch die Zentrumsfraktion ein ausschließlich im Interesse des Katholizismus geschaffenes Gebilde sei. […]
Man muß […] alles aufbieten, um dieses schädliche, ja gemeingefährliche Vorurteil zu zerstreuen, selbst unter Uebung weitgehender Selbstverleugnung.
[…] [W]ir müssen aus dem Turm heraus. Heraus nicht insofern, als wir die starke Verteidigungsstellung aufzugeben hätten. Nein, wir können und sollen sie beibehalten. Damit treten wir niemandem zu nahe. Auch dem konfessionellen Frieden dient nicht, wer sich wehrlos macht. Aber die Abschließung, die Absperrung, welche in dem Bilde des Turmes liegt, darf nicht über die Grenze hinaus gehen, welche durch die Verhältnisse gezogen ist. Wir sollen nicht in dem Turme verbarrikadiert bleiben, sondern uns vor demselben aufpflanzen und in immer weiterem Umkreise mit den Mitteln, welche die Gegenwart an die Hand gibt, für das Programm der politischen Zentrumspartei eintreten, das sich wahrlich sehen lassen kann. Wenn das Zentrum eine wahre Staatspartei ist, so soll es auch als solche sich fühlen und überall als solche sich geltend machen; keines seiner katholischen Mitglieder braucht deshalb ein Tüttelchen seiner religiösen Ueberzeugungen preiszugeben.
Je weiter die Kreise sind, in welchen man die Gesamttätigkeit der Zentrumspartei kennen lernt, um so mehr wird das gegen die Zentrumsfraktion noch bestehende Vorurteil schwinden. […] Es muß unbedingt mit vermehrter Umsicht auf die Wahl von solchen Abgeordneten nichtkatholischen Bekenntnisses hingewirkt werden, welche gute Fühlung mit dem Zentrum zu nehmen und zu unterhalten willens und geeignet sind. […]
Das Zentrum darf nicht unter der Einwirkung der Verschärfung der konfessionellen Gegensätze, an der so viele arbeiten, in eine splendid isolation ["glänzende Isolierung"] geraten, welche die Erfüllung seiner Aufgabe für Reich und Volk aufs äußerste erschweren würde. Dem Bestreben, diese Gefahr zu verringern, sollen die vorstehend entwickelten bzw. angedeuteten Gedanken dienen."
* Bachem spielt hier darauf an, daß die am Ende des 19. Jahrhunderts mit Unterstützung der Zentrumspartei gegründeten interkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften von einer kleinen, aber von Teilen des deutschen Episkopats unterstützten Gruppe innerhalb der Partei abgelehnt wurden. Die Gegner der Christlichen Gewerkschaften, die meist von ständischen Gesellschaftsvorstellungen ausgingen, wünschten die gewerkschaftliche Abschließung der katholischen Arbeiter innerhalb der besonderen Katholischen Arbeitervereine.
Gerhard A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl., Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1992, S. 140 ff.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-19T00:00:00 | 2016-04-13T00:00:00 | 2022-01-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/das-deutsche-kaiserreich-1871-1918-329/224737/religion-konfession-und-saekulares-wissen/ | Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse zur Zeit des Kaiserreichs zwingen die beiden großen Konfessionen zur Umorientierung und zur Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle die Religion in der Gesellschaft künftig einzunehme | [
"Religion",
"Säkularisierung",
"Zentrumspartei"
] | 31,008 |
M 02.14 Die Flagge Spaniens | Fußball und Nationalbewusstsein - Fußball-Welmeisterschaft 2014 in Brasilien! | bpb.de |
(© Wikimedia)
Die heutige Flagge Spaniens wurde am 19.12.1981 eingeführt. Sie zeigt drei waagerechte Streifen in Rot, Gelb und Rot, im Verhältnis 1:2:1. In der Mitte des gelben Streifens das Staatswappen, zum Flaggenmast verschoben. Rot und Gelb sind seit dem Mittelalter die spanischen Nationalfarben. Sie gehen auf die Farben Kastiliens und Aragons zurück. Die erste "spanische" Flagge entstand im Jahre 1230 durch die Vereinigung der Königreiche von Kastillien und Léon. […]
Im Jahre 1931 trat der König zurück und Spanien wurde erneut Republik (Zweite Republik). Es wurde eine neue Flagge eingeführt. Sie zeigte drei gleich breite Streifen in Rot, Gelb und Morado (Maulbeerfarbe). Morado ist die Farbe des Löwen im Wappen von León. Das neue Wappen der Republik wurde in der Staatsflagge die Mitte des gelben Streifens gesetzt. Im Jahre 1936 erhoben sich unter General Franco die spanischen Truppen in Nordafrika gegen die Zentralregierung, die nach einer Wahl aus Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und Republikanern gebildet wurde. Es Begann der Spanische Bürgerkrieg. Die aufständischen Truppen verwendeten eine Flagge mit drei gleich breiten Streifen in Rot, Gelb und Rot und dem Wappen der Republik in der Mitte des gelben Streifens. Jedoch befand sich über dem Wappen eine Mauerkrone, das Symbol bürgerlicher Souveränität.
Als General Franco im Jahre 1939 die Macht ergriff, führte er eine neue Flagge ein. Sie zeigte die Gestaltung von vor 1931, drei waagerechte Streifen in Rot, Gelb und Rot, im Verhältnis 1:2:1, jedoch zeigte sie in der Mitte des gelben Streifens – zum Mast hin verschoben – ein neues Wappen. Dieses zeigte einen schwarzen Johannes-Adler, der das neue spanische Wappenschild auf der Brust trug, sowie das Joch und Pfeilbündel, die Abzeichen der spanischen Falange. Im Jahre 1945 wurde das Wappen in der Flagge wesentlich vergrößert, so das es nun oben und unten in die roten Streifen hineinragte. Im Jahre 1977 – zwei Jahre nach dem Tod von General Franco – wurde die Silhouette des Adlers im bestehenden Wappen für das erneuerte Königreich Spanien ein wenig abgeändert.
Am 19.12.1981 wurde durch erneute Änderung des Wappens die heutige Flagge eingeführt. Das neue Wappen – wieder zum Mast hin verschoben – entspricht im Prinzip dem Wappen der Zweiten Republik, jedoch wurde die Krone der Bourbonen über das Wappenschild gesetzt.
Aus: flaggenlexikon.de, Im Internet: Externer Link: http://www.flaggenlexikon.de/fspan.htm (20.05.2014)
Eine Druckversion des Arbeitsblattes steht als Interner Link: PDF-Datei zur Verfügung.
(© Wikimedia)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-06-02T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/fussball-und-nationalbewusstsein/185312/m-02-14-die-flagge-spaniens/ | Spanien blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Im Zuge dessen veränderte sich auch die Nationalflagge häufig. Das vorliegende Material beschreibt die Entstehungsgeschichte der Flagge und erläutert ihre Farben und Symbole. | [
""
] | 31,009 |
#ichbinhier: für "eine bessere Diskussionskultur" | Rechtsextremismus | bpb.de |
Welche Konzepte gegen die extreme Rechte sowie gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gibt es? Auf dem Initiativenblog stellen sich Initiativen mit ihren Ideen und Berichten aus der praktischen Arbeit vor und bilden die Vielfalt des Engagements ab: Interner Link: www.bpb.de/initiativenblog | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-10T00:00:00 | 2018-02-21T00:00:00 | 2022-01-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/265115/ichbinhier-fuer-eine-bessere-diskussionskultur/ | "#ichbinhier ist eine Facebook-Gruppe, die sich mit Hassrede im Netz auseinandersetzt und versucht, dem etwas entgegenzusetzen", erklärt Hannes Ley, Vereinsvorsitzender und Gründer der Initiative. Ziel der Initiative sei eine bessere Diskussionskultu | [
"Rechtsextremismus",
"Initiativenblog"
] | 31,010 |
Bundestag | Deutsche Demokratie | bpb.de | Artikel 20 (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Art. 20 Abs. 2 GG legt für die Staatsordnung der Bundesrepublik Deutschland den Grundsatz der repräsentativen Demokratie fest. Das Volk übt die Staatsgewalt nicht direkt aus, sondern überträgt sie auf gewählte Körperschaften, die Parlamente, für den Gesamtstaat auf den Bundestag, für die Länder auf die Landtage, für Kreise, Städte und Gemeinden auf kommunale Selbstverwaltungskörperschaften. Die Parlamente sind die einzigen Verfassungsorgane, die vom Volk direkt gewählt werden. Das verleiht ihnen eine besondere Legitimation.
Die übrigen Verfassungsorgane werden von den Parlamenten bestellt. So wählen die Parlamente die Regierungschefs, der Bundestag den Bundeskanzler und die Landtage die Ministerpräsidenten. Der Bundestag wählt – zusammen mit dem Bundesrat – die Richter des Bundesverfassungsgerichts und – zusammen mit Delegierten aus den Landesparlamenten in der Bundesversammlung – den Bundespräsidenten.
Abgeordnete
Artikel 38 (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Freies Mandat
In der Bundesrepublik Deutschland gilt, wie in allen anderen repräsentativen Demokratien, der Grundsatz des freien Mandats. Die Abgeordneten gelten als Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind daher nicht an Aufträge und Weisungen ihrer Wähler und ihrer Partei gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Das Gegenteil des freien Mandats ist das imperative Mandat, wie es in den Ständeversammlungen bis ins 19. Jahrhundert hinein üblich war. Dort waren die Ständevertreter ihren Wählern Rechenschaft schuldig und konnten abberufen werden, wenn sie deren Weisungen nicht nachkamen. Ein imperatives Mandat führt dazu, dass Abgeordnete in allen Entscheidungen von der "Basis" abhängen. Sie müssen jedes Mal darauf achten, dass ihr Stimmverhalten die Zustimmung ihrer Wähler findet. Damit werden Kompromisse erschwert oder unmöglich gemacht.
Der Grundsatz des freien Mandats steht in einem Spannungsverhältnis zu der in Art. 21 GG verankerten Rolle der Parteien als wesentlichen Trägern der politischen Willensbildung. Im Parteienstaat ist das Parlament, so könnte man argumentieren, auch von der Verfassung her ein Parteienparlament. Abgeordnete, die als Angehörige einer Partei gewählt wurden, wären dann an die Anweisungen ihrer Partei gebunden. Dagegen schützt sie Art. 38 GG.
Das freie Mandat bedeutet nicht, dass Abgeordnete nach Belieben und ohne Rücksicht auf ihre Wähler, ihre Partei oder Fraktion abstimmen können. Es bewahrt sie jedoch davor, bei einem Konflikt mit ihrer Fraktion ihr Mandat zu verlieren. Das von den Grünen 1987 vereinbarte, aber bald gescheiterte "Rotationsprinzip" – ihre Abgeordneten sollten nach der Hälfte der Legislaturperiode ihr Bundestagsmandat niederlegen und Nachfolgern Platz machen – ist nur auf freiwilliger Basis erlaubt, ein Zwang wäre verfassungswidrig.
Artikel 46 (1) Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen. (2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.
Artikel 47 Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig.
Rechte
Die Unabhängigkeit der Abgeordneten wird durch eine Reihe von Vorrechten geschützt, die im Grundgesetz verankert sind:
Indemnität: Abgeordnete dürfen nach Art. 46 Abs. 1 GG wegen ihres Abstimmungsverhaltens oder wegen Äußerungen im Bundestag – außer "für verleumderische Beleidigungen" – nicht verfolgt oder belangt werden. Die Indemnität dauert auch nach Beendigung des Mandats fort und kann nicht aufgehoben werden. Sie garantiert, dass Abgeordnete ihrem Gewissen folgen und von ihrer Redefreiheit Gebrauch machen können, ohne Nachteile befürchten zu müssen.Immunität: Abgeordnete sind – zunächst – vor Strafverfolgung geschützt. Nach Art. 46 Abs. 2 GG dürfen sie für Straftaten nur dann zur Verantwortung gezogen werden, wenn der Bundestag dem zustimmt. Die Immunität besteht nur, solange die Abgeordneten ihr Mandat ausüben.Zeugnisverweigerungsrecht: Abgeordnete brauchen nach Art. 47 GG über Personen, die ihnen vertrauliche Mitteilungen gemacht haben, keine Auskunft zu geben.
Diäten
Die Abgeordneten des Bundestages und zumeist auch der Landtage beziehen für ihre Tätigkeit ein Einkommen. Sie sind Berufspolitiker, die eine Ganztagsbeschäftigung ausüben und einen Anspruch auf eine angemessene Entlohnung haben. Diese Entlohnung muss "für sie und ihre Familien eine ausreichende Existenzgrundlage abgeben können. Sie muss außerdem der Bedeutung des Amtes unter Berücksichtigung der damit verbundenen Verantwortung und Belastung und des diesem Amt im Verfassungsgefüge zukommenden Ranges gerecht werden"("Diätenurteil" des BVerfG, 1975).
Als vergleichbar mit Bundestagsabgeordneten wurden Bürgermeister von Gemeinden mit 50.000 bis 100.000 Einwohnern und Richter an einem obersten Gerichtshof des Bundes angesehen. Die Jahresbezüge dieser Personengruppen wurden bisher nicht erreicht. Die Abgeordnetenentschädigung betrug seit dem 1. Januar 2008 monatlich 7.339 Euro und beträgt seit dem 1. Januar 2009 7.668 Euro. Die Entschädigungen sind einkommensteuerpflichtig.
Darüber hinaus erhalten die Abgeordneten eine steuerfreie Kostenpauschale. Davon sind vor allem die Kosten für das Büro im Wahlkreis sowie für die Zweitwohnung und den Lebensunterhalt am Parlamentssitz zu bestreiten. Die Pauschale wird jährlich zum 1. Januar an die Lebenshaltungskosten angepasst. Sie belief sich im Jahr 2009 auf 3868 Euro im Monat. Dem Abgeordneten stehen überdies monatlich 14.712 Euro zu, um Mitarbeiter (Assistenten, Hilfskräfte) zu bezahlen. Der Abgeordnete erhält diese Summe nicht selbst, sondern die Bundestagsverwaltung bezahlt die von den Abgeordneten eingestellten Mitarbeiter unmittelbar.
Die Einkünfte der Abgeordneten werden in der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert. Unbestritten ist, dass die Abgeordneten einen Anspruch auf Entlohnung haben. Umstritten ist jedoch die Höhe der Einkünfte und die Tatsache, dass die Abgeordneten sie selbst beschließen. Letzteres ist jedoch in dem "Diätenurteil" vom Bundesverfassungsgericht festgelegt worden. Die Entlohnung liegt weit über dem Durchschnittseinkommen, reicht aber nicht an die vieler freier Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte) und von Angehörigen des mittleren Managements in der Wirtschaft (Abteilungsleiter, Leiter einer Bankfiliale) heran. Eine unabhängige Kommission kam 1990 zu dem Ergebnis, dass Entschädigung und Pauschale um 30–40 Prozent unter dem angemessenen Betrag liegen. Die Entschädigung ist von 1977 (7.500 DM) bis 2008 (7.339 Euro) um 91 Prozent erhöht worden; dieser Anstieg blieb hinter der allgemeinen Entwicklung der Einkommen zurück. Fraktionen
Die Abgeordneten einer Partei im Parlament bilden eine Fraktion. Zur Bildung einer Fraktion ist eine Mindestzahl von Abgeordneten nötig. Im Bundestag sind es 5 Prozent, was bei 622 Abgeordneten im 17. Deutschen Bundestag eine Mindestfraktionsstärke von 31 ergibt. Bleiben die Abgeordneten einer Partei unter dieser Fraktionsstärke, können sie sich zu einer Gruppe zusammenschließen und als solche durch Bundestagsbeschluss anerkannt werden. Sie haben nicht so weitreichende Rechte wie Fraktionen.
Die Fraktionen organisieren und steuern die Arbeit im Parlament. Sie besetzen entsprechend ihrer Stärke das Präsidium, den Ältestenrat und die Ausschüsse. Nur Fraktionen oder so viele Abgeordnete, wie es der Mindeststärke einer Fraktion entspricht, sind zu Initiativen berechtigt. Beispielsweise können sie Gesetzesvorlagen einbringen oder Große und Kleine Anfragen beim Präsidium einreichen. Diese Bestimmung verhindert, dass einzelne Abgeordnete mit einer Vielzahl von Anträgen oder Anfragen die Arbeit des Parlaments lahmlegen. Jeder Abgeordnete hat jedoch das Recht, ohne Beschränkung mündliche Anfragen zu stellen.
Die Fraktionen selbst sind straff organisiert. An ihrer Spitze steht der Fraktionsvorsitzende, zum Vorstand gehören seine Stellvertreter und die Parlamentarischen Geschäftsführer. Die Fraktionsvorsitzenden sind die einflussreichsten Abgeordneten; die der Regierungsparteien stimmen die politische Willensbildung von Fraktionen und Regierung aufeinander ab, der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion ist im Bundestag Gegenspieler des Bundeskanzlers und oft Kanzlerkandidat der Opposition.
Die Sitzverteilung im 17. Deutschen Bundestag (© Deutscher Bundestag)
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Die Parlamentarischen Geschäftsführer sorgen für den reibungslosen Ablauf der parlamentarischen Arbeit. Sie bereiten Sitzungen vor, planen die Tagesordnung und sorgen für Präsenz und Geschlossenheit ihrer Fraktionen. Die Fülle der Politikbereiche erfordert eine Arbeitsteilung in der Fraktion. Der einzelne Abgeordnete spezialisiert sich auf bestimmte Sachgebiete. In Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen beraten diese Sachverständigen Gesetzesentwürfe und andere Anträge und bereiten die Entscheidungen vor. Die Fraktion folgt in der Regel den Vorschlägen ihrer Sachverständigen.
Fraktionsdisziplin/Fraktionszwang
Abgeordnete sind als Mitglieder ihrer Partei gewählt, deren grundlegende politische Überzeugungen sie mit den anderen Mitgliedern ihrer Fraktion teilen. Sie haben das Interesse, dass die politischen Vorstellungen ihrer Partei sich durchsetzen und diese die nächsten Wahlen gewinnt. Nur wenn die Fraktion geschlossen auftritt, erscheint sie entscheidungs- und handlungsfähig. Öffentliche Auseinandersetzungen und abweichendes Stimmverhalten werden als "Zerstrittenheit" gewertet und mindern die Wahlchancen.
Abgeordnete können für ihre Auffassungen in den Arbeitskreisen/Arbeitsgruppen, in informellen Gesprächsrunden oder im Fraktionsplenum werben. Vor der entscheidenden Abstimmung kommt es manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen. Wenn die Fraktion mit Mehrheit entschieden hat, sind ihre Mitglieder daran gebunden. Die Fraktionsdisziplin, die freiwillige Unterordnung unter die Mehrheitsbeschlüsse der Fraktion, unterscheidet sich vom Fraktionszwang, der dem Grundsatz des freien Mandats widerspricht. Bei sehr umstrittenen Entscheidungen (Beispiele: Notstandsgesetzgebung 1968; Abstimmung über die Ostverträge 1972) haben beträchtliche Minderheiten gegen die Linie ihrer Fraktionen gestimmt.
Bei ausgesprochenen "Gewissensfragen" (Beispiele: Abtreibung, Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen, Einsätze der Bundeswehr bei UN-Friedensmissionen) gibt die Fraktionsführung die Abstimmung in der Regel frei.
Ständige Ausschüsse des 17. Deutschen Bundestages. (© Deutscher Bundestag)
Ausschüsse
Für den Bundestag als Ganzes gilt wie für die Fraktionen das Prinzip der Arbeitsteilung. Die eigentliche parlamentarische Arbeit wird in den Ausschüssen geleistet. Die Ausschüsse entsprechen den Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen der Fraktionen. Deren Mitglieder sind meist zugleich die Vertreter ihrer Fraktionen in entsprechenden Fachausschüssen. In den Ausschüssen werden die Gesetzesentwürfe und sonstige Initiativen diskutiert und formuliert, um dann dem Plenum zur Beschlussfassung vorgelegt zu werden.
Die Ausschüsse tagen in der Regel nicht öffentlich. Daher kann dort ungezwungener und sachlicher debattiert werden als in den öffentlichen Sitzungen des Plenums. Auch die Ausschussmitglieder der Opposition haben so die Chance, einen erheblichen Einfluss auszuüben. Es gibt ständige Ausschüsse, die die gesamte Legislaturperiode über bestehen, und solche, die für eine bestimmte Aufgabe gebildet und nach deren Erledigung wieder aufgelöst werden, zum Beispiel "Untersuchungsausschüsse". In Art. 45, 45a GG ist festgelegt, dass Ausschüsse für Angelegenheiten der Europäischen Union, für auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung gebildet werden müssen.
Ständige Ausschüsse Der Bundestag hat zu Beginn der 17. Legislaturperiode 22 ständige Ausschüsse gebildet, denen zwischen 13 und 41 Abgeordnete angehören. Die Fraktionen besetzen die einzelnen Ausschüsse entsprechend ihrem Stärkeverhältnis, ebenso werden die Ausschussvorsitzenden anteilmäßig von den Fraktionen gestellt.
Die Arbeitsgebiete der meisten Ausschüsse entsprechen denen der Bundesministerien. Jedem Ministerium ist in der Regel ein Fachausschuss zugeordnet, zum Beispiel der Auswärtige Ausschuss dem Auswärtigen Amt und der Rechtsausschuss dem Bundesministerium der Justiz.
Einige Ausschüsse haben besondere Aufgaben, die nicht an ein bestimmtes Fachressort gebunden sind. Dazu gehören der Petitionsausschuss und der wichtigste und mächtigste Ausschuss, der Haushaltsausschuss. Er entscheidet über die Höhe der Geldmittel, die den einzelnen Ministerien und Behörden zugewiesen werden. Außerdem hat er ein Mitspracherecht bei allen Gesetzen, die mit Geldausgaben verbunden sind. Sein Vorsitzender ist traditionell ein Mitglied der größten Oppositionsfraktion. Plenum
Die Sitzverteilung im 17. Deutschen Bundestag (© Deutscher Bundestag)
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Ständige Ausschüsse des 17. Deutschen Bundestages. (© Deutscher Bundestag)
Das Plenum ist die "Vollversammlung", eigentlich der Bundestag schlechthin. Nur das Bundestagsplenum kann rechtswirksame Beschlüsse fassen. Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte seiner Mitglieder anwesend ist. Viele Beschlüsse kommen allerdings zustande, wenn weit weniger Abgeordnete anwesend sind. In den Fraktionen und Ausschüssen ist nämlich vorab geklärt, ob einer Vorlage alle Fraktionen zustimmen oder ob sie zwischen Regierungsmehrheit und Opposition strittig ist. Im ersten Fall spielt es keine Rolle, wie viele Abgeordnete anwesend sind, im letzten genügt es, wenn mehr Abgeordnete der Regierungsmehrheit als der Opposition an der Abstimmung teilnehmen. Nur wenn mindestens 5 Prozent der Abgeordneten oder eine Fraktion während der Sitzung die Beschlussfähigkeit "bezweifeln", was äußerst selten vorkommt, kann der Präsident dieselbe Tagesordnung auf einen späteren Zeitpunkt am selben Tag verschieben, um die erforderliche Anzahl von Abgeordneten zu erreichen (mindestens die Hälfte der Abgeordneten).
Bei besonders wichtigen Entscheidungen, zum Beispiel bei der Wahl des Bundestagspräsidenten oder der Abstimmung über eine vom Bundeskanzler gestellte Vertrauensfrage, ist die absolute Mehrheit erforderlich, das heißt eine Stimme mehr als die Hälfte aller Abgeordneten. Eine Zweidrittelmehrheit ist notwendig, um die Verfassung zu ändern. Abstimmungen sind im Allgemeinen offen, nur bei der Wahl des Bundespräsidenten, des Bundestagspräsidiums, des Bundeskanzlers und des Wehrbeauftragten wird geheim abgestimmt.
Namentliche Abstimmungen können von einer Fraktion oder von mindestens 5 Prozent der anwesenden Abgeordneten beantragt werden. Das geschieht bei besonders wichtigen Abstimmungen, wenn die persönliche Verantwortung der einzelnen Abgeordneten für ihre Entscheidung festgestellt und festgehalten werden soll.
Arbeitsparlament
Das Bild des Bundestages in der Öffentlichkeit wird durch die Debatten im Plenum bestimmt. Hörfunk und Fernsehen übertragen wichtige Debatten oder berichten aus den Plenarsitzungen. Wenn die Fernsehkamera über den Plenarsaal schwenkt, sieht der Zuschauer, dass oft nur 30 oder 50 Abgeordnete anwesend sind, von denen ein Teil auch noch Akten studiert oder Zeitung liest. Das führt zu dem weitverbreiteten Missverständnis, die Abgeordneten kämen ihren Pflichten nicht nach.
Dieser Kritik liegt die Vorstellung zugrunde, das Plenum sei der eigentliche Ort der parlamentarischen Arbeit. Dort würden die wichtigsten Probleme des Landes in Rede und Gegenrede zwischen Regierungsmehrheit und Opposition debattiert, und die besseren Argumente setzten sich durch. Diesem Idealbild kommt am ehesten das britische Unterhaus nahe, das als "Redeparlament" gilt. Der andere Typ ist das "Arbeitsparlament", in dem, wie vor allem im amerikanischen Kongress, der Schwerpunkt auf der Gesetzgebungsarbeit in Ausschüssen liegt.
Der Bundestag wird oft als eine Mischung aus den beiden Parlamentstypen bezeichnet. Nimmt man den Zeitaufwand als Maßstab, so leisten die Bundestagsabgeordneten ihre Arbeit weit überwiegend in Ausschüssen, Fraktionen, Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen. In den bisher 16 Wahlperioden (1949 – 2009) fanden über 3.600 Plenarsitzungen statt, wohingegen allein die Zahl der Ausschusssitzungen den zehnfachen Wert übersteigt.
Haben die Experten in wochen- und monatelangen Beratungen alle Argumente ausgetauscht und sind die Standpunkte geklärt, ist es nicht verwunderlich, wenn die meisten Beschlüsse im Plenum ohne Debatte oder nach kurzer Diskussion gefasst werden. Eine Anwesenheit der vielen Abgeordneten, die nicht mit der Materie vertraut sind, wäre daher pure Zeitverschwendung.
Die großen Debatten über wichtige Themen, wie zum Beispiel die Haushaltsdebatte, haben nicht die Funktion, die jeweils andere Seite zu überzeugen. Es handelt sich um Reden, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Dem Bürger sollen die unterschiedlichen Meinungen und die Gründe, die etwa zu dieser oder jener Entscheidung geführt haben, deutlich gemacht werden.
Präsidium
Die Sitzungen des Bundestages werden vom Bundestagspräsidenten geleitet. Traditionell wird er von der stärksten Fraktion gestellt. Als Präsident des obersten Verfassungsorgans nimmt er nach dem Bundespräsidenten und noch vor dem Bundeskanzler den zweiten Platz im Staate ein. Der Bundestag wählt den Präsidenten und je Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten. Gemeinsam bilden sie das Präsidium.
Der Bundestagspräsident repräsentiert den Bundestag nach außen und ist zugleich oberster Dienstvorgesetzter der Bundestagsverwaltung. Seine wichtigste Aufgabe ist die Leitung der Bundestagssitzungen, in der er sich mit den derzeit fünf gewählten Vizepräsidenten ablöst.
Ältestenrat
Der Ältestenrat sorgt für den reibungslosen Ablauf der Parlamentsarbeit. So setzt er die Tagesordnung und die Redezeiten der Plenarsitzungen fest und verständigt sich über die Besetzung der Ausschussvorsitze. Der Ältestenrat setzt sich zusammen aus dem Bundestagspräsidenten, den Vizepräsidenten und 23 weiteren von den Fraktionen zu benennenden Abgeordneten. Es sind keineswegs die ältesten Mitglieder des Hauses, sondern zumeist besonders erfahrene Abgeordnete, darunter die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen.
Wissenschaftliche Dienste
Trotz der Arbeitsteilung könnten die Abgeordneten auf sich allein gestellt mit den Experten der Ministerialbürokratie und der Verbände nicht Schritt halten, sofern sie nicht die Möglichkeit hätten, auf eigene Hilfsdienste zurückzugreifen.
Jeder Abgeordnete hat einen oder mehrere Assistenten zur Verfügung, die aus der Kostenpauschale zu bezahlen sind. Das sind zum Teil wissenschaftlich vorgebildete Mitarbeiter, zum Teil Bürohilfskräfte. Darüber hinaus verfügt jede Fraktion über einen umfangreichen Stab von Fraktionsassistenten, Referenten, Sachbearbeitern und technischem Personal.
Die Abgeordneten können schließlich auf die wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zurückgreifen. Dazu gehören die Bibliothek, das Parlamentsarchiv, die Pressedokumentation, eine Datenbank, ferner ebenso Fachdienste, die Gutachten, Dokumentationen und Auswertungen zusammenstellen, sowie auch Ausschusssekretariate, die die Arbeit der einzelnen Ausschüsse organisieren und unterstützen.
Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 61-72.
| Article | Horst Pötzsch | 2022-01-28T00:00:00 | 2011-11-06T00:00:00 | 2022-01-28T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/deutsche-demokratie/39331/bundestag/ | Die Bundestagsabgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Im Parlament sind sie in Ausschüssen und Fraktionen organisiert. Sie sind nicht an Aufträge und Weisungen ihrer Wähler oder Partei gebunden, sondern nur ihrem Gewissen verpflichtet. | [
"Deutschland",
"Demokratie",
"Parlament",
"Bundestag",
"Bundestagsabgeordnete",
"Fraktion",
"Ausschuss",
"Plenum"
] | 31,011 |
Denkmodelle der 68er | Die 68er-Bewegung | bpb.de | Herbert Marcuse: Seine Schriften hatten großen Einfluss auf die Studentenbewegung in Europa und ÜberseeEine paradoxe Entwicklung ist zu beobachten: Je mehr der zeitliche Abstand zu den außerparlamentarischen Bewegungen um das Jahr 1968 wächst, desto vehementer wird in der Öffentlichkeit eine Aufklärung über ihren Verlauf, die Motive ihrer Akteure und die von ihr ausgegangenen Impulse zur Gesellschaftsveränderung eingefordert. Doch bislang existiert weder eine umfassende Geschichte der 68er-Bewegung noch eine kohärente Beschreibung der von ihr rezipierten Theorien bzw. der von ihr propagierten Ideen.
Dieser bewegungs- wie theoriengeschichtliche Mangel ist kein Zufall. Denn die 68er-Geschichte war ebenso kurz wie komplex, ebenso dicht wie spannungsgeladen. Es gab zwar eine längere Inkubationszeit, jedoch keine Entwicklung im eigentlichen Sinne, eher einen eruptionsartigen Aufbruch mit einem rasch erreichten Kulminationspunkt und einer schubartigen Abwärtsbewegung des Zersplitterns und Auseinanderfallens. Insofern kann es kaum verwundern, dass die Historisierung der 68er-Bewegung bislang weitgehend selektiv verlaufen ist . Nicht einmal zur wichtigsten Organisation, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), liegt mehr als drei Jahrzehnte nach deren Auflösung eine Monographie vor, die ihre wichtigste Zeitspanne, die Jahre 1961 bis 1970, quellengestützt behandelt .
Was für die 68er-Bewegung als historische Figur gilt , das trifft auch auf ihre theoretische Konfiguration zu: Sie war ein Baum mit vielen Wurzeln und noch mehr Ästen und Zweigen. Dabei ist es kaum weniger schwierig, die unterirdischen Kapillaren bis zu ihren Ausgangspunkten zurückverfolgen, als das sichtbare Netz der diversen Entwicklungsstränge nachzeichnen zu wollen. Wer die theoretischen Grundorientierungen beschreiben will, ohne sich im Dickicht von Partialentwicklungen zu verlieren, der muss bereit sein, größere Linien zu ziehen. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich die historische Genese der theoretischen Entwicklung nicht im Sinne einer geistesgeschichtlichen Genealogie beschreiben lässt. Die Vorstellung, es habe ein theoretisch kohärentes Selbstverständnis der Bewegungsformen und -ziele gegeben, ist demnach irreführend . Es war vor allem die Dynamik einer intellektuellen Suchbewegung, die um 1968 Radikalisierungs-, Innovations- und Differenzierungsschübe freigesetzt hat. Theorien wurden innerhalb der Bewegung nur zu rasch zu einer Art Durchlauferhitzer. Das Tempo, mit denen sie aufgegriffen, durchdekliniert und wieder verworfen wurden, gehörte zu den bestimmendsten Charakteristika der Beschäftigung mit ihnen . In einem atemberaubenden Wechsel wurden Theoreme aufgegriffen, einstudiert, mit der politischen Situation in Einklang zu bringen versucht, verworfen und wieder ausgegliedert.
Von expliziten "68er Ideen" sprechen zu wollen wäre also unangemessen. Denn es ging weniger darum, bestimmte Ideen zu verwirklichen. Die Theorie selbst war utopisch besetzt. Es existierte eine Art Sehnsucht, "Allgemeinbegriffe zu leben", gar einen "Rausch der Verallgemeinerung" (Michael Rutschky) zu genießen . Die oft zitierten "konkreten Utopien" blieben hingegen überraschend blass. Sprecher wie Rudi Dutschke und andere lehnten es sogar mit Nachdruck ab, konkrete Alternativen zur kapitalistischen Gesellschaft zu benennen . Der Horizont der Gesellschaftsveränderung sollte offen bleiben. Dabei war häufig unklar, ob diese Einstellung programmatischen Charakter besaß oder nur das Resultat einer weit verbreiteten Verlegenheit war.
Die 68er-Bewegung war vor allem eines: Kritik an den bestehenden Verhältnissen in jeder nur denkbaren Hinsicht. Ihre destruktive Kraft war weitaus größer als ihre konstruktive. Nichts schien vor ihr Bestand zu haben: religiöser Glauben, weltanschauliche Überzeugungen, wissenschaftliche Gewissheiten, staatsbürgerliche Pflichten und Tugenden. Der gesamte Katalog an so genannten Sekundärtugenden wurde infrage gestellt. Die Kritik am Überkommenen, dem Traditionsbestand der Gesellschaft, war ätzend wie ein Säurebad.
Herbert Marcuse: Seine Schriften hatten großen Einfluss auf die Studentenbewegung in Europa und Übersee. (© AP)
Eindeutig im Vordergrund stand die Rezeption bereits vorhandener Theorietraditionen, vornehmlich marxistischer Couleur. Die Produktion eigener, am vorhandenen Fundus gemessen neuer Ideen war sekundär. Vorrangige Absicht war es gerade nicht, eine möglichst umfassende System- oder Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Es ging eher darum, aus unterdrückten, verbotenen, versprengten und marginalisierten Traditionen jene Theoreme zu rekonstruieren, die für die Analyse der Gegenwart von einer nur höchst unzureichend gewürdigten Bedeutung waren. Es war die große Zeit der Wiederentdeckungen. Der Marxismus, die Psychoanalyse, die analytische Sozialpsychologie, die Kapitalismus-, die Klassen- und die Imperialismustheorie galt es wieder aufzugreifen, zu überprüfen und nach einer Unterbrechung von Jahrzehnten erneut einzubringen. Deshalb stand auch der Kontakt zu exilierten Theoretikern unter einem besonderen Stern. Sie schienen der Beweis dafür zu sein, dass es möglich war, unterbundene und abgeschnittene Traditionszusammenhänge erneut aufzunehmen und fortzusetzen . So wurde etwa Herbert Marcuse im Juli 1967 zur Vortragsreihe "Das Ende der Utopie" von Studenten der Freien Universität Berlin wie der Messias eines neuen Zeitalters begrüßt .
Und es war die Zeit der Außenseiter, der Häretiker, der Dissidenten. Bei aller Orientierung an den großen, Traditionen begründenden Namen: Die Sympathien gehörten jenen fast ausnahmslos jüdischen Intellektuellen, die wie Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Norbert Elias, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse und Alfred Sohn-Rethel in gewisser Weise als Treibgut der Geschichte wirkten. Ihre gesellschaftliche Außenseiterrolle schien sie in den Augen der Studenten gegen Konformismus immunisiert zu haben. Deshalb galten sie, zuweilen völlig ungerechtfertigt, als Vorbilder für eine theoretische ebenso wie eine politische Radikalisierung.
Es waren drei grundlegende Kritiken, die den Kanon an neugewonnenen Überzeugungen bestimmten: der Antifaschismus, der Antikapitalismus und der Antiimperialismus. Die erste Kritik richtete sich gegen die Nichtauseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die zweite gegen eine auf Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit basierende Wirtschaftsordnung und die dritte gegen die Unterjochung der Länder der Dritten Welt durch die der Ersten und Zweiten. Die Verzahnung dieser drei Metakritiken verband Ende der sechziger Jahre die unterschiedlichsten Tendenzen und Fraktionen in SDS und APO miteinander: den antiautoritären mit dem traditionalistischen Flügel, die undogmatischen mit den dogmatischen Strömungen und bis zu einem gewissen Grad sogar die reformistischen mit den revolutionären Kräften. Sie bildeten eine zwar widersprüchliche, im Zuge bestimmter Mobilisierungen jedoch auch handlungsfähige Einheit.
Bezeichnend war, dass der Sowjetkommunismus und mit ihm ein wesentlicher Teil der eigenen linken Vergangenheit nicht Gegenstand der drei Grundkritiken war. Mitte der sechziger Jahre hatte sich eine Art Paradigmenwechsel abgespielt. Viele der linken studentischen Gruppen, für die die Ablehnung des Poststalinismus in der Sowjetunion wie in der DDR lange Zeit Selbstverständlichkeit besaß, waren von einer antitotalitären, gegen diktatorische Herrschaftsformen insgesamt gerichteten zu einer antifaschistischen Weltanschauung gewechselt . Ganz offensichtlich kam es ihnen nun vor allem darauf an, nicht mehr länger als antikommunistisch zu gelten. Der Antistalinismus verlor zunehmend an Bedeutung.
Bezeichnend war auch, dass nunmehr von einem allgemeinen System des Faschismus und nicht mehr von einem historisch wie theoretisch zu spezifizierenden Nationalsozialismus ausgegangen wurde . Der antikapitalistische Ansatz machte sich in seiner Tendenz als Blockierung einer eigenständigen Thematisierung der Judenvernichtung bemerkbar. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis auf dem Umweg über die öffentliche Resonanz einer gleichnamigen Fernsehserie der Holocaust ins Zentrum der analytischen Bemühungen rückte. Insofern konnte es nicht weiter verwundern, dass mit Hannah Arendt eine der Klassikerinnen der Totalitarismustheorie erst danach ins Blickfeld des Interesses rückte. Ende der sechziger Jahre hatte die Nicht-Marxistin hingegen als antiquiert gegolten. Eine Auseinandersetzung mit ihren Schriften galt seinerzeit als überholt.
I. Die radikaldemokratische Kritik in der Inkubationszeit (1961-1967)
Schon lange vor dem Ende der Adenauer-Ära hatte die SPD mit ihrem Godesberger Programm von 1959 eine Kurskorrektur vorgenommen. Aus einer Arbeiter- war eine Volkspartei geworden. Zwar hatte man die marxistische Weltanschauung nicht vollends aufgegeben, ihr jedoch die antikapitalistische Spitze nehmen wollen. Eine der Folgen bestand in dem nach jahrelangen Konflikten 1961 herbeigeführten Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem SDS . Der Studentenbund, der anderthalb Jahrzehnte lang Rekrutierungsfeld für sozialdemokratische Spitzenfunktionäre war, wurde in eine Unabhängigkeit ohne materiellen Rückhalt und mit einem ungewissen politischen Ausgang entlassen. Für den SDS war die Trennung von der Mutterpartei SPD jedoch zugleich die Chance zu einer programmatischen Neuorientierung. Der Hochschulbund konnte unbefangener als zuvor jene Anregungen aufgreifen, die von neomarxistischen Theoretikern in den USA und in Großbritannien unter dem Anspruch einer "new left" diskutiert wurden . Das von C. Wright Mills, Perry Anderson, E.P. Thompson u. a. entwickelte Konzept verstand sich als Reaktualisierung des Sozialismus in einer doppelten Frontstellung: Eine Neue Linke sollte weder den Weg des Sowjetkommunismus, der seine Ideale 1956 mit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes ein weiteres Mal verraten zu haben schien, einschlagen noch den der Sozialdemokratie, die sich von einer Interessenvertretung der Arbeiterschaft und dem Modell des Klassenkampfes offenbar endgültig verabschiedet hatte.
1. Kritik der Ordinarienuniversität
Es war nahe liegend, dass eine Bewegung, die in ihrem Kern eine studentische war, ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit den Ausbildungsdefiziten der Massenuniversität hatte. Insbesondere die Schwierigkeit, im Rahmen der althergebrachten Ordinarienuniversität Schritte zu einer längst überfälligen Studienreform durchzusetzen, schärfte unter den Studierenden das Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen Hochschulreform und Demokratisierung.
Die 1962 erschienene Auswertung einer bereits fünf Jahre zuvor durchgeführten empirischen Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten wartete zwar mit einem beunruhigenden Ergebnis auf, gab jedoch die Richtung im Hinblick auf eine weitere Demokratisierung an. In ihrer unter dem Titel "Student und Politik" publizierten Studie gelangten die Soziologen Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz zu dem Schluss, dass 66 Prozent der Befragten apolitisch, 16 Prozent autoritätsgebunden und nur neun Prozent einem "definitiv demokratischen Potenzial" zuzurechnen seien. In der programmatischen, von Habermas verfassten Einleitung "Über den Begriff der politischen Beteiligung" wurde die widerspruchsvolle Entwicklung zur modernen Massendemokratie analysiert: "Mit dem Zurücktreten des offenen Klassenantagonismus hat der Widerspruch seine Gestalt verändert: Er erscheint jetzt als Entpolitisierung der Massen bei fortschreitender Politisierung der Gesellschaft selbst. In dem Maße, in dem die Trennung von Staat und Gesellschaft schwindet und gesellschaftliche Macht unmittelbar politische wird, wächst objektiv das alte Missverhältnis zwischen der rechtlich verbürgten Gleichheit und der tatsächlichen Ungleichheit in der Verteilung der Chancen, politisch mitzubestimmen." Politische Beteiligung werde nur dort ihrem Anspruch gerecht, wo gesellschaftliche Macht so in rationale Autorität verwandelt werde, dass ökonomische Ungleichheit nicht länger mehr ungleiche politische Chancen nach sich ziehe. Eine aktuelle Chance zur politischen Beteiligung scheine nur noch in "außerparlamentarischen Aktionen" gegeben zu sein.
Bereits im Jahr zuvor hatte der SDS eine Denkschrift mit dem programmatischen Titel "Hochschule in der Demokratie" herausgegeben. Darin wurde der Versuch unternommen, die Universität ihrer bildungsbürgerlichen Ideologie zu entkleiden und gesellschaftlich neu zu definieren. Ziel war es, Forderungen für eine Reformierung des Studiums zu entwickeln. Dabei wurde die Humboldt'sche Reformidee als Leitbild zwar kritisiert, weil sie im Laufe der industriellen Revolution ihre Wirkungskraft mehr und mehr eingebüßt habe, jedoch zugleich an wesentliche Prinzipien des preußischen Reformers, wie die Einheit von Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Studiums und die Autonomie der Universität, angeknüpft. Der ideologische Schein der Universitätsautonomie müsse einerseits aufgelöst werden, um die gesellschaftliche Funktion des Wissens in den Blick zu bekommen, andererseits aber müsse die Autonomie neu begründet werden, um Freiheit von gesellschaftlicher Instrumentalisierung zu gewinnen. Die Hochschulentwicklung wurde nun unter Produktivitätsgesichtspunkten interpretiert und - im Sinne einer Entlohnung für die im Studium geleistete Arbeit - die Forderung nach Einführung eines "Studienhonorars" erhoben.
Als 1964 nach einer Artikelserie des evangelischen Theologen Georg Picht das Schlagwort vom Bildungsnotstand die Runde machte , besaß der SDS einen bemerkenswerten Reflexionsvorsprung . Im Jahr darauf wandte sich der Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK), Rudolf Sieverts, in einem Rundschreiben an die Rektoren aller bundesdeutscher Universitäten und forderte sie auf, sich an einer "Aktion 1. Juli" zu beteiligen und die Studenten in ihren Bemühungen für eine bessere Bildungspolitik zu unterstützen. Und in der Tat, aus Sorge um den wachsenden Bildungsnotstand in der Bundesrepublik zogen am 1. Juli 1965 Tausende von Studenten demonstrierend durch die Städte. Ihr Motto lautete "Bildung sichert die Zukunft". Sprecher erklärten, dass Bildung nicht das Privileg einer auserlesenen Schicht bleiben dürfe, sondern zum integrierenden Faktor der Gesellschaft werden müsse. Insbesondere das soziale Ungleichgewicht in der Zusammensetzung der Studierenden wurde hervorgehoben. Nur fünf Prozent von ihnen, hieß es, kämen aus Arbeiterfamilien. Dies sei nicht etwa Ausdruck mangelnder Intelligenz, sondern Indiz für die Unfähigkeit des Bildungswesens, Begabte ausreichend zu fördern. Damit war ein Zeichen gesetzt, dem sich auch Parteien und Parlamente nicht mehr entziehen konnten.
2. Kritik der Öffentlichkeit
Eine funktionierende Öffentlichkeit wurde nicht nur von der linken Intelligenz als Instanz demokratischer Kontrolle gegenüber der politischen Herrschaft aufgefasst. Politische Eingriffe in die Pressefreiheit, so die Überzeugung, rührten zugleich auch an den Nerv der Demokratie. Als exemplarischer Fall für einen solchen Vorstoß galt die "Spiegel"-Affäre. Es war daher kein Zufall, dass gerade der politische Konflikt um das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Herbst 1962 eine kleinere Welle studentischer Proteste auslöste, die als Auftakt zur späteren Studentenrevolte gesehen werden kann. Die Verhaftung des Verlegers Rudolf Augstein und des stellvertretenden Chefredakteurs Conrad Ahlers wegen des dringenden Verdachts, mit der Veröffentlichung des Artikels "Bedingt abwehrbereit", der sich mit den Ergebnissen des NATO-Herbstmanövers "Fallex 62" befasste, Militärgeheimnisse verraten und deshalb Landesverrat begangen zu haben, löste eine monatelange Affäre aus, die schließlich zum Rücktritt von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß führte, der als der politisch Verantwortliche der Strafverfolgungsaktion angesehen wurde.
Nur wenige Monate zuvor war unter dem Titel "Strukturwandel der Öffentlichkeit" die Habilitationsschrift von Jürgen Habermas erschienen, eine Analyse, die in mancher Hinsicht wie ein Interpretationsrahmen des Konflikts begriffen werden konnte . Darin wurde die Entwicklung des für den bürgerlichen Verfassungsstaat zentralen Begriffs der Öffentlichkeit zu einer Instanz demokratischer Kontrolle gegenüber der politischen Herrschaft in seinen einzelnen Stationen nachgezeichnet. Da das Öffentlichkeitsprinzip, das historisch bis in die Parlamente und in die Gerichte vorgedrungen sei, nicht auch auf die Verwaltung ausgedehnt werden könne, argumentierte Habermas, bliebe eine für das staatliche Handeln entscheidende Sphäre der Kritik entzogen. Die Exekutive könne unter dem Vorwand eines für sie reservierten Sachverstandes ihre Entscheidungen abschotten und gegen die politisch artikulierten Interessen der Bevölkerung durchsetzen. Aus dieser Strukturschwäche heraus entstünden die entscheidenden Defizite der Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft. Sie könnten auch durch Presseorgane nicht mehr kompensiert werden.
Was Habermas herausgearbeitet hatte, das wurde von keiner anderen Hochschulgruppe so ernst genommen wie dem SDS. Für die politisierten Studenten rückte eine Forderung ins Zentrum ihrer Aktivitäten - die nach Öffentlichkeit und Diskussion. Es existierte die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit von Demokratie und Öffentlichkeit. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit, so die Überzeugung, könne auch keine funktionsfähige Demokratie zu erwarten sein. Deshalb war die studentische Bewegung zunächst von nichts anderem so sehr geprägt wie dem Versuch, Öffentlichkeitsformen zu erringen, durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren . Bevor irgendein politisches Ziel geäußert werden konnte, ging es zunächst einmal darum, sich des öffentlichen Raums zu versichern. Die Demonstration wurde so zur maßgeblichen Form der politischen Willensartikulation. Von ihrem jeweiligen Verlauf war abhängig, welche Resonanz die jeweiligen Forderungen in den Medien und der Öffentlichkeit gewannen. Auch die aus den USA übernommene Form des Teach-ins war integraler Bestandteil einer solchen Öffentlichkeitsstrategie . Oft diente sie dazu, vor Beginn einer Demonstration oder Kampagne die Interessierten über Hintergründe zu informieren und zugleich die Möglichkeit anzubieten, sich kontrovers darüber auszutauschen. Dieser aufklärerische Grundimpuls, Zusammenhänge sichtbar zu machen, Transparenz herzustellen und dabei mitunter Dinge ans Tageslicht zu zerren, die unerwünscht waren, spielte auch in einem anderen Zusammenhang eine maßgebliche Rolle.
3. Kritik der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit
Nicht weniger als anderthalb Jahrzehnte mussten vergehen, bis in Westdeutschland eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begann . Erst in den Reaktionen auf die antisemitische Welle um die Jahreswende 1959/60 machte sich eine gewisse Veränderung bemerkbar. Insbesondere seitdem das Westberliner SDS-Mitglied Reinhard Strecker zur selben Zeit begann, in verschiedenen Städten die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" zu zeigen , um gegen die Verjährung von NS-Verbrechen zu protestieren, gehörte die Forderung nach einer gezielten Strafverfolgung von NS-Tätern zu den Selbstverständlichkeiten im SDS . Der Versuch, die Vergangenheit der eigenen Professoren zu erforschen, führte zu Beginn der sechziger Jahre an einer Reihe von Universitäten zu Konflikten. Eine ignorant-abwehrende Haltung wie die des Hamburger Psychologen Peter R. Hofstätter, der 1963 die Überzeugung geäußert hatte, dass die von den Deutschen geforderte "Vergangenheitsbewältigung" prinzipiell unlösbar sei , führte zu Monate andauernden Konflikten . Häufig waren Artikel in Studentenzeitungen wie den Tübinger "Notizen", in denen "braune Flecken" in der akademischen Karriere von Hochschullehrern nachgewiesen wurden, der Anlass für restriktive Maßnahmen .
Eine der Antworten bestand darin, dass liberale und konservative Ordinarien damit begannen, in Vorlesungen das Verhältnis bestimmter Fakultäten zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten. So wurde z. B. an der Universität Tübingen im Wintersemester 1964/65 auf den Druck von Studenten eine Ringvorlesung aller Fakultäten durchgeführt . Für den Herausgeber der Zeitschrift "Das Argument", Wolfgang Fritz Haug, boten diese und andere Vorlesungen einen willkommenen Anlass, um bereits an den Sprachgewohnheiten eines Teils der Professorenschaft die Unfähigkeit zu einer angemessenen Auseinandersetzung nachzuweisen .
In welcher Weise die NS-Verbrechen zum Thema werden konnten, zeigte sich auch daran, dass in der ersten Ausgabe des von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Kursbuchs", das sich wie keine zweite Zeitschrift zu einem Sprachrohr der Neuen Linken entwickelte, ein Dossier über den Auschwitz-Prozess erschien. Insbesondere Martin Walsers Überlegungen "Unser Auschwitz" besaßen programmatischen Charakter . Im Gegensatz zu jener Generation, die als Wehrmachtsoldaten an den Verbrechen beteiligt war, schien die der Flakhelfer die Herausforderung allmählich anzunehmen. Sie machte den Weg für eine intensivere Beschäftigung mit diesem Thema frei. Nun konnte auch eine sozialpsychologisch fundierte Auseinandersetzung mit der emotionalen Apathie der Deutschen gegenüber den NS-Verbrechen, ihren Blockierungen und der Funktionsweise ihrer Abwehrmechanismen einsetzen.
Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich untersuchten in ihrem Werk "Die Unfähigkeit zu trauern" jene kollektiven Prozesse, die zur Schuldverweigerung und zu einer demonstrativen Abkehr von der Vergangenheit geführt hatten . Sie stießen damit insbesondere bei den politisierten Studenten auf ein starkes Interesse.
Eine nicht unbedeutende Rolle für die sich in der studentischen Linken mehr und mehr herausschälende antifaschistische Haltung spielte die Tatsache, dass der Verdacht gegenüber führenden westdeutschen Politikern von der SED mit der Präsentation neuer Dokumente ständig genährt wurde, um auf diesem Weg die Bundesrepublik diskreditieren zu können . Exemplarisch für diese Skandalisierung aus propagandistischen Gründen war das "Braunbuch" , dessen Erscheinen auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1967 die Staatsanwaltschaft auf den Plan rief und eine öffentliche Kontroverse auslöste.
II. Die Fundamentalkritik der APO (1967-1969)
Mit der im November 1966 gebildeten Großen Koalition änderte sich die politische Situation in der Bundesrepublik maßgeblich. Durch die Einbindung der SPD in die Bundesregierung wurde die Rolle der innerparlamentarischen Opposition zwar nicht vakant, schließlich war mit der FDP noch eine weitere Partei im Bundestag vertreten, jedoch maßgeblich geschwächt. In dieses Vakuum konnte bald eine durch den SDS radikalisierte Studentenbewegung vorstoßen und schließlich den Part einer neuen, nun außerhalb des Parlaments agierenden Opposition übernehmen. Ein kritisches Potenzial existierte zu diesem Zeitpunkt lediglich an der Freien Universität in West-Berlin, die sich bereits seit zwei Jahren in einer politischen Krise befand. Der 2. Juni 1967 war schließlich der Moment, in dem der Funke zündete und übersprang. Die Schüsse, mit denen der Germanistikstudent Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien tödlich getroffen wurde, wirkten wie ein Fanal. Das Gespenst des Polizeistaats schien plötzlich im Raum zu stehen. Mit einem Schlag griff die Campus-Revolte von West-Berlin auf Westdeutschland über und breitete sich an nahezu allen Hochschulen aus. Nun ging es jedoch nicht mehr nur um Fragen der Hochschulreform, sondern darüber hinaus um das Ungenügen der parlamentarischen Demokratie insgesamt.
1. Parlamentarismuskritik
Die Funktionsfähigkeit des Parlaments war in der ersten Hälfte der sechziger Jahre mehr und mehr in Zweifel gezogen worden . Idealtypisch als der Ort gedacht, an dem die demokratische Willensbildung im Widerstreit der Meinungen ihren Abschluss finde, konnte dieses Bild schon allein wegen des offenkundigen Mangels an Beteiligung nicht mehr ungebrochen aufrechterhalten werden. Die Rede war von einem "Prozess der Entmachtung und Entleerung des Bundestags" (Wilhelm Hennis), von einer zunehmenden Entkoppelung von Legislative und Exekutive. Die politischen Entscheidungen fielen außerhalb der Volksvertretung - im Kabinett, den Ministerien, speziellen Ausschüssen oder anderen staatlichen Organen. Das Parlament reduziere sich, so einer der Vorwürfe, auf ein Akklamationsinstrument der Regierung, es verwandle sich zum rhetorischen Beiwerk einer kaum noch zu kontrollierenden Machtpolitik.
Die im SDS formulierte Parlamentarismuskritik nahm eine Vielzahl der von der Politikwissenschaft analysierten Motive auf, begriff sie aber als Symptome eines tiefer liegenden Sachverhalts. Die Prämisse lautete: Kapitalismus und Demokratie, die ihren Namen wirklich verdiene, würden sich gegenseitig ausschließen. Auf der Basis kapitalistischer Produktionsbedingungen könne, weil das Privateigentum an den Produktionsmitteln als entscheidender Machtfaktor auch die politische Sphäre bestimme, sich immer nur ein Staat durchsetzen, der auch die Interessen des Kapitals verfolge.
Der Berliner Politologe Johannes Agnoli hatte 1967 eine Kritik des bürgerlichen Verfassungsstaates vorgelegt, die wesentliche Elemente einer marxistischen Parlamentarismuskritik enthielt . Nach seiner Ansicht vollzog sich im modernen parlamentarischen System ein tief greifender Strukturwandel. Die demokratischen Parteien, Verfassung und Staat entwickelten sich in autoritär orientierte vor- oder antiparlamentarische Formen zurück. Agnoli bezeichnete diesen Prozess im Gegensatz zur Evolution als "Involution". Mit diesem Terminus charakterisierte er die "Transformation der Demokratie", die auf eine Modernisierung der Herrschaftsformen aus sei, als eine Kette historischer Rückschritte. Besonderes Merkmal der allenthalben zu beobachtenden Involutionstendenzen sei nun aber, dass sie die Verfassungsnormen und -formen, anstatt sich gegen sie zu richten, umzufunktionalisieren versuchten. Dadurch stelle sich ein paradox erscheinender, dem zugrunde liegenden Antagonismus aber durchaus adäquater Zustand ein: Das Instrumentarium des Verfassungsstaates würde unter Beibehaltung seiner Normen verfeinert. Damit werde jedoch nicht das demokratische Verfahren gestärkt, sondern die Machtapparatur im Dienste bestimmter Interessen perfektioniert.
Das politische System nehme in immer stärkerem Maße die Form eines korporatistischen Blocks an. Organisationen, die einstmals bestimmte Interessen vertraten, die mit anderen nahezu zwangsläufig in Konflikt geraten mussten, verwandelten sich insgeheim in staatspolitische Vereinigungen. Nicht mehr die offene Austragung gegensätzlicher Interessen sei angesagt, sondern das möglichst reibungslose Einfinden in staatliche Regelungsprozeduren. Der Antagonismus der Klassengesellschaft, der sozioökonomisch unvermindert anhalte, reduziere sich auf die Pluralität von Parteien, die aber wie nach dem Muster einer Einheitspartei funktionierten. Aus Klassen- seien Volksparteien geworden, deren Konkurrenzgebaren immer mehr zum Schein werde. Und das Parlament, die eigentliche Krone der westlichen Demokratien, spiele die Rolle eines "Transmissionsriemens der Entscheidungen politischer Oligarchien". Damit löse sich die ursprünglich am Marktmodell orientierte parlamentarische Demokratie nicht einfach auf, sondern transformiere sich ohne Bruch ihres formal rechtsstaatlichen Selbstverständnisses in Organe eines autoritären Staates.
Agnolis Parlamentarismuskritik entsprach in mehrfacher Hinsicht der radikaldemokratischen Kritik an der Großen Koalition, zugleich aber besaß sie auch eine suggestive Qualität. Ohne es direkt auszusprechen, legte sie nahe, dass gegen die drohende Gefahr eines neuen Faschismus nur der Klassenkampf eine wirksame Gegenwehr darstelle. Wenngleich er in seinem Buch eher behutsam von "Fundamentalopposition" sprach, so hielt er in kurze Zeit später veröffentlichten Thesen den Umschlag von einer außerparlamentarischen Opposition "in einen offenen antiparlamentarischen Kampf" unter bestimmten Voraussetzungen für denk- und wünschbar. Die Diagnose eines rapiden Schwunds an innerparlamentarischer Demokratie konnte insofern nicht nur als Ausgangsbedingung für die Entstehung einer außerparlamentarischen Opposition begriffen werden, sondern auch als Auftakt zum Klassenkampf, in dem das Ziel verfolgt werden sollte, ein Gegenmodell zum Parlamentarismus zu etablieren. Die damals nicht nur vom SDS propagierte Alternative lautete: Rätedemokratie .
Eine rätedemokratische Herrschaft, so die Überzeugung, sei nur denkbar auf der Basis vergesellschafteter Produktionsmittel, also als politische Form sozialistischer Produktionsverhältnisse. Wenn es nicht gelänge, die errungene politische Macht auch in eine Änderung der Eigentumsverhältnisse umzusetzen, dann bleibe die Niederlage im Klassenkampf unausweichlich. Die von der Studentenbewegung mit dem Rätemodell favorisierten Leitvorstellungen lauteten zunächst: Alle für das politische Handeln relevanten Entscheidungen in Basisgruppen zu fällen, über Entscheidungsalternativen gemeinsam und öffentlich zu beraten, die Gefahr einer Verselbständigung von Herrschaftsrollen durch dauernde Kontrolle und Ämterrotation auf ein Minimum zu beschränken und ein imperatives Mandat zu gewährleisten. Auch wenn es nicht zur expliziten Inanspruchnahme des Rätemodells durch Studenten-, Schüler- oder Lehrlingsgruppen gekommen ist, so markierte dieser Kanon von Leitvorstellungen doch den Vorstoß einer radikaldemokratischen Bewegung auf ein als ebenso legitimationsschwach wie öffentlichkeitsarm wahrgenommenes parlamentarisches System.
2. Der autoritäre Staat und der autoritäre Charakter
Die Mobilisierungserfolge der außerparlamentarischen Bewegung im Sommer 1967 stellten den SDS zwar vor eine Reihe neuer Probleme, trugen jedoch nicht unerheblich dazu bei, dass sich auf der nächsten Delegiertenkonferenz des Studentenbunds im September der undogmatische Flügel durchzusetzen vermochte. Nachdem Rudi Dutschke in einem gemeinsam mit Hans-Jürgen Krahl verfassten Referat zur "Organisation des SDS" die Richtung vorgegeben hatte , gewannen mit den Brüdern Karl Dietrich und Frank Wolff zwei Repräsentanten der Antiautoritären die Wahlen zum Bundesvorstand.
Eine Theorie der antiautoritären Bewegung im eigentlichen Sinne hat nie existiert. Es gab jedoch zwei grundlegende Ausgangstheoreme, die einen Rahmen vorgaben. Die Begründung der antiautoritären Zielsetzungen bezog sich ganz wesentlich auf die Kritische Theorie, insbesondere auf Elemente der von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse entwickelten Gesellschaftsphilosophie . Aus dem Forschungszusammenhang des 1924 in Frankfurt gegründeten und 1933 von den Nazis geschlossenen Instituts für Sozialforschung waren während des amerikanischen Exils von einem Teil seiner Mitarbeiter die beiden Grundpfeiler der Theorie einer autoritär verfassten Gesellschaft entwickelt worden: das Theorem vom autoritären Staat, das Horkheimer 1940 unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes und der Nachricht vom Selbstmord Walter Benjamins formuliert hatte , und die sozialpsychologische Theorie von der autoritären Persönlichkeit, die 1949 im Zusammenhang einer groß angelegten Studie über die Vorurteilsbildung von Adorno u. a. vorgelegt worden war . Diese beiden Elemente, das des integralen Etatismus und das der faschistoid disponierten Persönlichkeit, stellten zwei Grundannahmen zur Analyse der deutschen Nachkriegsgesellschaft dar, mit denen die Antiautoritären im SDS einen subversiven politischen Ansatz zu begründen versuchten - einem Ansatz, bei dem es um die Veränderung der Persönlichkeitsstruktur im Hinblick auf eine sozialistische Demokratie ging.
Beim Theorem des integralen Etatismus, das in ökonomischer Hinsicht maßgeblich auf Überlegungen des Horkheimer-Freundes Friedrich Pollock zurückzuführen ist, geht es um eine Theorie des Monopolkapitalismus, in der der Staat zum Gesamtkapitalisten wird. Bei Beibehaltung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wird der Konkurrenzmechanismus ausgeschaltet, direkt in die Steuerung des Produktionsprozesses eingegriffen und die Verteilung des Mehrwerts dirigistisch geregelt. Die Massenloyalität wird durch Manipulation der Informationsmedien, letztlich der öffentlichen Meinung, hergestellt. Manipulation tritt, soweit es irgend geht, an die Stelle offener Repression.
Die Theorie der autoritären Persönlichkeit basierte auf einer empirischen Untersuchung, die 1945/46 vor allem unter Angehörigen der amerikanischen Mittelschichten durchgeführt worden war, mit der die Anfälligkeit von Personen für antisemitische Vorurteile und Feindbilder herausgefunden werden sollte. Mit verschiedenen Skalen wurden die Raster bestimmter ethnozentrischer Stereotypen herausgefiltert. Im Mittelpunkt stand die so genannte F-Skala, die Faschismus-Skala. Wesentliche Merkmale des autoritativen, zum Faschismus tendierenden Charakters, so lautete eines der Ergebnisse, waren eine starre Bindung an herrschende Werte wie Unauffälligkeit, Sauberkeit, Erfolgsstreben, Ordnungsliebe, Unterwürfigkeit, Verachtung von Außenseitern und die Diskriminierung von Fremden und Schwächeren. Mit anderen Worten - der autoritäre Charakter war in der Strukturtypologie der Psychoanalyse durch ein schwaches Ich, ein externalisiertes Über-Ich und ein vom Ich kaum noch zu kontrollierendes Es geprägt.
Die SDS-Studenten gingen davon aus, dass die Demokratie in der Bundesrepublik durch die Fortexistenz autoritärer Persönlichkeiten im Kleinbürgertum und den Mittelschichten ernsthaft gefährdet sei . In den aggressiven Reaktionen von Passanten auf demonstrierende Studenten glaubte man, eine sinnfällige Bestätigung im eigenen Erfahrungsbereich sehen zu können. Als parteipolitischer Ausdruck dieses Potenzials galten vor allem die Mitglieder und Wähler der NPD, aber auch Teile von CDU und CSU, selbst der SPD.
In seinem im Mai 1967 in deutscher Übersetzung erschienenen Hauptwerk "Der eindimensionale Mensch" vereinigte Herbert Marcuse die objektive und die subjektive Dimension einer autoritären Gesellschaft. Er analysierte die innere Logik in der Fortentwicklung des modernen Kapitalismus, der zu einer Einheit von "Wohlfahrts- und 'Warfare'-Staat" geworden sei. Als wichtigstes Strukturmoment im neuen Herrschaftssystem definierte er die Verschmelzung von technologischer und politischer Rationalität: "Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft lässt sich der traditionelle Begriff der 'Neutralität' der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird." Die eindimensionale Gesellschaft, deren Sprache, Denken und Psychologie Marcuse analysierte, sei durch einen umfassenden Verlust an Transzendenz - nicht im Sinne einer metaphysischen, sondern einer sozialen und historischen Kategorie gedacht - gekennzeichnet. Eindimensionalität wird von ihm als die Herrschaft eines "technologischen Apriori" im Anschein einer zunehmenden Erweiterung der Freiheitsmöglichkeiten verstanden. Sie wirke sich aus als Nivellierung von Möglichkeit und Wirklichkeit, als Ersetzung des lebendigen Sprachvermögens durch funktionale Kommunikation und als Reduktion von Erotik auf Sexualität.
Mit seiner bereits in "Triebstruktur und Gesellschaft" entwickelten Katagorie der "repressiven Entsublimierung" verstand er eine Indienstnahme der Triebökonomie unter dem Schein eines entfesselten Lustprinzips. In der eindimensionalen Gesellschaft setze sich bis in die Sphäre der Intersubjektivität hinein eine paradoxe Logik durch: Mit der Rationalisierung des Irrationalen werde die Rationalität selber irrational. Unter dem Prinzip produktiv-destruktiver Vergesellschaftung lasse sich keine zwingende politische Alternative mehr formulieren. Dennoch glaubte Marcuse in der Bürgerrechtsbewegung und der sozialen Unruhe in den Schwarzen-Ghettos gewisse Anzeichen für eine Durchbrechung der vom System hervorgebrachten und so scheinbar hermetisch funktionierenden Integrationsmechanismen erkennen zu können.
Auf die Randgruppen der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaft ging er in einem ebenso umstrittenen wie einflussreichen Aufsatz ein, der im Oktober 1966 unter dem Titel "Repressive Toleranz" erschien. Den Stein des Anstoßes stellte eine Passage dar, in der es um die Frage des Widerstandsrechtes ging: ". . . ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein 'Naturrecht' auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben . . . Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen." Was Marcuse hier den rebellierenden Schwarzen mit Emphase einzuräumen bereit war, das reklamierte er auch für die Aufständischen, die sich in Lateinamerika, Afrika und Asien gegen Kolonialmacht und Imperialismus erhoben.
3. Die Identifikation mit der Dritten Welt
Noch sehr viel ungeschützter als Marcuse hatte sich Jean-Paul Sartre zur Gewaltfrage in einem Text geäußert, der wie ein Fanal wirkte. Unter dem Eindruck des immer weiter eskalierenden Algerienkrieges, dessen Terroraktionen auch Paris erreichten, einer gefährdeten Entkolonialisierung, bei deren Unterminierung man im Kongo selbst vor der Entführung und Ermordung von Ministerpräsident Patrice Lumumba nicht zurückgeschreckt war, hatte er 1961 ein Vorwort zu einem Buch verfasst, dessen Titel der Anfangszeile der Kommunistischen Internationale entliehen war und das bald als "antikolonialistisches Manifest" bezeichnet wurde: Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" . Der aus Martinique stammende Psychiater, der jahrelang eine Klinik in Algerien leitete, beschreibt darin den Kolonialismus als brutalste Form der Ausbeutung. Um dieses Joch abzuschütteln, bedürfe es der offensiven Gewalt. Diese sei jedoch nicht nur Mittel zum Zweck, sondern ein Medium der Emanzipation. Fanon glaubte, dass Gewaltanwendung die Kolonisierten gar von ihrem Minderwertigkeitskomplex befreie.
Sartre griff nun diese Apotheose der Gewalt auf, sprach, Engels zitierend, von einer "Geburtshelferin der Geschichte" und verspottete im Gegensatz dazu die liberalen Verfechter der Gewaltlosigkeit, die weder Opfer noch Henker sein wollten, als Anhänger einer verlogenen Ideologie. Die antikoloniale Gewalt, die nicht unterdrückt werden könne, sei "nichts weiter als der sich neu schaffende Mensch". Seine Identifikation mit dem Befreiungskampf der Kolonisierten nahm dabei durchaus masochistische Züge an . In der Entwertung bürgerlich-republikanischer Ansprüche sprach er vom "Striptease unseres Humanismus".
Als 1966 die deutsche Übersetzung des Bandes erschien, konzentrierten sich die stärksten Hoffnungen der radikalen Studenten noch auf Lateinamerika. Hier gab es mit Kuba das Beispiel einer scheinbar erfolgreichen Revolution und mit den Operationen von Guerillakämpfern in Bolivien und Venezuela zeitweilig die Aussicht auf ein Übergreifen des revolutionären Prozesses auf den südamerikanischen Kontinent . Mit Elementen der Imperialismustheorien von Luxemburg, Lenin und Bucharin versuchte man im SDS zur selben Zeit den Nachweis zu erbringen, dass die Kapitalakkumulation auch in den Entwicklungsländern zur Proletarisierung führen müsse . Absicht war es, einen ökonomischen Rahmen zu skizzieren, der die Unabhängigkeitsbewegungen in der Dritten und die Oppositionsbewegungen in der Ersten Welt in einem global gedachten Revolutionskonzept miteinander verband.
Im Zuge der Eskalation des Vietnamkrieges hat schließlich der Vietcong die lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen in ihrer Vorbildfunktion mehr und mehr zu ersetzen vermocht. Es waren führende SDS-Mitglieder wie der Westberliner Jürgen Horlemann, die die wichtigsten Analysen des Vietnamkrieges vorlegten . Der Krieg, den die Großmacht USA in Südvietnam angeblich im Namen der Freiheit ausfocht, war mehr als nur eine Tausende von Kilometern entfernte Hintergrundkulisse - er war in den Köpfen der 68er allgegenwärtig. Nach einer Plakataktion, die unter der Losung "Amis raus aus Vietnam!" stand, hatte der SDS bereits im Februar 1966 in West-Berlin eine militante Demonstration gegen die Bombardierung der vietnamesischen Zivilbevölkerung mit Napalm durchgeführt; in ihrem Verlauf war der Straßenverkehr durch einen Sitzstreik lahmgelegt und das Amerikahaus mit Eiern beworfen worden.
Auf dem Höhepunkt der Revolte fand dann im Februar 1968 in West-Berlin der "Internationale Vietnam-Kongress" statt. Vor mehreren tausend Teilnehmern hielt Rudi Dutschke den Hauptredebeitrag - Thema: "Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Befreiungskampf". Darin ging er von der Prämisse aus, dass jede radikale Opposition global sein müsse. Die "Befreiungsbewegungen der Dritten Welt" hätten eine vorentscheidende Bedeutung für die "Destabilisierung der imperialistischen Machtzentren in den Metropolen". Als wichtigsten Beitrag im eigenen Land forderte er die Organisierung einer "Anti-NATO-Kampagne" , ergänzt durch eine Desertionskampagne in der Bundeswehr. Beide Ziele wurden in der Schlussresolution von den Kongressteilnehmern angenommen und auf der Abschlusskundgebung verlesen.
Die Offensive der Vietcong-Truppen zu Beginn des buddhistischen Neujahrsfestes Tet in Südvietnam, die so genannte Tet-Offensive, war kurz zuvor blutig niedergeschlagen worden. Wie sich später herausstellte, war das der Wendepunkt in dem von den Vereinigten Staaten entfesselten Vietnamkrieg. Der selbstmörderische Vorstoß von Vietcong auf die US-Botschaft in Saigon, die Ablösung des Oberkommandierenden der US-Streitkräfte, General William C. Westmoreland, und die Ankündigung Lyndon B. Johnsons, kein weiteres Mal mehr für das Amt des US-Präsidenten kandidieren zu wollen, zeigten unmissverständlich, dass die Führungsspitze der US-Regierung zwar nicht kapituliert, aber doch resigniert hatte.
Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt dienten der 68er-Bewegung als "Projektionsbühne" für ihre im eigenen Land mehr oder weniger gegenstandslosen revolutionären Hoffnungen. In der Identifikation mit dem Vietcong wollte man selbst in die Rolle einer Partisanengruppe schlüpfen und in der Heroisierung von Che Guevara, Fidel Castro und Ho Chi Minh sich in die Figuren revolutionärer Führer hineinphantasieren. Indem man sich als Teil internationaler Solidarität verstand, versuchte man zugleich, an einem globalen Mythos teilzuhaben und sich auf diesem Umweg einen revolutionären Nimbus beizumessen.
4. Der Zerfall der 68er-Bewegung
In einem unmittelbaren politischen Sinne ist die antiautoritäre Bewegung fast auf der ganzen Linie gescheitert. Zwar gelang es unter Aufbietung aller Kräfte, 1969 den Einzug der NPD in den Bundestag zu verhindern, die Hauptziele jedoch wurden allesamt verfehlt. Innenpolitisch war bereits die Niederlage in der Anti-Notstands-Bewegung entscheidend. Die viel beschworene Einheit von Arbeiter- und Studentenbewegung, wie sie zum allgemeinen Erstaunen zur gleichen Zeit in Frankreich möglich geworden war, blieb in der Bundesrepublik eine Chimäre. Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 hatte die APO ihren Zenit überschritten. Die Struktur des Axel-Springer-Verlags blieb unangetastet, die Hochschulreform erwies sich rasch als Enttäuschung, und die hochfliegenden revolutionären Erwartungen blieben auf der ganzen Linie unerfüllt.
Was folgte, war eine innere Radikalisierung, die nicht unerhebliche Teile in die Gewalt trieb. Der Antiautoritarismus, der in so rasanter Weise über alle konkurrierenden politischen Strömungen obsiegt hatte, wurde zu seinem eigenen Opfer. Da es sein insgeheimes Gesetz war, immer in Bewegung zu bleiben, musste diese Logik unter veränderten Außenkoordinaten in die Selbstzerstörung führen. Dynamik, Intensität und Tempo waren zu Charakteristika der 68er-Bewegung geworden. Ihre Binnendynamik setzte sich immer weiter fort und führte zu endlosen Konflikten innerhalb der eigenen Reihen. Die Affinität etwa zur chinesischen Kulturrevolution, die auf einer völligen Verkennung des Maoismus als eines eigenständigen Typus totalitärer Herrschaft basierte, resultierte in hohem Maße aus der Identifikation mit dem Permanenzideal eines revolutionären Prozesses. Das paradoxe Umschlagen einer zunächst äußerst erfolgreichen Ausbreitung der Bewegungsformen und -ziele in eine zunehmende Destruktion wurde von den meisten zwar als quälend erlebt, aber nicht durchschaut.
Im Winter 1968/69 setzte überall ein Prozess der Umorientierung ein, der rasch zur Zersplitterung und einer Fetischisierung von Organisationsformen führte. Innerhalb von nur wenigen Monaten fiel der SDS faktisch auseinander. Die Antiautoritären schienen durch die nachlassende Mobilisierung auf der Straße und die infolge der Bildung einer sozialliberalen Koalition veränderte politische Lage wie paralysiert, das Wort übernahmen radikal orthodoxe Kräfte - Neoleninisten und Maoisten. Während der größte Teil der alten APO von der SPD und der neugegründeten DKP aufgesogen wurde, bildeten sich in kurzer Zeit kommunistische Kadergruppen, die sich in völliger Verkennung ihrer wirklichen Rolle als Vorhut der Arbeiterbewegung begriffen. Die studentischen Speerspitzen der APO ernannten sich selbst zur proletarischen Avantgarde und glaubten sich so zur Führungselite einer nicht zu einer radikalen Systemveränderung neigenden Arbeiterschaft machen zu können. Damit waren die Weichen für ein Jahrzehnt gestellt. Die aktivsten studentischen Gruppen zogen zielstrebig in eine politische Sackgasse, aus der einen Ausweg zu finden kaum noch möglich zu sein schien.
5. Die Marxismus-Renaissance in der Reformära (1969-1973)
Mit der Bildung einer Bundesregierung, die mit dem Sozialdemokraten Willy Brandt an der Spitze eine Reformpolitik einzuleiten versprach, entfielen die meisten Voraussetzungen zur Fortführung einer außerparlamentarischen Bewegung. Einige der von der APO freigesetzten Impulse, insbesondere im Bereich der Bildungspolitik, wurden aufgegriffen, andere hingegen eingedämmt oder ganz abgeschnitten. Die Koalition von SPD und FDP legte einerseits mit dem Amnestiegesetz für Demonstrationsstraftäter ein Integrationsangebot vor, andererseits lieferte sie mit dem Radikalenerlass, durch den Systemgegner vom Staatsdienst fern gehalten werden sollten, ein Zeichen der Abschreckung. Zwar wuchs das Potential links von der SPD quantitativ stark an, es stellte jedoch wegen seiner Diffusität keine einheitliche Kraft mehr dar und büßte dadurch viel vom Charakter einer politischen Herausforderung ein.
Als sich im März 1970 der SDS formell auflöste, waren die Weichenstellungen für die Entwicklung der radikalen Linken der siebziger Jahre bereits weitgehend vollzogen. Aus der 68er-Bewegung waren zu diesem Zeitpunkt vier Grundströmungen entstanden:
eine reformistische, die ihre stärkste Bastion in der Jugendorganisation der SPD, den Jungsozialisten, besaß;eine traditionell kommunistische, die nach der Legalisierung einer kommunistischen Partei in der DKP ihre Heimat zu finden glaubte;eine marxistisch-leninistische, die ihr Heil im Proletkult der zwanziger Jahre und in der Gründung vermeintlich revolutionärer Kaderorganisationen suchte undeine undogmatisch-neomarxistische, die im "Sozialistischen Büro" (SB) eine Art Netzwerkzentrale fand, deren Bedeutung erst im Laufe der Jahre sichtbar wurde.
Einerseits waren diese Strömungen durch eine hektische Aufbruchstimmung geprägt, andererseits aber saß die deprimierende Erfahrung einer grundlegenden politischen Niederlage immer noch tief. Diese Zwiespältigkeit führte bereits im Ansatz zu einer Verbissenheit in den meisten ihrer politischen Aktivitäten. Mit organisatorischer Entschlossenheit sollte nun das erreicht werden, was in der Form einer lockeren, zum Teil spontanen Protestbewegung nicht hatte vollbracht werden können. Deshalb galt es zuerst einmal, die "Organisationsfrage" zu lösen.
Die Universität, an denen sich "Rote Zellen" auszubreiten begannen, war nicht länger mehr der zentrale Ort, von dem aus die politische Arbeit organisiert wurde. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich zunehmend auf außeruniversitäre Bereiche, auf Stadtteile und insbesondere auf Betriebe. Betriebsarbeit hatte für die entschiedensten der linksradikalen Gruppierungen Priorität. Denn der Adressat war in erster Linie die Arbeiterschaft. Sie galt es vor allem zu gewinnen, weil sie als das einzig Erfolg versprechende revolutionäre Subjekt galt. Es schien alles nur noch eine Frage der Bewusstseinsbildung zu sein, wie sich das "ökonomistische" Arbeiterbewusstsein auf dem schnellsten Wege in ein revolutionäres Klassenbewusstsein würde transformieren lassen können. Die Tatsache, dass es im Herbst 1969 unter Stahlarbeitern zu wilden Streiks gekommen war, wurde als Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein gewertet.
Die zeitweilige Dominanz jener Strömungen, die sich auf die Kritische Theorie beriefen, schien nun endgültig vorüber zu sein. Das jedenfalls war der Eindruck, als im Februar 1970 in der Heidelberger Studentenzeitung "Rotes Forum" eine polemische "Abrechnung" erschien . In einem von Joscha Schmierer verfassten Aufsatz wurde die Kritische Theorie als "die geschwätzig gewordene Resignation über den Faschismus" denunziert. Der spätere Sekretär des "Kommunistischen Bundes Westdeutschland" (KBW) propagierte dagegen die Organisationsprinzipien Lenins und fordert eine "richtige Anwendung" der Ideen Mao Tse-tungs und des Marxismus-Leninismus auf die Bedingungen des Klassenkampfes. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten nun Schriften wie Lenins "Was tun?" und Mao Tse-tungs "Über den Widerspruch". Die mechanische Adaption vermeintlich erfolgreicher Denk- und Revolutionsmodelle war überaus symptomatisch.
Die Fixierung auf die Arbeiterbewegung als das einzig denkbare revolutionäre Subjekt führte zur Entstehung zahlreicher ML-Gruppen und zur Bildung verschiedener pseudoproletarischer Parteien. Nachdem genau 50 Jahre nach Gründung der KPD zur Jahreswende 1968/69 in Hamburg eine KPD/ML aus der Taufe gehoben worden war, entstand 1971 in West-Berlin eine weitere, mit ihr konkurrierende KPD, im selben Jahr in Norddeutschland ein "Kommunistischer Bund" (KB) und 1973 in Bremen der KBW. Auch die im Mai 1970 erfolgte Gründung der terroristischen "Rote Armee Fraktion" (RAF), deren Mitglieder sich als "Leninisten mit Knarre" verstanden, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die bewaffnete Kaderorganisation, die wie keine andere das innenpolitische Klima in der Bundesrepublik vergiftete, gab vor, Teil eines größeren Ganzen, einer Art proletarischen Kampfzusammenhanges, zu sein.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich als Gegenreaktion auf die das Bild der Öffentlichkeit zeitweilig dominierenden K-Gruppen spontaneistische und andere undogmatische Strömungen herausbildeten, die ihr Zentrum in Frankfurt hatten und sich in der Tradition der Antiautoritären begriffen. Da es ihnen darauf ankam, ein eigenes Milieu auszubilden, in dem sie mit alternativen Lebensformen experimentieren konnten, konzentrierten sie sich auf Hausbesetzungen, Mietstreiks und andere Formen der Stadtteilarbeit.
Die Reaktivierung des Marxismus als einer lange Zeit unterdrückten und diskreditierten theoretischen Tradition war eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die es für die vielfältig aufgespaltenen Überreste der 68er-Bewegung gab. In der systematischen Rezeption der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie, die den Status einer Basiswissenschaft einnahm, versprachen sich fast alle Gruppierungen die Schaffung einer theoretischen Grundlage für die Klärung politischer Aufgaben und Problemstellungen . Fast überall entstanden Schulungsgruppen, die sich an einer Lektüre des Marx'schen "Kapitals" abarbeiteten . In der Warenanalyse glaubte man einen Schlüssel zur Behandlung tagespolitischer Fragen ebenso wie langfristig strategischer Zielsetzungen finden zu können. Das Verhältnis von Ware und Geld, die Analyse des Fetischcharakters der Ware, die Mehrwertproduktion und die Akkumulation des Kapitals schienen von vorrangiger Bedeutung zu sein. Es entstand ein theoretischer Schematismus, der in den USA bald als "German Ableitungsmarxism" verspottet wurde.
Und während sich die unterschiedlichsten linken Gruppierungen theoretisch wie praktisch um die Vorherrschaft stritten, kristallisierte sich über einzelne Kampagnen eine Kraft heraus, mit der kaum jemand gerechnet hatte - die neue Frauenbewegung. Die öffentliche Selbstbezichtigung einer Reihe prominenter Frauen, Abtreibungen vorgenommen zu haben, erwies sich als ein erster Kristallisationskern . Nachdem sich Gruppierungen wie der aus internen Auseinandersetzungen mit der Vorherrschaft der Männer im SDS entstandene "Aktionsrat zur Befreiung der Frau" und der "Weiberrat" noch mit sozialistischen Klassikerinnen wie Clara Zetkin zur so genannten Frauenfrage abgemüht hatten, erschienen bald in rascher Abfolge auch theoretisch anspruchsvollere Werke zeitgenössischer Autorinnen . Themen wie Rechtsgleichheit, sexuelle Ausbeutung und Lohn für Hausarbeit gewannen zunehmend an öffentlicher Aufmerksamkeit. Im Schatten einer ebenso zersplitterten wie zerstrittenen Linken war die Frauenbewegung als eigenständige Kraft entstanden.
6. Die ökologische Fundamentalkritik in der Transformationszeit (1973-1977)
Als an einem jüdischen Feiertag im Oktober 1973 Ägypten und Syrien gemeinsam Israel überfielen und an den Rand einer militärischen Niederlage drängten, wurde mit dem Jom-Kippur-Krieg ein Ölpreisschock und durch diesen wiederum eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst. Die Konjunktur brach in der Bundesrepublik in sich zusammen, eine Rezession breitete sich aus und führte zu einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Bundeskanzler Willy Brandt, mit dessen Person nach der Abwehr des Misstrauensvotums im April 1972 Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Reformpolitik verknüpft wurden, trat im Mai 1974 zurück und wurde von dem pragmatisch orientierten Helmut Schmidt abgelöst. Die Reformära war damit zu Ende. Begonnen hatte auch die Zeit der strukturellen Arbeitslosigkeit. Sie war auf die Entscheidung der OPEC-Staaten zurückzuführen, den Preis des Rohöls nach oben zu schrauben.
Unter diesen Voraussetzungen setzte bald ein grundlegender Wandel im Verständnis von Produktivität und gesellschaftlichem Fortschritt ein, den einer der führenden linken Intellektuellen bereits wegen des vernachlässigten Themas Umweltschutz prognostiziert hatte. Im Oktober 1973 war im "Kursbuch" ein Titelaufsatz erschienen, in dem Hans Magnus Enzensberger eine "Kritik der politischen Ökologie" formuliert hatte. "Wenn die ökologische Hypothese zutrifft," hatte er seine Prognose zusammengefaßt, "dann haben die kapitalistischen Gesellschaften diese Chance, das Marx'sche Projekt der Versöhnung von Mensch und Natur, wahrscheinlich definitiv verwirkt. Die Produktivkräfte, welche die bürgerliche Gesellschaft freigesetzt hat, sind von den gleichzeitig entfesselten Destruktivkräften eingeholt und überholt worden . . . Was einst Befreiung versprach, der Sozialismus, ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Das Reich der Freiheit aber ist, wenn die Gleichungen der Ökologie aufgehen, ferner gerückt denn je." Zur selben Zeit erschien nicht nur ein erstes auflagenstarkes Werk zum Konfliktthema Atomenergie , es begann auch die Hochzeit der Anti-AKW-Bewegung: Auf Proteste in Wyhl folgten weitere in Brokdorf und Gorleben, das bis heute in den Schlagzeilen geblieben ist .
Die jahrelang betriebene Kritik der politischen Ökonomie wurde von einer sich an Radikalität überbietenden und zur insgeheimen Apokalyptik neigenden Ökologie- und Technikkritik abgelöst. Der Marxismus geriet nicht nur deshalb in eine Krise, weil er mit seiner Orientierung an Arbeiterbewegung, Klassenkampf und Revolutionstheorie politisch in die Irre geführt hatte, sondern auch, weil er auf einem industriellen Produktivismus basierte, der sich als zunehmend problematisch, in der bedenkenlosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen gar als gefährlich erwies.
Aus der Anti-AKW-Bewegung entstand ein Spektrum grün-bunt-alternativer Gruppierungen und daraus wiederum jene Kräfte, die mit der Parteigründung der Grünen seit 1980 Schritt für Schritt eine Reintegration der Nach-68er in das parlamentarische System vollzogen haben. Im Zuge dieser Transformation hat sich zugleich ein nichtexplizierter Paradigmenwechsel in den geschichtsphilosophischen Prämissen des Projekts, die Gesellschaft verändern zu wollen, abgespielt. Die Vorstellung, mit dem Arbeitsprozess die Natur beherrschen zu können, steht seitdem ebenso zur Revision wie das Vertrauen, politisches Handeln basiere auf einem der Geschichte inhärenten Fortschrittsprinzip.
Herbert Marcuse: Seine Schriften hatten großen Einfluss auf die Studentenbewegung in Europa und Übersee. (© AP)
Quellen / Literatur
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 22-23/2001)
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 22-23/2001)
Da eine detaillierte Auflistung der bislang vorliegenden Literatur zu umfangreich wäre, vgl. die Dartstellung der wichtigsten Forschungstrends in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. Außerdem die kommentierten Literaurberichte: Franz-Werner Kersting, Entzauberter Mythos? Ausgangsbedingungen und Tendenzen einer gesellschaftsgeschichtlichen Standortbestimmung der westdeutschen ,68er'-Bewegung, in: Karl Teppe (Hrsg.), Westfälische Forschungen - Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, 48/1998, S. 1-19; Wolfgang Kraushaar, Der Zeitzeuge als Feind des Historikers? Ein Literaturüberblick zur 68er-Bewegung, in: ders., 1978 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 253-347.
Die bislang vorgelegten Darstellungen behandeln diese Phase eher kursorisch: Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994; Jürgen Briem, Der SDS. Die Geschichte des bedeutendsten Studentenverbandes der BRD seit 1945, Frankfurt/Main 1976. Einen vorläufigen Überblick bietet: Tilmann Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung, Hamburg 1998².
Einen Überblick über oppositionellen Gruppierungen liefert: Rolf Seeliger, Die außerparlamentarische Opposition, München 1968; Ernst Richert, die radikale Linke von 1945 bis zur Gegenwart, Berlin 1969, S. 104-129.
Zwar gab es bereits 1966 im SDS einen Versuch, ein für alle Mitglieder verbindliches theoretisches Schulungsprogramm zu entwickeln, dieser scheiterte jedoch bereits im Ansatz. Als Reaktion auf einen vom traditionalistischen Flügel vorgelegten Entwurf präsentierte der führende Kopf des antiautoritären Flügels eine am undogmatischen Marxismusverständnis von Karl Korsch orientierte Literaturübersicht, vgl. Rudi Dutschke, Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart. SDS-Korrespondenz, Sondernummer 1966.
Vgl. Jörg Bopp, Geliebt und doch gehasst. Über den Umgang der Studentenbewegung mit Theorie, in: Kursbuch, 20 (1984) 78, S. 121-142.
"Die Protestbewegung . . . verfolgte auch eine Utopie der Theorie, des Konzeptualisierens. Positiv in der Überzeugung, die zentralen gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Prozesse würden sich auf soziologische und sozialpsychologische Begriffe bringen lassen und danach würden die Theoretiker leben können." Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Köln 1980, S. 40 f.
Vgl. Rudi Dutschke, Zu Protokoll - Ein Fernsehinterview von Günter Gaus, Frankfurt/M. 1968.
Vgl. Claus-Dieter Krohn, Die Entdeckung des "anderen Deutschland" in der intellektuellen Protestbewegung der 1960er Jahre in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten, in: Exilforschung - Ein Internationales Jahrbuch, Bd. 13: Kulturtransfer im Exil, hrsg. von Claus-Dieter Krohn / Erwin Rotermund / Lutz Winckler / Wulf Koepke, München 1995, S. 16-51.
Vgl. die Dokumentation von Horst Kurnitzky/Hansmartin Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie - Herbert Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität Berlin über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, Berlin 1967.
Vgl. Wolfgang Kraushaar, Von der Totalitarismus- zur Faschismustheorie. Zu einem Paradigmenwechsel in der Theoriepolitik der Studentenbewegung, in: Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus - eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 267-283.
Prototypisch für diese Tendenz war ein Schüler des Marburger Politikwissenschaftlers Wolfgang Abendroth, dessen Schriften zur Kanonisierung eines ökonomistisch reduzierten Verständnisses der NS-Herrschaft führten: Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus - Faschismus, Reinbek 1971.
Vgl. Tilman Fichter, SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen 1988.
Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang C. Wright Mills, The New Left, in: ders., Power, Politics and People, hrsg. von Irving Louis Horowitz, New York 1963. Außerdem dessen "Brief an die Neue Linke". Mills bezeichnete darin das Festklammern an der Arbeiterklasse als dem einzig revolutionären Subjekt als "Metaphysik" und schrieb der Intelligenz die Rolle eines Katalysators im Prozess der Gesellschaftsveränderung zu: C. Wright Mills, Letter to the New Left, in: New Left Review, (1960) 5, S. 18-23; dt. Übersetzung in: Konkret, 7 (1961) 23/24.
Jürgen Habermas, Über den Begriff der politischen Beteiligung, in: ders./Ludwig von Friedeburg/Christoph Oehler/Friedrich Weltz, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten, Neuwied-Berlin 1961, S. 34.
SDS-Hochschuldenkschrift, Frankfurt/M. 1972, S. 138 f.
Vgl. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten 1964.
Insbesondere durch eine von vier SDS-Mitgliedern verfasste Monographie, in der der Strukturwandel der deutschen Universität untersucht wurde, waren die theoretischen Grundlagen für eine demokratische Hochschulreform gelegt worden: Wolfgang Nitsch/Uta Gerhardt/Claus Offe/Ulrich K. Preuß, Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität, Neuwied-Berlin 1965.
Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied-Berlin 1962.
Vgl. Harry Pross, Protest - Versuch über das Verhältnis von Form und Prinzip, Neuwied-Berlin 1971.
"Die Konzeption des Teach-ins gründet auf der liberalen Idee der öffentlichen Diskussion mit Andersdenkenden, in der man durch bessere Information, rationale Argumentation und publizistische Enthüllungen aufklären und überzeugen will. Die direkte Aktion in der Form des Teach-ins setzt an bei der konkreten Erfahrung einer theoretischen Unrichtigkeit oder eines praktischen Unrechts. Durch sachliche Kontroverse um die Analyse der Fakten versucht sie, die inneren Widersprüche in der Argumentation des Gegners aufzudecken und die Irrationalität seiner Logik nachzuweisen. . . . Die Teach-ins waren eine Form der Opposition, in der Wissenschaftler und Intellektuelle sich demonstrativ auf die Seite der protestierenden Studenten stellten." Susanne Kleemann, Ursachen und Formen der amerikanischen Studentenopposition, Frankfurt/M. 1972, S. 98.
Vgl. Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: Historische Zeitschrift, (1983) 236, S. 579-599.
"Hunderte von heute wieder tätigen Richtern und Staatsanwälten haben während des Naziregimes besonders bei Sonder- und Volksgerichten schwere Verbrechen begangen. Um diese Verbrechen, noch ehe sie verjähren, zu sühnen, hat der Bundesvorstand des ,Sozialistischen Deutschen Studentenbundes' die SDS-Gruppen an allen deutschen Universitäten und Hochschulen zur Aktion ,Ungesühnte Nazijustiz' aufgerufen." In: Die Tat, Nr. 49 vom 5. Dezember 1959, S. 5.
Zur Auseinandersetzung der Studentenbewegung mit der NS-Vergangenheit vgl. Christel Hopf, Das Faschismusthema in der Studentenbewegung und in der Soziologie, in: Heinz Bude/Martin Kohli (Hrsg.), Radikalisierte Aufklärung. Studentenbewegung und Soziologie in Berlin 1965 bis 1970, Weinheim-München 1989, S. 71-86; Hans-Ulrich Thamer, Die NS-Vergangenheit im politischen Diskurs der 68er-Bewegung, in: K. Teppe (Anm. 1), S. 39-53; Detlef Siegfried, Umgang mit der NS-Vergangenheit, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 77-113; Bernd-A. Rusinek, Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht - akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: A. Schildt u. a., ebd., S. 114-147.
Peter R. Hofstätter, Bewältigte Vergangenheit?, in: Die Zeit vom 14. Juni 1963.
"Der Fall Hofstätter". Dokumentation des Liberalen Studentenbundes, Hamburg 1963.
Vgl. die von Rolf Seeliger hrsg. Dokumentarreihe: Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute, Bd. I-IV, München 1964-1966. Außerdem: Peter Müller, Die braune Universität, in: Diskussion - Zeitschrift für Probleme der Gesellschaft und der deutsch-israelischen Beziehungen, Teil I-III, 7/ 8 (1966/67) 19-21.
Vgl. Andreas Flitner (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen mit einem Nachwort von Hermann Diem, Tübingen 1965; vgl. außerdem: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966.
"Die Mehrzahl der Professoren war eben, was sie für ,unpolitisch' oder für ,wertfrei' hielt: rechtskonservativ." Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten, Frankfurt/M. 1967, S. 142.
Martin Walser, Unser Auschwitz, in: Kursbuch, 1 (Juni 1965) 1, S. 189-200.
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.
Vgl. Michael Lemke, Instrumentalisierter Antifaschismus und SED-Kampagnenpolitik im deutschen Sonderkonflikt 1960-1968, in: Jürgen Danyel (Hrsg.), Die geteilte Vergangenheit - Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 61 ff.
Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland/Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hrsg.), Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik, Berlin 1965.
Dabei taten sich besonders Schriftsteller der "Gruppe 47" hervor. Jeweils zu Bundestagswahlen meldeten sie sich zu Wort, um eine Ablösung der Christdemokraten von der Bundesregierung zu fordern: Martin Walser (Hrsg.), Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung?, Reinbek 1961; Hans Werner Richter (Hrsg.), Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative, Reinbek 1965.
Vgl. Johannes Agnoli/Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967.
Johannes Agnoli, Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition, in: Neue Kritik, 9 (1968) 47, S. 31.
Vgl. Wilfried Gottschalch, Parlamentarismus und Rätedemokratie, Berlin 1968.
Vgl. Rudi Dutschke/Hans-Jürgen Krahl, Organisationsreferat, unter dem nicht autorisierten Titel "Sich verweigern erfordert Guerilla-Mentalität", in: Rudi Dutschke, Geschichte ist machbar, Berlin 1980, S. 89-95; zur Interpretation des Organisationsreferats: Wolfgang Kraushaar, Autoritärer Staat und antiautoritäre Bewegung. Zum Organisationsreferat von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl, in: 1999 - Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2 (1987) 3, S. 76-104.
Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotow-Cocktail. Chronologie, Dokumente, Aufsätze, Bd. 1-3, Hamburg 1998.
Vgl. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, 1923-1950, Frankfurt/M. 1976; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule - Geschichte - Theoretische Entwicklung - Politische Bedeutung, München 1986.
Vgl. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, 1923-1950, Frankfurt/M. 1976; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule - Geschichte - Theoretische Entwicklung - Politische Bedeutung, München 1986.
Vgl. Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality, New York 1949; gekürzte dt. Ausgabe: Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973.
Vgl. Ursula Jaerisch, Sind Arbeiter autoritär? Zur Methodenkritik politischer Psychologie, Köln 1975.
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied-Berlin 1967, S. 18.
Ders., Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt/M. 1967, S. 195 ff.
Ders., Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff/Barrington Moore/Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M. 1966, S. 127 f.
Jean-Paul Sartre, Vorwort, in: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1966. Die Übersetzung verfasste das Westberliner SDS-Mitglied Traugott König.
"Einen Europäer erschlagen heißt, zwei Fliegen auf einmal zu treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch." Ebd., S. 18.
Vgl. dazu Rudi Dutschkes gemeinsam mit T. Käsemann und R. Schöller verfasstes Vorwort zu: Régis Debray/Fidel Castro/Gisela Mandel/K.S. Karol, Der Lange Marsch. Wege der Revolution in Lateinamerika, München 1968, S. 7-24.
Verstärkt wurden von SDS-Mitgliedern Anstrengungen unternommen, aktuelle Analysen des Kolonialismus und Imperialismus ins Deutsche zu übersetzen: Pierre Jalée, Die Ausbeutung der Dritten Welt, Frankfurt/M. 1968; ders., Die Dritte Welt in der Weltwirtschaft, Frankfurt/M. 1969; Harry Magdoff, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt/M. 1969; André Gunder Frank, Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt/M. 1969.
Vgl. Jürgen Horlemann/Peter Gäng, Vietnam - Analyse eines Exempels, Frankfurt/M. 1966; Peter Gäng/Reimut Reiche, Modelle der kolonialen Revolution, Frankfurt/M. 1967; Jürgen Horlemann, Modelle der kolonialen Konterrevolution, Frankfurt/M. 1968.
"Die NATO ist die organisierte Zentrale des Imperialismus in Mittel- und Westeuropa zur Verhinderung der Emanzipation der produzierenden Massen. Innerhalb einer Anti-NATO-Kampagne hätten diese imperialistischen Praktiken ihren politischen Stellenwert." Rudi Dutschke, Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Befreiungskampf, in: Sibylle Plogstedt (Red.), Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus. Internationaler Vietnam-Kongress, 17./18. Februar 1968 West-Berlin, Berlin 1968, S. 115.
So die selbstkritische Formulierung des ehemaligen SDS-Bundesvorstandsmitglieds Peter Gäng, der mit seinen Publikationen damals als einer der Vietnam-Experten gegolten hatte: Werner Balsen/Karl Rössel, Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik, Köln 1986, S. 255.
Vgl. Joscha Schmierer, Die theoretische Auseinandersetzung vorantreiben und die Reste bürgerlicher Ideologie entschieden bekämpfen - Die Kritische Theorie und die Studentenbewegung, in: Rotes Forum, Nr. 1 vom 2. Februar 1970, S. 29-36.
Vgl. etwa den Band: Marx-Arbeitsgruppe Historiker (Hrsg.), Zur Kritik der politischen Ökonomie. Einführung in das "Kapital", Band I, Frankfurt/M. 1972.
Von exemplarischer Bedeutung waren Schriften wie: Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitals bei Karl Marx, Frankfurt/M. 1970.
Vgl. Frauen gegen den § 218. 18 Protokolle, aufgezeichnet von Alice Schwarzer, Frankfurt/M. 1971.
Vgl. Betty Friedan, Der Weiblichkeitswahn, Hamburg 1970; Germain Greer, Der weibliche Eunuch, Frankfurt/M. 1971; Kate Millett, Das verkaufte Geschlecht, München 1973; Shulamit Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt/M.1975.
Hans Magnus Enzensberger, Zur Kritik der politischen Ökologie, in: Kursbuch, 9 (1973) 33, S. 41.
Vgl. Holger Strohm, Friedlich in die Katastrophe, Hamburg 1973.
Vgl. zu den Anfängen dieser Protestbewegung Dieter Rucht, Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung, München 1980.
| Article | Wolfgang Kraushaar | 2022-01-06T00:00:00 | 2012-01-08T00:00:00 | 2022-01-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/68er-bewegung/51820/denkmodelle-der-68er/ | Die 68er-Bewegung war vor allem eines: Kritik an den bestehenden Verhältnissen - am Überkommenen, dem Traditionsbestand der Gesellschaft. Dabei wurden Argumente dem Marxismus, der Psychoanalyse oder der Kapitalismus- und Imperialismustheorie entnomm | [
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] | 31,012 |
Aufgaben des Bundestages | 24 x Deutschland | bpb.de | Die Vollversammlung aller Abgeordneten des Deutschen Bundestags nennt man Plenum. In den Plenarsitzungen finden die öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzungen statt. Diese Parlamentsdebatten dienen vor allem dazu, die Wähler über die verschiedenen Positionen der im Bundestag vertretenen Parteien zu informieren. Rederecht haben alle Abgeordneten sowie Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates. Zu besonderen Anlässen dürfen auch hohe Staatsgäste im Plenarsaal sprechen.
Die Dauer einer Debatte wird vom Ältestenrat festgesetzt. Wie viel Redezeit dabei die einzelnen Fraktionen enthalten, wird von deren Größe bestimmt: Je größer eine Fraktion, desto mehr Redeminuten stehen ihr zu. Welche Politiker sprechen dürfen, legen die Fraktionen selbst fest. Der Verlauf folgt dem Prinzip von Rede und Gegenrede: auf eine bestimmte Position soll eine abweichende Meinung folgen. Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrats dürfen jederzeit im Plenum das Wort ergreifen.
Das Plenum nimmt wichtige Kontrollrechte des Parlaments wahr: In aktuellen Stunden, großen Anfragen, Regierungsbefragungen und Fragestunden befassen sich die Abgeordneten mit aktuellen Themen oder fordern mündliche Stellungnahmen der Bundesregierung ein.
Im Plenum wird schließlich auch über Gesetzesvorlagen abgestimmt. Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist. Im Vorfeld einer Abstimmung haben die einzelnen Fraktionen meist bereits beschlossen, wie sie sich im Plenum verhalten wollen. In der Regel halten sich die Fraktionsmitglieder an den Mehrheitsbeschluss ihrer Fraktion (Fraktionsdisziplin). Allerdings kann kein Abgeordneter dazu gezwungen werden. Über Gesetze wird im Bundestag immer offen abgestimmt
In den Ausschüssen können die Abgeordneten in kleinerer Runde die Gesetzesvorlagen diskutieren und den hinzugezogenen externen Sachverständigen zuhören. Die Fraktionen entsenden die Experten unter ihren Abgeordneten in die Ausschüsse. Dieses geschieht entsprechend ihren Kräfteverhältnissen im Parlament. Die Ausschüsse erarbeiten die Vorlagen, die anschließend dem Plenum zur Abstimmung vorgelegt werden. Die anderen Fraktionsmitglieder werden durch ihre Vertreter in den Ausschüssen über die Vorlagen informiert und übernehmen häufig deren Rat.
Man unterscheidet zwischen den ständigen Ausschüssen und einer Anzahl von Ausschüssen, die nur im Bedarfsfall eine Rolle spielen. Diese werden wieder aufgelöst, nachdem sie ihre Aufgabe bewältigt haben. Im Grundgesetz ist nur die Bildung von Ausschüssen für Angelegenheiten der Europäischen Union, auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung festgeschrieben. Die Anzahl der ständigen Ausschüsse des Bundestages lag in der Legislaturperiode 2009-2013 bei 22. Oft entsprechen die Ausschüsse den in der Regierung vertretenen Fachministerien. Der größte Ausschuss des Bundestages ist der Haushaltsausschuss. Das Budget einer Bundesregierung wird durch das Parlament festgelegt. Der Haushaltsausschuss, der die Vorlage des Bundesfinanzministeriums berät, ist also sehr wichtig.
Eine Besonderheit stellt der Gemeinsame Ausschuss dar. Dieser 48 Mitglieder umfassende Ausschuss besteht zu zwei Dritteln aus Vertretern des Bundestages und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates. Der Gemeinsame Ausschuss stellt eine Art Notparlament für den Fall dar, dass im Verteidigungsfall der Bundestag nicht rechtzeitig zusammentreten kann. Auch im Vermittlungsausschuss ist der Bundesrat vertreten. Seine Aufgabe ist es, einen Kompromiss zwischen beiden Verfassungsorganen in den Fällen zu finden, in denen ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz keine Zustimmung im Bundesrat erhält.
Der Petitionsausschuss hingegen ist der einzige Ausschuss des Parlaments, der sich nicht mit dem direkten parlamentarischen Arbeitsprozess beschäftigt, sondern eine Anlaufstelle für die Bürger bildet. Das Grundgesetz garantiert die Möglichkeit der Beschwerde oder Eingabe an das Parlament als ein Grundrecht. Im Petitionsausschuss werden diese Eingaben geprüft und bearbeitet. Manchmal kann seine Arbeit den Missstand bereits aufheben, in anderen Fällen kommt es zu einer Behandlung des Problems im Bundestag.
Das Parlament ist ebenfalls für die Gesetzgebung, die Verabschiedung des Haushalts und die Schaffung einer Regierung durch die Wahl des Bundeskanzlers zuständig. Eine weitere Hauptaufgabe ist die Kontrolle der Exekutive. Hierzu dienen nicht zuletzt Untersuchungsausschüsse. Ein solcher Untersuchungsausschuss kann durch Antrag von einem Viertel der Abgeordneten erzwungen werden. Diese in der Regel öffentlich tagenden Sonderausschüsse werden oft bei sehr kontroversen Missständen oder einem vermuteten Fehlverhalten staatlicher Stellen oder Personen (z.B. von Abgeordneten, Regierungsmitgliedern oder Beamten) eingesetzt. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-10-26T00:00:00 | 2011-11-12T00:00:00 | 2021-10-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/24-deutschland/40441/aufgaben-des-bundestages/ | Der Bundestag ist eine Mischform aus Arbeitsparlament und Redeparlament. Im Plenum finden richtungweisende politische Debatten statt. Und "hinter den Kulissen" arbeiten die Ausschüsse. | [
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] | 31,013 |
Täglich Infos zur Bundestagswahl aufs Smartphone | Presse | bpb.de | „Vor 40 Jahren war die Wahlbeteiligung noch rund 20% höher. […) Hier findest du noch mehr Argumente fürs Wählen: Externer Link: https://wahlbingo.bpb.de“
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] | 31,014 |
Genfer Protokoll zum Verbot chemischer und biologischer Waffen | Hintergrund aktuell | bpb.de | 36 Staaten unterzeichneten am 17. Juni 1925 in der Schweiz das Genfer Protokoll über das "Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege". Das bis heute gültige Protokoll verbietet den Einsatz Interner Link: chemischer und Interner Link: biologischer Waffen im Krieg, diese zu entwickeln, herzustellen und zu besitzen, ist jedoch ebenso erlaubt wie sie zu Vergeltungszwecken einzusetzen.
Das Genfer Protokoll gehört zu den seit 1864 stetig weiterentwickelten völkerrechtlichen Regelungen zur Kriegsführung. Ein erstes Externer Link: Verbot von "Gift oder vergifteten Waffen" enthielt bereits die Haager Landkriegsordnung von 1899. Dennoch wurden chemische und biologische Massenvernichtungswaffen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in immer größerem Ausmaß entwickelt und verbreitet.
Die Schrecken der Giftgasangriffe als Anlass für das Genfer Protokoll
An der Westfront 1917: Deutsche Soldaten und ein Maultier mit Gasmasken. (© picture-alliance/akg)
Die Bereitschaft der Staaten, sich auf ein Verbot chemischer und biologischer Waffen zu verständigen, hat ihren Interner Link: Ursprung im Ersten Weltkrieg. In dessen Verlauf wurden rund 120.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe eingesetzt, erstmal 1915 von Deutschen Truppen in der Schlacht bei Ypern. In der Folge solcher Angriffe kamen nach Schätzungen Interner Link: bis zu 100.000 Soldaten ums Leben und etwa 1,2 Millionen wurden verwundet.
Vor diesem Hintergrund diskutierten die Staaten auf einer Konferenz zur Überwachung des internationalen Waffenhandels, die im Juni 1925 in der Schweiz stattfand, über eine Ächtung chemischer Kampfstoffe. Im Laufe der Verhandlungen wurden auch biologische Waffen in das Verbot einbezogen. Zu den Erstunterzeichnern des Genfer Protokolls gehörten unter anderem Deutschland, Frankreich, die USA und Japan. Das Protokoll trat am 28. Februar 1928 in Kraft. Deutschland ratifizierte es 1929. Bis heute sind dem völkerrechtlichen Vertrag Externer Link: 138 Staaten beigetreten.
Völkerrechtlicher Vertrag mit Lücken
Der Vertragstext des Protokolls wies von Beginn an Schwächen auf. Es waren weder Kontrollmechanismen für dessen Einhaltung noch Strafmaßnahmen für den Fall eines Vertragsbruchs festgelegt. Bei der Ratifizierung machten die meisten Staaten zudem Vorbehalte geltend – gegenüber Staaten, die das Protokoll nicht unterschrieben hatten, sahen sie sich nicht verpflichtet, auf den Einsatz von chemischen Waffen zu verzichten. Einige der Erstunterzeichnerstaaten, darunter die USA, wollten sich den Einsatz bestimmter Giftgase weiter offen halten und ratifizierten den Vertrag erst in den 1970er Jahren.
Giftgaseinsätze im 20. und 21. Jahrhundert
Trotz der Bestimmungen des Genfer Protokolls kam es Interner Link: im 20. Jahrhundert wiederholt zum Einsatz chemischer Kampfstoffe. So setzte beispielsweise Italien in den 1920er-Jahren Chemiewaffen in Libyen und in den 1930er-Jahren in Äthiopien ein und tötete zehntausende Menschen. Während des Zweiten Weltkriegs setzte Japan Chemiewaffen im Krieg gegen China ein. Die Nationalsozialisten ermordeten Millionen Menschen in den Gaskammern der Konzentrationslager mit dem Gas "Zyklon B".
Bis heute wurden und werden chemische Kampfstoffe in Kriegen und Konflikten eingesetzt: Der Irak ging etwa im Verlauf des Golfkriegs von 1980 bis 1988 mit Giftgas gegen iranische Truppen und später gegen die kurdische Zivilbevölkerung im eigenen Land vor. Im Jahr 2011 soll die Türkei Chemiewaffen gegen PKK-Kämpfer eingesetzt haben, und im August 2013 wurden in Syrien bei einem Interner Link: Giftgaseinsatz nahe Damaskus mehr als 1400 Menschen getötet.
Umfassendes Verbot erst Jahrzehnte später
Die Lücken des Genfer Protokolls wurden erst nach und nach geschlossen. Bereits seit den 1960er-Jahren bemühten sich die Vereinten Nationen um einen Nachfolgevertrag zum Verbot von chemischen und biologischen Waffen. Mitverantwortlich dafür war der Einsatz des chemischen Kampfmittels "Agent Orange" durch die USA im Vietnamkrieg.
Die Blockfreien Staaten und die Sowjetunion plädierten dafür, das Verbot von chemischen und biologischen Waffen in einem gemeinsamen Vertrag oder zumindest gleichzeitig zu regeln. Interner Link: Dies lehnten die USA und andere westliche Mächte ab. Insbesondere die USA waren anders als bei biologischen Kampfstoffen vom militärischen Nutzen chemischer Waffen überzeugt und daher bereit, einem separaten Biowaffenvertrag beizutreten.
1971 machte die Sowjetunion mit ihrer Zustimmung zu einer Entkopplung des Chemie- und Biowaffenvertrages den Weg für die Biowaffenkonvention frei. Diese trat 1975 in Kraft und wurde bis heute von Externer Link: 171 Staaten ratifiziert. Sie verbietet nicht nur den Einsatz von Biowaffen, sondern auch deren Herstellung, Lagerung, Besitz und Verkauf. Vorhandene Bestände müssen vernichtet werden. Kontrollen und Strafmaßnahmen bei Verstößen sind jedoch nicht vorgesehen.
Chemiewaffenkonvention erst nach Ende des Kalten Krieges
Das Ende des Ost-West-Konflikts machte schließlich den Weg für eine eigene Interner Link: Chemiewaffenwaffenkonvention frei. Diese wurde 1993 unterzeichnet und trat 1997 in Kraft. Externer Link: 190 Staaten haben sie ratifiziert.
Das Abkommen verbietet den Einsatz, die Herstellung, den Besitz und die Weitergabe von Chemiewaffen und verlangt die Vernichtung bestehender Arsenale. Anders als bei der Biowaffenkonvention wurde eine Organisation eingesetzt, die die Umsetzung der Konvention kontrolliert. Die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons, OPCW), die auch die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen überwachte, Interner Link: erhielt 2013 für ihre Arbeit den Friedensnobelpreis.
Gefahr durch Terroristen
Seit dem Ende des Kalten Kriegs wurden chemische und biologische Kampfstoffe mehrmals bei Terroranschlägen eingesetzt, so z.B. bei einem Interner Link: Sarin-Anschlag auf die U-Bahn in Tokio 1995. Interner Link: Briefe mit Milzbranderregern sorgten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 für Panik in den USA. Deutschland und andere Staaten forschen an Abwehrmechanismen, um für den Fall eines terroristischen Bio- oder Chemiewaffenanschlags gewappnet zu sein. Die Biowaffenkonvention erlaubt die Interner Link: Erforschung potenziell waffentauglicher Erreger, wenn diese durch "Vorbeugungs-, Schutz- oder sonstige friedliche Zwecke" gerechtfertigt ist.
Mehr zum Thema:
Interner Link: Ulrich, Bernd: Strategien und Waffen im industrialisierten Krieg Interner Link: Neitzel, Sönke: Der Historische Ort des Ersten Weltkriegs in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Interner Link: Hintergrund Aktuell (16.9.2013): Syrien will Chemiewaffen kontrollieren lassen Interner Link: Hintergrund Aktuell (23.7.2014): 1929: Etappenerfolg für das humanitäre Völkerrecht
An der Westfront 1917: Deutsche Soldaten und ein Maultier mit Gasmasken. (© picture-alliance/akg)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-08-31T00:00:00 | 2015-06-15T00:00:00 | 2021-08-31T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/208302/genfer-protokoll-zum-verbot-chemischer-und-biologischer-waffen/ | Vor 90 Jahren wurde das Genfer Protokoll unterzeichnet und damit der Einsatz chemischer und biologischer Kampfstoffe im Krieg verboten. Bis heute haben sich dem Vertrag 138 Staaten angeschlossen. | [
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] | 31,015 |
Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung | Gemeinsame Nachkriegsgeschichte? | bpb.de | Einleitung
Eine deutsche "Erfolgsgeschichte" ohne die DDR? Auf den ersten Blick scheint es ohne Weiteres möglich zu sein, eine Geschichte der alten Bundesrepublik zu schreiben, in der die DDR nicht vorkommt. Zumindest gilt dies für die Zeit vom Ende der 1970er Jahre bis zum Umbruch 1989/90. In der alten Bundesrepublik hatte sich eine Anschauung durchgesetzt, die den eigenen Staat nicht mehrals Provisorium betrachtete, sondern als Dauerlösung. Die Bundesrepublik hatte ihren Ort in der Geschichte gefunden und ihre Identität ausgebildet. Sie begriff sich als souveräner Teilstaat mit eigener Staatsräson, eigenen Traditionen und einer eigenen westdeutschen Geschichte. Letztere, der im Übrigen auch eine sehr eigene Form der "Vergangenheitsbewältigung" entsprach, ließ sich in den 1980er Jahren aufwändig gestaltet präsentieren und sogar im Museum ausstellen.
Überdies verfügte die alte Bundesrepublik über eine zwar teilstaatlich strukturierte, dafür aber zunehmend griffige "Meistererzählung". Einprägsam von der "Erfolgsgeschichte" des westdeutschen Teilstaates handelnd, stand sie im Mai 1989 im Mittelpunkt des öffentlichen Gedächtnisses und wirkte über die Zäsur 1989/90 fort. Das Narrativ der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte integriert auch gegensätzliche Traditionsbestände und widersprüchliche Potenziale mehr oder minder problemlos. Selbst schwerste historische Konflikte, an denen es der Geschichte der alten Bundesrepublik keineswegs mangelte, verwandeln sich im Rückblick in eine harmonische Gesamtschau. Die Geschichte der DDR spielt in dieser Meistererzählung keine eigenständige Rolle. Sie dient höchstens als Negativ- und Kontrastfolie für die eigene Identität und interessiert in erster Linie, um zu ergründen, "warum sie keine Zukunft hatte".
Auch alltagsgeschichtlich hatte sich der größte Teil der westdeutschen Bevölkerung auf Dauer im Provisorium Bundesrepublik eingerichtet. Ende der 1980er Jahre dominierte der Optimismus, den die Pluralisierung der massenkulturellen Möglichkeiten bewirkt hatte; vor allem in den Entfaltungsbereichen des Individuums, in Freizeit und Alltag, waren "unsere Wünsche und Hoffnungen fast gegen alle Erwartungen übertroffen" worden. In solch einer komfortablen Situation der veralltäglichten Bequemlichkeit war die DDR, sofern nicht familiäre Bindungen bestanden, aus dem Gesichtskreis der Westdeutschen weitestgehend verschwunden.
Eine Ausnahme waren die deutsch-deutschen Beziehungen; als wesentliches Element der westdeutschen (Außen-)Politik kam ihnen zumindest phasenweise eine gewisse Bedeutung zu. Insgesamt allerdings blieb auch die Deutschlandpolitik ein Feld für Spezialisten, mit dem überdies wenig politisches Prestige zu gewinnen war. Bedeutsam wurde es immer dann, wenn es mit Sensationen lockte und parteitaktischen Vorteil versprach. Wenn es zum Beispiel zwei ostdeutschen Familien 1979 gelang, mit einem selbst gebastelten Heißluftballon bei Naila über die innerdeutsche Grenze zu flüchten, so war das Interesse nicht nur der westdeutschen, sondern der weltweiten Öffentlichkeit gewiss. Und wenn 1983 ein bundesdeutscher Geschäftsmann am Kontrollpunkt Drewitz an Herzversagen starb, so gab dies einem bayerischen Ministerpräsidenten die Gelegenheit, medienwirksam einen "Mord" zu beklagen - was denselben Ministerpräsidenten freilich nicht daran hinderte, nur wenig später Erich Honecker in der DDR zu besuchen, sich im Glanz des erfolgreichen Deutschlandpolitikers zu sonnen und einen "Milliardenkredit" einzufädeln.
Diese Art der Deutschlandpolitik blieb weitestgehend gouvernemental und durch diskrete Verhandlungen von Regierung zu Regierung bestimmt. Demgegenüber fanden westdeutsche Politiker, die wie Gert Weisskirchen oder Eduard Lintner den direkten Kontakt zur Opposition in der DDR suchten, in ihren Parteien kaum Unterstützung, ja sie wurden sogar behindert. In der breiteren bundesrepublikanischen Öffentlichkeit spielte die Deutschlandpolitik vor allem dann eine Rolle, wenn sie einen medial vermittelten Event-Charakter annahm. Die maßgeblichen Vektoren der Geschichte schienen ganz anders gestellt zu sein: Für die Politik wie für die Alltagskultur waren Paris, London und Washington weitaus näher als Ost-Berlin, die italienische Riviera attraktiver und viel leichter erreichbar als Mecklenburg-Vorpommern. Herausforderungen für die Geschichtswissenschaft
Was bedeutet das für die Geschichtswissenschaft? Sie sollte dreierlei nicht tun. Erstens muss sie der Versuchung widerstehen, der Geschichte der Bundesrepublik (alt) ex post einen wiedervereinigungsgeschichtlichen Subtext einzuschreiben. So sehr das Datum 1989/90 dazu verlockt, der Geschichte einen teleologischen Verlauf zu unterstellen, so wenig hat es einen solchen Subtext gegeben. Die Wiedervereinigung kam überraschend, und sie wurde in vieler Hinsicht quer zur bundesdeutschen "Identität" auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Zweitens muss die Geschichtsschreibung der Versuchung widerstehen, die Meistererzählung von der "Erfolgsgeschichte" fortzuschreiben. Allzu schnell würde die deutsche Geschichte nach 1945 zu einer "Whig interpretation of history" mutieren, welche ihre Kriterien, Problemstellungen und Auswahlmechanismen der Perspektive des Jahres 1990 unterordnete. Eine solche Verkürzung trüge bald mythologischen Charakter. Die DDR würde historiographisch als ein von Beginn an dem Untergang geweihter Staat betrachtet und damit, im Sinne einer negativen Teleologie, aus der gemeinsamen Nachkriegsgeschichte ausgemeindet. Aufgabe der Geschichtswissenschaft sollte es sein, die bundesrepublikanische Meistererzählung ebenso wie die negative Teleologie der DDR zu dekonstruieren, ihre Elemente zu sichten und in den historischen Kontext zu stellen.
Eine dritte Versuchung, der die deutsche Zeitgeschichte widerstehen sollte, liegt in dem Anspruch selbst begründet, eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte zu entfalten. Denn eine solche Geschichte ist nicht ohne Weiteres verfügbar. Bei nüchterner historischer Betrachtung stehen ihr zu viele sperrige Elemente sowie widersprüchliche und inkompatible Entwicklungen entgegen. Leicht geriete daher der Anspruch auf Gemeinsamkeit in die Gefahr, ein Übermaß an Einheitlichkeit zu konstruieren und die deutsche Geschichte nach 1945 einer neuen sinnstiftenden Meta- oder "Meistererzählung" unterzuordnen.
In dem Maße aber, in dem die Geschichtswissenschaft den teleologischen Verlockungen des Jahres 1989/90 ebenso wie dem Postulat der Einheitlichkeit widersteht, wird sie offen für neue Gegenstände aus eigenem Recht. Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Geschichte der DDR einer "Verinselung" anheim fällt, und zugleich kann sie von den transnationalen Chancen einer "Europäisierung" der Zeitgeschichte profitieren. Eine entteleologisierte deutsche Zeitgeschichte vermag daher nach weniger offenkundigen, aber vielleicht hoch wirksamen Kräften deutsch-deutscher Vergemeinschaftung zu fahnden. Ins Blickfeld sollte ein gemeinsamer Erfahrungs- und auch Handlungsraum rücken, der beide deutschen Staaten, Gesellschaften und Kulturen umfasst, die Chance bietet, den Panzer des Systemgegensatzes aufzubrechen, und sich nicht in einer bloßen Parallelgeschichte erschöpft. Eine moderne deutsche Nachkriegsgeschichte wird den sterilen, in den 1970er Jahren modischen "Systemvergleich" hinter sich lassen, zugleich aber auch den politisch-ideologischen Systemgegensatz zumindest nicht so weit überpointieren, dass er den Blick auf den gemeinsamen Erfahrungsraum verstellt.
Tragfähig scheint das von Christoph Kleßmann vorgeschlagene Konzept einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" zu sein, zumindest solange, wie die dezidiert trennenden und inkommensurablen Elemente im deutsch-deutschen Verhältnis nicht unter den Tisch fallen. Aus dem Katalog der von Kleßmann in die Diskussion gebrachten sechs "Leitlinien einer integrierten Nachkriegsgeschichte" bietet sich im Besonderen das Stichwort "Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften" zur Ausdifferenzierung an. Hieran anknüpfend, aber auch modifizierend, seien beispielhaft drei mögliche Untersuchungsfelder genannt, in denen der oben genannte gemeinsame Erfahrungsraum konstituiert werden könnte. Strukturwandel, Arbeitsgesellschaft und Sozialpolitik
Weltwirtschaftlich vollzog sich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre der forcierte Strukturwandel vom Industriezeitalter in das Zeitalter der Neuen Technologien und der Dienstleistungsgesellschaft. Die Wucht dieses Wandels traf beide deutschen Staaten; aber je länger desto mehr zeigte sich, dass die Zentralverwaltungswirtschaften des Ostblocks diesen Wandel nicht zu bewältigen vermochten. Die Sowjetunion und ihr Imperium waren zwar in der Lage, den schwerindustriellen Zyklus mitzumachen und auch im Bereich der Atomenergie den Anschluss an den Westen zu halten. Mit dem weltweiten Krisenzyklus und dem Niedergang der Schwerindustrie verschärften sich die systemimmanenten Schwächen der Planwirtschaft auf dramatische Weise. Industrieproduktion, Arbeitsproduktivität und Einkommen gerieten in eine lähmende Wachstumshemmung. Innovative Impulse fehlten. Gegenüber dem Westen, der den Übergang zur "postindustriellen" Gesellschaft forcierte, verlor der Ostblock definitiv den Anschluss.
Eine Strukturgeschichte der internationalen Beziehungen wird hier wesentliche Antriebskräfte für das Ende des Kalten Krieges erblicken. Zugleich griffe es freilich zu kurz, im Sinne der oben zurückgewiesenen Teleologie einfach die ökonomische Überlegenheit des Westens zu konstatieren. Tatsächlich zog der Strukturwandel auch hier ausgesprochen schmerzhafte Anpassungsprozesse nach sich, die im Falle der deutschen Zeitgeschichte die vergleichende Perspektive erheischen. Forschungsstrategisch heißt dies, dass Themen wie die westliche "Krise der Arbeitsgesellschaft" und die "verdeckte" Arbeitslosigkeit in der DDR zum Ausgangspunkt vergleichender Problemstellungen erhoben werden sollten. Ebenso lässt sich nach dem Fortwirken "industrieller" Mentalitäten fragen, die den Strukturwandel möglicherweise behinderten. Zu denken wäre auch an den zeitversetzten Vergleich von Regionen mit beschleunigter Entindustrialisierung wie dem Ruhrgebiet während der 1970er und 1980er und ausgewählten Industriegebieten in den neuen Bundesländern wie etwa dem mitteldeutschen Chemiedreieck während der 1990er Jahre.
Schließlich sollte die auffällige Intensität diskutiert werden, mit der beide Staaten nach Legitimation durch Sozialpolitik strebten. Zu fragen wäre in diesem Kontext nach den gemeinsamen Wurzeln deutscher Sozialstaatlichkeit, aus denen nach 1945 zwar systemspezifisch höchst differente, faktisch aber parallele Politiken und Legitimationsmuster erwuchsen. Das Problem, inwieweit hier in beiden deutschen Staaten ältere "Pfadabhängigkeiten" zur Geltung kamen, verweist auch auf die Geschichte des wiedervereinigten Deutschland, in dem ja die sozialstaatliche Legitimität im Hinblick auf die krisenhafte Integration der neuen Bundesländer eine entscheidende Rolle spielt. Individualisierung und Wertewandel
Auch der Basisprozess der gesellschaftlichen Individualisierung sollte in eine gesamtdeutsche Perspektive gestellt werden. In einem weiteren Sinne bezieht sich dieser Sammelbegriff auf eine grundlegende Bewegungsrichtung der Moderne, evoziert also sehr allgemeine Fragen der Verfasstheit moderner Massengesellschaften. Im konkreteren Sinne fokussiert der Begriff jenes Bündel von Veränderungen, die seit den 1970er Jahren einen fundamentalen soziokulturellen Wandel der westlichen Gesellschaften bewirkten. Zunehmend losgelöst aus traditionellen Bindungen und Rollen, sah sich der Einzelne herausgefordert, seinen eigenen Lebenslauf zu konstruieren. Lebensentscheidungen mussten außerhalb traditionell normierter Sozialbezüge bewusst "geplant" werden. Wenn diese Situation auch neue Freiheiten versprach, so generierte sie doch zugleich neue Risiken, zumal, wenn Individualisierung auch die Freisetzung aus bekannten Versorgungssicherheiten bedeutete. Umstritten bleibt dabei, wie weit dies mit einem Übergang zu "postmaterialistischen" Werten korrespondierte oder inwiefern nicht eher mit Helmut Klages von einer Veränderung der Ich-Umwelt-Relation im Sinne der Verschiebung von "Pflicht- und Akzeptanzwerten" hin zu "Selbstentfaltungswerten" gesprochen werden sollte.
Zwar steht für die DDR demoskopisches und sozialwissenschaftliches Datenmaterial nicht in dem Maße zur Verfügung wie für die Bundesrepublik; aber auch wenn die Quellenlage zum Teil unterschiedliche methodische Herangehensweisen erfordert, dürfte eine vergleichende Betrachtungsweise des Erfahrungsraumes Individualisierung und Wertewandel erheblichen Gewinn versprechen. Ins Zentrum gerückt werden insbesondere Probleme der Geschlechtergeschichte, der Familienstrukturen sowie des generativen Verhaltens. So beschränkte sich die so genannte "zweite demographische Transition", das heißt der säkulare Geburtenrückgang seit den 1970er Jahren, keineswegs auf die westlichen Gesellschaften. Auch die Frage, inwieweit das kommunistische Leitbild der vollständig in den Arbeitsprozess integrierten Frau mit der westlichen Forderung nach weiblicher "Selbstverwirklichung" korrespondierte, würde auf den genannten gesamtdeutschen Erfahrungsraum verweisen. Massenkultur und Konsumgesellschaft
Kein Zweifel kann daran bestehen, dass das westliche Freiheitsversprechen, basierend auf Individualisierung, Wertewandel und Massenkultur, tief in die DDR hineinwirkte. So wurde das "Westfernsehen" zu einer Art gesamtdeutschem Fernsehen und trug enorm zur innerdeutschen "Nationsbildung" bei. Mit dem Fernsehen ragte das westliche Konsum- und Freizeitversprechen wie ein Schaufenster und in geradezu paradiesischer Verdichtung in die DDR hinein.
In beiden Staaten wurden Konsum und Freizeit zu Leuchttürmen des Alltags und implizierten eine systemspezifisch jeweils unterschiedliche Antwort auf die Frage nach der kulturellen Verankerung moderner Massengesellschaften. Eine historische Theorie der Konsumgesellschaft könnte sich an einem Dreiphasenmodell orientieren, wobei sich selbstverständlich breite Überlappungen ergeben: Auf die Entfaltung der industriellen Klassengesellschaft folgte zunächst eine kulturelle Nivellierung durch Massenkonsum. Erst ihr Durchbruch in einer zu Überfluss und Uniformierung tendierenden Konsumgesellschaft eröffnen dem Individuum neue Möglichkeiten zur Identitätsbildung. Die soziale Konstruktion von Individualität, jenes entscheidende Kennzeichen der Moderne, erfolgt in der Konsumgesellschaft also nicht mehr wie in den vormodernen Gesellschaften durch die Mentalität der Produzenten; vielmehr ergibt sie sich aus der aktiven (Kauf-) Wahl und Inszenierung mittels Konsum, der zuallererst die Welt der "feinen Unterschiede" begründet.
Beide deutschen Staaten unterlagen auf jeweils spezifische und zugleich auf "asymmetrisch verflochtene" Weise dem Paradigma der modernen Konsumgesellschaft. Nach einer langen, in Deutschland besonders hartnäckig persistierenden Periode der Verbraucherkritik und der Ächtung der Konsumgesellschaft etablierte sich in der Bundesrepublik der Konsum bald als legitime, ja notwendige Lebensäußerung. Konsum trat als Möglichkeit individueller Distinktion hervor, er wurde zum "Medium der Individualisierung", mittels dessen sich personale oder auch regionale "Identität" entfalten ließ. In Anlehnung an amerikanische Vorbilder fand nun auch die Vorstellung einer "Konsumentenrepublik" Eingang, bestehend aus mündigen "Kunden-Bürgern", die durch Konsum sowohl ihre persönlichen Wünsche wie auch ihre bürgerlichen Pflichten erfüllten.
In der DDR spielte der Konsum eine prekäre Rolle zwischen Herrschaftslegitimation und Partizipationssehnsucht. Konsumpolitischer Anspruch des Regimes und die karge Realität der Praxis lagen weit auseinander. Die Verheißungen des Regimes von einer besseren Zukunft prallten auf notorisch enttäuschte Konsumerwartungen. Das sich hieraus ergebende Wechselspiel von staatlichen Vorgaben und gesellschaftlicher Reaktion gehörte von Beginn an zu den Strukturelementen der DDR-Geschichte und bildete auch einen Subtext des Volksaufstands vom 17. Juni 1953. Realökonomisch entfaltete sich die moderne Konsumgesellschaft zwar allein im Westen, aber ihre Auslagen waren auch in der DDR zu sehen. Mithin bildeten Massenkultur und Konsumgesellschaft einen im Einzelnen noch näher zu bestimmenden gesamtdeutschen Erfahrungsraum. Gerade die Jugend der 1980er Jahre in der DDR war in vielfältiger und komplexer Weise den Strömungen der westeuropäischen, insbesondere der bundesrepublikanischen Gesellschaft unterworfen. Dies galt sowohl für das steigende Bedürfnis nach Offenheit und politischer Partizipation als auch für die Rückwirkungen von Mode- und Individualisierungstrends.
"Vielen Werktätigen", so ein SED-interner Erfahrungsbericht vom Januar 1989, bereitet es Probleme, "sich offensiv mit Erscheinungen in der BRD auseinanderzusetzen. (...). Von einer nach außen hin scheinbar funktionierenden Konsumgesellschaft zeigen sich viele beeindruckt. Sie äußern sich zum Warenangebot, dem Verkaufsniveau, vorhandenen Dienstleistungen, der angeblichen Sauberkeit der Städte und vielen anderen Erscheinungen mehr, im Vergleich zu unserer sozialistischen Umwelt. Fragen werden gestellt, warum wir, obwohl wir doch auch viel arbeiten, nicht in gleicher Weise z.B. so ein Warenangebot sichern können." Die Aussicht auf politische Freiheit und auf Steigerung des persönlichen Konsums in der und durch die Bundesrepublik trug entscheidend dazu bei, dass der Zusammenbruch der DDR und die darauf folgende Vereinigung friedlich verliefen. Den gemeinsamen Erfahrungsraum vermessen
Alles dies sind Elemente eines gemeinsamen Erfahrungsraums, der die Deutschen wahrscheinlich weitaus enger zusammenhielt, als sie sich bewusst waren. Auch reichte dieser Erfahrungsraum wesentlich weiter als die bloßen Intentionen der politischen Akteure. Ihn historiographisch zu vermessen heißt, eine gemeinsame Nachkriegsgeschichte jenseits des Studiums von Deutschlandpolitik und politischem Systemvergleich zu betreiben.
Auch braucht ein solcher Ansatz den - didaktisch freilich stets zu markierenden - Systemgegensatz von Demokratie und Diktatur nicht übermäßig zu betonen. Vielmehr gilt es den Raum mittels pragmatischer Problemstellungen und Forschungen auszuleuchten. Eine im engeren Sinne integrierte deutsche Nachkriegs- oder gar Nationalgeschichte wird damit noch keineswegs erreicht, und sie sollte auch nicht unbedingt das wissenschaftliche Leitmotiv sein. Anzustreben ist aber die größtmögliche Vielzahl von Einsichten in eine gemeinsame, wenn auch asymmetrische deutsche Nachkriegsgeschichte.
Vgl. Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998. Dagegen Martin Sabrow, Die NS-Vergangenheit in der geteilten deutschen Geschichtskultur, in: Christoph Kleßmann/Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Bonn 2006, S. 132 - 151, der von einer "realgeschichtlichen Verflechtung" und "Phasenparallelität" im Umgang mit der Vergangenheit in beiden deutschen Staaten spricht.
Vgl. z.B. Heinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. II: Deutsche Geschichte vom "Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Zu Begriff und Diskussion der "Meistererzählung" vgl. Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002. Kritisch zur "Erfolgsgeschichte": Konrad H. Jarausch, "Die Teile als Ganzes erkennen". Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 1 (2004) 1, www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Jarau sch-1 - 2005, Abschnitt 2 (12.12. 2006).
Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 677.
Allensbacher Berichte, (1990) 5, S. 2.
Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982 - 1990, München 2006, S. 594 - 598.
Vgl. insbes. Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982 - 1989, Stuttgart 1998.
Vgl. Wilhelm Knabe, Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluss der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: Materialien derEnquete-Kommission, Bd. VII, 2, S. 1110 - 1202; A.Wirsching (Anm. 5), S. 627.
Anregungen bei: Andreas Rödder, Das "Modell Deutschland" zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ), 54 (2006), S. 345 - 363.
Vgl. Thomas Lindenberger/Martin Sabrow, Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte, in: Deutschland Archiv (DA), 37 (2004) 1, S. 123 - 127. Vgl. auch: Henrik Bispinck u.a., Die Zukunft der DDR-Geschichte. Potentiale und Probleme zeithistorischer Forschung, in: VfZ, 53 (2005), S. 547 - 570; Ulrich Mählert/Manfred Wilke, Die DDR-Forschung - ein Auslaufmodell? Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989, in: DA, 37 (2004) 3, S. 465 - 474.
Vgl. Christoph Kleßmann, Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2005) 18 - 19, S. 3 - 11, sowie ders., Spaltung und Verflechtung - Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: ders./P. Lautzas (Anm. 1), S. 20 - 37. Vgl. auch die Einleitung der Herausgeber in: Arnd Bauerkämper/Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945 - 1990, Bonn 1998, S. 12 - 15. Zur Kritik siehe Hermann Wentker, Zwischen Abgrenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, in: APuZ, (2005) 1 - 2, S. 10 - 17.
Ch. Kleßmann, Konturen (Anm. 10) u. Spaltung (ebd.). Die weiteren "Leitlinien": "Chance zum Neubeginn", "Blockbildung und innere Folgen", "Eigendynamik der beiden Staaten", "Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung" sowie "Erosionserscheinungen".
Vgl. David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 497 - 501; Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt/M. 1999, S. 172ff.
Vgl. H. Wentker (Anm. 10), S. 15f.
Vgl. Dierk Hoffmann, Leistungsprinzip und Versorgungsprinzip: Widersprüche der DDR-Arbeitsgesellschaft, in: ders./Michael Schwartz (Hrsg.), Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49 - 1989, München 2005, S. 90 - 113.
Vgl. Andreas Wirsching, Politische Generationen, Konsumgesellschaft, Sozialpolitik. Zur Erfahrung vonDemokratie und Diktatur in Zwischenkriegszeit undNachkriegszeit, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 43 - 64, hier S. 59 - 63; Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006.
Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine neue Moderne, Frankfurt/M. 1986; A. Wirsching (Anm. 5), S. 313 - 328.
Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing values and political styles among western publics, Princeton/N.J. 1977; Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/M.-New York 1985(2); ders., Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt/M.-New York 1993.
Vgl. Michael Schwartz, Emanzipation zur Nützlichkeit: Bedingungen und Grenzen von Frauenpolitik in der DDR, in: D. Hoffmann/ders. (Anm. 14), S. 47 - 87; Dirk J. van de Kaa, Europe's Second Demographic Transition, in: Population Bulletin, 42 (1987) 1.
Vgl. Axel Schildt, Zwei Staaten - eine Hörfunk- und Fernsehnation. Überlegungen zur Bedeutung der elektronischen Massenmedien in der Geschichte der Kommunikation zwischen der Bundesrepublik und der DDR, in: A. Bauerkämper u.a. (Anm. 10), S. 58 - 71.
Vgl. Christoph Kleßmann (Hrsg.), The Divided Past. Rewriting Post-War German History, Oxford-New York 2001.
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982, S. 405ff.
Vgl. exemplarisch Detlef Briesen, Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.-New York 2001.
Hannes Siegrist, Regionalisierung im Medium des Konsums, in: Comparativ, 11 (2001), S. 7 - 26, hier S. 9.
Vgl. Sheryl Kroen, Der Aufstieg des Kundenbürgers? Eine politische Allegorie für unseres Zeit, in: Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluß. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, S. 533 - 564, v. a. S. 555.
Vgl. zur Konsumpolitik der DDR Stephan Merl, Sowjetisierung in der Welt des Konsums, in: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945 - 1970, Frankfurt/M. 1997, S. 167 - 193; Philipp Heldmann, Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks. Konsumpolitik in derDDR der Sechzigerjahre, Göttingen 2004; Judd Stitzel,Von "Grundbedürfnissen" zu "höheren Bedürfnissen"? Konsumpolitik als Sozialpolitik in der DDR, in: D. Hoffmann/M. Schwartz (Anm. 14), S. 135 - 150; Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001.
Vgl. Philipp Heldmann, Negotiating Consumption in a Dictatorship: Consumption Politics in the GDR in the 1950s and 1960s, in: Martin Daunton/Matthew Hilton (Eds.), The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford u.a. 2001, S. 185 - 202.
Vgl. die Expertise des Direktors des Zentralinstituts für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig, Walter Friedrich, für Egon Krenz vom 21.11. 1988, in: Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, Dok. 6, S. 39 - 53.
Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv, Berlin, DY 30 IV 2/ 2 309 (Büro Krenz), Nr. 309, Bl. 13, Schreiben des Armeegenerals Dickel an Egon Krenz, 16.1. 1989.
| Article | Wirsching, Andreas | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30711/fuer-eine-pragmatische-zeitgeschichtsforschung/ | Nicht eine integrierte Nachkriegs- oder gar Nationalgeschichte, sondern die größtmögliche Vielzahl von Einsichten in eine gemeinsame, wenn auch asymmetrische deutsche Nachkriegsgeschichte sollte Leitmotiv der Zeitgeschichtsforschung sein. | [
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"Abschied von Schwarzrotgold"? | Russland | bpb.de | Der gemeinsame Fototermin der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sorgte nur wenige Wochen vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland bei vielen Vertretern aus dem gesamten politischen Spektrum für Kritik – exemplarisch auch in den Reihen der Interner Link: Neuen Rechten. Für die Junge Freiheit (JF), in der seit Jahrzehnten neurechte Positionen ausformuliert werden, bot der Fall die Gelegenheit für eine grundsätzliche Einlassung. "Kein Gauland, kein Pegida-Protest hätte die Integrationslüge überzeugender zum Platzen bringen können", heißt es in der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung. Die Kampagnen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) für Integration, Toleranz, Respekt und Vielfalt werden im rechten Spektrum schon lange kritisch betrachtet. Auch Mesut Özil war zuvor schon Zielscheibe polemischer Angriffe. Ein NPD-Funktionär bezeichnete ihn 2009 als "Plaste-" bzw. "Ausweis-Deutschen". Inzwischen ist diese Position längst nicht nur in den Reihen der NPD anzutreffen. Gerade die Internationalisierung des modernen Fußballs, die mit der verstärkten Präsenz von Spielern mit Migrationshintergrund auch in der Nationalmannschaft einhergeht, stößt auf dezidierten Widerspruch. "Eine Versammlung aus Fußball-Millionären zum Vorbild für eine multikulturelle Gesellschaft zu machen", bedeute "neoliberales Kalkül mit linkem Wunschdenken zu verbinden", schreibt der Kommentator der JF, der beispielhaft das ablehnende Verhältnis der Neuen Rechten zur deutschen Nationalmannschaft auf den Punkt bringt. Zwar brachte die Zeitschrift Compact, die regelmäßig Autoren aus dem neurechten Lager zu Wort kommen lässt, vor dem Turnier eine Sonderausgabe mit dem Titel "Nationalsport Fußball. Herzschlag einer deutschen Leidenschaft" heraus und führte im Rahmen ihrer Werbekampagne auf einer Dresdener Pegida-Kundgebung Anfang Mai 2018 auch ein Torwandschießen durch. Die Beiträge sind aber meist nostalgisch verfasst. Es überwiegt die Beschwörung alter "deutscher Tugenden" wie Kampfgeist, Organisation, Disziplin, Treue, Aufopferung. Traditionelle und "neue" Rechte bevorzugen offenkundig den alten, vor-modernen Fußball der "Kampfschweine" und "Terrier" und wenden sich gegen den gesellschaftspolitisch liberalen Kurs des DFB. Mit dem dafür verantwortlichen, damaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger hätten, so Compact, "ab 2006 Political Correctness, Multikulti und der sogenannte Kampf gegen rechts Einzug in den deutschen Fußball" gehalten. 2015 beklagte die JF die neue öffentliche Präsentation der DFB-Auswahl unter dem Titel "Die Mannschaft" als "Abschied von Schwarzrotgold" und "Kastrierung des Namens". Doch nicht nur die Umwandlung der Nationalelf zum Produkt mit neuem Namen missfällt. Unter "Jogis Jungs" werden in der JF vor allem die Spieler mit "ausländischen Wurzeln" kritisch betrachtet, zumal wenn diese – wie Özil – das Absingen der Nationalhymne verweigern.
Partyotismus statt Patriotismus?
Der Fußball ist gerade vor Weltmeisterschaften ein Indikator für die politische Kultur des Landes. Und die Klage über die mangelnde Identifikation mit der Nationalmannschaft ist längst nicht auf die deutsche Rechte beschränkt. Sie ist seit Jahren ein Thema für Politiker, Verbandsfunktionäre oder die Boulevardpresse und reicht "sehr weit in die Gesellschaft und ihre bürgerlichen Kreise hinein". Aber in der spezifischen Kritik der extremen Rechten am neoliberalen, modernen Fußball (also an jenem hochkommerzialisierten Massensport, der nach dem Interner Link: Bosmann-Urteil von 1995 auf einen deregulierten internationalen Spielermarkt zurückgreifen kann und in dem Profivereine immer mehr wie global player agieren) kommt ein Antiliberalismus zum Vorschein, der sich nicht zufällig gegen die Antidiskriminierungspostulate des DFB richtet. Gerade das moderne Bild einer nationalen Identität wie sie vom DFB-Team repräsentiert wird findet in diesem politischen Spektrum dezidierten Widerspruch.
Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass die Apologeten der "selbstbewussten Nation" – so eine Losung der Neuen Rechten zu Beginn der 1990er Jahre – der DFB-Auswahl distanziert gegenüberstehen. Denn wohl kaum eine andere Institution verfügt in der Bundesrepublik über eine derartige symbolische Ausstrahlung und gemeinschaftsbildende Bindekraft wie die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer, die von ihrem Manager Oliver Bierhoff im Anschluss an eine Image-Studie sogar schon als "vierte Macht im Staat" tituliert wurde. In vielen Festreden wurde schon die integrative Leistung des Fußballs sowie dessen Beitrag zur Völkerverständigung beschworen. Gleichzeitig werden bei Weltmeisterschaften vom Tragen des Trikots über das Schwenken der Deutschlandfahne bis hin zum öffentlichen Absingen der Hymne Rituale eines "Partyotismus" gefeiert. Es werden vom "Wunder von Bern" 1954 über das "Sommermärchen" 2006 bis hin zum 7:1 der Weltmeistertruppe von 2014 im Halbfinale gegen Brasilien alte Mythen und historische Siege beschworen. Der 3:2-Sieg der Elf von Sepp Herberger über die Auswahl der Ungarn inspirierte sogar zu der These, die tatsächliche "Gründung der Bundesrepublik" habe im "Wankdorf-Stadion zu Bern" stattgefunden. In den Debatten über das Image der Auswahlelf des DFB werden, wie deren langjähriger Beobachter Michael Horeni schreibt, seit 1945 "Zeitgeist und der gesellschaftliche Wandel (...) verlässlich fühl- und sichtbar".
In den letzten Jahren präsentierte der DFB dabei mehrfach Kampagnen, die gesellschaftspolitische Werte in den Mittelpunkt stellten. Als beispielsweise im Mai 2016 die Äußerungen von Alexander Gauland, einem Mitbegründer der AfD, über den vermeintlich unerwünschten Nachbarn Jérôme Boateng bekannt wurden, veröffentlichte der DFB kurze Zeit später einen Videoclip, der mit der Losung Externer Link: Wir sind Vielfalt endet. Und seit Mai 2017 agiert, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Ex-Nationalspieler Thomas Hitzelsberger zudem als "DFB-Botschafter für Vielfalt". "Respekt", "Integration" und "Vielfalt" sind seit geraumer Zeit Kernbegriffe in der offiziellen Darstellung des DFB – und der Grund für den neurechten Dissens zu diesem Selbstverständnis. Von "Vielfaltspinseln" spricht beispielsweise der für diesen Diskurs einschlägige Publizist Thor von Waldstein mit Blick auf die Befürworter einer "Willkommenskultur". Die Warnung vor der Auflösung der ethno-kulturellen Identität der Deutschen, die sich aus dieser Sicht hinter Begriffen wie "Vielfalt" verbirgt, ist hier ebenso zentral wie die Kritik der Dekadenz, die sich auch gegen die gesellschaftspolitische Liberalisierung richtet. "An Liberalismus gehen Völker zugrunde", heißt es bei Arthur Moeller van den Bruck, einem der Vordenker der "Konservativen Revolution". Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart 2017, S.21. Am Neoliberalismus, der nationale Bindungen auflöst, und an der politischen Korrektheit geht der deutsche Fußball zugrunde, lässt sich die Losung für die heutige Neue Rechte variieren.
Facetten neurechter Fuballvorstellungen
Es verwundert, dass sich neurechte Autoren aktuell zwar am DFB abarbeiten, Neu-Rechte Vordenker wie Henning Eichberg, der ein viel zitierter Sport- und Körpersoziologe war und später auf Distanz zu seinen politischen Ursprüngen ging, sich jedoch bestenfalls am Rande mit dem Fußball beschäftigt haben. Dabei wollte die neurechte Perspektive doch vor allem das vor-politische Feld der Kultur sondieren. Aber vermutlich schien das Massenspektakel Fußball zu trivial, zumal der in seiner zeitgenössischen Form aus England importierte Ballsport schon der in Deutschland dominanten Turnbewegung im 19. Jahrhundert als "Fußlümmelei" galt. Die AfD hingegen, deren Politiker vielfach in Junge Freiheit oder Sezession veröffentlichen, hat die Kritik des modernen Fußballs längst forciert. Nach der Niederlage der Nationalelf im EM-Halbfinale gegen Frankreich, twitterte Beatrix von Storch die Frage "Vielleicht sollte nächstes mal dann wieder die deutsche NATIONALMANNSCHAFT spielen?" – und verdeutlichte so die Distanz zu einem "multikulturellen" DFB-Aufgebot. Schon AfD-Mitgründer Bernd Lucke kritisierte 2014 das vielgerühmte "Coming Out" von Thomas Hitzelsberger und meinte, dieser hätte lieber die "Verfallserscheinungen" der Institutionen der Ehe und Familie beklagen sollen. Was hier nachhallt, ist die klassische antiliberale Dekadenzkritik, die individuellen Lebensentwürfen jenseits alter Institutionen missbilligend gegenübersteht. Die Vielfaltspostulate des Fußballs gelten vielfach als nicht gemeinschaftsbildend. Auch Alexander Gauland hat sich mehrfach zum Fußball geäußert. Im Interview mit dem Spiegel erläuterte er seine Aussagen zu Jérôme Boateng und ergänzte, "die deutsche oder eine englische Nationalmannschaft" seien "eben schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne". Fußball sei "letztlich eine Geldfrage und keine Frage der nationalen Identität mehr". Schon in seiner 2002 erschienenen "Anleitung zum Konservativsein" vermerkte er, dass auch das Massenspektakel rund um den Fußball Resultat einer nationalen Leerstelle sei. "Fußball und die jugendliche Musikkultur reichen offensichtlich als Ersatz für die fehlende Nationalsymbolik nicht aus", schrieb Gauland. Andere Autoren sehen die Möglichkeit für eine nationale Mythenbildung: Der Fußball, heißt es auf Sezession.de, sei "unmittelbar gemeinschafts- und identitätsbildend", denn hier könne nämlich in "aller Deutlichkeit das ‚Wir‘ vom ‚Nicht-Wir‘" unterschieden werden. Auch Mythen ließen sich durch dieses Spiel schaffen – und der historische Sieg im Wankdorf-Stadion gehöre dazu: "Auschwitz mag der negative ‚Gründungsmythos‘ (Joschka Fischer) der Bundesrepublik Deutschland sein; es gibt aber auch einen positiven, nämlich das ‚Wunder von Bern‘". Dieses wird im Compact-Sonderheft zur WM 2018 ausführlich gewürdigt; ein Heft, in dem aber auch Formulierungen zu finden sind wie jene, die Italiener hätten "uns bereits 1970, 1982, 2006 und 2012 den Weg zum Endsieg (sic!) verbaut". Ansonsten herrscht dort ein nostalgischer Blick auf den Fußball, der die "klassischen deutschen Tugenden" fokussiert. Dass die Nationalmannschaft aber seit der EM 2004 eine Phase der Modernisierung durchlaufen hat, die für den Titelgewinn 2014 entscheidend war, wird kaum zur Kenntnis genommen.
Die Nationalmannschaft als Gegenentwurf?
Wäre Deutschland ohne Sportler mit Migrationshintergrund Fußball-Weltmeister 2014 geworden? Hier die WM-Finalisten 2014. (© dpa/Marcelo Sayao)
So steht bei der WM 2018 eine "Mannschaft" auf dem Platz, deren Spieler mit Namen wie Boateng, Özil oder Gündoğan anzeigen, dass die Bundesrepublik nicht mehr nur durch Namen wie Maier, Müller oder Beckenbauer repräsentiert wird. Die Nationalmannschaft der Gegenwart ist vielmehr der symbolträchtige Gegenentwurf zu einer völkisch verstandenen nationalen Identität. Wie sich das Bild der Nationalelf gewandelt hat, zeigen historische Vergleiche: 1990, nur wenige Monate nach der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze, verkündete der damalige Teamchef Franz Beckenbauer noch, die Nationalmannschaft werde "auf Jahre unschlagbar sein". Verglichen mit diesen pathetischen Tönen war das "Gauchogate" im Jahre 2014, als sich die Nationalspieler über die Argentinier lustig machten, ein harmloser Ulk. Während der WM 1978 in Argentinien empfing die Nationalelf unter Helmut Schön noch den Wehrmachtspiloten Hans-Ulrich Rudel, der im Jahr zuvor für die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) Wahlkampf gemacht hatte. Der Besuch galt den Verantwortlichen des DFB weder als Skandal noch als Fehler. Als im November 2017 deutsche Zuschauer unter anderem durch Sieg-Heil-Rufe provozierten, fanden hingegen neben Löw und Bierhoff auch Spieler wie Mats Hummels deutliche Worte der Ablehnung. Für die Neue Rechte, die ihren eigenen Begriff von nationaler, d.h. ethnisch-homogener Identität durchsetzen will und das Fehlen des Nationalen in der "Mannschaft" beklagt, bietet die gegenwärtige DFB-Auswahl also kaum Anschlussmöglichkeiten. Selbst der "Partyotismus" gilt hier als bloß kulturindustriell formiertes Spektakel. Kritik an den Phänomenen des modernen Fußballs ist von konservativen Funktionären bis hin zur Kommerzkritik der Ultras weit verbreitet. Aber die Neue Rechte stört ein besonderer Aspekt: Der "große Austausch" (so eine migrationskritische Chiffre) hat für sie längst auch im deutschen Fußball stattgefunden: Zu kosmopolitisch ist der Kader, zu liberal das offizielle Image, zu "modern" die Spielweise, die gerade von der Abkehr von alten Traditionen profitiert. Vermutlich ist das der entscheidende Grund für den Groll gerade von rechts: Jögi Löws Team zeigt, dass eine Nationalmannschaft mit Migrationshintergrund und sogar ohne Hymnenzwang sehr erfolgreich sein kann.
Wäre Deutschland ohne Sportler mit Migrationshintergrund Fußball-Weltmeister 2014 geworden? Hier die WM-Finalisten 2014. (© dpa/Marcelo Sayao)
Externer Link: Siehe den betreffenden Bericht vom 16.9.2009 bei Spiegel-Online
Thorsten Hinz: Vom Mißbrauch befreit. In: JF 21/2018 vom 18.5.2018
Compact Spezial, Sonderausgabe Nr. 17 vom 28.4.2018, hier: S. 79
Siehe Thomas Paulwitz: Weißweißweiß. In: JF 26/2015vom 19.6.2015.
Michael Horeni: Gebrauchsanweisung für die Fußball-Nationalmannschaft. München 2018, hier: S.97.
Siehe dazu ausführlich Richard Gebhardt: "Kampf um das Stadion" - "Neoliberaler" Fußball und die extreme Rechte. In: Das Argument 5/2011, S. 680-93.
Vgl. Sascha Schmidt und Andreas Bergmann: Wir sind Nationalmannschaft. Analyse der Entwicklung und gesellschaftlichen Bedeutung der Fußball-Nationalelf. Oestrich-Winkel 2013.
Vgl. Arthur Heinrich: 3:2 für Deutschland. Die Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf-Stadion zu Bern. Göttingen 2014.
Michael Horeni: Gebrauchsanweisung für die Fußball-Nationalmannschaft. München 2018, hier: S. 105
Thor von Waldstein: Thesen zum Liberalismus. In: ders.: Die entfesselte Freiheit. Vorträge und Aufsätze, Schnellroda 2017, hier S.165.
Zit.n. Volker Weiß: Die Autoritäre Revolte. Die NeueZit.n. dieser Darstellung unter Externer Link: welt.de.
Für eine Dokumentation des Tweets siehe Externer Link: faz.net.
Zit.n. dieser Darstellung unter Externer Link: welt.de
Zit.n. dem Interview unter Externer Link: spiegel.de
Alexander Gauland: Anleitung zum Konservativsein. Geschichte eines Wortes, Stuttgart/München 2002, S.47.
Erik Lehnert: 60 Jahre nach Bern: Deutschland wieder Weltmeister. In: Externer Link: Sezzesion vom 14.7.2014.
Siehe Compact Spezial, Sonderausgabe Nr. 17 vom 28.4.2018, hier: S. 17.
Vgl. seine Relativierung der Aussage nach dem WM-Sieg 2014 Externer Link: spiegel.de.
Siehe dazu Dietrich Schulze-Marmeling in Externer Link: tagesspiegel.de und Michael Horeni: Gebrauchsanweisung für die Fußball-Nationalmannschaft. München 2018, hier: S. 171.
Für die Reaktionen siehe Externer Link: tagesspiegel.de.
| Article | Richard Gebhardt | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-06-10T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland/270670/abschied-von-schwarzrotgold/ | Die Diskussion um das DFB-Team ist hochgradig politisiert. "Die Mannschaft" wird als Entwurf einer vielfältigen und liberalen Gesellschaft verstanden. Das provoziert Kritik aus dem neurechten Spektrum, wo andere Vorstellungen nationaler Identität zir | [
"Fußball",
"Fußball-WM",
"Fußball-WM 2018",
"neue Rechte",
"Russland",
"Deutschland"
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Wie sich das deutsche Bildungssystem verändert | Bildung | bpb.de | In den öffentlichen Debatten erscheint das deutsche Bildungssystem oft als schwerfälliger Tanker mit Entwicklungsrückstand und mangelhafter Leistungsbilanz. Sieht man genauer hin, kam aber gerade in der letzten Dekade viel Bewegung ins System. Als Motor dieser Entwicklungen wirkte zu Beginn des neuen Jahrtausends das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in internationalen Vergleichsstudien wie PISA. Außerdem erhöhten auch der demografische Wandel und die steigenden Qualifikationsanforderungen am Arbeitsmarkt den Handlungsdruck auf Bildungspolitik und -verwaltung. Was sich verändert, können Wissenschaftler seit 2006 über alle Bildungsbereiche hinweg mithilfe einer fortlaufenden Bildungsberichterstattung beobachten: Wie hat sich zum Beispiel das Angebot an Bildungseinrichtungen in Deutschland gewandelt? Von wem werden welche Einrichtungen wie lange besucht? Verzeichnen wir heute zunehmend bessere Bildungsergebnisse, also höhere Kompetenzen und Abschlüsse? Wo bleiben Herausforderungen im Bildungssystem bestehen?
Anhand der Daten zu den Einrichtungen, Teilnehmern und Ergebnissen der institutionalisierten Bildung gibt dieser Beitrag einen Überblick über die wesentlichen Veränderungen im deutschen Bildungssystem im letzten Jahrzehnt.
Die Bildungslandschaft wird vielfältiger
Zunächst: Das Bildungswesen vereint fünf sehr verschiedene, historisch gewachsene Bildungsbereiche unter einem Dach. Deren Verwaltung, Organisation und Funktionsweise war in Deutschland traditionell weitgehend voneinander abgeschottet – nicht zuletzt weil Zuständigkeiten unterschiedlich auf Bund, Länder und Kommunen verteilt sind. Umso erstaunlicher ist, welche weitreichenden Veränderungen sich nun innerhalb und zwischen diesen Bildungsbereichen abzeichnen:
Abbildung 1: Betreuungsquote von Kindern unter 3 Jahren in Kitas und Tagespflege 2006 bis 2011 (in Prozent) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Im Elementarbereich wurde das Angebot an Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege stark ausgebaut (Abbildung 1) Zum einen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass frühkindliche Entwicklungsprozesse ganz entscheidend für die weitere Lernentwicklung von Kindern sind. Zum anderen kommt die Politik damit auch den gewandelten gesellschaftlichen Ansprüchen an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach. Ab August 2013 gilt nun sogar ein Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung für Ein- und Zweijährige. Um bis dahin genügend Betreuungsplätze für voraussichtlich 37 Prozent der unter dreijährigen Kinder anbieten zu können, muss der Staat vor allem in Westdeutschland verstärkt Angebote zur Kinderbetreuung schaffen.
Im Schulwesen hingegen konnten viele öffentliche Schulstandorte nicht aufrechterhalten werden. Angesichts der demografisch rückläufigen Schülerzahl und der angespannten Haushaltslage in den zuständigen Bundesländern und Kommunen wurden zahlreiche Schulen geschlossen – in den ostdeutschen Flächenländern seit 1998 immerhin mehr als ein Drittel. Inzwischen haben daher fast alle Bundesländer ihre Schulstrukturen angepasst: Die traditionell getrennten Bildungsgänge Hauptschule, Realschule und Gymnasium findet man heute vielerorts unter einem Dach. Damit reagierte man auch auf die schwindende Akzeptanz der Hauptschule in der Bevölkerung sowie auf neue Zielstellungen der Bildungspolitik. Nach Jahrzehnten ideologischer Grabenkämpfe um das dreigliedrige Schulsystem zeichnet sich nun in der Mehrzahl der Länder der pragmatische Trend ab, neben dem Gymnasium künftig (nur) noch Schularten mit zwei oder allen drei Bildungsgängen anzubieten. Somit kann ein und derselbe Schulabschluss in verschiedenen Einrichtungen erreicht werden: Schularten und Schulabschlüsse entkoppeln sich zunehmend voneinander.
Abbildung 2: Entwicklung öffentlicher und privater Bildungsangebote zwischen 1998 und 2010 (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Die Zahl der Privatschulen hat sich in den letzten zehn Jahren dagegen verdoppelt (Abbildung 2). Besonders in Ostdeutschland, wo vor der Wiedervereinigung nur wenige Schulen in freier Trägerschaft bestanden, stieg die Zahl der Privatschulen zwischen 1998 und 2010, nämlich von 285 auf 837 Einrichtungen. In Deutschland werden Privatschulen überwiegend von gemeinnützigen Trägern ohne kommerzielle Interessen geführt. Dennoch kann es insbesondere für Großstädte nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Eltern entlang ihres sozialen Hintergrunds für bestimmte Schulen entscheiden und damit eine zunehmende Entmischung der Schülerschaft einhergeht.
Mit dem allmählichen Übergang von der Halbtags- zur Ganztagsschule durchläuft das Schulwesen einen tief greifenden Wandel. Im Zusammenspiel von Unterricht, extracurricularen Angeboten und außerschulischen Aktivitäten folgt der Alltag der Schüler heute vielerorts einem ganz anderen Rhythmus als noch vor zehn Jahren. Während noch 2002 bundesweit gerade einmal 16 Prozent aller Schulen Ganztagsbetrieb anboten, trifft dies inzwischen auf mehr als die Hälfte der Schulen zu. Allerdings wurden in erster Linie offene Ganztagsschulen ausgebaut, in denen die Teilnahme am Ganztagsangebot nicht für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend, sondern freiwillig ist.
Abbildung 3: Neuzugänge im Berufsbildungssystem 2000 und 2010 nach Schulabschlüssen (Anzahl) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Das berufsvorbereitende "Übergangssystem" nach der allgemeinbildenden Schulzeit hat sich über die letzten 20 Jahre fest etabliert. Es fängt Jugendliche ohne Chance am Ausbildungsmarkt in vielfältigen Maßnahmen der Berufsorientierung und -vorbereitung auf. Jedoch führen diese Maßnahmen zu keinem Berufsabschluss und laufen weitgehend unkoordiniert nebeneinander. Für die Jugendlichen handelt es sich daher meist um Warteschleifen. Diese nutzen sie teilweise dazu, einen Schulabschluss nachzuholen. Durch den demografischen Wandel ging die hohe Nachfrage nach Ausbildungsplätzen inzwischen zurück. Dennoch hat sich speziell für diese Jugendlichen die Übergangssituation in den Ausbildungsstellenmarkt kaum verbessert (Abbildung 3).
Zugleich ist die Nachfrage nach Hochschulbildung bei jungen Menschen sprunghaft angestiegen. Haben im Jahr 1995 noch 260.000 junge Menschen ein Studium begonnen, so hat sich die Studienanfängerzahl in 2011 mit mehr als einer halben Million fast verdoppelt. Im Zuge des Hochschulpakts von Bund und Ländern wurde daher seit 2005 das Studienangebot – vor allem an den Fachhochschulen – deutlich ausgebaut. Parallel führten hochschulpolitische Reformen und Initiativen wie der internationale Bologna-Prozess zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Hochschulwesens, die weit über neue Studienordnungen und -abschlüsse hinausgeht.
Bildungsangebote werden individueller genutzt
Da sich die deutsche Bildungslandschaft gerade in den letzten zehn Jahren weit aufgefächert hat, können die Menschen ihre individuellen Bildungsziele heute auch auf unterschiedlichen Wegen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebenslauf verfolgen. War der Durchgang durch die Bildungsinstitutionen selbst vor 20 Jahren noch relativ starr vorgezeichnet, werden die Bildungsverläufe heute zunehmend flexibel und individuell gestaltbar. Doch nicht alle Menschen profitieren in gleicher Weise von der Vielfalt der Möglichkeiten: Während einige ihre Bildungserfolge vom frühkindlichen Alter an Schritt für Schritt steigern, tragen andere lebenslang an den Folgen ungünstiger Startchancen.
Kindertagesbetreuung wird zunehmend zu einem selbstverständlichen Teil der Bildungsbiografie, doch nicht alle Sozialgruppen nehmen diese Angebote gleichermaßen wahr. Mit nur 16 Prozent Beteiligung nehmen unter dreijährige Kinder aus Einwandererfamilien nur halb so häufig an frühkindlicher Bildung teil wie unter Dreijährige ohne Migrationshintergrund (Abbildung 1). Doch gerade die Vorschulkinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, bräuchten vermehrt Sprachförderung – das zeigen die bereits in 14 Bundesländern eingeführten Sprachtests. Wenn Kinder die deutsche Sprache frühzeitig im Kita-Alltag lernen, kann das dazu beitragen, dass sie nicht bereits mit Kompetenzrückstand eingeschult werden. Damit zugleich der Übergang in die Schule je nach Ausgangslage des Kindes zeitlich flexibler gestaltet werden kann, hat die Mehrzahl der Bundesländer inzwischen eine variable Verweildauer der Kinder in den ersten beiden Jahrgangsstufen der Grundschule eingeführt.
Immer mehr junge Menschen besuchen höher qualifizierende Schulen – dieser langfristige Trend ist ungebrochen.
Abbildung 4: Hauptschul- und Gymnasialbesuch von 15-Jährigen in den Jahren 2000 und 2009 nach sozialer Herkunft (in Prozent) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
In der Hauptschule gibt es seit Langem überdurchschnittlich hohe Rückgänge in den Schülerzahlen, während die Gymnasien einen stetig steigenden Zulauf erhalten – und zwar zunächst von Kindern aus allen sozialen Schichten (Abbildung 4), allerdings nicht in gleichem Maß. Denn an der sozialen Ungleichheit beim Gymnasialbesuch hat sich faktisch wenig geändert: Vier von sechs Kinder aus der höchsten Sozialschicht kommen auf das Gymnasium, aber nur eines von sechs Kindern aus der niedrigsten Schicht schafft diesen Übergang. Diese althergebrachten institutionellen Barrieren könnten möglicherweise mittelfristig auch dadurch überwunden werden, dass verschiedene Bildungsgänge häufiger innerhalb einer Schulart kombiniert angeboten werden. Damit würde sich womöglich die soziale Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen erhöhen.
Da heute mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse anstreben, verbringen sie insgesamt eine längere Zeit im Schulwesen als frühere Generationen. Gingen die 1950 Geborenen noch durchschnittlich neun Jahre lang zur Schule, so waren es bei den 1985 Geborenen bereits elf Jahre. Weil dieser Zeitverbrauch heute stärker hinterfragt wird, zielen einige jüngere Bildungsreformen auf einen effizienteren und zugleich auf einen flexibler gestaltbaren Umgang mit Zeit im Schulwesen. So können etwa in der flexiblen Schuleingangsphase leistungsstarke Schülerinnen und Schüler bereits nach einem Jahr in die dritte Jahrgangsstufe aufrücken, leistungsschwachen Kindern werden drei Jahre dafür eingeräumt. Ebenso kann das Abitur inzwischen in fast allen Ländern in einem auf acht Jahre verkürzten Gymnasialbildungsgang (G8) erworben werden, an Schulen mit mehreren Bildungsgängen stehen dafür neun Jahre zur Verfügung.
Bereits jede zweite Schule hält Ganztagsangebote bereit, doch nur jeder vierte Schüler nimmt daran teil. Die meisten Schulen bieten inzwischen Ganztagsbetrieb an, allerdings mit freiwilliger Schülerbeteiligung und an einigen Schulen auch nur als einzelne Ganztagsklassen. Insofern wird das Potenzial der Ganztagsschule, einen flexibleren Umgang mit Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungszeiten zu ermöglichen, noch zu wenig ausgeschöpft.
Obwohl immer mehr junge Menschen das Abitur erreichen, schlägt sich dies nicht in gleichem Maße bei den Studienanfängerzahlen nieder. Noch in den 1990er Jahren nahm nur einer von acht Jugendlichen mit Abitur nach der Schulzeit kein Studium auf, heute sind es doppelt so viele. Stattdessen entscheiden sich mehr Abiturienten für eine berufliche Ausbildung. So stellen Studienberechtigte inzwischen in Ausbildungsberufen wie Bankkaufmann/-frau, Steuerfachangestellte/r oder Mediengestalter/-in sogar die Mehrheit der Auszubildenden.
Gering qualifizierte Jugendliche bleiben auf der Strecke, je mehr die Ausbildungseinrichtungen und Hochschulen um hoch qualifizierte Schulabsolventen konkurrieren (Abbildung 3). In vielen Ausbildungsberufen gibt es trotz der rechtlich verbrieften Zugangsfreiheit in der Praxis erhebliche Zugangsbarrieren für gering qualifizierte Jugendliche. Tendenziell hat das duale System somit eine traditionelle Stärke eingebüßt, nämlich Menschen mit niedrigem Bildungsniveau durch eine Ausbildung beruflich zu integrieren. Ihre Zeit für eine berufliche Erstausbildung verlängert sich damit insgesamt, weil sie zunächst im Übergangssystem Schulabschlüsse nachholen oder aber von einer Maßnahme in die nächste wechseln, ohne sich dabei formal weiter zu qualifizieren.
Ungleichheiten in den Bildungserfolgen: Wer schafft es, wer nicht?
Seitdem der sprichwörtlich gewordene "PISA-Schock" das Bildungswesen aufrüttelte, verbesserten sich die Kompetenzen der Schüler sowohl in den Grundschulen als auch den Sekundarschulen messbar. Auch die Zahl der Jugendlichen ohne Abschluss geht zurück. Trotzdem bleibt eine große Zahl an Menschen mit allenfalls geringen Bildungserfolgen.
Nur langsam schrumpft die Risikogruppe von Menschen, die nur über mangelnde Kompetenzen verfügen und keinen Abschluss haben. Davon sind vergleichsweise viele Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien und mit Migrationshintergrund betroffen. Zwar ist der Anteil der Jugendlichen, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen, zwischen 2006 und 2010 von 8,0 auf 6,5 Prozent gesunken. Aber der Anteil an leseschwachen Jugendlichen ist dreimal so hoch. Dies lässt auf eine nicht unbedeutende Zahl an Personen schließen, die trotz Schulabschluss kaum lesen können. Nach wie vor kann jeder fünfte Schüler im Alter von 15 Jahren nur einfachste Leseaufgaben bewältigen. Diese Jugendlichen können einem Text zwar einzelne Informationen wörtlich entnehmen, scheitern aber beim Lesen an einfachen logischen Verknüpfungen.
Galten früher Mädchen und junge Frauen als bildungsbenachteiligt, so erzielen sie inzwischen größere Bildungserfolge als Jungen und junge Männer
Abbildung 5: Geschlechtsspezifische Unterschiede in ausgewählten Bildungsaspekten im Jahr 2010 (in Prozent) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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(Abbildung 5). Der Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland ist gemessen an den Bildungsabschlüssen über die Zeit merklich gestiegen. Doch zeigen sich dabei deutlich neue Ungleichheiten nach Geschlecht. Denn Mädchen durchlaufen die Schule zügiger als ihre männlichen Mitschüler, sie besuchen häufiger das Gymnasium und verlassen die Schule seltener ohne Abschluss. Sie bewältigen zudem den Übergang in die Berufsausbildung erfolgreicher, brechen seltener ihr Studium ab und machen inzwischen auch die Mehrheit der Hochschulabsolventen aus. Und nicht zuletzt nutzen Frauen als Berufstätige intensiver die Weiterbildungsangebote. Männer sind dennoch über alle Qualifikationsgruppen hinweg häufiger erwerbstätig, meist auch als Vollzeitbeschäftigte und mit höherem Einkommen. In den letzten Jahren ist allerdings der Anteil an jungen Männern, die keinen beruflichen Abschluss haben, besorgniserregend angestiegen. Und nicht nur das: Er fällt bereits höher aus als in der Elterngeneration.
Wie die Bildungsbereiche jetzt zusammenarbeiten müssen
Die Bildungslandschaft ist bunter geworden. Es gibt vielfältigere Möglichkeiten, Bildungsverläufe zu gestalten: von kurzen Bildungswegen für Leistungsstarke bis hin zu verzögerten Karrieren der zweiten Chancen. Im Verhältnis zwischen den Bildungsinstitutionen sowie zwischen den Einrichtungen und ihren Nutzern ergeben sich daraus weitreichende Veränderungen:
Obwohl insgesamt die Bildungsbeteiligung und der Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland von der Kinderkrippe bis zur Hochschule stark zunahmen, ist es bisher nicht gelungen, die Bildungsungleichheiten zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen entscheidend zu verringern. Insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund, die weit häufiger in sozial schwachen Familien aufwachsen, stellen sich trotz einiger Verbesserungen noch zu selten Bildungserfolge ein. Dabei steigt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung weiter an und beträgt für Kinder im Vorschulalter bundesweit bereits 35 Prozent. Frühzeitige individuelle Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen wird damit immer bedeutsamer. Um die erweiterten Bildungsmöglichkeiten tatsächlich wahrnehmen zu können, muss jeder Einzelne stärker darin unterstützt und befähigt werden, seinen eigenen Bildungsweg in die Hand nehmen zu können.
Die Beseitigung der Bildungsungleichheiten geht auch deshalb so langsam voran, weil es sich hier um eine gesamtstaatliche Querschnittsaufgabe handelt. Trotz einer Fülle an bildungspolitischen Reformprojekten in der letzten Dekade bleibt der Eindruck bestehen: Auf gesellschaftliche Entwicklungen wie den demografischen Wandel, die veränderte Arbeitsmarktsituation oder neue Elternerwartungen wird jeweils nur in einzelnen Bereichen reagiert. Die historisch gewachsene organisatorische Trennung der Bildungsbereiche mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund, Ländern oder Kommunen erschwert ein abgestimmtes Vorgehen aller Akteure in Bildungspolitik, -verwaltung und -praxis. Was ist zu tun? Künftig wird es darauf ankommen, eine intensivere Zusammenarbeit über alle Bildungsbereiche aufzubauen und außerhalb der traditionellen Ressortpolitik das Verhältnis zwischen den Bildungseinrichtungen zielgerichtet aufeinander abzustimmen.
Abbildung 1: Betreuungsquote von Kindern unter 3 Jahren in Kitas und Tagespflege 2006 bis 2011 (in Prozent) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 2: Entwicklung öffentlicher und privater Bildungsangebote zwischen 1998 und 2010 (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 3: Neuzugänge im Berufsbildungssystem 2000 und 2010 nach Schulabschlüssen (Anzahl) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 4: Hauptschul- und Gymnasialbesuch von 15-Jährigen in den Jahren 2000 und 2009 nach sozialer Herkunft (in Prozent) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 5: Geschlechtsspezifische Unterschiede in ausgewählten Bildungsaspekten im Jahr 2010 (in Prozent) (Interner Link: Mehr dazu...) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Quellen / Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu kultureller Bildung im Lebenslauf. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demographischen Wandel. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Cortina, Kai S./ Baumert, Jürgen/ Leschinsky, Achim/ Mayer, Karl Ulrich/ Trommer, Luitgard (Hrsg.) (2008): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu kultureller Bildung im Lebenslauf. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demographischen Wandel. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Cortina, Kai S./ Baumert, Jürgen/ Leschinsky, Achim/ Mayer, Karl Ulrich/ Trommer, Luitgard (Hrsg.) (2008): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-04T00:00:00 | 2012-10-16T00:00:00 | 2022-01-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/146188/wie-sich-das-deutsche-bildungssystem-veraendert/ | Fehlende Kita-Plätze, niedrige Schülerkompetenzen, langwierige Übergänge zur Berufsausbildung, überfüllte Hörsäle: Dem oft attestierten Modernisierungsrückstand unseres Bildungswesens stehen seit einigen Jahren allmähliche, jedoch tiefgreifende Verän | [
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"Studium"
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Ein halbes Leben. Vier Kurzporträts aus einer Arbeitswelt im Umbruch | Humanisierung der Arbeit | bpb.de | Herr Faruk
Herr Faruk ist kein typischer Repräsentant der türkischen "Gastarbeiter". Im Jahr 1983, zehn Jahre nach dem Anwerbestopp, emigriert er im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland. Seine Frau war dagegen schon 1970 nach Deutschland ausgewandert, wo sie in einer Druckerei arbeitete. Die Entscheidung, seiner Frau nachzuziehen, schildert Herr Faruk als das Ergebnis eines längeren Abwägens. So hatte er in seinem Herkunftsdorf einen angesehenen Status als Volksschullehrer inne; in Deutschland würde er nach eigener Einschätzung jedoch "ganz unten" anfangen müssen. Ausschlaggebend für die Emigration seien dann auch angesichts der Umbrüche in der Türkei politische Motive gewesen.
In Deutschland bleibt Herr Faruk zunächst fünf Jahre ohne Arbeitserlaubnis. Konfrontiert mit der Unmöglichkeit, eine Anstellung als Lehrer zu finden, und der als belastend empfundenen Situation, nur für den Haushalt zuständig zu sein, beginnt er seine dortige Arbeitsbiografie mit einer Reihe selbständiger Tätigkeiten. Er arbeitet als Marktverkäufer, führt einige Jahre ein Café, um schließlich eine Fernsehproduktion aufzuziehen, die jedoch in Insolvenz und Schulden mündet. Nach dieser Periode selbständiger Erwerbstätigkeiten vermittelt ihm seine Frau im Jahr 1988, als er seine Arbeitserlaubnis erhält, eine Stelle in jener Druckerei, wo sie seit vielen Jahren arbeitet. So tritt Herr Faruk nach gut fünf Jahren seinen, wie er es ausdrückt, "ersten richtigen Arbeitstag" in Deutschland an. In der Position des ungelernten "Produktionshelfers" lernt er die Welt des Industriegewerbes kennen. Dabei erlebt Herr Faruk die Herabwürdigung und Diskriminierung der "Gastarbeiter" in deutschen Betrieben. Diesen will und kann er sich nicht gänzlich unterwerfen. Sicherlich auch wegen seines statushöheren Hintergrundes als Volksschullehrer verhält er sich eigensinnig und bis zu einem gewissen Grad widerständig. Die beständige Schlechterbehandlung seiner ausländischen Kollegen im Betrieb zehrt jedoch, und die Konflikthaftigkeit seiner Renitenz führt ihn schließlich in eine psychische Krise, so dass er nach 15 Jahren den Betrieb verlässt.
Danach gefragt, wie sich die Arbeitswelt in der Druckerei in diesen 15 Jahren verändert hat, antwortet Herr Faruk in Bildern: dem eines Glases, in das beständig Wasser tropft, bis es irgendwann überläuft; und dem eines ausgestreckten Armes, der ein Blatt Papier zu halten hat, bis er irgendwann müde wird. Der technische Wandel und die Beschäftigungskrise im Druckereigewerbe kommen in der Erzählung von Herrn Faruk gar nicht vor. Vielmehr überwiegt schlicht die Permanenz der "ethnischen Unterschichtung", der Schlechterbehandlung und Diskriminierung ausländischer Arbeiter, die kaum eine Aussicht auf innerbetrieblichen Aufstieg haben. "An so einen Punkt bin ich gekommen"
Herr Faruk: 8.8.88. Das ist mein erster richtiger Arbeitstag. (...) Angefangen. In Berlin, Druckerei.
Carsten Keller: Wo Ihre Frau auch gearbeitet hat?
Ja, diese Firma (...), das ist eine traditionelle Firma, 130 Jahre vorher gegründet. Natürlich ich hab geschuldigt in Bank. Ich bin pleite. In dieser Zeit haben wir auch die Arbeitserlaubnis geholt. Das war in den Zeiten dieser Fernsehsache. (...) Und dann, habe ich halt dort angefangen zu arbeiten, als Produktionshelfer. (...) Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben angefangen, als Arbeiter zu arbeiten. Zuerst hat es mich gestört, weil ich als Arbeiter, das was mich gestört hat als Arbeiter ... , eigentlich war das, was mich störte nicht die Arbeit, sondern das Verhalten der Menschen dort, die Umgangsformen. Das war für mich eine Lehre, die ich zum ersten Mal im Leben hatte. Weil ich nicht so gearbeitet habe, nicht mit Deutschen gearbeitet hatte. Ich hatte, in meinem Leben, noch nie Anordnungen erhalten. Also: "Das machst du! Dies machst du! Das sollst du so machen! Das sollst du so machen! Das wirst du tun! Tu dies, tu das!" (...)
Die deutsche ..., die in Europa vorhandene Arbeits- ..., die Innenansicht habe ich kennengelernt. Zum Beispiel wir arbeiten locker in der Türkei. Ja, hier ist es sehr, so, sehr - streng. Streng, ja. Wenn du dir einen Tee holst oder zur Toilette gehst, musst du erst die Erlaubnis einholen. Ja, klar okay, aber es war sehr streng. Wir haben natürlich in drei Schichten gearbeitet. Unsere deutschen Kollegen waren in der Regel ausgebildete, gebildete Menschen. Die waren die Drucker. Und wir haben ihnen zugearbeitet. Waren studiert, sowas. (...) Ich war auch gar nicht in der Lage Maschinenführer zu werden. Das war ja das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Druckerei betreten habe. Aber ich hatte meine Wahrheiten in meinem Leben. Das ist überhaupt nicht wichtig. Egal wo ich bin, das was mir richtig oder nicht richtig erscheint, wo auch immer, was auch immer das ist, dem stelle ich mich. Das heißt hier ...
Dadurch kann man sich dann distanzieren?
Dieses Verhalten von mir hat dort zu ständigen Konflikten geführt. Meine Regeln. Normalerweise waren die Regeln der Fabrik verbindlich. Aber ich habe meine Regeln daneben gestellt. Zum Beispiel gab es Folgendes. Ich habe meine Arbeit richtig gemacht, immer. So wie ich es konnte. Wenn zum Beispiel der Chef kam, ist jeder aufgestanden. Sogar wenn es keine Arbeit gab, es gibt nichts zu tun, also, Stillstand, aber jeder versucht, irgendetwas zu tun, zu fegen und so. Bei mir war alles sauber, egal ob ich zu tun hatte oder nicht. Ich habe alles in Ordnung gebracht und so beendet. (...) Wenn der Chef kam, bin ich nicht aufgestanden, denn ich hatte meine Arbeit schon vollbracht. Aber die, die machten nichts und wenn der Chef kam, haben sie sofort angefangen irgendwas zu tun. Das war in der ganzen Fabrik so. Ich saß, der Chef, alle schauten sie mich an, hinter dem Fenster haben sie gespäht. Da sitzt er, der Chef wird jetzt rumgehen, zuerst sagt er nichts zu mir. Dann kommt er an meine Seite und sagt: Warum sitzt du?" Er meckert. "Ich sitze, ja!" "Ja, und wieso?" "Ich habe schon alles geputzt!", sagte ich dann, "alles, alles sauber", und, und, und. Das hat ihm die Laune verdorben. Also eigentlich sah er mich als respektlos an, in dem Sinn, dass ich ihm gegenüber keinen Respekt zeigte. Aber ich lasse mir nichts nehmen, ich blieb aufrecht.
Und die Kollegen? Waren das auch türkische Arbeiter, oder?
12 Türken gab es. Produktionshelfer.
Ja, Produktionshelfer. Was haben Sie da genau gemacht in der Druckerei?
Wir haben die aus der Maschine kommende Ware genommen, sie zu Paketen verpackt, auf Paletten gestapelt. Dann haben wir die Paletten genommen und in das Lager gebracht. Dann haben wir die Paletten in den Keller gebracht und da dann halt gestapelt. (...)
Also es war im Grunde eine ganz einfache Arbeit.
Ja, aber, wenn die Maschine lief, war unsere Arbeit natürlich schwer. (...)
Und wie viele Leute haben in der Fabrik gearbeitet?
Am Anfang waren wir 140 Personen, die gearbeitet haben. Es war ein Familienbetrieb. Groß, also mit 140 Personen arbeiteten wir, in unterschiedlichen Bereichen. Zum Beispiel gab es welche, die im Büro arbeiteten, welche die in der Kopie arbeiteten. Wir waren in der Produktion. Produktionshelfer.
Wie groß war der Anteil von ausländischen Arbeitern in der Fabrik? Also von türkischen oder, oder ...?
Wir waren 12, 13 Personen. Wir sind nur unten, Produktion. Griechen gab es auch, mit uns zusammen. Griechen und Türken, unten. Es gab auch Deutsche. Es gab auch Deutsche, die mit uns zusammengearbeitet haben.
Aber der überwiegende Teil waren deutsche Arbeiter?
Das waren die mit Ausbildung. Wir zum Beispiel, da wir ohne Ausbildung waren, dort Produktionshelfer, also, zuerst ist man als Hilfsarbeiter eingestiegen. Dann Produktionshelfer zwischen Drucker und Hilfsarbeiter. Normalerweise Hilfsarbeiter. Da kommt man gar nicht in die Maschine rein um zu arbeiten. (...)
Sie sind dann vom Hilfsarbeiter ...
Hilfsarbeiter und dann Produktionshelfer und dann Drucker. Drucker, das waren natürlich die mit der Ausbildung. Die Deutschen. Maschinenführer, so was. (...) Ich habe gesehen, wie die Deutschen über die Ausländer ... , die Zuständigkeiten auf sie abgewälzt haben, die Last. Die Umgangsformen habe ich kennengelernt. Also, im Arbeitsleben, dort. Zum Beispiel, brüllend, beleidigend: "Mach dies, mach das, mach das so, das so!" Immer dieser Befehlston. Okay, das sind untergeordnete Menschen, nun gut. Aber zu einem Deutschen, einem Deutschen: "Hans, bitte machen Sie das." (...)
Das war langfristig, diese Arten des Umgangs. Also jetzt, klar, einige von den Druckern haben ihre eigenen psychischen Probleme, die Probleme zu Hause, die Probleme im Sozialleben, das was sie schmerzte, ihnen Sorgen bereitete, gleichzeitig mit zur Arbeit gebracht. Das ist normal. Jeder bringt sich, seinen Stress mit zur Arbeit. (...) Was passiert dann? Diejenigen, die in den unteren Sektoren sind, wir zum Beispiel. Ausbildung, das ist nicht gebildet. Ausbildung ist etwas anderes. Er hat schlechte Laune und sitzt da: "Mach dies, mach das, mach, mach, mach!" Seine eigene Arbeit hat er uns machen lassen zum Beispiel. (...)
Es gibt so einen Innenvertrag, aus dem bricht man in dem Moment aus, wenn man sagt: "Nein, das mache ich nicht." Dann wird dir gesagt: "Geh nach Hause. Du musst es machen, du hast so oder so keine Alternative!" Dies trägt dazu bei, dich in deine Krise hinein zu ziehen. Dann kommst du nach Hause ..., wir haben unter Freunden darüber gesprochen, warum das so ist. Manchmal habe ich mich auch mit den Deutschen gestritten, Streit, naja, Wortgefechte gab es. Aber wenn wir nach Hause kamen, trugen wir den Stress, den wir hatten, auf Händen. Wenn wir uns mit dem Ehepartner unterhalten haben, die Deutschen haben dies gemacht, die Deutschen haben jenes auf Arbeit gemacht. Das war für eine lange, ausgedehnte Zeit so in diesem Arbeitssystem.
In diesem Arbeitssystem tragen wir alle diese Angriffe mit nach Hause. Wenn wir sie nach Hause getragen haben, reden wir. Da ist unser Kind, ein dreijähriges Kind. "Sieh mal, mit meinem Papa haben die Deutschen das so gemacht, bei seiner Arbeitsstelle!" Wenn das Kind anfängt, das zu hören. Wir haben es nicht bemerkt, waren uns nicht bewusst darüber, dass wir angefangen haben, unsere Kinder den Deutschen gegenüber feindlich zu erziehen. Ja! Sagen wir nicht Feind, also, dagegen. Zum Beispiel, mein Kind ist hier geboren, hier aufgewachsen, kennt die Türkei überhaupt nicht. Bei einem Nationalfußballspiel, wenn Deutschland und Italien spielen, ist es nicht für Deutschland, es ist zum Beispiel für Italien. Ich habe das irgendwann vor mir entstehen sehen. Hier gibt es Tausende von Türken, die füllen Stadien mit türkischen Fahnen aus. Wie ist denn dieses Gefühl aufgekommen? Das Soziale bringt den Menschen halt an diesen Punkt. Ein besorgniserregender Umfang. (...)
Und gab es in diesen 15 Jahren [von 1988 bis 2003] eine Entwicklung in diese Richtung? Waren das immer Phasen, dass die Vorarbeiter schlecht gelaunt waren und ihre schlechte Laune an den ausländischen Mitarbeitern abgelassen haben, oder gab es auch eine Entwicklung, dass sie innerhalb von diesen 15 Jahren zunehmend belastet wurden, als Gastarbeiter?
Das war so. Eigentlich findet sich der Druck in den Gefühlen und Gedanken eines Menschen. Wenn auf der Arbeit etwas schief läuft, geht der Chef zu den Druckern und brüllt und meckert den Arbeitenden an. Wenn es gut läuft, gibt es keine Probleme. Aber wenn man etwas ununterbrochen erlebt, also, zum Beispiel, ich habe die Vorstellung von Druck, in unserem Arbeitsbereich gab es Nachteile. Sagen wir [nimmt ein Blatt Papier]: das ist zwei Gramm, ne? (...) Das ist noch leicht. Okay, kommen wir zu einer anderen Perspektive. Ich trage so [hält das Papier mit ausgestrecktem Arm]. Eine Stunde, kann ich, ne? (...) Zwei Stunden? Geht (...)
Aber drei Stunden, schaff ich nicht. Meine Arme ist ..., tut weh. Das ist das. Wenn lange Zeit arbeitest du dort, jeden Tag kommt eine, äh. Was war [das Sinnbild] noch mal [mit den] Tropfen? Zum Beispiel ich ... Was war nochmal sich aufrecht halten? Ja. Über diese lange Zeit kann man das nicht mehr tragen. Die kleinste Sache, ohne Unterbrechung, macht das Glas voll. Und irgendwann kommst du an einen Punkt, an dem du es nicht mehr ertragen kannst.
Ich selber, bin im Jahr 2002, also zu der Zeit, als die Fabrik nicht mehr so lief, alles fing an, mir schwer zu fallen. Zum Beispiel, ich habe neben mich eine Eisenstange gelegt. "Wenn der jetzt noch einmal kommt und mir noch mal was sagt, dann schlage ich den Chef mit dem Teil", dachte ich mir. An so einen Punkt bin ich gekommen. Ja, ein Mensch wie ich! Kannst du dir das vorstellen?! An was für einem Punkt ich angekommen war! Dann habe ich angefangen, über mich selber zu lachen und nachzudenken. Das war meine Entscheidung, den Chef schlagen zu wollen. Also, die spielen mit deinem Selbstwertgefühl, von Zeit zu Zeit. Da kommen natürlich viele Sachen zusammen. Ich bin dann in eine Krise geraten. Ich selber, ich sehe mich ja selber, ich war dann drei, vier Monate krank geschrieben. Herr Volkert
Herr Volkert arbeitet seit über 40 Jahren als Stahlbauschlosser im ostdeutschen Lingner Werk in M. Sein ganzes Arbeitsleben verbindet sich mit diesem Unternehmen: Er hat in den 1960er Jahren bei Lingner gelernt; er hat dessen Blütezeit erlebt - Lingner galt weltweit als ein großer Name im Schwerlastgerätebau - und auch die schwierigen Jahre gegen Ende der DDR. Er gehört zu den Wenigen, die Massenentlassungen und Privatisierung am Anfang der 1990er Jahre überstanden haben. Alles in allem kann Herr Volkert 20 Jahre Berufserfahrung im volkseigenen Betrieb und 20 Jahre im Privatunternehmen Lingner addieren. Herr Volkert steht wie viele Arbeiter für ein traditionelles Arbeiterethos - mit Disziplin und Pflichtgefühl: "Ich stehe jeden Tag um viertel Fünfe auf. Das fällt mir schon schwer, das Aufstehen. Gut, ich könnte schon ein bissel länger schlafen, aber dann wird das alles früh ein bissel hektischer. Wir sind alt und darauf programmiert, schon eine halbe Stunde vorher da zu sein. Es gibt keinen, der sagt, ich komme fünf vor um sechs. Nee, man ist schon halb sechs hier. Ich weiß auch nicht warum. Das ist schon das ganze Leben so gewesen." Seine Arbeit als Stahlbausschlosser beschreibt Herr Volkert voller Stolz und Selbstbewusstsein: "Man kriegt da Unterlagen, so einen Packen Papier mit Zeichnungen. Und dann muss ich das zusammenbauen. (...) So wie ein Auto in der Taktstraße. Das ist eigentlich die Arbeit eines Stahlbauschlossers."
Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, deren Anforderungen oft unterschätzt werden: "Also ein Dummer schafft es nicht. Man muss ja so eine Zeichnung lesen können. Ohne ein bisschen Mitdenken schafft man es nicht. (...) Da muss man wirklich nach Millimetern arbeiten können und nicht wie auf dem Bau nach Zentimetern. Bei uns muss das schon ein bisschen genauer gemacht werden. (...) Das ist schon eine komplizierte Arbeit und die wird immer unterschätzt, zumindest von den höheren Kräften. 'Stahlbau', sagen die, 'ist nur minderwertige Arbeit, die wird nach Kilopreis bezahlt (...)'. Also das kann man so nicht sagen, dass die Arbeit so minderwertig ist, wie sie immer dargestellt wird. Wie gesagt, es ist eine interessante Arbeit. Es ist ja nicht, dass man immer dasselbe baut, man baut ja auch immer mal was anderes. Und man ist natürlich auch stolz, wenn man es geschafft hat am Ende."
Auch wenn Herr Volkert von seiner persönlichen Arbeitsleistung überzeugt war und ist, hat er seine Weiterbeschäftigung bei Lingner trotz der mehrfachen Entlassungswellen in den frühen 1990er Jahren eher als glückliche Fügung denn als Folge seiner Leistung erlebt: "Ein bisschen Glück ist schon dabei, ja ja. Denn wie gesagt, ich hätte auch mit entlassen werden können, hätte ich jetzt keine Kinder gehabt. Da hätte der gesagt, der hat keine große soziale Verantwortung hier, raus. (...) Na ja, da waren natürlich, manche, die gehen mussten, dann ein bissel betröppelt, aber da konnten ja die nichts dafür, die überlebt haben. (...) Da ist eine Auswahl getroffen worden, meist eben von einem Vorgesetzten. Am Ende, ich konnte ja nichts machen dafür. Man hätte mehr protestieren können vielleicht, aber ich glaube, das hätte auch nichts mehr gebracht." "Man wird getrieben"
Seit ein paar Jahren fällt ihm die Stahlbauschlosserei zunehmend schwerer, was nur auf den ersten Blick etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. "Die Arbeit ist nicht schlecht, aber sie fällt mir doch schon schwer. 45 Jahre, da wird es Zeit, dass man zur Ruhe kommt, (...) also Zeit, immer in der Leistung stehen, dass man es schaffen muss." Herr Volkert erlebt seit Jahren einen steigenden Anforderungs- und Termindruck. Der Durchgriff vom Management auf die Ebene der Facharbeit erfolgt immer direkter, und die Termine für die Produktion werden stetig enger: "Wir haben jetzt grade wieder gehört, dass die Chinesen Schwerlastgeräte von uns haben wollen. Also wenn der Termin so kurz wie möglich gemacht wurde, also ein Jahr und länger nicht, dann geht es noch lange nicht los. Wenn dann alles mal da ist, dann geht es los, und dann muss man da hetzen, damit der Termin gehalten wird, weil sonst dann Vertragsstrafe bezahlt wird und so was."
Der Erfahrungsschatz seines langen Arbeitslebens reicht zunehmend weniger aus, um die komplexeren und kürzeren Arbeitssequenzen erfolgreich zu bewältigen, und so schleicht sich in seinen Facharbeiterstolz ein Gefühl der Überforderung: "Und das ist so das Schwierigste an der Sache, wenn man die Anforderungen nicht schafft, zeitmäßig, dann wird man getrieben, getrieben und dann macht man gleich was verkehrt, weil man getrieben wird und das ist das Nicht-Schöne im Arbeitsprozess. Man muss mit Ruhe arbeiten können."
Ein ehrenvoller Abgang in den Vorruhestand scheint die beste Lösung für dieses Anforderungsdilemma zu sein: "Na ja, aber das ist ganz normal, wenn man 45 Jahre hier so was gemacht hat, dann kann es nicht mehr gut gehen. Da wird es Zeit, dass man langsam zur Rente kommt. In zwei Jahren, da denke ich mir, dass ich dann ausscheiden kann in Altersteilzeit. Ich will dann raus."
Angesichts des Pflichtgefühls und des Arbeiterstolzes überrascht es, dass Herr Volkert seinem Abschied von 45 Jahren Arbeitsleben scheinbar ohne Bedauern und Trauer entgegensieht. Aber er erlebt, dass seine Zeit im Werk abgelaufen ist. Zwar produziert Lingner wie eh und je Schwerlastgeräte, aber der Arbeitsalltag hat kaum noch etwas mit dem Werk zu tun, in dem er sein Arbeitsleben als Lehrling begonnen hat.
Mit den Eigentumsverhältnissen hat sich auch das Betriebsklima gewandelt, insbesondere die Beziehungen zwischen den Arbeitern und der Geschäftsführung. Gerade das Verhalten des Geschäftsführers schneidet im Vergleich zum Werksleiter aus DDR-Zeiten deutlich schlechter ab: "Die [DDR-Direktoren] standen einem vielleicht ein bisschen näher. Die waren vielleicht nicht ganz so arrogant, wie sie heute sind. Der, den wir jetzt haben, das ist ein ganz ein Arroganter. Der grüßt nicht mal, wenn er durch die Halle geht. Das ist ein komischer Mensch. Da ist eher sein zweiter Vorstand noch patent, der grüßt wenigstens in der Werkstatt jeden. Früher, zu DDR-Zeiten, da haben wir auch den Chef nicht geduzt, aber es war kumpelhafter. Der Werksleiter hat mitgespielt in der Betriebsmannschaft. Und da waren wir sogar per Du. Und das war eben doch der Werksleiter. Der war echt prima. Der war eine Kapazität. Der war Mathematiker, ein großer Fuchs war das. Der hat sich aber so in der Masse, so unter den Arbeitern, trotzdem noch wohl gefühlt. Der hat nicht den Chef raushängen lassen. Es war, wie es eigentlich sein sollte, will ich mal sagen - eher gut. Aber heute! Das sind heute andere Zeiten. Ein Chef, dem die ganze Firma gehört und der Millionär ist, der lässt sich mit uns nicht ein. Das macht der nicht. Auch wenn wir mal zusammen Fußball gespielt haben. Es gab nämlich auch eine Betriebsmannschaft Fußball. Da waren wir mit dem Fußball spielen in D., irgend so ein Turnier, aber da kam er schon mit dem Privatauto. Wir sind alle mit dem Bus gefahren. Und der kam natürlich hinterher mit dem Audi gefahren und hat dann mitgespielt. Da hab ich dann auch Du zu dem gesagt beim Spiel, na wie's so ist beim Sport. Aber der kennt einen nicht mehr."
Es ist aber nicht nur das Führungsverhalten und die Distanz zu den Beschäftigten, die Herr Volkert am jetzigen Eigentümer beobachtet. Besonders kritisch sieht er dessen Betriebspolitik: "Seine Politik, die ist eigentlich, die ganze Produktion auszulagern. Nur das Glashaus, nur konstruieren und die Konstruktion verkaufen. Das alles woanders bauen lassen. Und dann wird nur noch unser Logo draufgeklebt. Das ist seine Philosophie. Das haben wir schon von Anfang an mitgekriegt. Der hat nicht so viel Interesse am Werk. Der will viel mehr Profit machen. Aber das geht nicht so einfach. Das hat er gemerkt, als er Aufträge ins Ausland gegeben hat. Aber das wäre hier sein Traum: Nur noch Bürogebäude, alles schön sauber und das alles wird vermietet. Da machen wir eine Kaufhalle rein, hinten einen Autohändler, so ungefähr. Das sind seine Gedanken. Er hat kein bisschen soziales Verständnis für die Leute hier. Dass er die Leute alle in Arbeit hat, dass es denen gut geht, dass die auch leben können. Das ist nicht seine Welt. Das ist jetzt ein ganz anderer Typ von Unternehmer. Mit Künstlern tut er sich verstehen. Die tut er auch sponsern, die Künstler. Da hat er eine ganze Halle hier zur Verfügung gestellt. Die Künstler lässt er hier umsonst wohnen. Da drüben wohnen auch Künstler oben in der Etage. So eine Dunkelhäutige, die bastelt auch irgendwas. Die ist schon zehn Jahre dort. Ich weiß nicht, was die macht, ob die Bilder aushängt oder was. Und Fotografen hat er auch schon gehabt. Hier am Kunstzentrum im Ort engagiert er sich so ein bisschen. Das ist das ehemalige Kino, da sind auch die Künstler dabei. Aber dafür gibt er Geld aus. Nur für das Soziale, für die Leute nicht. Mit den Künstlern, da kann er gut harmonieren. Da schleichen bestimmt 30, 20 Stück herum, die hier im Betrieb leben. Die leben hier. Die wohnen hier in der Halle, oben haben die ausgebaut so irgendwas."
Lediglich mit den jährlichen Betriebsfeiern wird ein wenig an DDR-Zeiten angeknüpft: "Das gibt's, ja. Jedes Jahr gibt's eigentlich ein Sommerfest. Da gehen wir immer Bowlen hier mit dem ganzen Betrieb und da gibt es schön zu Essen und so. Das muss man ihm zugestehen - fairer Weise." Die Distanz des "Millionärs" zu den einfachen Arbeitern ist für Herrn Volkert noch irgendwie nachvollziehbar. Aber dessen spezifisches Engagement im Kunstbereich kann er nur als unerhörte Missachtung gegenüber dem Werk, dem Produkt und den Arbeitern deuten. Hatte sich der "alte Chef", der das Unternehmen ursprünglich gekauft hatte, als klar gewinnorientierter, aber doch patriarchalischer Unternehmer erwiesen, verweigert sich "der Sohn" traditionellen Fürsorgeerwartungen. Dieser "ganz andere Typ Unternehmer" verkörpert für Herrn Volkert einen Verfall der Traditionen und der Kultur der Metallindustriebranche.
Mit Rückblick auf sein Arbeitsleben bereut Herr Volkert nicht, dass er nach der Schule ohne großes Nachdenken den Beruf des Stahlbauschlossers ergriffen hat. Für ihn und die damalige Zeit war das die richtige Entscheidung: "(...) und ich will mal sagen, ich hab's auch nicht bereut. Ich bin gut durch's Leben gekommen - bis jetzt." Müsste er sich jedoch unter den heutigen Bedingungen neu entscheiden, würde seine Wahl anders aussehen: "Na gut, nach den heutigen Erkenntnissen würde ich sagen, nein, da lieber was im Büro machen. Da muss ich mich nicht so schinden."
In den letzten Berufsjahren erlebt Herr Volkert mehr denn je den Statusverlust der Arbeiter. Noch braucht das Management den Stahlbau, weil osteuropäische Zulieferer bislang nicht die nötige Qualität erbrachten. Das Damoklesschwert des Outsourcing schwebt weiter über dem Stahlbau und ebenso bleibt die Geringschätzung seitens des Unternehmers: "Eigentlich sind wir das fünfte Rad am Wagen, der Stahlbau, obwohl wir gut arbeiten und das immer ordentlich machen." Der Eigentümer verkörpert für den Stahlbauer Volkert die Missachtung traditionellen Produzentenstolzes und die Abkehr von einer langen Metall- und Techniktradition im Lingner Werk. Die Investitionen in Glas, Beton und Kunst lassen den vernachlässigten Stahlbau dabei noch schmutziger, unbedeutender aussehen.
Mit Herrn Volkert endet die stolze Facharbeitertradition in der Familie, denn geringes Ansehen des Stahlbauerberufs trotz nach wie vor körperlich schwerer Arbeitsbedingungen sind keine Basis für die berufliche Zukunft der Söhne: "Nein. Da haben wir abgeraten. Das ist mein Tipp gewesen oder sagen wir mal, der Tipp meiner Frau. Die hat gesagt, nicht ins Gewerbliche. Die werden immer arrogant behandelt, immer. Im Moment werden sie gesucht hier, aber behandelt werden sie immer wie die Letzten. Das ist eben so, der Kapitalismus, der ist so. Da ist der Gewerbliche der Letzte in der Reihe. Da gibt's nicht mehr viel, was noch dahinter kommt. Und so wird das auch gehandhabt - alles." Frau Polz
Ich treffe mich mit der 46-jährigen Frau Polz in einem Café in ihrem Wohnort, der 20 Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt am Rande einer österreichischen Landeshauptstadt liegt. Sie raucht viel, und wirkt von den Anstrengungen der vergangenen Jahre körperlich ausgezehrt. Sie ist alleinstehend und wohnt in ihrem Elternhaus. Sie hat ihre schwer pflegebedürftigen Eltern zehn Jahre lang bis zu deren Tod vor einem bzw. einem halben Jahr rund um die Uhr zu Hause gepflegt. Wegen der zeitaufwändigen Verpflichtung konnte sie in den vergangenen fünf Jahren nur Teilzeit arbeiten, was mit erheblichen finanziellen Engpässen verbunden war.
Frau Polz hat eine Lehre als Handelskauffrau abgeschlossen. Sie begann 1985 bei M-Mode, einem traditionsreichen österreichischen Versandhaus, in der Retourenstelle zu arbeiten. Seit 23 Jahren arbeitet sie nun im gleichen Lager als "normaler Arbeiter", wie sie sagt. 1994 wurde M-Mode durch ein deutsches Versandhandelsunternehmen aufgekauft, das inzwischen zum größten Versandhandelskonzern der Welt expandierte ("Samson"). Die Lagerzentrale, in der Frau Polz arbeitete, wurde zur zentralen Retourenstelle ausgebaut. Die 20 Mitarbeiter/innen, die bei M-Mode in der Retourenabteilung beschäftigt waren, wurden auf 250 Beschäftigte aufgestockt. Daneben waren in dem Logistikzentrum auch der Versand für Österreich und ein privater Paketzusteller untergebracht, der ebenfalls zum Konzern gehört. Von den 400 Beschäftigten, die mehrheitlich im Schichtdienst arbeiteten, waren etwa 50 Leiharbeiter/innen.
Seit zehn Jahren engagiert sich Frau Polz in der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung und ist seit zweieinhalb Jahren Vorsitzende des Arbeiterbetriebsrates. In dieser Funktion erhielt sie Einblick in die Auswirkungen der Veränderungen in der Organisationsstruktur des Betriebes und den stetig wachsenden Druck, mehr leisten zu müssen. Als besonders einschneidend erlebte Frau Polz die Veränderungen in Folge der Einführung der informatischen Erfassung der Waren. Einerseits vereinfachten sich durch die Computereingabe die Arbeitsabläufe, zugleich fand aber eine Intensivierung der Arbeit statt, denn mit dem Rationalisierungsprozess vervielfachten sich gleichzeitig die Stückzahlvorgaben, welche die Mitarbeiter/innen einzuhalten haben, und auch die Kontrolle der Arbeitsgeschwindigkeit nahm zu. Der dadurch entstehende Druck verschärfte sich zusätzlich durch die latente Drohung, bei Nichteinhaltung der Stückzahlen der nächsten Kündigungswelle zum Opfer zu fallen.
Für flexibilisierte Arbeitsverträge, Personalabbau und die Konzentration der Standorte wurde seitens der Konzernleitung der stetige Niedergang des Versandhandels verantwortlich gemacht. Gerade weil es dem Konzern schlecht gehe, verlangt die Leitung von den Beschäftigten mehr Leistung, und setzt das drohende Schicksal der Arbeiter mit dem des Unternehmens gleich. Aber: Für die 400 Beschäftigten bedeutet die drohende Schließung des Versandzentrums den Entzug der Existenzgrundlage, während der Konzern trotz der Krisenrhetorik Gewinnzuwächse verzeichnet.
Seit unserem Gespräch hat die Lage sich noch einmal drastisch gewendet. Das Verteilerzentrum in Österreich wurde 2010 geschlossen. Alle Mitarbeiter/innen des Lagers wurden entlassen. "Also jetzt zählt nur mehr das Stück, der Mensch nicht mehr"
Frau Polz: Es sind immer wieder starke Kämpfe. Wie ich angefangen habe [war's] eigentlich sehr sozial. Und das hat sich mittlerweile sehr geändert. Also jetzt zählt nur mehr ... das Stück, der Mensch nicht mehr. Also da muss man um jeden einzelnen "Kopf" ... sagen die Höheren, was mich immer so stört, das sind Köpfe, weil ich finde immer, es gehört auch ein Herz zum Menschen und nicht nur der Kopf! Aber da muss man um jeden Einzelnen kämpfen. (...)
Es ist viel stressiger geworden, weil wir jetzt mehr machen müssen in der gleichen Zeit. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es ist sicher einfacher geworden, weil man ja durch den Computer jetzt leichter einen Fehler selber entdeckt. (...) Nur: Dadurch, dass man so eine hohe Stückzahl hat, schaut man nicht mehr so genau, und jetzt ist die Fehlerquote natürlich trotzdem da. Auf der einen Seite ist es natürlich gut, dass die Stückzahl so hoch ist, und auf der anderen Seite sollten halt keine Fehler sein. Weil der nächste Kunde hat auch keine Freude, wenn er eine ganz andere Jeans zum Beispiel kriegt als was er bestellt. Und dadurch ist es auch nicht leichter geworden mit dem Computer. Das Betriebsklima hat sich dadurch auch sehr verändert. Das hat damit zu tun, dass auch einfach eine größere Menge an Personal da ist. Wenn man mit 20 zusammenarbeitet, ist das anders, wie wenn man mit 250 zusammenarbeitet. Man kennt sich nicht mehr wirklich. Früher hat man immer so kleine Feiern gemacht, zu Weihnachten oder so, das gibt's nicht mehr, das kann man nicht mehr, bei so vielen ... und das kostet ja auch viel mehr! Das Familiäre verliert sich. (...) Und viele der Jetzigen kennen das auch gar nicht mehr. Wie gesagt, von vor 20 Jahren, da sind nicht mehr sehr viele, die noch drinnen sind. Ich gehöre zum alten Eisen. Es sind viele nicht mehr dabei, weil der Druck einfach zu groß ist. Der Verdienst nicht so ...
Gilles Reckinger: Und wie geht's Ihnen dabei?
Hmm ... wie soll ich sagen. Ich denke mir auch manchmal: wenn ich nicht so viel verlieren würde ... Und: was machen, mit 46? Weiß nicht, ob ich noch dort wäre. Ich habe mich inzwischen schon ein paar Mal umgeschaut um was anderes, aber ... es ist schwierig. Ich habe im Handel, also im Verkauf eigentlich nur meine Lehrzeit. Ich hab' keine Praxis. Und das ist ein Problem, jetzt fängt man von null an im Endeffekt. Wer will jemanden, der über 20 Jahre weg ist? Unqualifiziert trotz Lehre! (...) Wenn man ausrechnet, was man vorher in Schilling verdient hat und jetzt in Euro, ist es natürlich gestiegen, jedes Jahr um ein paar Prozent. Aber das ist nicht genug. Also wir Arbeiter verdienen ca. 1000 Euro netto. Mit dem Geld - für Vollzeit - ist nicht wirklich zu leben. (...)
Vom Betriebsrat aus machen wir nach wie vor Betriebsausflüge. Und Weihnachtsfeiern werden auch - bis auf letztes Jahr - immer wieder gemacht, von der Firma aus. Aber das ist ziemlich alles. Oder wenn so Jubiläumsfeiern sind, so wie vor zwei Jahren, da war 50 Jahre Samson. Aber ... es kommt drauf an, wie die Stimmung ist: Voriges Jahr zu Weihnachten sind, glaube ich, 100 von den Leuten, die zugesagt haben, gar nicht gekommen. Da war gerade so eine Arbeitszeitumstellung und sehr große Unzufriedenheit. Kündigungen ... und dann ist die Unzufriedenheit groß, und dann hat keiner mehr ein Bedürfnis zum Feiern. Und schon gar nicht mit der Geschäftsführung. Und es ist in Frage gestanden, ob man überhaupt in Österreich weitermacht oder nicht. Also ob's komplett geschlossen wird oder ... Im Moment ist das vom Tisch. Im Moment! Bis zur nächsten Vorstandssitzung. Werden wir sehen.
Die halten Sie die ganze Zeit so in der Schwebe ...
Ja, immer wieder das Gleiche! Und deswegen ist der Druck eben so groß. Und das zieht auch vieles mit sich. Weil man weiß: Wenn wir gewisse Sachen nicht erreichen, dass wir dann weg sind. Dann gibt's nicht einen Arbeitskollegen der unzufrieden ist, sondern 400, die wir sind. Das ist Erpressung, aber Tatsache!
Wie funktioniert das bei Ihnen dann mit den Kündigungen? Frühpensionierung oder stellen die einfach nicht mehr ein, kündigen sie auch oder ...
Alles! Durch die Bank. Ist alles passiert. Alle die eben so vertrags-gearbeitet haben, die haben alle müssen aufhören. Die haben den Vorschlag bekommen von einer Leihfirma, über die Leihfirma bei uns zu arbeiten. Damit ersparen sie sich, wenn es schlechter geht, die Kündigungen. Also die arbeiten im Endeffekt gleich weiter, nur: Sie sind nicht über Samson angestellt. Und natürlich: Die sind nicht so zufrieden. Weil die sagen sich auch: Im Grunde genommen machen sie das Gleiche, aber sie haben gewisse Vorteile nicht. Zum Beispiel zu Weihnachten kriegen wir Gutscheine. Das kriegen die Leiharbeiter nicht. Wir können Minusstunden machen und Überstunden machen, das gibt's bei den Leiharbeitern nicht. Also zumindest bei der Firma nicht. Also die Stunden, die die machen, die kriegen sie bezahlt. Machen sie mehr, dann kriegen sie in dem Monat mehr, machen sie weniger, kriegen sie in dem Monat weniger. Ist keine Arbeit, werden die als Erstes nach Hause geschickt. Und dann: keinen Urlaub.
Und der Betriebsrat greift dann auch nicht für die Leiharbeiter ...
Also ich versuche schon auch denen zu helfen, und sie kommen auch zu mir. Ich habe nur die Schwierigkeit, dass ich keine Ansprechperson hab' für sie! Das ist das Problem. Nur, wenn's um Gesetze geht und so ... die Information, die versuche ich ihnen weiterzugeben. Die Entsolidarisierung, die spürt man bei uns sehr. Und die Stimmung wird natürlich noch verschlechtert. Noch mehr. (...)
Weil Sie gesagt haben, die können das so einrichten, dass jemand freiwillig geht: Gibt es Leute, die kündigen und sagen: "Ich halte das hier nicht mehr aus"?
"... halte den Druck nicht mehr aus." Ja, sehr viele. Viele! Immer wieder. Also das hat's früher nicht so gegeben. Das nimmt zu. Der Stress und der Druck ... Ich glaube, das ist auch, weil's eben so unfamiliär geworden ist. Es wird nicht mehr gelobt. Es wird nicht mehr geschätzt, was man an Leistung bringt. Es wird nicht mehr gesagt. Und das fehlt. Es wird immer nur Druck weitergegeben, aber nie, dass was Positives kommt. Also das Beste, was wir machen können, ist, dass wir das Soll erreichen, und wenn nicht, dann werden's halt geschimpft. Die Psyche leidet darunter. Und dann ... geht man halt. Was machst du? Und das wird immer mehr, dass eben aus psychischen Problemen Krankheiten entstehen und dann die Leute eben gehen, weil sie sagen, das können sie nicht mehr. Burn-out sagt man in den höheren Kreisen, aber das gibt's auch bei den Arbeitern! Dass sie sich der Situation nicht mehr gewachsen fühlen.
Wie geht es Ihnen dann, wenn Sie von der Arbeit kommen, wie fühlen Sie sich da?
Fertig! (...) Ich lasse es auf mich zukommen. Ohne Hoffnungen. Ohne Ängste. Das habe ich gemerkt: Dass das eh nichts bringt. Was kommt, kommt eh. Was soll's? Ob sie zusperren oder ob ich bis zur Pension unten bin ... Der Umsatz ist halt nicht gut. Umso größer wird der Druck. Wenn der Umsatz funktioniert, dann wird sehr vieles in Kauf genommen. Und auch die ganze familiäre ... wie's vorher war. Das hat die jetzige Geschäftsführung nicht mehr. Gut, wir haben früher auch positive Zahlen gehabt. Dann hat's einmal ein Glas Sekt für jeden gegeben. Oder ... so Kleinigkeiten ... das macht keiner mehr. Es wird dann schon immer gesagt: "Nur durch euch haben wir überhaupt das erreicht." Und am nächsten Tag werden dann Zehne wieder entlassen. Das nimmt dann niemand mehr ernst.
Also ich habe jetzt durch meine Betriebsratstätigkeit den Gerhard Samson überhaupt selber kennengelernt. Sehr interessant, so jemanden kennen zu lernen. Und dass er ein ganz ein normaler Mensch ist. Wir haben natürlich über die Firmensituation gesprochen, und er hat mir klipp und klar ins Gesicht gesagt - ich meine, man muss es irgendwie verstehen -: "Wir machen seit zehn Jahren ein negatives Geschäft." Und ich sehe es eh selber: das Geschäft läuft nicht. Wir haben ja so viel probiert, woran's liegen kann: Mit dem Internet haben sie es probiert. Dass man schneller wird im Internet und besser, aber ... es ist der Kundenstock nicht mehr da. Und durch die Sparmaßnahmen was ein jeder persönlich haben muss, so wie's jetzt ist, mit den Ölpreisen, Benzinpreisen und so weiter. (...) Weil, wo spare ich, außer bei der Kleidung, Möbeln, Elektroartikel und so? Und das wird natürlich immer schlechter, je schlechter die Lage für jeden Einzelnen wird. Und weil der Verdienst, den man hat nicht mehr wirklich reicht! Ich finde ... Mittelschicht, das gibt's ja gar nicht mehr!
Ganz ehrlich jetzt: Wenn man mit 1000 Euro alles erhalten muss, da bleibt nix mehr, so wie früher, dass du sagst, jetzt leiste ich mir mit dem Weihnachtsgeld oder mit dem Urlaubsgeld etwas. Mit dem Weihnachtsgeld oder mit dem Urlaubsgeld muss ich schauen, dass ich das Öl kaufen kann! Dass man solche Zahlungen macht, die größer sind. Und da hat man sich früher einmal etwas geleistet. Und das fällt ja jetzt auch alles weg. Es fällt der Mittelstand ... und die Reichen, die kaufen nicht beim Versand! Oder? Die Gegensätze werden größer. Candy M.
Candy M. ist seit 36 Jahren im privaten Dienstleistungsbereich tätig. Wir treffen sie abends nahe ihrem Arbeitsort. Candy ist 47 Jahre alt und in verschiedenen Kinderheimen aufgewachsen. Nach drei Jahren hat sie die heimeigene Schule abgebrochen, die ihr keine Perspektive zu bieten schien. Mit elf Jahren beginnt Candy in der "Prostitution" zu arbeiten, da sie nicht länger im Heim bleiben möchte. Candy hat in ihrer langen Erwerbsbiografie mit vielen Settings der institutionalisierten "Prostitution" Erfahrungen gemacht, wie der "Bordell-" oder der "Appartementprostitution". Derzeit arbeitet sie ohne Zuhälter auf dem Straßenstrich. Laut Schätzungen beläuft sich der Jahresumsatz im Bereich Sexarbeit in Deutschland auf etwa 14,5 Milliarden Euro. Sexuelle Dienstleistungen umfassen nicht nur Sexualkontakte, sondern auch, wie Candy berichtet, "nur mal Essen gehen", wenn die Freier sich einsam fühlen.
Die Deregulierung und Kriminalisierung von Sexarbeit (wie durch die Sperrgebietsverordnung ) führen zu besonders schwierigen Arbeitsverhältnissen. Die meisten Sexarbeiterinnen sind nicht sozialversichert, es fehlen arbeitsrechtliche Bestimmungen und es gibt nur wenige Interessenvertretungen. An dieser Situation hat in Deutschland auch die Einführung des Prostitutionsgesetzes (ProstG) 2002 nichts grundlegend geändert, auch wenn damit die Legalisierung von Sexarbeit und die Anerkennung als sozialversicherungspflichtige Tätigkeit erreicht werden sollte.
Der Stadtteil, in dem Candy und etwa 450 andere Frauen in der Straßenprostitution arbeiten, ist ein Sperrgebiet. Das ProstG hat auf ihre aktuelle Arbeitssituation deswegen keinerlei Auswirkung. Der Anteil migrierter Sexarbeiterinnen beläuft sich auf etwa 60 Prozent. Wie Candy leben viele der Frauen an der Armutsgrenze und stehen daher in der Regel unter einem großen Druck, sich auf Preisverhandlungen mit den Freiern einzulassen. Der Verstoß gegen die Sperrgebietsverordnung wird immer vehementer mit Bußgeldern von 50 bis 200 Euro, Platzverweisen und Aufenthaltsverboten geahndet. Wie viele ihrer Kolleginnen konsumiert Candy auch Drogen, um die Arbeitsbedingungen erträglicher zu machen. Damit setzt sie sich einer doppelten Strafverfolgung aus: Sie verstößt nicht nur gegen die Sperrgebietsordnung, sondern auch gegen das Betäubungsmittelgesetz.
In unserem Gespräch mit Candy wird deutlich, dass ein massiver Preisverfall stattgefunden hat. Allerdings versuchen viele Sexarbeiterinnen, an einem Preisniveau von 20 bis 30 Euro festzuhalten: "Also was ich jetzt total scheiße finde, Entschuldigung, dass ich das mal sage, ist, wenn man hört, dass manche ohne Kondom machen. Und dann die Preise runterhauen. So wie 15 oder 20, also das ist total daneben. Früher war es ab 50. Und wir haben auch alle früher immer mit Kondom gemacht. Aber jetzt, kannst du alles vergessen. (...) Und was ich jetzt ein paar Tage gesehen habe, kann nix mehr machen, ich hätte mir sehr gerne gewünscht, dass es mir so geht wie früher. Dass man in normalen Regeln arbeiten tut. Und nicht einer so, einer so und einer so. Zum gleichen Preis aber nur mit Kondom. Manche machen ohne Kondom, manche nur für 15, manche nur für 10 und so. Und da habe ich keinen Bock drauf."
Mit dem Preisverfall sind die Forderungen von Kunden an Candy und ihre Kolleginnen, unsafer zu arbeiten, gestiegen: Verstärkt wird das Ausführen sexueller Dienstleistungen ohne Kondom und gefährlicher Sexualpraktiken gefordert. Candy und ihre Kolleginnen sehen sich mit dem Problem konfrontiert, für niedrige Löhne ihre Gesundheit und oft auch ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Aufgrund der bestehenden Machtasymmetrie zwischen Freiern und Sexarbeiterinnen ist es für Candy und ihre Kolleginnen schwierig, ein für sie akzeptables Preisniveau einzufordern: "Also ganz einfach, ich passe mich an die Preise an. Okay, einer von euch oder zwei kommen jetzt zu mir und ich sage euch: 'So ist der Preis. Ohne Kondom nicht.' Und wenn man erwartet ohne Kondom, dann gibt es Probleme. (...) Wenn viele Mädchen damit anfangen. Dann guck doch mal, ein Beispiel: Das sind jetzt die teuren Mädchen ja, das sind die billigsten Mädchen. Also, als Mann, wo gehst du hin? Zu den Billigsten. Wieso sollen die anderen zu den Frauen gehen, die was mehr nehmen, wenn sie was billiger kriegen. So ist das. Also nur auf die Straße." "Preise sollen Preise sein"
Der Preisverfall ist in unserem Gespräch mit Candy ein wichtiges Thema, auf das sie immer wieder zu sprechen kommt. Er ist deswegen so problematisch, weil er unmittelbar ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt, denn der Preis ist in diesem Berufsfeld die einzige Quelle sozialer Anerkennung. Mit ihrer Forderung "Preise sollen Preise sein" verweist Candy also nicht nur auf ihre Einkommenssituation, sondern vor allem auch auf diese Anerkennungsdimension des Preises. In der Preisforderung werden somit ihre Anerkennungs- und Respektabilitätsbemühungen deutlich, die sich in ihrem Arbeitsethos "wenn man schon arbeitet, muss man sich selbst respektieren" widerspiegeln. "So wie die das machen, geht nicht. Okay, ich habe öfters mit denen allen geredet. Aber vielleicht geht es da rein und da raus. (...) Kapieren tun die so und so nicht. Und ich habe es aufgegeben." Die Frage, ob es eine Zusammenarbeit unter den Sexarbeiterinnen gibt, verneint Candy: "No, no, und zusammenhalten auch nicht. Ist nicht so wie im Eros-Center oder wie in einer Bar oder wie jetzt angestellt, das ist nicht so. Kannst du alles vergessen."
Insgesamt ist Candy durch die zunehmenden restriktiven staatlichen Regelungen einer stetig wachsenden Konkurrenz und einem verstärkten Preisdruck ausgesetzt, die mit den veränderten Kundenforderungen zu einer Prekarisierung ihrer "selbstständigen" prostitutiven Tätigkeit auf dem Straßenstrich und zu einer fremdbestimmten Flexibilisierung führen. Das wird vor allem vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der "Appartement-" und "Bordellprostitution" mit Zuhälter deutlich. Diese Form der Sexarbeit geht zwar häufig mit Ausbeutung, Entmündigung und Abhängigkeit einher, bietet dafür aber verbindliche Regeln, Einbindung und einen minimalen Schutz.
Auch ermöglicht die Figur des Zuhälters ein vertikales Feindbild, was wiederum die Solidarität unter den Sexarbeiterinnen befördern kann: "Also, wo ich da gearbeitet habe, haben die Preise gestimmt. Erst war ich im Crazy-Love und da war auch ein Mädchen, die hat ... Wir sitzen und wundern uns, wo die ganzen Idioten bleiben, und wir rauchen Zigarette. Und dann haben wir irgendwie gemerkt, die Freier gehen alle weiter hoch. Und dann meinten wir am nächsten Tag, was ist denn da oben los, weil die alle da hoch gehen ja. Und dann habe ich gefragt: 'Gibt es da irgendwas umsonst oder habt ihr noch nie ein Zimmer angeguckt?' 'Nee wieso, die machen für 20 Euro. Ihr seid uns zu teuer.' Ja, wo ich das gehört habe, habe ich den Mädchen gesagt: 'Hey, da oben läuft ein anderes Programm.' (...) Und dann sind wir ins Zimmer gegangen und dann meine ich: 'So, hallo, ihr könnt wieder runter gehen. Das Programm ist jetzt hier beendet. Dir wurde doch gesagt, die Preise sind so und so, was nimmst du denn jetzt für Preise?' Da meinte das Mädchen (...): 'Ich arbeite.' Und da meinte ich: 'Und du, du ziehst dich an und ich sage dir das in Ruhe, ich sage das in Ruhe, andere sagen das nicht in Ruhe, hast du doch gerade gehört, du anziehen, Klamotten packen und durch die Tür. Hast du verstanden?' (...) Guck mal, im Eros-Center, wenn da jetzt jemand ein Problem hat, dann tun wir uns alle zusammen und wir regeln das. (...) Und da gab es auch ein Frühstück und Mittagessen oder so, warmes Mittagessen und so. Da war eine Frau, die hat gekocht. Ist ja auch okay, mit 120 Miete ist man schnell fertig."
Ob Candy es besser fand, in der Wirtschaft mit einem Zuhälter zu arbeiten, beurteilt sie differenziert: "Das kommt drauf an. Okay, wenn du einen Zuhälter hast, der was echt cool ist und der was nicht auch, wenn du jetzt nicht so viel verdient hast, was auf die Fresse. So ein Typ war er nicht, weil er selber verstehen kann, wenn Fußball ist oder so, da ist nichts los und dann ist eben nichts los. Okay, ich habe ja immerhin bei ihm in der Wohnung geschlafen und so. Und er hat auch gesagt zu mir: 'Pass auf Nummer eins, wenn nix los ist, keine Panik. Ich schlage dich nicht. Ich bin nicht der Typ, der da jetzt kommt ey und so, das sind für mich billige Typen. Du wohnst jetzt bei mir und wenn du nicht so viel hast, kein Problem. Hauptsache, du hast immer die Mieten und das.' Und wenn du jetzt, sagen wir mal, ja durchschnittlich war dann neunhundert bis zehnhundert. Ja okay, war aber schnell gemacht, doch, muss ich sagen. (...) Wir waren immer ein gutes Paar. Bis sie ihn auf der Strae umgebracht haben."
Candy hat sich entschieden, selbstständig auf der Straße zu arbeiten, weil sie die tägliche Miete für das Zimmer nicht mehr verdienen konnte. Mit ihrem angeblich "ausländischen" Aussehen entsprach sie nicht den Wünschen der Freier und hatte dementsprechend weniger Kunden. "Hier brauchst du keine Mieten zu zahlen. (...) Was nützt das, du bist im Eros-Center und nutzt das auch. So 100 Euro musst du jeden Tag abgeben. Wenn du 100 Euro nicht hast, heute nicht, morgen nicht und so und so nicht. Ja was denn, das ist doch blöd auch. Und dann ist es besser, man trennt sich."
Die aus einer Notwendigkeit gewählte "selbstständige" Tätigkeit als Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich bedeutet eine Kommodifizierung von Candys Arbeitskraft, das heißt es kommt zu einer verstärkten Abhängigkeit vom Markt. Die massiven Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen sind ein markantes Zeichen der Transformation dieser Arbeitswelt. Candys Arbeitsraum ist durch eine verschärfte Konkurrenz und eine Ausweitung der Zumutungen gekennzeichnet. Niedrigere Löhne und ein höheres gesundheitliches Risiko sind Ausdruck dieser neuen Prekarität.
Candy hat keine Hoffnung, dass sich ihre Arbeitsbedingungen wieder verbessern. Sie zeigt sich gegenüber den Zumutungen widerständig, indem sie auf ihrem Preis und der Benutzung von Kondomen beharrt. Mit dieser letzten Grenze verteidigt sie ihre Würde und damit ihren Subjektstatus sowie ihre Mindestanforderungen an gute Arbeit. Deutlich werden hier auch ihre Professionalität und ihr Berufsethos: "Und dann hatte mir aber ein Mädchen ja gesagt (...): 'Dann machst du immer mit Kondom, musst du immer aufpassen. Und dann immer die Preise so, wie wir dir das gesagt haben. Sonst, wenn du runtergehst, dann endest du als Leiche.' Habe ich auch immer so weiter gemacht. Ich habe immer gefragt, wie die Preise sind. Haben sie mir alle gesagt. Also wenn ich neu bin, frage ich dich oder sie jetzt, wie sind die Preise. Und das ist, das ist erst mal respektvoll, wenn du arbeitest wie die Mädchen."
Für das Festhalten an ihrem Berufs- und Selbstverständnis zahlt Candy einen hohen Preis: längere Stehzeiten oder Einnahmeausfälle. Aber sie will lieber "stehen bleiben und korrekt arbeiten". "Ich will mich auch nicht so kaputt machen lassen, wie die jetzt. Jetzt ohne Kondome. Ich kann es nicht. Ich würde mich dabei ekeln. Ich würde denken, ey sag mal, bin ich schon ganz kaputt oder was. Ich meine, man muss da schon Respekt haben, wenn man schon arbeitet, muss man sich selbst respektieren. (...) Wenn man schon in diesem Gewerbe macht - Nummer eins: respektiere dich, Nummer zwei: Kondom, und Nummer drei: man lässt sich nie was unterbringen, sonst kann jeder machen, was mit dir will. (...) Es gibt welche Ausnahmen, die sagen: 'Ja guck mal, ich habe nur 30.' (...) Okay, das ist was anderes. Aber für 15 oder für fünf? Nee. Also da sehe ich gar nichts ein. Ich würde auch niemals für jemanden mit fünf Euro ins Zimmer gehen. Die Treppen hoch- und runtergehen, ja, aber nicht im Zimmer und sich alles ausziehen oder für 15 alles ausziehen. Nee, da wirste schon als ne Leiche gestapelt."
Aufgrund fehlender Alternativen geht Candy, wie viele Menschen, trotz verschlechterter Arbeitsbedingungen weiter ihrer gewohnten Arbeit nach. Candy nutzt ihre eingeschränkten Wahlmöglichkeiten und organisiert ein hochkomplexes und schwieriges Leben. Auf die Frage, ob sie einen Wunsch habe, antwortet sie: "Ja, ein Ticket Richtung Jamaika."
Die vier Kurzporträts sind gekürzte und bearbeitete Versionen aus: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Michael Gemperle (Hrsg.), Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch, Konstanz 2010.
Das Gespräch wurde von Carsten Keller im April 2009 in Anwesenheit einer Übersetzerin geführt. Der Interviewer spricht nur deutsch, der Interviewte antwortet in der Regel direkt auf die Fragen. Er spricht überwiegend türkisch, zeitweise aber auch deutsch. Die deutschen Passagen des Interviewten sind daher in Kapitälchen gesetzt. Wir haben die Erzählungen des Interviewten von Beate Klammt - ihr sei an dieser Stelle herzlich gedankt - aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzen lassen.
Das Lingner Werk blickt auf eine fast 130-jährige wechselvolle Geschichte des Schwerlastgerätebaus zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst SAG-Betrieb avancierte Lingner in den 1960/70er Jahren zum größten Anbieter für Schwerlastgeräte in Osteuropa. Der wirtschaftliche Zusammenbruch und die Privatisierung in den 1990er Jahren waren mit erheblichem personellem Abbau verbunden. Von gut 2400 Beschäftigten 1990 waren 2009 noch 150 Personen tätig. Lingner beschäftigt zusätzlich etwa 100 Leiharbeiter - einige von ihnen schon seit mehreren Jahren. Mittlerweile zählt Lingner zu den so genannten Hidden Champions. Von Mai bis Juli 2008 wurden Interviews mit ausgesuchten Angehörigen des Werkes geführt.
Das Gespräch wurde im Juli 2008 von Gilles Reckinger geführt.
Das Gespräch wurde im August 2008 geführt.
Sperrgebiete sind Gebiete (Stadtteile, Plätze und Straßen), in denen die Ausübung der Prostitution verboten ist.
Migrantinnen werden zusätzlich mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert und hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus und/oder des Besitzes einer Arbeitserlaubnis illegalisiert.
| Article | , Carsten Keller / , Olaf Groh-Samberg / , Michael Hofmann / , Silke Röbenack / , Gilles Reckinger / , Diana Reiners / , Kathrin Schrader / , Kathrin Englert | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-06T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33357/ein-halbes-leben-vier-kurzportraets-aus-einer-arbeitswelt-im-umbruch/ | Wie hat sich die Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Wie erfahren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen diese Veränderungen, wie gehen sie damit um? In diesem Beitrag gewähren vier Personen Einblicke in ihr Arbeitsleben. | [
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Info M 02.02 Alles Lüge? - Aussagen aus den Brexit-Kampagnen | Europawahl 2019 (mehrsprachig) | bpb.de | Drei Aussagen aus den Leave-Kampagnen mit Auflösungen
"Großbritannien schickt der EU jeden Tag 50 Millionen Pfund. Lasst uns stattdessen lieber unseren nationalen Gesundheitsservice fördern." (“We send the EU £50 million a day – let’s fund our NHS instead.“)
Die genannte Summe ist zu hoch. Der Beitrag, den Großbritannien jedes Jahr an die EU zahlt, beläuft sich insgesamt auf 17,8 Milliarden Pfund, also etwa 342 Millionen pro Woche und somit tatsächlich knapp 50 Millionen Pfund am Tag. Korrekterweise müsste von diesem Betrag jedoch noch der von Margaret Thatcher initiierte Briten-Rabatt von etwa 4,9 Milliarden Pfund jährlich abgezogen werden, der Großbritannien erstattet wird. Außerdem erhält sowohl der britische Privatsektor als auch die öffentlichen Einrichtungen Zahlungen von der EU in der Höhe von rund 5,8 Milliarden Pfund pro Jahr. Die Kosten der EU-Mitgliedschaft von Großbritannien belaufen sich demnach nur auf 7,1 Milliarden Pfund, also 136 Millionen Pfund pro Woche oder etwa 19 Millionen Pfund am Tag. (Vgl. Niedermeier / Ridder 2017, S.26f)
"Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen, damit wir entscheiden können, wer hierherkommen darf – und wer nicht." (“We need to take back control of our borders so we decide who can come here – and who can’t.“)
Impliziert falsche Voraussetzungen und widerspricht anderen Zusagen der Leave-Kampagnen. Aufgrund der Freizügigkeitsregelung dürfen sich EU-Bürger/innen innerhalb der EU frei bewegen und dort ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen. Was die Binnenmigration – also die Migration innerhalb der EU – angeht, scheinen die EU-Mitgliedsstaaten tatsächlich weniger Kontrolle zu haben als andere Staaten. Da Großbritannien aber kein Mitglied des Schengen-Abkommens ist, durch das Personenkontrollen an EU-Binnengrenzen vermieden werden sollen, gab und gibt es an den britischen Grenzen Passkontrollen. Außerdem darf auch EU-Bürger/innen die Einreise verwehrt werden, wenn Sicherheitsbedenken bestehen. Die Freizügigkeit aufzugeben bedeutet für Großbritannien jedoch auch, den uneingeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt zu verlieren, für den die Freizügigkeit eine Voraussetzung ist – und das deckt sich nicht mit der Zusage mancher Brexit-Befürworter/innen, Großbritannien würde nach dem Austritt Teil der EU-Freihandelszone bleiben können. Darüber hinaus stammt nur die Hälfte aller Migranten und Migrantinnen in Großbritannien aus EU-Mitgliedsstaaten; für Migrierende aus anderen Staaten kann die britische Regierung auch als EU-Mitgliedsstaat eigenständig Obergrenzen festlegen. (Vgl. ebd. 2017, S.27f)
"Der britische Handel wird florieren und die Zahl der Jobs wird steigen, nachdem wir für den Austritt gestimmt haben." (“UK trade and jobs will thrive after we vote leave.“)
Darüber kann man noch keine sichere Aussage treffen – die meisten Prognosen sehen aber negative Folgen für GB voraus. Prognosen über die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts zu erstellen ist überaus problematisch, nicht zuletzt, weil diese Folgen stark von der Art des Austritts abhängen (Stichworte: Austrittsabkommen, harter Brexit, Zugang zum Binnenmarkt). Die meisten zu den unterschiedlichen Szenarien veröffentlichten Studien sehen mehr negative als positive Effekte für die britische Wirtschaft voraus. Brexit-Befürworter/innen argumentierten unter anderem, dass ein EU-Austritt die britische Wirtschaft von den Fesseln der EU-Regularien befreien und das Wirtschaftswachstum durch die Ablösung von der eher langsam wachsenden EU-Wirtschaft ankurbeln würde. (Vgl. ebd. 2017, S.28f) Das mag stimmen, jedoch darf man auch nicht außer Acht lassen, dass Großbritannien nach dem Austritt fortan selbst Handelsabkommen mit anderen Staaten abschließen müsste – ein langwieriger Prozess, in dem Großbritannien als einzelnes Land gegenüber anderen Staaten eine deutlich schlechtere Verhandlungsposition einnimmt als die gesamte EU. Darüber hinaus ist Europa Großbritanniens wichtigster Handelspartner: Über 40% der britischen Warenexporte und Dienstleistungen verbleiben innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten.
Drei Aussagen aus den Remain-Kampagnen mit Auflösungen
"Die EU hat viel dazu beigetragen, Länder miteinander auszusöhnen, die sich einst jahrzehntelang an die Gurgel gegangen sind. Großbritannien hat ein großes nationales Interesse daran, gemeinsame Ziele in Europa aufrechtzuerhalten, um zukünftige Konflikte zwischen EU-Mitgliedsstaaten zu vermeiden." (“The European Union has helped reconcile countries which were once at each other’s throats for decades. Britain has a fundamental national interest in maintaining common purpose in Europe to avoid future conflict between European countries.")
Keine Falsch-Aussage, weckt aber Ängste vor eher unrealistischen Szenarien im Falle eines EU-Austritts. Der damalige Premierminister David Cameron äußerte im Vorfeld des Referendums mehrfach die Befürchtung, dass ein EU-Austritt Großbritanniens (und die damit einhergehende Schwächung der EU) für Europa einen Rückfall in weniger friedliche Zeiten bedeuten könnte. Es ist jedoch fragwürdig, ob der Frieden in Europa tatsächlich so empfindlich ist, dass man ihn durch den Austritt Großbritanniens aus der EU ernsthaft in Gefahr bringen könnte. Zwar wäre eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik mit Großbritannien sicherlich effektiver – schließlich zählt das Land zu den 10 größten Militärmächten der Welt. Andererseits gehören die meisten EU-Mitgliedsstaaten der NATO an, was Kriegsausbrüche zwischen den Mitgliedsstaaten sehr unwahrscheinlich werden lässt. Doch auch aus einer strategischen Perspektive lässt sich die Nützlichkeit von dieser und anderen Aussagen Camerons anzweifeln. Denn durch die Überbetonung der negativen Folgen eines EU-Austritts gerieten die positiven Effekte der Mitgliedschaft rasch in den Hintergrund. Aus diesem Grund wurde Cameron von seinen politischen Gegnern vorgeworfen, die britischen Bürger/innen durch Panikmache dazu bringen zu wollen, gegen den Brexit zu stimmen – anstatt sie mit stichhaltigen Argumenten vom Verbleib in der EU zu überzeugen (Stichwort: project fear). (Vgl. ebd. 2017, S.29f)
"Mehr als 3 Millionen britische Jobs sind an unseren Handel mit der EU gekoppelt." ("Over 3 million UK jobs are linked to our trade with the EU.")
Die Höhe der genannten Anzahl an Jobs wird von Wirtschaftsexperten angezweifelt. In den verschiedenen Remain-Kampagnen wurden oft die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft betont sowie vor dem Umstand gewarnt, dass sich der Verlust dieser Vorteile nachteilig auf die britische Wirtschaft auswirken würde. Die Exaktheit der Zahlen, die solche Argumente unterstreichen sollten, wurde von Wirtschafsexperten und -Expertinnen jedoch häufig angezweifelt (vgl. Treib 2018, S.241). Darüber hinaus sagt der scheinbare Fakt, dass 3 Millionen Jobs an den Handel mit der EU geknüpft sind, nichts darüber aus, ob diese im Falle eines Austritts bestehen bleiben können oder nicht; dies ist stark von der Art des Austritts abhängig. Die Aussage suggeriert jedoch, dass den Inhaber/innen dieser Jobs nach dem Austritt die Arbeitslosigkeit droht.
"In der EU zu sein bedeutet niedrigere Preise. Wenn wir austreten, könnte Ihr Wocheneinkauf teurer werden." ("Being in Europe means lower prices […]. If we left, your weekly shop could cost more.")
Darüber kann man noch keine sicheren Aussagen treffen – negative wirtschaftliche Folgen sind aber wahrscheinlich. Viele Wirtschaftsexperten und –Expertinnen teilen die Ansicht, dass eine kurzfristige Preissteigerung nach dem Brexit nicht unwahrscheinlich ist, vor allem dann, wenn der Wert des britischen Pfunds sinken sollte. Doch es ist schwierig, verlässliche Aussagen über die langfristigen wirtschaftlichen Folgen des Brexit zu treffen, da eine Vielzahl an Faktoren berücksichtigt werden müsste und man sich aus diesem Grund nicht auf einzelne Bereiche beschränken kann, ohne wesentliche Faktoren außer Acht zu lassen. So könnte beispielsweise der fehlende Wettbewerb mit anderen Unternehmen in der EU zu Preissteigerungen in verschiedenen Sektoren führen – doch umgekehrt könnte die Aufhebung von EU-Regularien im Bereich der Agrarpolitik zu Preissenkungen führen. Auch der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ist stark von der Art des Austritts abhängig. Literatur:
Niedermeier, Alexander; Ridder, Wolfram (2017): Das Brexit-Referendum. Hintergründe, Streitthemen, Perspektiven. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Treib, Oliver (2018): Wenn der Geist einmal aus der Flasche ist. Das Brexit-Referendum und die Politisierung der EU in Großbritannien. In: Anders, Lisa H; Scheller, Henrik; Tuntschew, Thomas (Hg.): Parteien und die Politisierung der Europäischen Union. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Linkliste
Interner Link: bpb-Artikel über mögliche wirtschaftliche Folgen des Brexit bpb-Lexikoneintrag zum Briten-Rabatt bpb-Lexikoneintrag zum Schengener Abkommen Externer Link: Zeit-Online-Artikelüber die Argumente der Brexit-Befürworter/innen und –Gegner/innen: Interner Link: bpb-Artikel über die NATO (North Atlantic Treaty Organization) Seite des gemeinnützigen Vereins Externer Link: Full Fact zu den Aussagen der Brexit-Befürworter/innen und –Gegner/innen [Seite auf Englisch]
Quelle: Externer Link: https://www.thetimes.co.uk/edition/news/that-350m-brexit-windfall-just-doesn-t-add-up-9wq0zs38
Quelle: Externer Link: http://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/themes/55fd82d8ebad646cec000001/attachments/original/1463496002/Why_Vote_Leave.pdf?1463496002
Quelle: http://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/themes/55fd82d8ebad646cec000001/atta chments/original/1463496002/Why_Vote_Leave.pdf?1463496002
Quelle: Externer Link: https://www.zeit.de/wirtschaft/2016-06/brexit-auswirkungen-pro-contra-david-cameron-george-osbourne
Quelle: Interner Link: http://www.bpb.de/internationales/europa/brexit/228809/wirtschaftliche-folgen
Quelle: Externer Link: http://edition.cnn.com/TRANSCRIPTS/1605/09/cnr.20.html
Quelle: Externer Link: https://www.strongerin.co.uk/get_the_facts#EaoYXdOvgvdU60k1.97
Externer Link: https://fullfact.org/europe/3-million-jobs-linked-trade-eu/?utm_source=content_page&utm_medium=related_content
Quelle: Externer Link: https://digital.library.lse.ac.uk/objects/lse:xoq924wez/read/single#page/1/mode/1up
Externer Link: https://fullfact.org/europe/eu-referendum-voting-guide-stronger-prices/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-02-12T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/europawahl-2019-grafstat/285741/info-m-02-02-alles-luege-aussagen-aus-den-brexit-kampagnen/ | Dieses Infomaterial für Lehrerinnen und Lehrer erläutert den jeweiligen Wahrheitsgehalt der Aussagen aus den Leave- und Remain-Kampagnen zum Brexit aus M 02.02. | [
"EU; Europawahl 2019; GrafStat"
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Die Polizei in der Einwanderungsgesellschaft | Migration und Sicherheit | bpb.de | Als sich in den 1990er Jahren in Deutschland langsam die Erkenntnis durchsetzte, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, stellte sich auch für die Polizei die Frage, ob, wie, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen Menschen mit Migrationshintergrund Zugang in den Polizeidienst finden sollten. Die Polizei zählt zu den Kernbereichen des Staates. Externer Link: In den letzten Jahren hat daher das Bemühen der Polizei deutlich zugenommen, den gesellschaftlichen Realitäten entsprechend vermehrt Zugewanderte und ihre Nachkommen in den Polizeidienst aufzunehmen. Damit verbunden war und ist das Bestreben, sowohl Teilhabe zu gewähren als auch positiv wirkende Integrationseffekte zu erzielen. Damit sind sowohl gesellschaftliche als auch organisationsbezogene und politische Überlegungen verbunden.
Gesellschaftliche Begründungen für eine interkulturelle Öffnung der Polizei
Bestimmte Migrant_innen und ihre Nachkommen – wie z.B. solche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Stadtvierteln – werden von Sicherheitsbehörden (aber auch von Teilen der Bevölkerung) aufgrund eines sehr selektiven Blicks auf (potenzielle) Gefahren häufig als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Wenn Migrant_innen allerdings auch als Polizistinnen und Polizisten in Erscheinung treten, könnte dies dazu verhelfen, diese Verbindung in der öffentlichen Wahrnehmung zu lockern. Zugewanderte haben im Aufnahmeland häufig eine schwierige sozio-ökonomische Ausgangslage. Treten Menschen mit Migrationshintergrund in größerer Anzahl in den Polizeidienst ein, kann dies nicht nur als Anzeichen für einen persönlichen, sondern auch für einen gesellschaftlichen Aufstieg von Migrant_innen und ihren Nachkommen in der Aufnahmegesellschaft betrachtet werden. Mit der Öffnung der Polizei gegenüber Eingewanderten und ihren Nachkommen ist eine Signalwirkung für andere Organisationen verbunden, sich ebenfalls interkulturell zu öffnen: Wenn Menschen mit Migrationshintergrund sogar die hohen Einstellungshürden in die Polizei nehmen, können sich für sie weitere Tore in andere Organisationen öffnen.
Die gesellschaftlichen Begründungen auf die Öffnung des Polizeidienstes für Menschen mit Migrationshintergrund entsprechen aber nicht unbedingt den Zielen der Polizeiorganisation selbst.
Organisationsziele mit Blick auf eine interkulturelle Öffnung
Die Polizei scheute sich zunächst davor, Zugewanderte und ihre Nachkommen in größerer Anzahl aufzunehmen. Bestimmend war der Blick, Migrant_innen und ihre Nachkommen als "problematische Andere" wahrzunehmen : einerseits als Störung für Recht und Ordnung in einer Gesellschaft, die sich bis Ende der 1990er Jahre nicht als Einwanderungsland verstand, andererseits als Störfaktor einer auf einen ähnlichen Habitus ihrer Mitglieder ausgerichteten Organisation. Gleichzeitig war es aber das oft als konflikthaft erlebte Aufeinandertreffen von Polizist_innen und Migrant_innen im öffentlichen Raum, das einen wesentlichen Motor für die interkulturelle Öffnung darstellte. Denn mit der vermehrten Einstellung von Menschen mit Migrationshintergrund war die Hoffnung verbunden, die Kompetenzen zum Polizieren einer multikulturellen Gesellschaft zu erhöhen – u.a. durch die Möglichkeiten einer kulturkompetenten Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund, die Deeskalation von Konflikten oder Übersetzungsleistungen.
Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund lag in Deutschland 2018 bei 25,5 Prozent , in Großstädten haben durchschnittlich 30 Prozent der Bevölkerung ausländische Wurzeln. Der polizeiliche Zugang zu migrantischen Milieus erfordert mitunter Sprach- und Kulturkompetenz. Die kann zum einen über die interkulturelle Kompetenz der Polizei gewährleistet werden, die bereits in der Ausbildung vermittelt wird, zum anderen aber auch über Beamt_innen, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Der Interner Link: demografische Wandel führt außerdem dazu, dass sich die Basis potenzieller Bewerber_innen ohne Migrationshintergrund für den Polizeidienst verringert. Immerhin 24 Prozent der Neugeborenen in Deutschland hatten 2018 eine Mutter mit ausländischer Staatsangehörigkeit. 2016 hatten Interner Link: 38,1 Prozent der in Deutschland lebenden unter Fünfjährigen einen Migrationshintergrund.
Die Polizeien der westlichen Bundesländer (einschließlich Berlin) bemühen sich schon länger mit gezielten Kampagnen um migrantische Bewerber_innen. 12,5 bis 36 Prozent der Polizeianwärter_innen (Bewerberinnen und neu Eingestellte) haben hier einen Migrationshintergrund ; unter Polizist_innen, die schon länger im Dienst sind, ist dieser Anteil deutlich geringer. In den ostdeutschen Bundesländern, die allesamt einen im Vergleich zu Westdeutschland geringen Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund aufweisen, ist die interkulturelle Öffnung der Polizeien überwiegend kein oder ein noch relativ junges erklärtes Ziel.
Während der Bedarf an migrantischem Personal funktional im Sinne der genannten Organisationsziele verstanden wird, gibt es durchaus weitere gewichtige Begründungen für eine Öffnung der Polizei gegenüber Zugewanderten und ihren Nachkommen, die im Folgenden erläutert werden sollen.
Politische Überlegungen für eine interkulturelle Öffnung der Polizei
Die interkulturelle Öffnung könnte Formen rassistischer Diskriminierungen und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in staatlichen Strukturen entgegenwirken. So sind auch im Bereich der Polizei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Ergebnis von Prozessen der bewussten, unbewussten sowie mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung in staatlichen Institutionen (institutioneller Rassismus ). Ein bekanntes Beispiel ist etwa das sogenannte Externer Link: Racial Profiling: Migrant_innen geben an, besonders oft durch die Polizei kontrolliert und dabei diskriminierend behandelt zu werden. Die Beschäftigung von Migrant_innen wäre ein Signal nach innen und nach außen, dass die Polizei sich von Fremdenfeindlichkeit distanziert. Sie könnte letztlich auch Anlass sein, Interner Link: sich der eigenen Denkstrukturen und Vorgehensweisen innerhalb der Polizei bewusst zu werden und sie kritisch zu hinterfragen. Regelmäßig wird von der Polizeiwissenschaft auch der sogenannte Korpsgeist in der Polizei beklagt. Eine "Mauer des Schweigens", die sich aus einem stark betonten Gefühl der Polizist_innen als Angehörige einer Gefahrengemeinschaft speist, führt häufig dazu, dass auch rechtswidriges Handeln von Polizist_innen ("police deviance") durch Kolleg_innen gedeckt wird. Mehr Diversität durch interkulturelle Öffnung der Polizei könnte das aufbrechen und die Kontrolle der Polizei selbst erleichtern. Die Polizei behauptet von ihrem Personal, ein Spiegelbild der Gesellschaft zu sein. Zwar stimmt das nicht, schließlich schließen zahlreiche Einstellungskriterien (wie z.B. mangelnde Fitness und Gesundheit, Übergewicht, zu geringe Körpergröße, zu hohes Alter bei der Bewerbung, auffällige Tätowierungen, Vorstrafen, Verschuldung) den Großteil der Bevölkerung vom Polizeidienst aus. Menschen allein aufgrund ihrer Herkunft den Weg in den Polizeidienst zu versperren, wäre allerdings eine grundgesetzwidrige Diskriminierung.
Die Organisationskulturen der Diversität und der Assimilation
Trotz der oben genannten Argumente für die interkulturelle Öffnung der Polizei, erkannten manche Polizeipraktiker_innen hierin zugleich auch ein Sicherheitsrisiko und einen Entfremdungsfaktor. Wie könne, so die Bedenken, sichergestellt werden, dass die "Fremden" nicht kriminell, gar islamistisch sind oder die Loyalität gegenüber ihrer Herkunftskultur nicht schwerer wiegt als die Loyalität zum deutschen Recht, das sie anzuwenden und zu schützen hätten? Wie kann auch im Inneren der Polizei Vertrauen in die Kolleg_innen sichergestellt werden, die z.B. mit auf Streife fahren? All diese Ängste verweisen auf ein grundlegenderes Problem in der Organisationskultur:
Während in Wirtschaftsunternehmen und auch z.B. in der öffentlichen Verwaltung Diversität häufig positiv betrachtet wird und davon ausgegangen wird, dass gemischte Teams (etwa hinsichtlich Geschlecht, Alter, Sexualität, Ethnie, Sozialmilieu) meist innovativere Lösungen und bessere Entscheidungen erzielen , scheint Vielfalt in der Polizei vor dem starker Befehlshierarchien, die Unterordnung und Anpassung verlangen eher als Hindernis gesehen zu werden. Die Gefahr, der sich Polizist_innen in Einsätzen aussetzen, stärkt eine Organisationskultur, die auf Verlässlichkeit und Regeltreue ihrer Mitglieder setzt.
Während eine Organisation mit Diversitätskultur die individuellen Erwartungen und Fähigkeiten ihrer Mitglieder akzeptiert und fördert, arbeitet die Polizeiorganisation hingegen mit dem Grundsatz, alle ihre Mitglieder gleich zu behandeln. Wo dieser Grundsatz Gerechtigkeit erzeugt und mithin Integrationschancen birgt, wohnt ihm ebenso eine Kehrseite inne – und zwar dort, wo der Gleichbehandlungsgrundsatz Ausschlüsse erzeugen kann.
So gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz der Polizei für den Eintritt in den Dienst und für die Karriere. Die traditionelle und in den meisten Bundesländern gültige Einheitslaufbahn sorgt dafür, dass nicht nach besonderen Fähigkeiten und Einsatzbereichen (etwa technisch, kaufmännisch) ausgewählt wird. Stattdessen starten alle Polizeianwärter_innen der jeweiligen Laufbahngruppe (mittlerer, gehobener oder höherer Dienst) in derselben Position und müssen alle im Wesentlichen dieselben Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, um dann innerhalb der Organisation jede Position abhängig von Bedarf und Leistung erreichen zu können. Auch die persönlichen Auswahlgespräche nach den Einstellungstests fördern nicht Diversität, sondern ein "Mehr vom Selben". Hier wirkt das Prinzip der Kooptation, nach dem es altgedienten Polizeipraktiker_innen überantwortet wird, die passenden Bewerber_innen auszuwählen. Das verbessert die Einstellungschancen von jenen Bewerber_innen, die als ähnlich empfunden werden gegenüber denen, die als "fremd(er)" wahrgenommen werden. Da für alle Bewerber_innen prinzipiell die gleichen Einstellungsvoraussetzungen gelten, werden besondere Fähigkeiten, wie etwa zusätzliche kulturelle Kompetenzen von Migrant_innen und ihren Nachkommen kaum dazu herangezogen, Minderleistungen in anderen Bereichen auszugleichen. Zwar ist in vielen Landespolizeien in den letzten Jahren der Anteil der Bewerber_innen und neu Eingestellten mit Migrationshintergrund gestiegen. Gleichzeitig bleiben Menschen aus Einwandererfamilien aber unter Polizeianwärter_innen im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert.
Integration von "Fremden" in der Assimilationskultur der Polizeiorganisation
Diejenigen, die diese hohen Hürden genommen haben, werden als vollwertige Mitglieder in der Polizei aufgenommen. Das Merkmal der migrantischen Herkunft spielt dann im Polizeialltag nur noch selten eine Rolle. Wenn sprachliche Übersetzungen nötig sind, erweist es sich sogar als hilfreich und stellt somit einen Mehrwert dar; andersherum kann es sich – wie Forschungsergebnisse der Autorin zeigen – wiederum in Alltagsrassismen äußern, wenn z.B. in der Kantine gefrotzelt wird, dass der türkischstämmige Kollege sogar Schweinefleisch isst. Die Integration der "fremden" Kolleg_innen geht sogar so weit, dass fremdenfeindliche Gedanken auch in ihrer Gegenwart geäußert werden, weil ihre ethnische Herkunft "vergessen" wird. Dass der Migrationshintergrund von Polizist_innen im Alltag von den Kollegen oft nicht mehr wahrgenommen wird, zeigt ein Zitat aus einem Interview mit einem Dienststellenleiter, dass im Zuge des Projekts "Migranten in Organisationen von Recht und Sicherheit (MORS)", an dem die Autorin beteiligt war, geführt wurde: "[...] der war in meinen Augen so etwas von unauffällig, weil der sich genauso gegeben hat [...] wie alle anderen auch. [...] Sehr angenehmer Kollege und wie gesagt, aber ich habe nicht gemerkt, dass ein Migrationshintergrund da war". (Ethnische) Unauffälligkeit wird hier also zu einem Qualitätskriterium für Zugehörigkeit.
Die Bereitschaft der migrantischen Polizist_innen, sich in die polizeilichen Strukturen einzufügen, ohne an ihnen zu rütteln, gewährleistet volle Mitgliedschaft in der Organisation. Sie trifft auf die homogenisierende Fähigkeit der Polizeiorganisation, ein gewisses Maß an Andersheit zu familiarisieren. Dabei wird jedoch nicht Diversität vollzogen, sondern Assimilation erwartet.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers "Interner Link: Migration und Sicherheit".
Bei den hier dargestellten Überlegungen handelt es sich um Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt "Migranten in Organisationen von Recht und Sicherheit (MORS)", das im Zeitraum 2005-2010 von der Volkswagenstiftung gefördert wurde. Neben der Autorin waren u.a. auch Rafael Behr, Rüdiger Lautmann, Heike Wüller und Daniela Hunold am Projekt beteiligt.
Das ergab eine Auswertung von Beiträgen auf Konferenzen von Polizei-Praktikern, die von der Autorin im Rahmen des Forschungsprojekts "Migranten in Organisationen von Recht und Sicherheit (MORS)" vorgenommen und für die Gemeinschaftspublikation "Fremde als Ordnungshüter? Die Polizei in der Zuwanderungsgesellschaft Deutschland" (erschienen 2010 bei Springer VS) aufbereitet wurde.
Polizeiliches Handeln zur Gewährleistung und Aufrechterhaltung von Sicherheit.
Statistisches Bundesamt (2019): Jede vierte Person in Deutschland hatte 2018 einen Migrationshintergrund. Pressemitteilung Nr. 314 vom 21. August. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/08/PD19_314_12511.html (Zugriff: 15.10.2019).
Statistisches Bundesamt (2019): Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2018 –, S. 34 ff. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/migrationshintergrund-2010220187004.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff: 16.10.2019).
Statistisches Bundesamt (2019): Lebendgeborene nach der Staatsangehörigkeit der Mutter 2018. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/lebendgeborene-staatsangehoerigkeit-laender.html (Zugriff: 5.11.2019).
Mediendienst Integration (2019): Interkulturelle Öffnung: Die Polizei wird vielfältiger. Externer Link: https://mediendienst-integration.de/artikel/die-polizei-wird-vielfaeltiger.html (Zugriff: 21.11.2019).
MDR (2019): Polizisten mit Migrationshintergrund: Brauchen wir mehr davon? Externer Link: https://www.mdr.de/investigativ/migranten-bei-der-polizei-102.html (Zugriff: 16.10.2019).
Beim institutionellen Rassismus handelt es sich nicht um eine Legaldefinition, sondern um ein wissenschaftliches Konzept. Es bietet den Vorteil, nicht nur rassistische Diskriminierung, die von einzelnen Individuen ausgeht, in den Blick nehmen zu können, sondern auch Diskriminierungen, die in Gesetzen, Normen und internen Logiken, Einstellungen und Verhaltensweisen von Institutionen eingeschrieben sind. Diese Strukturen haben sich aufgrund von tradierten Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft entwickelt. Sie beeinflussen bewusst und unbewusst das Handeln und Denken von Individuen, die in diese Institutionen eingebunden sind. Gleichzeitig wirken (rassistische) Einstellungen von Individuen auch in die Institutionen zurück. Institutioneller Rassismus ist viel schwieriger nachzuweisen als unmittelbare rassistische Diskriminierungen, die von einzelnen Individuen ausgeübt werden.
Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung (2010): Externer Link: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/663-FRA-2011_EU_MIDIS_DE.pdf Zweite Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung (2018): Externer Link: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2017-eu-minorities-survey-muslims-selected-findings_de.pdf [9.10.2019].
Behrendes, Udo/Stenner, Manfred (2008): Bürger kontrollieren die Polizei?, in: Leßmann-Faust (Hg.), Polizei und politische Bildung, Wiesbaden: 45-88; Herrnkind, Martin (2003): Möglichkeiten und Grenzen polizeilicher Binnenkontrolle, in: ders./Scheerer (Hg.): Die Polizei als Organisation mit Gewaltlizenz, Münster:, S.131-155.
Klimke, Daniela (2010): Die Polizeiorganisation und ihre Migranten, in: Honold/Klimke/Behr/Lautmann, Fremde als Ordnungshüter, Wiesbaden, S. 40.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-11-26T00:00:00 | 2020-01-07T00:00:00 | 2021-11-26T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-sicherheit/303141/die-polizei-in-der-einwanderungsgesellschaft/ | Deutschland ist ein Einwanderungsland. Fast jeder Vierte hat einen Migrationshintergrund. Im Polizeidienst spiegelt sich dies bislang kaum wider. Ein Beitrag über das schwierige Unterfangen interkultureller Öffnung in einer auf Anpassung ausgerichtet | [
"Polizei",
"innere Sicherheit",
"Einwanderungsgesellschaft",
"Diversität",
"interkulturelle Öffnung"
] | 31,021 |
1990: Grundgesetz oder neue Verfassung? | Grundgesetz und Parlamentarischer Rat | bpb.de |
Im Jahr 1989 demonstrieren Menschen in Ostdeutschland für die Einheit Deutschlands. (© AP)
Im Januar 1989 äußerte ein Kommentator in der US-amerikanischen Tageszeitung "Washington Post" die Einschätzung, das bundesdeutsche Grundgesetz halte mit dem Wiedervereinigungsgebot in seiner Präambel an einem längst überkommenen Wunschbild fest, das erstens nicht erreichbar sei und zweitens für die meisten Bundesdeutschen keinerlei Bedeutung (mehr) habe.
Bereits wenige Monate später wurde diese Einschätzung jedoch von den Ereignissen widerlegt: Seit dem Frühjahr 1989 war in der DDR wachsender Protest gegen die SED-Herrschaft wahrzunehmen. Auf Proteste gegen die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 reagierte die DDR-Führung mit Repressionen und Verhaftungen. Daraufhin versuchten immer mehr Bürgerinnen und Bürger der DDR, über Ungarn in den Westen auszureisen.
"Wir sind ein Volk"
Ab September 1989 gingen kirchliche und politische Oppositionsgruppen im Rahmen der Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten an die (Welt-) Öffentlichkeit. Aus der anfänglichen Forderung nach Reisefreiheit wurde schon bald der Ruf "Wir sind das Volk". Dieser mündete schließlich – begünstigt durch entsprechende westdeutsche Initiativen – in den Ruf "Wir sind ein Volk". Ab Februar 1990 drehte sich die öffentliche Debatte nicht mehr um das "ob" einer deutschen Wiedervereinigung, sondern nur noch um das "wie" und vor allem "wie schnell".
Bei den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gewann das Drei-Parteien-Bündnis "Allianz für Deutschland" aus CDU, Demokratischem Aufbruch und Deutscher Sozialer Union (DSU) insgesamt 48,1 Prozent der Stimmen und formte zusammen mit der SPD (21,9 %) eine Große Koalition. Parallel zur Vorbereitung und Durchführung dieser ersten freien Wahlen in der DDR tagte der "Zentrale Runde Tisch der DDR".
InfoboxÄnderungen der DDR-Verfassung
Als Reaktion auf die friedliche Revolution im Herbst 1989 wurde die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik "in der Erwartung einer baldigen Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands" für eine Übergangszeit durch das Verfassungsgrundsätzegesetz vom Juni 1990 geändert. Bereits im Dezember 1989 war die Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, unter die Art. 1 die DDR gestellt hatte, gestrichen worden. Im Januar 1990 wurde das Privateigentum und die ausländische Beteiligung an Unternehmen in die Verfassung aufgenommen, im Februar das Wahlrecht demokratisiert sowie der Wehr- und der Zivildienst einander gleichgestellt. Im März folgten die Freiheit der Gewerkschaften, ihr Streikrecht sowie ein Aussperrungsverbot und im April 1990 wurde sowohl die Präambel der DDR-Verfassung aufgehoben als auch die bisherigen Kompetenzen des Staatsrates auf das Präsidium der Volkskammer übertragen.
Ein arbeitsgruppenbasierter Entwurf einer "Neuen Verfassung der DDR" sollte den Fortbestand einer souveränen DDR gewährleisten sollte und sich vor allem durch die hervorgehobene Stellung sozialer Grundrechte vom Grundgesetz abheben. Der Entwurf wurde im April 1990 der neu gewählten Volkskammer vorgelegt, stieß dort jedoch nicht mehr auf Gehör; stattdessen galt zunächst die Verfassung der DDR in geänderter Form fort.
Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit hob sich deutlich von den früheren verfassungspolitisch motivierten Debatten ab – von der Wiederbewaffnung bis zur Notstandsdebatte, den Diskussionen um eine Parlaments- oder Föderalismusreform, dem Datenschutz oder NPD-Verbot. Wohl nie zuvor war in der Bundesrepublik eine so grundsätzliche Debatte um Reichweite und Grenzen einer Verfassung, die darin verankerten Werte, ihren Geltungsgrund sowie ihre Geltungsdauer geführt worden. An dieser Debatte des Jahres 1990 nahmen Experten aus Wissenschaft, Politik und Publizistik teil, aber eben auch gesellschaftliche Gruppen, Verbände sowie zahlreiche einzelne Bürger.
Beitritt oder neue Verfassung?
Nach der auch mit Blick auf außenpolitische Konstellationen getroffenen Entscheidung für eine schnellstmögliche Vereinigung drehte sich die Debatte um die Frage nach dem "besten" Weg zur Einheit: Sollte dieser auf dem Weg eines Beitritts nach dem damaligen Art. 23 GG erfolgen oder war die Vereinigung über den Prozess der gesamtdeutschen Verfassungsgebung nach Art. 146 GG anzustreben? Während der Weg des Art. 23 GG eine Beibehaltung bei gleichzeitiger Ausdehnung des Grundgesetzes auf das Gebiet der bisherigen DDR vorsah, hätte das Grundgesetz beim Gang über Art. 146 GG seine Geltung verloren, wäre also vollständig abgelöst worden.
Dass die Auffassungen darüber so weit auseinander gingen, hatte mit den ganz unterschiedlichen Vorstellungen vom "besten Weg" zu tun: Während das für die einen der einfache und vor allem risikoarme Weg war, konnte für die anderen der beste Weg nur der sein, der es erlaubte, die Ostdeutschen gleichberechtigt einzubeziehen und sowohl den West- als auch den Ostdeutschen die Chance auf einen umfassenden, gemeinsamen Neubeginn zu garantieren.
Die Befürworter einer Verfassungskontinuität – das waren u.a. die Partner in der Bundesregierung sowie der "Allianz für Deutschland" – argumentierten sowohl inhaltlich als mit Blick auf die praktische Umsetzung: Zentrales Argument war der Verweis auf die Qualität des Grundgesetzes. Dieses stellte nach ihrer Einschätzung das "Optimum des bisher in Deutschland und anderswo je Erreichten" dar. Während die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auf höchstem Niveau beraten hätten, sei zu befürchten, dass ein zweiter Anlauf "matter ausfallen und manchen Freiheitswert relativieren würde" (Robert Leicht, DIE ZEIT).
Abstimmung mit den Füßen
Staatsrechtslehrer verwiesen mit Blick auf die Präambel darauf, dass das Grundgesetz von Anfang an auch für diejenigen geplant gewesen sei, denen 1949 "mitzuwirken versagt" war (Josef Isensee). Eine umfassende Verfassungsreform erschien ihnen schon deshalb nicht erforderlich, weil sie das Ergebnis der ersten demokratischen Volkskammerwahl auch als Votum für das bestehende Grundgesetz interpretierten. Im Vergleich zu einer Volksbefragung schien bei diesem Verfahren weniger die Gefahr zu bestehen, die Bevölkerung der DDR könnte als (kleinere) Teilgruppe des deutschen Volkes von vornherein ins Hintertreffen geraten (Christian Tomuschat, Staatsrechtler).
Schließlich könnten sich bei der Beitrittsvariante die beiden deutschen Staaten bzw. ihre Vertreter in der vorgeschalteten Verhandlungsphase auf der "Ebene der Gleichordnung" begegnen. Und wichtig erschien auch der zeitliche Ablauf: Aus Sicht der Befürworter eines Beitritts gewährleistete allein Art. 23 GG, dass man ausreichend schnell zur deutschen Einheit kommen konnte. Die maßgeblichen west- und ostdeutschen Verhandlungsführer zeigten sich nämlich besorgt, dass das "window of opportunity", also die historische Chance zur Wiedervereinigung, nur für kurze Zeit geöffnet sei. Diese Perspektive ist inzwischen umstritten, da sie die Rolle der führenden Akteure überzeichne (Gerhard Lehmbruch, Politikwissenschaftler).
Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestand der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Alternativen darin, dass das Verfahren des Art. 23 GG an die Vorschriften des Art. 79 GG gebunden war, während Art. 146 GG davon freigestellt gewesen wäre.
Der Einigungsvertrag trat am 3. Oktober 1990 in Kraft. Foto: AP
Das zentrale Argument von Befürwortern der Ablösungsvariante nach Art. 146 GG war ihr Bedenken, dass nur dieser Weg die Möglichkeit einer Mitwirkung des gesamten deutschen Volkes mittels Volksentscheid öffnete. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes werde nur dann realisiert, wenn das Volk nach vorangegangener intensiver öffentlicher Aussprache auch tatsächlich in einem Referendum "Ja" zur Verfassung gesagt habe. Eine wirkliche deutsche Einheit setzte gerade nach Einschätzung der Bürgerbewegungen in der DDR eine neue deutsche Identitätsbildung voraus – unter gesamtdeutschen Vorzeichen.
Als wesentlicher Grund dafür, dass dann doch der Weg über Art. 23 und nicht über Art. 146 GG gewählt wurde, sind die Präferenzen bei der Mehrheit der Bürger der DDR und der Bundesrepublik zu nennen. Diese kamen nicht nur in eindeutigen Meinungsumfragen zum Ausdruck, sondern vor allem auch im konkreten Verhalten der Menschen in der DDR. Die Perspektive, dass immer mehr DDR-Bürger "mit den Füßen" abstimmten, war angesichts der damit verbundenen negativen wirtschaftlichen Konsequenzen für die DDR ein wirksameres Argument als verfassungstheoretische Erwägungen.
Vom Provisorium zur festen Ordnung
Die Debatte um den sinnvollsten Weg zur Deutschen Einheit fand regelmäßig unter Bezug auf den Parlamentarischen Rat statt. Auch dort hatten unterschiedliche Einschätzungen bestanden, welcher Option man gegebenenfalls den Vorrang einräumen sollte. Nicht zuletzt ist die damalige Debatte auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen: Angesichts der damals noch bestehenden Hoffnung auf eine absehbare Beendigung der deutschen Teilung meinte man auch gegenüber den Militärgouverneuren der Westmächte dafür eintreten zu müssen, den provisorischen Charakter des Grundgesetzes zu unterstreichen.
Während der damalige Vorsitzende des Hauptausschusses, Carlo Schmid (SPD), ausdrücklich erklärt hatte, dass man bewusst ein "Provisorium" schaffen wolle, steht inzwischen außer Frage, dass aus der Regelung für eine "Übergangszeit ... längst eine feste Ordnung geworden" ist (Ernst Benda, Bundesinnenminister von 1968 bis 1969 und Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 1971 bis 1983). Das Grundgesetz hat sich bereits im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik als Verfassung gefestigt. Durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland wurde das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung. Dies drückt sich auch in der Änderung von Art. 146 GG aus.
Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, dass diese gesamtdeutsche Verfassung weiterhin die Bezeichnung "Grundgesetz" trägt. Das Grundgesetz erfüllt nicht nur alle Funktionen einer Verfassung, sondern wird auch den Legitimitätsanforderungen an eine Verfassung gerecht. Die Beibehaltung der ursprünglichen Bezeichnung "Grundgesetz" ist historisch bedingt und lässt sich auch als Respekt vor der Arbeit des Parlamentarischen Rates deuten.
Im Jahr 1989 demonstrieren Menschen in Ostdeutschland für die Einheit Deutschlands. (© AP)
Als Reaktion auf die friedliche Revolution im Herbst 1989 wurde die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik "in der Erwartung einer baldigen Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands" für eine Übergangszeit durch das Verfassungsgrundsätzegesetz vom Juni 1990 geändert. Bereits im Dezember 1989 war die Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, unter die Art. 1 die DDR gestellt hatte, gestrichen worden. Im Januar 1990 wurde das Privateigentum und die ausländische Beteiligung an Unternehmen in die Verfassung aufgenommen, im Februar das Wahlrecht demokratisiert sowie der Wehr- und der Zivildienst einander gleichgestellt. Im März folgten die Freiheit der Gewerkschaften, ihr Streikrecht sowie ein Aussperrungsverbot und im April 1990 wurde sowohl die Präambel der DDR-Verfassung aufgehoben als auch die bisherigen Kompetenzen des Staatsrates auf das Präsidium der Volkskammer übertragen.
Der Einigungsvertrag trat am 3. Oktober 1990 in Kraft. Foto: AP
| Article | Ursula Münch | 2022-01-10T00:00:00 | 2011-11-06T00:00:00 | 2022-01-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/38984/1990-grundgesetz-oder-neue-verfassung/ | Im Jahr 1990 hieß die Frage plötzlich nicht mehr, ob es zu einer Wiedervereinigung Deutschlands kommt, sondern nur noch wann diese geschehen wird. Und: Sollte sich das wiedervereinigte Deutschland eine neue Verfassung geben oder sollte die DDR dem Gr | [
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Ursachen des Nationalsozialismus | Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg | bpb.de | Ursachen des Nationalsozialismus
Zum Jahresende 1932 meinte der liberale Publizist und Politiker Gustav Stolper das nahe Ende des Nationalsozialismus prognostizieren zu können: "Das Jahr 1932 hat Hitlers Glück und Ende gebracht. Am 31. Juli hatte sein Aufstieg den Höhepunkt erreicht, am 13. August begann der Niedergang, als der Reichspräsident den Stuhl, den er ihm nicht zum Sitzen anbot, vor die Tür stellte. Seitdem ist das Hitlertum in einem Zusammenbruch, dessen Ausmaß und Tempo dem seines eigenen Aufstiegs vergleichbar ist. Das Hitlertum stirbt an seinem eigenen Lebensgesetz." Beobachter aus fast allen politischen Lagern teilten damals diese optimistische Einschätzung. Auch wenn sie sich einige Wochen später als dramatische Fehlkalkulationen erweisen sollten, waren diese Überlegungen zunächst so abwegig nicht. Denn in der Tat hatte sich die NSDAP wenige Wochen vor der Machtübertragung an ihren Führer Adolf Hitler am 30. Januar 1933 in einer der tiefsten Krisen ihrer kurzen Geschichte befunden.
Nur ein halbes Jahr später berichtete der französische Botschafter in Berlin, André François-Ponçet, seiner Regierung in Paris von einer Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler vom 1. Juli, in der dieser den erfolgreichen Abschluß seiner "nationalen Revolution" und den Übergang zu einer neuen Phase der nationalsozialistischen Herrschaft angekündigt hatte: "In der Tat konnte sich Hitler zum Zeitpunkt seiner Rede rühmen, alles, was in Deutschland außerhalb der nationalsozialistischen Partei existierte, zerstört, zerstreut, aufgelöst, angegliedert oder aufgesaugt zu haben. Einer nach dem anderen mußten sich die Kommunisten, die Juden, die Sozialisten, die Gewerkschaften, die Mitglieder des "Stahlhelms", die Deutschnationalen, die Frontkämpfer des "Kyffhäuserbundes", die Katholiken in Bayern und im Reich und die evangelischen Kirchen unter sein Gesetz beugen. Er hat alle Polizeikräfte in seiner Hand. [...] Eine unerbittliche Zensur hat die Presse vollständig gezähmt. [...] Hitler beherrscht die einzelnen deutschen Länder durch die Statthalter, die er an ihre Spitze gestellt hat. Die Städte werden von jetzt an verwaltet durch Bürgermeister und Stadträte aus seiner Anhängerschaft. Die Regierungen der Länder und die Landtage sind in den Händen seiner Parteigänger. Alle öffentlichen Verwaltungen wurden gesäubert. Die politischen Parteien sind verschwunden. [...] Wenn man sich die Situation ins Gedächtnis ruft, wie sie am 1. Februar bestand, und die Bedingungen, unter denen Hitler die Kanzlerschaft erlangte sowie die Zusammensetzung der Regierung, die er leitete und in der er eingerahmt war von Männern, die den Auftrag hatten, ihn zu lenken und zu überwachen, wird man zustimmen, daß der Führer erfolgreich ein blitzartiges Manöver durchgeführt hat. Die Zeitungen schreiben zu Recht davon, daß er in fünf Monaten eine Wegstrecke zurückgelegt hat, für die der (italienische) Faschismus fünf Jahre brauchte. [...] Adolf Hitler hat daher gewonnenes Spiel, und er hat diese Partie mit geringem Aufwand gewonnen: Er mußte nur pusten - das Gebäude der deutschen Politik stürzte zusammen wie ein Kartenhaus."
Was der französische Botschafter hier beschrieben hat, war die erste Phase der nationalsozialistischen Machteroberung, deren Tempo und Dynamik alle Zeitgenossen überrascht und teilweise überrumpelt hatte. Heute wie damals drängt sich die Frage auf, wie in einer so kurzen Zeit ein etabliertes und differenziertes System von politischen Parteien und gesellschaftlichen Verbänden, von Parlamenten und Verwaltungen zusammenbrechen oder sich selbst aufgeben konnte. Auch fragt sich, wie der rasante und scheinbar unaufhaltsame Aufstieg eines politischen Agitators zu erklären ist, der bis zu seinem 30. Lebensjahr ein politisch und sozialer Niemand war und der in den verbleibenden 26 Lebensjahren die Geschichte zutiefst geprägt hat. Diese Zeitspanne wurde geprägt von einem deutschen Diktator, der fast bis zu seinem Ende auf eine gläubige Gefolgschaft und Zustimmungsbereitschaft der großen Mehrheit der Deutschen setzen konnte, der einen Völkermord und einen Krieg anstiftete und damit einen der größten Zivilisationsbrüche der Neuzeit verursachte. Wie konnte er mit seiner Massenbewegung einen hoch entwickelten und modernen Industriestaat mit einer großen kulturellen Tradition unter seine diktatorische Gewalt bringen? Wie war es möglich, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen sich mit diesem Unrechtsregime arrangiert hat? Wie konnten sich in einer solchen Gesellschaft mit ihrer rechtsstaatlichen Tradition und ihrer technisch-wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit derartige kriminelle Verfolgungs- und Vernichtungsenergien entfalten, wo doch die Kriminalitätsrate dieser Gesellschaft bis dahin nicht höher war als die in den anderen europäischen Ländern?
Bedeutung für die Gegenwart
Die Frage "Wie war Hitler möglich?" gehört seit seiner Machtentfaltung bis zur Gegenwart zu den entscheidenden Erkenntnisfragen unserer Zeit. Denn hinter der historischen Erfahrung der Machteroberung durch eine radikalfaschistische Partei und der diktatorischen Machtentfaltung ihres "Führers" steht immer auch die Sorge um die Gefährdung der aktuellen demokratisch-humanitären Verfassung durch extremistische Propaganda und Gewalt. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie von Weimar und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur sind längst zum Musterfall für die Zerstörung einer Demokratie und der Verlockungen einer Diktatur in der Moderne überhaupt geworden. Denn gerade die Verbindung von Faszination und Gewalt, von Loyalität zum Regime und der Eroberungs- bzw. Vernichtungspolitik des Regimes macht das historisch Besondere der nationalsozialistischen Herrschaft aus und erklärt das Erschrecken, das von dieser geschichtlichen Erfahrung ausgeht. Das Wissen um die Mechanik der Machteroberung und die Wirkungsweise bzw. Folgen der nationalsozialistischen Diktatur kann darum beispielhaft die Grundzüge totalitärer Herrschaft erläutern und die Gefährdungen der politischen Freiheit verdeutlichen.
Die Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Machtergreifung haben bis in die Gegenwart das kollektive Gedächtnis der Deutschen und der europäischen Nachbarn, die Opfer der Eroberungs- und Vernichtungspolitik wurden, belastet und die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland geprägt. Mehr als 50 Jahre nach dem Untergang des "Dritten Reichs" ist die nationalsozialistische Vergangenheit darum noch immer gegenwärtig und wird es bleiben. Denn zu einzigartig und unvorstellbar sind die Massenverbrechen, die vom nationalsozialistischen Deutschland begangen wurden. Auch wenn die Fakten längst bekannt sind, wird es immer schwer sein, die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik begreiflich zu machen, sie mit unseren sprachlichen und wissenschaftlichen Mitteln zu erklären, ohne sie dabei zu verharmlosen.
Antworten auf die Frage, wie das alles geschehen konnte, lassen sich nur finden, wenn wir die ideologiegeschichtlichen und mentalitätsbedingten Wurzeln des Nationalsozialismus sowie die Bedingungen für die zunehmende Akzeptanz seiner Propagandakampagnen in der damaligen Zeit erklären, wenn wir die krisenhafte Zuspitzung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Weimarer Republik als Voraussetzung für den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung berücksichtigen und schließlich die schrittweise Entfaltung der nationalsozialistischen Herrschaft beschreiben.
Dabei läßt sich erkennen, daß der Weg Hitlers zur Macht keine Einbahnstraße der deutschen Geschichte darstellte, die notwendigerweise zu seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und zu den weiteren Etappen auf dem Weg in den Krieg und die Vernichtung führte. Vielmehr gab es Knoten- und Wendepunkte, an denen die Entwicklung auch anders hätte verlaufen können, an denen auch andere Entscheidungen möglich gewesen wären. Denn der Nationalsozialismus war weder ein bloßer Betriebsunfall noch kam er mit einer unwiderstehlichen Naturgewalt über die Deutschen. Viele Faktoren und Konstellationen wirkten zusammen, wie innen- und außenpolitische Strukturen und Umstände, Personen und ihre Wahrnehmung bzw. ihr Handeln sowie Fehleinschätzungen und Zufälle. All dies machte Hitler am Ende "möglich" und führte dazu, daß er seine Diktatur festigen konnte, daß sich ideologische Konzepte und Worthülsen der Propaganda in politisches Handeln umsetzten; daß beispielsweise antisemitische Parolen und Einstellungen, die eschon länger und auch anderswo gegeben hatte, zur Rechtfertigung und Richtschnur der grausamen Politik eines millionenfachen Völkermordes wurden.
Keine einfachen Erklärungen
Erklärungen für die Massenwirksamkeit und die Machteroberung Hitlers, für den Weg in den Krieg und nach Auschwitz gab und gibt es in großer Zahl. Keine Epoche der deutschen Geschichte ist so intensiv erforscht worden wie die NS-Zeit. Dennoch gibt es noch immer offene Fragen und vor allem viele und mitunter heftige wissenschaftliche und geschichtspolitische Kontroversen um Hitler und den Nationalsozialismus. Das hat einen Grund in der Vielgesichtigkeit der nationalsozialistischen Politik und Propaganda selbst, die ihre Barbarei hinter den Verlockungen einer scheinbaren zivilisatorischen Normalität verbarg. Ein weiterer Grund ist die singuläre historische Erscheinung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, die bei allen Versuchen einer rationalen Erklärung immer auch zu einer moralischen Wertung zwingt, zum historischen Verstehen und zum Verurteilen zugleich. Gerade das hat aber auch mit dem politisch-kulturellen Standort des Betrachters zu tun.
Einigkeit besteht in der historischen Forschung jedoch darin, daß es keine einfachen Erklärungen für Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus, für die Verlockungen und die Gewalt im Führerstaat gibt. So kann weder die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda allein die Massenwirksamkeit des Nationalsozialismus erklären, denn dort wurde nur verkündet, was man auch anderswo hören konnte; noch kann es die vermeintliche politische Genialität oder Suggestivkraft Hitlers, denn selbst wenn diese von der Parteipropaganda unaufhörlich herausgestellt wurde, bedurfte es erst einer entsprechenden Erwartungshaltung beim Publikum, um eine politische Wirkung zu erzielen. Auch der Terror der Sturmabteilung (SA) kann den Aufstieg des Nationalsozialismus allein nicht erklären. Ebensowenig die politischen und sozialen Umstände, die immer wieder genannt werden: der Versailler Vertrag (1919) und die kommunistische Revolutionsdrohung aus Moskau, die Massenarbeitslosigkeit oder die sozio-ökonomischen Interessen der Großindustrie und des Großgrundbesitzes. Keiner dieser Faktoren kann bei einer historischen Erklärung übersehen werden, aber für sich allein reicht weder der eine noch der andere für die Erklärung des nationalsozialistischen Aufstiegs zur Macht noch der Politik des Führerstaates aus. Sie verschränkten sich vielmehr wechselseitig. In einem doppelgleisigen Prozeß des Machtverfalls bzw. -verlustes der Demokratie einerseits und der politisch-sozialen Expansion der nationalsozialistischen Bewegung andererseits wurde der politische Handlungsspielraum zuerst der demokratischen, dann aber auch der konservativ-autoritären Kräfte zunehmend eingeengt. Dieser Prozeß wurde beschleunigt durch politische Fehleinschätzungen, persönliche Machtkämpfe und Intrigen.
Quellen / Literatur
Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Ursachen des Nationalsozialismus
Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Ursachen des Nationalsozialismus
| Article | Hans-Ulrich Thamer | 2022-01-05T00:00:00 | 2011-11-08T00:00:00 | 2022-01-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-nationalsozialismus/39539/ursachen-des-nationalsozialismus/ | "Wie war es möglich?" Diese Frage beschäftigt Historiker, Politiker und Literaten seit Jahrzehnten und ist Gegenstand kontroverser Debatten. Hans-Ulrich Thamer stellt die verschiedenen Ursachen für den Erfolg der Nationalsozialisten dar und erläutert | [
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] | 31,023 |
Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur | Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur | bpb.de | In der DDR gab es niemals freie Medien. Was, wie und worüber öffentlich berichtet und diskutiert werden durfte, entschied die SED-Führung. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass die westlichen Funkmedien in der DDR zu empfangen waren. Sie versuchte zwar viele Jahre, diese mit Störsendern zu beeinträchtigen, aber das waren letztlich vergebliche Versuche.
Die westdeutschen Radio- und Fernsehsender dienten der DDR-Bevölkerung als Informations- und Unterhaltungskanäle. In den 1950er und 1960er Jahren gab es zahlreiche Programme, die eigens für ein DDR-Publikum produziert wurden. Das gab es zwar auch noch in den 1970er und 1980er Jahren, nahm aber deutlich ab. Die überragende Bedeutung westlicher Medien für die DDR-Bevölkerung hingegen blieb bis zum Ende erhalten.
Seit 1968 berichtet "Kontraste" über die Entwicklungen in der DDR
Besonders Unterhaltungssendungen für Jugendliche und politische Magazinsendungen versuchten, auch die Bedürfnisse im Osten zu stillen. Von den politischen Magazinen zählte die am 18. Januar 1968 erstmals vom Sender Freies Berlin (heute Rundfunk Berlin-Brandenburg) in der ARD ausgestrahlte Sendung Kontraste zu den wichtigsten. Hatte sich das Magazin bei der Berichterstattung in den ersten Jahren auf die Entwicklung des Ostblocks konzentriert, so standen seit etwa 1986 deutsch-deutsche Themen im Mittelpunkt der Beiträge.
Das besondere Problem bestand bis zum Fall der Mauer darin, dass die Arbeitsbedingungen für westliche Journalisten in der DDR sehr restriktiv ausgelegt wurden. Akkreditierte Korrespondenten konnten sich nicht frei bewegen, mussten jeden Aufenthalt außerhalb Ost-Berlins beantragen und durften nur offiziell genehmigte Interviews führen. Deshalb war es notwendig, informell an Material aus der DDR heranzukommen. Da es dort aber kaum entsprechende Aufnahmetechnik gab, musste auch diese zunächst in die DDR gebracht und dann vertrauenswürdigen Fotografen und Kameraleuten übergeben werden.
Konnte zeitweise nur unter Pseudonym arbeiten: Kontraste-Redakteur Roland Jahn (© Nikola Kuzmanic)
Diese gefährliche Aufgabe konnten wiederum nur Personen organisieren, die sowohl das Vertrauen von Oppositionellen im Osten besaßen und zugleich die Markt- und Mediengesetze im Westen beherrschten. Mit dem aus der DDR zwangsausgebürgerten Roland Jahn, der 1983 in Knebelketten aus der DDR regelrecht herausgeworfen wurde, gab es eine solche Person. Im Gegensatz zu anderen Oppositionellen, die in den Westen kamen, um die DDR vollends hinter sich zu lassen, machte es sich Jahn mit einigen anderen zur Aufgabe, die Opposition in der DDR zu unterstützen, zu stärken und sie und ihre Ziele im Westen bekannt zu machen. Ein Anliegen bestand darin, der Opposition eine Stimme zu geben, die im Westen und im Osten gehört wurde. Das gelang, wie nicht zuletzt diese Dokumentation belegt, auf eindrucksvolle Weise.
Kontraste-Redakteur Peter Wensierski (© KONTRASTE, Rundfunk Berlin-Brandenburg)
Roland Jahn hatte Glück, dass er in dem westdeutschen Journalisten Peter Wensierski einen Kollegen und Freund fand, der einer der besten Kenner der DDR und Redakteur beim Fernsehmagazin Kontraste war. Die Kombination des Westdeutschen Wensierski und des Ostdeutschen Jahn bescherte Kontraste eine Vielzahl von Beiträgen, die nicht nur den Untergang der DDR dokumentierten, sondern selbst zum Zerfall der Herrschaft beitrugen. Denn durch die offene und realistische Berichterstattung provozierten sie Debatten und förderten letztlich Engagement gegen die Diktatur. Roland Jahn war für das MfS, wie es damals hieß, einer der "Hauptfeinde" der DDR.
Diese besondere Situation brachte es mit sich, dass Roland Jahn bis zum Fall der Mauer bei Kontraste ohne Namensnennung arbeitete oder nur unter einem Pseudonym in Erscheinung trat. Seine Tarnung hieß, wie manchem Beitrag auf der ersten DVD zu entnehmen ist, "Jan Falkenberg". Das Pseudonym galt nicht nur seinem eigenen Schutz, sondern vor allem dem seiner ostdeutschen Gewährsleute. Damit sollte das Risiko der strafrechtlichen Verfolgung wegen "staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme" gemindert werden. Wenn in den Filmen zuweilen Material mehrfach vorkommt, so liegt es daran, dass aufsehenerregende Aufnahmen etwa von Demonstrationen, Festnahmen oder Grenzdurchbrüchen extrem selten waren. Außerdem erregten diese brisanten Bilder in Ost und West große Aufmerksamkeit.
Filmten heimlich für Kontraste: Siegbert Schefke und Aram Radomski (© KONTRASTE, Rundfunk Berlin-Brandenburg)
Im Fall von Kontraste handelte es sich oft um exklusives Material, das heimlich aufgenommen worden war. Da, wie erwähnt, die Arbeitsbedingungen in der DDR für westliche Journalisten sehr schlecht waren, organisierte Roland Jahn zum Beispiel Videokameras, mit denen dann in der DDR etwa die Oppositionellen Siegbert Schefke und Aram Radomski geheime und verbotene Aufnahmen machten. Diese wurden kurze Zeit später im Westfernsehen ausgestrahlt. So entstanden dann auch später die berühmten Aufnahmen von den Massendemonstrationen im Oktober 1989 in Leipzig, Aufnahmen, die um die Welt gingen und zugleich die Revolution in der DDR entscheidend beflügelten.
Allen Kontraste-Beiträgen ist das Credo zu entnehmen, informieren zu wollen. In den Beiträgen vor dem Mauerfall 1989 auf der DVD "Aufbruch im Osten" ging es darum, der Opposition in der DDR, ja der Gesellschaft eine Stimme zu geben. Denn die SED verhinderte, dass die ungeschminkte Wahrheit und das Wollen der Menschen in der DDR öffentlich artikuliert werden konnten. Nach dem Mauerfall veränderten sich die Arbeitsbedingungen in der DDR für Journalisten so, dass nun alle Seiten zu Wort kommen konnten. Kontraste mit Jahn und Wensierski, das war der große Vorteil, musste sich nicht wie andere Formate auf die neue Situation umstellen. Sie konnten nahtlos weiter berichten, den Prozess der deutschen Einheit kritisch begleiten und wichtige Anstöße zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte geben. Wie die Beiträge auf den DVDs "Wendezeiten" und "Alles schon vergessen" zeigen, spürte Kontraste beständig Verfehlungen und Versäumnisse in der deutsch-deutschen Geschichte auf.
Diese Kontinuität zeichnet Kontraste bis zur Gegenwart aus. Kein anderes Magazin berichtete derart kontinuierlich über die Diktatur und die Auseinandersetzung mit ihr. Insofern belegt diese DVD-Dokumentation, dass kritischer Journalismus engagiert und leidenschaftlich sein kann, ohne dass dabei journalistische und zeitgeschichtliche Maßstäbe verloren gehen. Diese Edition offeriert die vielen Facetten, die in Deutschland die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur bis heute prägen. Für genügend Stoff zur Diskussion ist gesorgt.
Seit 1968 berichtet "Kontraste" über die Entwicklungen in der DDR
Konnte zeitweise nur unter Pseudonym arbeiten: Kontraste-Redakteur Roland Jahn (© Nikola Kuzmanic)
Kontraste-Redakteur Peter Wensierski (© KONTRASTE, Rundfunk Berlin-Brandenburg)
Filmten heimlich für Kontraste: Siegbert Schefke und Aram Radomski (© KONTRASTE, Rundfunk Berlin-Brandenburg)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-11-21T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/kontraste/42424/kontraste-auf-den-spuren-einer-diktatur/ | Kontraste ist das politische Magazin vom Rundfunk Berlin-Brandenburg ausgestrahlt im Ersten Deutschen Fernsehen. Seit Mitte der 80er standen deutsch-deutsche Themen im Mittelpunkt der Beiträge. | [
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"Rundfunk Berlin-Brandenburg",
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] | 31,024 |
Déjà-vu oder echter Aufbruch? | Äthiopien | bpb.de | Als der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed am 10. Dezember 2019 in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm, leitete er den Schluss seiner Rede mit einem Appell an das eigene Land ein. "Unsere jungen Männer und Frauen rufen nach sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, sie verlangen Chancengleichheit und ein Ende der organisierten Korruption", erklärte der 43-Jährige. "Sie beharren auf guter Regierungsführung auf der Grundlage von Rechenschaft und Transparenz. Wenn wir unserer Jugend Gerechtigkeit verweigern, werden sie den Frieden zurückweisen. Heute auf dieser Weltbühne möchte ich meine äthiopischen Mitbürger dazu aufrufen, sich die Hände zu reichen und zu helfen, ein Land zu bauen, das gleiches Recht, gleiche Rechte und gleiche Chancen für all seine Bürger bietet. Insbesondere möchte ich betonen, dass wir den Weg des Extremismus und der Spaltung, getrieben von der Politik der Exklusion, vermeiden sollten. (…) Wir müssen das Unkraut des Streits, des Hasses und des Missverständnisses ausjäten und jeden Tag arbeiten, an guten und an schlechten Tagen." Dann schloss er mit Versen aus der Bibel und aus dem Koran.
Geehrt hatte den Äthiopier das Nobelpreiskomitee im Oktober 2019 vor allem wegen seines Friedensschlusses mit Eritrea – im Juni 2018 hatte Abiy nach nur zwei Monaten im Amt die Versöhnung mit dem kleinen Nachbarn und Erzfeind und dessen autokratischem Herrscher Isayas Afewerki eingefädelt und zelebriert. Doch mit Abiy wurde international stellvertretend eine ganze Generation afrikanischer Reformer gefeiert, und für ihn selbst war der Preis eine Bestätigung und Ermutigung zu einem Zeitpunkt, als die Begeisterung im Land über seine Politik längst Ernüchterung gewichen war. Nach wie vor werden von außen immense Hoffnungen auf Abiy Ahmed projiziert. Ob sie berechtigt und erfüllbar sind, werden die Menschen in Äthiopien beurteilen, wenn die nächsten Wahlen stattfinden. Ursprünglich für August 2020 geplant, wurden sie jüngst wegen der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit verschoben.
In Äthiopien wurden im vergangenen halben Jahrhundert schon zweimal große Hoffnungen auf ein besseres Leben erst geweckt und dann enttäuscht. 1974 fegte der Sturz des äthiopischen Kaiserreiches durch junge marxistische Revolutionäre im Wortsinne den Muff von tausend Jahren hinweg – nur um den Absolutismus des Kaisers durch eine Militärdiktatur zu ersetzen. 1991 fegten neue Guerillagruppen diese Diktatur hinweg – nur um selbst ein militarisiertes und zunehmend autokratisches Regime zu errichten. Nun soll im dritten Anlauf der friedliche Systemwechsel gelingen. Nicht mehr der Realsozialismus wie nach 1974 und auch nicht mehr der chinesische Weg wie nach 1991 sollen Modell stehen, sondern die Kraft und das Erbe der äthiopischen Geschichte selbst.
Meles Zenawi: Enttäuschte Hoffnungen
Als 1991 der Guerillaführer Meles Zenawi im Alter von 36 Jahren Präsident Äthiopiens wurde, waren die Hoffnungen zumindest bei der internationalen Gemeinschaft ähnlich groß wie 27 Jahre später bei Abiy Ahmed. Zuvor hatte die sowjetisch unterstützte Militärdiktatur von Mengistu Haile Mariam, das sogenannte Derg-Regime, Äthiopien durch eine Politik der Kollektivierung und Zwangsumsiedlung in eine der schlimmsten Hungersnöte der Weltgeschichte mit geschätzt 1,5 Millionen Toten geführt, mehrere Kriege mit dem Nachbarn Somalia ausgetragen und mit brutaler Repression auf Befreiungsbewegungen im besetzten Eritrea und Aufständische unter anderen Bevölkerungsgruppen reagiert. Meles Zenawi, Führer der Guerillabewegung TPLF (Tigray People’s Liberation Front), hatte zunächst um die auf die kleine Ethnie der Tigray beschränkte TPLF herum mit Verbündeten die panäthiopische Rebellenallianz EPRDF (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front) gegründet. Als sich seine Truppen Addis Abeba näherten, vermittelten die USA Gespräche auf höchster Ebene in London, bei denen ein Bündnis der EPRDF mit Befreiungskämpfern der EPLF (Eritrea People’s Liberation Front) und der Oromo-Guerilla OLF (Oromo Liberation Front) zur Machtübernahme geschmiedet wurde. Das ermöglichte den unblutigen Machtwechsel. Diktator Mengistu verließ Mitte Mai 1991 die Hauptstadt und ging ins Exil, knapp zwei Wochen später marschierten die jungen Rebellenkämpfer ein. Die EPRDF bildete unter fortlaufender US-Vermittlung eine Übergangsregierung mit ihren beiden Verbündeten. Eritrea wurde danach unter EPLF-Führung in die Unabhängigkeit entlassen. Äthiopien wurde eine Bundesrepublik mit Bundesstaaten auf mehrheitlich ethnischer Basis. Meles Zenawi – der nach der Einführung einer neuen Verfassung Ministerpräsident wurde – galt vor allem in den USA als Star einer neuen Generation afrikanischer Führer und Erneuerer, von Yoweri Museveni in Uganda und Paul Kagame in Ruanda bis zum ANC in Südafrika.
Es gibt mehrere Gründe, warum Äthiopien damals zum Lieblingskind der internationalen Gemeinschaft in Afrika und zeitweise zum größten afrikanischen Empfänger von Entwicklungshilfe wurde, und sie sind auch heute wieder aktuell. Der EPRDF-Umsturz 1991 war unblutig, das apokalyptische Chaos von Liberia und Somalia in jenen Jahren wurde in Äthiopien ebenso vermieden wie ein bürgerkriegsartiger Zerfall nach dem Muster Jugoslawiens. Eritrea wurde friedlich und versöhnlich unabhängig, nach Jahrzehnten des Krieges. Mit Föderalisierung und zumindest verbalen Bekenntnissen zu politischen und wirtschaftlichen Reformen brach die EPRDF deutlich mit dem brutalen, ideologisch verbrämten Zentralismus der Mengistu-Ära. Eher gefühlsmäßige Faktoren kamen dazu: die positive Ausstrahlung des jungen Meles und das schlechte Gewissen der internationalen Gemeinschaft über die äthiopische Hungersnot 1984/85. Die Welt setzte auf die EPRDF auch als Stabilitätsanker gegen das somalische Chaos und gegen islamistischen Terror.
All diese Faktoren können fast identisch auf das Äthiopien der Gegenwart übertragen werden, mit Abiy Ahmed in der Rolle von Meles Zenawi. Die Frage stellt sich nun, ob die Gründe, warum die Hoffnungen in Meles Zenawi enttäuscht wurden, auch heute bei Abiy Ahmed relevant sind.
Das multiethnische Bündnis von 1991 – Tigray, Eritrea, Oromia – zerfiel nach der EPRDF-Machtergreifung. Eritrea ging eigene Wege, die OLF war nie ein wirklicher Machtfaktor und ging schnell ins eritreische Exil und die Untergrundopposition. Faktisch regierte in Äthiopien der harte Kern der Tigray-Guerillaführer mittels der TPLF und ihren ethnischen Satellitenparteien. Nach nur wenigen Jahren zogen die einstigen tigrayischen und eritreischen Waffenbrüder gegeneinander in den Krieg. Für die Regime in Addis Abeba und Asmara war der Krieg von 1998 bis 2000 mit 100.000 Toten gleichermaßen die Basis für eine neue nationale Legitimation. Äthiopien gewann den Krieg und hätte danach den Weg der demokratischen Öffnung einschlagen können – Meles Zenawi favorisierte dies und trieb dadurch seine TPLF an den Rand der Spaltung –, aber als die Wahlen von 2005, die ersten halbwegs freien Wahlen in Äthiopiens Geschichte, den Sieg neuer Oppositionsparteien zumindest in den Städten hervorbrachten, reagierte die alte Garde mit brutaler Gewalt. Von Demokratisierung war danach keine Rede mehr, bewaffnete Konflikte in den Oromo- und Somali-Regionen und ein "eingefrorener Konflikt" mit Eritrea prägten Äthiopiens Politik bis zu Meles’ Tod 2012 und auch in den ersten Jahren danach, als der Südäthiopier Hailemariam Desalegn von Gnaden der TPLF das Amt des Ministerpräsidenten übernahm.
Auch starkes Wirtschaftswachstum, oft zweistellig und über den Langzeitdurchschnitt das höchste in Afrika, konnte Äthiopiens tiefe Armut nicht nachhaltig verringern. Gefördert durch Auslandsinvestitionen, hat Äthiopien gewaltige ökonomische Modernisierungsschritte unternommen und in Bereichen wie der Textil- und der Lederindustrie sowie in der kommerziellen Landwirtschaft erfolgreich exportorientierte neue Wirtschaftszweige genährt. Die Hauptstadt Addis Abeba ist dank moderner Infrastruktur kaum wiederzuerkennen. Doch die Erlöse aus dem Wirtschaftswachstum wurden nicht breit gestreut, die rechtlose bäuerliche Subsistenzwirtschaft wurde nicht gestärkt. Einer Studie zufolge sind Äthiopiens Textilarbeiter die am schlechtesten bezahlten der Welt, mit einem durchschnittlichen Grundgehalt von 26 US-Dollar im Monat.
Vom Jugendprotest zum Machtwechsel
Die Unruhen, die Äthiopien ab etwa Ende 2014 erschütterten und zum Aufstieg Abiy Ahmeds beitrugen, haben denn auch primär in der Entrechtung der Bevölkerung gegenüber ökonomischen Weichenstellungen ihren Ursprung – eine strukturell im EPRDF-System angelegte Entrechtung. Ein Faktor war land grabbing – das Verjagen von Bauernbevölkerungen zugunsten ausländischer Investoren auf Agrarland im besonderen äthiopischen Kontext des Fehlens von privatem Grundbesitz. Dazu kam die verbreitete Wahrnehmung einer zunehmenden Kluft zwischen einer nach wie vor sehr schmalen EPRDF-Elite in Tigray, die die politische Macht ausübte und das Erstzugriffsrecht auf ökonomische Chancen beanspruchte, und den von Entscheidungsprozessen weithin ausgeschlossenen Bevölkerungen.
Das Projekt, die Hauptstadtregion Addis Abeba auf Kosten der sie umgebenden Region Oromia zu vergrößern, um aus Oromo-Bauerngemeinden außerhalb der Hauptstadt neue Gewerbegebiete am Stadtrand zu machen ("Addis Abeba Masterplan"), war die Initialzündung für eine Protestbewegung, die sich rasch ausweitete. Der Unmut fiel auf fruchtbaren Boden weit über die ursprünglichen Forderungen hinaus – bei einer jungen Generation, die nichts als die EPRDF-Herrschaft kennt und mit deren historischer Begründung wenig anfangen kann; bei einer neuen selbstbewussten Mittelschicht, teils aus der Diaspora zurückgekehrt, die Mitspracherechte will; bei jungen Frauen, die sich den extrem konservativen und patriarchalischen Traditionen der äthiopischen Gesellschaft widersetzen; insgesamt bei einer modernen, meist städtischen Gesellschaft, die kulturell viel gemischter ist als ihre Elterngeneration und sich nicht mehr in einer rein nach Ethnien sortierten und gemäß einer Militärhierarchie strukturierten Politik wiedererkennt.
Die Unruhen und Massenproteste und ihre gewaltsame Niederschlagung forderten nach Darstellung der staatlichen äthiopischen Menschenrechtskommission 669 Tote, und selbst im offiziellen Bericht fand sich das Eingeständnis: "Die Hauptgründe für die zerstörerische Unruhe in Oromia waren Mangel an guter Regierungsführung, Rechtsbruch, Arbeitslosigkeit, Mangel an zeitiger Antwort auf öffentliche Beschwerden und Verzögerungen bei öffentlichen Projekten."
Aus den in der EPRDF-Ära Geborenen formierte sich in den Unruhen eine neue Protestgeneration. Wie weit ethnischer Nationalismus – die historische Marginalisierung der Oromo, die Entmachtung der historisch herrschenden Amhara durch die Tigray-Herrschenden – tatsächlich eine Rolle bei dieser jungen Generation spielte, ist weder klar noch letztendlich entscheidend. Klar war aber, dass selbst innerhalb der EPRDF Oromo- und Amhara-Kräfte auf Distanz zur Regierung gingen. Bereits im Oktober 2016 wechselte der Oromo-Bestandteil der EPRDF, die OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation), ihre Führung und damit die Regierung der Oromo-Region aus; die neue Führung um den neuen Oromo-Ministerpräsidenten Lemma Megerssa und seinem Stellvertreter Abiy Ahmed ging auf die jungen Oromo-Radikalen, genannt "Qeerroo", zu.
Das EPRDF-Machtgefüge, das Äthiopien ein Vierteljahrhundert lang beherrscht und geprägt hatte, war Geschichte. Ohne eine zumindest formelle Loyalität der Amhara- und Oromo-Bevölkerungen des zentraläthiopischen Hochlands ist der äthiopische Zentralstaat nicht lebensfähig.
Am 15. Februar 2018 verkündete Meles Zenawis Nachfolger Hailemariam Desalegn, ein Südäthiopier von der kleinen Volksgruppe der Wolaytta aus dem Grenzgebiet zu Kenia, im Staatsfernsehen seinen Rücktritt als Ministerpräsident Äthiopiens und Vorsitzender der EPRDF. Am Folgetag verhängte die Regierung erneut den erst ein halbes Jahr zuvor beendeten Ausnahmezustand, es folgten erneute Verhaftungen von gerade erst freigelassenen Regimekritikern. Erst in der Nacht zum 28. März wählte der EPRDF-Rat, das oberste Entscheidungsgremium der Partei, den jungen Abiy Ahmed zum neuen Vorsitzenden. Die lange Interimsfrist verriet tiefe Zerwürfnisse an der Staatsspitze. Äthiopischen Berichten zufolge hatte die TPLF den Ausnahmezustand gegen den Willen der anderen EPRDF-Bestandteile durchgedrückt und fand sich im Gegenzug bei der Wahl von Hailemariams Nachfolger isoliert. OPDO-Chef Lemma Megerssa war, da kein Parlamentsabgeordneter, nicht wählbar – sein Stellvertreter Abiy setzte sich mit 108 von 169 möglichen Stimmen durch; Shiferaw Shigute von Hailemariams SEPDM (Southern Ethiopian People’s Democratic Movement) erhielt 59 Stimmen, hauptsächlich von der TPLF; die zwei verbliebenen Stimmen gingen an den TPLF-Vorsitzenden Debretsion Gebremichael, den nicht die eigene Partei sondern die Amhara-Partei ANDM (Amhara National Democratic Movement) aufgestellt hatte, um ihn vorzuführen. Es war für die historischen Tigray-Führer eine beispiellose Schmach. In einer Analyse hieß es: "Nach allen Maßstäben existiert die EPRDF, wie die Äthiopier sie kannten, nicht mehr."
Abiy Ahmeds politische Schocktherapie
Schon Abiy Ahmeds Antrittsrede als Ministerpräsident im äthiopischen Parlament am 2. April 2018 verdeutlichte das Ausmaß seiner Ambitionen. Er sprach gleich zu Beginn von einer "Machtübergabe", als komme eine neue politische Kraft an die Regierung. Er dankte der EPRDF dafür, dass sie "in den Jahren, in denen sie unser Land geführt hat, fundamentale Veränderungen in allen Bereichen herbeigeführt und ein föderales Verfassungssystem errichtet hat", aber betonte auch, "dass es Mängel gibt, die umgehend zu beheben sind. (…) Der Kern der Sache besteht darin, unser Land auf ein höheres Entwicklungsniveau zu katapultieren und voranzukommen, während zugleich seine Einheit auf einer nachhaltigen Grundlage gesichert bleibt." Meinungsverschiedenheiten seien normal: "Nationale Einheit heißt nicht Einstimmigkeit. (…) Frieden ist nicht die Abwesenheit von Konflikt. Frieden ist unerschütterliche Einheit auf Grundlage unseres gemeinsamen Verständnisses."
"Katapultieren" trifft ganz gut, was folgte. Binnen weniger Tage schloss Abiy Addis Abebas berüchtigtes Foltergefängnis Maekelawi, ließ die wichtigsten politischen Gefangenen frei, schaltete das gesperrte mobile Internet wieder an und bildete eine neue Regierung mit Geschlechterparität und seinem bisherigen Oromo-Chef Lemma Megerssa als Verteidigungsminister. Anfang Juni 2018 endete der Ausnahmezustand, Frieden mit Eritrea wurde angekündigt. Anfang Juli wurden die Untergrundprotestbewegung "Ginbot 7", die Oromo-Rebellenbewegung OLF und die Somali-Rebellenbewegung ONLF (Ogaden National Liberation Front) von der Terrorliste gestrichen. Anfang August entmachtete die Zentralregierung die gefürchtete Somali-Regionalregierung und löste deren Polizei auf, es folgten förmliche Friedensabkommen mit OLF und ONLF. Anfang September kehrte Ginbot-7-Führer Birhanu Nega – seit seiner Wahl zum Bürgermeister von Addis Abeba 2005 und seiner anschließenden Verfolgung Symbol für das Scheitern der äthiopischen Demokratisierung unter Meles – aus dem US-Exil zurück. Im Oktober und November übernahmen Frauen wichtige Ämter als Staatschefin, Oberste Richterin und Leiterin der Wahlkommission.
Emotionale Momente begleiteten diese politische Schocktherapie. Im Juni wehten zum ersten Mal seit dem Krieg eritreische Flaggen in Addis Abeba, im Juli reiste Abiy nach Asmara, gefolgt von einem bejubelten Gegenbesuch des eritreischen Diktators in der äthiopischen Hauptstadt. Ebenso historisch war im September die triumphale Rückkehr der lange verfemten und bekämpften OLF-Führung aus Asmara nach Addis Abeba. Beides waren Anlässe für Volksfeste, und es schien in diesen Monaten des Jahres 2018, als habe Abiy Ahmed das historische Bündnis von 1991 zwischen der EPRDF und den eritreischen und Oromo-Verbündeten wiederhergestellt – eine Art Reset, um die Jahrzehnte dazwischen vergessen zu machen und Äthiopien neu zu starten.
Abiy gehört einer Pfingstkirche an, so wie zahlreiche Oromo-Oppositionelle eher dem Protestantismus statt der historisch amharisch dominierten alten koptischen Kirche Äthiopiens zuneigen, und viele seiner Reden und Taten haben Ansätze von Erweckungspredigten. Seine Familie ist gemischt muslimisch-christlich und Oromo-Amhara, er sieht sich als Inbegriff der Vielfalt Äthiopiens. Mittlerweile hat er auch ein programmatisches Buch mit dem Titel "Medemer" (auf Amharisch) beziehungsweise "Ida’amuu" (auf Oromo) vorgelegt – der Titel wird von Äthiopiern meist als "Synergie" übersetzt, im Sinne von "Summe", die größer ist als ihre Teile. Den Begriff verwendete Abiy schon kurz nach seinem Amtsantritt: "Medemer ist ein größerer Begriff als der mathematische Begriff: Wenn du und ich zusammenkommen, sind wir nicht nur zwei Personen wie in der Mathematik, sondern wir sind ‚wir‘."
Auch in seiner Nobelpreisrede 2019 führte Abiy "Medemer" aus – "ein Sozialvertrag, damit Äthiopier eine gerechte, gleiche, demokratische und menschliche Gesellschaft bauen", oder auch "ein Friedensgelübde, das Einheit aus unserer gemeinsamen Menschlichkeit schöpft."
Schattenseiten des Neuanfangs
Als Abiy Ende 2019 weltweit gefeiert wurde, hatten sich in Äthiopien selbst schon längst Skepsis und Kritik breitgemacht. In den anderthalb Jahren seit seinem Amtsantritt waren mehr Menschen Gewalt zum Opfer gefallen als während der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste zuvor. Die Zahl der Binnenvertriebenen aufgrund von Konflikten in Äthiopien wuchs während des Jahres 2018 laut UN-Flüchtlingshilfswerk von 1078400 auf 2615800, der größte solche Anstieg weltweit; bis April 2019 stieg die Zahl weiter auf über drei Millionen, bevor Rückführungsinitiativen die Zahlen deutlich senkten.
Schon frühzeitig hatten internationale Organisationen vor einer Eskalation ethnischer Gewalt gewarnt: Amnesty International hatte die äthiopische Regierung bereits im Juni 2018 zum Schutz von Amhara-Bevölkerungen vor "gewaltsamen Angriffen auf ihre Häuser durch ethnisch motivierte Jugendgruppen in Oromia" aufgefordert. Auf die Rückkehr der früheren Oromo-Guerilla OLF als legale Partei ins mehrheitlich von Oromo bewohnte Addis Abeba im September 2018 folgten ethnische Pogrome in der Hauptstadt mit Dutzenden Toten. Ethnische Unruhen erschütterten in den Folgemonaten mehrere Regionen des Landes. "Althergebrachter Zwist zwischen Äthiopiens ethnischen Gruppen wird akuter; die Kräfte, die sie zumindest teilweise eingedämmt hatten, werden lockerer, und quer durch das Land wetteifern Gruppen, die sich gegenseitig für Rivalen halten, um die Macht", analysierte die International Crisis Group Anfang 2019. Im Juni 2019 erschütterte ein Putschversuch die Amhara-Region, im Oktober gab es in Addis Abeba bis zu 86 Tote, als wütende Oromo-Jugendliche gegen Abiy auf die Straße gingen.
Am 23. November 2019 stimmte der Sidama-Bezirk der Südregion für einen eigenen Bundesstaat – der erste offizielle Bruch mit dem EPRDF-System, aber sicher nicht der letzte. Im rund 45 Volksgruppen umfassenden südäthiopischen Bundesstaat haben neben der größten Ethnie der Sidama unter anderem auch die zweitgrößte Ethnie der Welayta Ansprüche auf eine eigene Staatlichkeit angemeldet. Äthiopische Analysten deuten dies als sichtbare Manifestationen eines gesamtäthiopischen Trends zur lokalen Selbstbehauptung in Zeiten, in denen die zentralstaatliche Ebene nicht mehr verlässlich erscheint. "Ethnische Bezirksverwaltungen haben die Öffnungen ausgenutzt, die ihnen die Wirren innerhalb der Regierungskoalition boten, um sich auf die Verfassung zu stützen und ihre eigenen Regionalstaaten einzufordern (…). Die Bezirksführer tun dies während einer destabilisierenden, von Abiys Ambitionen überforderten Übergangsphase."
Etwa gleichzeitig vollzog Abiy seinen mutigsten und weitreichendsten Reformschritt: das Ende der EPRDF. In einer Serie von Sitzungen im November 2019 beschlossen die einzelnen, ethnisch definierten Bestandteile der EPRDF ihre Selbstauflösung zugunsten einer gemeinsamen neuen "Prosperity Party" (PP). Die formelle Selbstauflösung der EPRDF durch die für Parteienzulassung zuständige Wahlkommission erfolgte im Februar 2020. Der Beschluss war selbst in den eigenen Reihen äußerst kontrovers. Wichtige Weggefährten Abiys wie sein ehemaliger OPDO-Chef und aktueller Verteidigungsminister Lemma Megerssa waren dagegen; Lemma nannte die Parteineugründung "verfrüht" und die falsche Priorität für eine Zeit des demokratischen Übergangs. Die TPLF, Gründerin und historisch herrschende Kraft in der EPRDF, stellte sich von Anfang an quer und hat sich als einziger der bisherigen EPRDF-Bestandteile nicht aufgelöst. "In Ermangelung einer einheitlichen Vision, einer praktischen Strategie und einer Ideologie ist es sehr schwer für eine gewisse politische Gruppierung, zu überleben", kommentierte die TPLF die PP-Gründung noch vor deren Vollzug. Im Februar 2020, kurz nach dem offiziellen Ende der EPRDF, feierte die TPLF pompös in der tigrayischen Hauptstadt Mekele ihren 45. Geburtstag als bewaffnete Bewegung, und ihr Chef Gebremichael erklärte in einer Ansprache: "Die Krankheit steckt in den Führern, nicht im Volk." Der von Abiy entlassene langjährige äthiopische Geheimdienstchef Getachew Assefa, eine historische Größe der TPLF, soll trotz Haftbefehl in Tigray untergetaucht sein und wird verschiedentlich als Drahtzieher einer Destabilisierung des Landes genannt.
Vor der Auflösung als Partei war die EPRDF bereits als Staatsapparat allmählich verschwunden. Das in autoritären afrikanischen Entwicklungsdiktaturen gängige System der engmaschigen Kontrolle der Bevölkerung auf Graswurzelebene – ein staatlicher "Kontrolleur" pro fünf Haushalte – verkümmerte nach Abiys Amtsantritt rasch, was zwar die verhasste ständige Überwachung und Schikanierung der Bevölkerung, aber auch jede Umsetzung politischer Vorgaben beispielsweise im Entwicklungsbereich zum Stillstand gebracht hat. Auch die starke äthiopische Armee mit einem kriegsgestählten Kern von TPLF-Offizieren verlor an Einfluss zugunsten der regionalen Sicherheitskräfte der einzelnen Bundesstaaten. Abiy misstraut diesen alten Herrschaftsstrukturen als Blockadekraft. Vor dem Parlament nannte er sie im Februar seine "härteste Herausforderung" und erklärte: "Das Netzwerk, das bis zum unteren Ende der Verwaltung reicht, hat die Kapazität, alles zum Stillstand zu bringen (…) Das Netzwerk zu brechen ist nicht einfach."
Die junge, radikale Protestgeneration der Amhara und Oromo aus den Jahren 2015 bis 2018 wiederum schlief nach Abiys Amtsantritt nicht wieder ein, sondern blieb als wacher Begleiter erhalten und sammelte sich um die aus Haft oder Exil heimkehrenden Oppositionspolitiker. Die OLF brachte nach ihrer Legalisierung 1300 Kämpfer aus Eritrea zurück nach Äthiopien, die anders als gedacht nicht in die Armee integriert wurden, sondern in der Oromo-Bevölkerung untertauchten. Oromo-Übergriffe gegen Angehörige anderer Ethnien haben seitdem zugenommen, ermutigt von der Überzeugung, dass jetzt, nach einem Vierteljahrhundert Tigray-Dominanz und davor jahrhundertelanger Amhara-Herrschaft, mit Abiy endlich "einer von uns" regiert. Das hat wiederum die Bildung von Selbstschutzmilizen bei anderen Bevölkerungsteilen ermutigt.
Ungewisse Zukunft
Frieden mit Eritrea, eine Verfassungsordnung, in der sich alle Völker Äthiopiens wiederfinden, eine Politik, die das Leben der Menschen verbessert, und eine Rolle als Stabilisator am Horn von Afrika – diese Erwartungen und Hoffnungen, mit denen 1991 der Machtantritt der EPRDF international begrüßt worden war, bestehen auch zum Ende dieses Kapitels der äthiopischen Geschichte unverändert weiter. Zwei Jahre nach Abiys Amtsantritt ist die Bilanz nur beim ersten Punkt positiv. Beim letzten ist sie neutral, da beispielsweise die Befriedung Somalias von anderen Faktoren abhängt. Bei den anderen beiden Punkten, die Äthiopiens innere Entwicklung betreffen, ist es für ein Urteil noch zu früh, aber die Zeichen sind nur teilweise ermutigend. Äthiopien hat noch nie eine richtige Demokratie gekannt. Bisher war jede herrschende politische Kraft identisch mit dem Staatsapparat als solchem. Aber Abiy hat jetzt das EPRDF-System abgeschafft, bevor ein neues System heranwachsen konnte. Ob die erst noch im Entstehen begriffene PP mit ihrem Wohlstands- und Harmoniecredo, halb Hegemonialanspruch alter Schule und halb Erlösungsdiskurs nach dem Stil evangelikaler Pfingstkirchen, ein überzeugender Erbe ist, ist mehr als fraglich.
"Das verbreitete Gefühl in der Bevölkerung ist Angst", analysiert der Äthiopien-Experte René Lefort: "Angst, weil die uralte pyramidale Herrschaftsstruktur verschwunden ist; neben der Abwesenheit von Autorität ist die traditionelle soziale Hierarchie zerbröselt. ‚Wir können nicht einmal mehr unseren eigenen Kindern etwas sagen‘, klagen die Alten. Angst, weil in dieser beispiellosen Gegenwart und unbekannten Zukunft ‚etwas Schlimmes passieren kann‘, wie Leute sagen (…). Die meisten glauben, dass eine Form bewaffneter Auseinandersetzung naht."
In der EPRDF-Ära war es Äthiopiern nicht möglich, sich legal einer anderen politischen Partei als der mit der EPRDF verbundenen Partei ihrer jeweiligen ethnischen "Nation" anzuschließen. Jetzt sind all diese Parteien offiziell aufgelöst. Das Vakuum füllen in erster Linie "freie Radikale" der unterschiedlichen Ethnien sowie der jungen Protestbewegungen. Theoretisch hätte der Oromo-Politiker Abiy das alte System beibehalten und einfach Tigray durch Oromo als Nummer Eins ersetzen können – aber seine Ambitionen sind größer: Er will einen neuen, genuin "äthiopischen Nationalismus" gründen, jenseits von Ethnien. Doch damit stehen automatisch alle bestehenden "ethnischen Nationalismen" in Opposition zu seiner neuen Prosperitätspartei.
Auch junge Kräfte, die eigentlich das Ziel eines postethnischen "äthiopischen Nationalismus" teilen, sehen Abiys Methoden kritisch: Ihnen fehlt eine offene und partizipative Debatte über Äthiopiens Zukunft. So haben sich um den lange inhaftierten Blogger und Journalisten Eskinder Nega herum neue politische Kräfte gebildet, die sich im Erbe der ehemaligen Oppositionspartei CUD (Coalition for Unity and Democracy) aus der Zeit des kurzlebigen demokratischen Frühlings von 2005 sehen und "ein echtes Mehrparteiensystem für das Land aufbauen" wollen. Ältere nicht-ethnische Oppositionsparteien verkündeten bereits zu Jahresanfang Wahlbündnisse, deren Ziel es ist, "dass das Land nicht auseinanderfällt".
Das Gewicht all dieser Kräfte jenseits einiger Intellektuellenzirkel ist zweifelhaft, insbesondere im Vergleich zu radikal ethnisch-nationalistischen Gruppen in ländlichen Gebieten oder auch an den äthiopischen Universitäten. Aber sie zeugen davon, dass Abiy in der politischen Landschaft des eigenen Landes keineswegs unumstritten ist. Die politische Zukunft Äthiopiens jedenfalls ist weit offen. Die Regierungszeit von Abiy Ahmed gleicht einem Abenteuerritt ins Ungewisse. Die Tragweite dieses Experiments ist kaum zu unterschätzen in einem Land mit rund 110 Millionen Einwohnern und hohem Bevölkerungswachstum, tiefer Massenarmut, immensen alten und neuen ökologischen Herausforderungen und einer Schlüsselrolle für die Stabilität in einer der unruhigsten Weltregionen.
Abiy Ahmed, Nobel Lecture, Oslo, 10.12.2019, Externer Link: http://www.nobelprize.org/prizes/peace/2019/abiy/109716-lecture-english (alle Zitate: eig. Übersetzung).
Vgl. Paul M. Barrett/Dorothée Baumann-Pauly, Made in Ethiopia: Challenges in the Garment Industry’s New Frontier, NYU Stern Center for Business and Human Rights, Mai 2019, Externer Link: https://issuu.com/nyusterncenterforbusinessandhumanri/docs/nyu_ethiopia_final_online?e=31640827/69644612.
Government of Ethiopia, Human Rights Commission Publicizes Findings about the Recent Sporadic Disturbances, 18.4.2017, Externer Link: https://reliefweb.int/report/ethiopia/human-rights-commission-publicizes-findings-about-recent-sporadic-disturbances.
Vgl. Liyat Fekade/Tsedale Lemma, Analysis: Dr. Abiy Ahmed Becomes a Prime Minister the Legacy EPRDF Fought against to the Bitter End, 2.4.2018, Externer Link: http://addisstandard.com.
Ebd.
Full English Transcript of Ehtiopian Prime Minister Abiy Ahmed’s Inaugural Address, 3.4.2018, Externer Link: http://www.opride.com/2018/04/03/english-partial-transcript-of-ethiopian-prime-minister-abiy-ahmeds-inaugural-address.
Abiy Ahmed in einer Rede am 15.7.2018, zit. nach Jalale Getachew Biru, Abiy Ahmed and His Achievements in Ethiopia. From Lost Hope to New Optimism with the "Medemer" Concept?, 29.10.2019, Externer Link: https://blog.prif.org/2019/10/29.
Abiy (Anm. 1.).
Vgl. UNHCR Global Trends 2018, Externer Link: http://www.unhcr.org/globaltrends2018.
Vgl. International Organisation for Migration, IOM Ethiopia Publishes First Ever National Displacement Report, 25.10.2019, Externer Link: http://www.iom.int/news/iom-ethiopia-publishes-first-ever-national-displacement-report.
Amnesty International, Ethiopia: Government Must Protect Victims of Escalating Ethnic Attacks, Presseerklärung, 8.6.2018.
International Crisis Group, Managing Ethiopia’s Unsettled Transition, 21.2.2019, S. 21, Externer Link: http://www.crisisgroup.org/africa/horn-africa/ethiopia/269-managing-ethiopias-unsettled-transition.
Ermias Tesfaye, Southern Comfort on the Rocks, 20.11.2019, Externer Link: http://www.ethiopia-insight.com/2019/11/20.
Vgl. Dawit Endeshaw, Lemma Breaks Silence, 7.12.2019, Externer Link: http://www.thereporterethiopia.com/article/lemma-breaks-silence.
Neamin Ashenafi, EPRDF Denounces TPLF’s Stance over Unified Party, 19.10.2019, Externer Link: http://www.thereporterethiopia.com/article/eprdf-denouncestplfs-stance-over-unified-party.
Éthiopie: le TPLF, ex-parti dominant, fête ses 45 ans dans l’incertitude, AFP-Meldung 19.2.2020.
Vgl. Maggie Fick, Ethiopia’s Surveillance Network Crumbles, Meaning Less Fear and Less Control, 17.12.2019, Externer Link: http://www.reuters.com/article/idUSKBN1YL1C2.
The Politics of Conspiracy and Intrigue Has Become a Challenge: Abiy Ahmed, 4.2.2020, Externer Link: http://www.ethiopiaobserver.com/2020/02/04/the-politics-of-conspiracy-and-intrigue-has-become-a-challenge-abiy-ahmed.
René Lefort, Preaching Unity but Flying Solo, Abiy’s Ambition May Stall Ethiopia’s Transition, 25.2.2020, Externer Link: http://www.ethiopia-insight.com/2020/02/25.
Neamin Ashenafi, AEUP, Balderas Form Coalition, 7.3.2020, Externer Link: http://www.thereporterethiopia.com/article/aeup-balderas-form-coalition.
Ders., Three Opposition Parties Sign MoU, 4.1.2020, Externer Link: http://www.thereporterethiopia.com/article/three-opposition-parties-sign-mou.
| Article | , Dominic Johnson | 2022-02-10T00:00:00 | 2020-04-29T00:00:00 | 2022-02-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/308147/deja-vu-oder-echter-aufbruch/ | In Äthiopien wurden im vergangenen halben Jahrhundert schon zweimal immense Hoffnungen erst geweckt und dann enttäuscht. Mit Abiy Ahmed soll der Wandel nun gelingen. Doch er ist im Land nicht unumstritten. | [
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Analyse: Das neue IWF-Programm: Hintergrund und Ausblick | Ukraine-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung:
Im April 2014 hat die Ukraine ein Abkommen mit dem IWF vereinbart. Die Annahmen des Programms sind aber inzwischen obsolet geworden, da sich die wirtschaftliche und finanzielle Lage im Gefolge des militärischen Konflikts im Osten des Landes deutlich verschlechtert hat.
Nun wurde ein neues IWF-Programm vereinbart (aber noch nicht unterschrieben), welches das alte Programm ersetzen soll. Der neue IWF-Kredit von 17,5 Mrd. USD soll durch geschätzte 9 Mrd. USD von bilateralen und multilateralen Gebern ergänzt werden. Private Gläubiger sollen sich mit ca. 13,5 Mrd. USD an der Finanzierungslast beteiligen. Das gesamte Finanzierungspaket beträgt somit 40 Mrd. USD.
Das Programm ist mittelfristig (2015–2018) angelegt und kann deshalb neben makroökonomischen auch strukturelle Ungleichgewichte ins Visier nehmen. Neben für den IWF typischen Themen wie fiskalische Konsolidierung, Energiepreise und Wechselkurs sind auch die Korruptionsbekämpfung sowie die Reform von Staatsunternehmen im Programm enthalten.
Das neue Programm ist ein wichtiger Schritt zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes, welche allerdings ohne die Beilegung des militärischen Konflikts im Osten des Landes nur schwer gelingen kann.
Rückblick: Das IWF-Programm von April 2014
Im April des vergangenen Jahres wurde ein IWF-Programm zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise vereinbart. Dieses "Stand-By Arrangement" (SBA) hatte eine Laufzeit von 2 Jahren und sah einen Kredit in Höhe von 17 Mrd. USD vor. Andere Geber (wie EU, USA) sowie internationale Finanzinstitutionen (wie EBRD, EIB, Weltbank) steuerten weitere 10 Mrd. USD bei. Das gesamte Finanzierungspaket betrug somit 27 Mrd. USD.
Das Programm basierte allerdings auf der Annahme einer "normalen" Rezession. Der militärische Konflikt im Osten, welcher insbesondere ab der Jahresmitte erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Landes ausübte, war zum Zeitpunkt der IWF-Vereinbarung nicht abzusehen und wurde deshalb nicht bei der Programmgestaltung berücksichtigt. Folglich wurde im Programm weder mit dem massiven Einbruch der Produktion in den Gebieten Donezk und Luhansk noch mit der hohen Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Konflikt gerechnet, die auch auf weitere Gebiete des Landes negativ ausstrahlte.
Die zweite und vorerst letzte Tranche des IWF-Kredits wurde Ende August ausgezahlt. Weitere Tranchen wurden nicht ausgezahlt, da in der Zwischenzeit wichtige politische Ereignisse (Parlamentswahlen im Oktober, Regierungsbildung im November) stattfanden. Als nach der Regierungsbildung die Fortsetzung des Programms anstand, wurde schnell klar, dass sich die wirtschaftliche und finanzielle Lage stark verändert hatten. Insbesondere war der externe Finanzierungsbedarf des Landes gegenüber den bisherigen Planungen deutlich gestiegen, wodurch eine komplette Überarbeitung des Programms nötig geworden ist.
Eckdaten des neuen IWF-Programms
Am 12. Februar 2015 wurde vom IWF der Abschluss einer "Staff-Level"-Vereinbarung über ein neues Programm mit der Ukraine bekanntgegeben. Das neue Programm, welches unter der Kategorie "Extended Fund Facility (EFF)" läuft, sieht einen Kredit in Höhe von 17,5 Mrd. USD vor und soll eine Laufzeit von 4 Jahren haben. Diese mittelfristige Perspektive ermöglicht, nicht nur makroökonomische, sondern auch strukturelle Ungleichgewichte zu beheben. Hierin besteht also ein wesentlicher Unterschied zum 2-Jahres-Programm aus dem vergangenen Jahr, welches nun durch das neue Programm ersetzt wird. Ein weiterer Unterschied sind die Rückzahlungsfristen des Kredits: Betrugen diese beim SBA etwa 3–5 Jahre, so liegen diese Fristen bei einem EFF bei 4–10 Jahren, sind also deutlich langfristiger.
Das neue Programm, welches noch vom IWF-Vorstand genehmigt werden muss (vermutlich im März), ist dabei der Kernbestandteil eines umfassenden Finanzierungspakets für die Ukraine, welches eine Gesamtsumme von 40 Mrd. USD für die Periode 2015–2018 umfasst. Neben den 17,5 Mrd. USD vom IWF werden bilaterale und multilaterale Geber weitere Mittel beisteuern; aber auch private Gläubiger sollen sich an der Finanzierungslast beteiligen.
Auch wenn es zur konkreten Aufteilung der Finanzierungslast bisher keine Verlautbarungen seitens des IWF gibt, so werden laut dem ukrainischen Finanzministerium weitere Geber (EU, USA, EBRD etc.) etwa 9 Mrd. USD beitragen. Dies würde einen Finanzierungsanteil von 13,5 Mrd. USD für die privaten Gläubiger implizieren, wobei auch höhere Schätzungen von bis zu 15 Mrd. USD kursieren.
Das alte Finanzierungspaket aus dem vergangenen Jahr hatte im Vergleich dazu einen Umfang von 27 Mrd. USD über 2 Jahre, von denen 9 Mrd. USD tatsächlich in 2014 ausgezahlt wurden. Dies impliziert eine Gesamtunterstützung für die Ukraine im Zeitraum 2014–2018 von knapp 50 Mrd. USD.
Konditionalität des neuen Programms
Selbstverständlich basiert auch das neue Programm auf einer umfassenden Konditionalität, die allerdings noch nicht in allen Einzelheiten bekannt ist. Bereits klar ist, dass die Tarife für Gas und Wärme sehr stark angehoben werden müssen und bereits 2017 die vollen Bezugskosten decken sollen. Die Implementierung der vorgesehenen extremen Steigerung dieser Energietarife in einem relativ kurzen Zeitraum wird aber sicherlich eine nicht einfache Herausforderung für die ukrainische Politik darstellen.
Auch der Staatshaushalt 2015 muss revidiert werden, da er bereits überholt ist. Hier ist aber bemerkenswert, dass das Defizit gegenüber dem bisher geplanten Wert leicht steigen darf, von 3,7 % auf nun 4,1 % des BIP. Insbesondere sind steigende Sozialausgaben zur Abfederung der geplanten Anhebung von Energietarifen sowie zur Unterstützung von Binnenflüchtlingen geplant.
Weitere Reformbedingungen des Programms liegen in der Geld- und Wechselpolitik, wo an einem flexiblen Wechselkurssystem festgehalten werden soll, sowie im Bankensektor, der gegenwärtig nur eingeschränkt funktionsfähig ist.
Mittelfristig sollen weitreichende Strukturreformen in verschiedenen Bereichen implementiert werden, u. a. zur Bekämpfung der Korruption, im Justizsystem sowie bei der Deregulierung von unternehmerischen Tätigkeiten. Ebenfalls geplant ist eine Reform der staatlichen Unternehmen, die mittelfristig auch in verstärkte Privatisierungen münden soll.
Zur Beteiligung privater Gläubiger
Ein wichtiger Unterschied zum alten Programm liegt in der expliziten Beteiligung privater externer Gläubiger an den Finanzierungslasten. Gespräche mit dem Ziel einer Involvierung des privaten Sektors ("Private Sector Involvement", PSI) sind spätestens seit Griechenland bekannt, als ähnlich verfahren wurde. In der Ukraine sollen diese Gespräche sofort nach Annahme des IWF-Programms starten und bis zur Jahresmitte 2015 abgeschlossen sein.
Die Erwartung eines Beitrags von 13,5–15 Mrd. USD an den Finanzierungskosten ist als substantiell zu bezeichnen, sowohl im Hinblick auf das Gesamtprogramm (40 Mrd. USD) als auch im Hinblick auf die gesamte Staatsverschuldung. Diese betrug Ende 2014 knapp 70 Mrd. USD, wobei aber nur ca. 19 Mrd. USD auf staatliche bzw. staatlich garantierte Anleihen entfallen, die auf externen Kapitalmärkten begeben wurden ("Eurobonds"). Möglicherweise werden in diese Umschuldungsverhandlungen auch weitere Schulden eingebracht, wie z. B. nicht-garantierte Anleihen quasi-staatlicher Schuldner (Staatsbanken, Eisenbahngesellschaft) sowie kommunale Anleihen (Kiew) oder auch Bankkredite.
Ohne den Verhandlungen vorwegzugreifen sind mehrere Varianten denkbar, wie diese Umschuldung konkret implementiert werden kann. Neben einer reinen Streckung der Zahlungen durch eine Laufzeitverlängerung der Anleihen sind auch Kürzungen der Zins- und Tilgungszahlungen denkbar. Allein während der Programmlaufzeit 2015–2018 werden Zinsen von insgesamt 4,5 Mrd. USD auf staatliche, kommunale und quasi-staatliche Anleihen fällig.
Fazit
Das neue IWF-Programm soll mit der üblichen Kombination aus einem Kredit und zahlreichen Konditionalitäten bzgl. Wirtschaftsreformen das Land wirtschaftlich und finanziell stabilisieren. Auf der finanziellen Seite des Programms ist insbesondere zu begrüßen, dass private Gläubiger sich an der Finanzierungslast beteiligen sollen. Hierbei ist aber wichtig, dass die Verhandlungen mit den Gläubigern konstruktiv geführt werden.
Auf der Seite der Konditionalität ist die sehr ambitionierte Anpassung der Energietarife für die Bevölkerung zu betonen. Bei dieser politisch extrem schwierigen Aufgabe sind Fragen der Implementierung und der effektiven sozialpolitischen Abfederung enorm wichtig. Ob das neue IWF-Programm letztendlich in eine wirtschaftliche Stabilisierung des Landes mündet, ist allerdings ungewiss. Ohne eine Beilegung des militärischen Konflikts im Osten des Landes ist diese Aufgabe kaum zu bewerkstelligen.
Der abgedruckte Text ist ein Nachdruck des aktuellen Newsletters der Beratergruppe (Nr. 76 vom Februar 2015). Zum regelmäßigen Bezug des Newsletters genügt eine E-Mail an E-Mail Link: newsletter@beratergruppe-ukraine.de | Article | Von Ricardo Giucci und Robert Kirchner, Berlin | 2021-06-23T00:00:00 | 2015-03-16T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/202824/analyse-das-neue-iwf-programm-hintergrund-und-ausblick/ | Die finanzielle Lage in der Ukraine ist mehr als angespannt. Ein neues IWF-Programm soll dem Land helfen, sich wirtschaftlich zu stabilisieren. Neben der Bekämpfung von strukturellen Ungleichgewichten steht die fiskalische Konsolidierung im Fokus. | [
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Immer mehr rechtsextreme Beiträge im Web 2.0 | Presse | bpb.de | Rechtsextreme haben im vergangenen Jahr ihre Aktivitäten im Internet erneut verstärkt. Sie nutzen insbesondere die Möglichkeiten des Web 2.0, um ihre Propaganda zu verbreiten und immer jüngere Jugendliche mit Videos und Musik zu ködern. In sozialen Netzwerken hetzen sie gegen Minderheiten und verbreiten ihre demokratiefeindlichen Thesen.
Dies sind Erkenntnisse der kontinuierlichen Beobachtung rechtsextremer Internetseiten durch das von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb geförderte Rechtsextremismus-Projekt von jugendschutz.net. Die beobachteten Entwicklungen der rechtsextremen Web-Szene sowie erfolgreiche Gegenstrategien liegen nun in einem aktuellen Bericht vor.
Zur Pressekonferenz anlässlich der Präsentation des Berichts von jugendschutz.net laden wir Sie herzlich ein.
Referenten
Thomas Krüger, Präsident der bpbStefan Glaser, Leiter des Bereichs Rechtsextremismus von jugendschutz.netMartin Ziegenhagen von der Online-Beratung gegen Rechtsextremismus
Termin
Freitag, 14. August 2009 11:30 – 12:30 Ort
Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund In den Ministergärten 6 10117 Berlin
Wir bitten um Akkreditierung mit dem angehängten Antwortformular.
Interner Link: Antwortformular (Word-Version: 247 KB)Interner Link: Antwortformular (PDF-Version: 94 KB)
Einfach ausfüllen und bis zum 7. August senden an: E-Mail Link: ms@jugendschutz.net oder per Fax an: +49 (0)6131 3285-22. jugendschutz.net ist die Zentralstelle der Bundesländer für den Jugendschutz im Internet. Seit 2000 beobachtet das Team systematisch den Rechts¬extremismus im Internet und erarbeitet effektive Gegenstrategien. Die Arbeit zu diesem Thema wird seit 2007 durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Mehr Informationen: Externer Link: www.jugendschutz.net.
Presseeinladung als Interner Link: PDF-Version (76 KB) Pressekontakt
jugendschutz.net Meike Steinle Wallstr. 11 55122 Mainz Tel +49 (0)6131 3285-317 Fax +49 (0)6131 3285-22 E-Mail Link: ms@jugendschutz.net Externer Link: www.jugendschutz.net Pressekontakt/bpb
Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50155/immer-mehr-rechtsextreme-beitraege-im-web-2-0/ | Die Bundeszentrale für politische Bildung und jugendschutz.net stellen aktuelle Zahlen über den Missbrauch des Internets durch Rechtsextreme vor und informieren über erfolgreiche Gegenstrategien. | [
"Unbekannt (5273)"
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Integration | Refugee Eleven | bpb.de | Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es ist nicht neu, dass Menschen aus unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland ein- oder auswandern. Immer wieder gab es auch Zeiten, in denen besonders viele Menschen eingewandert sind. Zwischen 1950 und 2015 sind mehr als 46 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen, unter anderem als Kriegsvertriebene, Arbeitsmigrantinnen und –migranten oder Asylsuchende. In diesem Zeitraum wanderten aber auch mehr als 32 Millionen Menschen aus Deutschland in andere Länder aus, um dort zu leben und zu arbeiten. und vgl. Bundesministerium des Innern (2016): Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, S. 5, 33. Im Internet: Externer Link: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2016/Migrationsbericht_2015.pdf?__blob=publicationFile
Gesellschaft
Laut dem Statistischen Bundesamt haben in Deutschland 17,1 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund.. Bei Redaktionsschluss lagen noch keine Zahlen für 2016 vor. Das ist ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Deutschland ist ein Land, das sehr vielfältig ist. Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern und mit verschiedenen Religionen leben zusammen. Viele Menschen, deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland gezogen sind, haben heute die deutsche Staatsbürgerschaft, in Deutschland ihre Heimat und sind Teil der Gesellschaft.
Arton Ferati und Aias Aosman (© bpb)
Werte, wie die Achtung der Menschenrechte, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung sowie das Recht, aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Glaube, religiösen und politischen Anschauungen oder Behinderung nicht diskriminiert zu werden, sind Teil der Verfassung und gelten für alle Menschen, die in Deutschland leben. Egal wie lange Menschen in Deutschland leben und ob sie in Deutschland geboren sind oder nicht: Sie sind verpflichtet, in gleicher Weise die Verfassung und die Gesetze zu achten. Jeder und jedem ist es aber auf der anderen Seite auch überlassen, nach ihren Überzeugungen zu leben, wie sie es individuell für richtig halten, solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen oder die Freiheit der Anderen einschränken.
Teilhabe
Das Ziel von Integration ist, dass alle Menschen, die dauerhaft in einem Land zusammenleben, in die Gesellschaft einbezogen sind. Das bedeutet für geflüchtete und eingewanderte Menschen nicht nur die gleichen Rechte und Pflichten wie andere Mitmenschen zu haben, sondern auch am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben teilzuhaben. Gelungene Integration bedeutet dann auch, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. "Die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, haben schlimme Sachen erlebt. Es hilft ihnen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen hier jemand hilft. Aber man muss sich an Spielregeln halten. Wenn man sich nicht daran hält, spielt man halt nicht." Aias Aosman 24 Jahre, Mittelfeldspieler bei SG Dynamo Dresden, kam mit fünf Jahren aus Syrien "Die Sprache ist sehr wichtig für den Alltag, ohne Sprache kommt man nicht weit. Man muss wirklich üben, üben, üben. Aber Integration kann man nicht einfach lernen. Integration dauert Jahre." Arton Ferati 20 Jahre, Mittelfeldspieler bei SC Germania Erftstadt-Lechenich, kam mit zwei Jahren aus dem Kosovo Chancen
Integration kann auch anstrengend sein. Fragen wie Zugehörigkeit, nationale Identität, Teilhabe und Mitbestimmung werden miteinander ausgehandelt und das erzeugt manchmal Spannungen.
Arton Ferati und Aias Aosman (© bpb)
Durch Einwanderung und Migration entstehen aber auch Chancen. So können zum Beispiel durch Einwanderung die negativen Auswirkungen des demografischen Wandels ausgeglichen werden. Deutschland wird immer älter. Es werden nur wenige Kinder geboren und die Menschen leben länger. Das sorgt für steigende Kosten der Kranken- und Rentenversicherung, weil es an Beitragszahlenden fehlt. Wenn mehr Menschen in Deutschland leben und arbeiten und es mehr Beitragszahlende gibt, sinken diese Kosten wieder. Nach einer Studie der Weltbank von 2016 können durch zugewanderte Menschen zudem auch wichtige Impulse für Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft entstehen, weil sie neue Ideen und Sichtweisen nach Deutschland bringen.
Wechselseitiger Prozess
Zu Integration gehört auch, dass es sich um eine Entwicklung und einen wechselseitigen Prozess handelt, in dem die Menschen in einer Gesellschaft gemeinsam ein Verständnis davon entwickeln, wie sie zusammenleben wollen. Das gilt genauso für Menschen, die nach Deutschland kommen wie auch für die aufnehmende Gesellschaft, indem sie den neu Ankommenden Möglichkeiten zur Integration bietet. Dabei kann es helfen, wenn die aufnehmende Gesellschaft Kontakt zu ihnen sucht.
Aufgaben für den Unterricht
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Welche Gründe nennt der Text? Fallen dir weitere Gründe ein?
Für alle Menschen in Deutschland gelten bestimmte Werte. Welche nennt der Text? Warum ist es wichtig, dass diese Werte für alle gelten? Durch Integration entstehen Herausforderungen, aber auch Chancen. Welche sind das? Diskutiere mit Anderen in der Gruppe.
Arton Ferati und Aias Aosman (© bpb)
Arton Ferati und Aias Aosman (© bpb)
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Welche Gründe nennt der Text? Fallen dir weitere Gründe ein?
Für alle Menschen in Deutschland gelten bestimmte Werte. Welche nennt der Text? Warum ist es wichtig, dass diese Werte für alle gelten? Durch Integration entstehen Herausforderungen, aber auch Chancen. Welche sind das? Diskutiere mit Anderen in der Gruppe.
Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2016): Einwanderungsland Deutschland. Die Fakten im Überblick. Externer Link: https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/IB/Einwanderungsland%20Deutschland.pdf
Vgl. Bruno Zandonella, bpb (2016): Themenblätter im Unterricht (Nr. 111). Migration und Integration. Im Internet: Interner Link: http://www.bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/224161/migration-und-integration
Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2016): Einwanderungsland Deutschland. Die Fakten im Überblick, S. 14. Im Internet: Externer Link: https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/IB/Einwanderungsland%20Deutschland.pdf
Vgl. Destatis Statistisches Bundesamt (2017): Migration & Integration. Im Internet: Externer Link: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html
Vgl. BAMF (2015): Migrationsbericht 2015, Zentrale Ergebnisse, S. 11. Im Internet: Externer Link: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2015-zentrale-ergebnisse.pdf?__blob=publicationFile
Vgl. Schulz-Reiss, Christine (2016): Nachgefragt: Flucht und Integration. Basiswissen zum Mitreden. Bindlach: Loewe Verlag GmbH, S.8 f.
Bpb (2012): Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Die Grundrechte (Art. 1-19). Im Internet: Interner Link: https://www.bpb.de/nachschlagen/gesetze/grundgesetz/44187/i-die-grundrechte-art-1-19
Bpb (2012): Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Die Grundrechte (Art. 1-19). Im Internet: Interner Link: https://www.bpb.de/nachschlagen/gesetze/grundgesetz/44187/i-die-grundrechte-art-1-19
Bundesministerium des Innern (2017): Migration und Integration. Im Internet: Externer Link: http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Migration-Integration/Integration/integration_node.html
Naika Foroutan, bpb (2015): Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen. Im Internet: Interner Link: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/205188/einleitung
Vgl. Herwig Birg, bpb (2011): Bevölkerungsentwicklung: Soziale Auswirkungen. Im Internet: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/demografischer-wandel/75997/soziale-auswirkungen?p=al
Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2016): Einwanderungsland Deutschland. Die Fakten im Überblick, S. 18. Im Internet: Externer Link: https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/IB/Einwanderungsland%20Deutschland.pdf
World Bank Group (2016): Migration and Development. A role for the World Bank Group, S. 22. Im Internet: Externer Link: http://pubdocs.worldbank.org/en/468881473870347506/Migration-and-Development-Report-Sept2016.pdf
Bundesministerium des Innern (2017): Migration und Integration. Im Internet: Externer Link: http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Migration-Integration/Integration/integration_node.html
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2017-05-19T00:00:00 | 2017-03-02T00:00:00 | 2017-05-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/bewegtbild-und-politische-bildung/webvideo/refugee-eleven/243516/integration/ | Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es ist nicht neu, dass Menschen aus unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland ein- oder auswandern. Immer wieder gab es auch Zeiten, in denen besonders viele Menschen eingewandert sind. Zwischen 1950 und 20 | [
"Integration",
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"Einwanderungsland",
"Flucht"
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Migrationspolitik – November 2020 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de |
Interner Link: Mehr Asylanträge von Minderjährigen und jungen Erwachsenen Interner Link: Europäischer Gerichtshof: Militärdienstverweigerern aus Syrien soll leichter Flüchtlingsschutz gewährt werden Interner Link: Europäische Grenzschutzagentur Frontex wegen illegaler Pushbacks in der Kritik Interner Link: Militäroffensive in Äthiopien: 43.000 Menschen fliehen in den Sudan Interner Link: Was vom Monat übrig blieb...
Mehr Asylanträge von Minderjährigen und jungen Erwachsenen
Mehr als die Hälfte der Menschen, die seit Jahresbeginn einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt haben, war minderjährig. Das geht Externer Link: aus aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor. Demnach registrierte die Behörde im Zeitraum Januar bis November 2020 in Deutschland 93.758 Erstanträge, von denen 54,2 Prozent von Personen unter 18 Jahren gestellt worden waren. 26,2 Prozent der Erstanträge wurden dabei für Externer Link: in Deutschland geborene Kinder unter einem Jahr gestellt. Insgesamt 77,2 Prozent der Asylerstantragstellenden war jünger als 30 Jahre. Damit ist der Anteil der Minderjährigen und jungen Erwachsenen an allen Asylantragstellenden gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Zum Vergleich: Von den 133.324 Erstanträgen auf Asyl, die zwischen Januar und November 2019 Externer Link: beim BAMF eingereicht worden waren, stammten 50,0 Prozent von Minderjährigen. 22,0 Prozent der Erstantragstellenden waren in Deutschland geborene Kinder unter einem Jahr; der Anteil der unter 30-Jährigen an allen Asylantragstellenden belief sich auf 73,7 Prozent.
Von den insgesamt 108.884 Asylanträgen (93.758 Erstanträge und 15.126 Folgeanträge), die das BAMF in den ersten elf Monaten des Jahres 2020 entgegengenommen hat, wurden 9.973 (8.736 Erst- und 1.237 Folgeanträge) im November gestellt. In diesem Monat kamen die meisten Asylantragstellenden aus Syrien (2.986), Afghanistan (1.346) und Irak (936).
Europäischer Gerichtshof: Militärdienstverweigerern aus Syrien soll leichter Flüchtlingsschutz gewährt werden
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Externer Link: entschieden, dass syrische Staatsangehörige, die sich der Wehrpflicht in ihrem Herkunftsland durch Flucht entzogen haben, leichter als Flüchtlinge anerkannt werden können. Zur Begründung wies das oberste Gericht der EU auf die hohe Wahrscheinlichkeit hin, dass die Verweigerung des Militärdienstes von syrischen Behörden als politische Opposition ausgelegt und strafverfolgt werde. Denn eine legale Option, den Militärdienst zu verweigern, gibt es in Syrien nicht. Damit seien diese Personen als Flüchtlinge nach der Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention einzustufen. In vielen Fällen sei die Kriegsdienstverweigerung als Ausdruck politischer oder religiöser Überzeugungen zu werten bzw. durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe motiviert, so die Richterinnen und Richter. Bislang hatten die Obersten Verwaltungsgerichte in Deutschland die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern regelmäßig nicht als Grund zur Gewährung des Flüchtlingsschutzes anerkannt, weshalb viele geflüchtete Militärdienstverweigerer aus Syrien nur den mit weniger Rechten ausgestatteten Interner Link: subsidiären Schutz erhielten.
Geklagt hatte ein Syrer, der 2014 nach Abschluss seines Studiums aus Angst vor einer Einberufung zur syrischen Armee über das Mittelmeer geflohen war. Er hatte in Deutschland Asyl beantragt. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte ihm subsidiären Schutz gewährt, mit der Begründung, dass Männer, die Syrien wegen Verweigerung der Wehrpflicht verlassen, nicht individuell wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt und daher nicht die Voraussetzung für den Flüchtlingsstatus erfüllen würden. Das Verwaltungsgericht Hannover hatte daraufhin den EuGH um eine Einschätzung gebeten, wie solch ein Fall von Kriegsdienstverweigerung nach den europäischen Gesetzen zu beurteilen sei.
Europäische Grenzschutzagentur Frontex wegen illegaler Pushbacks in der Kritik
Die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) steht im Verdacht, an sogenannten Pushbacks beteiligt gewesen zu sein. In diese illegalen Praktiken der Zurückdrängung von Schutzsuchenden sollen auch Beamtinnen und Beamte der deutschen Interner Link: Bundespolizei verwickelt gewesen sein. So sollen Berichten deutscher und internationaler Medienagenturen zufolge griechische Grenzschützer mehrfach Schlauchboote mit geflüchteten Migrantinnen und Migranten an Bord in der Ägäis zurück in türkische Gewässer gedrängt oder geschleppt haben, nachdem unter der Ägide von Frontex stehende Einsatzkräfte – u.a. aus Deutschland – deren Weiterfahrt verhindert haben sollen.
Nach internationalem Recht muss Schutzsuchenden, die das Territorium eines EU-Mitgliedslandes erreichen, die Möglichkeit gegeben werden, ein Asylgesuch vorzubringen, das dann in einem ordentlichen Asylverfahren geprüft wird. Der Europarat rief griechische Behörden auf, die Praxis der Pushbacks zu Externer Link: beenden. Griechenland wies die Kritik zurück. Der Vorwurf der Zurückdrängung von Geflüchteten sei unbegründet. Als Reaktion auf die Vorwürfe gegen Frontex, an Pushbacks beteiligt gewesen zu sein bzw. diese gebilligt zu haben, hat der Chef der Grenzschutzagentur, Fabrice Leggeri, vorgeschlagen, eine Untersuchungskommission einzurichten. Die EU-Kommission begrüßt diesen Schritt.
Militäroffensive in Äthiopien: 43.000 Menschen fliehen in den Sudan
Seit dem Start der Militäroffensive der äthiopischen Regierung in der Region Tigray Anfang November sind mehr als 43.000 Menschen aus Interner Link: Äthiopien in den benachbarten Interner Link: Sudan geflohen. Das Externer Link: teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) Ende November mit. Zwar erklärte die Zentralregierung die Militäroffensive inzwischen für beendet, bislang räumte die aufständische Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) ihre Niederlage aber nicht ein. Die Situation ist unübersichtlich, da Verkehrs- und Kommunikationswege in die Region abgeschnitten sind und internationale Beobachter und Beobachterinnen sich kein adäquates Bild der Lage vor Ort machen können.
Die Vereinten Nationen fordern humanitäre Korridore, um die Versorgung der Zivilbevölkerung in der Region sicherzustellen. Das gilt auch für die Versorgung der etwa 100.000 Flüchtlinge aus Eritrea, die in der Region Tigray in Flüchtlingslagern leben. UNHCR dringt zudem auf die Errichtung weiterer Flüchtlingslager im Sudan, da bestehende Einrichtungen überfüllt seien. Sollte die Situation in Interner Link: Äthiopien weiter eskalieren, fürchten Expertinnen und Experten eine Destabilisierung der gesamten Region am Horn von Afrika und damit auch eine Zunahme der Fluchtbewegungen Interner Link: in einer Region, in der es bereits jetzt ein hohes Flüchtlingsaufkommen gibt.
Hintergrund der Militäroffensive der äthiopischen Armee ist ein seit mehr als zwei Jahren schwelender Konflikt zwischen der Zentralregierung und der in Tigray regierenden TPLF. Diese zählte bis zum Amtsantritt von Ministerpräsident Abiy Ahmed im April 2018 25 Jahre lang zur regierenden Parteienkoalition im Interner Link: Vielvölkerstaat Äthiopien. Sie trat der von Abiy neu gegründeten Einheitsregierung nicht bei. Entgegen der Entscheidung der Zentralregierung, die landesweiten Parlamentswahlen 2020 wegen der Corona-Pandemie zu verschieben, hielt die TPLF im September 2020 Wahlen in der Region Tigray ab. Die Zentralregierung betrachtet diese als unrechtmäßig. Am 7. November erklärte das Parlament in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba die Regionalregierung in Tigray für abgesetzt. Das ermöglichte Ministerpräsident Abiy, militärisch gegen die TPLF vorzugehen.
Was vom Monat übrig blieb...
Das Landgericht Bremen hat Anfang November die meisten der Anklagepunkte gegen die ehemalige Leiterin der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und mehrere Anwälte abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft hatte im Sommer 2018 Ermittlungen wegen bandenmäßiger Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung eingeleitet. Die Vorwürfe hatten sich in diesen Punkten nicht erhärtet.
In Aufnahmeeinrichtungen der Bundesländer sind seit Beginn der Corona-Pandemie mehr als 2.000 Asylsuchende an Covid-19 erkrankt. Das Externer Link: berichtet der Mediendienst Integration mit Verweis auf entsprechende Anfragen an die zuständigen Landesministerien. Derzeit leben rund 53.000 Menschen in Aufnahmeeinrichtungen der Länder – in der Regel in Sammelunterkünften. Wie viele Menschen sich darüber hinaus in kommunalen Einrichtungen befinden und an Covid-19 erkrankt sind, wird laut Mediendienst nicht systematisch erfasst.
Tausende Menschen sind vor dem bewaffneten Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die im Südkaukasus gelegene Region Bergkarabach geflohen. In dem in der Nacht vom 9. auf den 10. November vereinbarten Waffenstillstand heißt es, dass Flüchtlinge und Vertriebene unter Aufsicht des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) nach Bergkarabach und in die umliegenden Gebiete zurückkehren sollen. Welche Menschen das betrifft und wie eine sichere Rückkehr stattfinden kann, ist aber noch ungewiss. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2020-12-08T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/322582/migrationspolitik-november-2020/ | Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa. | [
"Flucht und Asyl",
"Migrationspolitik",
"Migration",
"Äthiopien"
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Wer trägt die Schuld? - Schießbefehl und Mauertote | Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur | bpb.de | Berlin in diesen Tagen. Pioniere der DDR-Grenztruppen sorgen dafür, dass die Mauer in der Stadt bald ganz verschwunden ist. 28 Jahre lang wurde diese Grenze mit Waffengewalt gesichert. Jetzt wird der Todesstreifen zugeteert, das Vergangene vom neuen Alltag überrollt.
DDR-Grenzer
„Was sollen wir darüber sagen? Wir haben damals unseren Auftrag erfüllt, und wir werden auch heute unseren Auftrag erfüllen. Und heute ist das natürlich noch wichtiger, im Interesse unserer Regierung die Aufträge zu erfüllen, die wir erteilt bekommen.“
Frage: „Ja, bloß damals war der Auftrag, auch zu schießen, wenn jemand hier einfach mal über die Mauer wollte.“
„Das waren damals die gültigen Gesetze.“
Es starben 192 Menschen an der innerdeutschen Grenze. Wahrscheinlich sogar noch mehr, denn im Zusammenwirken von Stasi und Armee wurde bei Schüssen auf Flüchtlinge stets vertuscht und verschleiert.
Wo früher geschossen wurde, werden heute die Mützen und Uniformen der Grenzer als Souvenir verkauft.
Was ist mit den Todesschützen?
Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt
Frage: „Sie ermitteln nur in elf Fällen. Warum?“
„Gegenwärtig nur in elf Fällen.“
Frage: „Warum in elf Fällen? Es sind doch mehrere Dutzend Fälle von Toten an der Mauer bekannt.“
„Diese Fälle sind bekannt, aber es gibt keine Anzeigen zu diesen Fällen, und es gibt auch keine Grundlagen gegenwärtig, diese Fälle anzugehen.“
Frage: „Ist nicht eine Staatsanwaltschaft verpflichtet, gegen Gewalttaten zu ermitteln, gegen Gewalttäter zu ermitteln?“
„Das ist Ihre Einschätzung, dass es sich um Gewalttäter handelt.“
Frage: „Nun gab es ja ganz bekannte Fälle, wie zum Beispiel den Tod des Peter Fechter, der an der Mauer verblutete, über eine Stunde dort lag.“
„Dieser Fall ist mir nicht bekannt.“
Der Tod Peter Fechters ist dem obersten Ermittler der Militärstaatsanwaltschaft der DDR nicht bekannt. Diese Fotos gingen immer wieder um die Welt. Der angeschossene 18-Jährige lag im Stacheldraht bis er verblutete. Westberliner, die ihm helfen wollten, ließ man nicht heran. Die Grenzposten hatten vor allem Angst davor, fotografiert oder gefilmt zu werden. Historische Aufnahmen von 1962: Der tote Peter Fechter wird davongetragen. In Westberlin kam es noch am gleichen Tag zu spontanen Demonstrationen gegen die tödlichen Schüsse.
An der Todesstelle ließen die empörten Berliner ihre ohnmächtige Wut ab. Doch die Demonstranten mussten hinnehmen, dass weder Todesschütze noch Befehlsgeber zur Verantwortung gezogen werden konnten.
Demonstranten
„Mörder, Mörder, Mörder...“
28 Jahre erinnerte dieses Mahnkreuz an den Tod von Peter Fechter. Werden Stadtplanung und Straßenbau auch hier bald alle Spuren tilgen? Peter Fechters Schwestern leben noch immer in Berlin.
Ruth Fechter, Schwester
„Die Familie von uns, die ist interessiert, dass praktisch erstmal Anklage wegen Mord und unterlassener Hilfestellung erstmal gemacht wird und dass die Verantwortlichen praktisch nach all den Jahren auch noch zur Verantwortung gezogen werden, denn sowas verjährt nicht in meinen Augen.“
Frage: „Wollen Sie das jetzt hier vor Gericht und mit Staatsanwälten probieren?“
„Also, in diese jetzigen Richter, da habe ich nach wie vor kein Vertrauen. Da würden sie diese Anzeige bestimmt abschmettern. Denn es sitzen ja immer noch, zum Beispiel in der Generalstaatsanwaltschaft, immer noch die alten Leute da. Die gibt es ja immer noch. Auch wenn nur an höchster Stelle gewechselt wurde, aber wenn man richtig mal guckt, da sitzen immer noch die alten Leute. Und da soll ich hingehen? Nein.“
Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt
„Wir ermitteln in den Fällen, in denen wir Anzeigen haben und sehen gegenwärtig in allen anderen Fällen, von denen Sie sprachen und die mir nicht im Detail bekannt sind, keinen Handlungsbedarf.“
Filmdokumente über die Schüsse auf unbewaffnete Flüchtlinge. Viele verurteilen das als Mord und Totschlag. Doch der DDR-Militärstaatsanwalt sieht keinen Handlungsbedarf für selbständige Ermittlungen.
Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt
„Die Grenzposten haben auf der Grundlage von Befehlen gehandelt, und wenn Sie heute einen dieser Grenzposten fragen, wird er sich sicherlich weder objektiv noch subjektiv als einen Mörder bezeichnen.“
Noch im letzten Jahr wurde der 20jährige Chris Gueffroy erschossen, weil er das tat, was heute jeder kann. Er wollte nach Westberlin. Zusammen mit seinem Freund Christian Gaudian, der dabei schwer verletzt wurde, versuchte er, über den Grenzstreifen zu laufen. Sie hatten auf Erklärungen von SED-Politikern vertraut, es gäbe keinen Schießbefehl. Beide kamen bis an diesen Zaun, der immer noch die Einschussspuren trägt.
Mutter von Chris Gueffroy
„Jetzt, wo die Grenze offen ist, und wir können uns auch diesen Grenzstreifen hier ansehen, hatte ich damals schon mit meinen Vermutungen recht, dass man die beiden Jungen hätte mit Händen fangen können. Der Grenzstreifen ist so schmal, 12 Grenzer waren da, sie hatten keine Chance. Es hätte niemand schießen brauchen. Es war ein ganz gezielter Schuss. Es ist ja ein ganzes Magazin rausgeknallt worden. Wir haben ja nachts die Schüsse gehört, also ist er richtig gezielt erschossen worden. Ich würde schon wie gesagt eigentlich mal diesen jungen Mann fragen, warum er das gemacht hat. Obwohl ich wie gesagt..., im Prinzip klage ich den Staat an.“
Hartmut Küken, Pressesprecher der DDR-Grenztruppen
Frage: Könnten Sie den Namen der Todesschützen noch feststellen?“
„Wissen Sie, jeder Staat stellt sich vor seine Diener.“
Frage: „Wollen Sie sich schützend vor die Todesschützen stellen oder wie ist das zu verstehen?“
„Wissen Sie, für diese Menschen, das ist schwer vorstellbar, war das ein außerordentlich erschütterndes Grunderlebnis in ihrem Leben. Und schon aus dieser Sicht wäre es mir nicht möglich, hier einen Namen zu nennen.“
Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt
„Man sollte tatsächlich Überlegungen anstellen, ob es nicht zweckmäßig wäre, künftig eine gewisse Straffreiheitserklärung vorzunehmen, um diesen Menschen, um diesen Grenzsoldaten, die in Ausübung ihres Dienstes die Schusswaffe angewendet haben, eine Brücke zu bauen, und sich auch zu offenbaren.“
Der Staatsanwalt plädiert für Straffreiheit der Todesschützen. Und seine Ermittlungen? Die kommen kaum voran. Bislang wurde im Fall Gueffroy nicht einmal der Mit-Flüchtling Gaudian als Zeuge gehört. Rekonstruktionen am Tatort blieben aus, Unterlagen verschwanden, Angehörige der Grenztruppen verweigern die Aussage.
Heinz Bösel, Militäroberstaatsanwalt
„Wir ermitteln gegenwärtig auf der Grundlage des § 262 des Strafgesetzbuches. Wir untersuchen also, ob die Grenzposten die Dienstvorschriften eingehalten haben oder ob sie Verletzungen der Dienstvorschriften begangen haben.“ Frage: „Das heißt, Mord auf Befehl ist keine Straftat für Sie?“
„Dazu möchte ich mich in diesem Stadium der Ermittlungen nicht äußern.“
Frage: „Nun gab es in der deutschen Geschichte schon einmal das Heranziehen des Befehlsnotstandes. Können Sie das verantworten?“
„Dazu möchte ich gegenwärtig keine Aussagen machen.“
Mutter von Chris Gueffroy
Frage: „Sie haben Anzeige erstattet wegen Tötung. Ermittelt wird von der Staatsanwaltschaft wegen Pflichtverletzung im Dienst.“
„Ja, und trotzdem sage ich, es war Mord. Das ist nicht eine Pflichtverletzung im Dienst gewesen, sondern es war eindeutig Mord. Chris ist von vorne erschossen worden, er hat an dem Zaun gestanden und hat eigentlich schon die Arme hochgehalten. Es gab so viele Tote an der Mauer und das sollte man nicht vergessen. Es gab so viele Eltern, die darüber so unglücklich geworden sind. Ich glaube schon, dass man von diesen Leuten Rechenschaft abverlangen kann, muss sogar. Die können sich jetzt nicht einfach alle dahinter verstecken, dass sie auf Befehl gehandelt haben.“
Hartmut Küken, Pressesprecher der DDR-Grenztruppen
Frage: „War es notwendig, dass ein Grenzer im Grenzdienst schießt?“
„Kontroll- und Überwachungsaufgaben an einer Staatsgrenze sind verbunden mit der Notwendigkeit der Durchsetzung der entsprechenden Gesetzgebung. Es hat in den Grenztruppen niemals ein Muss zum Schießen gegeben.“
Ein bislang streng geheim gehaltener Schießbefehl, der Kontraste jetzt vorliegt, beweist das Gegenteil. Nach dem Mauerbau erging am 6. Oktober 1961 an die Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen an der Staatsgrenze-West ein Befehl vom damaligen Verteidigungsminster Armeegeneral Hoffmann. Darin heißt es ausdrücklich: Die Grenzer sind verpflichtet, die Schusswaffe anzuwenden. Auch für den Fall unbewaffneter Flüchtlinge muss nach Zuruf und Warnschuss sofort scharf geschossen werden. Vermutete man Bewaffnung beim Flüchtling, das konnte schon ein Haken zum Überwinden des Stacheldrahts sein, lautet der Befehl ausdrücklich auf Vernichtung der Person. Dieser Befehl wurde im Lauf der Jahre abgewandelt. Die Schüsse der Grenzer hörten nicht auf. Einen Fluchtversuch am Berliner Übergang Chausseestraße im Jahre 1988, zufällig fotografiert. Das Grenzgesetz von 1982. Es wurde einstimmig von der damaligen Volkskammer beschlossen. Die Grenzer waren auch danach weiterhin berechtigt, auf Flüchtlinge zu schießen. Jeden Tag erging auf dieser Gesetzesgrundlage ein mündlicher Befehl an die Grenzposten.
Ehemaliger Grenzsoldat
„Der eigentliche Schießbefehl wurde täglich mündlich ausgegeben, die sogenannte Vergatterung, in der den Soldaten gesagt wurde, dass Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen oder zu vernichten sind.“
Chris Gueffroy war der letzte von Vielen, die sterben mussten. Todesschützen oder ihre Befehlsgeber? Wer trägt die Verantwortung?
Günter Moll, Chef vom Checkpoint Charly, Oberstleutnant
„Ich selbst bedauere das persönlich sehr, dass an der Staatsgrenze, aus der heutigen Sicht, solche Dinge passiert sind. Aber ich würde sagen, in erster Linie haben wir der Staats- und Parteiführung gedient und dem Verfassungsgeber, unsere Volkskammer. Und die hat das Grenzgesetz verfasst, und wir wurden befohlen, dieses Grenzgesetz bis ins I-Tüpfelchen durchzusetzen."
Hans Modrow
Frage: „Sehen Sie eine Verantwortung bei dem Volkskammerabgeordneten, die damals dem Grenzgesetz auch zugestimmt haben?“
„Ich glaube, so kann man die Frage nicht stellen, dass man jeden Abgeordneten der Volkskammer der zurückliegenden Legislaturperioden einfach kriminalisieren will.“
Frage: „Aber er hat doch dem Grenzgesetz und damit dem Schusswaffengebrauch an der Grenze zugestimmt.“
„Entschuldigen Sie, in diesem Gesetz ist der Schusswaffengebrauch, von dem Sie sprechen, ja nicht festgelegt, das sind doch Verordnungen und Entscheidungen gewesen, die andere gefällt haben, die dieses Gesetz dann ausgelegt haben.“
Außer Hans Modrow von der PDS sitzen in der Volkskammer auch heute noch mehr Abgeordnete, die damals dem Gesetz über den Schusswaffengebrauch zugestimmt haben.
CDU-Wirtschaftsminister Pohl, Bauernparteichef Maleuda und einige andere gehören dazu.
Gerhard Pohl, Wirtschaftsminister
Frage: „Fühlen Sie sich denn eigentlich mitverantwortlich, weil Sie auch diesem Grenzgesetz zugestimmt haben, für die vielen Schüsse an der Mauer, die ja aufgrund der Waffengebrauchsvorschriften gefallen sind?“
„Nein. Wir hatten ja im Prinzip nur Feigenblattfunktion, das wissen Sie doch selber.“ Mutter von Chris Gueffroy
„Das ist absurd, was man eigentlich macht. Ich kann nicht dieses Gesetz 1982 verabschieden und meine Hand dafür hochhalten und jetzt sitze ich wieder da oben, das geht nicht, aber das ist nun mal so. Und irgendwie werden wir das alles zur Kenntnis nehmen müssen.“
Mit freundlicher Genehmigung des Rundfunk Berlin-Brandenburg | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-24T00:00:00 | 2012-03-16T00:00:00 | 2022-01-24T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/kontraste/77605/wer-traegt-die-schuld-schiessbefehl-und-mauertote/ | Hier finden Sie das Sendungsmanuskript zum "Kontraste"-Beitrag vom 3. Juli 1990 | [
"Sendemanuskript",
"Kontraste"
] | 31,031 |
Schulbuch des Jahres 2018 | Presse | bpb.de | Heute, am 20. Februar 2018, fand auf der didacta in Hannover die Bekanntgabe der Preisträger des „Schulbuch des Jahres 2018“ statt. In diesem Jahr zeichnete die Experten-Jury aus Wissenschaft, Schulpraxis und Verlagen Schulbücher für die Sekundarstufe I aus: Das mBook Geschichte ist Sieger in der Kategorie „Gesellschaft“. Der erste Platz in der Kategorie „Sprachen“ geht an Highlight 5 und in der Kategorie „Mathematik“ an matheWerkstatt 9. Der Preis steht unter der Schirmherrschaft der Kultusministerkonferenz.
Das Georg-Eckert-Institut - Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung verleiht seit 2012 den Preis für die besten Schulbücher. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb ist seit 2016 Partner des Leibniz-Instituts, der Didacta Verband ist in diesem Jahr erstmals dabei. Ausgewählt wurden herausragende Lehrwerke, die alle Standards eines zeitgemäßen Schulbuchs erfüllen und sich durch innovative Ansätze auszeichnen. Dabei werden folgende Kriterien bei der Wahl zum „Schulbuch des Jahres“ berücksichtigt: didaktisches Konzept, fachwissenschaftlicher Bezug, Schülerorientierung, Aufgabenkultur, Verständlichkeit und Gestaltung.
Mit der Auszeichnung werden Herausgeber und Autoren für die Entwicklung und Umsetzung innovativer Schulbuchkonzepte gewürdigt. Darüber hinaus wird aber auch die Debatte über Qualität von Schulbüchern angeregt und ein Beitrag zur Weiterentwicklung von Unterrichtsmaterialien geleistet. Schulbücher sollen Wissen vermitteln, neugierig machen, Alltagserfahrungen aufgreifen und zu verarbeiten helfen. Besonders gut umgesetzt haben diese vielfältigen Anforderungen die in diesem Jahr ausgezeichneten Lehrwerke.
„Die Schulbücher haben uns beeindruckt, weil sie nicht nur zeigen, was Schülerinnen und Schüler lernen sollen, sondern auch warum. Dies geschieht durch die Verankerung der Themen in lebensweltlichen oder gesellschaftlichen Kontexten: Schülerinnen und Schüler lernen, wie Jugendliche in England oder Spanien sprechen. Mathebücher greifen Alltagsfragen auf und in Geschichte wird der Bogen zur Gegenwart geschlagen“, erläutert Prof. Dr. Eckhardt Fuchs, Direktor des Georg-Eckert-Instituts und Vorsitzender der Jury.
„Ich freue mich über den Trend, realistischere Gesellschaftsbilder und damit den Alltag der Jugendlichen stärker in den Unterricht hinein zu holen", so Thomas Krüger, Präsident der bpb. „Denn es ist eine der Grundbedingungen für erfolgreiche politische Bildung, dass vermeintlich an ‚der Politik‘ nicht interessierte junge Menschen verstehen lernen, wie viele politische Entscheidungen auch sie betreffen.“
Weitere Informationen: Externer Link: http://www.schulbuch-des-jahres.de/
Das Georg-Eckert-Institut auf der didacta 2018: Halle 12, Stand F12. Die bpb: Halle 12, Stand F105.
Sieger in der Kategorie Sprachen: Highlight 5 Mittelschule Bayern Konzipiert von Susan Abbey, Wolfgang Biederstädt und Frank Donoghue Cornelsen Verlag 2017
Highlight zeichnet sich durch eine abwechslungsreiche Gestaltung aus, die ein realistisches Gesellschaftsbild vermittelt. Die große Stärke des gut strukturierten Lehrwerkes liegt in seinem ganzheitlichen und handlungsorientierten Ansatz: Die Schülerinnen und Schüler werden angeregt, kurze Texte wie Blogeinträge, SMS oder Einladungen zu schreiben, kleine Filme zu drehen oder sich Spiele auszudenken – häufig in Partnerarbeit. Um die unterschiedlichen Fähigkeiten anzusprechen, bietet es die Übungen der zentralen Fertigkeiten stets auf zwei Niveaus an. Das umfangreiche Fördermaterial, das sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen orientiert, bietet nicht nur weitere Differenzierungsmöglichkeiten, sondern auch kreative Hilfestellungen zum selbständigen Lernen – etwa Lernlandkarten zur Selbsteinschätzung.
2. Platz: Arriba! 1 Nuevos enfoques para ti hg. von Melanie Hohmann und Sabine Wolf-Zappek C.C. Buchner 2015
3. Platz: Green Line 3 eBook Pro hg. von Harald Weisshaar Ernst Klett Verlag 2016
Sieger in der Kategorie Geschichte: mBook Geschichte Geschichtsbuch für die Sekundarstufe I an Gymnasien hg. von Florian Sochatzy und Marcus Ventzke Cornelsen mBook GmbH 2016
Mit einem persönlichen Video-Statement leiten die Autoren des mBook Geschichte ihre Kapitel ein und erklären, warum sie das Thema wichtig finden. So macht das digitale Lehrwerk deutlich, dass Geschichte immer aus einer Perspektive erzählt wird. Das Material, das in hohem Maße den Forschungsstand wiederspiegelt, bietet dann die Möglichkeit, die Themen multiperspektivisch zu erarbeiten. Ein umfangreiches Methodenkapitel leistet dabei Hilfestellungen und unterstützt den Kompetenzerwerb. Herausragend ist die Verlinkung des Werkes mit frei verfügbaren Materialien im Netz, die vielfältige Gegenwartsbezüge ermöglichen und das Fach Geschichte spannend machen.
2. Platz: MusikKunst Kultur verstehen im Wechselspiel der Künste von Mathias Schillmöller Helbling 2016
3. Platz: Unsere Erde 7/8 Baden-Württemberg Gymnasium hg. von Martina Flath und Ellen Rudyk Cornelsen Verlag 2017
Sieger in der Kategorie Mathematik matheWerkstatt 9 hg. von Bärbel Barzel, Stephan Hußmann, Timo Leuders und Susanne Prediger Cornelsen Verlag 2016
Die matheWerkstatt zeichnet sich durch ein schlüssiges Konzept für heterogene Lerngruppen aus. Vier Figuren begleiten die Lernenden durch das Buch, werfen Fragen auf, äußern Vermutungen und Lösungsideen. Mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen verkörpern sie die Stärken des Lehrwerks: die Kontext- und Alltagsorientierung, die integrierte Förderung prozessbezogener Kompetenzen sowie die Individualisierung der Lernwege. Thematisch setzen die Kapitel bei lebensweltlichen Problemen an, so dass die Schülerinnen und Schüler die Relevanz mathematischer Fragen erkennen können. Die Aufgaben gehen ausgezeichnet auf unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten ein, differenzieren nach zwei Niveaus und motivieren Schülerinnen und Schüler zur selbstständigen Arbeit.
2. Platz: Chemie 1 Berlin/Brandenburg hg. von Claudia Bohrmann-Linde, Simone Kröger und Ilona Siehr C.C. Buchner 2016
3. Platz: mathe.delta 6 Mathematik für das Gymnasium hg. von Axel Goy und Michael Kleine C.C. Buchner 2016
Pressemitteilung als Interner Link: PDF
Pressekontakt
Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-09-15T00:00:00 | 2018-02-20T00:00:00 | 2021-09-15T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/265048/schulbuch-des-jahres-2018/ | Heute, am 20. Februar 2018, fand auf der didacta in Hannover die Bekanntgabe der Preisträger des „Schulbuch des Jahres 2018“ statt. In diesem Jahr zeichnete die Experten-Jury aus Wissenschaft, Schulpraxis und Verlagen Schulbücher für die Sekundarstuf | [
"didacta",
"Schulbuch",
"Schulbuch des Jahres"
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Editorial | Wetter | bpb.de | "Alle reden vom Wetter. Wir nicht", plakatierte die Deutsche Bundesbahn Mitte der 1960er Jahre und warb so für ihr Image als witterungsunabhängiges Verkehrsmittel. In dem vielfach kopierten und persiflierten Slogan findet sich vieles, was gemeinhin mit "Wetter" verbunden wird: Wetter als unmittelbar erlebbarer Zustand der Atmosphäre gilt als beliebtes und unverfängliches Gesprächsthema, zugleich möchte man den Alltag möglichst unbeeinträchtigt von Wetterbedingungen gestalten und planen können. Um Lebensweisheiten wie "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung!" anwendbar zu machen, ist es daher vorteilhaft, heute schon zu wissen, wann und wo übermorgen eine Regenjacke nützlich sein könnte.
Wettervorhersagen sind heutzutage deutlich präziser als früher, was insbesondere der Zunahme von Satellitendaten und der globalen Vernetzung von meteorologischen Messungen und Prognosemodellen zu verdanken ist. Versuche, die Kausalitäten des Wetters zu verstehen und für Prognosen zu nutzen, lassen sich sehr weit zurückverfolgen. Bereits in Aristoteles’ "Meteorologica" wurde das Wetterwissen in ein sprachliches Fundament gegossen. Dass dieses heute von der Physik dominiert wird, ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, der in Europa ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur Bündelung der Wettermessungen in staatlichen Institutionen führte.
Für die Beantwortung der Frage, welche Auswirkungen der voranschreitende Klimawandel auf das künftige Wetter haben kann, ist jedoch nicht nur die Sammlung von Messdaten von zentraler Bedeutung, sondern auch die Vergleichbarkeit der Messbedingungen. In der Vergangenheit erstellte Modelle, die eine Zunahme von Wetterextremen prognostizierten, sind weitgehend eingetroffen. Bei Überlegungen, wie mit den Folgen umgegangen werden kann, gewinnen Fragen nach sozialen Strukturen, politischer Teilhabe und subjektiven Wahrnehmungen des individuellen Risikos an Relevanz. Insbesondere Städte als verdichtete Räume menschlichen Lebens rücken dabei in den Fokus. Klima, Wetter und menschliches Verhalten sind und bleiben so untrennbar miteinander verbunden. | Article | Frederik Schetter | 2021-12-07T00:00:00 | 2019-12-19T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/302646/editorial/ | [
"Editorial",
"Aus Politik und Zeitgeschichte"
] | 31,033 |
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Europäische Medienpolitik | Medienpolitik | bpb.de | Einleitung
Die Mitgliedschaft Deutschlands in den europäischen Staatengemeinschaften bringt es mit sich, dass diese auch Einfluss auf die nationale Medienpolitik nehmen. Die Gründungsgeschichte von Europarat und Europäischer Union (EU) und die damit verbundenen Ziele haben zu unterschiedlichen Perspektiven auf die Medien geführt. Im Unterschied zum Europarat besitzt die EU gegenüber ihren derzeit 28 Mitgliedstaaten gesetzgebende Kompetenz, ihre Entscheidungen haben also bindenden Charakter. Daher konzentriert sich dieser Beitrag vorrangig auf die Medienpolitik der EU, stellt aber an geeigneter Stelle Bezüge zu medienpolitischen Aktivitäten des Europarates her.
Arbeitsweise und Aufgabenverteilung in den Europäischen Gremien
Entscheidend für das Verständnis der medienbezogenen Aktivitäten der EU sind folgende Aspekte:
die Gründung der Europäischen Gemeinschaft als Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1956 und die forcierte Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes ab Juli 1987, seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA).
InfokastenWas ist die Einheitliche Europäische Akte?
Am 01.07.1987 trat mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) die erste größere Reform der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft (EG) in Kraft, die u. a. die gemeinsame Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) der EG-Mitgliedstaaten festlegt.
Grafik: http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42858/grafik-binnenmarkt
Der europäische Binnenmarkt garantiert die vier Verkehrsfreiheiten: Freiheit von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Die EEA legte die Zuständigkeit für die Durchsetzung des Binnenmarktes weitestgehend in die Hände der Europäischen Kommission, die damit direkte Durchsetzungsbefugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten erlangt hat.
Unter den drei Organen der EU spielt die ständig in Brüssel ansässige Kommission eine zentrale Rolle. Ihr gehören, einschließlich ihrem Präsidenten, 28 Kommissarinnen und Kommissare an, aus jedem Mitgliedstaat eine/r. Sie gilt als "Hüterin der Verträge" und überwacht die Einhaltung europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten, wenn nötig unter Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Union, der Sanktionen verhängen kann. Die Kommission hat das "Initiativrecht", das heißt, sie bereitet rechtliche Regelungen vor, die dem Europäischen Parlament und dem Rat (Rat der Europäischen Union) zur Mitentscheidung vorgelegt werden. Im Rat sind die Regierungen der Mitgliedstaaten repräsentiert. Je nach Sachfragen arbeitet der Rat in unterschiedlicher Zusammensetzung. Stehen zum Beispiel Fragen der Umweltpolitik auf der Tagesordnung, treffen sich die für Umwelt zuständigen Minister/innen der Mitgliedstaaten. Schwieriger ist es, wenn es um die Medien geht. Da in Deutschland die Gesetzgebungskompetenz für die Medien größtenteils bei den Ländern liegt, nehmen diese nach Interner Link: Artikel 23, Abs.6 Grundgesetz die Vertretung bei entsprechenden Beratungen wahr.
Treten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammen, wird der Rat zum Europäischen Rat. Seinen Tagungen (Gipfeltreffen) sitzt der Präsident des Europäischen Rates vor. An den Sitzungen des Rates nimmt auch der Kommissionspräsident teil, ebenso wie die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Der Rat ist für die Festlegung der allgemeinen politischen Linien zuständig, befasst sich aber bei Bedarf auch mit strittigen Problemen, die auf den unteren Ebenen nicht gelöst werden konnten.
Das Gesetzgebungsverfahren der EU beteiligt das Europäische Parlament an der Verabschiedung europäischer Rechtsvorschriften. Im Parlament sitzen die Vertreter der Mitgliedstaaten, die alle fünf Jahre bei den Europawahlen gewählt werden. Je nach Bevölkerungszahl können die Mitgliedstaaten zwischen 6 und 96 Abgeordnete entsenden. Diese organisieren sich in Fraktionen, also nach Parteizugehörigkeit und nicht nach nationaler Herkunft. Dem Parlament steht ein aus seiner Mitte gewählter Präsident vor. Das Europäische Parlament galt lange als das schwächste Organ neben Rat und Kommission, hat jedoch im Laufe der Zeit beträchtliche Kompetenzen hinzugewonnen: Die Ernennung der Kommissare und des Kommissionspräsidenten ist nicht ohne Zustimmung des Parlaments möglich. Außerdem übt das Parlament zusammen mit dem Rat das Haushaltsrecht aus. Das Parlament tagt abwechselnd in Brüssel und Straßburg.
Die rechtliche Grundlage der EU – Primärrecht und Sekundärrecht
Rechtliche Grundlage der EU sind die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Verträge, sie bilden das sog. Primärrecht. Zurzeit gilt der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon. Rechtliche Regelungen, die auf der Grundlage des Primärrechts erlassen werden, werden als Sekundärrecht bezeichnet.
Die wichtigsten rechtlichen Instrumente sind:
Verordnungen, die unmittelbar für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, sowie Richtlinien, die verbindliche inhaltliche und zeitliche Vorgaben für die Mitgliedstaaten machen. Es wird den Staaten jedoch selbst überlassen, in welcher Form sie diese Vorgaben in innerstaatliches Recht umsetzen.
Mit dem Vertrag von Lissabon erhielt die Externer Link: Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtliche Verbindlichkeit. Sie war bereits beim Gipfeltreffen in Nizza im Dezember 2000 proklamiert worden, konnte aber wegen des Scheiterns des geplanten europäischen Verfassungsvertrages erst 2009 in Kraft treten. Damit erhielt die EU erstmals eine eigene Grund- und Freiheitsrechtebasis. Bis dahin hatte sich der Europäische Gerichtshof bei Bedarf auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gestützt, die alle Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet haben.
Die Grundrechtecharta verbrieft in Artikel 11(1) die Meinungs(äußerungs)- sowie die Informationsfreiheit. Laut Artikel 11(2) werden die Freiheit der Medien und ihre Pluralität "geachtet". Der erste Absatz entspricht dem ersten Absatz von Artikel 10 der EMRK. Unsicherheit besteht hingegen bei der Auslegung des zweiten Absatzes von Artikel 11, der bezüglich der Freiheit der Medien und ihrer Pluralität das relativ schwache "geachtet" verwendet. Die vom Konvent, der die Grundrechtecharta erarbeitet hat, vorgelegten Erläuterungen verweisen hier speziell auf Ausführungen des Europäischen Gerichtshofes in einem Urteil von 1991 (Externer Link: Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a.), das das Allgemeininteresse an der Aufrechterhaltung eines pluralistischen Rundfunks festgestellt hat, sowie das seit 1997 rechtsverbindliche Externer Link: Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, das die Entscheidung über dessen Ausgestaltung und Finanzierung in die Hände der Mitgliedstaaten legt.
Die Entwicklung der europäischen Medienpolitik – "Fernsehen ohne Grenzen"
Die Medien gerieten Anfang der 80er Jahre erstmals in das Blickfeld der europäischen Politik. Neue Technologien ermöglichten nun auch grenzüberschreitendes Fernsehen. Zunächst war es das Europäische Parlament, das darin eine Möglichkeit erkannte, grenzüberschreitendes Fernsehen für die europäische Integration nutzbar zu machen: Es setzte Hoffnungen auf die Entwicklung eines europäischen Fernsehsenders. Diese scheiterten jedoch vor allem an der Finanzierung, nicht zuletzt, weil ein Fernsehprogramm in mehreren Sprachen hohe Kosten verursacht.
Aufgrund der technischen Entwicklungen (Kabel, Satelliten) entdeckte jedoch bald danach die Europäische Kommission im Fernsehen ein Betätigungsfeld. Sie setzte sich zum Ziel, die Freiheit des Angebots und des Empfangs von Fernsehen über die Grenzen der EG-Mitgliedstaaten hinweg zu gewährleisten. Als hilfreich erwies sich dabei, dass der Europäische Gerichtshof bereits 1974 Fernsehen zu einer Dienstleistung erklärt hatte. Da der freie Verkehr von Dienstleistungen zu den Säulen des europäischen Binnenmarktes gehört, konnte die Kommission sich bezüglich des grenzüberschreitenden Fernsehens für zuständig erklären. Ein entscheidender Schritt bei diesen neuen medienpolitischen Aktivitäten war die Vorlage eines Interner Link: Grünbuches im Juni 1984, das schon in seinem Titel die Richtung vorgab: "Fernsehen ohne Grenzen – Grünbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere über Satellit und Kabel".
Es folgten jahrelange Beratungen, geprägt von kontroversen Auseinandersetzungen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten: Mehrere von ihnen zweifelten die Zuständigkeit der EG wegen ihrer fehlenden Kompetenz in Sachen Kultur an und lehnten die nur ökonomische Perspektive auf den Rundfunk ab. Manche hätten die Regulierung des grenzüberschreitenden Fernsehens lieber beim Europarat gesehen, der laut seiner Satzung auch für gemeinsames Handeln auf dem Gebiet der Kultur zuständig ist und daher gegenüber den Medien eine andere Perspektive einnimmt als die EU. Für die EU verabschiedete der Rat am 3. Oktober 1989 die Richtlinie "Fernsehen ohne Grenzen", meist einfach Fernsehrichtlinie genannt. Die Mitgliedstaaten hatten zwei Jahre Zeit, um die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Bereits im Mai 1989 hatte der Europarat das Europäische Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen (European Convention on Transfrontier Television) vorgelegt, das im Laufe der Verhandlungen der Richtlinie weitgehend angepasst worden war, um keinen Konflikt für die EG-Mitgliedstaaten zu provozieren, die alle auch Mitglieder im Europarat sind . Wegen des langwierigen Ratifizierungsverfahrens konnte das Übereinkommen des Europarates jedoch erst im Mai 1993 in Kraft treten.
Das »Sendestaatsprinzip«
Eine wichtige Voraussetzung für den freien Verkehr von Fernsehangeboten auf dem europäischen Binnenmarkt, den die Fernsehrichtlinie gewährleisten sollte, war das Interner Link: Sende- oder Herkunftslandprinzip: Die Kontrolle über die Einhaltung der Richtlinienvorschriften übernimmt jeweils das Land, in dem der Fernsehsender seinen Sitz hat. Nur in Ausnahmefällen kann ein anderes Land dann die Verbreitung grenzüberschreitender Fernsehsendungen untersagen.
InfokastenRegelungen der Fernsehrichtlinie
Zu den wichtigsten Regelungen der Fernsehrichtlinie gehörten
der Jugendschutz, die Festlegung maximaler Werbeanteile, das Gegendarstellungsrecht sowie Förderung der Verbreitung und Herstellung europäischer Werke ("Quoten").
Diese legten fest, dass der Hauptanteil der Sendezeit europäischen Werken (ausgenommen Nachrichten, Sport, Spielshows) vorbehalten war. Außerdem sollten mindestens 10 % der Sendezeit oder der für das Programm vorgesehenen Mittel für unabhängige Produzenten zur Verfügung stehen. Als europäische Werke galten neben den Produktionen aus EG-Ländern auch solche aus den anderen Mitgliedstaaten des Europarates.
Diese Quoten waren höchst umstritten; insbesondere Deutschland wehrte sich gegen die Vorgaben mit dem Argument, es handele sich um einen Eingriff in die Programmautonomie der Sender. Die Quotenvorgaben, auf die vor allem Frankreich gedrängt hatte, sollten der Förderung der europäischen audiovisuellen Industrie und ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit dienen. Dahinter stand jedoch auch der Gedanke, die Importe vor allem aus den USA zurückzudrängen zu einer Zeit, als in Europa das kommerzielle Fernsehen Einzug hielt und die Nachfrage nach (preisgünstigen) Produktionen stieg. Aufgrund der kontroversen Diskussion bei der Vorbereitung der Fernsehrichtlinie wurde die Quotenvorgabe daher vorsichtig formuliert. Demnach tragen die Mitgliedstaaten Externer Link: im Rahmen des praktisch Durchführbaren und mit angemessenen Mitteln dafür Sorge, dass der Hauptanteil der Sendezeit insbesondere bei Filmen auf europäischen Werke entfällt. Dennoch lässt sich die Kommission regelmäßig aus den Mitgliedstaaten über die Einhaltung der Quoten berichten und veröffentlicht die Befunde.
Zusätzliche Förderung für die europäische audiovisuelle Industrie leistet die EU durch ihre seit 1991 mehrmals neu aufgelegten MEDIA-Programme, die vor allem den Verleih und Vertrieb von Filmen, Promotion-Aktivitäten sowie die Entwicklung von Projekten unterstützen. 2014 startete das fünfte Programm unter dem Titel Creative Europe MEDIA.
Die Fernsehrichtlinie "Fernsehen ohne Grenzen" wurde 1997 novelliert. Zum einen wurde das Sendestaats- bzw. Herkunftslandprinzip präzisiert. Zum anderen führte die überarbeitete Richtlinie die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten ein, Listen mit Ereignissen aufzustellen, denen sie hohe gesellschaftliche Bedeutung beimessen. Diese sind daher im frei zugänglichen Fernsehen zu zeigen, können also nicht exklusiv dem Bezahlfernsehen (Pay TV) vorbehalten bleiben. Deutschland hat diese Möglichkeit genutzt und neben den Olympischen Spielen auch Fußballspiele verschiedener nationaler und internationaler Wettbewerbe in die Liste aufgenommen. Die "Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste"
Am 01.07.1987 trat mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) die erste größere Reform der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft (EG) in Kraft, die u. a. die gemeinsame Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) der EG-Mitgliedstaaten festlegt.
Grafik: http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42858/grafik-binnenmarkt
Zu den wichtigsten Regelungen der Fernsehrichtlinie gehörten
der Jugendschutz, die Festlegung maximaler Werbeanteile, das Gegendarstellungsrecht sowie Förderung der Verbreitung und Herstellung europäischer Werke ("Quoten").
Die technologische Entwicklung brachte neuen Regelungsbedarf mit sich. Dies führte nach jahrelangen Beratungen zu einer weitreichenden Neufassung der Richtlinie, die Parlament und Rat 2007 unter dem Titel Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste verabschiedeten. Nach mehreren Änderungen wurde 2010 eine kodifizierte Fassung vorgelegt .
Die neue Richtlinie sollte vor allem dem Problem Rechnung tragen, dass für die Übermittlung derselben Inhalte über verschiedene Kanäle unterschiedliche Regelungen bestanden:
Herkömmliche Fernsehangebote, die zum Empfang durch die Allgemeinheit bestimmt sind, unterlagen der Fernsehrichtlinie bzw. den nationalen Gesetzen, die die Regelungen der Richtlinie in nationales Recht fassten; in Deutschland geschieht das jeweils durch den Rundfunkstaatsvertrag. Für Angebote derselben Inhalte im Internet oder als Interner Link: Video-on-Demand, die so genannte Abrufdienste darstellen, galt auf der europäischen Ebene jedoch die e-Commerce-Richtlinie; in Deutschland galt bis Ende 2006 der Mediendienste-Staatsvertrag.
Aufgrund der Interner Link: technischen Konvergenz sollte sich die neu gefasste Richtlinie nun nicht mehr am Übertragungsweg, sondern am Inhalt orientieren. Grundlegend für die neue Richtlinie war daher die Unterscheidung in lineare und nicht-lineare audiovisuelle Mediendienste. Die Richtlinie gilt allerdings nur für das Fernsehen und auf Abruf bereit gestellte audiovisuelle Mediendienste, die den Charakter von Massenmedien haben und zum Empfang durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheit angeboten werden.
InfokastenWas sind lineare/nichtlineare Dienste?
Lineare Dienste bezeichnen das herkömmliche Fernsehen, bei dem der Anbieter den zeitlichen Ablauf des Programms festlegt und der Nutzer keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Übertragung nehmen kann.
Nicht-lineare Dienste dagegen erlauben es dem Nutzer, aus einem Angebot auszuwählen und den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem ein spezifisches Programm abgerufen wird.
Ebenso wie seinerzeit nur für das Fernsehen war es Ziel der neu gefassten Richtlinie, einen einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen, um das Herkunftslandprinzip für alle Mediendienste anwenden zu können. Grenzüberschreitende Dienste unterliegen dann nur noch der Aufsicht des Landes, in dem die Unternehmen ihren Sitz haben, und werden nicht mehreren und je nach Land unterschiedlichen Kontrollen unterzogen. Die Legitimation für ihr Eingreifen bezog die EU daraus, dass sie audiovisuelle Mediendienste zur Dienstleistung im Sinne des Binnenmarkts erklärte. Sie betonte außerdem die Notwendigkeit einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene, um den Unternehmen Rechtssicherheit zu bieten und Verzerrungen aufgrund ungleicher Wettbewerbsbedingungen zu vermeiden.
Weil der individuelle Einfluss und die Auswahlmöglichkeiten bei nicht-linearen Angeboten größer sind als bei linearen, sieht die Richtlinie für traditionelles Fernsehen und die Abrufdienste unterschiedlich weit reichende Regelungen vor. Für die nicht-linearen Angebote gelten nur einige grundlegende Bestimmungen, während die herkömmlichen, audiovisuellen Angebote einer strengeren Regulierung unterzogen bleiben. Für alle Mediendienste gilt das Herkunftslandprinzip. Allerdings hat die Richtlinie die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten erweitert, bei einem missbräuchlichen Verhalten Maßnahmen gegen einen in einem anderen Land ansässigen Mediendiensteanbieter zu ergreifen und die Weiterleitung zu verhindern. Das gilt zum Beispiel bei Verstößen gegen den Jugendschutz oder bei Aufstachelung zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Staatsangehörigkeit. Die Richtlinie lässt dabei jedoch zugleich erkennen, dass es sich nur um seltene Ausnahmen handeln kann.
Ebenfalls für alle audiovisuellen Mediendienste gelten die Grundregeln für die "kommerzielle Kommunikation" (Schutz der Menschenwürde, Diskriminierungsverbot, Verbot von Werbung für Tabakwaren und Arzneimittel, Jugendschutz). Damit bezeichnet die Richtlinie Fernsehwerbung, Sponsoring, Teleshopping sowie Produktplatzierung. Diese Mindestregeln gelten für Mediendienste auf Abruf, während für Fernsehwerbung zeitliche Vorgaben gelten.
Der Umgang mit Produktplatzierungen war bis zur Verabschiedung der Richtlinie umstritten und führte zu einer Kompromissregelung; demnach sind Produktplatzierungen generell untersagt. Abweichend von dieser Regelung sind sie aber zulässig in Kinofilmen, Filmen und Serien für audiovisuelle Mediendienste, Sportsendungen und Sendungen der leichten Unterhaltung.
Ebenfalls zulässig sind unentgeltliche Produktionshilfen. Es gelten jedoch besondere Bedingungen:
Die Beeinträchtigung der redaktionellen Unabhängigkeit des Anbieters muss ausgeschlossen sein. Es darf keine unmittelbaren Kaufaufforderungen oder übermäßigen Hervorhebungen geben. Außerdem ist auf Produktplatzierungen ist zu Beginn und am Ende einer Sendung hinzuweisen.
Es ist den Mitgliedstaaten freigestellt, eine strengere Regelung vorzunehmen, also etwa Produktplatzierungen gar nicht zuzulassen.
Während die Quotenregelungen für Fernsehveranstalter erhalten blieben, sieht die AVMD-Richtlinie (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) lediglich vor, dass sie die Produktion europäischer Werke und den Zugang zu europäischen Produktionen fördern. Diese Förderung könnte durch eine finanzielle Beteiligung an der Produktion europäischer Werke, den Erwerb von Rechten oder besondere Hervorhebung in den Programmkatalogen geschehen. Neu war die Einführung eines Rechts auf Kurzberichterstattung. Es ermöglicht jedem Fernsehveranstalter in der EU die Kurzberichterstattung über solche Ereignisse, die von einem großen öffentlichen Interesse sind und von einem Fernsehveranstalter exklusiv übertragen werden.
Die AVMD-Richtlinie war bis zum 19. Dezember 2009 in nationales Recht umzusetzen. Dabei gilt immer, dass die Mitgliedstaaten strengere Regeln (z. B. für Werbung) vorsehen, nicht aber großzügiger als die Richtlinienvorgaben sein dürfen. Deutschland bringt die europäischen Vorgaben jeweils in den Rundfunkstaatsvertrag ein, der nun entsprechend Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien heißt.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter Druck
Die Europäische Kommission ist im Interesse des Binnenmarktes stets auf einen funktionsfähigen Wettbewerb auf den Märkten bedacht. Daher wäre es zu erwarten, dass sie auch die Konzentration im Mediensektor in den Blick nimmt, zumal in dieser Sache in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Regelungen bestehen. Tatsächlich gab es schon einmal Entwürfe für eine entsprechende Richtlinie, die allerdings nach Protesten aus den Mitgliedstaaten zurückgezogen wurden. Wohl aber hat sich die Kommission in den letzten Jahren mit dem Wettbewerb auf dem Rundfunkmarkt und insbesondere der Finanzierung des Public Service-Rundfunks (Interner Link: öffentlich-rechtlicher Rundfunk) in den Mitgliedstaaten befasst.
Aus verschiedenen EU-Ländern gingen in den 1990er Jahren Beschwerden kommerzieller Rundfunkveranstalter bei der Kommission ein. Sie zwangen diese zu klären, ob die Beihilfebestimmungen des EG-Vertrages auf die Interner Link: Rundfunkgebühren anzuwenden und womöglich als wettbewerbsverzerrende Beihilfen einzustufen sind. Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der 2009 an die Stelle des EG-Vertrages getreten ist, "sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen". Sie können jedoch zulässig sein "zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes, soweit sie die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Union nicht in einem Maß beeinträchtigen, das dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft".
Diejenigen, die Rundfunkgebühren nicht als unzulässige Beihilfen verstanden wissen wollen, führen dagegen AEUV-Artikel 106 Absatz 2 ins Feld. Dort heißt es mit Bezug auf öffentliche Unternehmen:
QuellentextVertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union / AEUV-Artikel 106 Absatz 2
Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind [...], gelten die Vorschriften der Verträge, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert.
Quelle: Externer Link: eur-lex.europa.eu
Artikel 108 des AEUV-Vertrages überträgt der Kommission die Überprüfung der mitgliedstaatlichen Beihilferegelungen und räumt ihr das Recht ein, Maßnahmen gegen etwaige unstatthafte Beihilfen zu ergreifen.
Wenn also:
die Gebühren und andere Formen der staatlichen Unterstützung als Beihilfen eingestuft werden, die den Wettbewerb auf dem Rundfunkmarkt beeinträchtigen können, wäre die in vielen EU-Staaten gängige Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Frage zu stellen.
Die Staats- und Regierungschefs ließen sich bei ihrem Gipfeltreffen in Amsterdam im Juni 1997 in einer Protokollerklärung über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk "die Befugnis der Mitgliedstaaten [zusichern], den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu finanzieren, sofern die Finanzierung der Rundfunkanstalten dem öffentlich-rechtlichen Auftrag, wie er von den Mitgliedstaaten den Anstalten übertragen, festgelegt und ausgestaltet wird, dient und die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt, das dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, wobei den Erfordernissen der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags Rechnung zu tragen ist". Sie trat mit dem Vertrag von Amsterdam am 1. Mai 1999 in Kraft.
Dennoch wurde die Kommission tätig und verabschiedete im Oktober 2001 zunächst eine Mitteilung "über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk". Diese sollte ein einheitliches und transparentes Vorgehen festlegen, nach dem geprüft wird, inwieweit diese Beihilfen zulässig bzw. geeignet sind, den Wettbewerb zu verzerren.
Demnach wollte die Kommission Ausnahmegenehmigungen nur erteilen, wenn eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse vorliegt und vom Mitgliedstaat als solche auch klar definiert ist. Außerdem muss jeder Mitgliedstaat den öffentlich-rechtlichen Auftrag definieren. Er wird durch eine „förmliche Rechtshandlung“ einem oder mehreren Unternehmen übertragen und durch die Einrichtung einer geeigneten Aufsichtsstelle ergänzt. Diese ist von den Rundfunkanstalten unabhängig und überwacht die Einhaltung des Auftrages. Die Wahl der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten blieb dabei den Mitgliedstaaten überlassen. Die Betonung der Transparenzanforderungen als Grundlage für die Beurteilung staatlicher Beihilfen sowie weitere Ausführungen machen deutlich, dass es der Kommission hier vor allem auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung ankam: Die Beihilfe dürfe die Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrages nicht überschreiten; eine Überkompensation der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen beeinträchtige den Wettbewerb.
Seitdem hat die Kommission mehrmals Prüfungen punktueller Finanzhilfen sowie der allgemeinen Gebührenfinanzierung bzw. der Einnahmen und Ausgaben von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in mehreren Mitgliedstaaten vorgenommen. Verfahren in anderen Staaten
Während die Kommission kurzfristige finanzielle Unterstützung in den meisten Fällen unbeanstandet ließ, erhielt die dänische Fernsehanstalt TV2 einen negativen Bescheid. Hier befand die Kommission auf Überkompensierung durch den Staat. Sie äußerte den Verdacht, dass TV2 womöglich Werbezeit zu ungerechtfertigt niedrigen Preisen angeboten hatte. Die Kommission forderte daher den dänischen Staat auf, den zu viel bezahlten Betrag (mehr als 84 Mio. Euro) zurückzufordern. Ähnlich erging es dem niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk Nederlandse Omroep Stichting (NOS). Im Juni 2006 befand die Kommission, dass die Beihilfen im Zeitraum 1994 bis 2005 den für die öffentliche Aufgabe notwendigen Mittelbedarf überstiegen hätten. NOS müsse daher 76,3 Mio. Euro zuzüglich Zinsen zurückzahlen.
Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland
Lineare Dienste bezeichnen das herkömmliche Fernsehen, bei dem der Anbieter den zeitlichen Ablauf des Programms festlegt und der Nutzer keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Übertragung nehmen kann.
Nicht-lineare Dienste dagegen erlauben es dem Nutzer, aus einem Angebot auszuwählen und den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem ein spezifisches Programm abgerufen wird.
Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind [...], gelten die Vorschriften der Verträge, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert.
Quelle: Externer Link: eur-lex.europa.eu
Schließlich gerieten die deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ins Visier der Kommission. Sie reagierte damit auf Beschwerden gegen verschiedene Aktivitäten von ARD und ZDF, die über das Gebührenaufkommen der Anstalten finanziert würden. Diese wären aber nicht durch ihren Auftrag gedeckt und daher geeignet, den Wettbewerb auf dem Rundfunkmarkt zu verzerren.
InfokastenÖffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland
Das betraf insbesondere
den Verstoß gegen die europäischen Auflagen für eine getrennte Buchführung (Tätigkeiten in allgemeinem wirtschaftlichem Interesse getrennt von anderen Tätigkeiten), die Online-Dienste von ARD und ZDF sowie den Erwerb und die Finanzierung von Sportrechten.
Dabei spielte eine Rolle, dass die deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten auch Einnahmen aus der Werbung haben und insofern mit den kommerziellen Rundfunkanbietern ebenfalls auf dem Werbemarkt konkurrieren. Letztlich ging die Sache glimpflich für die öffentlich-rechtlichen Anstalten aus: Für Rückzahlungen wie in anderen Ländern sah die Kommission keinen Anlass, sondern forderte insbesondere Präzisierungen beim Auftrag und Beschränkungen bei den Online-Angeboten der öffentlich-rechtlichen Sender.
Die Auseinandersetzung führte daher u. a. zur Aufnahme des Interner Link: Drei-Stufen-Tests für neue oder veränderte Telemedienangebote (als Interner Link: Telemedien bezeichnet der Rundfunkstaatsvertrag elektronische Informations- und Kommunikationsdienste). Dieser soll den public value der neuen Angebote einschätzen.
Für die Genehmigung dieser Angebote müssen die ARD-Anstalten, das ZDF und das von ihnen betriebene Deutschlandradio sich einem Verfahren unterziehen, in dem in drei Stufen zu prüfen ist:
Entsprechen ihre Angebote den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft? Tragen ihre Angebote in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb bei? Welcher finanzielle Aufwand ist für ihre Angebote erforderlich?
Das zuständige Gremium für die Beurteilung geplanter Telemedienangebote ist der Rundfunk- bzw. Fernsehrat, der Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben hat. Die gutachterliche Beratung der Gremien durch unabhängige Sachverständige sowie die im Rundfunkstaatsvertrag geforderten Gutachten zu den marktlichen Auswirkungen hat nicht nur erheblichen Aufwand, sondern vor allem auch beträchtliche Kosten mit sich gebracht, die von den Rundfunkanstalten zu tragen sind. Andererseits sind diese externen Stellungnahmen auch deshalb angebracht, weil die gewissermaßen interne Prüfung geplanter Telemedienangebote Kritik auf sich gezogen hat.
QuellentextII. Abschnitt: Vorschriften für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
§ 11 Auftrag
(1) Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern. Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entsprechen.
(2) Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.
[...]
(4) Ist ein neues Angebot oder die Veränderung eines bestehenden Angebots nach Absatz 1 geplant, hat die Rundfunkanstalt gegenüber ihrem zuständigen Gremium darzulegen, dass das geplante, neue oder veränderte, Angebot vom Auftrag umfasst ist. Es sind Aussagen darüber zu treffen,
inwieweit das Angebot den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht, in welchem Umfang durch das Angebot in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beigetragen wird und welcher finanzielle Aufwand für das Angebot erforderlich ist.
Dabei sind Quantität und Qualität der vorhandenen frei zugänglichen Angebote, die marktlichen Auswirkungen des geplanten Angebots sowie dessen meinungsbildende Funktion angesichts bereits vorhandener vergleichbarer Angebote, auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zu berücksichtigen. Darzulegen ist der voraussichtliche Zeitraum, innerhalb dessen das Angebot stattfinden soll.
Quelle: Externer Link: die medienanstalten.de / Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien
Die Bedenken der Europäischen Kommission bezüglich der Rundfunkgebühren oder anderer garantierter Finanzierungsarten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks könnten jedoch auch in Zukunft zu Auseinandersetzungen zwischen europäischer und nationaler Ebene führen. Zum 1. Januar 2013 hat Deutschland die Rundfunkgebühr, die ARD, ZDF und Deutschlandradio zu Gute kommt und zur Finanzierung der Landesmedienanstalten beiträgt, auf eine Haushaltsabgabe umgestellt. Damit hat man der technischen »Konvergenz« Rechnung getragen, die die bisherige gerätegebundene Gebühr in Frage gestellt hat. Andere EU-Mitgliedstaaten finanzieren ihren öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch Steuern, was jedoch ähnliche Fragen aufwirft, wie sie die Rundfunkgebühren betreffen.
Orientierte sich die Rundfunkgebühr bis dahin am Vorhandensein eines Radio- und/oder Fernsehgerätes, berechnet sich der Rundfunkbeitrag seit 2013 pro Haushalt; außerdem sind Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen des Gemeinwohls beitragspflichtig. Wie bisher ist die Rundfunkabgabe damit also unabhängig von der tatsächlichen Nutzung. Zahlreiche Klagen gegen die Abgabenpflicht für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind bislang abgewiesen worden. Die Umstellung auf eine Abgabe hat den öffentlich-rechtlichen Anstalten höhere Einnahmen beschert, so dass es zum 1. April 2015 zu einer minimalen Senkung des monatlichen Betrages gekommen ist.
Ein sichererer Weg wäre es, den öffentlich-rechtlichen Anstalten die Werbung zu verbieten, weil sie dann nicht mehr mit den kommerziellen Veranstaltern auf dem Werbemarkt konkurrieren. Das ist das Modell der BBC. In Frankreich schaffte Präsident Nicolas Sarkozy die Werbung in den Programmen des öffentlichen Fernsehens (France Télévisions) nach 20:00 Uhr ab, stürzte dieses jedoch damit in finanzielle Schwierigkeiten, zumal dem Staat die versprochene Kompensation in Anbetracht klammer Kassen schwer fiel. Außerdem geriet das französische öffentliche Fernsehen damit in eine noch stärkere Abhängigkeit von der Regierung. 2010 hat auch Spanien seinen Public Service-Veranstaltern die Werbung gestrichen. Dort gibt es jedoch keine Rundfunkgebühren, so dass das öffentliche Fernsehen jetzt nur noch aus dem Staatshaushalt finanziert wird. Die Finanzkrise hat die spanische Regierung gezwungen, auch im Budget für den öffentlichen Rundfunk Abstriche zu machen, so dass dieser erst recht in eine prekäre finanzielle Situation geraten ist.
Auch wenn die Werbeumsätze der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland zurückgegangen sind, lassen die Forderungen, die Werbung abzuschaffen, nicht nach. Einer Kalkulation der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten zufolge würde der Kompensationsbetrag bei einem Wegfall von Werbung und Sponsoring im öffentlich-rechtlichen Rundfunk 1,25 Euro betragen, würde also eine kräftige Erhöhung des Rundbeitrages nach sich ziehen.
Ausblick
In der EU gilt das Interner Link: Subsidiaritätsprinzip. Das heißt, wo die Gemeinschaft nicht die alleinige Regelungskompetenz hat, muss sie ihr Tätigwerden besonders begründen, etwa dadurch, dass eine gemeinschaftliche Lösung vorteilhafter ist als eine nationale Regelung. Die Gelegenheit für medienpolitische Aktivitäten bot sich, als die technologische Entwicklung den grenzüberschreitenden Rundfunk mit sich brachte.
Allerdings konnte die Gemeinschaft ihre medienpolitische Tätigkeit nur auf ihre Kompetenz zur Durchsetzung des freien Binnenmarktes stützen, da Kultur Sache der Mitgliedstaaten ist. Mit dem Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, eröffnete sich der EU dann doch eine, wenn auch begrenzte, kulturelle Perspektive. Seitdem enthält der Vertrag (heute AEUV) einen Titel zur Kultur, der betont, dass die Union "einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes [leistet]". Die so genannte Kulturverträglichkeitsklausel verpflichtet die Union, bei ihren Maßnahmen "Externer Link: den kulturellen Aspekten Rechnung [zu tragen], insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen". Auch wenn nun bei den medienpolitischen Aktivitäten zunehmend auf kulturelle Aspekte verwiesen wird, dominiert gerade bei der EU-Kommission doch die ökonomische Perspektive auf die Medien. Im Vergleich dazu nimmt das Parlament stärker die gesellschaftlichen Funktionen der Medien in den Blick.
In den letzten Jahren hat es Anzeichen dafür gegeben, dass die Kommission sich nun doch wieder dem Thema Medienvielfalt annähert. Zwar wird noch immer die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Erhalt von Medienfreiheit und Medienvielfalt betont, dennoch lässt sich aus Artikel 11(2) der Grundrechtecharta eine Rechtfertigung für entsprechende Aktivitäten der Gemeinschaft ableiten. Dafür spricht auch die Einrichtung eines Centre for Media Pluralism and Media Freedom am European University Institute in Florenz, das von der Kommission auch mit der Entwicklung und Implementierung eines Media Pluralism Monitor beauftragt wurde.
Mit der Internationalisierung des Mediengeschäfts hat die EU im Laufe der Jahre erheblich an Einfluss auf den Mediensektor gewonnen. Das galt zunächst vorrangig für das Fernsehen wegen seines grenzüberschreitenden Charakters, denn Radio und Zeitungen sind stärker national organisiert. Die Entwicklung der Online-Kommunikation sowie die Konvergenz der Kommunikations- und Informationstechnologien haben das Betätigungsfeld der Gemeinschaft noch einmal deutlich erweitert. Jetzt hat sie sich die Schaffung des Externer Link: digitalen Binnenmarktes auf ihre Fahnen geschrieben, in dem sie vor allem auch Wachstumschancen für die europäische digitale Wirtschaft erkannt hat. Dazu haben Europäisches Parlament und Rat u. a. im Oktober 2015 eine Verordnung über Maßnahmen für den Externer Link: Zugang zum "offenen Internet" beschlossen, die die Weiterleitung von Datenpaketen in den digitalen Netzen betrifft.
Auch wenn die Verordnung, die ab Mai 2016 gilt, auf "gemeinsame Regeln zur Wahrung der gleichberechtigten und nichtdiskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs" zielt, musste sich die EU Kritik wegen mangelhafter Verpflichtung der Netzbetreiber auf eine echte Netzneutralität gefallen lassen. Mit ihrer kurz nach der Verabschiedung der Verordnung erfolgten Ankündigung einer Vorzugsbehandlung entsprechend zahlender Kunden hat die Deutsche Telekom die Kritiker dann auch bestätigt.
Diese Aktivitäten zeigen, dass es wieder einmal die technologische Entwicklung war, die der EU eine Ausweitung ihres Einflusses im Kommunikationssektor erlaubt und ihre Rolle als einem mächtigen und mächtiger werdenden Akteur der Medienpolitik gestärkt hat. Zum Weiterlesen auf bpb.de
Europäische Union Externer Link: Dossier Die Europäische Union
Zum Weiterlesen
AVMD-Richtlinie / Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste / Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlamentes Externer Link: http://ec.europa.eu/avpolicy/reg/tvwf/index_de.htm
Dänemark – TV2 Externer Link: http://tv2.dk/
England – BBC Externer Link: http://www.bbc.co.uk/
Europäische Kommission Externer Link: http://europa.eu/about-eu/institutions-bodies/european-commission/index_de.htm
Europäische Kommission / EU-Binnenmarkt: Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (e-Commerce-Richtlinie) Externer Link: http://ec.europa.eu/internal_market/e-commerce/directive/index_de.htm
Fernsehen ohne Grenzen (Fernsehrichtlinie). Richtlinie des Rates vom 3. Oktober 1989 Externer Link: http://europa.eu/legislation_summaries/audiovisual_and_media/l24101_de.htm
Frankreich – France 2 Externer Link: http://www.france2.fr/
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) Externer Link: Europäische Mediendatenbank
Niederlande – Nederlandse Omroep Stichting (NOS) Externer Link: http://nos.nl/
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag – RStV –) Externer Link: http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/gesetze.html
Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen (European Convention on Transfrontier Television) Externer Link: http://www.conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/132.htm
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Externer Link: eur-lex.europa.eu
Das betraf insbesondere
den Verstoß gegen die europäischen Auflagen für eine getrennte Buchführung (Tätigkeiten in allgemeinem wirtschaftlichem Interesse getrennt von anderen Tätigkeiten), die Online-Dienste von ARD und ZDF sowie den Erwerb und die Finanzierung von Sportrechten.
§ 11 Auftrag
(1) Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern. Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entsprechen.
(2) Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.
[...]
(4) Ist ein neues Angebot oder die Veränderung eines bestehenden Angebots nach Absatz 1 geplant, hat die Rundfunkanstalt gegenüber ihrem zuständigen Gremium darzulegen, dass das geplante, neue oder veränderte, Angebot vom Auftrag umfasst ist. Es sind Aussagen darüber zu treffen,
inwieweit das Angebot den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht, in welchem Umfang durch das Angebot in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beigetragen wird und welcher finanzielle Aufwand für das Angebot erforderlich ist.
Dabei sind Quantität und Qualität der vorhandenen frei zugänglichen Angebote, die marktlichen Auswirkungen des geplanten Angebots sowie dessen meinungsbildende Funktion angesichts bereits vorhandener vergleichbarer Angebote, auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zu berücksichtigen. Darzulegen ist der voraussichtliche Zeitraum, innerhalb dessen das Angebot stattfinden soll.
Quelle: Externer Link: die medienanstalten.de / Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien
Quellen / Literatur
Europarat (1989): Europäisches Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen. Straßburg.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (1984): Fernsehen ohne Grenzen. Grünbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere über Satellit und Kabel. Brüssel. (KOM(84) 300 endg.): Externer Link: http://bookshop.europa.eu/de/fernsehen-ohne-grenzen.
Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (= Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, AVMD-Richtlinie) (kodifizierte Fassung). In: Amtsblatt der Europäischen Union (L95), 15. April 2010, S. 1-21: Externer Link: http://eur-lex.europa.eu/.
Richtlinie des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (89/552/EWG). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, (L 298), 17. Oktober 1989, S. 23-30.
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag ‒ RStV ‒) vom 31.08.1991, in der Fassung des Dreizehnten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 10. März 2010 (vgl. GBl. S. 307), in Kraft getreten am 01.04.2010: Externer Link: Gesetze-Archiv.
Europarat (1989): Europäisches Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen. Straßburg.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (1984): Fernsehen ohne Grenzen. Grünbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere über Satellit und Kabel. Brüssel. (KOM(84) 300 endg.): Externer Link: http://bookshop.europa.eu/de/fernsehen-ohne-grenzen.
Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (= Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, AVMD-Richtlinie) (kodifizierte Fassung). In: Amtsblatt der Europäischen Union (L95), 15. April 2010, S. 1-21: Externer Link: http://eur-lex.europa.eu/.
Richtlinie des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (89/552/EWG). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, (L 298), 17. Oktober 1989, S. 23-30.
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag ‒ RStV ‒) vom 31.08.1991, in der Fassung des Dreizehnten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 10. März 2010 (vgl. GBl. S. 307), in Kraft getreten am 01.04.2010: Externer Link: Gesetze-Archiv.
Kommission der EG, 1984
Vgl. Europarat, 1989.
Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlamentes bzw. AVMD-Richtlinie
Vgl. Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien § 11 f.
| Article | Christina Holtz-Bacha | 2021-12-08T00:00:00 | 2013-11-05T00:00:00 | 2021-12-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/171925/europaeische-medienpolitik/ | Die Internationalisierung des Mediengeschäfts hat im Laufe der Jahre erheblich zugenommen. Damit hat neben der deutschen Gesetzgebung insbesondere die Europäische Union an Einfluss auf den deutschen Mediensektor gewonnen. | [
"Medienpolitik",
"Filme",
"Fernsehen",
"Medien",
"Presse",
"Telekommunikation",
"EU"
] | 31,034 |
"This Ain't California" – Ein Skater-Märchen | "This Ain't California" | bpb.de | Der Traum von Freiheit
Ein paar Freunde, alle um die 18 Jahre alt, sitzen im Zug zurück nach Ost-Berlin. Sie kommen aus Prag, wo sie an einem internationalen Skateboard-Wettbewerb teilgenommen haben. Nun sind sie müde und verkatert. Alle Fenster der alten 6er-Waggons stehen offen, es ist heiß und die Mitropa-Vorhänge wehen im Wind. In Prag haben sie Gleichgesinnte aus aller Welt getroffen und für einen kurzen Moment hat sich für sie das Tor zur Welt geöffnet; Sie saßen neben ihren Idolen aus den USA auf der Rampe und plötzlich gab es kein "Osten" und kein "Westen" mehr, sondern nur noch ein "Wir", das in wilden Partys und vielen getauschten Adressen kumulierte. Der Samen für einen Traum war gesät und inmitten der Schläfrigkeit einer langen Bahnfahrt keimte plötzlich eine Idee davon, was sie eigentlich mit ihrer Heimat DDR verband: "Wir waren auf dem Weg zurück zu den Leuten, die nicht wussten wie groß die Welt war (…) Trotzdem war es schön nach Hause zu fahren. Das war unser Land (…) Wir waren, ohne dass wir das jemals gewollt hätten, Repräsentanten gewesen für die DDR. (…) Wir kamen zurück, um den anderen zu erzählen, dass die Welt nicht an der Mauer aufhört und dass wir umgeben sind von einer ganzen Generation von Leuten, die genauso ticken wie wir." So beschreibt Nico, einer der Jungen aus dem Bahnabteil, rückblickend dieses schwer greifbare Gefühl zwischen Wut, Trotz und Stolz, das in der DDR Ende der 1980er-Jahre längst nicht nur ein paar Skater erfasst hatte.
Ein Film, der Fragen aufwirft
"This Ain't California" entführt in eine bisher unbekannte Welt: in den Mikrokosmos der Skateboarder im real existierenden Sozialismus der DDR. Wenn das Licht im Kinosaal nach knapp 90 Minuten wieder angeht, ertappt man sich bei dem Gedanken, dass so ein Leben als Skater in Ost-Berlin wirklich spannend gewesen sein muss. Dabei wird die DDR keineswegs verherrlicht. Ganz im Gegenteil. Der Film beschreibt anschaulich die gesellschaftlichen Zwänge, gegen die die "Rollbrettfahrer" rebellierten; er erzählt von Leistungsdruck, Beschattungen und Verhaftungen durch die Staatssicherheit. Glorifiziert wird das Jungsein, die magische Zeit zwischen Kindheit und Jugend, in der Hindernisse nur als Herausforderungen wahrgenommen werden und Spaß alles ist, was zählt. Regisseur Marten Persiel hat aus Archiv- und Amateurmaterialien, nachgestellten Szenen, Animationen und Interviews einen schnell geschnittenen, gefälligen Film arrangiert, der bereits auf diversen Festivals das Publikum begeistert und bedeutende Preise abgeräumt hat. Während der Film seit seiner Premiere auf der diesjährigen Berlinale weitgehend unhinterfragt als Dokumentarfilm vermarktet und so auch sehr positiv rezipiert wurde, mehren sich seit dem bundesweiten Kinostart die Stimmen, die dem Film einen nicht nachvollziehbaren Mix aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen vorwerfen und deshalb seinen Status als Dokumentarfilm in Frage stellen. Daher lohnt nicht nur ein Blick auf die Filmerzählung und die Produktion von "This Ain't California", sondern auch auf die Vermarktungsstrategie des Films, der wenige Tage nach seinem Bundesstart in die deutsche Vorauswahl für den Oscar® in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" aufgenommen wurde.
Lagerfeuergeschichten – ein alternatives Sittenbild der DDR
Still aus einer Animationssequenz: Skaten im Hinterhof (© Wildfremd Production GmbH)
Im Mittelpunkt von "This Ain't California" steht der Skater Denis Paraceck, genannt Panik. Denis ist die Hauptfigur und gleichzeitig der große Abwesende, denn im Film ist er 2011 als Soldat bei einem Bundeswehreinsatz in Afghanistan ums Leben gekommen. Der Film gleicht einem Nachruf, denn Denis' Tod wird zum Anlass für ein Treffen seiner ehemaligen Skateboard-Clique mehr als 20 Jahre nach der Wende. "So eine langweilige Beerdigung, das hätte Denis nicht gewollt", kommentiert Nico, einst der beste Freund von Denis, das Ereignis aus dem Off. Also versammeln sich die in die Jahre gekommenen Skater nach dem schweren Gang auf den Friedhof auf einer Berliner Industriebrache. Dort erzählen sie sich – und den Kameras – am Lagerfeuer Geschichten von damals. Dieses bildgewaltige Setting bildet das erzählerische Rückgrat des Films, der entlang Denis' Lebensgeschichte eine Art alternatives Sittenbild der DDR entwirft. Angefangen hat alles in einem Magdeburger Plattenbauviertel. Hier baut sich Denis mit zwei Freunden zwischen den Garagenhöfen sein erstes Skateboard zusammen. Von der Nachbarschaft kritisch beäugt, üben sie täglich neue Tricks und filmen ihre rasanten Fahrten mit einer geliehenen Super-8-Kamera. Denis ist schon damals ein Draufgänger, der bei seinen waghalsigen Manövern immer wieder "Asphalt frisst" – sehr zum Ärger seines Vaters, der aus ihm einen Leistungsschwimmer machen will. Doch Denis denkt gar nicht daran, sich zu fügen. Für ihn, so erinnert sich Nico, der das Geschehen im Wechsel mit Hexe, einer Freundin aus alten Tagen, auf sehr persönliche Weise kommentiert, ist das Skaten die perfekte Alternative zum strengen Kadersystem des DDR-Sports. Irgendwann 1985 hat er endgültig genug: Er bricht einen Schwimmwettkampf einfach ab, steigt aus dem Becken und kehrt damit seinem bisherigen Leben den Rücken. Diese Szene wurde wie andere emotionale Schlüsselmomente als angenehm zurückgenommene, monochrome Animation ins Bild gesetzt.
Bald vollzieht Denis den endgültigen Bruch mit dem Vater und haut ab von zu Hause, seinem Kumpel Nico hinterher, der nach Ost-Berlin gezogen ist. Fortan kurven sie dort auf ihren Rollbrettern über Straßen und Plätze – die Stadt als großer Skatepark. "Beton" heißt es im Film lakonisch, "hatten wir in der DDR ja genug". Unterlegt von einem packenden Soundtrack lernt man die kleine Szene der DDR-Skater kennen, die sich am Alexanderplatz mit Breakdancern, Punks und anderen Unangepassten mischte. Obwohl die Skater nicht politisch motiviert sind, stehen sie bald im Fokus der Staatssicherheit, der der nonkonforme Lebensstil von Denis & Co. ein Dorn im Auge ist. Hier der autoritäre Überwachungsstaat, dort die ungezügelten Jugendlichen – dieses wirkungsvolle Spannungsverhältnis ist tragend für den Film.
Als Mitte der 1980er Skateboarding trotz aller staatlichen Gegenpropaganda auch in der DDR immer populärer wurde, ändern die Sportfunktionäre und -funktionärinnen ihre Taktik und versuchen, die talentiertesten Rollbrettfahrer als "Übungsleiter" ins Boot zu holen. Panik und einige andere dürfen sogar zu internationalen Wettkämpfen ins Ausland reisen. Als sie dort jedoch Kontakt mit der westdeutschen Szene aufnehmen und später in Eigenregie die ersten Deutsch-Deutschen Meisterschaften in der DDR organisieren, ist es mit dem Spaß bald wieder vorbei. Denis landet nach einer Rangelei mit der staatlichen Aufsicht im Gefängnis. Mauerfall und Wiedervereinigung erlebt er hinter Gittern. Als er entlassen wird, ist nichts mehr wie vorher. In den Wirren der Nachwendezeit verliert sich seine Spur und erst die Nachricht seines Todes bringt die Skater wieder zusammen, zumindest ist dies die Legende, die der Film nährt. Nach dem Filmerlebnis: Dokumentarfilm oder Spielfilm?
Offiziell läuft "This Ain't California" als Dokumentarfilm in den Kinos und lange Zeit warb die Produktionsfirma Wildfremd Productions damit, dass der Film "das Genre Dokumentarfilm neu definieren" werde. Inzwischen ist dieses Zitat von der Webseite verschwunden. Regisseur Marten Persiel und das Produzententeam bezeichnen ihren Film als "dokumentarische Erzählung", in der zwar einige Teile nachinszeniert seien, die aber, wie sie im Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung betonen, insgesamt auf der wahren Geschichte des Denis Paraceck beruhe. Mittlerweile ist allerdings bekannt, dass der weitaus größte Teil der vermeintlichen Archivmaterialien und Zeitzeugeninterviews mit Schauspielern und Schauspielerinnen inszeniert worden ist. Wenige Tage vor dem regulären Kinostart veröffentlichte die Produktionsfirma auf der eigenen Webseite (Schul-)Material zum Download, in dem auf die fiktiven Elemente des Films hingewiesen wird. Auf die kritische Nachfrage einer Zuschauerin während einer Diskussion in Leipzig zum Kinostart erklärte der Produzent Ronald Vietz schließlich, sie selbst hätten den Film nie als Dokumentarfilm bezeichnet.
Dokumentarfilm hin oder her: "This Ain't California" ist ohne Zweifel ein ungewöhnlich packender, persönlicher und schlüssig erzählter Film, der stilistisch an kreative US-amerikanische Independent-Produktionen erinnert: viel Musik, eine rasante Collage unterschiedlicher Filmmaterialien und Interviews, in denen die Sehnsucht nach dem Früher deutlich wird, als man jung und wild war.
Auf virtuose Weise spielt der Film über die gesamte Länge von 90 Minuten mit dem Spannungsverhältnis zwischen Erzählung und Wirklichkeit, Authentizität und Inszenierung. Tatsächlich hat "This Ain't California" die Diskussion darüber, was einen Dokumentarfilm ausmacht, durchaus neu belebt. Wer um die Thematik weiß, der wird auch im Film einige subtile Hinweise auf das Thema entdecken, etwa wenn der Erzähler selbst von der Legendenbildung im Zusammenhang mit Paniks Werdegang spricht. Interessant und durchaus zu hinterfragen sind indes die Aussagen des Filmteams zum dokumentarischen Gehalt ihres Films und auch der strategische Nutzen ihres Vorgehens für die Kinoauswertung, wobei jede Diskussion oder gezielte Nachfragen scheinbar unerwünscht sind. Damit wird möglicherweise die Glaubwürdigkeit der spannenden Story der DDR-Skater, die "This Ain't California" in dieser Form erstmals erzählt, aufs Spiel gesetzt.
Hintergründe – oder: Geschichte wird gemacht
Eine kurze Anfrage beim Bundesverteidigungsministerum hat ergeben, dass sich unter den in Afghanistan Gefallenen der letzten Jahre kein Soldat namens Denis Paraceck befand. Anders als im Film selbst und in Interviews behauptet, hat es die Person Denis Paraceck vermutlich nie gegeben. Vielmehr diente die Kunstfigur Denis dem Regisseur und Autor Marten Persiel und seiner Ko-Autorin Ira Wedel offenbar als ein leeres Gefäß, in das sie verschiedene Geschichten, auf die sie während ihrer Recherchen in der Szene der ehemaligen DDR-Skater gestoßen waren, hineingossen, um sie dann gebündelt und personifiziert erzählen zu können.
Gespielt wird Denis von dem Schauspieler Kai Hillebrand, der selbst Skateboard fährt. Auch die Aufnahmen des jungen Denis und seiner Freunde sind inszeniert und wurden nicht – wie im Film erzählt – von den Kindern selbst zu DDR-Zeiten mit einer Super-8-Kamera gedreht. Stattdessen wurden Skater und Skaterinnen gecastet und von professionellen Kameraleuten in Szene gesetzt. Die weiteren drei Hauptfiguren Nico, Hexe und Dirk, die am Lagerfeuer in ihren Erinnerungen schwelgen, sind ebenfalls keine Zeitzeugen, sondern werden von dem Synchronsprecher David Nathan (Nico), dem Musiker und Autor Martin "Gotti" Gottschild (Dirk) und der Musikerin Tina "Trillian" Bartel (Hexe) verkörpert. Sie treffen am Lagerfeuer allerdings mehrere echte ehemalige Skater vom Alex und erzählen gemeinsam mit ihnen davon, wie es "damals" gewesen ist. So werden fiktive Texte kunstvoll mit authentischen Erinnerungen verwoben, bis es für das Kinopublikum nicht mehr auszumachen ist, wer vor der Kamera eine Rolle spielt und wer tatsächlich aus dem eigenen Leben berichtet.
Ähnlich verfahren die Filmemacher auch mit anderen Zeitzeugeninterviews. So kommt ein DDR-Sportfunktionär zu Wort, der die Repressionen gegen Skater in den 1980er-Jahren verharmlost und sich gänzlich uneinsichtig gibt. Ein Musterbeispiel des ewig gestrigen Stasi-Mannes, mag man meinen, bis sich nach Recherchen heraus stellt, dass der "Funktionär" ein Schauspieler ist und dieses vorgeblich reale Interview nie stattgefunden hat. Der Film verzichtet auch an dieser Stelle auf einen erläuternden Hinweis. Eine Recherche der im Abspann erwähnten Personen verschafft hier ein wenig Klarheit.
Die Animationssequenzen bebildern schließlich die Ereignisse, bei denen es unrealistisch gewesen wäre, dass eine Kamera sie aufgezeichnet hätte. Dazu gehören Schlüsselmomente der Erzählung wie Denis' Ausstieg aus dem Schwimmsport und sein vermeintlicher Tod in Afghanistan, der in der Animation als Freitod dargestellt wird. Dabei sei er, so Regisseur Persiel, durchaus auf "Hochrechnungen" angewiesen gewesen, um zu erahnen, wie es gewesen sein könnte. Immerhin ist dies bei den Animationssequenzen – im Gegensatz zu den inszenierten dokumentarischen Szenen – fürs Publikum schon rein formal eher als konstruiert erkennbar.
Das Spiel mit den Genres
Es gibt viele Filme, die sich auf der Grenze zwischen den Genres bewegen. Wer sich an realen und/oder historischen Vorgängen orientiert, kann dafür die unterschiedlichsten filmischen Umsetzungen finden. Die Frage, ob sich ein Film schließlich als Spielfilm nach einer wahren Begebenheit, als Biopic, Mockumentary oder Fake-Dokumentarfilm geriert, hat oft mehr mit Vermarktungsstrategien als mit der tatsächlichen Art und Weise der Produktion des Films zu tun.
Im Fall von "This Ain't California" haben sich die Filmemacher darauf geeinigt, den Film als Dokumentarfilm ins Rennen zu schicken. Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden. Deutlich wird jedoch, dass die sehr gekonnte Inszenierung des Faktischen hier nicht nur darauf zielt, ein paar erzählerische Lücken zu schließen, wie vom Filmteam lange behauptet. Ganz im Gegenteil bildet die Inszenierung stattdessen das erzählerische Gerüst, in das einzelne dokumentarische Teile eingewoben wurden, um die Authentizität des Films zu steigern und das Publikum emotional zu berühren. "Die Magie ist dahin, wenn ich alle in meinen Zauberkasten gucken lasse", begründet der Produzent Ronald Vietz die Machart des Films.
Die Produktion eines Dokumentarfilms birgt immer das Risiko, dass sich Mitwirkende unvorhergesehen verhalten oder einfach langweilige Dinge tun. Die Herausforderung für Dokumentarfilmende besteht deshalb darin, aus der Realität einen spannenden, ästhetisch anspruchsvollen Film zu gestalten, wobei der spielerische Umgang mit den formalästhetischen Besonderheiten des Genres gerade auch das Salz in der Suppe sein kann. "This Ain't California" geht sichtlich an die Grenzen des Dokumentarfilm-Genres und gestaltet Realität in einer Weise nach, die das Publikum im Augenblick des Filmerlebnisses nicht mehr als konstruiert wahrnehmen kann. Es bleibt zu diskutieren, ob diese Form der künstlerisch überhöhten Vermittlung von zeitgeschichtlichen Phänomenen oder deren (Re-)Konstruktion in der künstlerischen Bearbeitung etwa für künftige historische Vermittlungszusammenhänge in der Bildungsarbeit von Bedeutung sein kann. Dabei wäre es jedoch wünschenswert, wenn über die Frage, wie im Film Wirklichkeit rekonstruiert wird, eine offene und differenzierte Auseinandersetzung ermöglicht wird. Denn Film kann Bilder und Meinungen, die wir uns von Gesellschaft, der Welt und historischen Ereignissen machen, nachhaltig beeinflussen. Das ist eine der Stärken des Mediums, die jedoch auch Verantwortung mit sich bringt.
Still aus einer Animationssequenz: Skaten im Hinterhof (© Wildfremd Production GmbH)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-21T00:00:00 | 2012-08-13T00:00:00 | 2021-12-21T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/142342/this-ain-t-california-ein-skater-maerchen/ | Mit "This Ain't California" gelingt Marten Persiel eine kleine Kulturgeschichte des Skateboardens in der DDR. Dabei vermischt der Regisseur jedoch bewusst und schwer nachvollziehbar Fakt mit Fiktion. | [
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Vermittlungsschwierigkeiten der Sozialwissenschaften | Soziologie | bpb.de | Einleitung
Es liegt keineswegs auf der Hand, dass die Sozialwissenschaftler besondere Schwierigkeiten haben, ihr Publikum zu erreichen. Viele von uns glauben das, und der Titel dieses Aufsatzes unterstellt es in gewisser Weise. Aber trifft es auch zu? Zunächst sei ausgeführt, in welcher Hinsicht die These von der besonderen Publikumsdistanz der Sozialwissenschaften nicht zutrifft, sondern auf problematischen Beurteilungskriterien fußt, die ihrerseits "hinterfragt" werden sollten. Dann seien Beobachtungen und Überlegungen vorgetragen, die das Verhältnis der Sozialwissenschaften zu ihrem Publikum tatsächlich als problematisch und verbesserungsbedürftig erscheinen lassen. Im Ergebnis erweist sich das Publikumsproblem der Sozialwissenschaften, soweit es besteht, als Problem ihrer inneren Verfassung. Die Präsenz der Sozialwissenschaften
Jeder regelmäßige Beobachter von Nachrichten-, Magazin- und Diskussionssendungen des Fernsehens wie jeder aufmerksame Leser anspruchsvoller Presseerzeugnisse kann sich tagtäglich von der Dauerpräsenz einiger Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaftler in der medial gestalteten Öffentlichkeit überzeugen. Weil in Deutschland fast immer gewählt wird, stoßen Wahlforscher in der Regel auf mediales Interesse, und gerade jetzt - im Sommer 2005 - riskieren einige von ihnen viel, denn so recht weiß ja niemand, wie der Souverän im September entscheiden wird. Verfassungsrechtler hatten als Autoren, Interviewpartner und Experten Hochkonjunktur, solange nicht eindeutig klar war, wie Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht sich zur Strategie des Kanzlers stellen würden, durch ein bewusst herbeigeführtes Misstrauensvotum die Auflösung des Bundestags zu erreichen. Nicht einzelne Journalisten wie Frank Schirrmacher, sondern einzelne Sozialwissenschaftler wie Meinhard Miegel haben als erste vor den Folgen des demographischen Wandels gewarnt, wenngleich die öffentliche Debatte darauf nicht ansprang. Mit der Schärfung des Bewusstseins von der bevorstehenden demographischen Krise finden Bevölkerungs- und Sozialwissenschaftler zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Historisch arbeitende Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker haben bei Jahrestagen Hochkonjunktur, die allerdings - den medialen Gesetzen der Kurzatmigkeit folgend - nach dem "Abfeiern" des jeweiligen Gedenktags schlagartig abbricht. Seltener sind die öffentlich bemerkten allgemeinen Zeitdiagnosen sozialwissenschaftlicher Autorinnen und Autoren geworden, doch auch sie fehlen nicht ganz; die Liste reicht von Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf über Wolf Lepenies und Ulrich Beck bis Claus Leggewie und Paul Nolte. Von Nachfrageschwankungen unberührt, melden sich Meinungsforscher und -forscherinnen regelmäßig publikumswirksam zu Wort, und zwar nicht nur mit neuen Ergebnissen zu allem Möglichen, sondern auch mit ehrgeizigen Interpretationen des Zeitgeistes und seiner Wandlungen. Und natürlich interessiert sich die Presse für die Ergebnisse der ersten quantitativen Analyse der sozialen Herkunft von im Westen aktiven Terroristen. Es ist sicherlich berichtenswert, dass ihre große Mehrheit zwar dem Islam angehört, aber nicht aus dessen Kernländern stammt, sondern in den westlichen Staaten geboren und aufgewachsen ist, denen ihre Anschläge gelten. Überhaupt stammen die besten Analysen über die neue Art des Kriegs, über den Qualitätswandel der transnationalen Beziehungen und über Amerika als derzeit einziges Imperium von historisch informierten Politikwissenschaftlern, die ihr Publikum suchen und finden. Das sind nur einige Beispiele klar zuzurechnender öffentlicher Interventionen von sozialwissenschaftlicher Seite. Hinzu kommen die boomenden Branchen der sozialwissenschaftlichen Politikberatung und des sozialwissenschaftlich fundierten Consulting, die meist halböffentlich oder nichtöffentlich ablaufen, aber doch Beispiele dafür sind, dass sozialwissenschaftliches Wissen sein Publikum findet. Wenn man schließlich noch an die schwer zu fassende, aber verbreitete indirekte Diffusion sozialwissenschaftlichen Wissens denkt (auf die noch zurückzukommen sein wird), wird man mit der These, dass die Sozialwissenschaften vergeblich ihr Publikum suchen, sehr vorsichtig umgehen. Gegen falsche Erwartungen
Es ist auch davor zu warnen, sozialwissenschaftliche Pioniersituationen oder Nachfrage-Hochzeiten allzu unbedenklich zum Vergleich heranzuziehen, um die Gegenwart daran zu messen und für zu leicht zu befinden. Als Disziplinen wie die Soziologie und die Politikwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und erneut in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, ruhte der Aufschwung der jeweiligen Forschung auf den Schultern einiger Pioniergestalten, die noch wenig professionalisiert waren und intellektuell-beruflich aus anderen Bereichen stammten. Sie mussten Generalisten und öffentliche Großdarsteller sein und waren es. In dem Maß, in dem die Professionalisierung der Fächer gelang, trat die Normalität an die Stelle der Ausnahmesituation; damit setzten sich Spezialisierung, Routine und tüchtiges Normalmaß durch. Dass die sechziger und siebziger Jahre - mit ihrer Mischung aus kultureller Traditionskritik und gesellschaftlichem Planungsoptimismus - aus den Sozialwissenschaften und besonders der Soziologie eine Art Leitwissenschaft mit herausragender öffentlicher Resonanz machten, ist unvergessen. Doch ist ebenso klar, dass sie diese Rolle nur vorübergehend hatte; schon die achtziger Jahre waren nicht mehr davon geprägt. Schließlich sind das Recht und die Pflicht der Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, Forschung und Lehre nach ihren eigenen Regeln zu betreiben, nicht ernsthaft zu bestreiten. Nicht die Gesetzmäßigkeiten der Politik, des Journalismus, des Unterhaltungsbetriebs oder der Wirtschaft prägen diese, sondern jene der Wissenschaft, in je fachspezifischer Ausprägung. Dazu gehören das Streben nach zutreffender und begründeter Beschreibung und Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Hilfe spezifischer Verfahren empirischer Prüfung, in kritischer, im Prinzip nie beendeter Diskussion und mit häufiger Vertagung der Ergebnisfindung, dagegen kaum der politische Kompromiss oder die rasche Entscheidung unter Zeitdruck und unter Bedingungen begrenzter Information. Dazu gehören in aller Regel ein langer Atem und methodische Gründlichkeit statt Orientierung an der jeweiligen, schnell wechselnden Aktualität. Dazu gehört das Recht, innerhalb der Grenzen, welche die Gesetze, der gesellschaftliche Auftrag der jeweiligen Institution und die finanzielle Förderung setzen, über Inhalte und Methoden der eigenen Arbeit selbst zu entscheiden, und zwar individuell und kollegial. Dazu gehören Spezialisierung und Respekt vor den Grenzen der eigenen Kompetenz - mit der daraus folgenden Zurückhaltung gegenüber ungesicherten Aussagen darüber hinaus. Dazu gehört eine bunte Palette theoretischer Orientierungen und methodischer Verfahren oft sehr elaborierter Art, deren Verwendung in fachsprachlicher Kommunikation der Fachangehörigen untereinander erfolgt und damit für Außenstehende ein gewisses Maß an Unverständlichkeit implizieren kann. Dazu gehört auch der Sinn für Proportion. Nicht alles ist so neu oder so dramatisch in Gesellschaft, Kultur und Politik, wie es die um Aufmerksamkeit miteinander kämpfenden Medien bisweilen ausrufen. Der schrillen Überdramatisierung wirkt das sozialwissenschaftliche Argument oft ernüchternd entgegen, sehr zu Recht, aber nicht zur Freude des Feuilletons, das sich leicht damit langweilt und des Öfteren mit Nichtbeachtung reagiert.
Wissenschaftler, auch Sozialwissenschaftler, werden im Idealfall rekrutiert und ausgebildet, um ihre Wissenschaft im angedeuteten Sinn zu betreiben. Ihr Erfolg bemisst sich danach, wie weit ihnen dies gelingt. Ihr Erfolg oder Misserfolg wird in Verfahren des peer review (Bewertung eines Objekts oder Prozesses durch unabhängige Gutachter ähnlicher Qualifikation) konstatiert; die fachwissenschaftliche Öffentlichkeit ist deshalb für sie von zentraler Bedeutung.
Im Vergleich zu diesen Anforderungen und Leistungen ist die Fähigkeit der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zur Kommunikation mit der Umwelt - z.B. die Fähigkeit zur Darstellung der eigenen Ergebnisse in der Form eines Zeitungsartikels, Interviews oder einer Talkshow - sekundär. Die Differenz zwischen dem Bereich Wissenschaft und den anderen Lebensgebieten (einschließlich der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit) ist ein Konstruktionsprinzip unserer ausdifferenzierten Wirklichkeit und eine Bedingung wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit, wenngleich daraus auch ein Missverhältnis zwischen den an die Wissenschaft herangetragenen Erwartungen und den inneren Möglichkeiten ihrer Erfüllung resultieren kann. Wer über das Verhältnis zwischen den Sozialwissenschaften und ihrem Publikum nachdenkt, sollte all dies berücksichtigen, um nicht von den Wissenschaftlern mehr zu fordern, als sie erfüllen können und sollen. Wachsende Bedeutung der Öffentlichkeit
Doch machen das Recht auf Eigenständigkeit, die Verpflichtung auf eigene Regeln und die daraus folgende Distanz auch der Sozialwissenschaftler zum nichtfachwissenschaftlichen Publikum nur die eine Seite des Gesamtproblems aus. Die andere Seite besteht - aus der - notwendigen, nicht selbstverständlich gesicherten - gesellschaftlichen Einbettung der Wissenschaften, die Anerkennung, aufwändige Unterstützung und Legitimität außerhalb ihrer selbst brauchen, um funktionieren zu können; - aus der in den letzten Jahrzehnten eher zunehmenden Verflechtung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft und - aus der besonderen Dringlichkeit, die diese Problematik für die Sozialwissenschaften besitzt. Was bedeutet dies generell und besonders für den Publikumsbezug der Sozialwissenschaften?
"Die Bürger einer Gesellschaft unterstützen Wissenschaft auf Dauer nur in dem Maße, in dem diese ihre Sinn- und Nutzenerwartungen hinreichend befriedigt. Das setzt bei den Institutionen der Wissenschaft voraus, dass sie das ihnen verliehene Mandat zur Selbststeuerung nicht als Recht auf akademischen Autismus interpretieren dürfen. Die Entwicklung und Sicherung von Ausdifferenzierung erfordert im Gegenzug eine Institutionalisierung integrativer Mechanismen - ein Erfordernis, das im Falle der Ökonomie dazu geführt hat, den frühen Manchesterkapitalismus in Richtung auf die so genannte ,soziale Marktwirtschaft` zu korrigieren. Am Beispiel der Ökonomie lässt sich aber auch erkennen, dass die Dialektik von Ausdifferenzierung und Integration ein Balanceakt ist, der nach zwei Seiten hin misslingen kann. Ausdifferenzierung darf nicht als Desintegration vonstatten gehen, Integration aber auch nicht auf Entdifferenzierung hinauslaufen. Auch im Falle von Wissenschaft gilt es, zwischen Entfremdung und Überfremdung ein Gleichgewicht herzustellen, in dem die wechselseitigen Erwartungen wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Akteure gegenseitige Anerkennung finden können." Diese allgemeine Problematik verschärft sich in den letzten Jahren. Wie die Wissenschaft für die Gesellschaft an Bedeutung weiter gewonnen hat (die Rede von der "Wissensgesellschaft" weist darauf hin), dringt die Gesellschaft heute intensiver und vielfältiger in das Teilsystem Wissenschaft ein als früher. Zwar ist fraglich, ob der Wissenschaft heute mehr gesellschaftliches Misstrauen entgegenschlägt als früher - Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftskritik waren auch in zurückliegenden Jahrzehnten mächtig. Aber zweifellos sieht sich die Wissenschaft heute mit ausgeprägten Forderungen nach gesellschaftlicher Rechenschaftslegung konfrontiert, wird das herkömmliche Verhältnis von Experten und Laien vielfach in Frage gestellt, dringt außerwissenschaftliche Öffentlichkeit über Ansprüche auf Teilhabe am "agenda setting" und an der Evaluation unmittelbar in die Wissenschaft ein, ist die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit für wissenschaftliche Erfolge und Misserfolge der Einzelnen sehr wichtig geworden, hängen diese immer häufiger überdies von Marktprozessen statt von staatlicher Alimentierung ab, und all dies viel stärker als noch vor wenigen Jahrzehnten. Im eigenen Interesse hat die Wissenschaft und haben die Wissenschaftler sich darauf einzustellen, u.a. durch veränderten Umgang mit Öffentlichkeit und durch bewusste Strategien der Selbstdarstellung. Diese allgemeine Problematik scheint bisher für die Sozialwissenschaften weniger gründlich durchdacht worden zu sein als für die heute im Brennpunkt öffentlicher Diskussionen stehenden Technik-, Lebens- und Naturwissenschaften. Doch stellt sie sich für die Sozialwissenschaften in besonderer Form und mit besonderer Dringlichkeit, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens: Seit jeher ist das Verhältnis von Gesellschaft und Sozialwissenschaften durch besondere Affinität geprägt, stärker als es für das Verhältnis von Gesellschaft und Naturwissenschaften gilt. Vieles in den Sozialwissenschaften entstand und entwickelte sich als moderne Antwort auf gesellschaftliche Probleme, sei es in emanzipatorischer, sei es in stabilisierender, sei es in reparierend-verbessernder oder sonstiger Absicht: von den Revolutionen des späten 18.Jahrhunderts über die "soziale Frage" des 19. bis zur Planung des Interventionsstaats im 20. Jahrhundert und bis zu vielfältigen sozialwissenschaftlichen Antworten auf unterschiedliche Fragen, Probleme und Krisen heute. Die hohen Erwartungen an die Kraft der Sozialwissenschaften zur Lösung gesellschaftlicher Probleme sind immer wieder enttäuscht worden, sind in Kontroversen und Misserfolgen versandet und dürften heute weniger ausgeprägt sein als vor dreißig, hundert oder hundertfünfzig Jahren. Doch sie bestehen nach wie vor, und nicht ohne Grund: Moderne Gesellschaften hängen von sozialwissenschaftlicher Selbstberatung und Selbstaufklärung im Innersten ab, wenn auch die Selbstberatung nicht nur über Öffentlichkeit geschieht und öffentliche Aufklärung durch Sozialwissenschaft heute eher dialogisch verstanden und medial anders gestaltet werden muss als früher. Insofern besteht für die Sozialwissenschaften eine besondere Verpflichtung zum Öffentlichkeitsbezug, mit der andere Wissenschaften nicht konfrontiert sind. Die besten, produktivsten Sozialwissenschaftler haben dem auch immer Rechnung getragen und tun dies auch heute. Sie verstehen ihr Fach und wissen auch, es öffentlich darzustellen. Dagegen ist strikte innerdisziplinäre Spezialisierung oft ein Ausdruck der Defensive.
Zweitens: Zugleich muss man daran erinnern, dass die meisten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler kein Monopol auf die Bereitstellung und Vermittlung des Wissens besitzen, für das sie spezifisch zuständig sind. In Bezug auf die meisten von Sozialwissenschaftlern diskutierten Probleme - von wirtschaftlichem Wachstum über soziale Ungleichheit, Verfassungsstrukturen und historische Erfahrungen bis hin zu Problemen der nächsten Wahl, des letzten Kriegs oder der Globalisierung im Ganzen - besteht erhebliches Wissen auch außerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplinen, besteht "Volkswissen" ohne direkte Abhängigkeit von Experten. Es ist unübersehbar, "dass ,Laienkommunikation und Alltagstheorien` in diesen Zusammenhängen eine ganz andere Art der Legitimität einfordern und beanspruchen können als etwa in den Naturwissenschaften. Eine weitere Öffentlichkeit kann sich also durchaus für kompetent halten, an der Diskussion sozialwissenschaftlicher Fragen teilzunehmen." Daraus folgt mindestens zweierlei.
Zum einen erklärt sich, warum viele sozialwissenschaftlich produzierte Einsichten nicht als Ergebnisse und Thesen spezifischer Experten, also oft nicht in Wissenschaftlerinterviews oder -zitaten und meist nicht durch darauf spezialisierte Wissenschaftsjournalisten (die ja in der Regel nicht auf Sozialwissenschaften spezialisiert sind) vermittelt werden, sondern oft indirekt und "unsichtbar" diffundieren, nämlich integriert in die Aussagen nichtspezialisierter Journalisten, öffentlich argumentierender Politiker oder auch als Teil pädagogischer Anstrengungen. Die Verbreitung sozialwissenschaftlicher Einsichten ist besonders diffus, erlaubt oft keine spezifische Zurechnung zu namentlich bekannten professionellen Produzenten, zumal sozialwissenschaftliche Ergebnisse selten die Form neuer Entdeckungen oder klar identifizierbarer "Produkte", vielmehr häufig die Form von Interpretationen, Erklärungen und Deutungen haben. Sozialwissenschaftliche Einsichten dürften deshalb weiter verbreitet und öffentlich wirksamer sein, als es die statistische Auszählung von einschlägigen Zitaten und spezialisierten Berichten ergibt. Zum anderen wird klar, dass die gegenseitige Durchdringung von Gesellschaft und Wissenschaft - als Teilaspekt davon: die gegenseitige Durchdringung von Öffentlichkeit und Wissenschaft - im Fall der Sozialwissenschaften besondere Brisanz besitzt. Daraus folgt, dass sich die Sozialwissenschaften dem Problem ihres Öffentlichkeitsbezugs mit besonderem Interesse und besonderer Dringlichkeit widmen müssten, und zwar, wie mir scheint, eher offensiv und auf Öffentlichkeit zugehend als defensiv und nach Grenzziehungen suchend, die nach aller Erfahrung doch nicht zu befestigen sind. Den Balanceakt neu justieren
Die Professionalisierung der Sozialwissenschaften ist in den letzten Jahrzehnten kräftig vorangeschritten. Als Konsequenz hat nicht nur die innere Spezialisierung, bisweilen Fragmentierung der Soziologie und Politikwissenschaft erheblich zugenommen, auch die Selbstreferentialität sozialwissenschaftlicher Arbeit ist heute ausgeprägter denn je, d.h. die Orientierung der Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen an der Rezeption und am Urteil der engsten Fachgenossen, die Abhängigkeit ihrer Karrieren von innerwissenschaftlicher Evaluation disziplinären Zuschnitts sowie eine gewisse Gleichgültigkeit nicht nur gegenüber dem inneren Zusammenhang der Sozialwissenschaften insgesamt, sondern auch gegenüber den großen gesellschaftlichen Problemen der Zeit, auf die sich die eigene hoch spezialisierte Forschung oft nur noch schwer beziehen lässt. Viele Sozialwissenschaftler - besonders wenn sie ausschließlich forschen und nicht gleichzeitig lehren - sehen sich als Produzenten hoch spezialisierten sozialwissenschaftlichen Wissens über enge Teilgebiete, dessen Deutung, Einordnung und Vermittlung über den disziplinären Kontext hinaus sie gern anderen, nämlich spezialisierten Vermittlern, überlassen wollen, statt diese Vermittlung als Teil der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu begreifen. Entsprechend gering ist ihr Interesse an gekonnter, geschmeidiger sprachlicher Fassung anstehender Probleme. Entsprechend kleinschrittig wirkt ihre Arbeit. Entsprechend unbeachtet bleiben am Ende ihre Ergebnisse.
Die Professionalisierung der Sozialwissenschaften hat deren Beschreibungs- und Erklärungsfähigkeit zweifellos erhöht. Sie ist Triebkraft und Ausdruck ihres Erfolges. Es wäre unsinnig und überdies vergeblich, sie zurückdrehen zu wollen. Aber im Licht der in den letzten Abschnitten geschilderten Veränderungen im Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft und angesichts der besonderen Situation, in der sich die Sozialwissenschaften befinden, ist es an der Zeit, den "Balanceakt" (Friedhelm Neidhardt) neu zu justieren, den die Sozialwissenschaften zwischen professioneller Ausdifferenzierung und gesellschaftlicher Integration zu leisten haben, und zwar in Richtung stärkerer Integration. Dazu dürfte gehören, dass Sozialwissenschaftler den eigenen Publikumsbezug ernster nehmen und ihre Resonanz über die Fachöffentlichkeit hinaus als ein Erfolgskriterium akzeptieren. Dabei geht es weniger um die Teilnahme an den in Mode gekommenen "Langen Nächten der Wissenschaft" und anderen Anstrengungen des "Public Understanding of Science", die gezielter Öffentlichkeitsarbeit im Interesse von Legitimitätsbeschaffung dienen. Auch unterscheiden sich, wie gesagt, Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Neigung und Fähigkeit zum Auftritt in öffentlichen Medien mit gutem Recht von Journalisten. Die Vertreterinnen und Vertreter beider Sparten haben unterschiedliche Aufgaben, und nur in wenigen Glücksfällen gelingt die Verknüpfung auf Zeit. Zu Recht werden sich wissenschaftliche Argumentationen eher als Widerlager statt als Verdoppelung der oft ganz anders gearteten journalistischen Argumentationen verstehen.
Aber wenn die Einsicht in die innere Verflechtung von Gesellschaft und Sozialwissenschaften ernst genommen wird, hat sie zur Folge, dass die Integration der jeweils verfolgten Fragestellungen und der jeweils erzielten Ergebnisse in breitere, auch praktische, vielleicht auch historische Zusammenhänge als Teil der Aufgabe des Sozialwissenschaftlers verstanden und nicht zuletzt durch verschiedene Formen des Dialogs mit dem Publikum realisiert wird. Dies liegt nicht nur im Interesse größerer Geltung und Wirkung der Sozialwissenschaften. Der offensive Bezug auf große Fragen der Gegenwart und damit die entschiedene Öffentlichkeitsorientierung dürften überdies den einzig wirklich begehbaren Weg eröffnen, der inneren Fragmentierung der Disziplinen und ihrem Rückzug in Teilgebiete entgegenzuwirken, ihre intellektuelle Substanz zu erhöhen und die Erkenntnischancen zu nutzen, die in der Verknüpfung unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Ansätze liegen. In diesem Sinn ist Publikumsbezug ein Kernbestandteil guter sozialwissenschaftlicher Praxis.
Im vorliegenden Beitrag geht es um die Sozialwissenschaften im engeren Sinne, das heißt, die Wirtschaftswissenschaften werden hier ausgeklammert.
Vgl. Meinhard Miegel, Sicherheit im Alter. Plädoyer für die Weiterentwicklung unseres Rentensystems, Bonn 1981; ders., Die deformierte Gesellschaft, Berlin 2002; Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, München 2004. - Am besten jetzt Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt/M. 2005; auch Paul Baltes, Oma muss ran, in: Die Zeit, 21/2005.
Vgl. Nikolas Busse, In den Dschihad mit europäischem Pass, in: FAZ vom 22.7. 2005.
Zuletzt: Herfried Münkler, Imperien, Berlin 2005.
Vgl. Peter Wagner, Social Science and Social Planning During the 20th Century, in: ders. u.a. (Hrsg.), Discourses on Sociology. The Shaping of the Social Science Discipline. Yearbook in the Sociology of the Sciences, Dordrecht 1990, S. 591 - 607; sowie Ralf Dahrendorf, Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002 (als Blick auf die Gründerjahre der Soziologie in der Bundesrepublik nach der Jahrhundertmitte).
Vgl. dazu grundsätzlich, mit weiterer Literatur, Friedhelm Neidhardt, Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit (=WZB-Vorlesungen 3), Berlin 2002, bes.S. 5 - 6, 22 - 31.
Ebd. S. 6.
Vgl. Michael Gibbons u.a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994; Ulrike Felt/Helga Nowotny (Hrsg.), Social Studies of Science in anInternational Perspective, IWTF 1994; Meinolf Dierkes/Claudia von Grote (Hrsg.), Between Understanding and Trust: the Public, Science, and Technology, Berkshire 1998; Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist (Velbrück) 2001; Helga Nowotny u.a., Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist (Velbrück) 2004.
Vgl. aber, auch zum Folgenden, Ulrike Felt, Die "unsichtbaren" Sozialwissenschaften: Zur Problematik der Positionierung sozialwissenschaftlichen Wissens im öffentlichen Raum, in: Christian Fleck (Hrsg.), Soziologische und historische Analysen der Sozialwissenschaften (=Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderbd. 5), 2000, S. 177 - 212.
Vgl. Peter Wagner, The Uses of the Social Sciences, in: ders. u.a. (Anm. 2), S. 537 - 52; als Fallbeispiel Eckart Pankoke, Sociale Frage - Sociale Bewegung - Sociale Politik, Stuttgart 1970.
U. Felt (Anm. 9), S. 201.
Vgl. genauer dazu U. Felt (Anm. 9), S. 188, 194f.; sie verweist auf Hartmut Weßler, Verschlungene Pfade, Presse: Deutschland 1993 - 1995, in: Relationen, (1997) 4, S. 117 - 148. Vgl. bereits Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt/M. 1989.
Vgl. zu den besonderen Schwierigkeiten der "Grenzziehungsarbeit" (zwischen wissenschaftlichem und sonstigem Wissen) im Fall der Sozialwissenschaften noch einmal U. Felt (Anm. 9), S. 199 - 202; im Anschluss an Thomas F. Gieryn, Boundaries of Sciences, in: Sheila Jasanoff u.a. (Hrsg.), Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks-London-New Delhi 1995, S. 393 - 443.
Vgl. Anm.6, S.3.
| Article | Kocka, Jürgen | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28901/vermittlungsschwierigkeiten-der-sozialwissenschaften/ | Die Sozialwissenschaften sind in der öffentlichen Diskussion zwar präsent, aber ihre Professionalisierung hat zu Spezialisierung und Selbstreferentialität geführt. Eine Neuadjustierung ist nötig. Richtig verstandener Publikumsbezug ist ein Kernbesta | [
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Vertiefungsworkshop Sektion 7 "Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie?" | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de | Beschreibung
In diesem Workshop wird das Thema „Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie?“ mit den Referierenden der vorangegangenen Sektion vertiefend diskutiert. Dabei stehen Fragen der Praxis der politischen Bildung im Fokus der Diskussion und die Teilnehmenden sind ausdrücklich aufgefordert sich aktiv einzubringen.
Interner Link: Prof. Dr. Werner Sauter, Blended Solutions GmbH
Interner Link: Prof. Dr. Helmut Bremer
, Universität Duisburg-Essen
Interner Link: Prof. Dr. Regina Münderlein, Hochschule Kempten
Interner Link: Prof. Dr. Sabine Manzel, Universität Duisburg-Essen
Interner Link: Klaus-Dieter Kaiser, Evangelische Akademie der Nordkirche
Moderation: Interner Link: Armin Himmelrath, Journalist
Zeit
Fr, 08.03.2019 11.30 – 13.00 Uhr
Format
Diskussion
Veranstaltungsort
Kongresshalle, Weißer Saal | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-01-24T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/284522/vertiefungsworkshop-sektion-7-emotionen-in-politischen-bildungsprozessen-welchen-einfluss-haben-sie/ | Im Workshop wird das Thema "Emotionen in politischen Bildungsprozessen: Welchen Einfluss haben sie?" mit den Referierenden der vorangegangenen Sektion vertiefend diskutiert, wobei sich Teilnehmende aktiv einbringen können. | [
"14. Bundeskongress Politische Bildung",
"BuKo 2019",
"Vertiefungsworkshop",
"Emotionen",
"politische Bildungsprozesse",
"Einfluss"
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STAR WARS (KRIEG DER STERNE) | Klassiker sehen – Filme verstehen | bpb.de | Produktionsland/-jahr: USA/1977 Regie: George Lucas Laufzeit: 121 Minuten Format: Technicolor, Panavision (2,35:1) Altersfreigabe: FSK: 12
Darsteller/innen
Mark Hamill (Luke Skywalker), Harrison Ford (Han Solo), Carrie Fisher (Prinzessin Leia), Alec Guiness (Ben Obi-Wan Kenobi), David Prowse (Darth Vader), Peter Cushing (Großmoff Tarkin) u.a. "Hey, Luke … may the Force be with you." – Han Solo zu Luke Skywalker Inhalt
"Vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxie" kämpfen über die Planeten verstreute Rebellen der "Republik" gegen das "böse Imperium". Vom sogenannten Todesstern aus wird es vom unheimlichen Darth Vader regiert. Zu Beginn der Handlung wurden Prinzessin Leia Geheimpläne der gigantischen Raumstation zugespielt, die sie jedoch versteckt hat. Vader entführt Leia, um sie zurückzubekommen. Die Pläne, die einen Schwachpunkt des Todessterns identifizieren, befinden sich in der Robotereinheit R2-D2. Auf dem Planeten Tatooine geraten die herumirrenden Droiden R2-D2 und sein Gefährte C-3PO in den Besitz von Luke Skywalker. Er ist ein argloser Farmerjunge, der allerdings schnell schaltet: Dank der Informationen findet er den alten Jedi-Ritter Ben Obi-Wan Kenobi, Leias letzte Hoffnung. Der zunächst unwillige Weltraumschmuggler Han Solo wird beauftragt, die beiden nach Alderaan, dem Heimatplanet der Prinzessin, zu bringen. Dieser wird jedoch von Darth Vader zerstört und sie geraten direkt in den Todesstern, wo Luke und Han gemeinsam Leias Befreiung gelingt. Obi-Wan wird in einem Duell mit seinem ehemaligen Schüler Vader getötet. Auf dem Rebellenstützpunkt Yavin IV wird Luke den Kampfpiloten zugeordnet, die den Todesstern endlich vernichten sollen. Dem jungen Mann, der unter Anleitung des weisen Obi-Wan inzwischen gelernt hat, sich in Tradition der Jedis mit der geheimnisvollen "Macht" zu verbünden, gelingt der entscheidende Treffer. Die Rebellion hat vorerst gesiegt.
Hintergründe und Drehbuch
Seit 1971 plante Regisseur George Lucas eine klassische Weltraumoper nach Art der FLASH GORDON-Filmserials. Nach mehreren Drehbuchfassungen sprang das Produktionsstudio Universal ab, es übernahm Twentieth Century Fox. Aus einem angeblich 200-seitigen Skript konnte Lucas zunächst nur den ersten von drei Teilen verfilmen, die zwei Fortsetzungen hingen ab vom Erfolg. Als Drehorte wurden das auf Special Effects spezialisierte britische Elstree-Studio sowie Örtlichkeiten in Tunesien und Guatemala ausgewählt. Das eher mittlere Budget von zehn Millionen Dollar wurde überzogen und betrug nach Produktionsende 13 Millionen.
Die Handlung von KRIEG DER STERNE befindet sich in der chronologischen Mitte der inzwischen siebenteiligen STAR WARS-Reihe. Diese hat im Lauf der Jahre einige Umbenennungen erfahren. Heute lautet auch der deutsche Titel STAR WARS: EPISODE IV – EINE NEUE HOFFNUNG. Inwieweit Lucas diesen ersten Film bereits als EPISODE IV geplant hatte, ist unsicher. Allerdings erschien bereits die Fortsetzung in den USA als STAR WARS: EPISODE V – THE EMPIRE STRIKES BACK, USA 1980, R: Irvin Kershner). Die 1999 begonnene Prequel-Trilogie I-III (s. Filmografie George Lucas) erzählte später die Vorgeschichte, deren Elemente in KRIEG DER STERNE bereits vorgezeichnet sind: etwa die Klon-Kriege oder Darth Vaders Verführung durch die dunkle Seite der Macht. Eine solche Hintergrundcharakterisierung wichtiger Figuren ist beim Drehbuchschreiben durchaus üblich, um den Schauspielern und Schauspielerinnen das richtige Gefühl für ihre Rolle zu geben. Bei George Lucas wurde daraus eines der erfolgreichsten Franchises (als Franchise bezeichnet man eine als Marke lizensierte Filmreihe) der Filmgeschichte. In Deutschland wurde die US-amerikanische Zählung erst 1995 übernommen. Im vorliegenden Programm wird zur leichteren Übersicht der alte Name KRIEG DER STERNE verwendet. STAR WARS bezeichnet demgegenüber die gesamte Reihe.
Genrebezug
KRIEG DER STERNE ist eine Space-Opera (dt.: Weltraumoper), also eine handlungszentrierte, realitätsferne Fantasie jenseits menschlicher Erfahrung, die gänzlich im Weltraum spielt – allerdings nicht in der Zukunft. In eine "mythische" Vergangenheit verweisen neben dem Vorspanntext auch die filmischen Einflüsse. Neben dem Science-Fiction-Serial FLASH GORDON verarbeitete Lucas zahllose Motive aus anderen Genres wie Abenteuer-, Ritter-, Western- und Piratenfilm – das klassische Hollywood der 1950er-Jahre. Ziel war es, die Traumwelt seiner Kindheit zu einem neuen, einzigen Universum zu formen.
Sturmtruppen. (© picture-alliance / Mary Evans Picture Library)
Der archaische Kampf von Gut und Böse und die Reifung von jugendlichen Heldenfiguren in spannenden Abenteuern bilden die Basis dieser Geschichten. Lucas hat sich nie gescheut, seine Filme als Märchen oder gar Kinderfilme zu bezeichnen. Sie seien "näher an den Gebrüdern Grimm als an 2001". Kubricks 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM war visuell dennoch ein großer Einfluss für Lucas. Antike und mittelalterliche Mythen wie die Artus-Sage kamen hinzu. Gleichzeitig finden sich in diesem Paralleluniversum auch von Lucas beabsichtigte Bezüge des Imperiums zum nationalsozialistischen Deutschland. Im Film hat das Böse die Republik abgelöst und regiert mit militärischer Strenge, die sich in entsprechender Symbolik äußert. Der Begriff "Sturmtruppen" für Darth Vaders Brigaden ist ein deutliches Zeichen.
Einen besonders interessanten Einfluss bilden die Samurai-Filme des berühmten japanischen Regisseurs Akira Kurosawa (1910-1998), vor allem sein Film KAKUSHI-TORIDE NO SAN-AKUNIN (DIE VERBORGENE FESTUNG, J 1958). Die Roboter R2-D2 und C3-PO übernehmen die Funktion unbeteiligter Bauernfiguren, die bei Kurosawa oft die eigentliche Handlung begleiten und kommentieren. Sie erklären dem Publikum eine geheimnisvolle, mystische Welt, die den Filmfiguren vollständig vertraut ist – die Zuschauer/innen sollten die Welt von STAR WARS so unmittelbar erfahren wie Lucas die ihm unbekannte Kultur des japanischen Mittelalters. Auch die Ritterrüstungen und Helme des Imperiums gehen zurück auf die Samurai-Krieger. Der Begriff "Jedi" schließlich verdankt sich der japanischen Bezeichnung für Historienfilme (jidai-geki).
Ein klares Science-Fiction-Motiv findet sich in Lucas’ Idealvorstellung einer vollständig neuen "bewohnten Welt": Roboter, Außerirdische und Menschen leben in selbstverständlicher Gemeinschaft. Die im Genre üblichen Unterschiede und Feindschaften spielen keine Rolle. Aliens treten auf als Schmuggler, Piloten und in der berühmten Kantinenszene auch als Kopfgeldjäger oder Jazzmusiker. Besonders das Roboterpaar R2-D2 und C-3PO hat menschliche, humoristische Züge. Zudem verbirgt sich hinter der Maske Darth Vaders eine Mensch-Maschine (mit lebenserhaltenden Prothesen), was allerdings erst in den weiteren Filmen erklärt wird.
In deutlicher Abgrenzung zur "hard science-fiction" finden sich keinerlei Bezüge zu tatsächlicher Wissenschaft. Laserschwerter und riesige, in "Überlichtgeschwindigkeit" fliegende Raumschiffe sind das Produkt reiner Fantasie. Kennzeichnend für die STAR WARS-Reihe ist vielmehr der Konflikt zwischen menschlicher Rationalität und dem spirituellen Gebilde der "Macht". Obi-Wan Kenobi beschreibt sie als ein Energiefeld, das die Galaxis zusammenhält. Hier treffen diverse religiöse, u.a. pantheistische und buddhistische Vorstellungen zusammen. Der Glaube an oder die Skepsis gegenüber übernatürlich erscheinende Phänomene spielt aber auch in der Science-Fiction eine wichtige Rolle. In deren weiteren Kontext ähnelt die vom Jedi-Ritter zu beherrschende Macht der Macht des Wissenschaftlers, sein Können dem Guten oder dem Bösen zu widmen. Sie hat eine helle und eine dunkle Seite. Im weiteren Verlauf der sieben Filme sind diese immer schwerer zu trennen.
Trotz einfacher Dialoge und Handlungsmuster hat die Story auch psychologische Tiefe. Für die Science-Fiction untypische Themen wie Familie, Abstammung und Generationenkonflikt, eingebettet in den ewigen Kampf von Gut und Böse, bilden für Fans sogar den Kern der Saga. Das volle Handlungsgerüst offenbart sich zwar erst in den späteren Fortsetzungen, dürfte einigen Schülern und Schülerinnen jedoch bekannt sein: Luke steht zwischen seinem moralischen Ersatzvater Obi-Wan und dem biologischen Vater Darth Vader; seine heimliche Liebe zu Leia ist im Kern inzestuös – die beiden sind Geschwister. Die entsprechenden Konflikte erinnern an die Struktur der antiken Tragödie (z.B. die Sophokles-Dramen König Oedipus, Antigone und Elektra) und kennzeichnen STAR WARS einmal mehr als Mythos.
Die Roboter R2-D2 und C-3PO. (© picture-alliance, kpa)
Ein ebenso wichtiges Element ist jedoch der Humor. Insbesondere das Roboter-Duo R2-D2 und C-3PO, aber auch der verwegene Han Solo und seine Rivalität mit dem naiven Luke Skywalker entwickeln viel humoristisches Potenzial. Die altmodische Komik mit Slapstick-Elementen ist geradezu ein Alleinstellungsmerkmal in der notorisch ernsten Science-Fiction und ein weiterer Grund für die weltweite Beliebtheit von STAR WARS.
Filmfiguren
Zumindest die zentralen Charaktere des riesigen Figurenuniversums von KRIEG DER STERNE treten paarweise auf. Den Mittelpunkt bildet das – unwissentliche – Geschwisterpaar Prinzessin Leia und Luke Skywalker. Luke wird als introvertiert und schüchtern, aber auch abenteuerlustig eingeführt. Der Bauernjunge, bei Tante und Onkel aufgewachsen, möchte auf die Sternenakademie. Dazu befolgt er schließlich die Jedi-Lehren seines Mentors Obi-Wan, Tugenden wie innere Gelassenheit und Selbstdisziplin. Ihm gegenüber ist Leia die geborene Herrscherin. Klug, gewitzt und burschikos, erteilt sie auch Älteren unmissverständlich Befehle. Als ahnte sie die Zusammenhänge, entwickelt sie zu Luke ein von Beginn an schwesterliches Verhältnis.
Der rüde Weltraumschmuggler Han Solo vervollständigt diese Beziehung zum Dreieck. Leia beschreibt ihn abfällig als "typische Söldnerseele": Ohne Idealismus und Ehrgeiz, lässt er sich nur durch Geld motivieren. Erst im letzten Moment, dem Anflug auf den Todestern, kommt er zur Hilfe. Dieses zurückgehaltene Heldentum hat er mit zahlreichen Heldentypen des US-amerikanischen Kinos gemeinsam, aber auch mit Kurosawas herumziehenden Samurais. Sein Kostüm kennzeichnet ihn als Westernhelden. Gegenüber Luke wirkt er entschlossener, was auch Leia bemerkt, die in ihm ihre eigenen Eigenschaften entdeckt. Han Solo ist selten ohne seinen felligen Co-Piloten zu sehen, den Wookie Chewbacca.
Ben-Obi-Wan Kenobi. (© picture-alliance, kpa)
Ben Obi-Wan Kenobi verkörpert die klassische Figur des weisen Lehrers. Sein Kostüm erinnert an die Mönchskutten des Mittelalters. Sein Gegenpol ist Darth Vader, der Anführer der kaiserlichen Sturmtruppen, dessen Identität hinter der Sauerstoffmaske zunächst rätselhaft bleibt. Trotz erbitterter Feindschaft verbindet sie der gemeinsame Glaube an die Macht. Die ehemaligen Jedi-Ritter waren einst Lehrer und Schüler. Luke hat also unwissentlich den Platz seines Vaters eingenommen.
Die Droiden R2-D2 und C-3PO treten wie menschliche Charaktere auf. R2-D2 kann sich nur durch Computerlaute und kleine Kopfbewegungen ausdrücken, was beim Publikum den niedlichen Eindruck eines Kleinkinds bewirkt. Demgegenüber ist C-3PO ein voll ausgebildeter, vielsprachiger Butler-Roboter mit vorzüglichen Manieren. Mit seiner Höflichkeit und zwanghaftem Pessimismus geht er seinem Umfeld oft auf die Nerven. Die beiden Roboter stehen auch in der Tradition anderer großer Komikerduos wie Laurel und Hardy. Lucas bezeichnete sie als "die eigentlichen Helden der Saga."
Besetzung
Für seine Hauptfiguren Leia und Luke wählte Lucas die bis dahin unbekannten Jungdarsteller/innen Mark Hamill und Carrie Fisher. Sie wurden zu Identifikationsfiguren für Teenager weltweit, konnten sich in ihrer weiteren Karriere jedoch kaum von ihrer Rolle lösen. Fisher, aus einer Hollywood-Familie stammend, verarbeitete ihre Probleme später in einem Roman. Der etwas ältere Harrison Ford hingegen wurde durch die Rolle Han Solos zum Weltstar. Er spielte danach in BLADE RUNNER sowie in den mit RAIDERS OF THE LOST ARK (JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES, USA 1981, R: Steven Spielberg) begonnenen Indiana-Jones-Filmen. Zuvor hatte er sich als Tischler durchgeschlagen und lediglich kleinere Rollen erhalten, u.a. in George Lucas’ Klassiker AMERICAN GRAFFITI (USA 1973). Bei Alec Guiness, Darsteller Obi-Wan Kenobis, und Peter Cushing, der als Kommandant unter Darth Vader den Todesstern befehligt, handelt es sich um zwei altgediente Legenden des britischen Kinos. Sie sollten gegenüber den jugendlichen Figuren Autorität verkörpern. Cushing war vor allem aus Horrorfilmen bekannt.
Kameraführung, Lichtsetzung und Schnitt
Die ästhetische Gestaltung orientiert sich stark am klassischen Hollywood-Kino. Dazu zählen auch die früheren Science-Fiction-Filme. Die Kamera verbleibt oft in statischen Totalen, selbst in der Bewegung zieht sie die Aufmerksamkeit nicht auf sich. Das Bild ist stets optimal ausgeleuchtet, experimentelle Licht- und Schatteneffekte unterbleiben. Mit dieser bewusst theatralischen Inszenierung distanziert sich Lucas vom damals vorherrschenden europäischen Autorenkino und dem Stil des New Hollywood, das Film als persönlichen Ausdruck des Regisseurs betrachtete. Sie vermittelt stattdessen einen Eindruck von Erhabenheit. Nur in den Actionsequenzen wird die gravitätische Langsamkeit des Schnitts beschleunigt.
Eine Besonderheit des Schnitts bilden die Auf- und Abblenden, die längere Erzählkapitel voneinander trennen und die filmische Illusion vorübergehend aufheben. Zu sehen sind sogenannte Wischblenden oder umgekehrte Irisblenden in kreisförmiger, vertikaler oder diagonaler Ausführung, die sich jedoch niemals wiederholen. Diese verspielte Reminiszenz an das alte Schwarz-Weiß-Kino und die Filme Akira Kurosawas wurde auch in den neueren Filmen beibehalten und gilt als Markenzeichen der Serie.
Setdesign und Special Effects
Die bis heute beeindruckenden Special Effects sind trotz ihrer kreativen Fülle vergleichsweise sparsam eingesetzt und tragen vor allem zur Atmosphäre bei, etwa die Aufnahme des langsam wie über die Köpfe des Publikums ins Bild gleitenden Sternenzerstörers Darth Vaders. Für solche Aufnahmen hatte Lucas seine eigene Effektfirma ILM gegründet. Zuvor hatte 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM wichtige Vorarbeit geleistet. Beide Filme nutzten das neuentwickelte Motion-Control-Verfahren, in dem statt des Raumschiffmodells die Kamera bewegt wird. In der hochauflösenden, computergesteuerten Kamera wird der Film schneller laufen gelassen, um anschließend langsam wiedergegeben und mit dem Hintergrundbild kombiniert zu werden. Die optische Illusion beseitigt Probleme früherer Verfahren, bei denen vor allem kleinere Modelle unecht wirkten.
Abgesehen von dieser Innovation, einflussreich für die Science-Fiction bis heute, nutzte das Team vor allem herkömmliche Techniken wie Matte Paintings (gemalte Hintergründe) und Blue-Screen-Technik (s. Kapitel Special Effects). Um gemalte Hintergründe handelte es sich z.B. bei Nahansichten des Todessterns, wenn dieser ein Raumschiff anzieht. Die schwarz-weiße Angriffssimulation, die den Kampfpiloten vor ihrem Einsatz demonstriert wird, zeigt das einzige Computerbild des Films.
Für die Innenansichten, etwa Kommandobrücken und das Innere von Raumschiffen, wurden im Elstree-Studio Kulissen in Originalgröße gebaut. Lucas wollte einen "natürlichen" Eindruck. Dazu gehörte auch seine Idee der "used future": Raumschiffe und Behausungen sollten von innen wie außen benutzt aussehen, also alt und schmutzig, und so von ihrer Vergangenheit erzählen. Im Inneren des Rasenden Falken, dem Gefährt Han Solos, ist dies besonders gut zu beobachten.
Musik
Der Soundtrack zu KRIEG DER STERNE wurde vom American Film Institute (AFI) 2005 zur "bekanntesten Filmmusik aller Zeiten" gewählt. Von seinem Komponisten John Williams (geb. 1932) stammt auch die Musik zu DER WEISSE HAI (JAWS 1975, R: Steven Spielberg) und vielen anderen Klassikern. Der Score ist klassisch orchestriert und erinnert an die alten Western-, Piraten- und Römerfilme Hollywoods. Als besonders einflussreich gilt die Renaissance des Leitmotivs in der Tradition Richard Wagners. So sind Prinzessin Leia romantische Flötentöne, der Rebellenallianz triumphale Bläser und dem Imperium dunkle Marschrhythmen zugeordnet. Luke Skywalkers musikalische Begleitung schwankt zwischen den getragenen Streicherklängen des Macht-Themas sowie dem heroischen Hauptthema. Das Hauptthema mit seiner charakteristischen Fanfare, das gleich zu Beginn den berühmten Vorspanntext übertönt, beruht auf einem Motiv des österreich-ungarischen Hollywood-Filmkomponisten Erich Wolfgang Korngold (siehe: Externer Link: www.youtube.com/watch?v=cGcpLm989-U) aus dem Jahr 1941 und ist in jedem Film der Reihe zu hören.
Rezeption und Nachwirkung
KRIEG DER STERNE war ein durchschlagender Erfolg bei Publikum und Kritik. Gewürdigt wurden die bahnbrechenden Special Effects und die Erschaffung einer völlig neuen Welt mit den Mitteln des Kinos. Nur wenige Kritiker/innen bemängelten die angeblich naive Handlung und eindimensionale Charaktere. Bis zum Jahr 1978 konnte der Film weltweit 410 Millionen Dollar einspielen, dank zahlreicher Wiederaufführungen und der Verwertung auf VHS, DVD und Blu-Ray liegt sein Marktwert heute bei 775 Millionen Dollar. Nach zehn Nominierungen erhielt das Weltraumspektakel sechs Oscars®, darunter die Auszeichnungen für die beste Filmmusik und die besten Special Effects. Bis zum Erscheinen von E.T. – DER AUSSERIRDISCHE im Jahr 1982 hielt der Film darüber hinaus die Spitzenposition als erfolgreichster Film aller Zeiten. Als besonders vorausschauend erwies sich Lucas’ Vorgehen, sich die Vermarktungsrechte an seinen Filmen zu sichern. Zusammen mit den drei Prequels und weiteren drei Sequels (s. Biografie) sowie dem "erweiterten Universum" aus Büchern, Videospielen, Comics, T-Shirts und Merchandise beträgt der Wert der Reihe inzwischen über 30 Milliarden Dollar – eine späte Genugtuung für die zögerliche Finanzierung durch Fox.
Auf das gesamte Science-Fiction-Genre hatte der Film massiven Einfluss. Das gilt nicht nur für die Special Effects, sondern auch für das Konzept der "used future", dass u.a. von Ridley Scott in ALIEN und BLADE RUNNER übernommen wurde. Der Komiker Mel Brooks parodierte Figuren und Handlung in seinem Weltraumulk SPACEBALLS (USA 1987). Gegen die Produzenten der ernsthaften Weltraumoper BATTLESTAR GALACTICA, (KAMPFSTERN GALACTICA, USA 1978, R: Richard A. Colla), Pilotfilm einer erfolgreichen TV-Serie, erwirkte Fox sogar einen Prozess wegen angeblichen Plagiats.
Wichtiger war der Einfluss von KRIEG DER STERNE auf die Filmkultur insgesamt. Zusammen mit Steven Spielbergs DER WEISSE HAI gilt der Film als Startpunkt des kommerziellen Blockbusterkinos, das sich vor allem an Jugendliche und junge Erwachsene richtet. Dem künstlerischen und meist auch gesellschaftskritischen New Hollywood-Kino der 1970er-Jahre, dem Lucas und Spielberg ursprünglich selbst zugerechnet wurden, war damit ein Ende gesetzt.
Mittlerweile ist aber auch die Frage, von welchem KRIEG DER STERNE die Rede ist. Von Beginn an unzufrieden mit der verfügbaren Technik und einem knappen Budget, hat George Lucas den Film und seine diversen Nachfolger seit Aufkommen der Computer Generated Imagery (CGI) nach und nach auf den neuesten Stand gebracht und digital "verbessert" – zum Entsetzen mancher Fans. 1997, 2004 und 2011 erschienen "Special Editions" von KRIEG DER STERNE auf digitalen Trägermedien, angereichert um digitale Kulissen, neuartige Fabelwesen und eindrucksvollere Explosionen. Zum Teil wurden auch die Einstellungsgrößen verändert. Vergleiche zum Original von 1977 sind nur noch durch von Fans erstellte Videoclips im Internet möglich (siehe: Externer Link: www.youtube.com/watch?v=RNbzSH84mj0), hat doch George Lucas den Zugang zu den ursprünglichen Fassungen seit 1997 zunehmend erschwert. Letzteres ist auch der Grund dafür, dass unser Double-Feature KRIEG DER STERNE in der neuesten Version präsentiert wird. In der Zusammenschau allerdings lässt sich die Entwicklung der Spezialeffekte über die Jahrzehnte plastisch nachvollziehen. Der Film, mit dem alles begann, ist noch immer Teil dieser Geschichte.
GlossarFankultur im Science-Fiction-Genre
Science-Fiction ist ein finanziell extrem aufwendiges Genre und daher ohne ein Massenpublikum kaum denkbar. Die Fankultur des Genres steht dazu in komplexem Widerspruch. Der Science-Fiction-Fan begreift sich nicht als gewöhnliche/n Zuschauer/in. Die fast religiöse/kultische Verehrung einer Filmreihe oder Serie erkennt darin sinnstiftende Bedeutungen, die anderen verborgen bleiben. Fans etwa von STAR WARS – das Fan-Merchandise der Serie brachte bis 2015 einen Erlös von 30 Mrd. Dollar – schreiben eigene Bücher als Fortsetzungen ihrer Lieblingsgeschichte oder produzieren Mash-up-Filme im Internet. Nicht selten "korrigieren" sie dabei angebliche Fehler des Originals oder wehren sich gegen dessen "Kommerzialisierung". Auf jährlichen Treffen wie der San Diego Comic-Con International (seit 1970) erscheinen sie in Kostümen und tauschen Erfahrungen aus. Üblich ist dabei die nostalgische Erinnerung der Älteren an eine ruhmreiche Vergangenheit, die den Jüngeren verwehrt bleibt. Ein bekanntes Zitat des Science-Fiction-Herausgebers David Hartwell lautet: "Das Goldene Zeitalter der Science-Fiction ist zwölf".
Zum Weiterlesen und Schauen
Externer Link: http://www.zeit.de/2005/20/Star_Wars/komplettansicht(Essay von Georg Seeßlen über die STAR WARS-Reihe) Externer Link: http://www.telegraph.co.uk/film/star-wars--a-new-hope/movies-influences-george-lucas/(10 Filmeinflüsse von STAR WARS) Externer Link: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2006/id=4573(Historischer Artikel über Parallelen von Imperium und Nationalsozialismus) Externer Link: https://vimeo.com/32442801(Fan-Making-of) Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=RNbzSH84mj0(Vergleich Original vs Special Edition) Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=cGcpLm989-U(das musikalische Vorbild für das Hauptthema von STAR WARS aus dem Jahr 1941)
Sturmtruppen. (© picture-alliance / Mary Evans Picture Library)
Die Roboter R2-D2 und C-3PO. (© picture-alliance, kpa)
Ben-Obi-Wan Kenobi. (© picture-alliance, kpa)
Science-Fiction ist ein finanziell extrem aufwendiges Genre und daher ohne ein Massenpublikum kaum denkbar. Die Fankultur des Genres steht dazu in komplexem Widerspruch. Der Science-Fiction-Fan begreift sich nicht als gewöhnliche/n Zuschauer/in. Die fast religiöse/kultische Verehrung einer Filmreihe oder Serie erkennt darin sinnstiftende Bedeutungen, die anderen verborgen bleiben. Fans etwa von STAR WARS – das Fan-Merchandise der Serie brachte bis 2015 einen Erlös von 30 Mrd. Dollar – schreiben eigene Bücher als Fortsetzungen ihrer Lieblingsgeschichte oder produzieren Mash-up-Filme im Internet. Nicht selten "korrigieren" sie dabei angebliche Fehler des Originals oder wehren sich gegen dessen "Kommerzialisierung". Auf jährlichen Treffen wie der San Diego Comic-Con International (seit 1970) erscheinen sie in Kostümen und tauschen Erfahrungen aus. Üblich ist dabei die nostalgische Erinnerung der Älteren an eine ruhmreiche Vergangenheit, die den Jüngeren verwehrt bleibt. Ein bekanntes Zitat des Science-Fiction-Herausgebers David Hartwell lautet: "Das Goldene Zeitalter der Science-Fiction ist zwölf".
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-25T00:00:00 | 2020-02-05T00:00:00 | 2022-02-25T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/304756/star-wars-krieg-der-sterne/ | Alles zum Inhalt, zur Umsetzung und Rezeption der Welttraumoper lesen Sie hier. | [
"Filmbildung",
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"STAR WARS (KRIEG DER STERNE)",
"Filmgeschichte"
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Im Praxistest: Themenblätter im Unterricht: Gesundheitspolitik – Ende der Solidarität? (Nr. 51) | bpb.de | Gesundheitspolitik mag für Schülerinnen und Schüler auf den ersten Blick nur ein wenig reizvolles Thema darstellen. Doch auf den zweiten Blick ergeben sich daraus viele Punkte, die nicht nur in der Politik aktuell sind, sondern auch im Alltag der SuS durchaus eine Rolle spielen. Die Thematik bietet zudem sehr viele interessante und kontroverse Fragen, die im Unterricht besprochen und diskutiert werden können - Beispiele sind unter anderem bewusste Ernährung, Organspende, Impfplicht oder Sterbehilfe.
Konzeption des Materials
Die hier vorgestellten Themenblätter beinhalten im Kern zwei Arbeitsblätter zum Thema Gesundheitspolitik. Auch wenn die Materialien aus dem Jahr 2005 stammen, sind die Inhalte nach wie vor aktuell. Arbeitsblatt A legt den Fokus hauptsächlich auf das Problem der steigenden Krankenkassenbeiträge in Verbindung mit der Überalterung der Gesellschaft. Arbeitsblatt B dagegen beschäftigt sich sowohl mit dem Thema Rauchen und den Folgen für die Gesellschaft als auch mit Ernährung. Dies sind zwei Bereiche, in deren Behandlung die SuS auch stärker ihre eigenen Erfahrungen einbringen können, da hier der Lebensweltbezug deutlich größer ist. Wie gewohnt helfen Lehrerblätter (in diesem Fall vier Seiten) bei der Konzeption des Unterrichts, indem sie die didaktischen Überlegungen der Reihe erläutern, wertvolle Hintergrundinformationen zur Thematik liefern und zudem Statistiken, Diagramme und Karikaturen enthalten, die für den Unterricht genutzt werden können.
Die Materialien sind sinnvoll aufgebaut und dienen als ergiebiges Fundament für ein diskussionsorientiertes Unterrichtsgespräch. Der Fokus liegt hier vor allem auf den reflektierenden und meinungsbildenden Kompetenzen. Die Arbeitsblätter sind zudem so konzipiert, dass keine Verfassertexte nötig sind, um sich in der Thematik zurechtzufinden. Für die Lehrkraft besteht nur wenig Mehrarbeit. Die Arbeitsblätter sind vollständig methodisch-didaktisch aufbereitet und bieten Material für eine komplette Doppelstunde. Ideal wäre ein Einsatz in den Stufen 8 bis 10 der Sekundarstufe I, mit vertiefenden Aufgaben und Materialien wäre aber auch ein Einsatz in der Einführungsphase der Oberstufe vorstellbar. Fachlich – und fächerübergreifend – zeigen sich viele Möglichkeiten, sowohl für den Unterricht in Politik und Sozialwissenschaften als auch je nach Diskussionsschwerpunkt in den Fächern Gesellschaftslehre oder Philosophie.
Einsatzmöglichkeiten und Anregungen für den Unterricht
Auf dem Arbeitsblatt A findet sich eine Karikatur mit entsprechendem Arbeitsauftrag, die als Einstiegsimpuls dienen könnte und das Problem der Finanzierung von Gesundheitspolitik und Überalterung aufgreift. Die SuS haben hier die Möglichkeit, ihr Vorwissen und eigene Erfahrungen einzubringen. Je nach Ergebnislage können weitere Diskussionsschwerpunkte gesetzt werden. Ansonsten bietet sich die zweite Aufgabe auf dem Arbeitsblatt an, um sich weiter mit dem Problem der Finanzierung zu beschäftigen. Die SuS sollen vorgefertigten Thesen zustimmen oder diese ablehnen und auf Basis ihrer unterschiedlichen Meinungen in Kleingruppen diskutieren. Um die Aufgabe noch etwas ergiebiger zu gestalten, wäre es denkbar, dass die SuS in Kleingruppen eigene Ideen entwickeln, wie das Problem der Überalterung und der steigenden Kassenbeiträge gelöst werden könnte. Zudem könnten durch die Lehrkraft weitere Thesen genannt werden, die aktuelle Entwicklungen in der Gesundheitspolitik berücksichtigen. Als mögliches Beispiel zu nennen wäre der Vorschlag, kleinere Krankenhäuser zugunsten zentraler Großkliniken zu schließen, um die Versorgung ökonomischer zu gestalten. Man könnte an dieser Stelle auch auf die kontroverse Debatte einer möglichen Zweiklassengesellschaft innerhalb der Krankenkassen eingehen. Dies böte sich auch als Differenzierung für die unterschiedlichen Fächer an, wenn man beispielsweise in Philosophie eher die ethischen Probleme untersucht und in Sozialwissenschaften die gesellschaftlichen.
Die letzte Aufgabe des Arbeitsblattes beschäftigt sich mit der Lebenserwartung der Menschen in verschiedenen Ländern und den entsprechenden Ausgaben im Gesundheitssystem. Als Arbeitsertrag wird eine Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen dem finanziellen Aufwand und dem "Erfolg" des Gesundheitssystems erwartet. Hier wäre es sinnvoll, aktuelle Zahlen zu ergänzen, auch um zu analysieren, inwiefern sich die Zahlen in den vergangenen 14 Jahren verändert haben.
Noch spannender - für SuS und Lehrkraft - ist das Arbeitsblatt B. Die dort behandelten Themen bieten einen deutlich größeren Lebensweltbezug. Auch werden die SuS dort mehr von ihren eigenen Erfahrungen profitieren. Die erste Aufgabe greift die Idee eines Bonussystems für einen gesunden Lebensstil auf, indem exemplarisch ein Bonus für Nichtraucher vorgestellt wird. Nach dem bereits bekannten Muster von vorgefertigten Thesen sollen die SuS hier erneut angeben, ob sie zustimmen oder ablehnen. Eine Erweiterung der Thesen ist auch hier denkbar. Methodisch könnte hier alternativ eine kleine Podiumsdiskussion erarbeitet werden, in deren Rahmen die SuS beispielsweise die Rollen eines Politikers, eines Krankenkassenlobbyisten und eines Bürgervertreters, und somit die verschiedenen Sichtweisen auf das Thema, vertreten könnten. Die Thematik des Belohnungssystems lässt sich auch auf andere Bereiche ausweiten und entsprechend diskutieren: Sollten Krankenkassen ein Bonussystem für Sport ermöglichen, also z.B. die Finanzierung von Mitgliedschaften in Sportvereinen oder Fitnessstudios? Zudem bietet das Thema Anknüpfungspunkte für Projekte wie Be Smart – Don’t Start.
Dem Thema Ernährung widmet sich der letzte Aufgabenbereich des Arbeitsblatts. Ein kontroverses Gerichtsurteil aus Schweden bietet einen interessanten Impuls: Darf Eltern, deren fünfjährige Tochter wegen ungesunder Ernährung extremes Übergewicht hat, das Sorgerecht entzogen werden? Fertige Thesen helfen den SuS hier erneut bei der Meinungsbildung. Die anschließende Aufgabe ist jedoch wenig funktional. Hier müssen Auszüge aus dem Grundgesetz erst aus einem "Buchstabensalat" entschlüsselt werden, bevor die SuS eine juristische Einschätzung geben sollen, ob ein solches Urteil auch in Deutschland denkbar wäre. Die grundsätzliche Idee ist eine mögliche Ergänzung, jedoch sollte der Auszug aus dem Grundgesetz den SuS aus zeitökonomischen Gründen eher im Klartext vorliegen.
Fazit
Die Themenblätter über Gesundheitspolitik weisen die bekannt hohe konzeptionelle Qualität der Reihe auf und bieten daher eine wertvolle Ressource für den Unterricht. Es bedarf zwar auf Grund des Erscheinungsdatums einer Aktualisierung und Ergänzung einiger Daten und Thesen, dafür erhält die Lehrkraft gutes Material für den Unterricht mit sinnvollen und schülerorientierten Impulsen, die für lebendige Diskussionen sorgen sollten. Zugriff
Interner Link: http://www.bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/36661/gesundheitspolitik-ende-der-solidaritaet
Im Folgenden als SuS abgekürzt.
Vgl.: Externer Link: https://www.besmart.info/be-smart/
| Article | Marcus Kemmerich | 2021-06-23T00:00:00 | 2019-08-14T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/rezensionen/295223/im-praxistest-themenblaetter-im-unterricht-gesundheitspolitik-ende-der-solidaritaet-nr-51/ | Gesundheitspolitik mag für Schülerinnen und Schüler nur ein wenig reizvolles Thema darstellen, jedoch gibt es viele Punkte, die nicht nur in der Politik aktuell sind, sondern auch im Alltag der SuS eine Rolle spielen. Die Thematik bietet zudem sehr v | [
"Rezension",
"Gesundheitspolitik",
"Solidarität",
"Gesundheit"
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Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern | Hintergrund aktuell | bpb.de | Rund 1,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Interner Link: Mecklenburg-Vorpommern waren am 4. September dazu aufgerufen einen neuen Landtag zu wählen. Zur Wahl standen 17 Parteien.
Wahlkampfthema: Zuwanderung
Der Wahlkampf war vom möglichen Wahlerfolg der AfD geprägt, die zu Beginn des Jahres 2016 bereits in die Landtage von Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz eingezogen war. Sowohl die rechtspopulistische AfD als auch die rechtsextreme NPD versuchten über das Thema "Zuwanderung" Wählerstimmen zu gewinnen.
Die Interner Link: SPD will Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben, dezentral unterbringen und die Integration von Geflüchteten fördern. Externer Link: In ihrem Wahlprogramm konzentriert sie sich auf die klassischen sozialdemokratischen Themen soziale Gerechtigkeit sowie Wirtschaft und Arbeit: Sie will erneuerbare Energien stärker fördern, die Kita-Gebühren weiter senken sowie die Ost-Rente an die West-Rente anpassen.
Die Interner Link: CDU spricht sich im Bereich Migrationspolitik dafür aus, abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber schnell abzuschieben; sie fordert, kontinuierlich zu prüfen, welche Herkunftsländer als sicher eingestuft werden können. Das Externer Link: Wahlprogramm der CDU dreht sich um die Themen "Heimat" und "innere Sicherheit". Demnach will die Partei die Polizei stärken und hundert zusätzliche Richter und Richterinnen einstellen. Sie will sich für mehr Fachkräfte im Land einsetzen und verspricht einen Bürokratieabbau.
Die Partei Interner Link: DIE LINKE will sich laut Externer Link: Wahlprogramm für eine sozial gerechte Gesellschaft einsetzen. Dazu gehören eine soziale Wohnungspolitik, die Förderung des Breitbandausbaus für schnelleres Internet im ländlichen Raum und die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs. Beim Thema Migration setzt DIE LINKE darauf, Zugewanderte in den Arbeitsmarkt zu integrieren und damit die Zahl unbesetzter Stellen zu senken.
Interner Link: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen auf eine "offene Gesellschaft" und die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Sie wollen die Unterbringung und Beratung von Geflüchteten, insbesondere Frauen sowie homo-, bi-, trans- und intersexuellen Menschen verbessern. Externer Link: In ihrem Wahlprogramm spricht sich die Partei dafür aus, ökologische und nachhaltige Landwirtschaft sowie erneuerbare Energien zu fördern.
Die NPD lehnt Einwanderung ab und fordert, Zugewanderte abzuschieben statt zu integrieren. Externer Link: In ihrem Wahlprogramm spricht sich die Partei für eine Verschärfung des Strafrechts in Bezug auf Sexualstraftaten aus und befürwortet einen Austritt aus der NATO und Europäischen Union. Die Partei ist gegen die Gleichstellung von heterosexuellen und homosexuellen Paaren.
Die Interner Link: AfD will die Einwanderung von Geflüchteten nach Deutschland begrenzen: Menschen sollen ihren Antrag auf Asyl künftig im eigenen Land oder in naheliegenden Aufnahmezentren stellen; auch soll die Zahl der sicheren Herkunftsländer erweitert werden. Zudem fordert sie Externer Link: in ihrem Programm für die Landtagswahl Grenzkontrollen. Die AfD will außerdem erreichen, dass die Familie mit mehreren Kindern zum gesellschaftlichen "Leitbild" wird und bezeichnet Familien mit Vater und Mutter als ihr "Fundament".
Die Interner Link: FDP spricht sich Externer Link: in ihrem Wahlprogramm dafür aus, die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen zu vereinfachen. Die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerberinnen und -bewerbern sollen durch den Bund allein getragen werden. In der Bildungspolitik befürwortet sie den Ausbau der digitalen Bildung durch E-Learning-Angebote zugunsten von Menschen im ländlichen Raum. Sie ist gegen Unternehmenssubventionen und für eine Einschränkung der staatlichen Betätigung in Unternehmen.
Nach Interner Link: Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ist Mecklenburg-Vorpommern das vierte Bundesland, das in diesem Jahr einen neuen Landtag wählt. Die nächste Wahl findet am 18. September in Berlin statt.
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Interner Link: Hintergrund aktuell (14.03.2016): Landtagswahlen in drei Bundesländern Interner Link: Schoon, Steffen: Gefestigt und begrenzt – die NPD in Mecklenburg-Vorpommern
Die Reihenfolge der hier vorgestellten Parteien mit ihren Wahlkampfthemen basiert auf der derzeitigen Sitzverteilung im Landtag Mecklenburg-Vorpommern. Die nicht im Landtag vertretenen Parteien erscheinen in alphabetischer Reihenfolge.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-04-11T00:00:00 | 2016-08-31T00:00:00 | 2022-04-11T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/233318/landtagswahl-in-mecklenburg-vorpommern/ | Mecklenburg-Vorpommern hat einen neuen Landtag gewählt. Die SPD erreichte 30,6 Prozent der Stimmen, die AfD 20,8 Prozent, die CDU kam auf 19 Prozent und die Linke auf 13,2 Prozent. Grüne, FDP und NPD scheiterten an der Fünfprozenthürde. | [
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Jüdische Gegenwart in Deutschland | Deutschland Archiv | bpb.de | Eine andere Gemeinde und ein anderes Land
"Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. [...] Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht." Mit diesem Zitat fasst der russisch-jüdische Schriftsteller Wladimir Kaminer lakonisch den Beginn einer Migrationsbewegung zusammen, in deren Verlauf sich das jüdische Leben in Deutschland von Grund auf verändert hat. Tatsächlich war es nicht der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, sondern im Gegenteil, die letzte Volkskammerregierung der DDR, die sich angesichts eines sichtbaren Antisemitismus in der Sowjetunion im Sommer 1990 dafür aussprach, ausreisewillige Juden aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die ersten jüdischen Migranten mit einem Touristenvisum nach Ostberlin eingereist und im Laufe des Jahres sollte die Zahl der Einreisenden stetig anwachsen. Im Januar 1991 beschloss schließlich die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz ein Verfahren, das künftig die Aufnahme von sowjetischen Juden als "jüdische Kontingentflüchtlinge" in das vereinigte Deutschland ermöglichen sollte. Seitdem sind über 220.000 Jüdinnen und Juden nebst ihren nichtjüdischen Familienangehörigen aus der Sowjetunion und den postsowjetischen Staaten nach Deutschland eingewandert und haben damit eine Revitalisierung jüdischen Lebens in Gang gesetzt, die historisch nicht vorauszusehen war.
Knapp 30.000 Mitglieder zählten die jüdischen Gemeinden Ende der 1980er Jahre in Westdeutschland, in der DDR waren es noch etwa 380 Gemeindemitglieder, viele davon bereits in fortgeschrittenem Alter. Ohne die Einwanderung, darin sind sich bis heute alle einig, wäre die jüdische Gemeinschaft in den kommenden Jahren kaum noch überlebensfähig gewesen. Mittlerweile lebt in Deutschland die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft auf dem europäischen Kontinent. Seit den 1990er Jahren ist die Zahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland auf 105 angewachsen. Knapp 100.000 Personen gehören gegenwärtig einer jüdischen Gemeinde an, davon sind über 90 Prozent russischsprachige Juden. Laut Schätzungen verbleibt eine etwa ebenso große Zahl außerhalb der Gemeinden. Doch es sind nicht allein die Zahlen, die einen Wandel dokumentieren. Die jüdische Gemeinschaft ist in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur größer, sondern auch sichtbarer geworden und hat sich kulturell und religiös pluralisiert.
Aber nicht nur die jüdische Gemeinschaft ist eine andere geworden, sondern auch das Aufnahmeland Deutschland. Im westlichen Nachkriegsdeutschland waren die deutsch-jüdischen Beziehungen insbesondere durch die politisch-symbolische Funktion der jüdischen Minderheit gekennzeichnet, durch ihre Anwesenheit die Demokratisierung des deutschen Staates zu legitimieren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands zeichnet sich nun ein umkämpfter Prozess ab, in dessen Zentrum die schrittweise politisch-rechtliche Anerkennung steht, eine moderne Einwanderungsgesellschaft zu sein. Die gesellschaftliche Erfahrung einer ethnischen, kulturellen und religiösen Pluralisierung hat in jüngster Zeit auch Fragen in Bezug auf ein nationales Selbstverständnis aufgeworfen, das aus der historischen Verantwortung für den Holocaust erwachsen ist und erinnerungspolitisch zwei Kollektive konstruiert: Juden als Opfer und Deutsche als Täter. Diese Konstruktion einer Erinnerungsgemeinschaft, so der Einwand von Kritikerinnen und Kritikern, folgt nicht nur einer binären Logik, sondern trägt in der Konsequenz ethnisierende Züge, weil die Erfahrungen und Erinnerungen all jener ausgeschlossen bleiben, die im Zuge von Migrationen nach Deutschland gekommen sind und im nationalen Gedenken keinen Platz haben. Wie im Folgenden am Beispiel der eingewanderten russischsprachigen Jüdinnen und Juden gezeigt werden soll, hält diese binäre Logik auch für das Verständnis der jüdischen Diaspora in Deutschland etliche Fallstricke bereit. Zum einen läuft das symbolische Bild der Opfergemeinschaft Gefahr, in Konflikt mit jenen heterogenen Entwürfen jüdischen Lebens zu geraten, die für die Gegenwart kennzeichnend sind. Zum anderen gerät es zunehmend in Widerspruch zu den vielfältigen Narrativen, die im Zuge der russisch-jüdischen Migration an Bedeutung gewonnen haben und in deren Folge sich das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland verändert hat.
Die Konstruktion des jüdischen Kontingentflüchtlings
Der Beschluss der letzten Volkskammerregierung der DDR, den sowjetischen Juden ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren, endete mit der Auflösung der DDR. Stattdessen verhängte die damalige Bundesregierung einen Aufnahmestopp und löste damit eine öffentlich-politische Diskussion aus, an deren Ende ein gesetzlich geregeltes Aufnahmeverfahren stand: Mit Beginn des Jahres 1991 konnten Juden aus der Sowjetunion als "jüdische Kontingentflüchtlinge" nach Deutschland einreisen.
Bereits in der Debatte des Deutschen Bundestags im Herbst 1990 zur Frage der Einwanderung der sowjetischen Juden finden sich rasch jene Elemente eines Deutungsmusters versammelt, welches fortan im medialen und politischen Diskurs über die jüdische Einwanderung maßgeblich ist. Der Selbstentwurf Deutschlands als "Erinnerungsgemeinschaft" und damit als Nation, die für die Verbrechen der deutschen Vergangenheit haftet, bildet den Kontext für die symbolische Deutung der russischsprachigen Juden als Angehörige einer Opfergemeinschaft. Dieses Selbstverständnis begründete in den letzten Jahrzehnten wesentlich das immer auch ambivalente Verhältnis zur jüdischen Minorität in Deutschland, das Dan Diner einmal als "negative Symbiose" bezeichnet hat. Der besondere Zeitpunkt der Debatte – Oktober 1990 – verleiht der Diskussion zusätzliches Gewicht. Im Kontext der deutschen Vereinigung wird die jüdische Einwanderung zu einem Faktor, an dem sich die Legitimität des neuen gesamtdeutschen Staates messen lassen muss. Wahrgenommen im Deutungshorizont der deutschen Geschichte, erscheinen die russischsprachigen Juden vor allem als Angehörige der Opfergemeinschaft, die durch die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten entstanden ist. Die Differenz zwischen den Opfern des Holocaust, den Überlebenden und den jüdischen Immigranten der Gegenwart scheint symbolisch aufgehoben.
Den gesetzlichen Rahmen, der die Aufnahme regeln soll, bietet das Kontingentflüchtlingsgesetz, das erstmals 1980 im Zusammenhang mit der Aufnahme vietnamesischer „boat-people“ Anwendung gefunden hatte. Die Konstruktion des "jüdischen Kontingentflüchtlings" stattet die russischsprachigen Juden mit einem Flüchtlingsstatus aus, obwohl sie in einem regulären Asylverfahren kaum Chancen auf Anerkennung als politische Flüchtlinge gehabt hätten. Faktisch ist auf diesem Weg jedoch ein rasches und unbürokratisches Einreiseverfahren geschaffen, das das Risiko der Ablehnung ausschließt. Nach dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz im Januar 1991 wird auf ein "formelles Beweiserhebungsverfahren" verzichtet, das auf einer eindeutigen Definition jüdischer Identität basiert. Mit anderen Worten, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit will Deutschland nicht erneut in die Situation geraten, zu bestimmen, wer Jude ist. Andererseits bedarf es, wie bei jeder Einwanderung, einer überprüfbaren Einreiseregelung. Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme bildet dementsprechend die ethnische Zugehörigkeit: Wer den Nachweis einer jüdischen Abstammung erbringt, kann nach Deutschland einwandern. Mit diesem Verfahren erkennt der deutsche Staat zwei verschiedene Definitionen jüdischer Zugehörigkeit an, um die fortan innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gestritten wird: Während in den jüdischen Gemeinden das orthodoxe jüdische Religionsgesetz gilt, wonach sich die jüdische Herkunft matrilinear begründet, wird nach sowjetischem Verständnis das Judentum als Nationalität verstanden und patrilinear weitergegeben. Zwei Definitionen, mit denen sich auch unterschiedliche Vorstellungen und Erfahrungen in Hinblick auf die Frage verknüpfen, was Jude sein bedeutet.
Enttäuschte Erwartungen
Während die russischsprachigen Juden anfangs den Erwartungen der deutschen Politik zu entsprechen scheinen – immerhin handelt es sich um eine Gruppe von überwiegend hochqualifizierten Migrantinnen und Migranten, die mehrheitlich aus den urbanen Zentren Russlands und der Ukraine eingewandert sind – stellt sich im Verlauf der 1990er Jahre in den lokalen und überregionalen Medien eine gewisse Enttäuschung ein, als die jüdischen Immigranten nicht dem Bild des Opfers entsprechen wollen und zudem auch die Figur des verfolgten Flüchtlings Risse bekommt. Als sich zudem herausstellt, dass die Migranten neben der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auch die Heimatpässe ihrer jeweiligen Herkunftsstaaten besitzen, regt sich insbesondere in den deutschen Behörden Unwillen. Das Reisen oder auch Pendeln steht in scharfem Kontrast zur Definition des Flüchtlings als Klient im Wohlfahrtsstaat. Flüchtlinge genießen Schutz, weil sie ihr Land verlassen müssen. Die periodische Rückkehr in die Herkunftsländer verweist dagegen auf transnationale Zugehörigkeiten und damit auf Handlungsspielräume der Immigranten, die die nationalen Grenzen überschreiten und dem staatlichen Zugriff entzogen sind. Eine Erkenntnis, die auf deutschen Amtsfluren Zweifel an der Rechtmäßigkeit des erworbenen Status aufkommen lassen.
Mehr als alles andere erweckt jedoch der Umstand Misstrauen, dass die Eingewanderten sich nicht in dem Maße den jüdischen Gemeinden anschließen, wie es von ihnen erwartet worden war. Mit der wachsenden Einsicht, dass eine beträchtliche Anzahl der jüdischen Einwanderer wenig religiös geprägt ist und diese außerhalb der Gemeinden bleiben, wächst daher der Vorwurf eines nur instrumentellen Verhältnisses zur eigenen Identität, der man sich gleichsam optional, zum Zweck der Ausreise, bedient habe, ohne weitere Bindungen daran zu knüpfen. Damit steht die Rechtmäßigkeit der jüdischen Emigration insgesamt in Frage.
Mitte der 1990er Jahre verhindert der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, dass die Aufnahme russischsprachiger Juden gestoppt wird. Die Sonderregelung für jüdische Kontingentflüchtlinge bleibt bis zum Jahr 2005 gültig und wird erst durch das lange um- und erkämpfte Zuwanderungsgesetz Deutschlands außer Kraft gesetzt – ein Vorgang, der nicht einer gewissen Ironie entbehrt.
Eine neue deutsch-jüdische Gemeinde?
In den überhöhten Erwartungen an die russischsprachigen Juden und an eine Erneuerung jüdischen Lebens zeigt sich die besondere politisch-symbolische Rolle, die der jüdischen Gemeinschaft bereits in den Nachkriegsjahrzehnten in Westdeutschland zugewiesen wurde und die sich in den Konflikten um die russisch-jüdische Migration im Verlauf der 1990er Jahre ein weiteres Mal manifestiert.
Die Bereitschaft des deutschen Staates, mit der Aufnahmeregelung die jüdische Minorität zu stärken, geht mit der Vorstellung einher, dass die Migration der Revitalisierung der jüdischen Gemeinden dienen soll und, damit verbunden, dass es die Aufgabe der jüdischen Gemeinden ist, ihre Einwanderer zu integrieren. Das Bemühen der jüdischen Gemeinden, diesen Vorstellungen zu entsprechen, beruht auf einer gemeinsam geteilten Konzeption darüber, was als eine erfolgreiche Einwanderung gilt. Danach sollen sich die jüdischen Migrantinnen und Migranten zum einen in die deutsche Gesellschaft und zum anderen in die jüdische Religionsgemeinschaft in Deutschland integrieren. Eine Anforderung, die voraussetzt, was der Mehrheit der jüdischen Immigranten vorerst fremd ist, nämlich erstens das Verständnis des Judentums als Religion und zweitens der jüdischen Geschichte als Geschichte der Juden in Deutschland.
Insbesondere die Tatsache, dass sich mit ihrem Grenzübertritt eine Re-Definition ihrer kollektiven Identität vollzieht, gehört für die russischsprachigen Juden zu einer der zentralen und problematischen Erfahrungen ihrer Migration. Waren sie in der Sowjetunion Angehörige einer nationalen Minderheit gewesen, so gelten sie in Deutschland als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft. Für die mehrheitlich säkularisierten Juden stellt dieser Wandel von einer nationalen zu einer religiösen Minderheit einen umstrittenen Prozess dar, der innerhalb der Gemeinden dauerhaft zu Konflikten führt.
Auf Seiten der alteingesessenen Gemeindemitglieder stellt sich in den ersten Jahren nach Beginn der Einwanderung Enttäuschung darüber ein, dass die Gemeinden zwar neue Mitglieder gewinnen, diese aber nicht in den Weg in die Synagoge finden würden. Die demografische Entwicklung durch die Einwanderung stellt den Integrationsanspruch der alteingesessenen Gemeindemitglieder bald in Frage. Faktisch verwandeln sich die jüdischen Gemeinden in Immigrantengemeinden, die sich aus einer Minderheit aus Alteingesessenen und einer großen Mehrheit von neuen Mitgliedern zusammensetzen.
Kreisen die Auseinandersetzungen in den jüdischen Gemeinden zwischen den russischsprachigen Juden und den alteingesessenen Mitgliedern also um die Differenz zwischen einem ethnisch-säkularen und einem religiös-kulturellen Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft, so existiert seit den 1990er Jahren ein weiteres Konfliktfeld, das im Gemeindealltag wiederholt aufbricht, nämlich die Konkurrenz der Narrative. Für die jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland bildete die Erinnerung an den Holocaust den zentralen Bezugspunkt ihres Selbstverständnisses, der auch ihr Verhältnis zur Bundesrepublik wesentlich strukturierte. Mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden zieht in die Gemeinden nun eine andere kollektive Erinnerung ein, in deren Zentrum nicht der Holocaust steht, sondern der Große Vaterländische Krieg, und, damit verbunden, der Sieg über Deutschland. Die Differenz der verschiedenen Narrative entlädt sich vielerorts am Konflikt um die Feiern zum neunten Mai, dem Tag des Sieges über den Faschismus, der in der Sowjetunion als höchster Feiertag galt. Insbesondere von der Generation der Kriegsteilnehmerinnen und Kriegsteilnehmer wird in den Gemeinden selbstverständlich eingefordert, dieses Datum öffentlich zu begehen, was anfänglich zu Unverständnis unter alteingesessenen Gemeindemitgliedern führt und Auseinandersetzungen nach sich zieht.
Scheinen sich in den jüdischen Gemeinden also zwei Erinnerungskulturen gegenüber zu stehen, in denen die einen Sieger des Krieges und die anderen die Opfer des Holocaust sind, so offenbaren transgenerationale Familienerzählungen der russischsprachigen Juden einen Vorgang der Umwertung, Verschiebung oder Überlappung verschiedener Erinnerungen, in denen sowohl der Krieg als auch das besondere Schicksal der Juden in der Sowjetunion zur Geltung kommen. Beispielhaft dafür stehen die Werke von Autorinnen wie Lena Gorelik und Katja Petrowskaja, deren Texte deutlich machen, dass sich das kommunikative Gedächtnis der jüdischen Gemeinschaft mit der Einwanderung der russischsprachigen Juden um Dimensionen von leidvollen und anderen Erfahrungen pluralisiert, die um das zentrale Narrativ des Holocaust herum einen Platz beanspruchen. Anstelle einer Gegenerinnerung handelt es sich also eher um eine Erweiterung des kollektiven jüdischen Gedächtnisses, in deren Folge sich auch das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden in Deutschland weiter wandeln wird.
Jüdische Gegenwart in Deutschland: Lebenswirklichkeiten junger russischsprachiger Juden
Die geschilderten Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinden gewinnen zusätzlich an Gewicht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie gut zwei Jahrzehnte nach Beginn der Einwanderungsbewegung mit einem Bedeutungsverlust zu kämpfen haben. Angesichts der wachsenden Überalterung und sinkenden Mitgliederzahlen blicken insbesondere kleinere und mittlere jüdische Gemeinden eher pessimistisch in die Zukunft und beklagen vor allem, dass die junge Generation fehlt.
Eine Untersuchung am Jüdischen Museum Berlin gibt nun Auskünfte darüber, wie es um die Lebenswirklichkeiten dieser jungen Erwachsenen zwischen zwanzig und vierzig Jahren steht, die als Kinder mit ihren Familien im Rahmen des Kontingentverfahrens eingewandert sind. In der quantitativ und qualitativ durchgeführten Erhebung haben wir knapp 300 Frauen und Männer aus der Gruppe der jungen russischsprachigen Juden unter anderem nach ihren Bildungs- und Berufsverläufen, ihren privaten Lebensformen, ihren jüdischen Identitätsmustern und Praxen und nach der Wahl ihrer sozialen Zugehörigkeiten gefragt, sowie danach, wie sich die Zugehörigkeit zu Deutschland gestaltet.
Tatsächlich erweist sich die Migration für die jungen Erwachsenen als sozialer und ökonomischer Erfolg, im Unterschied zu ihren Eltern, die nach der Einwanderung in hohem Maße von Arbeitslosigkeit und prekären Erwerbssituationen betroffen waren. Sie profitieren von hohen Bildungsabschlüssen und verfügen über eine überdurchschnittlich gute Erwerbssituation. Dieser Aufstieg geht jedoch mehrheitlich mit einem säkularen Verständnis ihrer jüdischen Identität einher und mit sinkenden Zahlen, was die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde angeht.
Die Kritik äußert sich zum einen an dem oftmals als abweisend und unbeweglich wahrgenommenen religiösen Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden – ein Befund, der immer wieder beispielhaft am Ausschluss der nicht-halachischen Juden festgemacht wird. Zudem, und darin sind die jungen russischsprachigen Juden nicht anders als alle anderen Angehörigen dieser Generationengruppe, entsprechen die ortsgebundenen und biografisch langfristig gedachten Mitgliedschaftsstrukturen der etablierten Gemeinden oftmals nicht den eigenen Bedürfnissen, Interessen und mobilen Lebensformen, die flexible, vorübergehende Formen der Zugehörigkeit bevorzugen. Allerdings bedeutet die wachsende Distanz zur Institution der Gemeinde bei unseren Befragten nicht notwendigerweise, dass sie sich vollständig von der jüdischen Religion und Tradition abkehren. Vielmehr lässt sich bei unseren Interviewpartnerinnen und -partnern ein Wandel im Verhältnis zwischen Religion und Individuum beobachten, der sich keineswegs auf die jüdische Gemeinschaft beschränkt und eine wesentliche Akzentverschiebung darstellt. Die Einzelnen entscheiden selbst darüber, ob, wann und zu welchem Zweck sie sich den institutionalisierten jüdischen Einrichtungen zuwenden, oder ob sie, insbesondere in urbanen Räumen, stattdessen lieber neue, posttraditionale Formen jüdisch-religiöser und kultureller Vergemeinschaftungen aufsuchen und selbst initiieren.
Lässt sich also ein Wandel der religiös-kulturellen Praxen und Zugehörigkeitsmuster innerhalb des jüdischen religiösen Feldes in Deutschland beobachten, so finden sich ebenfalls Unterschiede, was die Bedeutung und die Form von staatlicher und kultureller Zugehörigkeit betrifft. Während die Angehörigen vergangener jüdischer Migrationsgenerationen in den Nachkriegsjahrzehnten sich ihren Herkunftsstaaten wenig verbunden fühlten, finden wir heute sowohl in der ersten als auch in der zweiten Generation der russischsprachigen Juden Formen der Mehrfachzugehörigkeit vor, die geprägt sind durch die selbstverständliche Erfahrung vielfältiger Kontakte in die Herkunftsregionen, die sowohl privater wie beruflicher Natur sein können und beispielhaft für jene simultanen oder "bewegten Zugehörigkeiten" in einer globalisierten Welt stehen, in der Zugehörigkeiten und Biografien in Bewegung geraten sind und Menschen gleichzeitig in verschiedenen Welten leben.
Allerdings zeigt die Studie auch, dass Mehrfachzugehörigkeiten nicht nur das Ergebnis individueller Entscheidungen der russischsprachigen Juden sind, sondern auch die Folge von negativen Bewertungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. So schildern die Befragten sowohl Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihres Jüdisch-Seins als auch aufgrund der Tatsache, dass sie einen Migrationshintergrund haben. Mittlerweile haben Angehörige der zweiten Generation diese Erfahrungen öffentlich zu Gehör gebracht. Sowohl die bereits erwähnte Autorin Lena Gorelik als auch die Schriftstellerin Olga Grjasnowa beschreiben Erfahrungen von Diskriminierung, die nicht mit ihrer jüdischen Herkunft zusammenhängen sondern mit ihrem Status als Migrantinnen in Deutschland. Sie kritisieren die Nicht-Anerkennung von mitgebrachten Bildungstiteln und die Missachtung von Bildungserfolgen und kennzeichnen diese als strukturelles Versagen einer Gesellschaft, die auf die Herausforderungen von Einwanderungen noch immer mit Abschottung reagiert.
Schlussfolgerungen
In den Auseinandersetzungen um ein neues Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit 1989 zeichnen sich Widersprüche und Dilemmata der deutschen Politik ab, die den schwierigen Wandel von einem nationalen Selbstverständnis als "Erinnerungsgemeinschaft" hin zu der politisch zu gestaltenden Gegenwart einer modernen Einwanderungsgesellschaft gestalten muss. Zugleich dokumentieren die geschilderten Konflikte und Problemlagen auch die ambivalenten Effekte einer institutionellen und symbolischen Ordnung, die bislang prägend für die Organisationsform der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland war und die im Zuge der russisch-jüdischen Einwanderung einen Bedeutungswandel erfährt. Sichtbar wird darin vor allem, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland weniger ein "neues deutsches Judentum" darstellt, sondern vielmehr das umkämpfte Ergebnis einer sich neuformierenden jüdischen Diaspora-Gemeinschaft, deren Sinnbezüge und Organisationsformen eben nicht nur in Deutschland liegen. Allgemeiner gesprochen: Im Wandel der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland dokumentieren sich exemplarisch Spannungsverhältnisse und Konflikte, die für diasporische Gemeinschaften der Gegenwart insgesamt kennzeichnend sind. Dieser Wandel macht auf eine zentrale Herausforderung unserer Zeit aufmerksam: Zugehörigkeiten als heterogen zu akzeptieren und damit die Grenzen einer Gemeinschaft fortwährend in Frage stellen zu lassen.
Zitierweise: Karen Körber, Jüdische Gegenwart in Deutschland. Die Migration russischsprachiger Juden seit 1989, in: Deutschland Archiv, 6.10.2016, Link: www.bpb.de/234438
Wladimir Kaminer, Russendisko, München 2002, S. 9.
Zentralrat der Juden in Deutschland,Externer Link: www.zentralratdjuden.de/de/topic/5.mitglieder.html, letzter Zugriff am 20.9.2016.
Anthony Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Gesichte der Bundesrepublik, München 2007.
Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003.
Hanno Loewy, Hanno, Ein kurzer, verschämter, paradoxer Augenblick des Einverständnisses. Deutsche Identitäten vor und nach dem Holocaust, in: Frankfurter Rundschau, 7. Oktober 2000, S. 21.
Dan Diner, Negative Symbiose, in: ders. (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 185–197.
Das Kontingentflüchtlingsgesetz von 1980 erlaubt die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus der Genfer Konvention, wenn sich die Antragsteller noch im Herkunftsland oder in einem Drittstaat befinden, ohne dass ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen werden muss. Vgl. Kay Hailbronner, Ausländerrecht. Ein Handbuch, Heidelberg 1989.
Die Verteilung der jüdischen Kontingentflüchtlinge wurde vom Bundesverwaltungsamt in Köln in Absprache mit den Bundesländern auf der Grundlage des Asylverteilungsschlüssels, das heißt nach der Einwohnerdichte der jeweiligen Bundesländer, übernommen. Darauf erfolgte die Einreisegenehmigung. Es bestand ein verbriefter Anspruch auf unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und auf Sozialleistungen wie Eingliederungshilfen (zum Beispiel Sprachkurse), Sozialhilfe, Wohnungsgeld, Kindergeld oder BAföG. Mit Abschluss eines anerkannten Sprachkurses konnten Leistungen des Arbeitsamtes (Weiterbildung, Umschulung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) in Anspruch genommen und nach acht Jahren konnte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt werden. Vgl. Julius H. Schoeps, Willi Jaspers und Bernhard Vogt (Hg.), Russische Juden in Deutschland. Integration und Selbstbehauptung in einem fremden Land, Weinheim 1996, S. 31ff.
Vgl. ausführlich hierzu: Karen Körber, Juden, Russen, Emigranten. Identitätskonflikte jüdischer Einwanderer in einer ostdeutschen Stadt, Frankfurt am Main 2005.
Nach Verhandlungen mit dem Zentralrat ist ein Kompromiss zur Neuregelung der jüdischen Einwanderung gefunden worden, der seit 1. Juli 2006 gilt und die ursprünglichen Aufnahmebedingungen entschärft, aber weiterhin zur Auflage macht, dass die Einreisewilligen Mitglied einer jüdischen Gemeinde werden können und bereit sind, die jüdischen Gemeinden zu stärken. Zentralrat der Juden in Deutschland, Externer Link: www.zentralratdjuden.de/de/topic/262.htm, letzter Zugriff am 20.9.2016.
Karen Körber, Pushkin oder Thora? Der Wandel der jüdischen Gemeinden in Deutschland, in: José Brunner und Shai Lavi (Hg.), Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37, Göttingen 2009.
Lena Gorelik, Die Blockade war immer da, in: Lena Muchina, Lenas Tagebuch, München 2013, S. 7–13.
Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther, Berlin 2014.
Karen Körber, Zäsur, Wandel oder Neubeginn. Russischsprachige Juden in Deutschland zwischen Recht, Repräsentation und Realität, in: Karen Körber (Hg.): Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel, Göttingen 2015, S. 13–36.
Ebd., S. 31.
Sabine Strasser, Bewegte Zugehörigkeiten. Nationale Spannungen, Transnationale Praktiken, Transversale Politik, Wien 2009.
Vgl. Lena Gorelik, "Sie können aber gut Deutsch!" Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft, München 2012 und Olga Grjasnowa, Deutschland Deine Dichter – bunter als behauptet, in: Die Welt, 8. Februar 2014.
| Article | Karen Körber | 2022-02-14T00:00:00 | 2016-09-22T00:00:00 | 2022-02-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/234438/juedische-gegenwart-in-deutschland/ | In den vergangenen zwei Jahrzehnten kam eine Viertelmillion russischsprachiger Juden nach Deutschland. Die neue Generation brachte ein anderes Selbstverständnis mit – aber nicht nur die jüdische Gemeinschaft ist eine andere geworden, sondern auch das | [
"Jüdische Gemeinschaft",
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] | 31,041 |
Ende der Apartheid | bpb.de | Guten Morgen!
🗳️ Am 17. März 1992 stimmten mehr als zwei Drittel der weißen und stimmberechtigten Bürger/-innen Südafrikas🇿🇦 für ein Ende der Apartheid. Zwei Jahre später wählte das Land mit Nelson Mandela erstmals einen schwarzen Präsidenten.
🎧 Mehr zur Geschichte und dem Ende der Apartheid hörst Du in unserer Audio-Nachricht.
📄 Die Nachricht zum Nachlesen findest Du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1081
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-30T00:00:00 | 2022-03-17T00:00:00 | 2023-01-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/506283/ende-der-apartheid/ | Am 17. März 1992 stimmten mehr als zwei Drittel der weißen und stimmberechtigten Bürger/-innen Südafrikas für ein Ende der Apartheid. Zwei Jahre später wählte das Land mit Nelson Mandela erstmals einen schwarzen Präsidenten. | [
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Editorial | Terrorismus | bpb.de | Einleitung
Innere und äußere Sicherheit sind innerhalb kurzer Zeit durch die Terroranschläge sowie den militä- rischen Einsatz in Afghanistan zu einem zentralen Thema geworden. In diesem Heft werden die seit- herigen Entwicklungen bilanziert, und zwar zu den Aspekten Terrorismus, Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik mit den Schwerpunkten USA, Afghanistan und den Vereinten Nationen sowie schließlich, innenpolitisch, mit einem Überblick über den Islamismus in Deutschland.
Auf die Verschränkung innerer und äußerer Sicherheit - sowohl politisch wie im Bewusstsein der Bevölkerung - macht Manfred Funke in seinem Essay aufmerksam. Unser Land bildet dabei keine Ausnahme, doch sind hier, geprägt durch unsere Vergangenheit, besondere Befindlichkeiten zu konstatieren. Sie lassen das traditionelle Spannungsverhältnis von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik bis in die Tagespolitik hinein wieder aktuell werden.
Der Terrorismus in seinen neuen Dimensionen, wie sie Kai Hirschmann systematisch aufzeigt, dürfte kein vorübergehendes Phänomen sein. Dies wird in den Tagesaktualitäten gern verdrängt. Die zugrunde liegenden Motive, soweit sie rational erfassbar sind, verweisen darauf: Die vom "Westen" ausgehende Globalisierung mit ihren tiefgreifenden Veränderungen von Einflüssen und Werten wird weiterhin gewalttätige Reaktionen hervorrufen. Die Antwort darauf darf sich jedoch nicht auf Abwehr und Gegengewalt beschränken.
Die Außenpolitik der USA hat sich nach dem 11. September 2001 deutlich gewandelt: Mit dem Aufbau einer weltweiten Antiterrorkoalition wurden alte Rivalitäten überbrückt, vorher so nicht zu vermutende Allianzen gebildet und frühere Randstaaten des Weltgeschehens rücken in den Mittelpunkt des Interesses. Christian Hacke gibt einen Überblick über diese Veränderungen und ihre möglichen Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen.
Das militärische Eingreifen der USA hat in Afghanistan überraschend schnelle Erfolge gezeitigt. Sie sind die Grundlage für die nun folgende politische bzw. staatliche Neuordnung - die wohl wichtigste Zielsetzung der Konferenz auf dem Petersberg. August Pradetto bilanziert neben einer Analyse der derzeitigen Situation die Erfahrungen aus ähnlichen so genannten Statebuilding-Prozessen unter Beteiligung der Vereinten Nationen. Der Fall Afghanistan scheint indes besonders kompliziert zu sein.
Eine etwas andere Sicht auf die Ereignisse um den 11. September vermittelt Ernst-Otto Czempiel. Er verweist auf deren Hintergrund, auf mögliche Motive im Zusammenhang einer Weltordnung, deren internationales Beziehungsgeflecht sich neu zu orientieren beginnt. Nehmen die westlichen Industriestaaten ihre eigene Dominanz sowie die Globalisierung als etwas überwiegend Positives wahr, so empfinden dies weite Teile der Welt immer mehr eher als Bedrohung. Die aktuelle Herausforderung einer staatlichen Strukturbildung für Afghanistan sollte Anlass sein, globale Sicherheit als etwas Gemeinsames zu verstehen.
Der Terroranschlag in New York hat verstärkt auch den Blick auf islamistische Organisationen in Deutschland gelenkt. Zu Recht wird dabei betont, dass die große Mehrzahl der in unserem Land lebenden Muslime mit solchen Gewaltakten nichts zu tun hat und sich davon distanziert. Dem Wirken extremistischer Gruppierungen hingegen, über die Armin Pfahl-Traughber berichtet, muss auch im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft entgegengetreten werden. | Article | Klaus W. Wippermann | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-04T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25820/editorial/ | Bilanz der Entwicklungen seit dem 11. September: Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik mit den Schwerpunkten USA, Afghanistan und den Vereinten Nationen sowie ein Überblick über den Islamismus in Deutschland. | [
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Bilder aus einem fremden Land | AV-Medienkatalog | bpb.de | Produktion: Chronos-Film, Berlin 1971 Format: 84 Min. - VHS-Video - s/w Stichworte: Deutschland 1933-1945 - Deutschland nach 1945 - Geschichte - Nationalsozialismus - Weltkrieg II FSK: 12 Jahre Kategorie: Dokumentarfilm
Inhalt: Ein Bericht über die letzte Phase des Zweiten Weltkrieges und die erste Zeit nach der Kapitulation Deutschlands bis 1946, der ausschließlich aus dokumentarischem Material zusammengestellt wurde: Ausschnitte aus englischen, russischen, amerikanischen, französischen und deutschen Wochenschauen. Fremdsprachliche Berichte werden mit unterlegtem Kommentar übersetzt. In Rückblenden (NS-Reden, Ausschnitte aus NS-Propagandafilmen) wird zusätzlich versucht, Erklärungszusammenhänge herzustellen. Kommentar, Bildauswahl, Schnitt- und Akustikeffekte schaffen atmosphärische Dichte, wecken Betroffenheit und fesseln die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Aufgrund seiner Länge ist der Film im Schulunterricht nur bedingt einsetzbar, kann aber in Einzelbereiche Endphase der Kriegshandlungen und Neuanfänge in der Sowjetischen Besatzungszone geteilt werden. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-10-17T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146380/bilder-aus-einem-fremden-land/ | Ein Bericht über die letzte Phase des Zweiten Weltkrieges und die erste Zeit nach der Kapitulation Deutschlands bis 1946, der ausschließlich aus dokumentarischem Material zusammengestellt wurde. Aufgrund seiner Länge ist der Film im Schulunterricht n | [
"Deutschland 1933 - 1945",
"Deutschland nach 1945",
"Geschichte",
"Nationalsozialismus",
"Weltkrieg II."
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Cécile Wajsbrot: Zuhause in der Literatur | Deutschland Archiv | bpb.de | Sigrid Brinkmann: Sie sind in den 1960er-Jahren zur Schule gegangen, und obwohl die Kapitulation Deutschlands 20 Jahre zurück lag, war es bestimmt nicht opportun, die Sprache eines Landes zu lernen, das in zwei Weltkriegen so viel Leid über Menschen gebracht hat. Auch der 1963 geschlossene Élysée-Vertrag hat den Blick auf die Deutschen nicht so rasch verändert. Warum wollten Sie Deutsch lernen?
Cécile Wajsbrot: Ich habe mich nicht dafür entschieden. Es war der Wunsch meiner Großmutter. Sie dachte, wenn ich Deutsche lerne, würde ich verstehen, was sie mir auf Jiddisch sagen möchte. Jemandem Jiddisch beizubringen, das war in jener Zeit undenkbar. Es war ja noch gar nicht so lange her, dass es gefährlich gewesen war, Jiddisch zu sprechen. Es war eine verbotene Sprache. Meine Großmutter wollte Jiddisch wie eine Geheimsprache mit mir nutzen. In den 1960er-Jahren war es üblich, zuerst Englisch zu lernen, dann Deutsch. Die Schüler, die Deutsch als erste Fremdsprache wählten, waren ein bisschen verdächtig. Waren die Eltern etwa Kollaborateure gewesen? Es war selten, dass jüdische Kinder in Frankreich Deutsch lernten. Die Kinder meines Onkels sprechen Spanisch. Meine Mutter wurde in Frankreich eingeschult. Sie ist mit der französischen Sprache aufgewachsen, während meine Großmutter und mein Vater Französisch nur vom Hörensagen gelernt haben. Sie haben es mit einem starken Akzent gesprochen, sich aber sowieso meist auf Jiddisch unterhalten. Ich hatte Jiddisch immer im Ohr. Die Lieder, die sie mir vorgesungen haben, kannte ich alle auswendig. Einmal war ich mit meinem Vater unterwegs und habe in der Métro Lieder von Yves Montand und jiddische Lieder gesungen. Ich war noch ein Kind und habe diese Szene vergessen, aber mein Vater hat sich damals sehr dafür geschämt. Das hat er mir viel später, als ich schon erwachsen war, erzählt. Obwohl es mir durch den Klang des Jiddischen vertraut war, blieb Deutsch für mich lange die Sprache des Feindes. Es war immer so, als würden sich beim Sprechen Schleusen öffnen und wieder schließen. Im Englischen fühlte ich mich frei. Die deutsche Sprache hat mir das nie gegeben. Selbst heute noch nicht.
Sigrid Brinkmann: Wo sind Sie aufgewachsen?
Cécile Wajsbrot: Ich bin in Neuilly, einem westlichen Vorort von Paris, aufgewachsen. Das ist eine sehr bürgerliche Gegend, deren Bevölkerung damals aber noch gemischter war als heute. Im Kindergarten habe ich die sozialen Unterschiede nicht gespürt, auch in der Grundschule fiel das noch nicht so ins Gewicht, aber in die oberen Klassen des Gymnasiums schafften es fast nur Bürgerkinder. Dort habe ich die Kluft zwischen mir und den anderen klar wahrgenommen.
Sigrid Brinkmann: Die Zeit der Kollaboration des Vichy-Staates mit Nazideutschland war ja kaum vorbei, als Frankreich im September 1945 Kolonialtruppen nach Indochina schickte. Und 1954 zogen Berufssoldaten von dort aus nach Algerien weiter, wo eine große Armee acht Jahre einen nicht zu gewinnenden Krieg führte. Frankreich befand sich mehr als zwei Jahrzehnte im Krieg. Wurde damals über diese Kontinuität gesprochen
Cécile Wajsbrot: Meine erste politische Erinnerung ist mit dem Wort OAS verknüpft. Die OAS war eine paramilitärische Geheimorganisation von Rechtsextremisten, die verhindern wollte, dass Algerien unabhängig wurde. Sie haben Anschläge verübt, auch in Paris, und Angst verbreitet. Es herrschte eine sehr angespannte Stimmung. An Diskussionen über den Algerienkrieg kann ich mich nicht erinnern, über den Zweiten Weltkrieg schon.
Sigrid Brinkmann: Hat Ihre Mutter Ihnen erzählt, dass sie 1942 in Paris einer Massenfestnahme entgangen ist und wie sie im Versteck überlebt hat?
Cécile Wajsbrot: Meine Mutter hat mir zum ersten Mal etwas erzählt, nachdem meine Großmutter gestorben war. Meine Großmutter hatte in der Familie das Sagen gehabt und bestimmt, wie viel ich wissen durfte. Zu meinem Vater hatte ich keinen engen Kontakt. Wir haben wenig miteinander gesprochen. Als meine Schwester 1960 geboren wurde, habe ich vier Wochen mit meiner Großmutter auf der Île de Ré verbracht. Von dieser Reise ist mir nur das Bild von einem Trauerzug schwarz gekleideter Menschen in Erinnerung geblieben. Weil sie nicht wollte, dass ich Angst vor dem Tod bekomme, sagte sie, dass der Mensch gestorben sei, weil er böse war. Und daraufhin soll ich gesagt haben, dann war er ein Deutscher. Was ja doch beweist, dass ich als Sechsjährige schon vom Krieg gehört haben muss. Aber die Urszene - wie meine Großmutter mir erzählte, dass mein Großvater deportiert und in Auschwitz ermordet wurde - ist in meinem Gedächtnis ausgelöscht.
Sigrid Brinkmann: Wann sind Sie das erste Mal nach Deutschland gereist?
Cécile Wajsbrot: Das war 1974, ich war 20 Jahre alt. Damals hatte ich das Gefühl, eine Schwelle zu überschreiten. Es hat geholfen, nicht allein zu sein. Eine Tante väterlicherseits und eine Cousine sind mit mir gereist. Wir waren nur ein paar Tage unterwegs, zuerst in Basel, dann in Freiburg. Übernachtet haben wir auf Campingplätzen. Wirklich lebendig in meiner Erinnerung ist eine skurrile Szene. Meiner Tante gehörte ein Elektroladen. Einmal hatte ein deutscher Kunde sie gebeten, mit D-Mark zahlen zu dürfen, denn er hatte nicht genügend französisches Geld bei sich. Als sie nun in Freiburg an einer Tankstelle aus ihrem Portemonnaie einen Geldschein zog, auf dem der Kopf von Karl Marx geprägt war, dachte ich, da stimmt was nicht. Der Tankwart hat so dermaßen verblüfft geguckt. Es waren hundert Ostmark. Natürlich hat er die nicht angenommen. Drei Jahre später bin ich zusammen mit französischen Freundinnen durch Deutschland gereist. Mit Gleichaltrigen unterwegs zu sein, von Koblenz, durchs Rheintal nach Bayern und Salzburg, mit einem 2CV, das war toll. Ein Gefühl von Freiheit. Selbst Neuschwanstein haben wir mitgenommen. Die Stimmung war gut. Die Freundinnen waren nicht jüdisch. Von meiner Familiengeschichte wussten sie nichts. Ich konnte sie damals mit niemandem teilen, der nicht zur Familie gehörte. Es gab kein kollektives Gedenken für die Opfer der Shoah. Es braucht auch, wie der Soziologe Maurice Halbwachs es beschrieben hat, eine kollektive Erinnerung, damit eine individuelle Erinnerung entstehen kann.
Cécile Wajsbrot an ihrem Schreibtisch in Berlin (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Sigrid Brinkmann: Und wann haben Sie Berlin für sich entdeckt? Cécile Wajsbrot: Erst 1995. Ich hatte eine deutsche Freundin, die ich immer wieder in Bonn und Hamburg besucht habe, aber nach Berlin konnte ich einfach nicht. Für mich war dort alles mit dem Dritten Reich verbunden. Selbst der Name Berlin klang in meinen Ohren unheimlich. Als die Mauer fiel, war es, als ob auch in mir eine Mauer einriss. Es hat dann doch noch ein paar Jahre gedauert bis zur ersten Reise nach Berlin. Fünf Tage lang sind mein Mann, ein Sohn und ich in der Stadt herumgezogen. Als wir dann mit dem Zug nach Litauen weiterfuhren, wusste ich, dass ich mich gern länger in Berlin aufhalten würde. Auch zum Schreiben. Im Jahr 2000 habe ich dann sechs Wochen in der Stadt verbracht. Ich hatte ein DAAD-Stipendium für mein Romanprojekt Mann und Frau den Mond betrachtend bekommen. Ein Schriftsteller weiht in Berlin eine Straße ein, die den Namen des Malers Caspar David Friedrich trägt. Die ganze Stadt ist eine Baustelle. Überall sieht man Baukräne und halbfertige Gebäude. Es entsteht etwas Neues, aber der Autor behält vor allem die noch immer sichtbaren Ruinen, die geschichtlichen Trümmer im Blick. Neun Gemälde von Caspar David Friedrich werden in meiner Fiktion zu Bildern unserer Zeit. Ich habe damals die Stadt kreuz und quer durchstreift, ich war ständig draußen. Und abends vorm Einschlafen habe ich mir mindestens zehn neue Wörter, die ich tagsüber gelernt hatte, eingeprägt. Ich habe Radio
Cécile Wajsbrot
gehört, 3sat geschaut, deutsche Zeitungen und Bücher gelesen. Mein Vater war in jener Zeit bereits seit drei Jahren an Alzheimer erkrankt und brauchte intensive Pflege. Um die Hilfe zu koordinieren, musste ich in Paris täglich mehrere Telefonate führen, und natürlich habe ich ihn auch besucht. Das war sehr kräftezehrend. In Berlin war ich zum ersten Mal frei von diesen Aufgaben.
Sigrid Brinkmann: Sie haben in einem Vortrag erwähnt , dass es Ihnen in Deutschland leichter fiel, im privaten Kreis mit Gleichaltrigen oder Jüngeren über Ihre Familiengeschichte zu sprechen. Woran lag das?
Cécile Wajsbrot: Meiner deutschen Freundin hatte ich in den Siebzigerjahren meine Familiengeschichte erzählt, den französischen Freundinnen nicht. Wir, die Nachgeborenen, haben – obwohl wir nicht auf derselben Seite stehen - ein gemeinsames Problem mit der Vergangenheit. Wir sind keine direkten Zeugen, aber wir können miteinander ins Gespräch kommen. Es hat mich geprägt, dass in meiner Kindheit und auch in meiner Jugend kaum über die Kollaboration des französischen Staates gesprochen wurde. Natürlich wurde uns im Gymnasium Alain Resnais‘ Dokumentarfilm Nacht und Nebel gezeigt. Aber es geht darin nur um die Schuld der Deutschen, nicht um die Kollaboration und noch weniger um die Rolle der Vichy-Regierung bei der Deportation jüdischer Menschen aus Frankreich. Im Film sieht man einen Polizisten, aber das Bild wurde retuschiert. Man kann nicht erkennen, dass er Franzose ist. Das ist doch unglaublich. Man hat uns etwas vorgeführt, ohne den Kontext herzustellen. Seit meinem zehnten Lebensjahr bin ich zu den jährlichen Gedenkfeiern in Pithiviers und Beaune-la-Rolande gefahren. Mein Großvater war aus dem Internierungslager in Beaune-la-Rolande nach Auschwitz deportiert worden. Meine Großmutter wollte diese Geschichte wirklich an mich weitergeben, und das ist ihr gelungen. Aber die Last war schwer. Hätten wir im Marais-Viertel gewohnt, wo viele Menschen mit einer ähnlichen Erfahrung lebten, hätte ich vielleicht jemanden gefunden, mit dem ich außerhalb der Familie darüber hätte sprechen können, aber in Neuilly war das unmöglich.
Sigrid Brinkmann: Sie pendeln seit vielen Jahren zwischen Paris und Berlin. Einige Bücher sind in Berlin entstanden: Mann und Frau den Mond betrachtend haben Sie erwähnt. Fugue ist ein sehr persönliches Stadterkundungsbuch, inspiriert von Aufnahmen der Fotografin Brigitte Bauer. In Mémorial / Aus der Nacht macht die Ich-Erzählerin in Berlin Halt und wartet auf den Zug, der sie nach Kielce bringen soll. Kielce ist die polnische Heimatstadt Ihrer Vorfahren. Ist Berlin für Sie immer noch die Stadt, die Sie anregt, Fiktionen zu schreiben?
Cécile Wajsbrot: Ich habe das Gefühl, dass ich anders und besser schreibe, seitdem ich auch in Berlin lebe. Ich habe keine Erklärung dafür, aber die Stadt hat mein Schreiben verändert. Die Resonanz auf mein erstes Buch in Deutschland war gut. Ich fand, dass die Kritik es umfassender interpretiert hat als in Frankreich, und ich denke, ich habe mich hier literarisch stärker entwickeln können. In Frankreich hatte ich lange das Gefühl, zu allererst ein Mitglied meiner Familie zu sein. Hier bin ich einfach und vor allem eine Schriftstellerin.
Sigrid Brinkmann: Die Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und in die Akademie der Künste Berlin sind große Auszeichnungen. Wie können Sie sich dort einbringen als Grenzgängerin zwischen Frankreich und Deutschland?
Cécile Wajsbrot: Natürlich hat es mich sehr berührt, dass ich in die Akademie in Darmstadt gewählt wurde. Als ich davon erfuhr, hatte ich aber auch einen irgendwie selbstredenden Traum. Jemand sagte zu mir: „Naja, also Dichtung schreiben Sie schon, aber die Sprache …“. Also, ich habe schon das Gefühl, dass ich nicht ganz legitim bin wegen der Fehler, die ich beim Sprechen mache. Und ich habe auch immer ein wenig Angst, dass ich die anderen nicht völlig verstehe oder ich mich nicht ausreichend ausdrücken und verständlich machen kann. Aber ich bringe mich natürlich gern ein, ob es nun um Themen geht, die Frankreich und Deutschland betreffen oder andere.
Sigrid Brinkmann: Für Ihr literarisches Werk sind die Musik und die Malerei als formgebende Elemente immer wichtiger geworden. Konstant beschäftigen Sie sich in ihren Büchern mit dem, was die Geschichte des 20. Jahrhunderts angerichtet hat - mit Gesellschaften und im Leben einzelner. In Deutschland und Frankreich sitzen nationalistisch denkende und agierende Politiker:innen in Parlamenten. Hat sich für Sie das gesellschaftliche Klima in Deutschland spürbar verändert?
Cécile Wajsbrot: Das ist schwer zu sagen, weil ich in der Pandemiezeit nicht so oft wie sonst in Deutschland war. Aber ich habe schon das Gefühl, dass etwas Verdrängtes sichtbar wird, und zwar in allen Milieus. Ich muss an eine Äußerung von Hannah Arendt denken, die sie 1964 in dem berühmten Interview mit Günter Gaus gemacht hat. Er fragte, wie es war, als 1935 die Nürnberger Gesetze erlassen wurden. Sie sagte, dass die Intellektuellen für sie die Schlimmsten waren, weil sie, anders als die einfachen Leute, fähig waren, alles zu rechtfertigen. Und ich denke, das kann man auch heute beobachten, in beiden Ländern.
Sigrid Brinkmann: In Deutschland bleiben nach dem NSU-Verfahren viele Fragen offen. Es gab die antisemitischen Anschläge von Halle und die Morde in Hanau, es gibt kruden Judenhass im Netz. Es ist erdrückend. Stört es Sie, dass nach antisemitisch und rassistisch motivierten Attentaten jüdische Intellektuelle wie Sie um Einschätzungen gebeten werden?
Cécile Wajsbrot (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Cécile Wajsbrot: Wenn es um Antisemitismus geht, stört mich das nicht, obwohl er natürlich ein Problem für alle sein sollte. Was mich wirklich stört, ist, dass ich als Französin, die in Berlin lebt, als Autorin aus einer jüdischen Familie, zur Situation in Israel befragt werde. Ich bin nicht in Israel geboren. Ich bin einmal dorthin gereist, aber es ist für mich ein Land wie Korea oder Griechenland. Ich habe keine besondere Beziehung zu Israel. Die jüdische Kultur, die ich kenne, ist in Europa beheimatet, in der Diaspora. Und dass Leute in Deutschland alles vermischen und, wenn es um mich geht, immer die jüdische Herkunft betonen, das stört mich. Schlimm ist es, wenn von „der Jüdin“ gesprochen wird: das hat etwas Nazihaftes. Die Politik Israels kann ich verteidigen oder ablehnen, aber das tue ich als Bürgerin.
Sigrid Brinkmann: Marina Weisband, die als Kind 1994 mit ihren Eltern als sogenannter Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland kam, ist Publizistin und Mitglied der Partei Die Grünen. In einem Interview bemerkte sie kürzlich, dass es in Deutschland einen „pathologischen Philosemitismus“ gebe, der leicht in Antisemitismus umschlagen könne. Sehen Sie das auch so?
Cécile Wajsbrot: Ja, ich würde sogar noch weiter gehen. Es gibt eine Art von Philosemitismus, der antisemitisch ist. Es geht nicht, Menschen auf eine Identität zu reduzieren. Wenn Marina Weisband oder ich zuerst oder vor allem als jüdisch betrachtet werden, dann läuft etwas schief, selbst wenn es positiv gemeint ist. Es ist ein schmaler Grat und die Feststellung kippt ins Negative. Ich stimme ihrer Einschätzung völlig zu.
Sigrid Brinkmann: Ihre Mutter ist hoch betagt. Sie hat Sie in Berlin schon mehrmals besucht, Sie sind zusammen im Land gereist. Was fällt ihr an den Deutschen auf?
Cécile Wajsbrot: Sie hat sich inzwischen ein wenig an das Land gewöhnt. Sie besucht mich ja seit gut 15 Jahren. Aber ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ich 1994, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, eine kleine Reise mit ihr ins Elsass gemacht habe. Als wir durch Straßburg spazierten, habe ich ihr vorgeschlagen, über die Grenze nach Deutschland zu fahren, und sie hat zugestimmt. Aber sie hat sich wirklich bemüht, kein Wort Deutsch zu sprechen, obwohl sie vieles verstand. Die Leute waren nett zu uns, aber natürlich haben wir beide uns bei Leuten eines gewissen Alters immer gefragt, was die wohl in der NS-Zeit gemacht haben. Sie war angespannt, und ich war es auch. Als sie das erste Mal zu mir nach Berlin kam, war es ähnlich, aber ich habe ihr die Gedenktafeln an Häusern und die Stolpersteine gezeigt. Ihr gefiel diese Art, die Erinnerung wachzuhalten. Da ist man in Deutschland weiter als in Frankreich. Die einzigen Städte, die sie nicht mochte, sind Dresden und Görlitz. In der Rezeption unseres Hotels in Görlitz hing ein Stadtplan aus den 1930er-Jahren an der Wand. Wir übernachteten in der ehemaligen Adolf-Hitler-Straße. Auf die Frage, warum so etwas aufgehängt wird, hieß es nur, ach, der Sohn hat den Plan auf dem Dachboden gefunden.
Sigrid Brinkmann: Was bedeutet es für Sie, jüdisch zu sein?
Cécile Wajsbrot: Eine religiöse Erziehung habe ich nicht bekommen, und ich habe mich auch als Erwachsene nicht der Religion zugewendet. Ich weiß Grundlegendes, das wurde mir schon vermittelt. In den frühen 1980er-Jahren, als viele freie Radiokanäle gegründet wurden, habe ich zwei Jahre bei einem jüdischen Sender in Paris gearbeitet. In der Zeit habe ich viel über die jüdische Kultur gelernt. Ich empfinde mein Jüdischsein im Wesentlichen als Schicksalsgemeinschaft. Als jemand, der zu einer Minderheit gehört, bin ich gegen identitäre Zuschreibungen. Ich denke, dass ich andere Minderheiten gut verstehe, denn ich teile deren Erfahrung.
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Zitierweise: „Cécile Wajsbrot: Zuhause in der Literatur“, Interview mit Cécile Wajsbrot, in: Deutschland Archiv, (Datum), 20.12.2021, Link: www.bpb.de/345100
Cécile Wajsbrot an ihrem Schreibtisch in Berlin (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Cécile Wajsbrot
Cécile Wajsbrot (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Am 22.01.1963 unterzeichnen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle im Elysée-Palast eine „Gemeinsame Erklärung“ und den „Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit“ – kurz Élysée-Vertrag oder deutsch-französischer Freundschaftsvertrag (https://www.lpb-bw.de/elysee-vertrag).
Ziel der von langer Hand geplanten polizeilichen Großrazzia war die Verhaftung jener ca. 28.000 immigrierten JüdInnen, die, bereits aus anderen europäischen Ländern immigriert, ohne französischen Pass in Paris und den umgebenden Gemeinden lebten. Koordiniert von Ministerpräsident Pierre Laval und unter dem Befehl des Pariser Polizeipräfekten Jean Leguay verhafteten französische Polizisten 13.152 jüdische Frauen, Männer und Kinder in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1942. Rechtzeitig gewarnt, konnten knapp 15.000 weitere Menschen der Verhaftung entgehen. Alleinstehende oder kinderlose Männer und Frauen gelangten sofort in das Transitlager Drancy. Etwa 7.000 Menschen, unter ihnen 4.051 Kinder, außerdem Schwangere und alte Menschen, wurde übergangsweise im Vélodrome d`hiver eingesperrt - einem Radrennstadion im 15. Arrondissement nahe des Eiffelturms. Hier wurden sie fünf Tage nahezu ohne Nahrung und Trinkwasser bei großer Hitze und unter katastrophalen sanitären Zuständen festgehalten. Etwa einhundert der eingeschlossenen Menschen begingen Selbstmord, auf Flüchtende wurde geschossen. Am 20. Juli wurden die restlichen Gefangenen schließlich in die Lager Beaune-La-Rolande und Pithiviers verbracht und von dort in die deutschen Vernichtungslager im Osten deportiert. Nur 25 der über 13.000 am 16. Juli verhafteten Jüdinnen und Juden überlebten das Kriegsende. Keines der über 4.000 Kinder war darunter. Nach Kriegsende wurde die "Rafle du Vel`d`Hiv`" in Frankreich lange Zeit tabuisiert. Am 16. Juli 1995 formulierte der damalige Staatspräsident Jaques Chirac erstmals ein Schuldbekenntnis. Er sagte, dass "diese dunklen Stunden für immer die Geschichte Frankreichs beschmutzen […] An jenem Tag beging Frankreich, Heimat der Menschenrechte, einen nicht wieder gutzumachenden Schaden und lieferte seine Schützlinge an ihre Henker aus". An der Stelle, wo bis 1959 das Radstadion (Velodrom) stand, wurde im Jahre 1994 eine Gedenkplakette zur Erinnerung an die "Rafle du Vél d´Hiv" eingeweiht. Gestaltet wurde das Denkmal vom Architekten Mario Azagury und dem polnischen Bildhauer Walter Spitzer, der zu den Überlebenden von Auschwitz gehört.
1925 veröffentlichte Maurice Halbwachs die bahnbrechende empirische Studie „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“. Er zeigte, dass es sich bei Erinnerungen an die Vergangenheit um Rekonstruktionen im Lichte der Gegenwart handelt. Halbwachs lehrte Soziologie in Chicago und Paris. 1944 wurde er mit seinen in der Résistance aktiven Söhnen verhaftet. Er starb am 16. März 1945 in Buchenwald an Dysenterie. Seine Tochter veröffentlichte 1950 das nicht abgeschlossene Manuskript „Das kollektive Gedächtnis“. Es zählt zu den Standardwerken der modernen Gedächtnistheorie. https://www.buchenwald.de/1219/
Cécile Wajsbrot, Mann und Frau den Mond betrachtend (Roman), aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, München 2002.
Beim Parataxe Symposium VIII – French ReConnection, 5.6.2021 im Literarischen Colloquium Berlin, hat Cécile Wajsbrot einen Keynote-Vortrag gehalten.
Nuit et brouillard - Nacht und Nebel - ist ein französischer Dokumentarfilm über die deutschen Konzentrationslager. Für den 1955 produzierten Film nutzte Alain Resnais als Drehbuch den von Paul Celan ins Deutsche übersetzten Gedichtband Poèmes de la nuit et du brouillard. Dessen Autor Jean Cayrol verarbeitete darin seine Erfahrung als Résistancekämpfer und Insasse des KZ Mauthausen-Gusen. 2007 erschien Sylvie Lindepergs Studie Nuit et brouillard. Un film dans l’histoire (Éditions Odile Jacob) zur Entstehungsgeschichte, zu den Zensurskandalen und der internationalen Auswertung des Films.
Nach ihrer militärischen Niederlage schloss die Dritte Französische Republik am 22. Juni 1940 in Compiègne ein Waffenstillstandsabkommen mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. Am 10. Juli 1940 ermächtigte die Nationalversammlung Marschall Pétain, eine Verfassung für den État français zu verkünden. Tags darauf erklärte er sich zum Staatschef. Da die Regierung des Französischen Staates ihren Sitz in Vichy hatte, spricht man auch vom Vichy-Regime.
Fugue. Récit avec photographies de Brigitte Bauer – collection des Carnets littéraires, Éditions Estuaire, 2005.
Cécile Wajsbrot, Aus der Nacht, aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, München 2008.
Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, ZDF, „Zur Person“, ausgestrahlt am 26.10.1964.
Die Nürnberger Gesetze – auch als Nürnberger Rassegesetze bezeichnet – wurden am 15.9.1935 auf dem 7. Reichsparteitag der NSDAP einstimmig angenommen. Sie umfassten das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ und das „Reichsbürgergesetz“.
Marina Weisband, „Juden gehören in der Corona-Krise zu den Sündenböcken“, in: Berliner Zeitung, Nr. 259, 6./7. Nov. 2021, S. 6.
| Article | Sigrid Brinkmann | 2022-02-07T00:00:00 | 2021-12-20T00:00:00 | 2022-02-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/345100/cecile-wajsbrot-zuhause-in-der-literatur/ | Sie ist Schriftstellerin, Übersetzerin, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Mitglied der Akademie der Künste Berlin. Im Interview mit Sigrid Brinkmann erzählt die 1954 in Paris geborene Cécile Wajsbrot, warum ihre Großmutt | [
"Jüdinnen in Deutschland nach 1945",
"Bundesrepublik Deutschland",
"Berlin"
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Migrationspolitik – Januar 2021 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de |
Interner Link: Rund 45 Prozent der Asylantragstellenden im Januar minderjährig Interner Link: Geringer Familiennachzug zu Menschen mit subsidiärem Schutz Interner Link: Ermittlungen gegen EU-Grenzschutzbehörde Frontex Interner Link: EuGH: Mehr Schutz für minderjährige Geflüchtete Interner Link: Flüchtlingstreck in Lateinamerika gestoppt Interner Link: US-Präsident Biden: Neuer Ton in der Einwanderungspolitik Interner Link: Was vom Monat übrig blieb...
Rund 45 Prozent der Asylantragstellenden im Januar minderjährig
45,1 Prozent der Menschen, die im Januar 2021 einen Asylantrag in Deutschland stellten, waren minderjährig. Das geht aus Externer Link: Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor. Demnach nahm die Behörde im ersten Monat des Jahres insgesamt 14.448 Asylanträge entgegen, was einem leichten Anstieg von 1,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat entspricht (Jan. 2020: 14.187 Asylanträge). Dieser Anstieg ist allein auf die stark gestiegene Zahl der Asylfolgeanträge zurückzuführen. Während die Zahl der im Januar beim BAMF eingereichten Erstanträge (8.524) gegenüber dem Januar des Vorjahres um 30,2 Prozent sank (Jan. 2020: 12.212 Erstanträge), stieg die Zahl der Folgeanträge um 199,9 Prozent auf 5.924 Anträge (Jan. 2020: 1.975 Asylfolgeanträge). Die hohe Zahl der Folgeanträge ist insbesondere dem Anstieg der von syrischen Staatsangehörigen gestellten Folgeanträge geschuldet. Menschen aus Syrien bilden weiterhin die größte Gruppe der Schutzsuchenden in Deutschland, im Januar gefolgt von Menschen aus Afghanistan und Irak. Das BAMF traf im Januar 10.828 Entscheidungen in Asylverfahren. Die Gesamtschutzquote – also der Anteil an Entscheidungen, die einen Schutzstatus oder ein Abschiebeverbot begründeten – belief sich dabei auf 43,9 Prozent.
Geringer Familiennachzug zu Menschen mit subsidiärem Schutz
Jährlich dürfen 12.000 Familienangehörige von Menschen mit Interner Link: subsidiärem Schutz nach Deutschland kommen. 2020 haben allerdings nur 5.311 Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten ein Visum erhalten – obwohl zum Jahresende weltweit noch 11.400 Terminanfragen für Anträge auf Familiennachzug bei deutschen Auslandsvertretungen vorlagen. Das geht nach Medienberichten aus Zahlen des Auswärtigen Amts hervor, die die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (Die Linke) angefordert hatte.
In vielen Visastellen der deutschen Auslandsvertretungen, über die ein großer Teil des Nachzugs zu Schutzberechtigen läuft, war aufgrund der Corona-Pandemie viele Monate nur ein Notbetrieb möglich. Allerdings war das Kontingent von monatlich 1.000 Visa für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten bereits im Januar und Februar – also noch vor den pandemiebedingten Einschränkungen – nicht ausgeschöpft worden. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen Externer Link: hervor. Demnach wurden im Januar vom Bundesverwaltungsamt 785 und im Februar 738 Zustimmungen zur Visumserteilung an Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten verzeichnet.
Insgesamt ist der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten geringer als angenommen. Seit Oktober 2018 wurden weniger als 20.000 Familiennachzugsvisa ausgestellt. Das Bundesinnenministerium hatte Anfang 2018 prognostiziert, dass über den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten 300.000 Personen nach Deutschland kommen könnten. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hatte den Umfang dieser Nachzugsbewegungen dagegen deutlich niedriger Externer Link: geschätzt – auf 50.000 bis 60.000 Menschen. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten war im Zuge einer Asylrechtsverschärfung im Interner Link: Februar 2016 für zwei Jahre ausgesetzt worden. Seit August 2018 ist der Familiennachzug eingeschränkt Interner Link: wieder erlaubt – zu diesem Zweck dürfen seitdem monatlich 1.000 Visa ausgestellt werden.
Ermittlungen gegen EU-Grenzschutzbehörde Frontex
Seit Monaten reißt die Kritik an der europäischen Grenzschutzagentur Frontex nicht ab. Ihr wird vorgeworfen, in mehreren Fällen an illegalen Zurückweisungen von Geflüchteten (sogenannte Pushbacks) Interner Link: beteiligt gewesen oder diese beobachtet, aber nicht gemeldet zu haben. In einem Fall sollen auch Beamtinnen und Beamte der deutschen Bundespolizei involviert gewesen sein. Auf Drängen der EU-Kommission hatte der Verwaltungsrat von Frontex als oberste Kontrollinstanz der Agentur eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung der Vorwürfe eingerichtet. Nach Angaben des Magazins "Spiegel" wirft der interne Untersuchungsbericht der Arbeitsgruppe dem Frontex-Chef Fabrice Leggeri vor, die Untersuchung der Pushback-Vorwürfe zu verschleppen. Außerdem kritisiere die Arbeitsgruppe, dass Grundrechtsverstöße von Frontex-Einsatzkräften nicht direkt an die EU-Grundrechtsbeauftragte weitergeleitet, sondern stattdessen häufig zu den Akten gelegt würden.
Auch die interne Untersuchung durch Frontex selbst geriet in die Kritik, da es keine unabhängige Prüfung und parlamentarische Kontrolle gebe. So stütze sich die Arbeitsgruppe bei der Untersuchung der Pushback-Vorwürfe vorwiegend auf die Angaben von Frontex, nicht aber auf Zeugenaussagen und Videoaufzeichnungen der rechtswidrigen Zurückschiebungen.
Zu den Vorwürfen ermittelt auch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF). Bereits Anfang Dezember 2020 soll sie in der Frontex-Zentrale in Warschau Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vernommen und Büroräume durchsucht haben. Neben Pushbacks gehe es bei den Ermittlungen auch um Vorwürfe von "Missmanagement und Belästigung" gegen die Behördenleitung. Leggeri weist die Vorwürfe bislang zurück – auch gegenüber dem EU-Parlament. Dort fordern Abgeordnete der Grünen einen Untersuchungsausschuss, Sozialdemokraten und Linke wollen Leggeris Rücktritt. Ende Januar Externer Link: kritisierte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) die "offenbar systematische" Praxis der Zurückweisung an europäischen Staatsgrenzen. Nach geltendem Völkerrecht muss Schutzsuchenden die Möglichkeit gegeben werden, dass ihre Asylanträge individuell geprüft werden. Erst wenn der Antrag abgelehnt wird, darf eine Interner Link: Abschiebung erfolgen.
Ende Januar Externer Link: stellte Frontex seine Mission in Ungarn ein und reagierte damit auf Ungarns Missachtung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Dieser hatte Interner Link: im Dezember Teile des ungarischen Asylsystems für rechtswidrig erklärt und ein Ende illegaler Abschiebungen nach Serbien gefordert. Ungarn setzte diese Praxis jedoch fort: Die NGO Ungarisches Helsinki Committee (HHC) hat seit Dezember fast Externer Link: 600 Pushbacks an Ungarns Grenzen dokumentiert, durch die 4.903 Menschen illegal abgeschoben worden sein sollen. Einsatzkräfte der Frontex-Mission in Ungarn Externer Link: hätten dabei nicht eingegriffen, obwohl sie regelmäßig auf Zurückschiebungen aufmerksam gemacht wurden.
EuGH: Mehr Schutz für minderjährige Geflüchtete
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Rechte von Interner Link: unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten bei einer drohenden Abschiebung in ihr Herkunftsland Externer Link: gestärkt. Er Externer Link: entschied im Januar, dass EU-Mitgliedstaaten vor einer Rückführung im Sinne des Kindeswohls prüfen müssen, ob im Herkunftsland eine geeignete Aufnahmemöglichkeit existiert. Ist dies nicht der Fall, darf eine Abschiebung nicht vollstreckt werden. Mit seiner Entscheidung reagierte das Gericht auf eine entsprechende Anfrage eines niederländischen Gerichts. In den Niederlanden wird bislang bei über 15 Jahre alten minderjährigen Interner Link: Geflüchteten vor einer Abschiebung nicht geprüft, ob sie im Herkunftsland in geeigneter Weise aufgenommen werden können, etwa durch Familienangehörige. Zwar wird die Abschiebung immer erst nach Erreichen der Volljährigkeit tatsächlich umgesetzt. Dennoch erklärte der EuGH die Praxis der Nicht-Prüfung geeigneter Aufnahmemöglichkeiten für unzulässig.
Geklagt hatte ein Geflüchteter aus Ghana, der im Alter von 15 Jahren in den Niederlanden einen Antrag auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis gestellt hatte. Dieser war vom Staatssekretär für Sicherheit und Justiz abgelehnt worden, was nach niederländischem Recht als Rückkehrentscheidung gilt. Seine Klage begründete der unbegleitete Minderjährige damit, dass er nicht wisse, wo seine Eltern wohnten und ob es andere Familienangehörige gebe. Die durch den Interner Link: EuGH vorgenommene Auslegung des europäischen Rechts ist für alle Mitgliedstaaten bindend.
Flüchtlingstreck in Lateinamerika gestoppt
Guatemaltekische Sicherheitskräfte haben tausende Migrantinnen und Migranten gestoppt, die sich zu Fuß auf dem Weg in Richtung USA befanden. Es handelte sich überwiegend um Menschen aus Interner Link: Honduras. Sie hatten sich zuvor in der Stadt San Pedro Sula im Nordwesten von Honduras zusammengeschlossen. Rund 9.000 Personen wollten aufgeteilt in drei Gruppen die zentralamerikanischen Länder Guatemala und Mexiko durchqueren und in die USA gelangen. Nach eigenen Angaben wollten sie grassierender Armut, Arbeitslosigkeit und Bandengewalt in ihrem Herkunftsland entkommen.
In Guatemala wurden sie im Verwaltungsbezirk Chiquimula, der an Honduras grenzt, von Sicherheitskräften unter Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas an der Weiterreise gehindert. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) wurden dabei elf Migranten und zwei Soldaten verletzt. Tausende Migrantinnen und Migranten wurden in ihr Herkunftsland zurückgebracht. Als Reaktion auf den Flüchtlingstreck beschlossen die USA, Mexiko und Guatemala, ihre Grenzen zu schließen. Sie wollen weitere Migrationsbewegungen verhindern, da sie zur Verbreitung des Interner Link: Coronavirus beitrügen. Seit Interner Link: Oktober 2018 sind in Lateinamerika mehr als ein Dutzend Flüchtlingstrecks registriert worden.
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte in seiner Amtszeit verfügt, dass über Mexiko einreisende Asylsuchende so lange in Mexiko bleiben müssen, bis in den USA eine Entscheidung über ihren Antrag getroffen wurde. Außerdem hatte er Mexiko mit hohen Straffzöllen gedroht, Interner Link: sollte das Land Migrantinnen und Migranten nicht bereits an seiner Südgrenze abfangen. Vor diesem Hintergrund harren derzeit rund 70.000 Migrantinnen und Migranten allein im Norden des Landes aus, darunter viele, die auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten.
US-Präsident Biden: Neuer Ton in der Einwanderungspolitik
Der neue US-Präsident Joe Biden (Demokratische Partei) will seine Einwanderungspolitik an "Menschlichkeit und amerikanischen Werten" ausrichten. Seine ersten Amtshandlungen deuten eine Abkehr von der restriktiven Migrationspolitik seines Amtsvorgängers Donald Trump (Republikanische Partei) an. Bereits einige Stunden nach seinem Amtsantritt am 20. Januar Externer Link: unterzeichnete Biden mehrere Präsidialdekrete (executive orders), die Entscheidungen Trumps widerriefen: Darunter befinden sich der Interner Link: 2017 verhängte Einreisestopp für Menschen aus 13 mehrheitlich muslimischen Ländern und die angestrebte Aussetzung des Interner Link: Programms "Action for Childhood Arrivals" (DACA). Das unter Präsident Barack Obama eingeführte Programm ermöglicht Jugendlichen, die als Kinder illegal mit ihren Eltern in die USA gekommen sind, unter bestimmten Voraussetzungen eine legale Aufenthaltserlaubnis zu erlangen.
Auch den von Trump ausgerufenen Interner Link: Nationalen Notstand an der Grenze zu Mexiko beendete Biden Externer Link: per Dekret. Dieser hatte es Trump erlaubt, den Bau der von ihm im Wahlkampf versprochenen Grenzmauer zu finanzieren. Statt mit einer baulichen Befestigung will die Biden-Regierung den Grenzschutz technologisch aufrüsten. Das geht aus einem Externer Link: bereits dem US-Kongress vorgelegten Reformvorschlag für das Einwanderungssystems hervor. Dieser sieht darüber hinaus vor, dass viele der etwa Externer Link: 10,5 Millionen illegal in den USA lebenden Eingewanderten Möglichkeiten erhalten sollen, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Sie sollen zunächst eine auf fünf Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten und sich – wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen – im Anschluss für eine Green Card bewerben können, um schließlich die US-amerikanische Staatsangehörigkeit zu erlangen. Zudem sind Erleichterungen beim Familiennachzug und der Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften vorgesehen.
Um Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt in den zentralamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras und El Salvador zu bekämpfen, will Biden rund vier Milliarden Dollar investieren. Zudem schlägt er eine Überarbeitung des Asylsystems vor. Dazu hat er bereits ein erstes Dekret unterzeichnet. Es beendet die von Trump eingeführte Praxis, wonach über Mexiko in die USA eingereiste Asylsuchende so lange in Mexiko bleiben müssen, bis über ihren Asylantrag entschieden wurde.
Sollten die dem Kongress vorgelegten Reformvorschläge tatsächlich vom Parlament verabschiedet werden, würde dies die umfassendste Reform des Einwanderungssystems seit der Reagan-Regierung in den 1980er Jahren bedeuten. Sowohl George W. Bush als auch Barack Obama waren mit einer umfassenden Einwanderungsreform gescheitert. Migrationsexpertinnen und -experten Externer Link: zufolge dürfte es auch für Biden schwer werden, sich mit seinen Vorschlägen durchzusetzen und die Einwanderungspolitik neu zu ordnen. Die rund 400 migrationsbezogenen Exekutivmaßnahmen seines Amtsvorgängers ließen sich nicht alle einfach rückgängig machen. Einen ersten Rückschlag hat Biden bereits erlitten: Ein Bundesgericht in Texas verhängte eine einstweilige Verfügung gegen einen vom U.S.-Präsidenten erlassenen 100-tägigen Abschiebestopp.
Was vom Monat übrig blieb...
Die Bevölkerungszahl ist 2020 Externer Link: nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes erstmals seit 2011 nicht gewachsen. Gründe dafür seien neben einer geringen Nettozuwanderung auch gestiegene Sterbefallzahlen und weniger Geburten. Es wird geschätzt, dass 2020 zwischen 180.000 und 240.000 Personen mehr nach Deutschland zugezogen sind als im selben Zeitraum das Land verlassen haben. 2019 hatte sich der Saldo aus Zu- und Fortzügen auf 327.060 Personen belaufen, 2015 auf einen Rekordwert von 1.139.402 Personen.
Die von der Bundesregierung eingesetzte Fachkommission Integrationsfähigkeit hat nach zwei Jahren Arbeit ihren Externer Link: Abschlussbericht vorgelegt. Das aus 25 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zusammengesetzte Gremium fordert u.a., gängige Begriffe in der Debatte um Migration zu hinterfragen, so z.B. den "Interner Link: Migrationshintergrund". Stattdessen solle besser von "Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen" gesprochen werden.
Die Interner Link: Situation auf den Kanarischen Inseln spitzt sich weiter zu. 2020 gelangten bis Mitte Dezember Externer Link: 21.215 Schutzsuchende vor allem aus Marokko und Subsahara-Afrika über den Seeweg auf die zu Spanien gehörenden Inseln. Zum Vergleich: Im gesamten Zeitraum 2010-2019 waren es 7.206 Menschen. Es fehlt nach wie vor an Unterkünften und Versorgungsmöglichkeiten. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2021-02-04T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/326576/migrationspolitik-januar-2021/ | Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa. | [
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Armut, Abstieg, Unsicherheit: Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts - Essay | Abstieg - Prekarität - Ausgrenzung | bpb.de | Einleitung
Man mag es drehen und wenden wie man will, die soziale Frage steht wieder auf der politischen Tagesordnung. Schien es noch in den 1990er Jahren so, als würden Verteilungskämpfe von den "Problemen der dicken Bäuche" überlagert oder gar verdrängt werden, so sind an der Jahrtausendschwelle Knappheit und Mangel als Konfliktherde wieder aufgegflammt. Für diese Entwicklung gibt es strukturelle wie subjektive Gründe. So kann kein Zweifel daran bestehen, dass die "groben" sozialen Unterschiede zwischen Klassen und Schichten wieder an Bedeutung gewinnen. Und obwohl die Ungleichheiten in Deutschland noch immer weit geringer ausgeprägt sind als in den angelsächsischen Kapitalismen, ist Verunsicherung zur "dominante(n) gesellschaftliche(n) Grundstimmung" geworden. Konjunkturelle Belebung und Rückgang der Arbeitslosenzahlen haben daran bislang wenig geändert. Umso bemerkenswerter ist, wie Teile der Eliten, aber auch der Bevölkerung auf diese Entwicklung reagieren. Seit nunmehr 30 Jahren mit Massenarbeitslosigkeit und ihren Folgen konfrontiert, neigen sie noch immer zur Verharmlosung sozialer Verwerfungen. "Marginale Armut" als Folie
Von außen betrachtet erscheint der deutsche Fall daher als "paradox". Denn eigentlich sind Reaktionen charakteristisch für Gesellschaften, die Armut und Prekarität erfolgreich marginalisieren. Solche Gesellschaften hatten sich im Westen in den Jahren der außergewöhnlichen Nachkriegsprosperität herausgebildet. Es entstand, was Karl Marx noch für undenkbar gehalten hatte: ein Kapitalismus "ohne industrielle Reservearmee". So gelang es nicht nur, den prekären Charakter von Lohnarbeit mittels sozialer Rechte und garantierter Partizipationsansprüche zu entschärfen, sondern auch die Armut zu zähmen. Sie verschwand zwar nicht, erschien aber mehr und mehr als Problem gesellschaftlicher "Randschichten". Der Anteil der Familien, die mit einem Einkommen unterhalb der relativen Armutsgrenze (weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens) auskommen mussten, lag 1962 in der Bundesrepublik noch bei elf Prozent; 1973 war er bereits um ein Drittel reduziert.
"Marginale Armut" entfaltete sich im Wesentlichen außerhalb der tariflich und gesetzlich geschützten Lohnarbeit. Es handelte sich um eine Armut von Minderheiten mit großer Nähe zu den "sozial Verachteten", den circa fünf Prozent am untersten Rand der Gesellschaft. Wenn auch nicht vollständig mit diesen Gruppen identisch, so entsprach der harte Kern der Armen doch jenen, die zu eigenständiger Existenzsicherung nicht fähig schienen und daher auf Fürsorgeleistungen der Gesellschaft angewiesen waren. Diese Form der Armut gesellschaftlicher "Randschichten" eignet sich bis heute hervorragend für individualisierende Problemdeutungen. Jener Mehrheit der Beschäftigten, für die Lohnarbeit zur Basis einer halbwegs stabilen, längerfristigen, zukunftsorientierten Lebensführung geworden war, galten die randständigen Armen in der Vergangenheit bestenfalls als Hilfsbedürftige. Häufig dienten die "Schmuddelkinder" (Franz Josef Degenhardt) aber auch als Projektionsfläche für negative Klassifikationen und Schuldzuschreibungen. In jedem Fall befanden sich die Armen in einer eigenen Welt. Der Pauperismus - die Armut zur Zeit der Frühindustrialisierung - schien für die Mehrheiten in den Lohnarbeitsgesellschaften erledigt und allenfalls als Problem von Fürsorge- und Wohlfahrtseinrichtungen relevant. Übergang zu "disqualifizierender Armut"
Dies hat sich gründlich geändert - und das nicht nur, weil die relative Armut schon zu Beginn des Jahrzehnts wieder das westdeutsche Niveau der 1960er Jahre erreicht hatte. Auch die integrierten Schichten werden inzwischen von den Folgen der rasanten Veränderungen erfasst. Das gesamte Projekt der "organisierten Moderne", das in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in Ost und West abhängige Erwerbsarbeit in ein gesellschaftliches Integrationsmedium verwandelt hatte, ist an seine Grenzen gestoßen. Mit dem Niedergang dieses Projekts zerfällt auch jenes Regime der "organisierten Zeit", das es dem Gros der Lohnabhängigen erlaubt hatte, "eine langfristige Arbeit im Dienste eines Unternehmens in Zusammenhang mit bestimmten Einkommenszuwächsen zu bringen". Zerfall bedeutet freilich nicht abruptes Verschwinden. In Deutschland befindet sich die Mehrzahl der Beschäftigten formal noch immer in geschützter Beschäftigung. Diese Mehrheit definiert die gesellschaftlichen Standards für Einkommen und Beschäftigungssicherheit. Das geschieht jedoch in einem radikal veränderten gesellschaftlichen Umfeld. Unter dem Druck von wirtschaftlicher Internationalisierung und deutscher Vereinigung hat sich der für den sozialen Kapitalismus prägende "Zug zur Mitte" in eine neue Polarisierung von Arm und Reich verkehrt, so dass selbst konservative Zeitdiagnostiker von einer "neuen Klassengesellschaft" sprechen. In diesem Kontext vollzieht sich der Übergang von "marginaler" zu "disqualifizierender Armut". Davon betroffen sind in größerem Ausmaß zuvor integrierte Bevölkerungsteile, die aus der "produktiven Sphäre" hinausgeschleudert werden und "hinsichtlich ihrer Einkommens-, Wohnungs- und Gesundheitssituation mit immer prekärer werdenden Situationen zu kämpfen" haben. Drei Kristallisationspunkte von Prekarität
Angesichts dieser Entwicklung ist die soziale Frage weniger denn je ein exklusives Problem "sozialer Randschichten". Und sie ist auch nicht identisch mit der Zunahme der Anzahl von Armen, deren Abstand zu den gesicherten gesellschaftlichen Positionen ("Armutskluft") beständig wächst. "Prekäre Situationen" bündeln sich an mindestens drei Kristallisationspunkten: Am unteren Ende der sozialen Hierarchie befinden sich jene, die schon Karl Marx als "Überzählige" der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft bezeichnet hatte. Zu ihnen gehört die Mehrzahl der ca. 7,4 Millionen (April 2007) Empfänger von Leistungen der Grundsicherung, unter ihnen 2,5 Millionen Arbeitslose und 1,3 Millionen abhängig Beschäftigte. Soweit arbeitsfähig, streben diese sozial und kulturell äußerst heterogenen Gruppen in ihrer großen Mehrheit nach Integration in eine reguläre Beschäftigung. Nur kleine Minderheiten, die keine realistische Chance auf Integration in reguläre Erwerbsarbeit haben, verwandeln den objektiven Mangel an Chancen in eine auch subjektiv gewollte Orientierung auf ein Leben jenseits von regulärer Arbeit. Zwar kann von einer Herausbildung ghettoartiger Subgesellschaften hierzulande noch keine Rede sein, aber es gibt durchaus Indizien für eine soziale Vererbung von Armut und Arbeitslosigkeit in - nicht nur ostdeutschen - Problemregionen.
Von den "Überzähligen" im engeren Sinne lassen sich die eigentlichen "Prekarier" abgrenzen. Gemeint sind die zahlenmäßig und trotz konjunktureller Belebung expandierenden Gruppen, die über längere Zeiträume hinweg auf die Ausübung unsicherer, niedrig entlohnter und gesellschaftlich gering angesehener Arbeiten angewiesen sind. Die Zunahme nicht-standardisierter Beschäftigung auf weit mehr als ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse ist dafür nur ein schwacher Indikator. Er verleitet zur Unterschätzung des Problems, weil er etwa die rasche Ausdehnung des Niedriglohnsektors nur unzureichend reflektiert. Inzwischen verdienen ca. 6,5 Millionen Menschen weniger als zwei Drittel des Medianlohns. 2006 traf dies bereits auf jeden siebten Vollzeitbeschäftigten zu. Die höchsten Anteile weisen Frauen (30,5 %) und gering Qualifizierte (45,6 %) auf. Doch rund drei Viertel aller Niedriglohnbeschäftigten verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar einen akademischen Abschluss. Dass die Aufwärtsmobilität im Niedriglohnsektor hierzulande trotz solcher Voraussetzungen rückläufig ist, spricht für eine Verstetigung prekärer Lagen.
Ein weiterer, eher versteckter Kristallisationspunkt von Prekarität existiert innerhalb formal geschützter Beschäftigung. Gemeint ist die Angst vor Statusverlust, die relevante Teile der Arbeiter und Angestellten umtreibt. Solche Ängste entsprechen nicht unbedingt objektiven Bedrohungen; sie sind aber auch nicht bloßes Indiz übersteigerter Sicherheitsbedürfnisse. Standortkonkurrenzen, Tarifdumping, Reallohnverlust und interessenpolitischer Rückschritt, wie er in zahlreichen Betriebsvereinbarungen mit befristeten Beschäftigungsgarantien fixiert ist, nähren selbst im gewerkschaftlich organisierten Kern der Arbeitnehmer die Befürchtung, den Anschluss an die Mittelschichten zu verlieren. Zwar gibt es noch immer zahlreiche Indizien, die für eine erhebliche Stabilität der sozialen Mitte sprechen, aber Erosionsprozesse lassen sich kaum übersehen. So ist vom schwierigeren "Zugang zur gesellschaftlichen Mitte" und einer Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse "gerade am Rand der gesellschaftlichen Mitte" die Rede. Angesichts sinkender Einkommensvorsprünge und wachsender Arbeitsmarktrisiken seien Existenzängste selbst im abgegrenzten "Kern der gesellschaftlichen Mitte" wenig verwunderlich. Strategische Mitte verliert Subjekt
All dies zeigt, dass die Wiederkehr sozialer Unsicherheit Erschütterungen auslöst, die weit über die sozialen Randschichten hinaus ausstrahlen. Der Kapitalismus ohne Reservearmee ist auch in Deutschland vorerst Geschichte; die damit verbundenen Folgen erreichen auch den geschützten Teil der Beschäftigten. Es sind vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter mit unregelmäßiger Beschäftigung und Lebensbedingungen deutlich unter dem "Durchschnitt der Klasse", deren bloße Präsenz die Festangestellten diszipliniert. Einem Bumerangeffekt gleich sorgt die Konkurrenz der Prekarier dafür, dass die Stammbebelegschaften ihre Festanstellung als Privileg empfinden, das es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt. Auch die Mobilisierung von Ressentiments gegen Andere, weniger Leistungsfähige, Arbeitslose und Arme kann dafür ein Mittel sein.
Ob gewollt oder nicht, das Bild einer Unterschicht, die sich - durch familiale Verwahrlosung, Zielgruppenfernsehen, Bildungsdefizite und Billigkonsum homogenisiert - "zunehmend auch kulturell gegen Aufstiegschancen und Aufstiegswillen" abschotte, leistet solchen Stigmatisierungen Vorschub. Es belebt die Urangst der Etablierten vor einem "Virus", mit dem die sozial Deklassierten die "leistungswillige Mehrheit" der Arbeitsgesellschaft zu infizieren drohen. Angesichts des Übergangs zu "disqualifizierender Armut" ist das eine atavistische Reaktion. Denn just in einer historischen Phase, in der die soziale Mitte zu erodieren beginnt, antworten Teile der Eliten und der Bevölkerung mit starkem kollektiven Widerstand gegen die offizielle Anerkennung von Armut und Prekarität. Die Umdeutung der sozialen Frage in ein bloßes Mentalitätenproblem passiver Leistungsempfänger bedient sich der - immer schon problematischen - Negativklassifikationen einer Gesellschaft, die so nicht mehr existiert. Sie verfehlt die spezifische Dynamik von Prekarisierungsprozessen, welche zunehmend auch zuvor saturierte Schichten in gesellschaftliche Nachbarschaft zu deklassierten Gruppen bringen.
Empfehlungen, die soziale Mitte müsse "als strategischer Akteur" auftreten und sich fortgesetzter Umverteilungspolitik zugunsten der Schwachen widersetzen, könnten daher fatale Konsequenzen zeitigen. Denn die induzierte Solidaritätsverweigerung gegenüber den vermeintlichen "Schmuddelkindern" bedeutet in der Konsequenz häufig auch die Steigerung von Arbeitsmarkt- und Armutsrisiken für ehemals gesicherte Gruppen. Rekommodifizierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken, die vorgeben, die Interessen der sozialen Mitte durchzusetzen, erweisen sich schon jetzt als Katalysatoren einer sozialen Polarisierung, welche die akuten Repräsentationsprobleme des politischen Systems weiter verschärft. Insofern erreicht eine exkludierende "Politik der Mitte" eher das Gegenteil von dem, was damit eigentlich beabsichtigt wird, denn dem "strategischen Akteur" kommt zunehmend das Subjekt, die soziale Basis abhanden.
Gegen letztlich Demokratie gefährdende Potentiale der Prekarisierung hilft vor politischen Maßnahmen vor allem eines: eine offene, aufklärerische Debatte über das Ausmaß und die Facetten der reaktualisierten sozialen Frage. Dazu gehört die Einsicht, dass die Lebensqualität auch der Angehörigen der sozialen Mitte in einer zwar reichen, jedoch von struktureller Arbeitslosigkeit geprägten Gesellschaft wesentlich davon abhängt, ob es gelingt, den Schwächsten der Gesellschaft ein Leben oberhalb einer "Schwelle der Respektabilität" zu ermöglichen. Wer aus Furcht vor Imageschäden für Standort, Partei oder Regierung weiter auf Beschwichtigung setzt, zwingt die Betroffenen, nach neuen gesellschaftlichen Repräsentationen ihrer Probleme zu suchen. Der Übergang zu "disqualifizierender Armut" verlangt nach realitätstauglichen Deutungen. Ohne angemessenes Problemverständnis wird indessen jede noch so gut gemeinte Reformpolitik Stückwerk bleiben.
Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986, S. 4.
Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2007.
"Jeder Achte arm - und die Regierung zufrieden", lautet eine bezeichnende Überschrift, die Reaktionen auf den jüngsten Armutsbericht kommentiert (FR vom 26. Juni 2008, S. 4).
Serge Paugam, Die elementaren Formen der Armut, Hamburg 2008, S. 282.
Vgl. Burkhard Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt/M. - New York 1984, S. 184ff.
Vgl. Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 20066, S. 201ff., hier: S. 205.
S. Paugam (Anm. 4), S. 164ff.
Ralf Dahrendorf, Society and Democracy in Germany, New York 1967, S. 88.
Vgl. Georg Simmel, Der Arme, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. 11, 1992, S. 512 - 555.
Vgl. R. Geißler (Anm. 6), S. 226.
Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2007, S. 24.
Paul Nolte, Riskante Moderne. Die deutschen und der Neue Kapitalismus, München 2006, S. 96.
Vgl. S. Paugam (Anm. 4), S. 280.
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1973, S. 657ff.
Vgl. den Beitrag von Peter Bescherer, Karen Schierhorn und Silke Röbenack in dieser Ausgabe.
Vgl. Gerhard Bosch/Claudia Weinkopf (Hrsg.), Arbeiten für wenig Geld. Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland. Frankfurt/M. - New York 2007.
Vgl. Thorsten Kalina/Achim Vanselow/Claudia Weinkopf, Niedriglöhne in Deutschland, in: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (SPW), (2008) 164, S. 20 - 24.
Vgl. Gerhard Bosch/Thorsten Kalina, Thorsten, Niedriglöhne in Deutschland - Zahlen, Fakten, Ursachen, in: G. Bosch/C. Weinkopf (Anm. 16), S. 42ff.
Vgl. Martin Werding/Marianne Müller, Globalisierung und gesellschaftliche Mitte. Beobachtungen aus ökonomischer Sicht, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt/M. 2007, S. 157.
Vgl. Robert Castel/Klaus Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M. - New York 2008 (i.E.).
Karl Marx (Anm. 14, S. 672) bezeichnete sie als "stagnanten" Teil der Reservearmee.
P. Nolte (Anm. 12), S. 96ff.
Ebd., S. 144.
| Article | Dörre, Klaus | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31020/armut-abstieg-unsicherheit-die-soziale-frage-am-beginn-des-21-jahrhunderts-essay/ | Die "groben" sozialen Unterschiede zwischen Klassen und Schichten gewinnen wieder an Bedeutung. Verunsicherung ist zur dominanten gesellschaftlichen Grundstimmung geworden. | [
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Afrozensus | Schwarz und Deutsch | bpb.de | "Black Lives Matter – Schwarze Leben zählen!" – unter diesem Motto gingen auch in Deutschland 2020 tausende Menschen auf die Straße. In Medien und Politik wurde wochenlang über Rassismus diskutiert. Schnell etablierten sich jedoch bekannte Muster: Schwarze Menschen wurden aufgefordert, von persönlichen Rassismuserfahrungen zu berichten. Im öffentlichen Diskurs gab es aber wenig Bereitschaft, die darin sichtbar werdenden Muster von Anti-Schwarzem Rassismus (ASR) sowie dessen Einbettung in institutionelle und strukturelle Verhältnisse in Deutschland anzuerkennen, geschweige denn, den Fokus auf notwendige institutionelle Veränderungen zu legen.
Die beständige Reinszenierung immer gleicher Fragen erzeugte innerhalb der Schwarzen Communities vielfach den Eindruck einer bekannten, kräftezehrenden Dynamik: Am Ende der Debatten stehen meist allgemeine Appelle und Bekundungen, in denen Anti-Schwarzer Rassismus meist nicht einmal mehr benannt wird. In krassem Kontrast dazu steht der Handlungsbedarf zur Sicherung von Menschenrechten, Grundfreiheiten und der Menschenwürde von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen, die in Deutschland weit verbreitetem Rassismus ausgesetzt sind.
Die gemeinsame Reflexion von Anti-Schwarzem Rassismus ist zwar schon lange Bestandteil Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Wissenspraxen, dennoch fehlte bisher eine empirische Diskussionsgrundlage mit differenzierten Daten, obwohl weit mehr als eine Million Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in Deutschland leben und die Bundesregierung diese neben Sinti*zze und Rom*nja, Jüdinnen und Juden sowie Muslim*innen als eine von vier Gruppen benennt, die in Deutschland in besonderer Weise von Rassismus betroffen sind.
Der Afrozensus, eine Onlineerhebung zu Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland, soll das ändern: Im Sommer 2020 nahmen knapp 6000 Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen an einer Befragung zu ihren Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen, zu Anti-Schwarzem Rassismus, aber auch zu ihrem Engagement und ihrem Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen teil. Diese Daten lenken den Blick auf das Ausmaß, die Muster und die Folgen der Diskriminierungserfahrungen und machen in den Erfahrungen Einzelner die institutionelle und strukturelle Verankerung des Anti-Schwarzen Rassismus in Deutschland sichtbar. Für Schwarze Menschen ist wegen der häufigen Leugnung der Existenz von ASR die Validierung der eigenen Diskriminierungserfahrung von besonderer Bedeutung.
Anti-Schwarzer Rassismus
In der Onlinebefragung des Afrozensus wurde Anti-Schwarzer Rassismus wie folgt definiert: "Anti-Schwarzer Rassismus (ASR) ist eine spezifische Form des Rassismus und hat in Europa und Deutschland seit der Zeit der Versklavung Tradition. Bei ASR handelt es sich um eine spezifische Herabwürdigung, Entmenschlichung und rassistische Diskriminierung von Schwarzen Menschen afrikanischer Herkunft. Ungeachtet der Realität von Diskriminierung oder Hierarchisierung nach ‚Hautschattierung‘ (Colorism), ist ASR nicht auf Diskriminierung in Bezug auf die ‚Hautfarbe‘ reduzierbar, da spezifische Dynamiken bei Anti-Schwarzer Diskriminierung existieren und diese von Menschen afrikanischer Herkunft mit unterschiedlichen ‚Hauttönen‘ erlebt werden." Diese Definition basiert auf theoretischen und historischen Arbeiten zu ASR sowie auf einem seit Generationen transnational geteilten und für unterschiedliche Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Erfahrungen in Deutschland und der Welt ausdifferenzierten Erfahrungswissen. Auf Basis dieser Definition identifiziert der Afrozensus zentrale Muster des ASR. Die quantitative Onlinebefragung sowie die qualitative Vertiefung der Analyse durch Interviews und Fokusgruppen in den Bereichen Gesundheit und Bildung ermöglichen eine empirische Überprüfung und Präzisierung der Wirkungsweise dieser Muster.
Sowohl die Vertiefung der Themenbereiche Gesundheit und Bildung als auch die auf Alltagssituationen basierende Abfrage von ASR-Mustern sind aus Konsultationen mit Vertreter*innen Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Communities in Deutschland entstanden – dieses Vorgehen verweist ebenso wie die Durchführung des Afrozensus durch die Selbstorganisation Each One Teach One (EOTO) in Zusammenarbeit mit Citizens For Europe (CFE) auf eine in Deutschland in dieser Form – und mit diesem Methodenmix – neue, communities-basierte und zivilgesellschaftlich verankerte Forschung. Diese war vor dem Hintergrund historischer und gegenwärtiger Erfahrungen wichtig, um das Vertrauen der Mitwirkenden zu gewinnen – Schwarze Menschen waren im Afrozensus-Projekt nicht die passiven Objekte einer vornehmlich weißen Forschungsperspektive, sondern die Subjekte einer Wissensproduktion, die Fragestellungen auf die Bedarfe der Communities fokussiert.
Methoden und Stichprobendemografie
Der Afrozensus besteht aus einer quantitativen Online-Befragung sowie qualitativen Interviews und Fokusgruppengesprächen. Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen in Deutschland waren per Selbstidentifikation zur Teilnahme an der Online-Befragung in deutscher, englischer und französischer Sprache eingeladen – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Da es keine genauen Erkenntnisse über die Größe dieser Gruppe in Deutschland gibt – und aufgrund historischer Erfahrungen mit dem Missbrauch von Forschungsdaten für rassistische Diskriminierung –, handelt es sich um eine eher versteckte und nur schwer zu erreichende Grundgesamtheit. In Verbindung mit forschungsökonomischen Faktoren macht dies eine völlig zufällige Stichprobenziehung unmöglich. Wir haben daher ein Schneeball-Sampling-Verfahren angewendet. Mit Hilfe von EOTO und weiteren, insbesondere Schwarzen Selbstorganisationen und Unterstützer*innen haben wir dazu aufgerufen, sich auf der Projektwebsite für eine Teilnahme anzumelden.
Insgesamt sind die Antworten von 5793 Teilnehmenden in die Analyse eingegangen. Aufgrund der Corona-Pandemie konnten Menschen vor Ort, etwa in Geflüchtetenunterkünften, Afroshops, Kirchen, Moscheen und anderen Treffpunkten nicht persönlich angesprochen werden – die Beteiligung einiger Teilgruppen ist daher geringer ausgefallen als erhofft.
Die Stichprobendemografie zeigt, dass wir im Afrozensus häufiger cis-weibliche Befragte mit überdurchschnittlichen Bildungsabschlüssen erreicht haben, die in Relation zum Durchschnitt aller Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund in Deutschland etwas älter sind und ein höheres Einkommen haben. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind sie jedoch im Durchschnitt jünger und verdienen weniger. Die Befragten sind in 144 unterschiedlichen Ländern geboren, der Großteil jedoch in Deutschland (71,0 Prozent). Etwa ein Viertel der Befragten hat statistisch gesehen keinen Migrationshintergrund, gehört aber zur Gruppe Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen. Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, in Befragungen nicht nur nach dem Migrationshintergrund zu fragen, um eine Unsichtbarmachung zu vermeiden.
Ergebnisse
Die Teilnehmenden wurden zu Diskriminierungserfahrungen in 14 Lebensbereichen befragt. Dabei werden einerseits Unterschiede in den Erfahrungen verschiedener Teilgruppen deutlich. Andererseits erlebt selbst im Bereich mit der geringsten Diskriminierungserfahrung (Banken und Versicherungen) immer noch fast die Hälfte der dazu Befragten (46,8 Prozent) Diskriminierung. Am häufigsten mit jeweils mehr als 85 Prozent geben die Befragten an, in den vergangenen beiden Jahren in den Bereichen "Öffentlichkeit und Freizeit", "Medien und Internet", "Geschäfte und Dienstleistungen" und "Arbeitsleben" diskriminiert worden zu sein. Die Angabe, "sehr häufig" diskriminiert worden zu sein, machen die meisten Befragten in den Lebensbereichen "Medien und Internet" (24,4 Prozent), "Wohnungsmarkt" (17,5 Prozent) und "Polizei" (16,2 Prozent).
Die Befragten sollten zunächst angeben, mit welchen der 14 Lebensbereiche sie in den vergangenen beiden Jahren Kontakt hatten. Im Anschluss konnten sie angeben, ob beziehungsweise wie häufig auf einer 5er-Skala von "nie" bis "sehr häufig" sie Diskriminierung erlebt haben. Gaben die Befragten an, in einem Lebensbereich diskriminiert worden zu sein, konnten sie aus einer Liste von 22 Diskriminierungsmerkmalen auswählen. Mehrfachantworten waren dabei möglich.
In der Analyse werden über alle Lebensbereiche hinweg für Diskriminierungen am häufigsten rassistische Gründe oder "ethnische Herkunft" (93,9 Prozent) und Hautfarbe (91,5 Prozent) genannt, gefolgt von den Merkmalen Geschlecht (52,5 Prozent), Name (44,8 Prozent), Haare/Bart (38,1 Prozent) und sozialer Status (33,5 Prozent). Auffällig ist, dass sich die Rangfolge der am häufigsten genannten Diskriminierungsmerkmale je nach Teilgruppen verändert. So nimmt beispielsweise das Merkmal "Geschlecht" bei Cis-Frauen (Rang 3) einen deutlich höheren Rang ein als bei Cis-Männern (Rang 11). Obwohl die Befragten an dieser Stelle der Umfrage noch allgemein nach ihren Diskriminierungserfahrungen und nicht explizit nach Rassismuserfahrungen gefragt wurden, spielt rassistische Diskriminierung schon hier eine relevante Rolle. Die Verschränkungen mit zahlreichen weiteren Diskriminierungsmerkmalen wie etwa Geschlecht und sozialer Status bis hin zum Körpergewicht spiegeln die Bedeutung intersektionaler Diskriminierungserfahrungen.
97,3 Prozent der Afrozensus-Befragten geben an, dass sie persönlich ASR erleben, fast die Hälfte (42,9 Prozent) "oft" oder "sehr häufig". ASR wirkt spezifisch über wiederkehrende Mechanismen. Dabei werden häufig Ideen von einer angeblich "wesenhaften Andersartigkeit" Schwarzer Menschen mobilisiert: 99,1 Prozent der Befragten berichten davon, gefragt worden zu sein, wo sie wirklich herkommen, wobei geographische Antworten häufig so lange nicht zufriedenstellen, wie die Fragenden davon ausgehen, dass die genannten Orte mehrheitlich von weißen Menschen bewohnt werden. 78,6 Prozent sind schon mindestens einmal aufgefordert worden, "dahin zurückzukehren wo sie hergekommen sind". Dieses Muster der Fremdverortung spricht Schwarzen Menschen die Zugehörigkeit zu Deutschland ab, was sich in Äußerungen bis hin zu Abschiebe- und Deportationsfantasien als Teil rassistischer Beleidigungen und Übergriffe zeigt.
Mit dem Überschreiten persönlicher geht häufig auch ein Überschreiten körperlicher Grenzen einher: 90,4 Prozent der Befragten geben an, dass ihnen ungefragt in die Haare gegriffen wird. Hier werden Ideen von der Verfügbarkeit Schwarzer Körper wirkmächtig. In diesem Zusammenhang ist auch die Sexualisierung Schwarzer Menschen eine häufige Erfahrung. Insgesamt geben fast 80 Prozent an, auf Dating-Apps sexualisierte Kommentare bezüglich ihres Aussehens beziehungsweise ihrer "Herkunft" zu erhalten.
Auch die Kriminalisierung ist eine geteilte Erfahrung. Über 56 Prozent geben an, gefragt zu werden, ob sie Drogen verkaufen, und ebenfalls über 56 Prozent bekunden, ohne erkennbaren Grund von der Polizei kontrolliert zu werden.
In den Daten zeigen sich darüber hinaus Mechanismen wie die Aberkennung von Kompetenzen, die Entindividualisierung und die Homogenisierung Schwarzer Menschen. Diese sind insbesondere in den Fokusgruppeninterviews für die Bereiche Gesundheit und Bildung thematisiert worden. So benennen etwa Schwarze Ärzt*innen die Muster der Fremdmachung, die ihnen in den Bereichen Forschung, Diagnostik, Versorgungsstrukturen und auch bereits in der Ausbildung und Qualifizierung begegnen. Sie beschreiben intersektionale Diskriminierung, in der sich Rassismus, Sexismus und Klassismus überschneiden: "(…) da gibt es irgendwie so einen Knick in der Logik für ganz viele Leute, die können es [Schwarz sein/Afrikanisch sein und ein Medizinstudium] irgendwie schwer zusammenbringen und dann halt kommen immer (…) noch so Classicism dazu, (…) das haben mich total viele im Studium immer gefragt, ‚du musst adoptiert sein‘, das können die gar nicht verstehen." Dies setzt sich im Arbeitsalltag fort, wenn Schwarze Ärzt*innen routiniert für Krankenpfleger*innen oder das Reinigungspersonal gehalten werden. In diesem Zusammenhang beobachten sie auch, dass die Aberkennung von Fachlichkeit nach Zuschreibungen zu Sprache und afrikanischer Herkunft so nuanciert wird, dass etwa togolesische oder kenianische Kolleg*innen noch einmal deutlich andere Diskriminierungserfahrungen machen als afrodeutsche, in Deutschland sozialisierte Ärzt*innen mit einem weißen Elternteil.
Intersektionale Analyse
Auf Basis der unterschiedlichen Vielfaltsdimensionen, die für den Afrozensus mithilfe der soziodemografischen Angaben der Befragten operationalisiert wurden, war es uns möglich, für die verschiedenen Lebensbereiche und für in Communities-Konsultationen entwickelte Situationsbeschreibungen zu konkreten Ausprägungen von Anti-Schwarzem Rassismus Teilgruppenanalysen durchzuführen. Dabei haben wir untersucht, zwischen welchen Teilgruppen (zum Beispiel Cis-Frauen, Cis-Männern und TIN*-Befragten ) einer Vielfaltsdimension (etwa Geschlechteridentität(en)) sich signifikante Unterschiede in den Angaben zu Diskriminierungserfahrungen feststellen lassen. Die differenzierte Erfassung von ASR im Erleben von Teilgruppen ermöglicht es, differenzierte Gefährdungsprofile herauszuarbeiten, die unterschiedliche Schutzbedürfnisse sichtbar werden lassen. Es zeigt sich, dass in den meisten Fällen gesellschaftlich tendenziell deprivilegierte Teilgruppen signifikant häufiger angeben, diskriminiert worden zu sein, als die gesellschaftlich tendenziell privilegierten Teilgruppen.
Auf diese Weise differenzieren und ergänzen die Afrozensus-Daten den Wissensstand zu Diskriminierungsrealitäten in unterschiedlichen Lebensbereichen um Einblicke in spezifische Effekte der Mehrfachdiskriminierung Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen. Diese sind zum Beispiel neben und in Verschränkung mit den bekannten Diskriminierungsdynamiken im deutschen Bildungssystem, die etwa Menschen mit Beeinträchtigung und mit einem niedrigen Einkommen benachteiligen, von weiteren Diskriminierungsformen betroffen, wobei sich alle dargestellten Formen mit Anti-Schwarzem Rassismus verschränken.
Eine Teilgruppe, die sich als besonders gefährdet herausgestellt hat, sind Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen. Die Operationalisierung dieser Teilgruppe gründete auf unserer Vermutung, dass Schwarze Menschen im Kontext von ASR nach zugeschriebenen phänotypischen und kulturellen "afrikanischen" Merkmalen hierarchisiert, bewertet und diskriminiert werden. Je "afrikanischer" eine Person wahrgenommen wird, desto intensiver ist ihre ASR-Erfahrung. Diese Vermutung wird über fast alle Lebensbereiche hinweg bestätigt: In 12 von 14 Lebensbereichen geben Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen signifikant häufiger an, in den vergangenen beiden Jahren diskriminiert worden zu sein, als Befragte mit einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil.
Über die Hälfte der Befragten mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen (57,7 Prozent) geben an, dass ihnen in der Schule davon abgeraten wurde, Abitur zu machen, und stattdessen geraten wurde, einen Ausbildungsberuf zu erlernen oder im Bereich Sport und Entertainment zu arbeiten. Bei Befragten mit nur einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil war das nur bei knapp der Hälfte der Fall.
Dieses Muster und die Intensivierung von ASR über eine Nähe zu zugeschriebenen "afrikanischen" Merkmalen bestätigt sich ebenfalls in der vertieften qualitativen Analyse der Studie, in der unter anderem Ärzt*innen und Eltern von Kindergarten- und Schulkindern diese Dynamiken beschreiben. Die größten Unterschiede in Bezug auf Diskriminierungserfahrungen zwischen Befragten mit einem und solchen mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen finden sich in den Lebensbereichen "Wohnungsmarkt", "Ämter und Behörden" und "Sicherheitspersonal". Lediglich im Bereich Privatleben geben Befragte mit einem afrikanischen/afrodiasporischen Elternteil häufiger an, Diskriminierung zu erleben als Befragte mit zwei afrikanischen/afrodiasporischen Elternteilen. Der Unterschied ist signifikant. Gestützt auf die Antworten auf die offenen Fragen der Analyse vermuten wir, dass Schwarze Menschen mit einem weißen oder People-of-Color-Elternteil auch durch eigene Familienmitglieder im Privatleben vermehrt rassistische Diskriminierung erleben.
Weitere Abweichungen vom Muster, dass die gesellschaftlich eher deprivilegierte Teilgruppe häufiger von Diskriminierung berichtet als die privilegierte Teilgruppe, zeigen sich in den Ergebnissen zur Teilgruppenanalyse der Vielfaltsdimension "Geschlechteridentität(en)". So geben in den Lebensbereichen "Wohnungsmarkt", "Polizei", "Sicherheitspersonal" sowie "Geschäfte und Dienstleistungen" cis-männliche Befragte signifikant häufiger als cis-weibliche Befragte an, Diskriminierung erlebt zu haben. Dies verdeutlicht, warum wir prinzipiell und vor allem im Kontext von Anti-Schwarzem Rassismus von tendenziell gesellschaftlich deprivilegierten und privilegierten Gruppen sprechen: Schwarze Cis-Frauen sind in vielen der abgefragten Bereiche zwar gegenüber Schwarzen Cis-Männern benachteiligt – gleichzeitig ergeben sich durch die Intersektion von rassistischer und sexistischer Diskriminierung für Schwarze Männer in bestimmten Kontexten Diskriminierungsdynamiken, die sie gegenüber Schwarzen Cis-Frauen benachteiligen.
Besonders deutlich wird das im Kontakt mit der Polizei. Insgesamt geben mehr als die Hälfte der Afrozensus-Befragten (56,7 Prozent) an, bereits ohne für sie erkennbaren Grund von der Polizei kontrolliert worden zu sein. Cis-Männer geben mit 78,0 Prozent signifikant häufiger an, von der Polizei kontrolliert zu werden als Cis-Frauen (47,9 Prozent).
Dieses Ergebnis bestätigt das ASR-Muster von angeblicher Kriminalität, das vor allem bei der Diskriminierung von Schwarzen Männern in Form von Racial Profiling zum Tragen kommt. 63,3 Prozent der befragten Personen, die sich als trans*, inter* oder non-binär identifizieren, werden regelmäßig von der Polizei kontrolliert, sie geben signifikant am häufigsten an, Polizeigewalt zu erleben. 58,3 Prozent von ihnen sind von Polizeigewalt betroffen, bei Cis-Männern und -Frauen sind es 45,6 und 27,3 Prozent.
Die Erfahrungen Schwarzer Menschen mit der Polizei unterscheiden sich grundlegend von den Erfahrungen der Gesamtbevölkerung: Zwar liegen bisher keine vergleichenden Daten für Diskriminierung im direkten Kontakt mit der Polizei vor, ein erster Hinweis könnte allerdings die Frage nach dem Vertrauen in die Polizei sein: Während in der Gesamtbevölkerung nur 2 Prozent "gar kein Vertrauen" in die Polizei haben, sind es unter Afrozensus-Befragten mehr als ein Viertel (28,0 Prozent). Darüber hinaus gibt fast die Hälfte der Befragten an, in den vergangenen beiden Jahren den Kontakt zur Polizei aus Angst vor Diskriminierung gemieden zu haben.
Leugnung von Rassismus
Die Bagatellisierung und Ableugnung von ASR ist eine Erfahrung, die viele Befragte teilen: Fast alle Befragten (93,3 Prozent) geben an, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie Rassismus ansprechen.
Zudem erleben viele Befragte, wenn sie Diskriminierung melden, einen unsachgemäßen oder gar diskriminierenden Umgang damit. Das hat zur Folge, dass viele Befragte Institutionen oder Lebensbereiche meiden, um sich vor Diskriminierung zu schützen.
(© Aikins et al., Afrozensus 2020, Abb. 77.)
Aus diesen Angaben und den in der qualitativen Analyse vertieften Betrachtungen der Umgangsweisen mit ASR konnten wir das Dilemma identifizieren, mit dem sich die Befragten konfrontiert sehen: Das Ansprechen oder Melden von ASR kann Ableugnung oder sogar weitere und verstärkte rassistische Diskriminierung zur Folge haben. Wenn ASR jedoch nicht angesprochen wird, ist klar, dass die Betroffenen – und potenziell viele andere nach ihnen – im jeweiligen Kontext weiterhin ASR ausgesetzt sein werden. Die Tatsache, dass 45,7 Prozent der Befragten angeben, die Polizei zu meiden, während 22,3 Prozent die Justiz und 21,4 Prozent Ämter und Behörden meiden, dokumentiert die gravierende Einschränkung von gesellschaftlicher Teilhabe als eine Folge von Anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland. Ein Teilnehmer beschreibt folgende Situation: "Ich wurde, ohne erkennbaren Grund, extrem aggressiv von Türstehern aus [einer] Studi-Party geschmissen und getreten. Die Anzeige bei der Polizei wurde am Ende für mich gefährlich, da ich eine Gegenanzeige bekam, der nach Aussage der Polizei eher geglaubt [werden würde] vor Gericht. Als Hauptproblem meiner Anzeige benannte der Polizist, dass ich erwähnte, dass ich die Vermutung hatte, dass die Situation aufgrund rassistischer Vorurteile (ich als Schwarzer Mann als besonders gefährlich wahrgenommen) so eskaliert ist. Im Anschluss wurde mir von einem Chirurgen noch gesagt, dass er es nicht mehr hören kann, dieses ’Rassismus’[-Thema]. Ich solle einfach eingestehen, dass ich daran Schuld habe."
Die Erfahrung, dass auf Meldungen entsprechender Vorfälle unsachgemäß reagiert wird, ist eine naheliegende Erklärung dafür, weshalb 77,8 Prozent der Befragten Diskriminierung nicht melden. Dies ist jedoch nicht mit einem rein passiven Umgang gleichzusetzen. Denn gleichzeitig sind die Befragten überdurchschnittlich engagiert, etwa in der Empowermentarbeit: 46,8 Prozent geben an, ehrenamtlich aktiv zu sein, die meisten davon im sozialen Bereich. Damit liegt die Engagement-Quote unter den Teilnehmenden deutlich höher als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Handlungsempfehlungen an Politik, Verwaltung und Communities
Vor diesem Hintergrund wird der dringende Handlungsbedarf zur gezielten Zurückdrängung von ASR und zur Etablierung eines angemessenen Umgangs mit Rassismus deutlich. Daher haben wir im Afrozensus auf Basis der erhobenen Daten und der qualitativen Analysen detaillierte Handlungsempfehlungen zusammengestellt, die sich sowohl an Politik und Verwaltungen in Bund und Ländern als auch an Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Selbstorganisationen richten.
Eine zentrale Handlungsempfehlung zielt auf die Professionalisierung des Umganges mit Anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland: Anstelle der Leugnung des Problems und der Wahrnehmung der gemeldeten Fälle als Anschuldigungen müssen Beschwerdestellen und Verfahren treten, die ASR kompetent und mit einem Verständnis für dessen strukturelle Einbettung und Intersektionalität untersuchen und bearbeiten.
Zur Anerkennung der Realität von ASR und einem professionellen Umgang damit gehört zudem das Ausarbeiten einer Definition, die Eingang in Verwaltungshandeln findet, ASR in seiner Spezifik fasst und Politik und Verwaltungen dazu befähigt, präventiv, aber auch ahndend tätig zu werden. Die im Afrozensus vorgelegte Definition und die empirisch herausgearbeiteten ASR-Muster können dafür ein Anhaltspunkt sein.
Aufgrund der gesellschaftlichen Verankerung des ASR muss auch dessen Zurückdrängung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, sie kann nicht in der alleinigen Verantwortung Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen liegen. ASR muss zu einem Problem derer werden, die ihn ausüben, und darf nicht länger vornehmlich mit denen assoziiert werden, die ihn erleben. Gleichzeitig ist die wichtige Arbeit von Selbstorganisationen aus rassismuserfahrenen Gemeinschaften anzuerkennen und zu stärken, da auch im Afrozensus Aktivitäten von Schwarzen Menschen selbst als diejenigen benannt werden, die Anti-Schwarzen Rassismus am effektivsten vermindern. Communities-basierte Antidiskriminierungs- und Empowermentarbeit sind daher zentrale Bausteine der Zurückdrängung von ASR, die entsprechende Anerkennung und Unterstützung verdienen sowie einer gezielten und langfristigen Förderung bedürfen. Dafür sind substanzielle Aktionspläne notwendig, die durch eine unabhängige Expert*innenkommission flankiert werden sollten. Zur Schließung der Schutzlücken des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), insbesondere in den Bereichen Bildung und Polizei, gehört zudem die (Weiter-)Entwicklung von Landesantidiskriminierungsgesetzen sowie des AGG zu einem Bundesantidiskriminierungsgesetz, das auch bei Diskriminierung durch staatliche Stellen Anwendung findet. Die Stärkung der Antidiskriminierungsinfrastruktur insgesamt, etwa durch unabhängige Beschwerdestellen mit ASR-Fachkompetenz, muss die genannten Maßnahmen flankieren.
Für Selbstorganisationen bieten die Afrozensus-Daten eine Gelegenheit, ihre wichtige Arbeit für Betroffene von intersektional intensiviertem ASR zu vertiefen. Die Tatsache, dass der erste Afrozensus im Jahr 2020 von zivilgesellschaftlichen Organisationen durchgeführt wurde, verweist auf die Notwendigkeit der Etablierung von universitären Departments für Schwarze Studien/Black Studies – in Deutschland gibt es bisher kein einziges.
Der Afrozensus selbst kann nur der Anfang weiterer Forschung zur Lebenssituation Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland sein. Er wurde ausführlich in den Medien rezipiert und hat Diskussionen in Sozialverbänden, in Politik und Verwaltung sowie in den vielfältigen Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Selbstorganisationen angestoßen. Nun gilt es, die Einblicke interdisziplinär – und ausgehend von Schwarzen kollektiven Erfahrungen und Wissenstraditionen – weiter zu vertiefen. Der Afrozensus ist technisch so angelegt, dass Folgebefragungen möglich sind, um die Entwicklung der Perspektiven, Erfahrungen, Verhältnisse und Einschätzungen der Beteiligten im Zeitverlauf betrachten zu können. Sollte sich diese Möglichkeit eröffnen, verweisen die Ergebnisse des Afrozensus auf Kernthemen, die wir in einer Folgebefragung fokussieren würden: Im Auswertungsprozess wurde immer wieder deutlich, wie wichtig die Resilienz der Befragten, aber auch Empowermentaktivitäten von und für die Communities sind. Resilienz- und Empowermentstrategien wären daher Schwerpunkte für eine zweite Runde des Afrozensus.
Der Afrozensus ist im Volltext unter www.afro- zensus.de/reports/2020 verfügbar, die Creative Commons Lizenz (CC-BY-NC) für Text und Grafiken ermöglicht die Verwendung der Analyse in der Presse, in Lehre, Forschung und der politischen Bildung sowie der Advocacy Arbeit.
(© Aikins et al., Afrozensus 2020, Abb. 77.)
Vgl. Muna AnNisa Aikins et al., Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland, Berlin 2021, S. 57. Externer Link: http://www.afrozensus.de/reports/2020.
Vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus: Positionen und Maßnahmen zum Umgang mit Ideologien der Ungleichwertigkeit und den darauf bezogenen Diskriminierungen, Berlin 2017, Externer Link: http://www.bmfsfj.de/resource/blob/116798.
Anti-Schwarzer Rassismus ist in Deutschland seit der Beteiligung mehrerer deutscher Vorläuferstaaten am Versklavungshandel überliefert. Vgl. Klaus Weber, Germany and the Early Modern Atlantic World: Economic Involvement and Historiography, in: Rebekka von Mallinckrodt/Josef Köstlbauer/Sarah Lentz (Hrsg.), Beyond Exceptionalism. Traces of Slavery and the Slave Trade in Early Modern Germany, 1650–1850, München 2021.
Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 39f.
Vgl. Michael J. Dumas/kihana miraya ross, "Be Real Black for Me": Imagining BlackCrit in Education, in: Urban Education 4/2016, S. 415–442; Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M. 1980; Grada Kilomba, Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism, Münster 2010; Charles W. Mills, An Illumination Blackness, in: The Black Scholar 4/2013, S. 32–37; Katharina Oguntoye/May Opitz/Dagmar Schultz, Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986; Michelle M. Wright, Becoming Black: Creating Identity in the African Diaspora, Durham 2004; dies., Physics of Blackness: Beyond the Middle Passage Epistemology, Minneapolis 2015.
Vgl. Michelle M. Wright 2004 (Anm. 5).
Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 40ff.
Vgl. ebd., S. 212–222.
Schwarze Menschen waren im Verlauf des 20. Jahrhunderts wiederholt Gegenstand sozialanthropologischer und psychologischer Studien in rassistischer Tradition. Vgl. Robbie Aitken/Eve Rosenhaft, Black Germany: The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge 2013, S. 264; Tina Campt/Pascal Grosse, "Mischlingskinder" in Nachkriegsdeutschland: Zum Verhältnis von Psychologie, Anthropologie und Gesellschaftspolitik nach 1945, in: Psychologie und Geschichte 1–2/1994, S. 48–78.
"Cis" (lat. diesseitig) bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
Da über die Zielgruppe Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen keine Statistiken vorliegen, konnten wir das Sample nur näherungsweise mit Menschen afrikanischer Herkunft vergleichen. Zu den Quellen vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 56, Anhang 1.
Keinen Migrationshintergrund zu haben bedeutet nach der im Afrozensus operationalisierten Definition, dass kein Elternteil nach 1955 aus einem anderen Land auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewandert ist, eingebürgert wurde oder eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit hat oder als Schutzsuchende*r unter Berufung auf humanitäre Gründe nach Deutschland geflohen ist.
Da die Beantwortung der einzelnen Fragen freiwillig war und es sich teils um Filterfragen handelt, ist im Afrozensus zu jedem Ergebnis das spezifische "n", also die Anzahl der Personen, die die Frage beantwortet hat, angegeben. Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 53.
Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), Anhang 8.
Für eine Übersicht sowie Angaben zur Operationalisierung aller 17 im Afrozensus abgefragten Vielfaltsdimensionen vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 59.
Dabei wurden zwei Sets mit je 23 Aussagen zu diskriminierenden Situationen abgefragt. Die Befragten erhielten zufällig zugeteilt entweder Set 1 oder Set 2. Von diesen 23 Aussagen kamen vier aufgrund ihrer erhöhten Relevanz für die Schwarzen Communities jeweils in beiden Sets vor (zu Racial Profiling, Hatespeech, Leugnung von ASR und der Bezeichnung mit dem N-Wort). Daraus ergibt sich für einige der Fragen eine geringere Gesamtzahl der Befragten. Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), Anhang 12.
Das Akronym TIN* steht für trans*, inter* und nicht-binär. Für detaillierte Erklärungen vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 308.
Zur Berechnung der Signifikanz wurden mit der tendenziell deprivilegierten Gruppe und der tendenziell norm-privilegierten Gruppe (z.B. Befragte mit und ohne Beeinträchtigung) der jeweiligen Vielfaltsdimension ein Zweistichproben-t-Test durchgeführt. Für alle Werte von p unter 0,1 wurde ein signifikanter Unterschied zwischen den jeweiligen Gruppen für einen bestimmten Lebensbereich festgestellt. Als Signifikanzniveau wurde p ≤ 0,1 (Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner als 10 Prozent) verwendet. Für die genauen p-Werte der Teilgruppenanalysen vgl. Aikins et al. (Anm. 1), Anhang.
Vgl. Infratest Dimap, Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Polizei, 2020, Externer Link: http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/vertrauen-in-die-polizei/.
Vgl. Aikins et al. (Anm. 1), S. 157.
Ebd., S. 224.
Vgl. Julia Simonson et al., Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys, Berlin 2019, Externer Link: http://www.bmfsfj.de/resource/blob/176836/7dffa0b4816c6c652fec8b9eff5450b6/freiwilliges-engagement-in-deutschland-fuenfter-freiwilligensurvey-data.pdf.
| Article | Aikins, Joshua Kwesi | Bremberger, Teresa | Gyamerah, Daniel | Aikins, Muna AnNisa | 2023-07-07T00:00:00 | 2022-03-15T00:00:00 | 2023-07-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/schwarz-und-deutsch-2022/506172/afrozensus/ | Der Afrozensus, die erste umfassende Studie zu Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Lebensrealitäten in Deutschland, zeichnet aktuelle Muster des Anti-Schwarzen Rassismus nach. | [
"intersektional",
"Diskriminierung",
"Daten",
"Afrikanische Diaspora",
"Anti-Rassismus"
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Editorial | 20 Jahre Tschernobyl | bpb.de | Nach der Explosion im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 breitete sich eine radioaktive Wolke über große Teile Europas aus. Tausende verloren ihr Leben, Krebserkrankungen und genetische Schäden gehören zu den Spätfolgen. Es kam zu Massenumsiedlungen. Weite Landstriche Weißrusslands, der Ukraine und Russlands sind bis heute hoch strahlenbelastet und für Mensch und Tier unbewohnbar. Die Szenarien der vom Menschen verursachten Erderwärmung scheinen zu einer Renaissance der Atomenergieerzeugung zu führen. Im Kyoto-Protokoll wurde 1990 die Verringerung des Ausstoßes von klimaschädlichen Treibhausgasen vereinbart. Angesichts zur Neige gehender Rohstoffvorräte und der fragilen Lage im Nahen und Mittleren Osten muss die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern reduziert werden. Sind diese Ziele mit dem Ausbau Erneuerbarer Energien erreichbar? Ungeachtet des 2001 von der Bundesregierung und den Energiekonzernen unterzeichneten langfristigen Atomausstiegs wird über Laufzeitverlängerungen für die Anlagen diskutiert. Nach dem Trauma von Tschernobyl wuchs in vielen Ländern der Widerstand gegen die Atomenergie. Sie wird künftig nur dann demokratieverträglich zur Energieerzeugung eingesetzt werden können, wenn diese Großtechnologie gesellschaftliche Akzeptanz erlangt und wenn Transparenz über die erheblichen Sicherheitsrisiken besteht. Dazu gehören das ungelöste Problem der Endlagerung des auf Jahrtausende strahlenden Atommülls und die mögliche Gefährdung durch Terroranschläge. Die sowjetischen Machthaber versuchten seinerzeit, die Havarie zu vertuschen. Ihre Desinformationspolitik markierte den Anfang vom Ende der Sowjetunion. | Article | Golz, Hans-Georg | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29829/editorial/ | Nach der Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl breitete sich eine radioaktive Wolke über Europa aus. Die Szenarien der Erderwärmung scheinen zu einer Renaissance der Atomenergieerzeugung zu führen. | [
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3. Grenzübertritt am 10. November | Deutschland Archiv | bpb.de |
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Gesellschaftspolitischer Hintergrund
Die meisten Ostberliner/innen im Wendekorpus gehen erst im Laufe des 10. November über die Grenze nach West-Berlin. Die beruflichen Aktivitäten am Morgen des 10. (z.B. Schulunterricht) fallen aus. Alles fiebert nach dem Übergang in den Westen.
Kurzerläuterungen zu Christa, Paula, Lore, Kira, Maria und Alla
Christa
Crista (a) geht mit einer Freundin in Pankow über die Grenze. Allein hätte sie es sich eigentlich nicht getraut. Beiden werden glücklicherweise von einem Trabi mitgenommen und entgehen somit dem stundenlangen Warten in der Schlange. Sie trifft verschiedene Kollegen und Freund/innen aus Ost-Berlin, gemeinsam geniessen sie den ausgelassenen Trubel, die Willkommensgrüße, die Atmosphäre des Sich-gegenseitig-Umarmens und -Beglückwünschens. Sie fühlten sich wie auf einem Fest "und ham da ham da jafeiert uff da straße".
Paula
(40, Hellersdorf, Lehrerin) misstraut, wie viele andere, der Nachricht die Grenze ist offen (" jedenfalls äh war dit erst überhaupt nich zu fassn ick sach dit kann kann nich sein"), obwohl sie rings um sich Feuerwerk sahen und Knallkörper tönen hörten. Die nächtliche Grenzübertrittslust des Mannes bremst Paula mit "du spinnst" aus. Am nächsten Vormittag schaffen sie es aber, sich durch die unendlichen Massen über die Oberbaumbrücke in den Westteil zu begeben. Wie überrascht waren sie (wie auch manche andere) über den ersen Eindruck: das sieht ja genauso aus wie bei uns. Im weiteren Verlauf des Westbesuchs treffen Paula und Mann Verwandte und Freunde – und feiern! Paula – eine der wenigen unter den Ost-Berlinern – lobt die Willkommensfreundlichkeit der Westberliner: sie und ihre Freunde "bewundern mit welcher ruhe un mit welcher freude sie die ostberliner aufgenomm habn".
Lore
Dass die Nachricht die Grenze ist offen in der Wirklichkeit zutrifft, erschließt sich Lore erst peu à peu, schrittweise: so undenkbar erschien ihr diese Möglichkeit. Sie ist umso glücklicher, als sie – wegen ihrer offenen kritischen Haltung – unter politischen Druck des Regimes geraten war. Sie lässt uns daran teilhaben, wie zögerlich die Öffnung der Mauer "langsam ins bewußtsein jedrungn is" und wie lange es dauerte bis sie sich gewiss war "die grenze is erst mal weg äh * und dit kann uns keener nehm".
Kira
Kira (36, Kinderärztin aus Hellersdorf) erobert sich den Westteil mit ihren beiden Kindern auf den Armen selbstbewusst und mit Humor. Sie überwindet die Widrigkeiten der Kontrollen und langen Schlangen geschickt, um ihre Tante in der Borussiatraße zu besuchen. Anstatt ihr auf die Frage nach dem Weg eine Beschreibung zu geben, kontert die gefragte westberliner Ladenangestellte, sie solle sich doch erstmal die 100 DM Begrüssungsgeld abholen. Und diese Direktive wiederholt sie ungerührt und als "Besserwessi" zum "Ossi" heruntersprechend, obwohl Kira klar zu verstehen gibt, dass sie sich nicht für Geld interessiere, sondern für die Tante. Diese Episode illustriert exemplarisch und bilderbuchartig den hegemonialen Alltagshabitus, den viele Westberliner gegenüber den "Ossis" praktizierten. Dahinter wird auch ein verallgemeinerbarer Unterschied deutlich: Westbürger dachten tedenziell materialistisch, die Ostbürger idealistisch.
Maria
Maria schließlich (41, Grundschullehrerin aus Marzahn) scheitert beim ersten Versuch, über die Grenze (Mauer) nach Westberlin zu gelangen. In drastischer und eindringlicher Form (siehe unten den Kommentar zur sprachlichen Gestaltung) schildert sie ihre diffusen ideologischen Vorstellungen von den Verhältnissen im Westteil: dort lebe ein "pennervolk", man habe "überfälle" zu befürchten, dem sogenannten "Ossi" drehe man den Hals um und stecke ihn / sie ins Gefängnis. Diese (ideologischen in der DDR inszenierten) Ängste sind in ihr so lebendig, dass sie – mehrfach wiederholt sie das, ihre Gefühlslage unterstreichend – ihrem Mann den Grenzübertritt verweigert. Beim zweiten Versuch gelingt dieser dann. Der Westen wird ihr ein Stück vertrauter, auch wenn es noch Wochen dauert, bis sie sich unbedenklich dorthin begeben kann. Auch anderen Ostberlinern mit ähnlichen Schreckbildern vom "Westen" ging es so – sie alle brauchten Zeit, bis sie sorgenlos in den Westteil gehen konnten. Marias Erzählung vom Scheitern ist in diesem Sinne sofern exemplarisch für die ideologisch eingeimpfte Angst vor der westlichen terra incognita.
Alla
Letzteres bestimmt auch das Verhalten von Alla. Im Laufe iher 54 Lebensjahre (Lehrerin, Hellersdorf) hat sie natürlich die Normen des öffentlichen und Alltagslebens voll internalisiert. Nie werde sie diesen Tag vergessen – einen der "schlimmsten" sagt sie an anderer Stelle im Gespräch. Die Hochglangzreklame der Geschäfte, die materielle Vielfalt der Angebote, der Geschäftsrummel stösst sie so ab, dass sie Kopfschmerzen bekommt, nichts kauft, gleich wieder in den Osten zurückkehrt und sich "schwört", Monate vergehen zu lassen, bis sie wiederkommt.
(a) Crista BW 08 (Ost)
Situativer Kontext und sprachlicher Kotext
Crista (23, Studentin, wohnhaft im Studentenheim Berlin Mitte in der Nähe der Leipziger Str.) präsentiert einen ganz typischen, von vielen Ostberlinern ähnlich erlebten Grenzübertritt. Sie glaubt erstmal der Mauerfallnachricht nicht und wartet den nächsten Morgen ab. Früh holt sie sich ein Visum, gerät in die riesiglangen Schlangen, lässt sich aber von einem Trabi recht schnell in den Westteil mitnehmen und gelangt u.a. auch auf dem Kudamm. Sie beschreibt die euphorische Stimmung Ostberliner, besucht Freunde und erst nachts in den Ostteil zurück. Typisches berlinern: " denn ham wa imma wieda die autofahra * bequatscht * daß die uns nu mitnehm und son paar jungsche typn die ham dann jesagt okee steigt ein",
Ausschnitt des Interviews mit Christa und Transkription
Die meisten Ostberliner/innen im Wendekorpus gehen erst im Laufe des 10. November über die Grenze nach West-Berlin. Die beruflichen Aktivitäten am Morgen des 10. (z.B. Schulunterricht) fallen aus. Alles fiebert nach dem Übergang in den Westen.
Crista (a) geht mit einer Freundin in Pankow über die Grenze. Allein hätte sie es sich eigentlich nicht getraut. Beiden werden glücklicherweise von einem Trabi mitgenommen und entgehen somit dem stundenlangen Warten in der Schlange. Sie trifft verschiedene Kollegen und Freund/innen aus Ost-Berlin, gemeinsam geniessen sie den ausgelassenen Trubel, die Willkommensgrüße, die Atmosphäre des Sich-gegenseitig-Umarmens und -Beglückwünschens. Sie fühlten sich wie auf einem Fest "und ham da ham da jafeiert uff da straße".
(40, Hellersdorf, Lehrerin) misstraut, wie viele andere, der Nachricht die Grenze ist offen (" jedenfalls äh war dit erst überhaupt nich zu fassn ick sach dit kann kann nich sein"), obwohl sie rings um sich Feuerwerk sahen und Knallkörper tönen hörten. Die nächtliche Grenzübertrittslust des Mannes bremst Paula mit "du spinnst" aus. Am nächsten Vormittag schaffen sie es aber, sich durch die unendlichen Massen über die Oberbaumbrücke in den Westteil zu begeben. Wie überrascht waren sie (wie auch manche andere) über den ersen Eindruck: das sieht ja genauso aus wie bei uns. Im weiteren Verlauf des Westbesuchs treffen Paula und Mann Verwandte und Freunde – und feiern! Paula – eine der wenigen unter den Ost-Berlinern – lobt die Willkommensfreundlichkeit der Westberliner: sie und ihre Freunde "bewundern mit welcher ruhe un mit welcher freude sie die ostberliner aufgenomm habn".
Dass die Nachricht die Grenze ist offen in der Wirklichkeit zutrifft, erschließt sich Lore erst peu à peu, schrittweise: so undenkbar erschien ihr diese Möglichkeit. Sie ist umso glücklicher, als sie – wegen ihrer offenen kritischen Haltung – unter politischen Druck des Regimes geraten war. Sie lässt uns daran teilhaben, wie zögerlich die Öffnung der Mauer "langsam ins bewußtsein jedrungn is" und wie lange es dauerte bis sie sich gewiss war "die grenze is erst mal weg äh * und dit kann uns keener nehm".
Kira (36, Kinderärztin aus Hellersdorf) erobert sich den Westteil mit ihren beiden Kindern auf den Armen selbstbewusst und mit Humor. Sie überwindet die Widrigkeiten der Kontrollen und langen Schlangen geschickt, um ihre Tante in der Borussiatraße zu besuchen. Anstatt ihr auf die Frage nach dem Weg eine Beschreibung zu geben, kontert die gefragte westberliner Ladenangestellte, sie solle sich doch erstmal die 100 DM Begrüssungsgeld abholen. Und diese Direktive wiederholt sie ungerührt und als "Besserwessi" zum "Ossi" heruntersprechend, obwohl Kira klar zu verstehen gibt, dass sie sich nicht für Geld interessiere, sondern für die Tante. Diese Episode illustriert exemplarisch und bilderbuchartig den hegemonialen Alltagshabitus, den viele Westberliner gegenüber den "Ossis" praktizierten. Dahinter wird auch ein verallgemeinerbarer Unterschied deutlich: Westbürger dachten tedenziell materialistisch, die Ostbürger idealistisch.
Maria schließlich (41, Grundschullehrerin aus Marzahn) scheitert beim ersten Versuch, über die Grenze (Mauer) nach Westberlin zu gelangen. In drastischer und eindringlicher Form (siehe unten den Kommentar zur sprachlichen Gestaltung) schildert sie ihre diffusen ideologischen Vorstellungen von den Verhältnissen im Westteil: dort lebe ein "pennervolk", man habe "überfälle" zu befürchten, dem sogenannten "Ossi" drehe man den Hals um und stecke ihn / sie ins Gefängnis. Diese (ideologischen in der DDR inszenierten) Ängste sind in ihr so lebendig, dass sie – mehrfach wiederholt sie das, ihre Gefühlslage unterstreichend – ihrem Mann den Grenzübertritt verweigert. Beim zweiten Versuch gelingt dieser dann. Der Westen wird ihr ein Stück vertrauter, auch wenn es noch Wochen dauert, bis sie sich unbedenklich dorthin begeben kann. Auch anderen Ostberlinern mit ähnlichen Schreckbildern vom "Westen" ging es so – sie alle brauchten Zeit, bis sie sorgenlos in den Westteil gehen konnten. Marias Erzählung vom Scheitern ist in diesem Sinne sofern exemplarisch für die ideologisch eingeimpfte Angst vor der westlichen terra incognita.
Letzteres bestimmt auch das Verhalten von Alla. Im Laufe iher 54 Lebensjahre (Lehrerin, Hellersdorf) hat sie natürlich die Normen des öffentlichen und Alltagslebens voll internalisiert. Nie werde sie diesen Tag vergessen – einen der "schlimmsten" sagt sie an anderer Stelle im Gespräch. Die Hochglangzreklame der Geschäfte, die materielle Vielfalt der Angebote, der Geschäftsrummel stösst sie so ab, dass sie Kopfschmerzen bekommt, nichts kauft, gleich wieder in den Osten zurückkehrt und sich "schwört", Monate vergehen zu lassen, bis sie wiederkommt.
Crista (23, Studentin, wohnhaft im Studentenheim Berlin Mitte in der Nähe der Leipziger Str.) präsentiert einen ganz typischen, von vielen Ostberlinern ähnlich erlebten Grenzübertritt. Sie glaubt erstmal der Mauerfallnachricht nicht und wartet den nächsten Morgen ab. Früh holt sie sich ein Visum, gerät in die riesiglangen Schlangen, lässt sich aber von einem Trabi recht schnell in den Westteil mitnehmen und gelangt u.a. auch auf dem Kudamm. Sie beschreibt die euphorische Stimmung Ostberliner, besucht Freunde und erst nachts in den Ostteil zurück. Typisches berlinern: " denn ham wa imma wieda die autofahra * bequatscht * daß die uns nu mitnehm und son paar jungsche typn die ham dann jesagt okee steigt ein",
0103 CHRI
? hast du dit/ hast du dit so och so live miterlebt^ oda hast du dit dann erst mh: nächsten tach oda?
0104 OL nee ick hab dit emd übahaupt nich mitkricht am nächstn tach am nächstn morgn hab ick ebend dit radio anjemacht ((Ausatmen)) * und hab dann jehört daß alle leute nachts * äh rüberjejang sind * äh daß die uff der mauer jetanzt ham und und daß äh da jetzt imma noch welche drübm sind im westteil und so ((Ausatmen)) * und naja da ick 'wat kann ja nich 'wahr sein * und ick hab damals da * ina nähe och vona grenze jewohnt^ * und * ja also ick * wußte eignlich ja nich so richtich dit * dit hieß 'ja jetz muß man sich da früh anstelln bei den polizeidienststelln und mußt dir da irgendwie son 'visa holn^ ((Ausatmen)) * naja und da hab ick ebend och jedacht die visas die gibts bloß noch heute also nüscht wie hin^ * ick hätt ja eignlich 'schule gehabt^ * aber ick hätte an diesem tag erst um zehn anjefangn * ha ick jedacht naja denn schaffst it ja noch bin janz früh uffjestandn und hab mich da um acht anjestellt ((Ausatmen)) da stand dann schon ne 'riesen schlange
0105 CHRI ((lacht))
0106 OL dit is da * in pankow da jewesn da vorm: ka kollosseum nee * vorm tivoli da^ * und jednfalls stand ick da * bis um neun_ * bis um zehn_ mh: : dann hab ick uff de uhr jekuckt dachte 'ach du 'schande jetz hättest de ja schon 'schule * und dit wa eisekalt an dem tach? ick weiß nich ob de dich noch daran erinnan kannst? * da kam dann noch leute ham tee vateilt und so ((Ausatmen)) * so und jenfalls * äh wa ick dann irgndwann dran hab da: diesen stempel jekricht oda wat dit war ((Ausatmen)) und bin nach hause^ * inne woh:nung und schule hatte sich ja sowieso ale:dicht da ha ick natürlich och irgndwo n schlechtet jewissen jehabt und hab jedacht ach du schande mensch * standn die kinda heut ohne dich da so und nun hatt ick n stempel^ war in meina wohnung und dachte hm wat machstn nun^ jetz könntest de ja 'rübajehn aba ick hab mich nich jetraut^ * ick wußt jenau
0107 CHRI ? mußtest erst ma mußtest erst ma irgndwo hinjehn und jemand anrufn oder so daß e:na mitkommt oda wie?
0108 OL nee ick wußt nee * ick wußte jenau wo lang dit ja nun lief da die bornholmer lang aba * na und uff eenmal klingelt dit und uff eenmal stand da meine freundin vor da tür_
0109 CHRI hm_
0110 OL die sagt 'los komm * 'mach * zieh dich an * wir jehn jetz rüba_ * ja^ * würklich^ meinste^ *? wolln wa würklich^? also ick hab mich da irgndwie übahaupt nich jetraut und da sind wa die bornholmer lang und da standn ebend schon riesn autoschlang^ * die hattn schon schilda inn autos * ((Ausatmen)) da stand dann schon drin wir nehm keinn mit_ * naja dit war dann schon besonders freundlich wieda
0111 CHRI ((lacht))
0112 OL also sind wa nach * janz vorne * jelaufn * da ham wa jedacht na kuckn wa ma bei den fußgängern und die schlange die ging bestimmt bis zur (0.1) schönhausa allee und da ham wa jedacht 'nee also 'so lange könn wa nich wartn eh wa uns 'da hinten anjestellt ham dit haltn wa 'nich aus_
0113 CHRI hm_
0114 OL denn ham wa imma wieda die autofahra * bequatscht * daß die uns nu mitnehm und son paar jungsche typn die ham dann jesagt okee steigt ein ((Ausatmen)) * und vorher hattn wa noch ne flasche 'sekt gekooft ((Ausatmen)) * und ham wa jedacht naja dann * könn wa die ja anstoßn und die ham wa dann gleich im auto uffjemacht_ und sind dann ebend da rüba jefahrn üba die brücke * und dann war dit emd o:ch so daß die leute da uffs auto jeklopft ham und * ((Ausatmen)) äh * 'hurra und 'herzlich willkomm und 'alles gute jeschrien ham und * naja und denn * m: * denn is: da: die freundin von mir ((Ausatmen)) * weil die damals ina apotheke jearbeitet hat erstma * uff da andan seite da * inner * ja_ pankstraße oder wo dit is gleich in die erste apotheke rin und kannte da 'zufällich noch
0115 CHRI ((lacht))
0116 OL ne freundin von der se wußte ach die is rübajejangen und die arbeitet in der apotheke und die hatse da och gleich anjetroffn * 'so und die hat uns nun jesagt 'wo was is und ((Ausatmen)) * wo wa 'langfahrn müssn weil * wir kannten uns* äh wir kannten da ja alles nich * naja und denn: * äh hatte die freundin damals n bekanntn und der is kurz vorher * irgndwie üba ungarn abjehaun und da wußten wa 'ach der is im * aufnahmelager da irgndwo * im wedding und komischaweise obwohl wir dit 'erste mal da warn wir ham da allet jefundn da sind wa den da besuchn gleich jegangn * ((Ausatmen)) und der war auch zufällich 'da und dann ham wa den noch mitjenomm und ham denn och n bekannten ((Ausatmen)) von 'mir noch uffjesucht * ((Ausatmen)) ja und denn sind wa schließlich och zum 'kudamm und * tja und ham da ham da jafeiert uff da straße also
0117 CHRI hm_ *
0118 OL so war dit ja * naja und dann bin i sind wa och nachts irgendwann zurück und dann bin ick erst nächsten tach dann wieda arbeiten jejangn (b) Paula (BW 14 Ost)
Individueller und gesellschaftspolitischer Hintergrund
Paula, zur Zeit der Datenaufnahme 42 Jahre alt, wohnt in Hellersdorf. Die spontan-zweifelhaften Mitteilungen Schabowskis nehmen Paula und ihr Mann mir Argwohn auf (nich zu fassn, du spinnst). Trotz sichtbarem Feuerwerk und Geknalle überwiegt das Misstrauen.
Ausschnitt des Interviews mit Paula und Transkription
Paula, zur Zeit der Datenaufnahme 42 Jahre alt, wohnt in Hellersdorf. Die spontan-zweifelhaften Mitteilungen Schabowskis nehmen Paula und ihr Mann mir Argwohn auf (nich zu fassn, du spinnst). Trotz sichtbarem Feuerwerk und Geknalle überwiegt das Misstrauen.
0004 PAULA ja jedenfalls äh war dit erst überhaupt nich zu fassn ick sach dit kann kann nich sein wartn wir erstmal ab aber es war ja doch so ringsrum um uns hörten wa dann schon feuerwerk un knaller und die leute mußtn das ooch * eben noch mal frisch mitbekomm ham (2.0) äh jedenfalls mein mann sachte * mensch zieh dich an wir ziehn los ich sachte du spinnst ich geh doch jetz nich in der nacht los nachher is an dem überhaupt nichts dran wir wartn erst mal ab so nächsten tag kam wa dann in die schule und da war natürlich ooch ein/ eine ungeheure stimmung die leute begrüßten sich alle freundlich lachend also ja dit war irgendwie wie weihnachten als ob mann besonderes geschenk bekomm hat ((lacht)) alles strahlte so richtig an unterricht war kaum zu denkn wir mußtn erst mal so mit-n kindern/ das heißt nich wir mußtn/ wir besprachen mit den kindern alles und äh ja es geht mir heute immer noch durch den kopf^ was ich damals ooch nich so richtig verstandn hatte wir hattn immer gelernt die entwicklung geht vorwärts * eine rückentwicklung in der gesellschaft gibts nich ja ick kann mich noch an die worte von dem erich honecker erinnern die mauer wird nie falln ick hätt-s ooch nie geglaubt weil weil man ja auch in dem sinne erzogen war ja^ und dadurch * daß ich eh ja praktisch immer mit der mauer jelebt habe nichts anderes kennengelernt habe * ((Ausatmen)) war das für mich ooch eigntlich/ dis war halt so und damit basta ja damit hatte man sich abgefundn * ((Ausatmen)) jedenfalls * naja dis warn warn großes ereignis * am nächsten tag die kinder wie gesagt in der schule warn auch aufgekratzt die erzähltn ooch das was ihre eltern so erzählt hattn und so und unsere großen schüler warn kaum zu bremsen die mußtn in der großn pause gleich runter zur polizei und sich ein visum holn^ in den ausweis reinstempeln lassn^und mein mann hatte das iner/ inner mittachspause jemacht ((lacht)) jedenfalls nach-m unterricht trafen wa uns * s war ja freitag und zogen los * wir kam * äh warschauer straße^ * an man sah schon leute die alle zur grenze hinströmtn die hielten sich ooch nich an die verkehrsregeln die liefen der straße ich sa das war so eine euphorische stimmung^ ((Ausatmen)) sis eigentlich sis erstaunlich ja (2.0) ja wir kam dann an den übergang äh wie hieß denn der^ baum nee
0005 OL oberbaum
0006 PAULA oberbaumbrücke richtich oberbaumbrücke kam wir an den übergang und sahn schon eine rie:senlange^ menschenschlange da mußtn-wa uns ja nun hintn anstelln ((lacht)) ((Ausatmen)) aber man nahm das alles gelassn die leute ringsrum lachtn und erzähltn un phh die zeit verging ganz schnell * ja un eh: man durch diesn kontrollpunkt durch war phh naja so zwei drei stunden ham wa schon jestanden es wa: ja ooch nich der wärmste tag man fror doch schon n bißchen ja^ und durch den kontrollpunkt durch^ ja und auf der brücke^ * zwischen naja de-de-er und und westberlin also ostberlin und westberlin äh ja die brücke war ja praktisch niemandsland * über die spree
0007 OL hm
0008 PAULA drüber weg * die leute standn dicht gedrängt nun bestand ja die schwierichkeit daß äh auf der anderen seite nach westberlin nur ein ganz kleiner durchgang war nur so groß wie hier so-n normaler türdurchgang un so viel leute da ja nich durchkonntn jedenfalls dauerte das relativ lange die leute auf der brücke wurden ungeduldig und fingen an zu rufn macht auf oda laßt uns durch dis klang alles so schön gleichmäßig daß man da drauf wirklich angst bekomm konnte daß durch die schwingungen die dort entstandn irgendwas schlimmes passieren konnte ja^ mein mann sachte bloß oh gott haltet euch fest^ thh ((lacht)) hoffn wa nur daß wa hier heil durchkomm ja naja nach ner ganzen weile warn wa dann endlich auf westberliner gebiet sah genauso aus wie bei uns da war nüscht nüscht anderes ((lacht)) ((Ausatmen)) und na ja mein mein mann hatte äh in westberlin n bruder der besaß dort * ne kneipe^ und wir ham uns auf den weg zu meim schwager jemacht ich kannte den überhaupt nich meine tochter ooch nich mein mann wußte noch nich ma jenau wo der wohnte^ so nur so unjefähr * jednfalls liefn-wa dorthin * kamn in die kneipe rein ja mein schwager war nich da^ aber die bedienung und naja wie dis so is wo is er denn^ un so weiter sie holte ihn un er kam runter^ * stand in der tür * kuckte^ * schloß sein bruder in die arme ihm kam die trän^ ick stand da und hab jeschluckt th mußte mich wegdrehn und die leute bekam dann ja ooch mit daß wir aus-m ostn warn un ick muß janz ehrlich jesacht die die westberliner leute * ja * bewundern mit welcher ruhe un mit welcher freude sie die ostberliner aufgenomm habn ja nich nur am ersten tag sondern so ooch alle folgenden tage ja^ was die dort alles so verteilt ham und so also det war schon n schönes^ erlebnis * wirklich un dieses erlebnis wird man ooch imma im gedächtnis behaltn
Situativer Kontext und sprachlicher Kotext
Paula bremst ihren nachtabenteuerlichen Mann (mensch zieh dich an wir ziehn los) ab ( wir wartn erst mal ab). Erst am nächsten Tag (10. Nov) gehen sie über die Grenze nach Westberlin. Allerseits herrschte beste Stimmung (wie weihnachten). Von den Ereignissen dieser euphorischen stimmung zu erzählen, macht nur einen Teil der Narration aus. Der komplementäre ist die (alltagsphilosophische) Bewertung (es geht mir heute immer noch durch den kopf): an die Mauer habe man sich gewöhnt, eine Rückwärtsentwicklung würde es, laut offizieller Ideologie, nicht geben … die gesellschaftliche Entwicklung sei nach vorne ausgerichtet. Auf der Folie dieses Widerspruchs von Zukunftsdenken und gegenwärtigem Kontrollverlust fährt Paula fort, 'den Auszug der Ostberliner nach Westberlin' zu erzählen (viele Details: Visum holen, Wegstrecken, Grenze überqueren, Teil der euphorischen Stimmung sein, Verwandte treffen, sich durch die Massen hindurchwinden etc.). Die Passage steht exemplarisch für die allgemeine euphorische Stimmung der Ostberliner an diesem 10. November: det war schon n schönes^ erlebnis * wirklich un dieses erlebnis wird man ooch imma im gedächtnis behaltn.
Was den interaktiven Austausch der Ostberliner untereinander ausmacht, müssen wir auch mal berücksichtigen, dass sie unter sich als Gesprächspartner viel mehr Respekt gegenüber dem Anderen praktizierten. Man läst den Anderen grundsätzlich ausreden und grundsätzlich ein ruhiges Nacheinandermitteilen walten – anders als die Westsprecher/innen, die oft gegeneinander um den Redebeitrag konkurrieren.
Paula lobt die große Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft der Westberliner/innen – ein Zeichen dafür, dass zur Zeit des Mauerfalls, als politische Fragen noch nicht dominierten, die wiedergewonnene persönliche Nähe am wichtigsten war.
(c) Lore BW 17 (Ost)
Lore (50 Jahre) kommt aus Treptow und ist Lehrerin (???).
Ausschnitt des Interviews mit Lore und Transkription
Paula bremst ihren nachtabenteuerlichen Mann (mensch zieh dich an wir ziehn los) ab ( wir wartn erst mal ab). Erst am nächsten Tag (10. Nov) gehen sie über die Grenze nach Westberlin. Allerseits herrschte beste Stimmung (wie weihnachten). Von den Ereignissen dieser euphorischen stimmung zu erzählen, macht nur einen Teil der Narration aus. Der komplementäre ist die (alltagsphilosophische) Bewertung (es geht mir heute immer noch durch den kopf): an die Mauer habe man sich gewöhnt, eine Rückwärtsentwicklung würde es, laut offizieller Ideologie, nicht geben … die gesellschaftliche Entwicklung sei nach vorne ausgerichtet. Auf der Folie dieses Widerspruchs von Zukunftsdenken und gegenwärtigem Kontrollverlust fährt Paula fort, 'den Auszug der Ostberliner nach Westberlin' zu erzählen (viele Details: Visum holen, Wegstrecken, Grenze überqueren, Teil der euphorischen Stimmung sein, Verwandte treffen, sich durch die Massen hindurchwinden etc.). Die Passage steht exemplarisch für die allgemeine euphorische Stimmung der Ostberliner an diesem 10. November: det war schon n schönes^ erlebnis * wirklich un dieses erlebnis wird man ooch imma im gedächtnis behaltn.
Was den interaktiven Austausch der Ostberliner untereinander ausmacht, müssen wir auch mal berücksichtigen, dass sie unter sich als Gesprächspartner viel mehr Respekt gegenüber dem Anderen praktizierten. Man läst den Anderen grundsätzlich ausreden und grundsätzlich ein ruhiges Nacheinandermitteilen walten – anders als die Westsprecher/innen, die oft gegeneinander um den Redebeitrag konkurrieren.
Paula lobt die große Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft der Westberliner/innen – ein Zeichen dafür, dass zur Zeit des Mauerfalls, als politische Fragen noch nicht dominierten, die wiedergewonnene persönliche Nähe am wichtigsten war.
0011 LORE ähm * das kam (3.0) das kam * pö-a-pö immer n stückchen mehr immer n stückchen mehr immer n stückchen mehr * hattn paar tage bestimmt gedauert (3.0) und * als mir das dann klar wurde richtich * eigentlich richtich klar wurde * das war dann am tag danach * am zehntn november * als * ich aus der schule kam und meine straße die wisbyer straße die ja da sone grenzstraße is bornholmer brücke überjang ((Ausatmen)) * als die (2.0) überfüllt war überfüllt die die menschen * die liefn die straße lang die straßenbahn die autos laut hupend * äh manche autos warn anjemalt * äh uff trabis stand * äh drauf hurra frei oder irgendsolche dinge ja oder die mauer is weg die mauer is weg oder solche dinge * ähm * die * die verkäuferin: standn vor der kaufhalle * naja und * dit wa son jefühl * muß ick sagn dit hab ich eigentlich immer noch ja wenn ick mir mir dessen bewußt werde man denkt ja nich immerzu daran aber wenn ich mir dessen bewußt werde und manchmal sinds so kleinichkeiten daß ick nich abhebe von der straße ja^ * daß ich nich irgendwo * äh: mh: schwebe * immer noch
0012 LORE (2.0) ähm (2.0) da ick äh doch eigentlich in in in der letztn/ in den letztn jahrn durch die: äh eisenschmadt/ schmidt * und die janzen repressalien dort also ziemlich nervlich ziemlich anjegriffen war * ((Ausatmen)) ähm (2.0) konnte dit eigentlich nur zur folje ham daß ich einfach pausenlos jeheult habe * * und wenn ick (3.0) jetz noch dran denke jehts mir immer noch so ute ja^
0013 OL hm
0014 LORE furchtbar (3.0) furchtbar * is so tja * und dann jing ich die straße lang * immar (1.0) so verkniffm * krichte dit ooch noch inne reihe (0.5) aber als ick dann eben über die über die grenze da wuselte mit tausenden * äh anderer * wie jesagt schon am zehntn november (2.0) und die westberliner uns da empfangn ham (2.0) % mich hat zum beispiel n junge empfang * vielleicht so elf oder zwölf * und hat jesacht ick soll doch nich heuln is doch allit vorbei ((lacht))
0015 OL ((lacht))
0016 LORE (2.0) oder uff de schulter jekloppt (2.0) na * ich * weeß nich * dit kann man ebend nich beschreibn * ich ich war eigentlich nich dazu in der lage (1.1) (2.0) ähm * na ebend n kla:ren gedanken zu fassn obwohl äh * dit wie jesagt langsam ins bewußtsein jedrungn is die grenze is erst mal weg äh * und dit kann uns keener nehm * aber welche konsequenzen das alles hatte oder so dit äh war überhaupt noch nich * ähm (2.0) abzusehn dit is also ooch dit spielte sich überhaupt nich ab in mein graun zelln irgendwie so was * was also mit konsequenzen oder so zu tun ham könnte * eben nur nur diesis gefühl es is alles vorbei sis alles vorbei ähm
Situativer Kontext und sprachlicher Kotext
Lore geht auf den Prozess ein zwischen "Erfahren vom Mauerfall" (Nacht des 9. November) und sich dessen bewusst werden, was der Mauerfall langfristig bedeutet. "pö-a-pö immer n stückchen mehr immer n stückchen mehr immer n stückchen mehr." Das eingedeutschte "pö"geht auf Französisch peu ("wenig, ein bisschen") zurück. Die dreimalige Wiederholung verdeutlicht, dass die Unabänderlichkeit der Mauer tief im Bewusstsein verankert war – und dieses die neue Situation nur langsam, schrittweise erfassen konnte. Das Darüber-Klarwerden erreicht seinen Kristallisationspunkt, als sie am 10., einen Tag nach dem Mauerfall, aus der Schule kommt, unterwegs zum Grenzübergang und in den Westen. Sie schildert das quirrlige Leben auf der und rundum die Wysbier Str., ihr Überfülltsein, die übermütigen Launen ihrer Landsleute auf dem Weg in den Westen, ob per Strassenbahn oder per Trabi. Getragen von all dieser Aufbruchsmobilität, im Strom dieses so plötzlichen Neuen, wird ihr bwusst, WAS für eine Befreiung dieser Fall der Mauer für sie ist, sie, die im schulischen Alltag nervlich so belastet war in den letzten Jahren wegen kritischer Kommentare. Im Gegensatz dazu ihre Euphorie: sie könnte "schweben" vor Glück, sie muss "pausenlos heulen"- und das geht ihr eigentlich immer noch so, zwei Jahre später. Und sie hätte sich doch mit den Konsequenzen des Mauerfalls mehr auseinandersetzen müssen – das aber gerade war ihr in dieser Situation nicht möglich.
Erzählende und bewertende Passagen halten sich die Waage. Das Erzählen im Umbruch von Bewertungen durchsetzt. Die Folgen der Ereignisse werden mitreflektiert. Nirgendwo sonst werden so detailliert die Veränderungen in der Bewusstseinsbildung beschrieben wie hier. Wiederholungen dienen der emotionalen Intensivierung der Geschehens. Interessant auch, dass besonders positive Werte des Glückszustandes negativ ausgedrück werden müssen (furchtbar (3.0) furchtbar)
Kira (BW12)
Ausschnitt des Interviews mit Kira und Transkription
Lore geht auf den Prozess ein zwischen "Erfahren vom Mauerfall" (Nacht des 9. November) und sich dessen bewusst werden, was der Mauerfall langfristig bedeutet. "pö-a-pö immer n stückchen mehr immer n stückchen mehr immer n stückchen mehr." Das eingedeutschte "pö"geht auf Französisch peu ("wenig, ein bisschen") zurück. Die dreimalige Wiederholung verdeutlicht, dass die Unabänderlichkeit der Mauer tief im Bewusstsein verankert war – und dieses die neue Situation nur langsam, schrittweise erfassen konnte. Das Darüber-Klarwerden erreicht seinen Kristallisationspunkt, als sie am 10., einen Tag nach dem Mauerfall, aus der Schule kommt, unterwegs zum Grenzübergang und in den Westen. Sie schildert das quirrlige Leben auf der und rundum die Wysbier Str., ihr Überfülltsein, die übermütigen Launen ihrer Landsleute auf dem Weg in den Westen, ob per Strassenbahn oder per Trabi. Getragen von all dieser Aufbruchsmobilität, im Strom dieses so plötzlichen Neuen, wird ihr bwusst, WAS für eine Befreiung dieser Fall der Mauer für sie ist, sie, die im schulischen Alltag nervlich so belastet war in den letzten Jahren wegen kritischer Kommentare. Im Gegensatz dazu ihre Euphorie: sie könnte "schweben" vor Glück, sie muss "pausenlos heulen"- und das geht ihr eigentlich immer noch so, zwei Jahre später. Und sie hätte sich doch mit den Konsequenzen des Mauerfalls mehr auseinandersetzen müssen – das aber gerade war ihr in dieser Situation nicht möglich.
Erzählende und bewertende Passagen halten sich die Waage. Das Erzählen im Umbruch von Bewertungen durchsetzt. Die Folgen der Ereignisse werden mitreflektiert. Nirgendwo sonst werden so detailliert die Veränderungen in der Bewusstseinsbildung beschrieben wie hier. Wiederholungen dienen der emotionalen Intensivierung der Geschehens. Interessant auch, dass besonders positive Werte des Glückszustandes negativ ausgedrück werden müssen (furchtbar (3.0) furchtbar)
KIRA ich hab also der neunte novemba fängt bei mir am 'zehntn novemba an_ *
0013 OL aha *? warum das? *
0014 KIRA ja wal-ick am neuntn novemba schon im 'bett war * als herr krenz seine rede jeredit hat_ * ((Ausatmen)) und am zehntn novemba früh äh * zum 'dienst uffkreuzte^ * und mein 'chef he:rr 'sowieso^ *? ne?
0015 OL hm
0016 KIRA strahlnd sachte * 'er is heute durch-s brandnburger 'tor zum dienst jefahrn_ und da hab-ick jedacht * der * hiea * spinnt^ * ja: hab-ick jesacht * ick auch^ * mach-ick übrijens 'jeden morgn (2.0) und da kuckte-er mich etwas dumm an und sachte? sie ham wohl noch gar nichts mitjekricht^? * ick sa nee *? wieso? ((lacht))
0017 OL ((lacht)) ((lacht))
0018 KIRA und da ((Ausatmen)) erzählte er * na * die 'grenze is auf^ * % ick-sa ach so^ (3.0) hmhm * so war dit_
0019 OL na: dit-is ja herrlich_ (2.0) und *? wie hast-e da reagiert?
0020 KIRA ja also ick hab-s würklich erst n tach späta naja * ick hab-s nich jeglaubt * ne_ * ick hab jedacht * der vakackat^ mich oda so^ (2.0) hm (2.0) und denn war große uffrejung^ de-janze abteilung stand kopp^ * kee:n patient wurde mehr behandlt^ * alle hingn am 'radio^ (2.0) um zu hörn * wat denn nu los is_ * und denn denn stellte sich so raus^ so we:ß ick * jegn zehn^ * daß-et stimmt_ (2.0) na und wat war-n* det 'muß-n (3.0) freitach jewesn sein *? wa? * der zehnte muß-n freitach jewesn sein * ick hatte mittachs schluß_ * un name hatte spätdienst^ * un dann war also für mich klar^ * wenn ick fertich bin^ * hol-ick meine kinda^ * ((Ausatmen)) un-denn jeht-s ab
0021 OL ((lacht))
0022 KIRA meine tante besuchn_ (2.0) ((Ausatmen)) ja * und so ham-wa dit denn o:ch jemacht_ (2.0) und * eh * name hatte 'spätdienst wie jesacht * den hatt-ick noch anjerufn^ daß-ick also ((Ausatmen)) 'nich nach hause komme^ * sondern gen westn sausn werde_ * % ahnungslosa engl der ick war * ne * ((Ausatmen))
0023 KIRA name aus-m 'kindajatn geholt^ (2.0) ((lacht)) ((lacht))
0024 OL sausn ist jut (3.0) ((lacht)) ((lacht))
0025 KIRA name aus-m 'kindajatn geholt^ zu hause jetramplt^ * daß die große aus der schule kommt^ * ((Ausatmen)) un-dann hab-ick mein: kindan aklert * wir fahrn jetz tante liese besuchn_ na die sind umjefalln^ wa (2.0) weil name sachte (dit)/ hat ja schon 'ümma jefracht * warum wir nich 'hinfahrn dürfn * wenn sie uns besuchn kann_ * ne * ja * naja^ * und denn sind-wa losjefahrn (3.0) hm
0026 OL hm
0027 KIRA hm * obabaumbrücke hm * also dit-dit war-n schon alebnis^ deshalb vajeß-ick-s nich_ ((Ausatmen)) parkplatz jesucht * also warschaua straße^ bahnhof^ * weil war äh: : schwarz vor menschn_ ne^ * die straße war-ja blockiert_ (2.0) und den/ da standn-se nun an^ und wolltn durch dieset schmale tor da durch_ (3.0) ((Ausatmen)) ha-ick een kind links^ * een kind rechts^ ((Ausatmen)) % mensch? wie alt war-n der name damals? * der war ja noch 'kleen der war der war fünwe wa
0028 OL hm
0029 KIRA ? viernachzjer baujahr? fünf
0030 OL hm
0031 KIRA hm * also und denn ham-wa uns so pchpchpch da: durchjeschummelt^ (0.4) (3.0) hundertdreiunneunzich patienten * die alle wissen wolltn * ob ick o:ch wieda 'zurückkomme
0032 OL ((lacht)) ((lacht))
0033 KIRA ick sa ja logisch^ * wa^ (2.0) ((Ausatmen)) so_ * und denn ham-wa uns da 'rinjedrängelt^ un ham-uns o:ch relativ jut * ((Ausatmen)) vorjeschobn_ * denn sind-wa da rin^ (2.0) ((Ausatmen)) da: dieset 'häuschen^
0034 OL hm (hm)
0035 KIRA und da 'dachtn wa nun * wir ham-s jeschafft ja hm ja würklich äh: hm
0036 OL hm (hm) (3.0) ((lacht)) ((lacht))
0037 KIRA ((unverständlich)) rauskamn aus dem häuschen^ * ((Ausatmen)) warn-wa denn einjekeilt in einer 'menschnmenge * ick hab den name uff-n 'arm jenommn^ * weil der hat jebrüllt wie am spieß^ * ((Ausatmen)) ick-hab jedacht ick komm da nich lebend raus^ ((Ausatmen)) zu'rück jings nich^ * wa * 'vorwärts jings nich^ (2.0) al-ick we:ß nich * wieviel stundn se uns da plattjematscht hattn * mir fieln die 'arme ab^ weil-ick ümma den zwerg jehaltn hab^ (2.0) ((Ausatmen)) un-denn als-es anfing zu dunkln^ * warn wa denn durch_ (2.0) hm * ja * so 'war dit * und denn obabaumbrücke * da landest-e ja mittn im tiefstn 'kreuzberg (h^)
0038 OL nja_
0039 KIRA eh * ick wußte zwar die adresse^ meiner tante aba-ick hatte kein: schümma wo dit is^ (2.0) also ick in den nächstn ladn rinnjerammilt^ war so sanitärkeramik^ * ick-sa jutn tach^
0040 OL hm
0041 KIRA * ick-sa ick will in die borussjastraße (2.0)? borussjastraße?*? ham sie * ham sie sich denn schon ihr 'geld abjeholt? * ick-sa? watt-denn für-n jeld * ick-sa ick
0042 OL ((lacht)) ((lacht))
0043 KIRA brauche kee 'jeld * ick will zu meina 'tante und die wohnt ((Ausatmen)) in-a borussjastraße * ((Ausatmen)) ja-na: *
0044 OL ((lacht))
0045 KIRA ich weiß 'auch nich * wo dit is ich-sa na * (dit) kann do ni 'sein * wa * ich sa jetz bin-ick hier im 'westn * und keena we:ß wo die 'straße is *
0046 OL fürsorgliche menschn ((Ausatmen)) ((lacht))
0047 KIRA hm (2.0) na ick sa * det 'muß ürgntwo beim flughafn tempelhof sein (2.0) aha_ * ja-gut * naja sacht-se * aba 'holn se sich doch erst mal ihr begrüßungsgeld ab_ (2.0) ick-sa * wozu brauch ick begrüßungsjeld wa ick will zu meina tante und da * brauch ick keen geld * nein * sacht-se * sie kriegn doch^ * sie ham doch ihre kinda mit^ * sie kriegn doch für jedn hundat mark^ * name fieln glei die 'augn aus-m kopp wa oh: * hundat richtjer mark^
0048 OL ((lacht)) ((lacht)) ((Ausatmen)) ((lacht))
0049 KIRA und die schlangn * ick-sa nee * hier stelln wir uns nich an_ wa * na sacht-se * fahrn-se mal da pft ürgntwo hin^ * da is-is nich so voll_ (3.0) naja und da sind wa denn dahinjefahrn^ und ham uns anjestellt^ un ham nach-ner vürtelstunde unsar dreihundat mark jehabt^
Situativer Kontext und sprachlicher Kotext
In ihrer zupackenden energischen Art (dann hab-ick mein: kindan aklert * wir fahrn jetz tante liese besuchn) begibt sie sich auf die Reise, ihre Tante Liese in West-Berlin zu besuchen. Die Menschenmassen machen ihrem Fortkommen zu schaffen, das eine Kind heult dauernd, es ist schwierig voranzukommen. Schließlich gelangen sie aber über die Oberbaumbrücke nach Kreuzberg, von wo sie nach Schöenberg weiterkommen müssen, um ihre Tante zu besuchen. Trotz großer Widrigkeiten behält Kira ihren Humor bei. Als sie dann in einem Sanitätsgeschäft fragt, wo die Borussjastr. sei (dort wohnte ihre Tante), antwortet die Sanitätsangestellte herablassend und besserwissend, sie solle sich erstmal die 100 DM Begrüssungsgeld abholen. Kira antwortet, "Geld" interessiere sie nicht, dagegen gehe es ihr darum, möglichst schnell ihre Tante zu besuchen. Das lässt die Angestellte auch ein zweites Mal nicht gelten : "ja-gut * naja sacht-se * aba 'holn se sich doch erst mal ihr begrüßungsgeld ab"; das empört Kira, allerdings kann sie nicht verhindern, dass die beiden Kinder mithören, erfahren, dass auch sie 100 DM bekommen und nun auf die Mutter einwirken, das Geld erstmal zu holen und DANN zur Borussjastr. zur Tante zu gehen..So holen sie sich 300 DM – die Kinder bekommen Süssigkeiten und andere Geschenke. Das Beispiel zeigt, wie arrogant die "Besserwessi" auf die Ostberliner "heruntergeschaut" haben. Eine Frage nach dem Weg mit einer Gegenfrage zu kontern, die erstgestellte Frage kalt unbeangtwortet lässt, , ikann nicht anders als diskriminierendes Heruntersprechen wahrgenommen werden.
Kira präsentiert sich als forsche Ostberlinerin, die selbstbewusst ihr Recht wahrnimmt, den Westteil zu entdecken. Sie hat sich durchjeschummelt, in das Nadelöhr der Schlangestehenden 'rinjedrängelt und ist, um nach dem Weg zu fragen, in einen Laden "Sanitätskeramik rinnjerammilt " (bestes Berlinisch). Ihr ist ein action-Stil eigen. Neben abenteuerlicher Forschheit zeigt Kira aber auch Humor und Lebenslust.
Maria (BW 15)
Individueller und gesellschaftspolitischer Hintergrund
Maria, zur Zeit des Gesprächs 41 und Lehrerin an einer Grundschule in Marzahn, war viele Jahre SED-Genossin und teilte im wesentlichen die "großen" Werte der DDR. In ihrer Kindheit war sie umgeben von Freunden und Verwandten, die dem Regime kritisch gegenüberstanden und sich in diesem Geiste oft im Rahmen der christlichen Kirche trafen. Es muss ihr mehrmals passiert sein, dass sich diese Freunde und Verwandten ihr gegenüber – Details haben wir nicht – arrogant verhalten haben. Das gab den Ausschlag, dass sie sich der "staatlichen" Seite zuwandte – symbolisch eindrucksvoll von ihr dargestellt mir dem Bild des "Bürgersteigwechsels": traf sie jemanden von der "anderen" Moral, wechselte sie einfach den Bürgersteig. Sie und ihr Mann hatten die offizielle Ideologie der DDR gegenüber Westberlin voll internalisiert: dort herrsche Raubkapitalismus, als DDR-Bürger käme man gleich ins Gefängnis, es gäbe keine normale Bürgermoral, viele nähmen Drogen … es herrsche Willkür und Ungerechtigkeit.
Ausschnitt des Interviews mit Maria
In ihrer zupackenden energischen Art (dann hab-ick mein: kindan aklert * wir fahrn jetz tante liese besuchn) begibt sie sich auf die Reise, ihre Tante Liese in West-Berlin zu besuchen. Die Menschenmassen machen ihrem Fortkommen zu schaffen, das eine Kind heult dauernd, es ist schwierig voranzukommen. Schließlich gelangen sie aber über die Oberbaumbrücke nach Kreuzberg, von wo sie nach Schöenberg weiterkommen müssen, um ihre Tante zu besuchen. Trotz großer Widrigkeiten behält Kira ihren Humor bei. Als sie dann in einem Sanitätsgeschäft fragt, wo die Borussjastr. sei (dort wohnte ihre Tante), antwortet die Sanitätsangestellte herablassend und besserwissend, sie solle sich erstmal die 100 DM Begrüssungsgeld abholen. Kira antwortet, "Geld" interessiere sie nicht, dagegen gehe es ihr darum, möglichst schnell ihre Tante zu besuchen. Das lässt die Angestellte auch ein zweites Mal nicht gelten : "ja-gut * naja sacht-se * aba 'holn se sich doch erst mal ihr begrüßungsgeld ab"; das empört Kira, allerdings kann sie nicht verhindern, dass die beiden Kinder mithören, erfahren, dass auch sie 100 DM bekommen und nun auf die Mutter einwirken, das Geld erstmal zu holen und DANN zur Borussjastr. zur Tante zu gehen..So holen sie sich 300 DM – die Kinder bekommen Süssigkeiten und andere Geschenke. Das Beispiel zeigt, wie arrogant die "Besserwessi" auf die Ostberliner "heruntergeschaut" haben. Eine Frage nach dem Weg mit einer Gegenfrage zu kontern, die erstgestellte Frage kalt unbeangtwortet lässt, , ikann nicht anders als diskriminierendes Heruntersprechen wahrgenommen werden.
Kira präsentiert sich als forsche Ostberlinerin, die selbstbewusst ihr Recht wahrnimmt, den Westteil zu entdecken. Sie hat sich durchjeschummelt, in das Nadelöhr der Schlangestehenden 'rinjedrängelt und ist, um nach dem Weg zu fragen, in einen Laden "Sanitätskeramik rinnjerammilt " (bestes Berlinisch). Ihr ist ein action-Stil eigen. Neben abenteuerlicher Forschheit zeigt Kira aber auch Humor und Lebenslust.
Maria, zur Zeit des Gesprächs 41 und Lehrerin an einer Grundschule in Marzahn, war viele Jahre SED-Genossin und teilte im wesentlichen die "großen" Werte der DDR. In ihrer Kindheit war sie umgeben von Freunden und Verwandten, die dem Regime kritisch gegenüberstanden und sich in diesem Geiste oft im Rahmen der christlichen Kirche trafen. Es muss ihr mehrmals passiert sein, dass sich diese Freunde und Verwandten ihr gegenüber – Details haben wir nicht – arrogant verhalten haben. Das gab den Ausschlag, dass sie sich der "staatlichen" Seite zuwandte – symbolisch eindrucksvoll von ihr dargestellt mir dem Bild des "Bürgersteigwechsels": traf sie jemanden von der "anderen" Moral, wechselte sie einfach den Bürgersteig. Sie und ihr Mann hatten die offizielle Ideologie der DDR gegenüber Westberlin voll internalisiert: dort herrsche Raubkapitalismus, als DDR-Bürger käme man gleich ins Gefängnis, es gäbe keine normale Bürgermoral, viele nähmen Drogen … es herrsche Willkür und Ungerechtigkeit.
28 MARIA und mein mann wollt so jerne mit mir dann rübergehn * als die grenze nun jefalln war^ oder besser jesacht die mauer * jafalln war sagt er mensch komm wir gucken mal und er konnt mich nicht bewegen weil * ick hatte so ne panischen ängste in mir^ ick dachte wenn ick jetzt da rüberjehe^ * erst ma dacht ick * grundsätzlich muß ick dit wort so formulieren ick dachte nur an pennervolk ick dachte jar nich an die jehobene klasse ick dachte nur an überfälle^ dachte nur an * wenn die jetzt mich als ossi sehen drehn die mir den hals rum^ und hatte sorgen^ * eh daß man mich als ostler sofort drüben erkennt^ * weil ja och immer jesagt wird der ossi is zu erkennen^ wat ick nachher als gegenteil beweisen werde^ eh da hab ick jedacht nee da gehste nich rüber * und ick hab och zu meen man gesacht ick kann nich * ick sage es tut mir leid ick kann nich * ick sage du kannst jetzt sagen los und * ick sage ick schaffe et noch nich dit is einfach nich drin und zu meiner freude hat er t eigntlich einjesehn und hat jesagt er kann dit vastehn * denn er war ja nun vor eem jahr drüben und weeßte wie det ihm danach ging^ er war total durchnander und konnte die alebnisse jar nich so jut vaarbeiten er hat bald n halbet jahr jebraucht um die eindrücke da wegzustecken ja^ die er dort arlebt hat und deswegen hat er s eigentlich verstandn wenn ick sage ick bin noch nich so weit * so_ denn kam aber die sache mit den hundert mark die man umtauschen kann * na ja und * man hat ja nischts zu vaschenken sagt n sprichwort ne^
29 Ol mußt dir och holn
30 MARIA also hab ick jedacht du mußt dir och die hundert mark holn * und da hat mein mann dit so einjafädelt daß wa durch die kalte küche in den westen jejangen sind * der is nich mit den öffentlichen vakehrsmitteln mit mir rüber jefahrn^ sondern der hat mich hinten * langgeführt * ehm (2.0) wo sind wir da langjegangen * na ja jedenfalls hat er mich hinten durchjeführt so qua so daß ich quasi bloß zwee straßen übaquert habe und da sind wa da an der u-bahn langgelofen^ in richtung neukölln war dit jewesen * und dann sind wir rüberjelaufen und dann mußten wir noch durch so n tunnel jehn und als wir den tunnel überwunden hatten^ war ebend der westen * und meine erste reaktion * na dit is ja n scheißhinterhof * den hast du im osten och
31 OL ((lacht)) ((lacht)) ((lacht))
32 MARIA und damit war meine angst weg * ick habe dort die alten häuser jesehen die ick als hinterhof k kulisse kenne^ * und dachte mensch * dit sieht ja jenauso aus wie bei mir zu hause * und damit wurd ick mutich und als er dann noch mit mir da in den eenen türken stürzte und dort weintrauben kaufte die wir unterwegs erstmal zu uns nahmen^ ja^ da war also meine hemmschwelle erstmal weg *
QuellentextSituativer Kontext und sprachlicher Kotext
Marias Mann wollte mit ihr dann eines Tages über die Grenze gehen. Sie ließ sich aber zu diesem "Ausflug" nicht bewegen, zu stark steckte noch die Angst in ihr, die sie mit der offiziellen DDR-Ideologie internalisiert hatte. ER akezeptiert das, war sein eigener erster Besuch im Westen offenbar nachhaltig negativ. Schließlich schafft er es aber mit einem Trick, sie durch eine U-Bahnunterführung direkt in den Westteil zu führen – ja so, dass sie den Unterschied zwischen den beiden Teilen Berlins gar nicht merkt ("und meine erste reaktion * na dit is ja n scheißhinterhof * den hast du im osten och "). Schließlich war ihre erste "hemmschwelle erstmal weg"
Eine besondere Sequenz stellt der Schulterschluss von narrativen und evaluativen Sätzen in der Form einer konversationellen Liste dar. Sie wird eingeführt durch die Äusserung ick hatte so ne panischen ängste in mir^ . Es folgen parallelisierte syntaktische Muster: ich dachte (nur) an X, Y, Z …., wobei diese Variablen semantisch variieren: {pennervolk}, {an die jehobene klasse}, {überfälle}, {drehn die mir den hals rum^ } (u.a.). Die Liste besteht also aus einer stets identischen syntaktischen Struktur und einer semantisch variierenden Prädikation. In der Gesprächsanalyse gelten solche Muster als rhetorischer Kunstgriff.
Dass sie aufgrund der ideologischen Aufladung ihres Bewusstsein über Partei und "Herrschaft" nicht den Gedanken haben konnte, unversehrt im Westen zu sein und auch problemlos wiederzurückzukommen, wird durch intensivierende Wiederholungen deutlich. Das dialogische Prinzip kommt gestalterisch hinzu: eine Art inneren Monolog führt sie mit sich selbst als auch mit ihrem Mann. Schließlich schafft es der Mann, sie durch einen unauffälligen Nebenweg ("U-Bahn-Unterführung") in den Westen zu führen. Sprachlich in ihren Worten: hat mein mann dit so einjafädelt daß wa durch die kalte küche in den westen jejangen sind...Für den Zeitgenossen der 60iger, 70iger, 80iger Jahre klingt natürlich in der kalten Küche der kalte Krieg an. Zum Land des "kalten Krieges" ging Maria durch die "kalte Küche" … das Bild passt!
(f) Alla BW 25 (Ost) "ich war VÖLLIG fertig an dem tag"
Marias Mann wollte mit ihr dann eines Tages über die Grenze gehen. Sie ließ sich aber zu diesem "Ausflug" nicht bewegen, zu stark steckte noch die Angst in ihr, die sie mit der offiziellen DDR-Ideologie internalisiert hatte. ER akezeptiert das, war sein eigener erster Besuch im Westen offenbar nachhaltig negativ. Schließlich schafft er es aber mit einem Trick, sie durch eine U-Bahnunterführung direkt in den Westteil zu führen – ja so, dass sie den Unterschied zwischen den beiden Teilen Berlins gar nicht merkt ("und meine erste reaktion * na dit is ja n scheißhinterhof * den hast du im osten och "). Schließlich war ihre erste "hemmschwelle erstmal weg"
Eine besondere Sequenz stellt der Schulterschluss von narrativen und evaluativen Sätzen in der Form einer konversationellen Liste dar. Sie wird eingeführt durch die Äusserung ick hatte so ne panischen ängste in mir^ . Es folgen parallelisierte syntaktische Muster: ich dachte (nur) an X, Y, Z …., wobei diese Variablen semantisch variieren: {pennervolk}, {an die jehobene klasse}, {überfälle}, {drehn die mir den hals rum^ } (u.a.). Die Liste besteht also aus einer stets identischen syntaktischen Struktur und einer semantisch variierenden Prädikation. In der Gesprächsanalyse gelten solche Muster als rhetorischer Kunstgriff.
Dass sie aufgrund der ideologischen Aufladung ihres Bewusstsein über Partei und "Herrschaft" nicht den Gedanken haben konnte, unversehrt im Westen zu sein und auch problemlos wiederzurückzukommen, wird durch intensivierende Wiederholungen deutlich. Das dialogische Prinzip kommt gestalterisch hinzu: eine Art inneren Monolog führt sie mit sich selbst als auch mit ihrem Mann. Schließlich schafft es der Mann, sie durch einen unauffälligen Nebenweg ("U-Bahn-Unterführung") in den Westen zu führen. Sprachlich in ihren Worten: hat mein mann dit so einjafädelt daß wa durch die kalte küche in den westen jejangen sind...Für den Zeitgenossen der 60iger, 70iger, 80iger Jahre klingt natürlich in der kalten Küche der kalte Krieg an. Zum Land des "kalten Krieges" ging Maria durch die "kalte Küche" … das Bild passt!
44 ALLA ich persönlich jetzt? ja ich habs gemacht; ach den tag vergeß ich nie. eh und zwar (0.4) hab ich mich damals mit meiner jüngsten schwester verabredet; wir sind dreizehn jahre auseinander und * habe dann eh mit ihr darüber gesprochen; paß ma uff; eh wir müssen uns mit der ganzen sache ehm identifizíern; und eh in dem beruf und überhaupt als eh bürger eines eh zukünftigen gemeinsamen landes muß man schon einiges wissen; also jedenfalls ham wir uns an einem tag verabredet nach wedding zu fahrn; da wußte ich schon son bißchen wie man da hinkommt; und sie kam und kam nicht und ich bin dann alleine los; ehm der tag war eigentlich einer der schlimmsten für mich; weil * ich war derartig aufgeregt als ich dann über * oder da durch bin; wo w wahrscheinlich früher die pässe oder was kontrolliert worden sind für die leute die die möglichkeit hatten; und # als ich dann die ersten
45 ALLA (0.6) ansichten sah, und die ersten geschäfte; * ich war also noch nie in westdeutschland und * konnte hab mir das bild eigentlich nur ausm fernsehn gemacht; aber wenn mans nachher selber sieht; also ich war VÖLLIG fertig an dem tag; ich bin also nur die straße hoch und runter gelaufen; hab mir die geschäfte von áußen angeguckt; ich war in keinem geschäft drin; ob da herti oder was da alles kam; und * habe SO SCHLIMME kopfschmerzen dann bekommen; bin dann nach hause gefahrn und hab mir geschworn; du läßt jetzt MONATE darüber eh hinweggehn; eh du nochmal den weg machst;
Situativer Kontext und sprachlicher Kotext
Alla nimmt sich vor, mit der jüngeren Schwester in den "Westen" zu gehen. Die Motivation ist wohl eher ethisch denn persönlich (man muss was wissen von dem Land, in dem man künftig zusammenlebt,u.a.). Als die Schwester nicht kommt, geht sie allein in den Wedding. Es wurde ein schlimmer Tag für sie. Sie bekam starke Kopfschmerzen, ging in kein Geschäft rein und fährt gleich wieder nach Hause. Innerlich schwört sie sich, möglichst nicht mehr in den Westen zu fahren. Sie macht keine guten Erfahrungen.
Eigentlich kein narrativer Text … die narrativen Eigenschafttreten hinter den evaluativen, kommentierenden zurück. Alla vermittelt ihre Enttäuschung und ihre Gefühle. Die Geschäfts- und Kaufwelt, die sie in Wedding verbreitet findet, bedeutet ich gar nichts.
Alla nimmt sich vor, mit der jüngeren Schwester in den "Westen" zu gehen. Die Motivation ist wohl eher ethisch denn persönlich (man muss was wissen von dem Land, in dem man künftig zusammenlebt,u.a.). Als die Schwester nicht kommt, geht sie allein in den Wedding. Es wurde ein schlimmer Tag für sie. Sie bekam starke Kopfschmerzen, ging in kein Geschäft rein und fährt gleich wieder nach Hause. Innerlich schwört sie sich, möglichst nicht mehr in den Westen zu fahren. Sie macht keine guten Erfahrungen.
Eigentlich kein narrativer Text … die narrativen Eigenschafttreten hinter den evaluativen, kommentierenden zurück. Alla vermittelt ihre Enttäuschung und ihre Gefühle. Die Geschäfts- und Kaufwelt, die sie in Wedding verbreitet findet, bedeutet ich gar nichts.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2020-09-30T00:00:00 | 2019-12-11T00:00:00 | 2020-09-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/302085/3-grenzuebertritt-am-10-november/ | Nicht alle brechen schon am Abend des 9. Novembers zur Grenze auf. Viele sind misstrauisch und glauben die Nachrichten nicht. Erst am 10. November erkunden sie Westberlin und schildern ihre höchst unterschiedlichen Erfahrungen. | [
"DDR"
] | 31,050 |
Zum Stand der (digitalen) Schulentwicklung in Berufsschulen | Bildungsalltag | bpb.de | werkstatt.bpb.de: In welchen Bereichen der beruflichen Bildung ist der Einsatz digitaler Medien sinnvoll?
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser: Digitale Medien finden in allen Berufen, an allen Lern- und Arbeitsorten ihre Anwendung – in unterschiedlicher Dimension und didaktisch-methodischer Setzung. Aber nicht das multimediale Angebot und digitale Medien allein führen zu größeren Lernerfolgen. Erst die bewusst organisierte Einbettung in didaktische Konzepte und lernförderliche Rahmenbedingungen machen digitale Medien für das berufliche Lehren und Lernen erfolgreich.
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) (© bibb)
Wie steht es denn aktuell um die digitale Ausstattung von Berufsschulen in Deutschland?
Die Ausstattung der Berufsschulen in Deutschland variiert sehr stark. Standard ist eigentlich ein Computerarbeitsraum und eine Ausstattung mit unterschiedlichen Lehrmitteln für den berufsspezifischen Unterricht. Es gibt Berufsschulen, die nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet sind und über Lizenzen für berufsspezifische Softwareprogramme, Demonstrationsmaterialien bis hin zu Lernfabriken verfügen, in denen Abläufe und Prozesse simuliert und so zum Beispiel Störungen und Effekte veranschaulicht werden können, die im betrieblichen Alltag nicht wünschenswert sind. Was fehlt, ist ein durchgängig anspruchsvoller Ausstattungsstandard in allen beruflichen Schulen.
Welche Ziele verfolgt der Einsatz digitaler Medien in der Berufsbildung?
Den Veränderungen in einer digitalen und globalen Arbeitswelt entsprechend, können Geschäftsprozesse, Produktionsabläufe sowie interdisziplinäre Fragen und Schnittstellen mit digitalen Medien visualisiert, simuliert, didaktisch auf wesentliche Aspekte reduziert und somit auf nachvollziehbare Weise dargestellt werden. Das betrifft etwa die Wirkungsweise der Kraft-Wärme-Kopplung, das Materialverhalten im Druckguss, Hygienestandards im Reinigungswesen oder Arbeitsabläufe einer Fabrikanlage. Digitale Planungs-, Fertigungs-, Informations- und Kommunikationswerkzeuge können die damit verbundenen Umsetzungsschritte unterstützen und ermöglichen diese vielfach erst.
Welche Rolle spielt das berufsbildende Personal für diesen Prozess?
Das Ausbildungspersonal spielt eine bedeutende Rolle. Der Anspruch an das Ausbildungspersonal steigt, da es in der Lage sein sollte, professionell und reflektiert den gesamten Bereich der digitalen Medien zu bewerten. Das Personal muss auch Anbieter, Interessen, Gefahren, Restriktionen und Entwicklungstrends kritisch einschätzen und auf dieser Basis eine reflektierte und begründete Auswahl von digitalen Medien und Materialien für die Lehre treffen. Durch die Einbindung der digitalen Medien in berufliche Lehr-Lernprozesse sollte die Qualität der Ausbildung den Anforderungen digitalisierter Lern- und Arbeitswelten entsprechen.
Inwiefern werden die Lehrenden auf die Anforderungen digitaler Berufsbildung vorbereitet?
Wichtig ist, das Personal an allen Lernorten zu qualifizieren und Weiterbildungsangebote zu entwickeln. Hierfür werden im Moment vielfältige Aktivitäten für das betriebliche Ausbildungspersonal angestoßen. Bei der Berufsschullehrerbildung sind in den Bundesländern ebenfalls unterschiedliche Aktivitäten zu beobachten. Die Kultusministerkonferenz hat sich dieses Themas angenommen und die Weiterbildungsinstitute für Lehrerbildung an beruflichen Schulen tauschen die Erfahrungen zu diesem Thema bundeslandübergreifend aus.
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) (© bibb)
Zitat
Die Ausstattung der Berufsschulen in Deutschland variiert sehr stark. Was fehlt, ist ein durchgängig anspruchsvoller Ausstattungsstandard in allen beruflichen Schulen.
Durch die Einbindung der digitalen Medien in berufliche Lehr-Lernprozesse sollte die Qualität der Ausbildung den Anforderungen digitalisierter Lern- und Arbeitswelten entsprechen. Der Anspruch an das Ausbildungspersonal steigt, da es in der Lage sein sollte, professionell und reflektiert den gesamten Bereich der digitalen Medien zu bewerten. Sie sagten eingangs, dass vor allem ein durchgängig hoher Ausstattungsstandard an Berufsschulen fehlt. Welche Rolle spielen die bildungspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung (Stichwort Digitalpakt) für die digitale Schulentwicklung an Berufsschulen und was merken Sie davon schon ganz konkret?
In der beruflichen Bildung haben wir die bildungspolitisch besondere Situation, dass der Bund nach dem Berufsbildungsgesetz die Hauptverantwortung hat. Ausbildungsordnungen gelten beispielsweise als bundesweit einheitliche Mindeststandards, an denen sich auch die Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz orientieren, die bundesweit umgesetzt werden.
Über Programme und Initiativen fördert der Bund zudem Innovationen in der beruflichen Bildung. So stattet das BIBB mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zurzeit die überbetrieblichen Bildungszentren mit den neuesten digitalen Technologien aus. Und die BMBF-Initiative "Qualifizierung digital" adressiert das Thema digitale Medien in der Ausbildung auf vielfältige Weise. Ein Beispiel hierfür ist der betriebliche Ausbildungsnachweis (auch "Berichtsheft" genannt), der heute auch digital geführt werden kann. Auszubildende, Ausbilder und Berufsschullehrer können durch dieses Instrument die Ausbildungsinhalte im Betrieb mit jenen in der Schule transparenter verknüpfen. Durch den Digitalpakt zwischen Bund und Ländern sollen auch berufliche Schulen profitieren.
Wie sieht für Sie die Berufsschule der Zukunft aus?
Die Berufsschule der Zukunft ist in der regionalen Wirtschaft gut vernetzt und entwickelt in Projekten gemeinsam mit Unternehmen in der Region attraktive Lehr-Lern-Szenarien. Hier können exemplarisch Prozesse und Systeme der modernen Arbeitswelt durchdrungen sowie Arbeits- und Geschäftsprozesse der digitalen Arbeitswelt erschlossen werden.
Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in Teams und tauschen sich über Bundeslandgrenzen hinweg zu Entwicklungen in ihrem Berufsfeld aus. Sie bekommen regelmäßig Gelegenheit zur Weiterbildung, auch durch Hospitationen in technologischen Vorreiterunternehmen. Lehrende agieren als Lernprozessbegleiter für einen medienunterstützten, individualisierten, schülerzentrierten Unterricht.
Ferner kommen Berufliche Schulen ihrem Bildungsauftrag im allgemeinbildenden Bereich nach und tragen zur Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schülern in einer heterogenen, offenen, modernen und demokratischen Gesellschaft bei.
Über unseren Interviewpartner
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser ist seit 2011 Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn.
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser ist seit 2011 Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-07-22T00:00:00 | 2019-04-02T00:00:00 | 2022-07-22T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/288648/zum-stand-der-digitalen-schulentwicklung-in-berufsschulen/ | Um berufliche Bildung zeitgemäß zu gestalten, braucht es mehr als einen Computerraum. Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), spricht im Interview über den Einsatz digitaler Medien in der Berufsschule | [
"Berufsschule",
"berufliche Bildung",
"Digitale Bildung",
"Digitalpakt",
"Bundesinstitut für Berufsbildung"
] | 31,051 |
Die 60er Jahre und der 6-Tage-Krieg | Israel | bpb.de | Der ägyptische Präsident Nasser gewann immer mehr Einfluss im arabischen Raum. Viele Palästinenser verfolgten Nassers Auftritte im Radio und waren begeistert von seinen Worten. Seine Reden über einen starken arabischen Nationalismus, einen großen Nationalstaat der Araber, stießen im Gazastreifen, in Ost-Jerusalem und im Westjordanland auf offene Ohren. Die Idee gab den Palästinensern ein Stück Selbstwertgefühl zurück, das viele nach dem ersten Arabisch-Israelischen Krieg 1948/1949 verloren hatten.
Außer Israel hatte ganz besonders ein arabischer Staat keinen Gefallen an Nassers Ideen: das Königreich Jordanien. König Hussein bin Talal musste sich vor einem Aufstand der Palästinenser in den Gebieten fürchten, die seine Soldaten besetzten – dem Westjordanland und Ost-Jerusalem. Der arabische Nationalismus gefährdete seinen Machtbereich. Damit Nassers Worten keine Taten folgten, traf der jordanische Herrscher Vorkehrungen in den Palästinensergebieten.
Der Palästinenser Nazmi al-Dschubeh lebte damals in Ost-Jerusalem. Bereits als Kind wusste er, was der jordanische König erlaubte und was nicht. "In der Altstadt gab es die jordanische Polizei und Armee. Nicht weit von unserem Haus entfernt lag eine kleine Militärkaserne. Ich erinnere mich an Demonstrationen in der Altstadt für die arabische Einheit. Die jordanische Armee ging hart gegen jede Solidarität mit Nasser vor. Sie verhafteten viele Leute. Meine älteren Brüder wollten immer Nassers Reden im Radio hören. Doch die jordanische Armee hatte das verboten. Ich saß daher oft auf der Straße und musste aufpassen. Wenn jemand vom Geheimdienst kommt, dann sollte ich ein Signal geben. Aber woher sollte ich als Kind wissen, wie jemand vom Geheimdienst aussieht? Doch meine Brüder hörten in aller Ruhe Nasser im Radio zu."
Was Mitte der 60er Jahre kaum jemand ahnen konnte: Die jordanische Besatzung stand tatsächlich kurz vor ihrem Ende. Viele hatten sich nach knapp zwanzig Jahren an die Präsenz der jordanischen Armee gewöhnt. Doch die Zukunft der Palästinenser sollte nicht so aussehen, wie es Nasser in seinen Reden angekündigt hatte.
Ägyptens Präsident Nasser geriet in andere Schwierigkeiten. Seinen populären Reden über den arabischen Nationalismus mussten nach Ansicht seiner Anhängerschaft Taten folgen. Er war nicht der einzige arabische Politiker mit großen Plänen, und seine Beliebtheit drohte zu schwinden. Dazu kam für Nasser innenpolitischer Druck. Die wirtschaftliche Lage im eigenen Land war miserabel. Viele Ägypter hungerten und lebten unter ärmlichsten Verhältnissen. Ein neuer Beweis von Führungsstärke schien für Nasser notwendig, wohl auch um von den Problemen der eigenen Bevölkerung abzulenken.
Nach der Eroberung Ost-Jerusalems 1967 feiern israelische Soldaten an der Klagemauer. (© AP)
Am 17. Mai 1967 verlangte Nasser den Abzug der UN-Truppen aus Ägypten. Die Blauhelm-Soldaten, wie man sie nach der Farbe ihrer Helme bis heute nennt, waren zu diesem Zeitpunkt auf der Sinai-Halbinsel zur Sicherung der Grenzen zwischen Israel und Ägypten stationiert. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Sithu U Thant gab Nassers Forderung nach, was für die israelische Regierung ein erstes Alarmzeichen war. Ein paar Tage später ließ Nasser die Straße von Tiran sperren. Schiffe konnten von nun an nicht mehr die israelische Hafenstadt Eilat erreichen.
Der Handel mit afrikanischen und asiatischen Ländern lief über diesen Verkehrsknotenpunkt. Israel deckte mit Lieferungen nach Eilat auch seinen Ölbedarf. Eine Pipeline geht von diesem Ort bis zu den Mittelmeerstädten Aschdod und Haifa. Israel kaufte das Öl von Indonesien und weitaus größere Mengen vom damals pro-westlichen Iran – dieses Land sollte erst später zu einem Feind Israels werden.
Die Öltanker konnten ihr Ziel in Eilat nicht mehr ansteuern, das war das eine. Hinzu kam, dass Nasser und sein syrischer Amtskollege eine Kampagne gegen den israelischen Staat begannen – offen sprachen sie von einem bevorstehenden Krieg gegen Israel. Am 26. Mai 1967 erklärte Nasser: "Dies wird eine große Schlacht, und unser Hauptziel wird sein, Israel zu zerstören. (...) Ich weiß, welche [militärischen] Mittel wir hier in Ägypten haben und was Syrien hat. Ich weiß auch, dass andere Staaten wie etwa der Irak ihre Truppen nach Syrien gesandt haben. Algerien wird Truppen senden. Kuwait auch. Sie werden Panzer- und Infanterie-Einheiten schicken. Das ist arabische Macht. Das ist die wahre Wiederauferstehung der arabischen Nation, die vielleicht kurz in Verzweiflung war."
Syrien und Ägypten galten als sichere Verbündete, doch König Hussein von Jordanien stand vor einem Dilemma. Der jordanische Herrscher konnte im Falle eines Krieges nicht als Unbeteiligter zuschauen. Er stand unter dem Druck der Palästinenser, und sie waren im jordanischen Königreich in der Mehrheit. Im einverleibten Westjordanland und in den Flüchtlingslagern Jordaniens lebten nach dem ersten Arabisch-Israelischen Krieg weit mehr Palästinenser als gebürtige Jordanier im jordanischen Kernland.
Hussein sah die eigene Macht gefährdet und unterzeichnete am 30. Mai 1967 einen Verteidigungspakt mit Ägypten. Israel reagierte mit der Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit". An der Spitze standen nun der kriegserfahrene General Mosche Dayan als Verteidigungsminister und Menachem Begin als Minister ohne eigenen Amtsbereich. Dayan genoss seit seiner Zeit als Oberbefehlshaber im Suezkrieg 1956 ein hohes Ansehen in der israelischen Bevölkerung.
Neben der "nationalen Einheit" der israelischen Regierung half die internationale Unterstützung. Doch Frankreich zeigte nach dem langen Algerienkrieg und dem international sehr umstrittenen Suezkrieg kein Interesse mehr an einem Militäreinsatz. Weitere kriegerische Auseinandersetzungen mit arabischen Ländern sollten vermieden werden. Mit den USA rückte ein anderer Verbündeter in den Vordergrund. Seit John F. Kennedys Amtszeit von 1961 bis 1963 lieferten die Vereinigten Staaten verstärkt Rüstungsgüter an Israel. Betrug die militärische Hilfe der Vereinigten Staaten für Israel 1959 etwa 400.000 US-Dollar, so stieg sie bald auf mehrere Millionen Dollar pro Jahr an.
Wieso unterstützte die US-Regierung den israelischen Staat? Weil ein starkes Israel in ihrem eigenen Interesse war. Der Kalte Krieg bestimmte damals das weltpolitische Handeln. Der große Feind der USA war die Sowjetunion. Der Chef der Kommunistischen Partei, Leonid Breschnew, ließ die ägyptischen Munitionslager und Kasernen mit Rüstungsgütern auffüllen. Ein Sieg Ägyptens über Israel würde die Macht der Sowjetunion weiter vergrößern, den von den Vereinigten Staaten gefürchteten Kommunismus weiter stärken. Wie bei einem Dominospiel würde ein Stein den nächsten umstürzen – in der US-Administration war bereits seit dem Beginn des Kalten Krieges von der Domino-Theorie die Rede.
Einen direkten Eingriff in das Geschehen im Nahen Osten, wie es ein Militäreinsatz gewesen wäre, konnte sich die US-Regierung jedoch nicht leisten. Also schickte sie Raketen, Panzer und Flugzeuge, aber keine eigenen Bodentruppen und keine mit US-Piloten bemannten Kampfjäger nach Israel. Für dieses Verhalten gab es im Krisenjahr 1967 einen guten Grund. In Vietnam tobte seit Jahren ein Krieg, der für die USA im Desaster enden sollte. Über 400.000 US-Soldaten kämpften in Südostasien. Für den Konfliktherd in Nahost hatte das US-amerikanische Militär keine kampfbereiten Truppen mehr zur Verfügung.
Die Ereignisse im Nahen Osten spitzten sich indessen zu: Die Reaktion der Nachbarstaaten auf das Jordanwasserprojekt, die israelfeindliche Propaganda Ägyptens und Syriens, das faktische Abschneiden des Seeweges zum Hafen von Eilat, die arabischen Militärbündnisse und die Mobilisierung der Truppen – all das erschien Israel als eine Bedrohung, wenn nicht als eine Vorstufe zum Krieg. Am 5. Juni 1967 reagierte Israel mit einem Überraschungsangriff seiner Luftwaffe. Nach 180 Minuten waren fast alle ägyptischen Flugzeuge zerstört. Die wenigsten Maschinen hatten überhaupt abheben können. Der syrischen Armee erging es ebenso.
Die israelische Regierung bot dem jordanischen König an, sein Land zu verschonen. Doch Hussein bin Talal wollte nichts von Frieden wissen, denn die ägyptischen Nachrichten verkündeten einen Erfolg nach dem anderen. Den Meldungen nach standen die ägyptischen Soldaten bereits vor Tel Aviv. Der jordanische Herrscher wollte zu den Siegern gehören. Was er nicht wusste: Die ägyptischen Erfolgsmeldungen waren nichts als Propaganda. Keine von ihnen stimmte.
Nach König Husseins Entscheidung gegen den jüdischen Staat marschierten israelische Soldaten in das Westjordanland und in Ost Jerusalem ein. Die Israelis rückten schnell vor und überraschten damit viele Palästinenser.
Jaffa, eine der ältesten Hafenstädte der Welt, lag bereits seit dem ersten Arabisch-Israelischen Krieg 1948 auf jüdischem Staatsgebiet. Der Krieg von 1967 veränderte die Landkarte ein weiteres Mal in kürzester Zeit. Den jüdischen Staat machte der Krieg zur Besatzungsmacht. Israelische Soldaten standen im Gazastreifen, im Westjordanland, in Ost-Jerusalem, auf den Golan-Höhen und, wie 1956, auf der Sinai-Halbinsel. Wegen des schnellen Sieges der israelischen Streitkräfte war schon bald vom Sechs-Tage-Krieg die Rede.
Am 10. Juni 1967 trat ein von der UN vermittelter Waffenstillstand in Kraft. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen forderte in der Resolution 242 einen "Rückzug der israelischen Streitkräfte aus Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden", und die "Anerkennung der Souveränität (...) eines jeden Staates in der Region und seines Rechts, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen frei von Androhungen der Akten der Gewalt in Frieden zu leben (...)." In der französischen Übersetzung der Resolution ist nicht nur von "Gebieten", sondern von "den Gebieten" die Rede, was einen Rückzug aus allen Teilen bedeuten würde.
Die Kriegsparteien nahmen sich die Resolution nicht zu Herzen. Die israelische Regierung hielt an den besetzten Gebieten fest. Die arabischen Nachbarländer beeilten sich nicht damit, den jüdischen Staat anzuerkennen. Der unerwartete Sieg der israelischen Armee und die Eroberung der Sinai-Halbinsel war für die Ägypter ein Schock. Ihr Präsident bekam das zu spüren. Nassers einst beliebten Reden über den arabischen Nationalismus schenkte kaum noch jemand Gehör.
Sein Ansehen sank nach dem Sechs-Tage-Krieg nirgendwo so sehr wie bei den Palästinensern. Sie standen von nun an unter politischer und wirtschaftlicher Kontrolle ihrer größten Feinde, der Israelis. Viele Palästinenser suchten nach der ägyptischen Enttäuschung nach neuen Führern und Ideen. Die bis dahin nicht sehr beachteten palästinensischen Widerstandsbewegungen stießen bald auf reges Interesse. Manche Palästinenser bildeten neue, oft radikale Gruppen.
Der Palästinenser Nazmi al-Dschubeh erinnert sich an die ersten Tage der israelischen Besatzung in Ost-Jerusalem: "Die israelische Armee hob die Ausgangssperre für zwei Stunden auf. Ich war mit meiner Familie unterwegs durch die Altstadt. Das marokkanische Wohnviertel lag auf unserem Weg, aber das Viertel gab es nicht mehr. Ich sah, wie Bulldozer alles dem Erdboden gleichmachten. Soldaten tanzten auf den Ruinen. Sie riefen etwas in einer Sprache, die ich nicht kannte. Sie waren alle siegestrunken. Ich fing an zu schreien. Ich kannte so viele Freunde, die da gelebt haben. Ich kannte die Gesichter des Viertels. Die Bulldozer zerstörten alles und schufen einen großen Platz für Besucher der Klagemauer. Zuvor gab es nur einen breiten Streifen vor der Mauer."
Der in West-Jerusalem geborene Jitzchak Feller war mit seinem Vater auf dem Weg zur Klagemauer. Für Israelis war der Besuch dieses Ortes seit 1949 unmöglich. Mit dem Ende des ersten Arabisch-Israelischen Krieges hatten die Jordanier diesen Teil der Stadt kontrolliert. Die jordanischen Soldaten hatten die Bewohner des jüdischen Viertels vertrieben und das Gebiet verwüstet. Die Klagemauer war für Juden unerreichbar gewesen. Der Sechs-Tage-Krieg änderte die Situation. Der vielen Juden heiligste Ort konnte wieder besucht werden. Jitzchak Feller arbeitete wie sein Vater in Israel als Reporter. "Wir betraten die Altstadt durch das Löwentor. Mein Vater war 1935 nach Israel gekommen, er erinnerte sich daher an die Klagemauer. Er war als junger Mann oft dorthin gegangen. Bis 1948 war es erlaubt, unter den Jordaniern von 1948 bis 1967 dann nicht mehr. Mein Vater legte seine Hand an die Klagemauer und stütze sich mit dem Kopf darauf ab. Ich blickte zu ihm und war wie gelähmt. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich meinen Vater weinen sah. Ich weiß nicht, was für mich bewegender war, die Klagemauer oder mein Vater."
Brigarde General Uzi Narkiss (links), der Verteidigungsminister Moshe Dayan (mitte) und Generalstabschef Yitzhak Rabin (rechts) in Jerusalem. (© AP)
Israels Verteidigungsminister Mosche Dayan hatte noch in den Kriegstagen die Klagemauer besucht. Der israelische Politiker erklärte: "Wir haben das geteilte Jerusalem, die gespaltene Hauptstadt Israels, von Neuem vereint; wir sind zu unseren heiligen Stätten zurückgekehrt, um uns nie wieder von ihnen zu trennen."
Der Palästinenser Nazmi al-Dschubeh erinnert sich an den betroffenen Vater, aber auch an den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg: "Wir waren wütend, aber wir hatten keine Wahl, und wirtschaftlich ging es uns gut. Die Israelis kauften alles, was in unserem Laden stand. Mein Vater bot Gewürze und orientalische Süßigkeiten an. Das Lager war bald leer. Es war sehr billig für sie. Der Preisunterschied zu Israel war enorm."
Die palästinensische Wirtschaft öffnete sich für den israelischen Markt, aber stand fortan unter Kontrolle der israelischen Behörden. Der freie Warenverkehr war das eine, zugleich war es nun möglich, Verwandte und Bekannte im Gazastreifen, im Westjordanland oder in Israel verbliebene Palästinenser zu besuchen. Seit dem Krieg von 1948/1949 hatten Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen getrennt voneinander gelebt. Dazwischen lag der israelische Staat. Dort lebten Palästinenser, die 1948 nicht flüchteten oder nicht vertrieben worden waren. Nach dem Sechs-Tage-Krieg sahen sich Verwandte und Freunde aus Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen nach knapp zwanzig Jahren wieder.
Die Palästinenser in Ost-Jerusalem erhielten zu ihrem jordanischen Ausweis ein weiteres Dokument. Saman Choury wuchs in Ost-Jerusalem auf. "Bis ich 19 Jahre alt war, lebte ich unter jordanischer Herrschaft. Ich erhielt einen jordanischen Pass. Seit 1967 lebe ich unter Israel, und ich erhielt ein Stück Papier, auf dem steht, dass ich Bewohner Jerusalems bin. Jeder dachte, er müsste mein Leben bestimmen. Aber ich bin immer derselbe Palästinenser." Abdul-Karim Lafi, dem es ähnlich erging: "Ich bin auf jeden Fall Palästinenser, da gibt es für mich keinen Zweifel, die Frage ist immer nur, wie es die anderen sehen."
Bei dem Israeli Jitzchak Feller legte sich die Euphorie der ersten Tage. Einige Zeit, nachdem er mit seinem Vater von dem Gebet an der Klagemauer zurückkam, begann er zu zweifeln. "Am Anfang dachte ich, wie großartig das ist, ich war ganz hingerissen. Nach einer gewissen Zeit sah ich die Probleme und merkte, dass es nicht so leicht ist. Ich realisierte, dass der Hass gegen uns auf der anderen Seite größer wird."
Martin Schäuble, Noah Flug: Die Geschichte der Israelis und Palästinenser© Carl Hanser Verlag, München, Wien 2007
Nach der Eroberung Ost-Jerusalems 1967 feiern israelische Soldaten an der Klagemauer. (© AP)
Brigarde General Uzi Narkiss (links), der Verteidigungsminister Moshe Dayan (mitte) und Generalstabschef Yitzhak Rabin (rechts) in Jerusalem. (© AP)
| Article | Martin Schäuble, Noah Flug | 2022-01-27T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-01-27T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/45052/die-60er-jahre-und-der-6-tage-krieg/ | Wie ein Wunder empfanden die Israelis ihren schnellen Sieg im 6-Tage-Krieg. Israel besetzte den von Ägypten verwalteten Gazastreifen und das von Jordanien kontrollierte Westjordanland sowie Ost-Jerusalem. | [
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"Ost-Jerusalem"
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M 04.07 Projektwochenplan | Rechtsextremistische Einstellungen im Alltag | bpb.de |
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2013-12-10T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/rechtsextremismus/174911/m-04-07-projektwochenplan/ | In dem Projektwochenplan wird jedes Tagesziel festgehalten und die Durchführung dokumentiert. Jedes erreichte Tagesziel kann abgehakt werden. | [
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Migration und Zugangschancen auf dem Wohnungsmarkt | Migration in städtischen und ländlichen Räumen | bpb.de | Wohnen von Migrant*innen und ihre (begrenzte) Teilhabe
Wohnen ist nicht nur ein Grundbedürfnis, es ist auch eine wichtige Voraussetzung für Interner Link: Integration. Wohnungsmarkt und Teilhabe an allen Lebensbereichen hängen eng miteinander zusammen. Denn der Wohnungsmarkt beeinflusst, wo Menschen leben und welche Zugänge sie zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Ressourcen haben. Ein aktuelles Beispiel sind die mit beengten Wohnverhältnissen verbundenen Herausforderungen für konzentriertes Arbeiten im Homeschooling und Homeoffice während der Corona-Pandemie. Ungleiche Wohnverhältnisse sind damit nicht nur Ausdruck, sondern auch Ursache sozialer Ungleichheiten.
Deutschland ist eine Interner Link: 'postmigrantische Gesellschaft'. Eine Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft, zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten immer mehr verschwinden – und die sich vor dem Hintergrund der Debatten um den Stellenwert von Migration neu ordnet. Doch auch wenn Migration immer mehr zur – umkämpften – Normalität wird, gibt es noch Unterschiede und Ungleichheiten. So verfügen beispielsweise Interner Link: Personen mit Migrationshintergrund immer noch über ein geringeres Durchschnittseinkommen. Sie sind daher auf die erschwinglichen Segmente des Wohnungsmarktes besonders angewiesen. In den letzten zwanzig Jahren hat sich jedoch der Interner Link: Bestand der preisgebundenen Wohnungen in Deutschland mehr als halbiert. Angebote fehlen insbesondere in jenen Segmenten, die von (ressourcenschwächeren) Migrant*innenhaushalten besonders häufig nachgefragt werden: preisgünstige Mietwohnungen für Einpersonenhaushalte und für Haushalte mit fünf und mehr Personen.
Die schlechtere Wohnsituation von Migrant*innen und ihren Nachkommen lässt sich statistisch nachweisen. Dies bezieht sich sowohl auf die Wohnlage und Qualität des Wohnraums als auch auf die zu zahlenden Mietpreise: Interner Link: Mieter*innen mit Migrationshintergrund zahlen für vergleichbare Wohnungen durchschnittlich höhere Mieten pro Kopf als jene ohne Migrationshintergrund. Dies ist besonders kritisch, da sie im Schnitt über weniger Zimmer pro Person und eine geringere Wohnfläche verfügen und in Nachbarschaften mit geringerer Interner Link: Kaufkraft wohnen. Darüber hinaus gilt zu beachten: Daten zu Zugewanderten in besonders prekären Wohnverhältnissen fließen oftmals nicht in klassische Statistiken ein: Dies betrifft beispielsweise Personen, die während des Interner Link: Asylverfahrens in Gemeinschaftsunterkünften leben, Zugewanderte, die ohne Anmeldung in oft überbelegten und heruntergewirtschafteten Immobilien wohnen, oder obdach- und wohnungslose sowie illegalisierte Migrant*innen.
Die schlechteren Wohnverhältnisse Zugewanderter sind neben den Zugangsbegrenzungen aufgrund der geringeren finanziellen Ressourcen auch auf Formen Interner Link: struktureller Benachteiligung zurückzuführen.
Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt
Interner Link: Versorgungsengpässe erzeugen ein Umfeld, in dem Raum für Benachteiligung entsteht: Angesichts des allgemeinen Mangels an Wohnungsangeboten können selbst 'faire' Vermietungsverfahren keine ausreichende Wohnungsversorgung sicherstellen. Neben der (begrenzten) Verfügbarkeit erschwinglichen Wohnraums erschweren auch die Vermietungsentscheidungen der Wohnungsanbietenden die Wohnraumversorgung von Menschen mit (zugeschriebenem) Interner Link: Migrationshintergrund: So berichtet rund jede dritte Person mit Migrationshintergrund, die in den letzten zehn Jahren auf Wohnungssuche war, Erfahrungen mit Interner Link: Diskriminierung aufgrund ihrer (ethnischen) Herkunft gemacht zu haben. Und Diskriminierung lässt sich nicht einfach mit der deutschen Staatsangehörigkeit abstreifen. Schwarze Menschen muslimischen Glaubens etwa berichten zu fast 90 Prozent von Diskriminierungserfahrungen bei der Wohnungssuche.
Es lassen sich Interner Link: zwei unterschiedliche Formen von Diskriminierung unterscheiden. Die unmittelbare Diskriminierung ist eine direkte Folge von benachteiligenden Handlungen und umfasst Praktiken, die einen unmittelbaren Bezug zu Diskriminierungsmerkmalen haben (z.B. die Ablehnung einer Mieterin aufgrund ihrer Hautfarbe). Hiervon können Formen mittelbarer Diskriminierung unterschieden werden: Scheinbar neutrale Praktiken und Vorgaben können, wie im Folgenden illustriert wird, die Benachteiligung bestimmter Personenkategorien und sozialer Gruppen zur Folge haben.
Exkludierende Wirkungen des Leitbilds 'stabiler Nachbarschaften'
Das im Interner Link: Baugesetzbuch (BauGB) formulierte Ziel der "Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen" eröffnet Wohnungsanbietenden die legitime Möglichkeit des gezielten Ausschlusses bestimmter, als 'problematisch' wahrgenommener Haushalte. Der Anteil an Migrant*innen wird vielfach als Indikator für ein vermeintliches Interner Link: 'Problemviertel' und seine 'Instabilität' herangezogen. Mit der Handlungsmaxime der 'Stabilisierung' im Bestand erhöht sich daher die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mieter*innenwahl mit der Benachteiligung vulnerabler Bevölkerungsgruppen einhergeht. In der Folge werden beispielsweise Wohnungsgesuche von Migrant*innen insbesondere in privilegierten 'deutsch geprägten' Quartieren abgelehnt. Eine gezielte Belegungssteuerung im Sinne einer 'Stabilisierung' kann somit als Form der mittelbaren Diskriminierung verstanden werden.
Das Interner Link: Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll Diskriminierungen entgegenwirken. In § 19 Abs. 3 AGG heißt es, dass bei „der Vermietung von Wohnraum […] eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse zulässig“ sei. Mit dieser Formulierung soll im Sinne einer ' positiven Diskriminierung' der bevorzugte Zugang für Menschen mit Migrationshintergrund auch in bislang wenig von Migration geprägten Wohngebieten erleichtert werden . Jedoch verweist eine Studie auf die annähernd durchgängige Fehlinterpretation durch Wohnungsanbietende: Das Ziel einer 'guten Mischung' dient für viele als Rechtfertigung für den gezielten Ausschluss von migrantisch gelesenen Haushalten insbesondere in Quartieren, die bereits einen hohen Anteil dieser Gruppe aufweisen.
Welche Hebel müssten in Bewegung gesetzt werden, um den Zugang von Migrant*innen zum Wohnungsmarkt zu verbessern?
Wohnen in Zeiten einer postmigrantischen Gesellschaft
Eine verstärkte Investition in den preisgebundenen Wohnungsbau sowie umbau- und umverteilungsfördernde Maßnahmen im Bestand (z.B. kommunale Plattformen zum Wohnungstausch oder Wohnflächenabgaben) sind notwendig, damit Wohnraum zugänglich, preisgünstig und zielgruppengerecht sowie gleichzeitig klimaschonender wird. Auch können interkulturelle Öffnung sowie die Etablierung von Interner Link: Diversity-Management und Anti-Diskriminierungsprozessen in Verwaltung und Wohnungsunternehmen Schritte in Richtung diskriminierungsfreier Strukturen sein. Dies beinhaltet auch ein kritisches Prüfen des Leitbilds "stabiler Bewohnerstrukturen" in seiner Wirkung auf die Wohnraumversorgung von Migrant*innen. Aktuelle Studien zeigen nämlich deutlich, dass die Stabilität eines Quartiers nicht vom Grad seiner 'ethnischen' Interner Link: Segregation abhängig ist. Viel entscheidender sind Kommunikations- und Beteiligungsstrukturen sowie soziale Infrastrukturen, wie Schulen oder Beratungseinrichtungen, die den lokalen Bedarfen entsprechen und Begegnung fördern.
Die Integrationsleistung, die in Interner Link: migrationsgeprägten Quartieren Tag für Tag erbracht wird, ist für die gesamte Gesellschaft relevant. Die Bedeutung dieser sogenannten Interner Link: 'Ankunftsquartiere' (mit hoher Fluktuation und Einkommensarmut) als potenzielles Sprungbrett in die Stadtgesellschaft wird inzwischen auch von der Politik (z.B. im Nationalen Aktionsplan Integration) explizit anerkannt. Soziale Infrastrukturen müssten dabei so gestaltet sein, dass sie für Neuzugewanderte wie Alteingesessene gleichermaßen offen sind. Gleiches gilt für die Wohnraumversorgung. Ein migrationsbezogener Blick auf Wohnungsfragen ist dabei leider immer noch nötig, um Ungleichheiten sichtbar zu machen und ihnen systematisch entgegenwirken zu können.
Quellen / Literatur
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Aikins, Muna AnNisa; Bremberger, Teresa; Aikins, Joshua Kwesi; Gyamerah, Daniel; Yıldırım Caliman, Deniz (2021): Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland. Berlin. Online unter: Externer Link: https://afrozensus.de/reports/2020/Afrozensus-2020.pdf (17.05.2022).
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Liebig, Simon; Neßler, Miriam; Hanhörster, Heike; Zimmer-Hegmann, Ralf (2022): Migration und Wohnen – Ein kritischer Blick auf den Wohnungsmarkt. ILS-TRENDS 3/22. Dortmund. Online unter: Externer Link: https://www.ils-forschung.de/files_publikationen/pdfs/ils-trends-3-22.pdf (09.09.2022).
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Winke, Tim (2016): Menschen mit Migrationshintergrund zahlen elf Euro mehr Miete pro Monat. DIW Wochenbericht 47/2016. Online unter: Externer Link: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.547530.de/16-47-3.pdf (16.01.2023).
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ADB (2020), S. 7.
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Hanhörster et al. (2020); Hanhörster/Ramos Lobato (2021).
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Die Bundesregierung (2021), S. 39.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-20T00:00:00 | 2023-01-20T00:00:00 | 2023-01-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-in-staedtischen-und-laendlichen-raeumen/517517/migration-und-zugangschancen-auf-dem-wohnungsmarkt/ | Auf dem Wohnungsmarkt wird es eng. Versorgungsdefizite insbesondere in den unteren Wohnungsmarktsegmenten treffen Zugewanderte besonders. | [
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"Diskriminierung",
"Migrationshintergrund"
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Galerie Wohnmaschine | Autonome Kunst in der DDR | bpb.de | Den Namen für seine Galerie wählte Friedrich Loock sorgfältig aus: "Wohnmaschine“ bezog sich auf Le Corbusiers Architekturtheorie und stand für ein Ausstellungskonzept, das Wohnen, Leben und Arbeiten miteinander verbinden sollte – ein Modell, das viele der nichtoffiziellen Ausstellungsprojekte in der DDR der 1970er und 1980er Jahre für sich in Anspruch nahmen. Loock, 1968 geboren und in Berlin-Mitte aufgewachsen, gehörte der jüngsten Generation meist autodidaktisch arbeitender Künstler an, die ihre individuelle Selbstverwirklichung von Anfang an jenseits des staatlichen Kulturbetriebs dachten.
Nach einer Lehre als Tischler in den Werkstätten der Staatsoper Unter den Linden arbeitete Loock als Bühnenbildner am Maxim-Gorki-Theater. Als ein Kollege nach einer Möglichkeit suchte, seine Fotocollagen – Überblendungen sozialistischer Symbole durch triste Ensembles des ostdeutschen Alltags – auszustellen, beschloss er, in seiner 40-Quadratmeter-Wohnung in der Tucholskystraße eine Galerie zu eröffnen und die Arbeiten zu zeigen. Es folgte eine Ausstellung mit den "Schimmelmaschinen“ von Robert Lippok, der bereits 1983 mit der Berliner Band "Ornament und Verbrechen“ bekannt geworden war und den Loock ebenfalls in der Ausbildung an der Staatsoper kennengelernt hatte.
Von November 1988 bis Ende 1989 fanden in den Räumen der Galerie neun Ausstellungen statt – unter anderem mit Malerei von Clemens Wallrot, dem späteren Mitbegründer des Kunsthauses Tacheles in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. In den 1990er Jahren entwickelte sich die Wohnmaschine zu einem angesehenen Ausstellungsort internationaler Kunst. Heute firmiert sie unter dem Namen des Galeristen in einer um ein zehnfaches größeren Halle an der Invalidenstraße nahe des Hamburger Bahnhofs.
Quellen / Literatur
Die Wohnmaschine. Dokumentation 1988–1993. Hrsg. von der Galerie Wohnmaschine. Berlin 1993.
Die Wohnmaschine. Dokumentation 1988–1993. Hrsg. von der Galerie Wohnmaschine. Berlin 1993.
| Article | Uta Grundmann | 2022-04-01T00:00:00 | 2012-01-20T00:00:00 | 2022-04-01T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/autonome-kunst-in-der-ddr/55809/galerie-wohnmaschine/ | Den Namen für seine Galerie wählte Friedrich Loock sorgfältig aus: „Wohnmaschine“ bezog sich auf Le Corbusiers Architekturtheorie und stand für ein Ausstellungskonzept, das Wohnen, Leben und Arbeiten miteinander verbinden sollte. | [
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Neues Selbstbewusstsein und anhaltende Unterdrückung | Indien | bpb.de | Indien ist ein Land voller Widersprüche und nirgends trifft dies mehr zu als bei der Frage nach den Frauenrechten. Zumindest auf dem Papier stehen Indiens Frauen besser da als ihre Geschlechtsgenossinnen in vielen anderen Ländern. Die Interner Link: Verfassung garantiert ihnen Gleichheit. Abtreibung ist legal. Zudem gibt es Gesetze, die ihre Rechte schützen – erst im Oktober 2006 trat mit dem Protection of Women from Domestic Violence Act ein Gesetz in Kraft, das häusliche Gewalt unter Strafe stellt. Vor rund zehn Jahren wurde die indische Verfassung sogar um einen Zusatz erweitert, wonach bei Kommunalwahlen eine 33-Prozent-Quote für Frauen gilt. Über eine Million wichtige Positionen in Stadt- und Gemeindeverwaltungen konnten dadurch bereits von Frauen besetzt werden.
In den Metropolen lässt sich ein weiterer Trend beobachten. Tausende junge und weniger junge Frauen arbeiten heute in den indischen Zweigstellen multinationaler Konzerne. Sie profitieren von neu geschaffenen Jobs – etwa in den zahlreichen Call Centers, die erst in den letzten Jahren entstanden – und entwickeln durch ihre so gewonnene finanzielle Unabhängigkeit ein neues Selbstbewusstsein. Nicht wenige Frauen haben einflussreiche Posten in der Geschäftswelt inne. Indien ist außerdem eines der Länder, in denen mit Indira Interner Link: Gandhi lange eine Frau die politischen Geschicke bestimmt. Andere Politikerinnen haben ebenfalls bewiesen, dass sie scharfsinnig und klug sind. Darüber hinaus werden bedeutende Protestbewegungen der letzten Jahre – wie die Interner Link: Bewegung gegen die Staudämme im zentralindischen Narmada-Tal (Medha Patkar) und die Bewegung für die Durchsetzung des Rechts auf Information (Aruna Roy) – nicht nur von Frauen geführt, sondern bestehen zu einem großen Teil aus Aktivistinnen.
Schlimmste Diskriminierungen und Gewalt
Es gibt jedoch auch eine Kehrseite dieses durchaus positiven Bildes. Obwohl sich Indiens Frauen den Männern in Wirtschaft und Politik nicht nur als ebenbürtig, sondern oftmals sogar als überlegen erwiesen haben, sind Vorurteile noch immer tief in der Gesellschaft verwurzelt. Mehr noch: Frauen müssen weiterhin schlimmste Diskriminierungen und Gewalt über sich ergehen lassen. Interner Link: Obwohl sich der indische Staat als säkular und demokratisch definiert ,wird die weibliche Bevölkerung zum Teil noch immer als zweitklassig angesehen, deren bürgerliche Rechte durch Familie (vor allem Väter) oder Ehemänner definiert werden. Ob im Ehe- und Sorgerecht, bei Erbschaften und sogar am Arbeitsplatz – die Gesetzgebung bewertet Frauen nicht als unabhängig, sondern als Personen, die der Familien oder dem Mann unterstehen. So sprachen bis vor kurzem praktisch alle Ehegesetze Männern mehr Rechte zu als Frauen.
Indiens Statistik bei Gewalttaten gegen Frauen ist erschreckend. Obwohl Indien die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, CEDAW) unterzeichnet hat und trotz der Bemühungen, die Gesetzgebung entsprechend anzupassen, sind Verbrechen gegen Frauen weiterhin an der Tagesordnung. Alle drei Minuten wird in Indien eine Straftat an einer Frau begangen. Alle neun Minuten wird eine Frau von ihrem Ehemann oder Verwandten gequält, und die Zahl von Vergewaltigungen ist in den vergangenen Jahren massiv in die Höhe geschnellt.
Zudem ist seit Jahren ein anderer Besorgnis erregender Trend zu beobachten – das Geschlechterverhältnis verschiebt sich zu Ungunsten der Frauen. Das heißt, es gibt in Indien immer mehr Männer und immer weniger Frauen. In Unionsstaaten wie Haryana und Punjab im Nordwesten des Landes liegt das Verhältnis schon heute bei 927 Frauen zu 1000 Männern. Auch im Bildungswesen wird die Diskriminierung deutlich. Von einem im letzten Jahrzehnt landesweit um etwa zehn Prozent gestiegen Alphabetisierungsgrad haben Mädchen und Frauen kaum profitiert. Und wenn Frauen in der Gesellschaft insgesamt marginalisiert werden, dann umso mehr, wenn sie Gruppen wie den Interner Link: Adivasi, Indiens Ursprungsbevölkerung ,oder den Dalits (Kastenlose) angehören, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft stehen und stark diskriminiert werden.
Frauen während einer Dorfversammlung in Maharashtra Foto: Rainer Hörig
Gleichzeitig gibt es eine starke und dynamische Frauenbewegung, die als Gewissen des Staates fungiert. Vor allem in den vergangenen drei Jahrzehnten (die als Jahre der neuen Frauenbewegung gelten) kämpften indische Frauen für ihre Bürger- und Menschenrechte sowie gegen Vorurteile, überholte Traditionen, die Apathie des Staates sowie individuelle und kollektive Machtinteressen. Obwohl dieser Kampf kein leichter war, sind die Ergebnisse beachtlich. In keinem politischen Rahmenprogramm, in keinem Gesetz dürfen Frauen heute übergangen werden. So gibt es in den Interner Link: wirtschaftspolitischen Fünf-Jahres-Plänen der Regierung seit inzwischen 30 Jahren spezielle Kapitel zur Rolle von Frauen. Zudem unterhält Indien ein eigenes Frauen-Ministerium (Ministry of Women and Child Development) sowie Kommissionen auf zentral- und unionsstaatlicher Ebene, die sich um die Rechte und Bedürfnisse von Frauen kümmern. Und selbst die politischen Parteien sind sich heute der Bedeutung von Frauen und des Potenzials von Politikerinnen bewusst.
Modern und zukunftsorientiert, altertümlich und traditionell
Wie können all diese Realitäten nebeneinander existieren? Diese nicht leicht zu beantwortende Frage beschäftigt in Expertinnen und Experten Indien aber auch im Ausland. Ein Klischee lautet, dass Indien ein Gebilde ist, in dem gleichzeitig mehrere Länder in mehreren Jahrhunderten existieren – auf der einen Seite modern und zukunftsorientiert, auf der anderen altertümlich und traditionell. Wie bei allen Klischees steckt darin mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit.
Tradition – als etwas Statisches gesehen, das sich nur auf Religion oder Werte bezieht, obwohl es viel mehr ist als das – spielt im Leben indischer Frauen eine wichtige Rolle. In Indien ist es daher nicht ungewöhnlich, wenn Frauen selbstbewusst, artikuliert und unabhängig sind, eigene Jobs und Interessen haben, sich aber Interner Link: bei der Wahl des Ehepartners an Eltern und Verwandte wenden. Die Familie, eine Institution, die stark kritisiert wird, sich aber in den vergangenen Jahrzehnten auch verändert hat, ist für indische Frauen noch immer ein Ort der Unterdrückung und Unterstützung zugleich.
Dieses komplexe Bild wird noch komplizierter, wenn man versucht, die "Indien" beschreibenden groben Pinselstriche mit all den Details der unterschiedlichen Landesteile zu füllen. Jeder einzelne Unionsstaat verfügt über ein eigenes Maß an Interner Link: Bildung und Wohlstand. So mögen Frauen in einem Teil des Landes eine bessere Ausbildung und eine bessere Gesundheitsversorgung genießen, gleichzeitig können sie jedoch bei der Versorgung mit Lebensmitteln benachteiligt sein. Frauen in großen Städten haben Möglichkeiten, die Frauen im ländlichen Indien versagt bleiben. Diese Unterschiede in einem Land, das so riesig und mannigfaltig wie ein ganzer Kontinent ist, machen es schwer, allgemein verbindliche Aussagen zu treffen. Denn die Unterschiede sind nicht nur geographisch und sozial, sondern beziehen sich auch auf Religion, Kaste, Klasse und die unterschiedlichen Stufen wirtschaftlicher Entwicklung.
Diese Unterschiede mögen zwar verwirrend sein, in gewisser Weise helfen sie aber auch, den oftmals ganz unterschiedlichen Status von Frauen im Land zu erklären. Wobei eine Erklärung mit Sicherheit nicht ausreicht, um alle Realitäten Indiens einzuschließen. Indien – Heimstatt vieler Religionen – ist eine stark hierarchisch strukturierte Gesellschaft. Zum Teil liegt das an der Existenz des hinduistischen Kastenwesens, zum Teil daran, dass das Land bis zur Unabhängigkeit vor 60 Jahren aus mehreren kleinen Fürstentümern und Königreichen bestand. Aber in keiner Religion der Welt werden Frauen die gleichen Rechte eingeräumt. Hinzu kommt, dass 200 Jahre Kolonialherrschaft dem Selbstbewusstsein indischer Männer – vor allem der Elite – schwer zugesetzt haben. Auch das hat dazu geführt, dass Frauen immer stärker Heim und Herd gedrängt wurden.
Veränderungen werden sichtbar – wenn auch langsam
Das unabhängige Indien erklärte sich selbst zu einem Interner Link: säkularen, demokratischen und egalitärem Staat und versuchte, die Lage zu bessern. Doch wie bei allen Ungleichheiten, die tief in einer Gesellschaft verwurzelt sind, ist deren Beseitigung keine leichte Aufgabe – egal, wie viele kleine Veränderungen bislang durchgesetzt werden konnten. Besonders schwer ist es, die sozialen Überzeugungen und Verhaltensweisen zu hinterfragen.
In der funktionierenden indischen Demokratie haben Frauen heute die Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verändern. Aber nicht für alle öffnet sich dieser Zugang. Für gut ausgebildete Frauen aus den städtischen Mittelschichten bietet Indien vieles, was es nirgendwo sonst auf der Welt gibt: demokratische Entfaltungsmöglichkeiten, eine stetig wachsende Wirtschaft, erstklassige Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie die Möglichkeit, es bis an die Spitze zu schaffen. Für ärmere Frauen indes liegen diese Chancen in weiter Ferne.
Gleichwohl gibt es immer wieder Beispiele, bei denen Frauen sich bietende Gelegenheiten zur Emanzipation ohne Zögern nutzen und bereit sind, all ihre Energie zu investieren und das Beste daraus zu machen. Die angesprochenen Frauen, die aufgrund der Quotenregelung in einflussreiche Positionen in Kommunalverwaltungen gelangt sind, geben dem ländlichen Indien allmählich ein anderes Gesicht. Sie sichern die Versorgung mit sauberem Trinkwasser, garantieren funktionierende Schulen und lassen Geschäfte öffnen, in denen Lebensmittel zu fairen Preisen verkauft werden. Initiativen wie die in Ahmedabad (Unionsstaat Gujarat) ansässige Organisation beruflich selbständiger Frauen (Self Employed Women's Association, SEWA) unterstützen mit Hilfe einer eigenen Bank und der Vergabe von Mikro-Krediten Frauen beim Aufbau einer Existenz. Überall werden Veränderungen sichtbar – wenn auch langsam.
Wirklichen Wandel wird es allerdings nur dann geben, wenn sich das Land dem schwierigen Prozess stellt, Denkweise und Sozialverhalten der Gesellschaft zu verändern. Indien will im 21. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen. Doch der Eintritt in die moderne und globalisierte Welt muss von der Verpflichtung begleitet sein, für die weibliche Hälfte der Bevölkerung nicht nur auf dem Papier Gleichberechtigung zu schaffen, sondern ihr auch im Alltag die notwendige Substanz zu verleihen.
Frauen während einer Dorfversammlung in Maharashtra Foto: Rainer Hörig
| Article | Urvashi Butalia | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/indien/44429/neues-selbstbewusstsein-und-anhaltende-unterdrueckung/ | Indien ist ein Land voller Widersprüche und nirgends trifft dies mehr zu als bei der Frage nach den Frauenrechten. Zumindest auf dem Papier stehen Indiens Frauen besser da als ihre Geschlechtsgenossinnen in vielen anderen Ländern. Doch es gibt auch e | [
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Mittendrin. Fußballfans in Deutschland | Presse | bpb.de | Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb beleuchtet in einer neuen Publikation der Reihe Zeitbilder die liebste Nebensache der Deutschen. Der am 16. März 2018 erscheinende Band „Interner Link: Mittendrin“ ist ganz dem Phänomen Fußball gewidmet. Porträtiert werden jene Akteure, die sonst nicht im Rampenlicht stehen, die Fußballkultur aber entscheidend prägen: die Fans.
Im schnelllebigen Geschäft Profifußball sind Fans eine Konstante. Aber sind sie auch politische Akteure? Trotz der massiv gestiegenen Relevanz, die Fußball heute hat, ist immer noch das alte Credo zu hören, dass Politik beim Sport nichts zu suchen habe. Längst hat es sich als Trugschluss erwiesen, dass Fans ihre politische Einstellung am Tribüneneingang ablegen. Trotzdem fehlt dem Fußballstadion noch immer die Anerkennung als Raum politischer Auseinandersetzung.
Doch was in den Fanszenen passiert, ist ein Seismograph gesellschaftlicher Debatten und Konflikte. Alles was es im „richtigen Leben“ gibt, gibt es auch in und um den Fußball. Umso wichtiger ist es zu wissen, welche politischen Ansichten Fans heute vertreten. Wie sie ticken, woran sie glauben und wie sie gesellschaftliche Entwicklungen beurteilen.
Für „Mittendrin“ haben Anne Hahn und Frank Willmann wichtige deutsche Fußballstandorte besucht. Sie sind Fans begegnet und haben mit ihnen gesprochen. Die Interviews werden im Buch anonymisiert wiedergegeben. Auch Fanarbeiter, Wissenschaftler und Funktionäre kommen zu Wort. Ergänzt werden die Texte durch über 160 Fotografien aus dem deutschen Fußballleben. Das Ergebnis ist ein vielschichtiges und differenziertes Bild deutscher Fanszenen, frei von Romantisierung oder Dämonisierung.
Produktinformation: Mittendrin. Fußballfans in Deutschland Reihe: Zeitbilder Erscheinungsort: Bonn Bestellnummer: 3987 ISBN: 978-3-8389-7169-8 Bereitstellungspauschale: 4,50 Euro
Das Buch ist ab 16. März 2018 in Onlineshop unter Interner Link: www.bpb.de/mittendrin verfügbar.
Pressemitteilung als Interner Link: PDF
Pressekontakt
Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-09-15T00:00:00 | 2018-01-31T00:00:00 | 2021-09-15T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/263817/mittendrin-fussballfans-in-deutschland/ | Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb beleuchtet in einer neuen Publikation der Reihe Zeitbilder die liebste Nebensache der Deutschen. Der am 16. März 2018 erscheinende Band "Mittendrin“ ist ganz dem Phänomen Fußball gewidmet. Porträtiert wer | [
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Tyrannei der Minderheit? | Ökologie und Demokratie | bpb.de | Eine große Mehrheit in Deutschland ist im Grundsatz für die Energiewende. So gaben jüngst 83 Prozent der Befragten einer repräsentativen Studie zur Akzeptanz der Energiewende an, den Ausbau der erneuerbaren Energien für wichtig zu erachten. Nur knapp jede:r Zehnte lehnt die Energiewende ab. Mit dem Krieg in der Ukraine wird der klimapolitisch ohnehin erforderliche Ausstieg aus den fossilen Energieträgern nun auch sicherheitspolitisch relevant, gleichzeitig droht ein ernsthafter Engpass bei der Energieversorgung. Die rot-grün-gelbe Bundesregierung will jedenfalls den Ausbau der Erneuerbaren massiv beschleunigen, nachdem er in den vergangenen Jahren stark ins Stocken geraten war.
Denn gerade der Ausbau der erneuerbaren Energien stößt trotz der grundsätzlichen Akzeptanz auf vielfache Widerstände vor Ort. Windkraft- und Photovoltaikanlagen im ländlichen Raum sowie der parallel erforderliche Ausbau der Übertragungsnetze werden landesweit durch eine Vielzahl von Bürgerinitiativen bekämpft und vor Gerichten beklagt. Lange wurde dies insbesondere auf den sogenannten Nimby-Effekt zurückgeführt: "An sich gerne, aber bitte nicht hier in meinem Hinterhof" (not in my back yard). Doch scheint dieser Effekt in der Vergangenheit überschätzt worden zu sein, denn mit den Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger:innen steigt auch die Akzeptanz derartiger Anlagen. Etlichen Protestgruppen geht es heute längst nicht mehr um die Verlagerung einzelner Bauprojekte, sondern um eine Fundamentalkritik an der Energiewende als Ganzes. Ton und Form der Konfliktaustragung haben sich in den vergangenen Jahren verschärft, was eng mit dem erstarkten Populismus zusammenhängt, der längst auch die Themen Klimawandel und Energie- und Klimapolitik erfasst hat.
In diesem Beitrag beleuchten wir das postulierte Phänomen eines "Energiewende-Populismus" und seine Bedeutung für die Energiewende im lokalen Raum. Wir sind der Überzeugung: Nur mit einer demokratischen Konfliktkultur werden wir die Energiewende auch in Krisenzeiten voranbringen können. Als Grundlage dienen uns Überlegungen und empirische Befunde, die im Rahmen des von der Stiftung Mercator geförderten Projekts "DEMOKON – eine demokratische Konfliktkultur für die Energiewende" erarbeitet wurden.
Grundmuster und Akteure
Gesellschaftliche Krisenzeiten bereiten dem Populismus den Boden, so die verbreitete These. Tatsächlich wird der Populismus über alle Megatrends gespielt, die grundlegende Veränderungen einfordern. Sie können sich zugespitzt als Krise manifestieren – sei diese objektiv feststellbar oder lediglich subjektiv wahrgenommen. Da der anthropogene Klimawandel eine globale Langfristkrise ist, ist es nicht verwunderlich, dass Populismus auch in der damit verknüpften Energiewende eine Rolle spielt.
Das populistische Narrativ sieht das "moralisch reine Volk" von einer "korrupten Elite" um das betrogen, was ihm vermeintlich zusteht. Es stellt also einer behaupteten "Mehrheit" eine politische, ökonomische, wissenschaftliche und mediale Elite gegenüber, die sich angeblich von dieser Mehrheit entfremdet und abgewandt hat, weil sie rein egoistisch nur noch ihre eigenen Interessen beziehungsweise die einer (ebenfalls normativ, nicht empirisch definierten) gesellschaftlichen "Minderheit" vertritt. Heilung wird mit der Forderung der Wiedereinsetzung der Macht des Volkes versprochen (etwa durch mehr direktplebiszitäre Elemente), für deren Durchsetzung sich die populistischen Akteure selbst empfehlen. Zur Verbreitung ihrer Botschaften arbeiten Populist:innen mit Mitteln der Vereinfachung, Personalisierung und Emotionalisierung, etwa durch gezielte Tabubrüche, die mediale Aufmerksamkeit erzeugen. Unterfüttert wird das populistische Weltbild durch einen Dualismus von Gut und Böse. Vermittelnde Instanzen wie repräsentative Vertretungen, Verfassungsgerichte oder öffentlich-rechtliche Medien werden abgelehnt.
Die Grundlogik des Populismus bildet das Gerüst für diverse inhaltlich-thematische Füllungen und unterschiedliche politische Ausrichtungen. Sie zeigt sich unserem Verständnis nach sowohl als politische Ideologie als auch als Strategie des Machterwerbs. Entsprechend spiegelt sie sich im Auftreten von Akteuren, in Proklamationen von Bewegungen und Parteien, öffentlichen Diskursen und medialer Darstellung ebenso wie den Haltungen und Handlungen von Bürger:innen wider, abzulesen nicht zuletzt bei Wahlen und auf der Straße. Populismus ist seinem Wesen nach ein dynamisches Phänomen im Wechselspiel zwischen diesen Ebenen und im Aufschaukeln bis hin zur Radikalisierung.
Mindestens ein Fünftel der erwachsenen deutschen Bevölkerung vertritt repräsentativen Meinungsumfragen zufolge derzeit klar populistische Einstellungen, erfasst in ihren zentralen Dimensionen der Elitenkritik, des Antipluralismus und der Forderung nach Volkssouveränität. Zeitverzögert zu anderen europäischen und außereuropäischen Ländern hat sich mit der AfD inzwischen auch in Deutschland eine rechtspopulistische, mittlerweile in großen Teilen weiter radikalisierte Partei parlamentarisch etabliert. Mit dem Aufschwung der Themen Klimawandel und Energiewende in den vergangenen Jahren hat sie ihren Fokus neu justiert: "Die Kritik an der sogenannten Klimaschutzpolitik ist nach dem Euro und der Zuwanderung das dritte große Thema für die AfD", so ihr ehemaliger Vorsitzender Alexander Gauland. Im Grundsatzprogramm der Partei wird der anthropogene Klimawandel bezweifelt und die Energiewende als unnötig, falsch und gefährlich kritisiert.
Auch weitere Akteure im Feld von Klimawandel und Energiewende bedienen sich einer populistischen Logik. Die 2013 gegründete "Bundesinitiative Vernunftkraft e.V." sieht sich als Dachverband der Antiwindkraftbewegung in Deutschland, in der eigenen Angaben zufolge über 600 Bürgerinitiativen engagiert sind – wobei nicht alle die Fundamentalkritik an der Energiewende teilen, sondern einfache Nimby-Organisationen sind. Ziel ist vor allem der Stopp des Ausbaus von Windkraft, die von "Vernunftkraft" verächtlich als "Zufallsstrom" bezeichnet wird. Die weitere Nutzung von Kohlekraft- und Atomkraftwerken gilt trotz vorgeblicher "Technologieoffenheit" als unerlässlich. Die Energiewende wird als Projekt einer politischen Elite geschildert, die Gesetze nur im Interesse einer rein profitorientierten Windkraftlobby mache und damit die Interessen der Mehrheit des Volkes sowie des Natur- und Landschaftsschutzes verrate. Den Argumenten der Befürworter:innen wird – dem selbstgewählten Namen entsprechend – in vielen Beiträgen die Rationalität abgesprochen. "Vernunftkraft" stellt vorgefertigte Argumentationshilfen für lokale Protestinitiativen bereit und vermittelt Referent:innen, was zu Professionalisierung, aber auch Standardisierung des Protests führt.
Das "Europäische Institut für Energie & Klima" (EIKE) operiert in dem Feld als eine Art Thinktank und legt großen Wert auf seine Wissenschaftlichkeit. Von den elf Mitgliedern des Fachbeirats tragen sieben einen Professorentitel, mehrheitlich befinden sie sich im Ruhestand. Die meisten sind keine Klimaexperten, stilisieren sich aber als eine Art Gegen-IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, der Weltklimarat) und organisieren "Kongresse", auf denen sich Klimaskeptiker:innen vernetzen. EIKE leugnet den menschengemachten Klimawandel, lehnt Klimapolitik und die deutsche Energiewende als unsinnig und hysterisch ab und feiert "Vernunftkraft" als einen der "am besten organisierten Verteidiger der Kommunen Deutschlands". Entsprechend heißt es auf der EIKE-Website: "Nicht das Klima ist bedroht, sondern unsere Freiheit!"
Die inhaltlichen und personellen Verflechtungen zwischen "Vernunftkraft", EIKE und AfD sind erheblich. So nutzt die AfD ihre parlamentarischen Ressourcen auf Bundes- und Landesebene, um "Wissenschaftlern" von EIKE eine Plattform zu geben, umgekehrt kandidieren Personen aus diesen klimawandel- und energiewendeskeptischen Organisationen für die Partei.
Energiewende-Populismus
Die Positionen dieser und weiterer Akteure finden nicht nur Eingang in den energiepolitischen Diskurs, sondern auch in jenen der breiten Bevölkerung. Es zeichnet sich – so die dem DEMOKON-Projekt zugrunde liegende These – das Risiko eines Energiewende-Populismus ab, der sich der populistischen Grundlogik bedient, diese durch klima- und energiebezogene Inhalte füllt und darüber hinaus einige spezifische Dimensionen und Aspekte aufweist (Abbildung).
Klimaschutz sei demnach das Projekt einer korrupten politischen Elite, die ohne Mandat und gegen die Interessen der Mehrheit die Energiewende von oben durchsetze und dem Volk die Mehrkosten dafür aufbürde – in Gestalt von Ökostrom-Umlagen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), Landschaftszerstörung durch Windkraftanlagen oder Belastungen durch Lärm und Ultraschall. Zu dieser Elite zählten neben der Bundesregierung "willfährige" Landesregierungen, Energieagenturen und Genehmigungsbehörden. Diese verträten die Interessen einer gesellschaftlichen Minderheit, die aus einer vermeintlichen Klimahysterie heraus die bewährte Energieversorgung infrage stelle und damit den Wohlstand des Landes gefährde. Ihr Kern werde von profitgierigen Windanlagenbauern und einer gut verdienenden, urban-kosmopolitischen links-grünen Minderheit gebildet, die sich, anders als die Mehrheit, die Energiewende leisten könne, sich öffentlich als ökologische Gutmenschen geriere, insgeheim aber einen CO2-intensiven Lebensstil pflege. Die moralische Mehrheit, der von dieser Minderheit Klimaneutralität anempfohlen werde, setze sich aus den hart arbeitenden "normalen" Menschen zusammen, die – insbesondere auf dem Land – mit hohen Energiekosten leben müssten, und deren heimatliche Landschaft dem "Windwahn" geopfert werde.
(© eigene Darstellung)
In Wirklichkeit wird der Klimawandel jedoch von der Mehrheit der Bürger:innen in Deutschland als menschengemachte Bedrohung eingeschätzt, nicht nur von jenen, die sich politisch im linken Spektrum verorten. Allerdings prägt die politische Grundhaltung auch die Einschätzung der Energiewende: Menschen, die sich rechts der politischen Mitte einordnen, bisweilen auch solche ganz links der Mitte, sind überdurchschnittlich häufig für populistische Erzählungen anfällig, etwa für die Behauptung, Kommunalpolitik und "Windkraftlobby" steckten unter einer Decke. Entgegen der populistischen Behauptung, die Energiewende "schröpfe" die Leute insbesondere im ländlichen Raum, sind ärmere und weniger gut gebildete Menschen sowie jene auf dem Land beinah ebenso häufig grundsätzlich für die Energiewende wie reichere, besser gebildete oder in der Stadt lebende Menschen. Ähnlich wie diese kritisieren sie aber häufig deren Umsetzung.
Im Rahmen einer im DEMOKON-Projekt realisierten Bevölkerungsbefragung unter 2013 Bürger:innen haben wir nun erstmals in größerem Umfang energiebezogen-populistische Aussagen angelehnt an verbreitete Skalen zur Erfassung populistischer Einstellungen operationalisiert. Begleitend wurden qualitative Fokusgruppen- und Einzelinterviews geführt sowie lokale Akteure und Diskurse analysiert. Im Ergebnis zeichnet sich tatsächlich das Muster eines spezifischen Energiewende-Populismus ab. In der differenzierten Analyse werden hinter den energiebezogenen Einstellungen fünf Dimensionen erkennbar:
Wie beim allgemeinen Populismus tritt die Erzählung eines von korrupten Eliten betrogenen Volkes klar hervor: In diesem Fall müsse es die Zeche für die Energiewende zahlen. Diese Erzählung ist begleitet von verschwörungsmythischen Argumenten gegen Politik, Medien und Wissenschaft, die sich unter anderem in der Vermutung zeigen, am Windkraftanlagenausbau wollten sich Unternehmer:innen und Politiker:innen bereichern, Medien und Politik steckten bei der Energiewende unter einer Decke, und Studien zum Klimawandel seien gefälscht. Auch die antiplurale Dimension des Populismus tritt hervor, beispielsweise in der Behauptung, das "einfache Volk sei gegen die Energiewende", "sogenannte Klimaschützer" seien "weltfremde Gutmenschen". Damit verknüpft, aber als eigenständige Dimension erkennbar, steht ein Ausspielen von Naturschutz gegen Klimaschutz mit nostalgisch-bewahrenden Untertönen in Bezug auf eine vermeintlich "bewährte Energieversorgung" und einen "wahren Naturschutz", der Windkraft quasi grundsätzlich ausschließe. Umgekehrt findet sich als weitere Dimension auch ein Pro-Klimaschutz und Pro-Energiewende-Populismus, der ähnlich rigoros, vereinfachend, emotional und ohne Zweifel gedacht und kommuniziert wird. Hier wird beispielsweise der Verdacht geäußert, die Energiewende werde "von den Eliten systematisch ausgebremst". Es wird die Forderung aufgestellt, dem Klimaschutz müssten alle anderen Belange einschließlich demokratischer Spielregeln (notfalls) geopfert werden. Als weitere Dimension bildet sich ein abwägend-überlegter Zugang zur Energiewende ab, der diese als kompliziert begreift und bei der Planung von Energiewendemaßnahmen ein Abwägen verschiedener Interessen für sinnvoll erachtet. Menschen, die dieses Einstellungsmuster zeigen, sind weder für den Pro- noch für den Kontra-Energiewende-Populismus anfällig.
Lokale Effekte
Nicht jeder Protest gegen Windkraftanlagen oder Stromtrassen ist per se populistisch. Die Motivlagen der Menschen, die dagegen auf die Straße gehen, Petitionen unterschreiben oder sogar zu klagen bereit sind, sind vielfältig: Den einen geht es um Naturschutz, den anderen um das Landschaftsbild, wieder anderen um die menschliche Gesundheit, den Wald vor Ort, den Wert des eigenen Grundstücks, die als ungerecht wahrgenommenen Grundrenten oder noch etwas anderes. Populistisch wird der (lokale) Protest erst dann, wenn er das antipluralistische Narrativ des von den Eliten betrogenen Volkes übernimmt.
Beispielhaft lässt sich dies in einer Verlautbarung der Freien Friedländer Wiese, einer Bürgerinitiative in Vorpommern von 2020 ablesen: "Wir stellen mit großer Enttäuschung fest, dass sich die Regierungsparteien, Grüne und Linke sowie ein Großteil der Einwohner der Städte von der im ländlichen Raum lebenden Bevölkerung entsolidarisiert hat (…). Wir empfinden es als zynisch, wenn Ministerpräsidentin Manuela Schwesig meint, Geldzahlungen an Betroffene wären eine angemessene Maßnahme zur Herstellung von Akzeptanz. (…) Vor diesem Hintergrund erklären wir, dass wir die Fortsetzung der Energiewende in Form eines massiven Windkraftausbaus ablehnen. Weder wollen wir Windkraftanlagen im eigenen Lebensumfeld, noch wollen wir sie anderen Menschen zumuten oder in den letzten unzerschnittenen Räumen aufstellen. (…) Es gibt in der Landbevölkerung, sieht man von wenigen Profiteuren ab, keine Akzeptanz für diese Energiewende mehr!"
Der Energiewende-Populismus wird dabei über zwei Mechanismen lokal wirksam: Zum einen nehmen die – oft langjährigen – Gegner:innen von sich aus Kontakt zu populistischen Akteuren auf und übernehmen deren Argumente. Dies kann bisweilen auch in strategischer Absicht geschehen, um durch einen (laut)stärkeren Bündnispartner auf sich aufmerksam zu machen. Zum anderen suchen populistische Akteure die Nähe zu lokalen Protestorganisationen und dienen ihnen ihre Deutungsmuster und Ressourcen an. Die AfD agiert hier bisweilen recht geschickt, indem sie die Vorbehalte einzelner Mitglieder von Bürgerinitiativen gegen sie einkalkuliert und eine Art Deal vorschlägt: Geboten wird eine Plattform für die eigenen Anliegen – zum Beispiel im Rahmen einer organisierten Anhörung zu Windkraft im Deutschen Bundestag –, als Gegenleistung wird sich mit Distanzierungserklärungen gegenüber der Partei zurückgehalten. Wird das populistische Narrativ übernommen, kommt es im Kern zu vier Effekten:
Fundamentalisierung der Protestinhalte: Es geht dann nicht mehr nur gegen eine bestimmte Windkraftanlage, es geht gegen die Energiewende überhaupt. Radikalisierung der Protestformen: Aus Gegnern werden Feinde, die bösartig und unvernünftig sind; mit Gegnern kann man diskutieren, Feinde muss man bekämpfen. Vereinnahmung und Einschüchterung der "schweigenden Mehrheit": Wer die Energiewende und ein konkretes Projekt an sich gut findet, aber sich bisher nicht aktiv dafür engagiert, wird durch die Radikalisierung des Protests tendenziell davor abgeschreckt, sich positiv zu äußern. Gerade in ländlichen Regionen, wo man sich eher kennt und aufeinander angewiesen ist, könnte daraus zur Konfliktvermeidung die Maxime "eher nichts sagen" folgen. Delegitimierung staatlicher Institutionen und Diffamierung öffentlicher Akteure: Staatliche Stellen, die im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben abwägen müssen und Planungen vorantreiben, werden als Vertreter der korrupten Eliten diffamiert, die mit dem Projekt Energiewende "gegen das Volk" arbeiteten.
Klimapolitik demokratisch weiterdenken
Nicht nur der Umgang mit einer "Tyrannei der Mehrheit" (Alexis de Tocqueville) ist für die Demokratie herausfordernd, sondern auch jener mit einer Tyrannei lauter, populistischer Minderheiten, insbesondere dann, wenn sie im Umfeld einer oft schweigenden Mehrheit operiert. Populismus wird dabei sowohl als "Totengräber" als auch als "Korrektiv" für Demokratie gehandelt. "Totengräber" kann er werden, wenn er mit der politischen Elite gleich das ganze demokratische System infrage stellt und mit der behaupteten Homogenität des Volkes dem demokratischen Grundprinzip der Pluralität widerspricht. Als "Korrektiv" vermag er zu wirken, wenn er übergangene Positionen und marginalisierten sozialen Gruppen Gehör verschafft oder verkrustete Prozesse und Strukturen aufzubrechen hilft. Das populistische Weltbild bietet aus unserer Sicht jedoch keine produktiven Lösungsansätze für die von den Populist:innen angeprangerten Problemlagen. Das gilt auch mit Blick auf die Klima- und Energiepolitik.
Die Mehrheit der Protestgruppen gegen Energiewende-Projekte ist nicht grundsätzlich gegen die Energiewende eingestellt, viele kämpfen sogar für eine andere, zum Beispiel dezentralere Energiewende. Das gilt auch für die große Mehrheit der Gesellschaft, die die Energiewende grundsätzlich unterstützt, dennoch Kritik an ihrer Umsetzung übt. Diese fordert vor allem eine schnellere und ebenfalls dezentrale Energiewende, mehr Möglichkeiten für Bürger:innen, sich zu beteiligen, sowie eine gerechtere Verteilung der Lasten. Auch Naturschutzfragen treiben die Menschen um, während die Sorge um die Sicherheit der Energieversorgung oder von Arbeitsplätzen nur von rund einem Viertel der Bevölkerung geteilt wird. Diese Kritikpunkte brauchen Eingang in eine demokratische Weiterentwicklung von Klima- und Energiepolitik, auch, um dem Populismus keinen energiepolitischen Boden zu überlassen.
Das populistische Narrativ einer alternativlosen Energiewende von oben – noch dazu als links-grünes Projekt – ist eine Erfindung. Sie verdeckt, dass um die Energiewende und ihre Ausgestaltung gerungen wird, dabei nicht alle Lobbyinteressen gleichermaßen machtvoll und auf das Allgemeinwohl ausgerichtet sind und sich zudem viele Bürger:innen am Ausbau der Erneuerbaren aktiv beteiligen. Nicht selten kleidet sich die berechtigte Frage nach der Verteilung von Lasten in einen psychologisch bequemen Zweifel an der Sicherheit der Klimawissenschaft. Die Parole "Listen to the science", wie von "Fridays for Future" gefordert, führt hier nicht viel weiter. Kein noch so großer klimawissenschaftlicher Konsens kann die mit der Energiewende verbundenen sozialen Fragen lösen. Der reine Rekurs auf Fakten, so wichtig sie sind, würde Politik durch Expertokratie ersetzen; auch Fakten können tyrannisch wirken, wenn sie nicht nur informieren, sondern den demokratischen Willensbildungsprozess ersetzen.
Die dringend notwendige Kraftanstrengung hin zu einer sowohl natur- als auch umwelt- und klimaschonenden Energieversorgung bedarf vielmehr des transdisziplinär – also auch sozialwissenschaftlich – informierten politischen Diskurses, der mit Blick auf die realen Probleme eines Übergangs zu einer klimaneutralen Gesellschaft eine breite gesellschaftliche Debatte über die Wege dorthin lostritt. Es braucht dafür eine demokratischere Konfliktkultur um die Energiewende, geleitet von der "kooperativen Suche" nach Lösungen, und zwar nicht nur aus einer Grundüberzeugung heraus, sondern weil sie alle betrifft und nur funktionieren wird, wenn sie von möglichst allen getragen wird. Über die Energiewende muss mehr gestritten werden, denn wir legen damit nicht nur eine beliebige technische Infrastruktur fest, sondern prägen auch unsere Naturverhältnisse, Kostenstrukturen, wirtschaftliche Chancenverteilungen und vieles andere mehr. Sie braucht mehr Transparenz über Entscheidungsprozesse und die dahinterstehenden Wertentscheidungen – und damit verknüpft auch über die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen (Neben-)Folgen etwa einer CO2-Abgabe oder der Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien.
Insbesondere die Lokalpolitik, die zunehmend (populistischen) Anfeindungen ausgesetzt ist, muss besser unterstützt werden. Dazu gehört auch, Transparenz über Konfliktakteure herzustellen und deren Strategien einzuordnen, ebenso wie für den Blick über das eigene kleine Wohl hinaus zu werben. Zugleich braucht es Differenzierung: Ausgemacht populistische Akteure mit antidemokratischer Agenda gilt es zu dechiffrieren und explizit auszuladen, wobei es wichtig ist, dies klar zu begründen. Jene, die sich populistischer Logik bedienen, um konkrete Vorhaben aus persönlicher Motivlage heraus zu verhindern, brauchen ein Gesprächsangebot. Die leise und oft schweigende Mehrheit, die die Energiewende mal motiviert, mal zähneknirschend mitmacht, braucht mehr Aufmerksamkeit und Umwerbung, auch dezentrale Diskursräume, in denen das überall im Land angewachsene Halbwissen zu Klima- und Energiethemen seinen Ort und Einordnung findet. Und es braucht die finanzielle Beteiligung der Kommunen auf dem Land, die mit Bevölkerungsschwund und Infrastrukturproblemen kämpfen.
Es gilt, Beschleunigung und Beteiligung zusammenzudenken, nicht zuletzt auch zur Beförderung von Demokratie. Dabei ist Bürgerbeteiligung kein Allheilmittel, sondern will gut durchdacht und gemacht sein, um einerseits Politikverdrossenheit durch Scheinbeteiligung zu vermeiden und sie andererseits vor populistischen Argumenten und Akteuren zu schützen. Die schweigende Mehrheit begrüßt diese Maßnahmen – Landkreise, die frühzeitig proaktiv die Energiewende vorangetrieben haben und dabei stets auch auf prozedurale wie ökonomische Beteiligung geachtet haben, stehen heute nicht nur ökologisch besser da, sondern auch ökonomisch und fiskalisch. Dass Ökologie und Demokratie keine Gegensätze sein müssen, sondern zusammengehören, kann uns gerade heute helfen, wo es gilt, die Balance zwischen Beschleunigung und Beteiligung beim Ausbau der Erneuerbaren auszutarieren.
(© eigene Darstellung)
Vgl. Agentur für Erneuerbare Energien (AEE), Akzeptanzumfrage 2020, 7.1.2021, Externer Link: http://www.unendlich-viel-energie.de/themen/akzeptanz-erneuerbarer/akzeptanz-umfrage/zustimmung-fuer-den-ausbau-der-erneuerbaren-energien-bleibt-hoch.
Vgl. Fritz Reusswig/Beate Küpper/Maike Rump, Propagandafeld Klima, in: Andreas Zick/Beate Küpper (Hrsg.), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn 2021, S. 262–281.
Vgl. Jürgen Quentin, Hemmnisse beim Ausbau der Windenergie in Deutschland, Berlin 2019.
Vgl. Gundula Hübner/Johannes Pohl, Mehr Abstand – mehr Akzeptanz?, Berlin 2015.
Vgl. u.a. Jörg Radtke et al. (Hrsg), Energiewende in Zeiten des Populismus, Wiesbaden 2019.
Zu den theoretischen Überlegungen vgl. Fritz Reusswig et al., Populismus und Energiewende, Demokon Research Paper 1/2021; zu den empirischen Befunden vgl. Simon Teune et al., Energiewende? – ja! Aber … Kritik und Konflikte um die Energiewende im Spiegel einer Bevölkerungsbefragung, Demokon Research Paper 2/2021, abrufbar auf Externer Link: http://www.demokon.de. Unser Dank gilt dem Projektteam: Emily Drewing, Wiebke Lass, Stine Marg, Nico Mokros, Jörg Radtke, Julia Schatzschneider, Simon Teune, Julia Zilles und anderen.
Ein Narrativ stellt einen Deutungsrahmen bereit, der für eine Situation 1) eine Problemdeutung anbietet, 2) die Ursache des Problems benennt, 3) eine moralische Bewertung vornimmt, und 4) eine Handlungsempfehlung abgibt. Vgl. Robert Entman, Framing: Towards a Clarification of a Fractured Paradigm, in: Journal of Communication 3/1993, S. 51–58.
Vgl. Cas Mudde/Cristobal Rovira Kaltwasser, Populismus: Eine sehr kurze Einführung, Bonn 2019.
Vgl. Paula Diehl, Einfach, emotional, dramatisch, in: Die politische Meinung 539/2016, S. 78–83.
Vgl. Robert Vehrkamp/Wolfgang Merkel, Populismusbarometer 2020, Einwurf – Policy Brief der Bertelsmann Stiftung 2/2020, Externer Link: http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/.
Zit. nach Matthias Kamann, Die AfD und die "sogenannte Klimaschutzpolitik", 28.9.2019, Externer Link: http://www.welt.de/politik/deutschland/article201093000.
Vgl. AfD, Programm für Deutschland, April/Mai 2016, S. 79ff.
Vgl. Nikolai Ziegler, Lastesel, Faultiere und Junk Science, in: Georg Etscheit (Hrsg.), Geopferte Landschaften. Wie die Energiewende unsere Umwelt zerstört, München 2016, S. 51–89. Siehe auch Externer Link: http://www.vernunftkraft.de/mission.
Andreas Demmig, Menschen aller Berufsschichten im Kampf gegen die Windenergie vereint: Vernunftkraft, 24.1.2019, Externer Link: http://www.eike-klima-energie.eu/2019/01/24.
Der Vizepräsident von EIKE, Michael Limburg, kandidierte 2017 für die AfD und ist Mitarbeiter von Karsten Hilse, dem klimapolitischen Sprecher und Obmann der AfD im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages. Die klima- und energiepolitischen Abschnitte des Grundsatzprogramms der AfD lesen sich wie Kurzfassungen von EIKE-Positionspapieren. Die Kassenwartin von "Vernunftkraft" kandidierte bei den Kommunalwahlen 2019 in Brandenburg für die AfD.
Vgl. Reusswig/Küpper/Rump (Anm. 2).
Vgl. Teune et al. (Anm. 6).
Für einen Überblick vgl. Christoph Hoeft/Sören Messinger-Zimmer/Julia Zilles (Hrsg.), Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017.
Freie Friedländer Wiese, Kooperation mit Bürgerinitiativen aus Vorpommern 2020, 25.1.2020, http://freie-friedländer-wiese.de/?p=794.
Dabei wird die Ablehung von Energiewendevorhaben häufig überschätzt: So gaben bei der DEMOKON-Befragung in Regionen mit Windkraft-Konflikten nur 21 Prozent der Befragten an, selbst eine ablehnende Einstellung zu haben, aber 48 Prozent glaubten, die anderen hätten eine ablehnende Haltung. Vgl. Teune et al. (Anm. 6).
Vgl. Florian Hartleb, Populismus als Totengräber oder mögliches Korrektiv der Demokratie?, in: APuZ 5–6/2012, S. 22–29.
Vgl. Mario Neukirch, Grinding the Grid: Contextualizing Protest Networks Against Energy Transmission Projects in Southern Germany, in: Energy Research & Social Science 69/2020, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.erss.2020.101585.
Vgl. Teune et al. (Anm. 6).
Vgl. Leslie-Anne Duvic-Paoli, Re-Imagining the Making of Climate Law and Policy in Citizens’ Assemblies, in: Transnational Environmental Law, First View, 27.1.2022, Externer Link: https://doi.org/10.1017/S2047102521000339.
Vgl. etwa für den Rhein-Hunsrück-Kreis: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Der Rhein-Hunsrück-Kreis: Die Vormacher der Energiewende, Mainz 2020, Externer Link: http://www.bund-rlp.de/fileadmin/rlp/Mensch_und_Umwelt/Energiewende/.
| Article | Reusswig, Fritz | Küpper, Beate | 2022-05-20T00:00:00 | 2022-05-19T00:00:00 | 2022-05-20T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/oekologie-und-demokratie/508501/tyrannei-der-minderheit/ | In den vergangenen Jahren ist die Herausbildung eines spezifischen Energiewende-Populismus zu beobachten. Die Energiewende wird sich nur mit einer demokratischen Konfliktkultur voranbringen lassen. | [
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Die indischen Kennedys | Indien | bpb.de | Rahul Gandhi, der Stammhalter jener Familie, die Indien zwei Drittel der Zeit seit der Unabhängigkeit 1947 regierte, hat die erste Bewährungsprobe als Politiker bestanden. Es war ein Test der speziellen Art – und er sprach Bände über die politische Kultur in der so genannten größten Demokratie der Welt. Sonia Gandhi, die Vorsitzende der regierenden Interner Link: Kongresspartei, schickte den 36-jährigen Sohn an ihrer statt in den Wahlkampf. Die mächtigste Frau des Landes musste im Mai 2006 nämlich zur Nachwahl ins Interner Link: Unterhaus antreten, nachdem sie – von der Opposition wegen Ämterhäufung angegriffen – sämtliche Mandate niedergelegt hatte.
Der überraschende Verzicht bestätigte die moralische Größe der aus Italien stammenden Politikerin – darüber war sich die breite Öffentlichkeit einig. Im Mai 2004 bereits hatte Sonia Gandhi die Regierungsbildung abgelehnt und Manmohan Singh als Premierminister vorgeschlagen. Grund war eine Hasskampagne. Die Interner Link: Hindunationalisten versuchten mit allen Mitteln zu verhindern, dass die 1983 eingebürgerte Katholikin das mehrheitlich hinduistische Milliardenvolk führt. Nun hat das Land erstmals einen Sikh zum Regierungschef, und Sonia Gandhi, die scheinbar so selbstlos verzichtete, wird vom Volk schon fast als Heilige verehrt. Welch Ironie.
"Madam" hatte es also gar nicht nötig, die Wählerschaft von ihren Qualitäten zu überzeugen. Sohn Rahul nahm der 60-jährigen Politikerin die mühsame Basisarbeit ab. Die Familie verpflichtet. Er durchkreuzte im Toyota-Landcruiser zwei Wochen lang den Wahlkreis Rae Bareli, einen dürren Landstrich im Unionsstaat Uttar Pradesh, den spitze Zungen als "Herrschaftsgebiet" des Nehru-Gandhi-Clans bezeichnen: Der hiesige Parlamentssitz wurde von einer Generation an die nächste vererbt. Trauben von Bauern und Frauen in leuchtenden Saris empfingen ihn einem Kronprinzen gleich. Sie bekränzten Rahul Gandhi mit Ringelblumen und überschütteten ihn mit Lobpreisungen. Er hatte nicht viel mehr zu tun, als im blütenweißen Baumwollgewand seine Ahnen heraufzubeschwören. Die Auftritte genügten, um seiner Mutter eines der besten Wahlergebnisse in der indischen Geschichte zu bescheren. Der Gandhi-Mythos erhält die Dynastie am Leben.
Nehru etablierte in Indien die Demokratie
Gandhi und Jawaharlal Nehru während einer Tagung des All-India Congress Committee, August 1944
Jawaharlal Nehru hätte das nicht gefallen: Der Kult um seinen Clan widerspricht dem Geist des Staatsgründers. Der in Cambridge ausgebildete Jurist erachtete die Religion als größte Gefahr für Indien. Jede Form der Anbetung war ihm als Atheist und Demokrat so suspekt, dass er einmal sogar einen anonymen Artikel verfasste, der vor der Gefahr, ihm zu viel Macht und Lob zu geben, warnte: "Wir wollen keine Cäsaren!" Sein autokratischer Zug, nur wenigen Auserlesenen zu trauen, machte ihn jedoch unweigerlich zum Maß aller Dinge.
Die Widersprüche, die der anglophile Spross einer Brahmanen-Familie aus Interner Link: Kaschmir vereinte, spiegeln sich in dem von ihm geformten Staat. Bereits Pandit Nehru, wie er wegen seiner Herkunft betitelt wurde, erbte den Vorsitz der Kongresspartei. Man schrieb das Jahr 1928, als er die Führung der nationalistischen Partei von seinem erkrankten Vater Motilal, einem der Gründungsmitglieder, übernahm. Die gewaltlose Bewegung um die indische Unabhängigkeit von Großbritannien führte er gemeinsam mit Mahatma Gandhi, obwohl er mit dessen Glaube an traditionelle Werte nichts anzufangen wusste.
Seine Vision lautete, Indien zu einem modernen Staat, zu einer Großmacht zu entwickeln. Und Nehru war als erster Premierminister von 1947 bis 1964 gleichbedeutend mit Indien. Der idealistische Aristokrat, der sich als Vertreter der Massen verstand, legte praktisch im Alleingang die Eckpfeiler der Nation fest: Demokratie, Trennung von Staat und Religion, Blockfreiheit und Sozialismus. Geblendet von den großen Konglomeraten der Sowjetunion, unterwarf er Indien einem Interner Link: planwirtschaftlichen Regime, was eine aufgeblasene und oft inkompetente Bürokratie zur Folge hatte. Zwischen Absicht und Resultat öffnete sich eine Kluft. Viele hehre Vorhaben, wie die Abschaffung der Unberührbarkeit 1955, blieben Papier. Indien bezog außenpolitisch Stellung zu vielen Fragen, vermochte aber seine Eigeninteressen nicht zu verteidigen. Trotzdem ist Nehrus Vermächtnis nicht hoch genug zu achten: In einer Zeit, da sich andere Staatsgründer in Asien zu Diktatoren aufschwangen – Mao in China und Jinnah in Pakistan, Ho Chi Minh in Vietnam und Sukarno in Indonesien – etablierte er in Indien die Demokratie.
Indira Gandhi: "Der einzige Mann in einem Kabinett alter Weiber"
Dass die einzige Tochter nach seinem Tod zur Regierungschefin aufstieg, lag nicht etwa daran, dass er die Weichen entsprechend gestellt hätte. Mitnichten: Nehru hatte es schlicht verpasst, überhaupt Vorsorge für ihre Zukunft zu treffen. Indira Gandhi verstand sich nach einem abgebrochenen Geschichtsstudium auf nichts anderes als Politik. Die Kampagnen und insgesamt neun Jahre Haft ihres Vaters hatten sie von Kindesbeinen an geprägt. Ihre früheste Erinnerung war, dass ihre Familie aus Protest gegen die britische Kolonialherrschaft alle westlichen Kleider und sie selbst schweren Herzens ihre importierte Puppe verbrannt hatte. Kein Wunder, dass das frühreife Kind der erklärte Liebling des Mahatmas war.
Die nationalistische Pflicht stellte Indira Gandhi über alle anderen Interessen. Hochschwanger mit dem zweiten Sohn zog sie kurz vor der Unabhängigkeit bei ihrem verwitweten Vater ein, um an seiner Seite die Aufgaben als First Lady zu erfüllen. Es sollte bei dem Arrangement bleiben: Die Beziehung zu ihrem Gatten Feroze Gandhi, der mit dem Mahatma nicht verwandt war, kühlte sich ab, während sie sich zur engsten Vertrauten ihres Vaters entwickelte. Nach seinem Tod 1964 wurde sie von Funktionären der Partei bedrängt, ein Regierungsamt anzutreten. Sie übernahm das zweitrangige Portfolio für Information und erwarb sich, als Pakistan den zweiten Krieg gegen Indien vom Zaun brach, den Ruf, "der einzige Mann in einem Kabinett alter Weiber" zu sein.
Wenig später avancierte sie zur Premierministerin. Die Herausforderungen, denen sie als Regierungschefin 1966 bis 1977 gegenüberstand, waren gewaltig: schlechte Ernten und bittere Armut, riesiges Bevölkerungs- und kleines Wirtschaftswachstum, galoppierender Amtsschimmel und grassierende Korruption. Die Frau, die von Zeitgenossen als liebevoller Mensch, aber skrupellose Machtpolitikerin geschildert wird, mütterlich und zerstörerisch zugleich, ging die Probleme mit harter Hand an.
Ihre Widersacher in der Kongresspartei schaltete sie kaltblütig aus. Indira Gandhi setzte auf Populismus und manövrierte das Land immer tiefer in die Krise. Als sie von einem Gericht wegen unlauteren Wahlkampfs verurteilt wurde, schien ihre Position unhaltbar. Da verhängte die streitbare Premierministerin kurzerhand den Ausnahmezustand. Zunehmend isoliert, baute sie ihren Zweitgeborenen Sanjay zum Nachfolger auf. Der verzogene Lieblingssohn war verantwortlich für Millionen von Zwangssterilisationen. Der Aufschrei des Entsetzens veranlasste die "Mutter der Nation", die Bestätigung an der Urne zu suchen. Sie wurde abgewählt – und kämpfte sich 1980 wie eine Löwin an die Regierungsspitze zurück. Wenig später kam ihr Sohn Sanjay bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Ein schwerer Schlag, der sie von ihren dynastischen Plänen nicht abzubringen vermochte. Sie bekniete ihren älteren Sohn Rajiv, der Berufspilot bei Indian Airlines war, in die Politik einzusteigen. Als er schließlich einwilligte, war seine Frau Sonia untröstlich. Den Verlust des ungezwungenen Familienlebens beweinte sie tagelang hinter verschlossenen Türen.
Unruhen in verschiedenen Landesteilen überschatteten Indira Gandhis zweite Regierungszeit. Den zentrifugalen Kräften trat sie entgegen, indem sie die Zentralgewalt mit Sondervollmachten stärkte. Einen Aufstand der Sikhs im Punjab beantwortete sie mit der Erstürmung des Goldenen Tempels in Amritsar, des höchsten Heiligtums der Religionsgemeinschaft. Sie bezahlte mit dem Leben dafür: Zwei ihrer eigenen Sikh-Leibwächter erschossen sie wenige Monate später, am 31. Oktober 1984, in ihrem Garten. Noch am selben Abend wurde ihr Sohn als Premierminister vereidigt.
Sonia Gandhi: "Rette das Land!"
Rajiv Gandhi, von Natur aus liebenswürdig und zurückhaltend, erwies sich als linkischer, aber integerer Politiker. Der Außenseiter brachte überraschend einen neuen Wind in die indische Regierung. Er setzte sich in Worten und Taten für Versöhnung mit den Sikhs ein. Versessen auf die Errungenschaften der modernen Technik, leitete er die Liberalisierung wirtschaftlicher Teilbereiche ein. Dies kam nach Jahrzehnten des planwirtschaftlichen Diktats einer Revolution gleich. Die Wachstumszahlen schnellten in die Höhe, doch illegale Provisionszahlungen bei einem Geschäft mit dem schwedischen Rüstungskonzern Bofors warfen ein schiefes Licht auf seine Regierung. Der Verdacht, dass Rajiv Gandhi selbst in den Skandal verwickelt sein könnte, führte 1989 zu seiner Abwahl. Er befand sich auf Wahlkampagne – mit besten Chancen, an die Regierungsspitze zurückzukehren –, als er 1991 beim Selbstmordattentat einer tamilischen Befreiungskämpferin in Stücke gerissen wurde.
Rajiv Gandhi war noch nicht kremiert, als Funktionäre der Kongresspartei bereits seine Residenz belagerten: "Rette das Land!", riefen sie der im Haus verschanzten Witwe zu. Sonia Gandhi aber widerstand dem Druck. Erst sechs Jahre später, als die Hindunationalisten in Delhi regierten, übernahm sie den Parteivorsitz. Die ehemalige Fremdsprachenschülerin, die ihren Mann mit 18 Jahren in Cambridge lieben gelernt hatte, führte den Kongress praktisch im Alleingang mit einem Kampagnenmarathon an die Macht zurück. Den Sari geschlungen wie einst die Schwiegermutter bestritt sie Auftritte von früh bis spät in fließendem Hindi.
Nun leitet sie die Koalition, Manmohan Singh die Regierung. Die ungewöhnliche Machtteilung funktioniert wider Erwarten gut. Sonia Gandhi fährt jeweils freitagabends zu einem Arbeitsgespräch zum Premierminister. Beobachter bescheinigen ihr, dem Regierungschef den Rücken freizuhalten, indem sie die kunterbunte Koalition geschickt zusammenhält.
"Die Kommunisten schmelzen in ihrer Anwesenheit", sagt der Politkommentator Shekhar Gupta. "Sie verhalten sich wie der Fanclub eines Filmstars." Wirtschaftsvertreter sind weit weniger begeistert. Manche der Maßnahmen, zu denen die Regierung bei der Armutsbekämpfung greift, scheinen sozialistischen Lehrbüchern für Anfänger zu entstammen. Die Kritiker verurteilen die gut gemeinten Bemühungen als Rückfall in alte Zeiten, Sonia Gandhi selbst als wandelnden Anachronismus. Die breite Masse aber verehrt sie als Heilsbringerin.
Die Magie des Nehru-Gandhi-Clans ist ungebrochen. Der Lebensweg des Stammhalters ist vorgezeichnet, ob er will oder nicht. Viele einfache Leute glauben, in Rahul Gandhi aufgrund der leuchtenden Augen und charmanten Wangengrübchen die Wiedergeburt seines Vaters zu erkennen. Mag der zur Politik gedrängte Wirtschaftsberater in den zwei Jahren im Parlament auch mehr Schlagzeilen mit seiner kolumbianischen Freundin als mit seinen zwei Wortmeldungen gemacht haben – die Parteigenossen wollen ihn zum Generalsekretär des Kongresses küren. Speichelleckerei spielt dabei mit. 300 Jungfunktionäre haben sich seinen Namen jüngst auf den Unterarm tätowieren lassen. Sie verstehen dies als Schwur, dem künftigen Premierminister die Treue zu halten.
Der Text erschien im August 2006 in Ausgabe 32/33 der Zeitschrift "Das Parlament".
Gandhi und Jawaharlal Nehru während einer Tagung des All-India Congress Committee, August 1944
| Article | Manuela Kessler | 2021-06-23T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/asien/indien/44456/die-indischen-kennedys/ | Jawaharlal Nehru, Indira, Rajiv, Sonia und inzwischen Rahul Gandhi – seit der Unabhängigkeit dominiert der Nehru-Gandhi-Clan die indische Politik. Und auch in Zukunft wird die Familie die Geschicke des Landes bestimmen. | [
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Analyse: Donbass: Sind die "Volksrepubliken" Marionettenstaaten? | Ukraine-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung
Die beiden "Volksrepubliken" in der Ostukraine, Donezk und Luhansk, sind nach eigenem Bekunden selbständige Staaten und streben langfristig einen Zusammenschluss mit Russland an. Bei genauerem Hinsehen besitzen sie aber bereits jetzt nur wenig echte Eigenständigkeit. Vor allem wirtschaftlich und militärisch, aber auch politisch hängen die Separatisten von Moskau ab – und zwar deutlich stärker als die anderen separatistischen Gebiete im postsowjetischen Raum. Das macht sie zu klassischen Marionettenstaaten, in denen eine ausländische Macht die Geschicke des Landes bestimmt.
Geschichte: Moskau war mehr als nur Geburtshelfer
Die ostukrainischen "Volksrepubliken" wurden am 7. April 2014 in Donezk bzw. am 27. April 2014 in Luhansk von örtlichen Aktivisten ausgerufen. In den Wochen zuvor hatten tausende prorussische Demonstranten in beiden Städten gegen die neue Regierung in Kiew und für einen Anschluss ihrer jeweiligen Gebiete (oblasti) an Russland demonstriert. Die Kundgebungen im Donbass hatten Anfang März begonnen (am 1. März in Donezk und am 2. März in Luhansk), zwei Tage nachdem die bewaffneten "grünen Männchen" auf der Krim die russische Annexion eingeläutet hatten.
Ukrainische Politiker und Journalisten werfen Russland vor, diese Kundgebungen initiiert und gesteuert zu haben. In Medienberichten hieß es, viele der Demonstranten seien aus Russland gekommen. Bereits am 3. März 2014 forderte der damalige Gouverneur von Donezk Serhij Taruta die Schließung der Grenze zu Russland, um "subversive Aktivitäten" ausländischer Bürger zu unterbinden (Taruta 2014).
Für eine gezielte Steuerung aus Russland spricht auch, dass es eine separatistische Bewegung solchen Ausmaßes in der Ostukraine bis dato nicht gegeben hatte. Die Anführer der Proteste waren bis dahin weitgehend unbekannt – einige von ihnen waren allerdings Jahre zuvor in Sommerlagern der Kremljugend am Seligersee in Russland gesehen worden (Bessonova 2015).
Verdächtig ist auch, dass die Proteste im Donbass nicht spontan mit dem Erfolg der Euromaidan-Revolution in Kiew begannen (Präsident Wiktor Janukowytsch war am 22. Februar geflohen), sondern erst eine Woche später, fast zeitgleich mit der militärischen Aktion auf der Krim. Am 28. Februar hatte Alexander Saldostanow (Spitzname "Chirurg"), Anführer der Motorradgang "Nachtwölfe" und Vertrauter von Russlands Präsident Wladimir Putin, den Beginn einer prorussischen Rallye durch die Ostukraine und die Krim angekündigt, die er "Russkaja vesna" (russischer Frühling) nannte.
"Russkaja vesna" wurde zum Markennamen der prorussischen Bewegung, die sich im Laufe des März um die "Volksgouverneure" Pawel Gubarew in Donezk und Waleri Bolotow in Luhansk formierte. Die Proteste blieben zunächst weitgehend friedlich, allerdings stürmten einige Teilnehmer mehrmals die Gebietsverwaltungen. Große Massenproteste wie auf dem Kiewer Maidan blieben aus; in der Millionenstadt Donezk wurden die Teilnehmer an der größten Demonstration am 2. März auf 4.000 geschätzt.
Am 6. April wurden die Proteste gewalttätig. Demonstranten in Luhansk nahmen das Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU ein, womit ihnen ein kleines Waffenarsenal in die Hände fiel. Am darauffolgenden Tag kündigte die neue Regierung in Kiew an, die Aufstände niederzuschlagen. Eine Woche später brachte ein offenbar aus Russland eingereistes Kommando unter dem russischen Geheimdienstagenten Igor Girkin (Deckname "Strelkow") gewaltsam strategische Gebäude in den Städten Slowjansk und Kramatorsk unter seine Kontrolle.
Dieser Wandel resultierte möglicherweise aus dem mangelnden Erfolg der Proteste, die nicht, wie von manchen im Kreml erhofft, die nötige Legitimität für eine Annexion schufen: "Der folgende "Bürgerkrieg" […] war wohl Moskaus Plan B. […] Ein improvisiertes Szenario, das sich spontan aus den zunächst unbewaffneten, aber gescheiterten Umsturzversuchen durch von Russland gesteuerte Aktivisten entwickelte", schreibt etwa Ukraineexperte Andreas Umland (Umland 2016).
Hinweise auf Fremdbestimmtheit
Ihre Legitimität führen die "Volksrepubliken" auf sogenannte "Referenden" zurück, die am 11. Mai 2014 in Donezk und Luhansk zeitgleich abgehalten wurden – obwohl es zwischen den Separatisten beider Gebiete zuvor wenig bis gar keine Koordinierung gegeben hatte.
Die Abstimmungen, die wie zuvor das "Referendum" auf der Krim am 16. März ohne Zustimmung, geschweige denn Beteiligung der Kiewer Zentralregierung erfolgten, ergaben knapp 90 Prozent (Donezk) beziehungsweise 96 Prozent (Luhansk) Zustimmung für die "Volksrepubliken" und wurden vom Westen scharf kritisiert.
Ähnlich gut abgestimmte Wahlen wurden zeitgleich im November 2014 abgehalten, als die Anführer sowie Parlamente beider "Volksrepubliken" (mit großer Mehrheit) gewählt wurden, sowie im Oktober 2016, als sowohl Donezk als auch Luhansk "primaries" genannte Vorwahlen durchführten. In keiner der Abstimmungen waren Kritiker oder gar Gegner der Separatisten zugelassen.
Hinweise auf eine Koordinierung von außen, nämlich aus Russland, verdichteten sich nach dem Referendum im Mai, als plötzlich eine Reihe russischer Staatsbürger Führungsposten in den "Volksrepubliken" übernahmen: In Donezk wurde Alexander Borodai, ein Moskauer Politberater, "Premierminister", der bereits erwähnte Girkin alias Strelkow wurde Verteidigungsminister. Im Juli kam noch der aus Transnistrien stammende Wladimir Antjufejew als Stellvertreter Borodais dazu.
In Luhansk wurde der russische Politologe Marat Baschirow "Premierminister" und Nikolai Kosizyn, ein einflussreicher Kosakenführer aus der russischen Region Rostow, wurde Feldkommandeur in der Stadt Antrazyt.
Doch bis Herbst 2014, als die ersten Friedensverhandlungen in Minsk stattfanden, wurden die "russischen Separatisten" einer nach dem anderen abgelöst. In Donezk mussten Borodai und der kompromisslose Girkin abtreten, in Luhansk traf es den einheimischen und äußerst selbstbewussten Bolotow. Noch im August wurden Alexander Sachartschenko in Donezk sowie Igor Plotnizki in Luhansk als Republikführer installiert.
Seitdem hat offenbar das von Moskau mitunterzeichnete Minsker Abkommen dafür gesorgt, dass es keinerlei offene Beziehungen zwischen Russland und den Volksrepubliken gibt. Mit dem Abkommen verpflichtete sich der Kreml, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren und am Ziel einer friedlichen Reintegration der "bestimmten Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk" genannten Separatistengebiete mitzuarbeiten.
Hoher Grad der Abhängigkeit
Dennoch gibt es nach wie vor wenige bis gar keine Anzeichen dafür, dass die "Volksrepubliken" eine von außen unabhängige eigenständige Politik machen. Das Leitmotiv aller politischen Handlungen, die aus Donezk und Luhansk nach außen dringen, ist stärkere Integration mit Russland. Meinungsverschiedenheiten sind zwar vorstellbar, da Moskau wegen seiner Minsker Verpflichtungen darauf nur bedingt eingeht (siehe oben), sind aber nicht vernehmbar.
Die Entwicklungen von 2017 haben dafür gesorgt, dass der Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit der "Volksrepubliken" von Russland weiter gestiegen ist. Als Folge der von der Ukraine verhängten Handelsblockade mussten die Betriebe innerhalb der Separatistengebiete Rohstofflieferanten und Absatzmärkte komplett neu beim östlichen Nachbarn suchen. Solange aber Russland die "Volksrepubliken" nicht anerkennt, können diese offiziell keine Industrieprodukte in das Land exportieren, weil Zertifizierungen fehlen.
Als Antwort auf die Blockade zwangen die Separatisten allen verbleibenden Betrieben eine "externe Verwaltung" mit von ihnen ernannten Personen auf. Diese faktische Enteignung hatte zum Ziel, die Steuerzahlungen der Unternehmen von der Ukraine an die "Volksrepubliken" umzuleiten. Ob dadurch deren Abhängigkeit von russischen Subventionszahlungen verringert werden konnte, ist aber unklar. Berichten zufolge stehen viele Betriebe seitdem still.
Anfang 2017 gingen die ukrainischen Behörden davon aus, dass knapp 82 Prozent der Haushaltsmittel der "Volksrepublik Luhansk" (9 von 11 Milliarden Rubel) aus Russland stammen. Insgesamt werden die laufenden russischen Subventionen zum Erhalt der "Volksrepubliken" auf mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr geschätzt – sie kommen aus dem als geheim eingestuften Teil des russischen Staatshaushalts (von Twickel 2018).
Auch militärisch müssen Donezk und Luhansk als mehr oder weniger vollständig von Russland abhängig gelten – auch wenn Putin die separatistischen Truppen 2015 berühmterweise als "ehemalige Traktoristen und Bergleute" bezeichnete. Während es 2014 und 2015 zahlreiche Berichte über die Teilnahme regulärer russischer Truppen an den Kämpfen in Ilowajsk und Debalzewe gab, gehen Experten davon aus, dass die Mehrzahl der militärischen Verbände derzeit aus Einheimischen besteht und dass russische Truppen dauerhaft vor allem als Ausbilder und Kommandeure auf ukrainischem Gebiet sind. Sehr wichtig sind wohl Nachschub und Logistik aus Russland – allein die seit 2014 verschossene Munition kann unmöglich aus dem Donbass stammen.
Keine Kontrolle ist perfekt
Während der Grad der Abhängigkeit der "Volksrepubliken" von Russland also deutlich über "gute Beziehungen zu einer Hegemonialmacht" hinausgeht, ist Moskaus Kontrolle alles andere als perfekt. Das wurde vor allem vor und während des "Putsches" in der "Volksrepublik Luhansk" im November 2017 sichtbar, als es dort zum offenen Machtkampf zwischen den Separatisten kam.
Hier musste Moskau Republikchef Plotnizki fallen lassen und Geheimdienstchef Leonid Passetschnik an die Macht lassen, nachdem klar wurde, dass niemand bereit war, für den langjährigen Kreml-Protegé auf die Straße zu gehen. Plotnizki ist seither verschwunden und befindet sich unbestätigten Berichten zufolge in Russland. Eine Rolle könnte auch gespielt haben, dass der neue starke Mann Passetschnik mächtige Fürsprecher im russischen Inlandsgeheimdienst FSB hat.
Dennoch spricht nicht viel dafür, dass Donezk und Luhansk bald wirkliche Eigenstaatlichkeit besitzen werden. Die Separatisten können sich kaum auf historische Wurzeln beziehen: Die Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog von 1918 hatte nur wenige Wochen Bestand und gilt manchen heute ebenfalls als Marionettenstaat. Dazu kommt, dass die jetzt herrschenden Eliten in den "Volksrepubliken" keine wirklichen Separatisten sind, sondern von einer Einheit mit Russland träumen.
Für Moskau ist die Situation von Nutzen, weil es weiter die Geschicke der "Volksrepubliken" bestimmen und die Konflikte in der Ukraine schüren kann, ohne dafür offiziell Verantwortung zu übernehmen – es tut weiter so, als sei es nur Mittelsmann in einem innerukrainischen Konflikt. Für die Akteure in Donezk und Luhansk ist die Situation von Nutzen, weil sie in einem praktisch rechtsfreien Raum ihren Ruf als "Banditenrepubliken" pflegen können.
Ausblick
Doch die Risiken liegen auf der Hand. Mit mindestens 2,5 Millionen Einwohnern sind die "Volksrepubliken" größer als alle anderen postsowjetischen Separatistengebiete zusammen. Anders als die von Georgien abtrünnigen Regionen Südossetien oder Abchasien genießen Donezk und Luhansk keine Unabhängigkeit, während sie 20 Jahre lang am Tropf des großen Bruders hängen. Die Subventionskosten sind in der russischen Regierung bereits jetzt umstritten. Sie drohen weiter zu wachsen, wenn es nicht gelingt, die Volksrepubliken wirtschaftlich mit Russland zu vereinen. Doch eine Anerkennung oder Annexion würde den brüchigen Friedensprozess vollends zerstören. Diese Zwickmühle ist womöglich der Schlüssel, um Russland zum Einlenken zu bewegen.
Im Text zitierte Literatur:
Serhij Taruta: My oprotestuem vse rešenia, kotorye byli prinjaty deputatami Doneckogo oblsoveta po prinuždeniju. In: Zerkalo Nedely, 03. März 2014, Externer Link: https://zn.ua/columnists/podavlyayuschee-bolshinstvo-zhiteley-donbassaza-sohranenie-celostnosti-ukrainy-140268_.htmlInna Bessonova: Proekt DNR: Respublika deset let nazad. In: 112.ua, 23. April 2015, Externer Link: https://112.ua/statji/proekt-dnr-respublika-desyat-let-nazad-223313.htmlAlexander Saldostanow: Bajkery "Nočnie Volky" provedut avtoprobeg po vostoku Ukrainy i Krymu. In: RIA Nowosti, 28. Februar 2014, Externer Link: https://ria.ru/society/20140228/997534062.htmlAndreas Umland: What is the nature of the "Ukraine crisis"? In: openDemocracyR, 15. November 2016, Externer Link: https://www.opendemocracy.net/od-russia/andreas-umland/glazyevs-tapesNikolaus von Twickel: Annual Report on the Events in the "People’s Republics" of Eastern Ukraine 2017. DRA 2018, Externer Link: http://www.civicmonitoring.org/annual-report-on-the-events-in-the-peoples-republics-of-eastern-ukraine-2017/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2018-05-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/269571/analyse-donbass-sind-die-volksrepubliken-marionettenstaaten/ | Die Separatistengebiete Donezk und Luhansk pochen auf ihre Unabhängig- und Eigenstaatlichkeit. Mit Blick auf Russland zeigt sich, dass eine tatsächliche Autonomie der Staaten jedoch nicht gegeben ist. Wie manifestiert sich das Abhängigkeitsverhältnis | [
"Ukraine",
"Donbass"
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Soziale Bewegungen in Brasilien | Lateinamerika | bpb.de |
Ein brasilianischer Lkw-Fahrer trägt Kunststoff-Fässer aus der Flasko Fabrik in Sumare, Brasilien. (© AP)
Die sozialen Bewegungen können in ihrer heutigen Ausprägung am besten beschrieben werden, wenn ihre historische Entwicklung bekannt ist. Daher wird eingangs erst die Entstehung dargestellt, um dann anschließend eine aktuelle Bestandsaufnahme durchführen zu können. In Brasilien gab es in den vergangenen Jahrzehnten drei Zyklen der Massenmobilisierung sozialer Bewegungen:
1. Ab dem Machtantritt der Regierung Getulio Vargas 1930 wurden nationalistische Bewegungen dominant, wobei oft starke Beziehungen zu kommunistischen Parteien bestanden. Als sich diese Bewegungen radikalisierten – was insbesondere während der Regierung von João "Jango" Goulart ab 1961 geschah – ergriffen Militärs die Macht und bildeten Militärdiktaturen.
2. Nach dem Vorbild der kubanischen Revolution von 1959 prägte bewaffneter Guerilla-Kampf im ländlichen und städtischen Bereich gegen die Diktaturen und für Sozialismus das Bild der 1960er- und 1970er-Jahre.
3. Ab der einsetzenden Demokratisierung in den 1980er-Jahren verlagerte sich das Engagement sozialer Bewegungen stark auf institutionelle Praxis und Widerstand gegen die aufkommende liberale Vorherrschaft. Speziell während der Zeit der Demokratisierung – im Übergang vom zweiten zum dritten Zyklus – waren soziale Bewegungen sehr präsent, da der Protest gegen die Militärdiktatur (1964-1985) breite Akzeptanz unter der Bevölkerung fand. Diese sozialen Bewegungen wiesen deutliche Unterschiede zu denjenigen der Zentrumsökonomien auf. Während letztere vorrangig aus der jüngeren Generation der Mittelschicht bestanden, waren es in Brasilien vor allem die Unterschichten, die die Stärke der Bewegung ausmachten. Bewegungen wie zum Beispiel die Umweltbewegung bekamen daher nicht die gleiche Bedeutung wie in Europa. In Brasilien war es in den 1980er-Jahren vor allem der Kampf um demokratische und soziale Rechte. Viele Bewegungen forderten im Zuge der ökonomischen Krise die Berücksichtigung ihrer materiellen Bedürfnisse ein – wie etwa Trinkwasser, Kanalisation, Wohnraum oder öffentliche Gesundheitsvorsorge –, politische Forderungen an den Staat, wobei sie gleichzeitig auf demokratische Mitsprache pochten. Obwohl der Höhepunkt der Mobilisierung mit der Konsolidierung der bürgerlichen Demokratie überschritten wurde, konnten die sozialen Bewegungen Brasiliens ihre Stärke relativ gut beibehalten, was hauptsächlich an der institutionellen Verankerung liegt.
Anschließend werden die aktuell einflussreichsten Bewegungen kurz dargestellt. Dies ist nicht einfach, da die Definitionen, was denn eigentlich genau eine soziale Bewegung sei, stark differieren. Außerdem ist es nahezu unmöglich, alle Bewegungen genau zu erfassen.
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung (AB)
Geschichte
Entstand in den 1930er-Jahren. Wurde bis in die 1980er-Jahre vom Arbeitsministerium kontrolliert und finanziert. Eine Unabhängige AB gewann erst im "neuen Syndikalismus" ab den 1970er-Jahren an Bedeutung.
Ziele
Die AB ist institutionell und ideologisch zersplittert. Die "Central Única dos Trabalhadores" (CUT) fordert mehr Sozialpolitik, die Etablierung von Branchengewerkschaften und eine staatsunabhängige Gewerkschaftsfinanzierung. Die "Central Geral dos Trabalhadores do Brasil" (CGT) befürwortet ein neokorporatistisches System und die "Confederação Geral dos Trabalhadores" (CGTB) sowie die FS sind pragmatisch und unterstützen die neoliberale Reformpolitik.
Methoden
Seit den 1980er-Jahren werden die Interessen der Gewerkschaften in erster Linie durch die 1981 gegründete Arbeiterpartei "Partido dos Trabalhadores" (PT) und die Dachverbände CUT, CGT, CGTB und FS vertreten.
Persönlichkeiten
Der heutige Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva war seit den 1960er-Jahren in der Gewerkschaftsvertretung der Metallarbeiter aktiv und Mitbegründer der PT.
Landarbeiterbewegung (LB)
Geschichte
Bis in die 1950er-Jahre war die LB über den "Confederação Nacional dos Trabalhadores na Agricultura" (CONTAG) an den Staat annektiert. Mit Hilfe der Katholischen Kirche und der neuen AB bildete sich in den 1970er-Jahren eine autonome LB, aus der wiederum Landlosen- und Kleinbauernorganisationen entstanden. Die "Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra" (MST) ist dabei mit rund 1.5 Millionen Aktivisten die bedeutendste Bewegung.
Ziele
Die LB fordert eine Landreform mittels der Enteignung von unproduktivem Großgrundbesitz und eine Umverteilung an Kleinbauern. Zudem will sie Subventionen und Kredite erhalten und ein Ende der neoliberalen Landwirtschaftspolitik erreichen.
Methoden
Die LB versucht, ihre Ziele anhand direkter Verhandlungen mit der Exekutive durchzuführen. Land- und Straßenbesetzungen, Demonstrationen, Märsche und Medienkampagnen erzeugen Verhandlungsdruck.
Persönlichkeiten
João Pedro Stédile ist der bekannteste Aktivist der MST.
Schwarzenbewegung (SwB)
Geschichte
Die SwB bildete sich mit der "Frente Negra Brasileira" (FNB) der 1930er- und der "Associação Cultural do Negro" (ACN) der 1950er-Jahre. In den Siebzigern institutionalisierte sich die neue SwB mit der "Movimento Negro Unificado Contra a Discriminação Racial" (MNU).
Ziele
Bekämpfung der Rassendiskriminierung in der Gesellschaft und in der Politik. Zudem: Aufarbeitung der Sklaverei und Förderung der kulturellen Eigenständigkeit.
Methoden
Die SB artikuliert auf nationaler Ebene mittels des Rats "Conselho de Participação e Desenvolvimento da Comunidade Negra".
Persönlichkeiten
Die PT-Politikerin Benedita da Silva und der Musiker und derzeitige Kultusminister Gilberto Gil sind wichtige Vertreter der SwB. Frauenbewegung (FB)
Geschichte
Die FB entsteht Anfang des 20. Jahrhunderts mit Gründung des Nationalen Frauenrechtsverbandes "Federação Brasileira pelo Progresso Feminino" (FBPF). Zu einer breiten und schichtübergreifenden FB kam es erst ab den 1970er-Jahren mit der Gründung des "Centro da Mulher Brasileira" (CMB) und den Frauenkongressen in Rio de Janeiro und São Paulo seit den Achtzigerjahren.
Ziele
Forderungen der FB sind die Gleichberechtigung, das Ende der Gewalt gegen Frauen und das Recht auf Abtreibung.
Methoden
Über die Etablierung eines nationalen Rats für Frauenrechte ("Conselho Nacional dos Direitos da Mulher") werden die Interessen der FB gegenüber dem Staat artikuliert.
Persönlichkeiten
Bertha Lutz ist Mitgründerin der FBPF. Romi Medeiros da Fonseca und Terezinha Zerbini führten den feministischen Widerstand in den 1970er- Jahren an. Marta Suplicy setzt sich heute noch für die sexuelle Aufklärung ein.
Indigene Bewegung (IB)
Geschichte
Vereinzelt entstand die IB ab den 1970ern, vor allem mit Unterstützung des Katholischen Indigenen Missionarsrats "Conselho Indigenista Missionário" (CIMI). Ein nationaler Rat wurde 1992 in Form des "Conselho de Articulação dos Povos e Organizações Indígenas do Brasil" (CAPOIB) gegründet.
Ziele
Staatliche Zuweisung von Territorien, rechtlicher Schutz und staatliche Dienstleistungen.
Methoden
Die IB ist weniger national als lokal aktiv. Ihre Forderungen stellt die IB zumeist direkt an die staatliche Indigenenbehörde "Fundação Nacional do Índio" (FUNAI).
Persönlichkeiten
Das Oberhaupt des Marubo-Stammes Clóvis Marubo und die indianische Schriftstellerin Eliane Potiguara sind wichtige Aktivisten der IB.
Bewegung der solidarischen Ökonomie (BSÖ)
Geschichte
Die Anfänge der BSÖ finden sich in einzelnen Initiativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst im Rahmen der Weltsozialforen ab dem Jahr 2000 kam es zur nationalen Etablierung der BSÖ. So wurde im Jahr 2004 das brasilianische Forum für SÖ (FBES) als nationaler und regionaler Vertreter der BSÖ gegründet.
Ziele
Das FBES fordert die öffentliche Unterstützung für solidarisches Wirtschaften, solidarisches öffentliches Verwalten und für Förder- und Beratungseinrichtungen für SÖ.
Methoden
Versuch des direkten Einflusses auf die Exekutive über das Sekretariat zur Unterstützung der solidarischen Ökonomie (SENAES).
Persönlichkeiten
Der Leiter von SENAES Prof. Paul Singer spielte vor allem in der nationalen Zusammenführung der BSÖ eine wichtige Rolle.
Ein interessanter aktueller Versuch von autonomer Institutionalisierung der dargestellten Bewegungen ist die "Koordination der Sozialen Bewegungen" (Coordenação de Movimentos Sociais). Sie wurde 2003 gegründet, und es handelt sich um den Versuch der größten unabhängigen Bewegungen wie CUT, MST und weiterer, eine gemeinsame Plattform zu bilden, um damit eine vom Staat unabhängige Organisierung zu ermöglichen. Soziale Bewegungen stehen nämlich heute in einem komplexen Verhältnis zum Staat. Aus der Tradition des Widerstands gegen den autoritären Staat betonen viele ihre Autonomie, das heißt ihre Unabhängigkeit vom Staat. Gleichzeitig stellten die Bewegungen schon im Zuge der Demokratisierung zunehmend Forderungen an den Staat – so wurden beispielsweise soziale Rechte für alle eingefordert.
Werden von staatlicher Seite dann soziale Leistungen erbracht, besteht die Gefahr der Vereinnahmung der Bewegungen und der Verlust ihrer Autonomie. Tritt der Staat nicht auf den Plan, besteht die Gefahr der Abhängigkeit von privaten Geldgebern.
Diesbezüglich ist die ambivalente Positionierung zur Regierung Lula besonders interessant. Auf der einen Seite unterstützt die Koordination die Regierung, da die Regierungspartei "Partido dos Trabalhadores" (PT) traditionell starke Bindungen zu den sozialen Bewegungen hat und teilweise auch aus den Bewegungen hervorging. Das bringt die Regierung auch dazu, vermehrt materielle Unterstützung zu gewähren. So werden etwa von der Landlosenbewegung bewohnte Gebiete flächendeckend mit Infrastruktur versorgt, und die für die Landreform vorgesehene Fläche hat sich gegenüber der Vorgänger-Regierung verdreifacht. Auch die "Kredit-Versorgung mit Kleinkrediten" fördert Bewegungen wie die Landlosenbewegung oder auch die Bewegungen zur Solidarischen Ökonomie, die seit 2004 durch die Arbeit des Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie auch bei der Vernetzung und in rechtlicher Hinsicht unterstützt wurden. Gleichzeitig verlieren die Bewegungen durch die engeren Beziehungen zur Regierung auch Autonomie, was dazu führt, dass sie aufgrund der steigenden Abhängigkeit nun weniger Kritik üben.
Literatur
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung: Boris, Dieter 1998: Zwischen Staatsnähe und Autonomie. Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und das Beispiel Brasilien, in: Ders. (Hg.): Soziale Bewegungen in Lateinamerika, Hamburg.
Landarbeiterbewegung: De la Fontaine, Dana 2007: Die Institutionalisierung Sozialer Bewegungen am Beispiel der Landlosenbewegung MST in Brasilien, Externer Link: Magisterarbeit, Universität Tübingen
Bewegung der kirchlichen Basisgemeinden: Sträter, Beate 2007: Religiös-politische Bewegungen in Ländern der Dritten Welt am Beispiel der christlichen Befreiungstheologie in Brasilien, Baden-Baden.
Schwarzenbewegung: Silverio, Valter Roberto 2004: Movimento Negro und die (Re)Interpretation des brasilianischen Dilemmas, in: Stichproben. Externer Link: Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien Nr. 6/2004, 4. Jg.
Frauenbewegung: Rausch, Renate 2003: Frauenbewegung zwischen Basisorganisationen, NGO-isierung und Global Governance, in: Costa, Sérgio / Coy, Martin / Sevilla, Rafael (Hg.): Brasilien in der postnationalen Konstellation, Brasilianisten-Gruppe in der ADLAF, Beiträge zur Brasilien-Forschung, Band 1, Tübingen, S. 244-259.
Indigene Bewegung: Schikora, Jan 2001: Politik jenseits der vermachteten Strukturen – Zur Bedeutung Sozialer Bewegungen für den Demokratisierungsprozess in Brasilien, in: Wentzlaff-Eggebert, Christian / Traine, Martin: Externer Link: Arbeitspapiere zur Lateinamerikaforschung, Universität Köln.
Umweltbewegung: Hochstetler, Kathryn & Keck, Margaret 2007: Greening Brazil: Environmental Activism in State and Society, Duke University Press.
Bewegung der Solidarischen Ökonomie: Singer, Paul 2004: Solidarische Ökonomie in Brasilien heute. Eine vorläufige Bilanz. In: Kurswechsel 19 (4), 89-101.
Ein brasilianischer Lkw-Fahrer trägt Kunststoff-Fässer aus der Flasko Fabrik in Sumare, Brasilien. (© AP)
| Article | Dana de la Fontaine und Bernard Leubolt | 2022-02-02T00:00:00 | 2011-12-02T00:00:00 | 2022-02-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/lateinamerika/44669/soziale-bewegungen-in-brasilien/ | Ein Zusammenschluss der wichtigsten sozialen Bewegungen in Brasilien unterstützt die derzeitige Regierung von Präsident Lula. Kritiker bemängeln jedoch diese Nähe, da sie die Unabhängigkeit der Organisationen gefährdet sehen. | [
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Chronik: Vom 12. September bis 9. Oktober 2012 | Ukraine-Analysen | bpb.de | 12.9.2012 Die Regierung bestätigt den Haushaltsentwurf für das Jahr 2013. Er wird dem Parlament vorgelegt, das ihn drei Tage später an die Regierung zur Bearbeitung zurückgibt. Der Entwurf sieht ein Haushaltsdefizit in Höhe von 1,65 % des BIP vor, eine Inflationsrate von 5,9 % und ein BIP-Wachstum von 4,5 %. 13.9.2012 Energieminister Jurij Bojko beantragt bei Gazprom den Kauf von 24,5 Mrd. m3 Gas im Jahr 2013. Das ist etwas weniger als die Hälfte der im Vertrag von Januar 2009 vereinbarten Liefermenge von 52 Mrd. m3. 15.9.2012 Auf der Jahreskonferenz der Europäischen Strategie in Jalta erklärt Ministerpräsident Mykola Asarow, dass die Ukraine derzeit 5 Mrd. US-Dollar im Jahr mehr für Gas an Russland zahle als es der durchschnittliche Marktwert verlange. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle kritisiert die Ukraine scharf in seiner Rede und besteht darauf, dass es »keine Kompromisse bei den Werten« geben könne. Im Gegensatz zum Vorjahr reist auch eine große russische Delegation an, die abermals finanzielle Vorteile beim Eintritt der Ukraine in die Zollunion verspricht. 15.9.2012 EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärt, dass die politischen Zustände in der Ukraine derzeit nicht für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens sprechen. 18.9.2012 Der Kreisrat von Berehowo, Region Transkarpatien, erkennt Ungarisch als Regionalsprache in seinem Bezirk an. Am 7.9.2012 hatte der Stadtrat von Berehowo eine ebensolche Entscheidung gefällt. 18.9.2012 Der Leiter des Wahlkomitees, Oleksandr Tschernenko, erklärt, dass das Verschenken von Produkten, die einen Wert von 32 Hrywnja (ca. 3 Euro) nicht übersteigen, durch Parlamentskandidaten an potenzielle Wähler, kein Vergehen darstellt. 19.9.2012 Der am 23.12.2011 zum Vorsitzenden des Obersten Gerichts gewählte Petro Pylyptschuk beantragt aufgrund seines Alters die Versetzung in den Ruhestand. 20.9.2012 Der nationale Journalistenverband der Ukraine spricht sich gegen das geplante Gesetz zur Anhebung der Strafe gegen Verleumdung aus. Auch die OSZE und einige EU-Politiker kritisieren den Vorschlag. 24.9.2012 Wasyl Wolga, Leiter der staatlichen Kommission zur Regulierung des Marktes für Finanzdienstleistungen, wird wegen Korruption zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im Juli 2011 war er verhaftet worden. 24.9.2012 In einem Bericht zur Internetfreiheit von Freedom House wird die Ukraine als»frei« bezeichnet (in Bezug auf Zugang zum Internet, Zensur der Inhalte), allerdings sei die große Anzahl bezahlter Kommentatoren problematisch. 25.9.2012 Die GUS-Wahlbeobachtermission CIS-EMO kritisiert die OSZE-Mission dafür, dass diese die Opposition unterstütze und die Machthabenden unnötig kritisiere. 27.9.2012 Als Zeichen des Protestes gegen den Gesetzesvorschlag zur schärferen Verfolgung von Verleumdung erscheinen verschiedene Zeitungen mit einer leeren ersten Seite. Andere Zeitungen rufen dazu auf, die Verabschiedung des Gesetzes nicht zuzulassen. 2.10.2012 349 Abgeordnete stimmen gegen die vorgelegte Straferhöhung für Verleumdung. Am 18.9.2012 war das Gesetz in erster Lesung angenommen worden, woraufhin viele Journalisten u. a. ihre Kritik daran geäußert hatten. 2.10.2012 In erster Lesung stimmen 289 Abgeordnete für das Gesetz zum Verbot der »Propaganda« von Homosexualität. 6.10.2012 Bisher hat die Zentrale Wahlkommission 972 internationale Wahlbeobachter von 20 verschiedenen Organisationen aus 9 Ländern registriert. 9.10.2012 Ministerpräsident Mykola Asarow betont, dass ein Beitritt zur Zollunion als auch ein Beitritt zur Europäischen Union für die Ukraine attraktiv ist. Von Ersterem erwartet er eine Senkung des Preises für russisches Gas von über 400 US-Dollar bis auf 160 US-Dollar/1000m3. Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf http://www.laender-analysen.de/ukraine/ unter dem Link »Chronik« lesen. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-10-10T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/145747/chronik-vom-12-september-bis-9-oktober-2012/ | Chronologie der Ereignisse vom 12. September bis 9. Oktober 2012. | [
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Jüngere Reformen in der Gesundheitspolitik | Gesundheitspolitik | bpb.de | Die Gesundheitsreformen 1996, 1999, 2004 und der "Plan Hôpital 2007" aus heutiger Perspektive
Die Sozialversicherungsreform im Jahr 1996 ("Plan/ Réforme Juppé"), die Einführung der Couverture maladie universelle (CMU) und der Couverture maladie universelle complémentaire (CMU-C) im Jahr 2000 im Rahmen des Finanzierungsgesetzes der allgemeinen Sozialversicherung von 1999, das Krankenversicherungsreformgesetz vom August 2004 ("Réforme Douste-Balzy") und schließlich die große Krankenhausreform 2003-2005 ("Plan Hôpital 2007") stellen vier zentrale Reformwerke im Bereich des Gesundheitswesens in Frankreich von Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre dar. Abgesehen von ihren je spezifischen Inhalten teilten diese Gesetze oder Reformpakete vier zentrale Ziele:
die Ausgabenkontrolle und Kostendämpfung bei der gesetzlichen Krankenversicherung sowohl mit Hilfe vorgegebener Einsparziele als auch über die Restrukturierung und Modernisierung des Gesundheitssystems; die Verbesserung der ambulanten und stationären Versorgungsqualität und -effizienz durch die Einführung von Managed Care-Modellen und die Regionalisierung gesundheitspolitischer Steuerungs- und Kontrollfunktionen; die Stärkung der Solidarität mit sozial schwachen Patienten und die Erweiterung der Versichertenpopulation in den gesetzlichen Krankenversicherungen durch Einführung der steuerfinanzierten universellen Absicherung gegen Krankheit (CMU) und der staatlichen Zuschüsse zur privaten Zusatzversicherung (CMU-C); die Stärkung der gesetzlichen Krankenversicherung als Verhandlungspartnerin der niedergelassenen Ärzte und der Krankenhäuser und die stärkere Einbindung der Ärzte in das öffentliche Versorgungssystem.
Welche Bilanz lässt sich mit Blick auf diese Ziele aus der aktuellen Perspektive (2013) ziehen?
Ausgabenentwicklung
Das Ziel, die Reduzierung der Neuverschuldung der gesetzlichen Krankenversicherung auf dem Weg einer gesetzlichen Sparvorgabe in Form des nationalen Ausgabenziels ONDAM zu erreichen, hat sich als illusionär erwiesen. Die "Réforme Juppé" gilt in dieser Hinsicht überwiegend als "gescheitert" (Palier 2010: 101), unabhängig davon, das die jährliche Festlegung des Ausgabenziels für die Assurance maladie längst zu einem festen Bestandteil der nationalen Gesundheitspolitik in Frankreich geworden ist. So ist das ONDAM, abgesehen vom ersten Jahr seines Bestehens – 1997 – bis heute regelmäßig überschritten worden. Die gesetzliche Krankenversicherung ist unterdessen immer stärker ins Minus gerutscht, wobei die Neuverschuldung von Jahr zu Jahr konjunkturbedingt schwankte.
Insbesondere kam es in der Folge der Einführung der CMU und der CMU-C im Jahr 1999 zwischen 2000 bis 2004 zu starken realen Ausgabensteigerungen mit dem Effekt, dass auch das ONDAM in den entsprechenden Jahren deutlich überschritten wurde. Zu demselben Effekt trug eine Steigerung der Arzthonorare im Jahr 2002 bei. Umso bemerkenswerter erscheint, dass die gesetzliche Krankenkasse das jährliche Ausgabenziel des Parlaments seit 2010, ungeachtet des ungünstigen sozioökonomischen und konjunkturellen Umfelds im Zeichen der internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008-2009 und der seither anhaltend hohen strukturellen Arbeitslosigkeit in Frankreich, Jahr für Jahr erreicht hat (vgl. Tab.1). Der hiermit verbundene Konsolidierungseindruck trügt allerdings, wenn man die reale absolute (in Milliarden Euro) Defizitentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung betrachtet (vgl. Tab. 1, letzte Zeile). Hier werden die ‘Spuren‘ der Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich sichtbar.
Da die jährliche Definition eines Ausgabenziels durch den Gesetzgeber nicht mit wirksamen Sanktionsmechanismen zur Zieldurchsetzung verbunden ist und andererseits die Gefahr besteht, dass das ONDAM dazu genutzt wird, die weiterhin defizitäre Situation der gesetzlichen Krankenversicherung durch entsprechende Antizipation der Ausgaben politisch ‘zu beschönigen‘, bleibt das ONDAM ein in erster Linie symbolisches Instrument. Sein eigentlich erhoffter politisch-öffentlicher Effekt – die Stärkung der Legitimität der staatlichen Ausgabenpolitik im Gesundheitswesen durch Einbindung des Souveräns in den Prozess der Ausgabenkontrolle – bleibt vor diesem Hintergrund ebenfalls fragwürdig.
Die zwischenzeitlichen Bemühungen der Regierung, die tatsächliche Ausgabensteigerung und Defizitentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine konzertierte Aktion mit den Kassen und den Verbänden der niedergelassenen Ärzte in den Griff zu bekommen ("Generalstände der Gesundheit 1999"; "Grenelle de la Santé 2001"), und auch der Versuch, Kassen und Ärzte zu eigenständigen Verhandlungslösungen im Rahmen der "Convention nationale" zu bewegen, erwiesen sich als fruchtlos. Der Mangel an Autonomie auf Seiten der Kassen und die traditionelle, strukturell zementierte Entlastung der freien Ärzteschaft von der Verantwortung zum wirtschaftlichen Handeln im Sinne des Gesundheitssystems insgesamt versperrten diesen Weg. In Folge dessen griff die Regierung ab 2003 immer wieder auf die klassischen Instrumente der Einnahmeerhöhungen (z.B. Steigerung der Tabaksteuer; Steigerung der Krankenhausgebühr) und Ausgabenbegrenzungen (Absenkung der Erstattung von Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung) zurück. Mit der Réforme "Douste-Blazy" vom August 2004, die ebenfalls nicht zum Erreichen des Ziels der Ausgabenreduzierung beitrug, setzte sie diesen Weg fort.
Zentrale Maßnahmen des Krankenversicherungsreformgesetzes von 2004 waren:
die Steigerung der CSG für Rentner, die Ausweitungen der Bemessungsgrundlage der CSG von 95 auf 97 Prozent der Einkommenssumme der einzelnen Steuerpflichtigen, die Anhebung des Beitragssatzes der Arbeitgeber zur gesetzlichen Krankenversicherung von 12,7 Prozent (bis 2003) auf 13,6 Prozent (ab 2004). (Der Beitragssatz der Arbeitgeber zur gesetzlichen Krankenversicherung wurde später, im Jahr 2008, von der konservativen Regierung unter Premierminister François Fillon zum Zweck der Entlastung der Arbeitgeber wieder auf einen Wert von 12,8 Prozent zurückgeführt.) eine erneute Steigerung der Krankenhausgebühr von 10,60 Euro auf 13 Euro (sie liegt mittlerweile bei 18 Euro) und die Einführung der 1-Euro Praxis- bzw. Konsultationsgebühr im ambulanten Bereich (Palier 2010: 107).
Schließlich brachte auch die mit dem "Plan Hôpital 2007" im Jahr 2005 eingeführte neue Form der behandlungsbezogenen Vergütung von Behandlungen im Krankenhaus – die Tarification à l’activité ("T2A") – nicht die erhofften Einspareffekte. So sind insbesondere die öffentlichen Krankenhäuser, ungeachtet leichter Bilanzverbesserungen seit 2011, bis heute (2013) stark defizitär (CCSS 2013: 28).
Insgesamt haben die erläuterten Reformen von 1996, 2004 und 2005 die Politik der kontinuierlichen Mehrbelastung der Versicherten, die seit Ende der 1970er Jahre verfolgt worden war (vgl. Palier 2005), nicht verändert. Sowohl im Hinblick auf die ambulante als auch die stationäre Versorgung stellte die klassische Kostendämpfungspolitik auch nach 1996 den Hauptreformpfad dar. Es kam in der Konsequenz regelmäßig zur Abwälzung von Kosten auf die Versicherten, sei es direkt durch Steigerungen des Selbstbehalts, der Gebühren und Zuzahlungen oder durch die Verringerung der Erstattungen in der gesetzlichen Krankenversicherung oder indirekt durch Steuererhöhungen.
Antwort c) ist richtig: Das ONDAM wurde seit seiner Einführung regelmäßig überschritten.
Antwort c) ist richtig: Das ONDAM wurde seit seiner Einführung regelmäßig überschritten.
Die Suche nach Erklärungen für das Scheitern der Reformen führt zunächst zu objektiven Kostensteigerungen, die durch das Einwirken externer Faktoren verursacht sind wie vermehrter Technikeinsatz in der Medizin, Alterung der Gesellschaft und Erhöhung der Behandlungsbedarfe. Allerdings ist das strukturelle Ausgabenproblem der französischen Krankenversicherung zu einem guten Teil hausgemacht. Wesentliche Defizite benannte die Expertenkommission "zur Zukunft der Krankenversicherung" ("Haut Conseil pour l’avenir de l’assurance-maladie"). Diese Kommission, die mittlerweile als ständiges Evaluationsgremium für die Gesundheitspolitik etabliert ist, wurde von der Regierung unter Premierminister Jean-Pierre Raffarin im Oktober 2003 im Vorfeld der Gesundheitsreform 2004 eingesetzt, um entsprechende Vorschläge zu erarbeiten. In ihrem Bericht führte sie die finanziellen Schwierigkeiten der Assurance maladie und ebenso die manifesten Qualitätsdefizite bei der Versorgung zuallererst auf Mängel in der Organisation des Gesundheitssystems insgesamt zurück.
Zentrale Kritikpunkte an der Organisation des Gesundheitssystems waren:
mangelhafte Koordination der an der Versorgung beteiligten Akteure untereinander bis hin zur wechselseitigen Abschottung der unterschiedlichen Leistungserbringer; ein überkomplexes, intransparentes Finanzierungssystem mit zahlreichen Verschiebebahnhöfen innerhalb der allgemeinen Sozialversicherung zugunsten der Krankenversicherung; Passivität der staatlichen Verantwortungsträger und der Krankenkassen bei der Regulierung des Systems; hohe Varianz der Einkommen der unterschiedlichen Arztgruppen und eine ungleiche territoriale Verteilung der Ärzte (Haut Conseil 2004).
Vor dem Hintergrund dieser Kritik setzte die Regierung mit dem Krankenversicherungsreformgesetz 2004 neben den klassischen, oben aufgelisteten Maßnahmen auch neue Akzente. So waren Strukturreformen insbesondere in den Bereichen der ambulanten Versorgung und der Regulierung vorgesehen.
Versorgung – Auf dem Weg zur Managed Care und regionaler Koordination
Die Bilanz der auf dem Gebiet der Versorgung unternommenen Schritte zur Reform der ambulanten Versorgung fällt aus heutiger Sicht mager aus. Die im Krankenversicherungsreformgesetz von 2004 ergriffenen Maßnahmen warten entweder nach wie vor auf ihre Umsetzung in die Praxis– dies gilt für das persönliche Gesundheitsdossier für die Versicherten (DMP) – oder sie befinden sich noch im Versuchsstadium – dies gilt für die elektronische Gesundheitskarte ("Carte vitale", vgl. Abschnitt "Interner Link: Versorgungsstrukturen") – oder aber, sie haben die erhofften Effekte noch nicht erbracht. Letzteres gilt insbesondere für die zentrale Maßnahme der Reform von 2004, die Einführung der Figur des behandelnden Arztes ("Médecin traitant"), den die Versicherten bei ihrer Kasse angeben müssen, sofern sie nicht das Risiko einer verminderten Rückerstattung von Behandlungskosten eingehen möchten.
Der Erfolg dieses Regelwerks wird nicht nur von Seiten sozialwissenschaftlicher Beobachter, sondern auch von Praktikern des Gesundheitswesens als unterschiedlich eingeschätzt. Einer von der gesetzlichen Krankenversicherung selbst im Jahr 2006 in Auftrag gegebenen Untersuchung zufolge, war die Einführung des Médecin traitant insofern erfolgreich, als bereits zwei Jahre nach Inkrafttreten dieser Regelung mehr als 80 Prozent der Versicherten einen solchen ‘Lotsen‘ ausgewählt und ihr Verhalten bei Arztbesuchen der neuen Regelung angepasst hatten. Außerdem, dies wurde ebenfalls als Erfolg gewertet, beteiligte sich der weit überwiegende Teil der Allgemeinmediziner – 98 Prozent– an der Maßnahme (Assurance maladie 2007).
Gleichwohl ergab die Untersuchung auch, dass sich mit diesen Verhaltensanpassungen der Individualakteure keine nennenswerten Effekte auf die Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung verbanden. Entgegen den Erwartungen blieben die Ausgaben hoch und stiegen zwischen 2008 und 2010 sogar erneut kräftig an. Soweit sich ein kausaler Zusammenhang zwischen der – erfolgreichen (bereits im Jahr 2006 hatten ca. 80 Prozent der Versicherten einen "médecin traitant" bei ihrer Krankenkasse angegeben; Dourgnon et al. 2007) – Einführung des Médecin traitant und der Ausgabenentwicklung herstellen lässt, muss konstatiert werden, dass die einzelnen Patienten die angedrohten Kürzungen bei der Kostenerstattung durch ihr Verhalten zwar verhinderten, eine Reduzierung der Anzahl der Arztbesuche (vor allem bei Fachärzten) allerdings nicht erreicht wurde. Darüber hinaus führte die Teilnahme der Ärzte am Médecin traitant auch zu keinerlei Veränderungen in der ärztlichen Behandlungs- und Verschreibungspraxis. Im Gegenteil, angesichts des unveränderten Anstiegs der Ausgaben für Medikamente empfahl die Haute Autorité de Santé (HAS) im Mai 2011 die Einschränkung der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung für bestimmte Medikamente bzw. die Anhebung der Selbstbeteiligung der Patienten (Pichetti/Sermet 2011).
Beobachter des französischen Gesundheitswesens kritisieren, dass für die Ärzte – insbesondere für Fachärzte – kein Anreiz (z.B. in Form erhöhter finanzieller Prämien) besteht, die Rolle des Médecin traitant zu übernehmen (Palier 2010: 108). Wenn der einzelne Versicherte also mit Einwilligung seines Arztes einen Médecin traitant bei seiner Krankenkasse angibt, so verhindert er individuelle Kostensteigerungen. Abgesehen davon verpflichtet die Regelung weder die Versicherten noch die Ärzte zu weiter gehenden Verhaltensanpassungen. Damit stellt sich die Frage, ob der Médecin traitant mittel- bis langfristig tatsächlich zu den beabsichtigten Effekten der Effizienzsteigerung in der gesetzlichen Krankenversicherung und vor allem der Qualitätsverbesserung bei der Versorgung durch ein ärztliches ‘Management‘ des individuellen Versorgungspfads des Patienten führen wird.
Im Bereich der stationären Versorgung (vgl. Abschnitt "Interner Link: Versorgungsstrukturen") fällt die Bilanz der Regionalisierung eines Teils zunächst der krankenhauspolitischen und ab 2004 bis 2009 auch der gesundheitspolitischen Aufgaben insgesamt gemischt aus. Die 1996 mit der "Réforme Juppé" ins Leben gerufenen Agences régionales de l’hospitalisation (ARH) und ihre ab 2004 schrittweise installierten Nachfolgeorganisationen, die Agences régionales de santé (ARS), sind mittlerweile zentrale Akteure der gesundheitspolitischen Koordination in den Regionen. Allerdings gibt es Zweifel daran, ob die Errichtung der Agenturen tatsächlich dazu beigetragen hat, das französische Gesundheitswesen näher an die Patienten und die lokalen und regionalen Akteure im Feld Gesundheit heranzurücken, die territoriale Verteilung von Versorgungseinrichtungen gleichmäßiger zu gestalten und die erwarteten Effizienz- und Effektivitätsgewinne zu erzeugen (Chevreul et al. 2010: xxiv).
Im Zuge der Errichtung der ARS wurden eine Reihe von regionalen und lokalen Gremien oder auch ‘Konferenzen‘ zur Koordination zwischen den staatlichen Akteuren, den regionalen Zweigstellen der Krankenversicherung und den diversen regionalen und lokalen Gesundheitsakteuren (Ärzte, Krankenhäuser etc.) geschaffen (Chevreul et al. 2010: 36-37). Doch weisen Experten des französischen Gesundheitssystems darauf hin, dass es sich bei den ARH bzw. ARS nicht um lokale Behörden, sondern um staatliche oder staatlich-kontrollierte Behörden handelt (Hassenteufel 2009). Diese können, nicht zuletzt aufgrund ihrer modernen Organisationsstruktur (Agentur-Status, größere Autonomie gegenüber der Zentrale als eine klassische Behörde, z.B. in Haushaltsfragen und Entscheidungskompetenzen) und ihrer insbesondere auch finanziellen Sanktionsmöglichkeiten, zentralstaatliche Ziele und Vorgaben effektiver in den Regionen durchsetzen, als es zuvor den dekonzentrierten Staatsbehörden (DRASS, DDASS) im Rahmen der hierarchischen Governance-Struktur möglich war (Bouinot/ Péricard 2010).
Antwort a) ist richtig: Soweit sich ein kausaler Zusammenhang zwischen der Einführung des Médecin traitant und der Ausgabenentwicklung herstellen lässt, muss konstatiert werden, dass die einzelnen Patientinnen und Patienten die angedrohten Kürzungen bei der Kostenerstattung durch ihr Verhalten zwar verhinderten, eine Reduzierung der Anzahl der Arztbesuche (vor allem bei Fachärztinnen und -ärzten) allerdings nicht erreicht wurde.
Antwort a) ist richtig: Soweit sich ein kausaler Zusammenhang zwischen der Einführung des Médecin traitant und der Ausgabenentwicklung herstellen lässt, muss konstatiert werden, dass die einzelnen Patientinnen und Patienten die angedrohten Kürzungen bei der Kostenerstattung durch ihr Verhalten zwar verhinderten, eine Reduzierung der Anzahl der Arztbesuche (vor allem bei Fachärztinnen und -ärzten) allerdings nicht erreicht wurde.
Solidarität mit sozial schwachen, chronisch und/oder schwer kranken Patienten
Neben der Kritik an dem defizitären Versorgungssystem im Zusammenhang mit der gesetzlichen Krankenversicherung bemängelte der Haut Conseil pour l’avenir de l’assurance maladie in seinem bereits erwähnten Bericht aus dem Jahr 2004 auch die soziale Schieflage dieses Systems. Die bis dato verfolgten klassischen Strategien der Politik zur Erzielung von Kostendämpfungseffekten führten vor allem bei sozial Schwächeren sowie bei schwer oder chronisch kranken Patienten mit hohen Behandlungskosten zu unverhältnismäßigen Mehrbelastungen.
Diesem Problem hatte sich der Gesetzgeber bereits im Jahr 1999 mit der Errichtung der CMU und CMU-C im Rahmen des jährlichen Gesetzes zur Finanzierung der Sozialversicherung zugewandt. Beim Blick auf diese Maßnahme fällt die Reformbilanz ebenfalls gemischt aus. So findet seit der Einführung der steuerfinanzierten "CMU de base" – und dies wird in der Diskussion um das französische Gesundheitswesen positiv bewertet – die gesamte Bevölkerung im sozial begründeten Bedarfsfall kostenlosen Zugang zur medizinischen Versorgung. Der Solidarcharakter des Gesundheitswesens wurde außerdem gestärkt, indem die seit den 1980er Jahren gewachsene Anzahl der Personen, die sich aus finanzieller Not den Abschluss einer privaten Zusatzversicherung nicht (mehr) leisten konnten, aufgrund der Einführung der CMU-C nunmehr (wieder) Zugang zu einem vollständigerem Krankenversicherungsschutz erhielten. Schließlich kann auch der Übergang vom Kostenerstattungs- zum Sachleistungsprinzip für die Empfänger der CMU de base, der AME sowie für chronisch und schwer kranke Patienten (ALD) als ein Erfolg der jüngeren Gesundheitspolitik in Frankreich im Hinblick auf das Solidaritätsziel bewertet werden. Hierdurch konnten Versorgungsmängel bei sozial schwachen Patienten und/oder Patienten mit hohen Behandlungskosten eingedämmt werden, die daher rührten, dass diese Patientengruppen notwendige Arztbesuche z.T. gefährlich lange hinauszögerten, weil sie im Falle des Arztbesuchs finanziell in Vorleistung treten mussten.
Ungeachtet dieser positiven Entwicklungen ist insbesondere die CMU-C aus unterschiedlichen Gründen zum Gegenstand von Kritik geworden:
Empfänger können erstens von der privaten Zusatzversicherung, die sie mit Hilfe des staatlichen Zuschusses abschließen können, häufig eine nur unzureichende Aufwertung ihres individuellen Schutzniveaus erwarten. Die öffentliche Hilfeleistung der CMU-C erlaubt in der Regel die Absicherung des hohen Selbstbehalts der Patienten an den Behandlungskosten („Ticket modérateur). Einen weiter gehenden Krankenversicherungsschutz, der etwa die Finanzierung von Honoraraufschlägen bei eventuell notwendigen fachärztlichen Behandlungen mit einschließt, können sich Empfänger der CMU-C jedoch zumeist nicht leisten. Dies erscheint zweitens umso problematischer, als die betroffenen Versichertengruppen sich überwiegend aus sozial schwächeren Bevölkerungsschichten rekrutieren, also aus den Teilen der Gesamtbevölkerung, die in der Regel einem überdurchschnittlichen Erkrankungsrisiko sowie überdurchschnittlichen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind (Palier 2010). Problematisch ist drittens auch, dass sich die CMU-C für ihre Empfänger beim Zugang zur Versorgung als eine Art Stigma auswirken kann. So lehnen heute 40 Prozent der frei praktizierenden Ärzte des Sektors II (vgl. Abschnitt "Interner Link: Versorgungsstrukturen") die Behandlung von CMU-Empfängern rundweg ab (Palier 2010: 117). Und viertens schließlich sehen sich CMU- und CMU-C-Empfänger mit Einschnitten in die freie Arztwahl konfrontiert, die in Frankreich ein ebenso hohes Gut darstellt wie in Deutschland oder auch der Schweiz. Aufgrund der soeben beschriebenen Konstellation müssen sie bei fachärztlichen Konsultationen häufig auf das Krankenhaus 'ausweichen'.
Traditionelle strukturelle Schwächen des Gesundheitssystems und die geringe Offenheit seiner tragenden Akteure gegenüber Veränderungen stellten angesichts der beschriebenen finanziellen Probleme bereits in den 1980er Jahren eine Belastung für das öffentliche Gesundheitswesen in Frankreich dar. Daher sah der Gesetzgeber insbesondere mit dem Krankenversicherungsreformgesetz vom August 2004 neben der Reform der Versorgung auch Strukturreformen unmittelbar bei der gesetzlichen Krankenversicherung vor.
Antwort b) und c) sind richtig: Soziale schwache Patientinnen und Patienten können es sich häufig nicht leisten, einen (Fach-) Arzt des "Sektor 2" zu konsultieren und sind bei der Finanzierung des Selbstbehalts auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Antwort b) und c) sind richtig: Soziale schwache Patientinnen und Patienten können es sich häufig nicht leisten, einen (Fach-) Arzt des "Sektor 2" zu konsultieren und sind bei der Finanzierung des Selbstbehalts auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Restrukturierung und Modernisierung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung
Ein zentrales Ziel des Krankenversicherungsreformgesetzes 2004 bestand in der Restrukturierung und Modernisierung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier hatten sich zwei traditionelle Strukturmerkmale des französischen Gesundheitswesens zunehmend als Hypothek für die Effizienz und Effektivität des Systems sowie die Qualität seiner Leistungen erwiesen.:
die Asymmetrie im Verhältnis des Staates und der gesetzlichen Krankenversicherung zu den frei praktizierenden niedergelassenen Ärzten die geringe Autonomie der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber dem Staat
Die Asymmetrie zwischen dem Staat und den Kassen einerseits und den Ärzten andererseits stellte einen wesentlichen Grund für die Ineffizienz und geringe Fähigkeit von Staat und Kassen zur Ausgabenkontrolle dar. Zwar hatte das Machtungleichgewicht zwischen den Akteuren seit 1971 Schritt für Schritt abgenommen (vgl. Leicher 2010); nicht zuletzt die internen Spaltungen innerhalb der freien Ärzteschaft und deren abnehmende Fähigkeit zu einer kohärenten standespolitischen Interessenvertretung gegenüber der Politik hatte hierzu beigetragen. Jedoch kann sich nach wie vor ein Viertel der niedergelassenen Ärzte der Kooperation mit Staat und Kassen verweigern und die von der gesetzlichen Krankenversicherung erstatteten Preise für Leistungen 'frei' aufstocken (Leicher 2010: 59).
Die geringe Kassenautonomie gegenüber dem Staat wiederum – diese ist seit Bestehen der Sozialversicherung bzw. Errichtung der Einzelkassen 1967 chronisch und rührte nicht zuletzt von der Abneigung der Kassen zur Kooperation untereinander her (Destais 2003) – stellte eine wesentliche Ursache für fortgesetzte staatliche Interventionen in die Regulierung der Kassenausgaben durch hierarchische Festsetzung von Leistungen, Preisen und Arzthonoraren dar (Palier 2005). Letztlich war die mangelhafte Kassenautonomie damit auch ein Grund für eine insgesamt unzureichende Fähigkeit zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen.
Zur Milderung der negativen Folgen dieser beiden Defizite in der Architektur des Gesamtsystems sah das Krankenversicherungsreformgesetz vom August 2004 strukturelle Veränderungen vor. Unter anderem beinhaltete es folgende Maßnahmen:
die Errichtung der UNCAM und die Übertragung wesentlicher Regulierungskompetenzen auf den Generaldirektor dieser neuen Dachorganisation der drei Hauptregime der gesetzlichen Krankenversicherung (CNAMTS, MSA und RSI); die Errichtung der regionalen Gesundheitsagenturen ARS (diese Maßnahme war bereits 2004 geplant, wurde allerdings erst mit "Loi HPST" im Jahr 2009 endgültig realisiert; weitere Veränderungen durch den Aufbau neuer staatlicher Agenturen (ANSES: Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail; ANSM: Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé) und damit die Öffnung der staatlichen Gesundheitsverwaltung für New Public Management-Ideen.
Diese auf den ersten Blick einschneidenden Beschlüsse erweisen sich bei genauerer Betrachtung aber als keineswegs so weitreichend wie vermutet. So ist mit dem Generaldirektor der UNCAM innerhalb des Systems der Regulierung der gesetzlichen Krankenversicherung zwar eine formal mächtige Figur geschaffen worden. Ihre Befugnisse betreffen allerdings vorrangig die Beziehungen zwischen den Kassen und dem Staat selbst und haben keinerlei direkte Auswirkungen auf die Beziehung dieser beiden Akteure zu den Ärzten. Im Verhältnis Staat-Kassen wiederum ist aufgrund der Ernennung des Generaldirektors der UNCAM durch den Gesundheitsminister die Loyalität der UNCAM sichergestellt. Die Entscheidungsgewalt über zentrale Parameter der Regulierung der gesetzlichen Krankenversicherung verbleibt im Rahmen die Konstruktion schlussendlich wieder beim Staat.
Ebenso zeigt sich, dass die neuen dezentralen Strukturen, die ARS und die UCRAM als regionale Untergliederungen der UNCAM, in ihren Entscheidungsgremien von staatlichen Vertretern dominiert werden. Dasselbe gilt schließlich auch für die neuen (halb-) staatlichen Agenturen auf zentraler Ebene, die über hierarchische Aufsichts- und Kontrollbeziehungen ("Tutelle") eng an die Regierung und die zentralstaatlichen Behörden gebunden sind. Zu Recht kann das sich abzeichnende, neue System vor diesem Hintergrund als ein eher in Richtung Zentralisierung und weitergehender Verstaatlichung denn in Richtung Dezentralisierung und Koordinationsorientierung tendierendes System bewertet werden (Hassenteufel 2009). Dabei bleibt noch abzuwarten, ob der eingeschlagene Weg den Schlüssel zur Überwindung der geschilderten Strukturprobleme darstellt oder sich als Sackgasse erweist.
Antwort a) ist richtig: Einer der strukturellen Hauptgründe dafür, dass es bisher in Frankreich nicht gelungen ist, das Ziel der Kostendämpfung im Gesundheitswesen zu erreichen, liegt in der fehlenden Mitwirkung der Patientinnen und Patienten.
Antwort a) ist richtig: Einer der strukturellen Hauptgründe dafür, dass es bisher in Frankreich nicht gelungen ist, das Ziel der Kostendämpfung im Gesundheitswesen zu erreichen, liegt in der fehlenden Mitwirkung der Patientinnen und Patienten.
Jüngste Reformen: Das Gesetz "HPST" 2009 und die "Stratégie nationale de santé" 2013
Fest steht einstweilen, dass die Reformbestrebungen im französischen Gesundheitswesen auch nach dem "Plan Hôpital 2007" von 2003 bis 2005 und nach dem Krankenversicherungsreformgesetz vom August 2004 nicht nachgelassen haben. Die jüngeren Schritte zielen dabei grundsätzlich in die gleiche Richtung wie die vorangegangenen Reformen:
Erstens liefert die im Juni 2009 beschlossene Einführung des "ontrat d’amélioration des pratiques individuelles" (CAPI), der mittlerweile, im Jahr 2011 durch das neue Instrument der "Rémunération sur Objectifs de Santé Publique" (ROSP) ersetzt worden ist, einen Beleg für die Strategie der inkrementellen Fortsetzung des 2004 eingeschlagenen Reformpfads. Durch den CAPI bzw. die ROSP soll auf dem Weg finanzieller Anreize für Ärzte deren Bereitschaft zur Durchführung präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen gesteigert werden.
Zweitens stellt auch das im Jahr 2009 verabschiedete Gesetz "Hôpital, Patient, territoires et santé" ("Loi HPTS") eine inkrementelle Fortsetzung vergangener Reformorientierungen, insbesondere im Rahmen des "Plan Hôpital 2007" dar. So stehen weitere, an das Reformwerk von 2003-2005 unmittelbar anknüpfende Strukturveränderungen vor allem im Bereich der Organisation der Versorgung und der gesetzlichen Krankenversicherung im Zentrum dieses jüngsten Reformwerks. Konkret sieht das Loi HPST u.a. folgende Maßnahmen vor:
die Agences régionales de santé (ARS) sollen durch Eingliederung zusätzlicher staatlicher und halbstaatlicher Behörden und Organisationseinheiten in diese neue regionale Regulierungsstruktur des Staates gestärkt werden; die Organisation der öffentlichen Krankenhäuser soll z.B. durch Einführung moderner privatwirtschaftlich inspirierter Verwaltungsstrukturen (Direktorium, Aufsichtsrat) und durch mittelfristige Finanzplanung und Budgetierung modernisiert werden. Diese Beschlüsse zielen u.a. darauf ab, die öffentlichen Krankenhäuser gegenüber privaten Einrichtungen konkurrenzfähig zu machen, aber auch darauf, die Kooperation von öffentlichen und privaten Krankenhäusern zu erleichtern. durch finanzielle Sanktionen gegen Ärzte, die die Behandlung von CMU- oder AME-Empfängern verweigern, soll eine regional ausgewogenere Versorgung mit ambulanten allgemein- und fachärztlichen Leistungen gewährleistet werden. Ob sich diese Idee in die Praxis umsetzen lässt, bleibt aber fraglich, da die Verweigerung vor allem von Ärzten des Sektor II ausgeht, also jenem Teil der freien Ärzteschaft, dessen Handeln der Staat nur eingeschränkt steuern kann. Es sollen ambulante medizinische Versorgungszentren ("Établissements de santé privés d'intérêt collectif") unter der Aufsicht der einzelnen regionalen ARS errichtet werden.
Drittens schließlich weist auch die jüngst, im September 2013, von Gesundheitsministerin Marisol Touraine angekündigte nationale Reformstrategie für das französische Gesundheitswesen, die "Stratégie nationale de Santé", in die gleiche Richtung wie die Vorgängermaßnahmen, nämlich die schrittweise, teils zentralstaatlich teils hierarchisch gelenkte und teils auf ‘klassische‘ Reforminstrumente vertrauende Reformpolitik.
Die Gesundheitspolitik war während der ersten eineinhalb Jahre der Amtszeit des im Mai 2012 gewählten sozialistischen Staatspräsidenten François Hollande (PS) von Kontinuität und geringer Erneuerung geprägt. Die soll sich nach dem Willen des Gesundheitsministeriums ab dem Jahr 2014 ändern, wobei das angekündigte umfassende Reformvorhaben der "Nationalen Gesundheitsstrategie" insgesamt dem Ziel der Beseitigung von Ungleichheit (geographisch, sozial, informationsbezogen) im Gesundheitswesen dienen soll. Zu diesem Zweck knüpft die Strategie an 19 Vorschläge an, die eine Kommission von "Weisen" im Gesundheitssektor, die Gesundheitsministerin Touraine zu Beginn des Jahres 2013 eingesetzt hatte, im Mai 2013 vorgelegt hat. Als "große [Reform-] Achsen" beinhaltet die "Stratégie nationale de Santé“ insbesondere folgende Vorhaben:
die Stärkung der Prävention; die Stärkung der Patientenrechte und die Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen (Abbau sozialer, finanzieller, geographischer, informationsbezogener Zugangsbarrieren, Stärkung der lokalen und regionalen Gesundheitseinrichtungen, ect.); die Verbesserung der Effektivität der Versorgung mit Gesundheitsleistungen, u.a. durch weitere Regionalisierung von Aufgaben, verstärkte Vernetzung der regionalen und lokalen Gesundheitsakteure, Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern sowie Verbesserung des Zusammenwirkens von ambulanter und stationärer Versorgung, die Stärkung der übergreifenden Steuerungs- und Lenkungsfunktionen des Staates.
Antwort b) ist richtig: Das Hauptziel der "nationalen Gesundheitsstrategie" war die Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten.
Antwort ) ist richtig: Die Kosten des Gesundheitswesens in Frankreich sind in den letzten Jahren angestiegen.
Antwort b) ist richtig: Die Zielsetzung aktueller Reformbestrebungen war die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit staatlicher Krankenhäuser.
Antwort b) ist richtig: Das Hauptziel der "nationalen Gesundheitsstrategie" war die Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten.
Antwort ) ist richtig: Die Kosten des Gesundheitswesens in Frankreich sind in den letzten Jahren angestiegen.
Antwort b) ist richtig: Die Zielsetzung aktueller Reformbestrebungen war die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit staatlicher Krankenhäuser.
Quellen / Literatur
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Chevreul, Karine/ Durand-Zaleski, Isabelle/ Bahrami, Stéphane/ Hernández-Quevedo, Cristina/ Mladovsky, Philipa (2010) : France: Health system review. Health Systems in Transition 12(6): 1-291.
Commission des comptes de la sécurité sociale (CCSS) (2013): Les comptes de la sécurité sociale. Résultats 2012, Prévisions 2013 et 2014. Rapport septembre 2013, Paris: Commission des comptes de la sécurité sociale.
Destais, Nathalie (2003): Le système de santé. Organisation et régulation, Paris: LJDG.
Dourgnon, Paul/ Guillaume, Stéphanie/ Naiditch, Michel/ Ordonneau, Catherine (2007) : Les assurés et le médecin traitant : premier bilan après la réforme, in : Questions d’économie de la santé. Bulletin d’information en économie de la santé no 124 – juillet 2007, Paris : IRDES.
Hassenteufel, Patrick (2009): Le rôle de l’État dans la régulation de l’assurance maladie, in: Bras, Pierre-Louis/Pouvourville, Gérard de/Tabuteau, Didier (2009): Traité d’économie et de gestion de la santé, Paris: Presses de la Fondation nationales des Sciences Politiques, 369-377.
Haut Conseil pour l’avenir de l’assurance maladie (2004): Rapport du Haut Conseil pour l’avenir de l’assurance maladie.23 Janvier 2004, veröffentlicht in: La sécurité sociale (2011): Portail de la sécurité sociale. Externer Link: http://www.ladocumentationfrancaise.fr/var/storage/rapports-publics/044000031/0000.pdf (01.02.2011), Paris: La sécurité sociale.
Leicher, Claude (2010): Le médecin libéral en 2010, in: Les Tribunes de la santé 28/3 (automne 2010), 55-63.
Palier, Bruno (2005): Gouverner la Sécurité sociale. Les transformations du système français de protection sociale depuis 1945, Paris: Presses universitaires de France.
Palier, Bruno (2010): La réforme des systèmes de santé, Paris: Presses Universitaire de France (PUF).
Pichetti, Sylvain/ Sermet, Catherine Sermet (2011) : Le déremboursement des médicaments en France entre 2002 et 2011 : éléments d’évaluation, in: Questions d’économie de la santé no 167 – juillet-août 2011, Paris : IRDES
Literaturtipp
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Die Bezeichnung "Grenelle" steht für die Rue de Grenelle in Paris, den Sitz des französischen Arbeits- und Gesundheitsministeriums.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-02T00:00:00 | 2014-01-20T00:00:00 | 2021-12-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/177387/juengere-reformen-in-der-gesundheitspolitik/ | Die gesetzliche Krankenversicherung in Frankreich rutscht immer stärker ins Minus. Viele Reformen, die die Kosten für das Gesundheitssystem senken sollen, warten noch auf ihre Umsetzung, hatten nicht den gewünschten Effekt oder sogar Ausgabensteigeru | [
"Gesundheitspolitik in Frankreich",
"französisches Gesundheitssytem",
"Frankreich"
] | 31,063 |
Schwere Kriegsverbrechen in Butscha? | bpb.de | Guten Morgen,
Butscha – der Name einer ukrainischen Kleinstadt hat traurige Berühmtheit erlangt. Das russische Militär hat dort mutmaßlich schwere Kriegsverbrechen begangen.
Was ist genau passiert?
Butscha, in der Nähe von Kiew gelegen, war in den ersten Wochen des Kriegs hart umkämpft und bis Ende März von russischen Truppen besetzt. Nun wurden dort nach ukrainischen Angaben mehr als 300 tote Menschen entdeckt, viele auf offener Straße. Mehrere Tote wurden gefesselt oder mit verbundenen Augen aufgefunden – dies sind Hinweise auf Hinrichtungen. Die Berichte basieren auf Schilderungen von Anwohner/-innen und Aufzeichnungen verschiedener Reporter/-innen vor Ort. Auch aus anderen Kiewer Vororten werden russische Gräueltaten berichtet. So wird russischen Truppen u.a. vorgeworfen, in den besetzten Gebieten systematisch sexualisierte Gewalt anzuwenden. Vergewaltigungen gelten nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen.
Unabhängige Überprüfung
Die Vereinten Nationen wollen Teams nach Butscha schicken, um die mutmaßlichen Verbrechen aufzuklären. Nur so können Beweise gesammelt werden, um zukünftig Anklagen wegen Kriegsverbrechen zu erheben. Die Indizien sind erdrückend: Satellitenbilder vom 19. März zeigen, dass die Leichen schon lange vor dem Rückzug des russischen Militärs auf den Straßen von Butscha lagen. Russland hatte zuvor das Gegenteil behauptet und von einer "gut inszenierten Show" gesprochen, ohne eigene Belege vorzulegen.
Reaktionen
Staatschefs mehrerer Länder, darunter Deutschland und Frankreich, verurteilen die Taten als "Kriegsverbrechen". Der ukrainische Präsident Selenskyj sprach von "Völkermord". Die EU-Kommission verschärft ihre Sanktionen und hat nun einen Einfuhrstopp u.a. für russische Kohle vorgeschlagen. Die EU-Mitgliedstaaten entscheiden voraussichtlich heute darüber.
🎓 Wie muss Europa reagieren? Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1097
Viele Grüße Deine bpb Online-Redaktion | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-01-30T00:00:00 | 2022-04-06T00:00:00 | 2023-01-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/507004/schwere-kriegsverbrechen-in-butscha/ | Butscha – der Name einer ukrainischen Kleinstadt hat traurige Berühmtheit erlangt. Das russische Militär hat dort mutmaßlich schwere Kriegsverbrechen begangen. | [
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"Ukraine-Krieg",
"Butscha",
"Kriegsverbrechen"
] | 31,064 |
1000 Dollar für ein Menschenleben. Überlegungen zur Qualität im Krisenjournalismus | Qualitätsjournalismus | bpb.de | "Machen Sie deutlich darauf aufmerksam, dass Sie ein Journalist sind (tragen Sie keine Kleidung im Military-Look) und zeigen Sie deutlich Ihre Ausrüstung, so dass man Sie nicht mit einem Kriegsteilnehmer verwechselt. Überlegen Sie sich im Vorhinein sorgfältig Ihre Bewegungen. Beobachten Sie die Gewohnheiten der Einheimischen. (…) Stellen Sie sich tot, falls Sie verwundet werden.“ Diese überlebenswichtigen Tipps sind einem schmalen Notizblock entnommen, den die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen gemeinsam mit der UNESCO zum persönlichen Schutz an solche Journalisten verteilt, die berufsbedingt in Krisengebiete reisen. Das im Original in englischer Sprache publizierte Büchlein trägt den bescheidenen Titel "Handbook for Journalists“ und ist zu einer Art internationalem Survival-Guide für Krisenjournalisten geworden: Es versucht mit nützlichen Ratschlägen und Hinweisen die gesamte Bandbreite an heiklen Extremsituationen abzudecken, in die Krisenreporter geraten können, wenn etwa Heckenschützen, Kidnapper, schwere Artillerie oder auch aufgebrachte Menschenmassen ihre Sicherheit bedrohen. Es klärt außerdem über psychologische Risiken wie Traumata auf, nennt potenzielle Unwägbarkeiten und schlägt Trainingsübungen zur Vor- und Nachbereitung von Kriseneinsätzen vor. Dieses Handbuch unterscheidet sich damit von so ziemlich allem, was "gewöhnliche“ Journalistinnen und Journalisten im Laufe ihres Berufslebens an praktischen Handlungsempfehlungen jemals zu hören und zu lesen bekommen. Durch seine unaufgeregten Beschreibungen demonstriert es vielmehr die faszinierende Ambivalenz, die mit diesem journalistischen Tätigkeitsfeld verbunden ist: ein Beruf, der öffentlich allzu häufig mystifiziert und mit modernem Heldentum gleichgesetzt wird, in der Realität jedoch weder Spielräume für Selbstlob noch Abenteuerlust zulässt.
Aufgrund ihrer Sonderstellung im journalistischen Aufgabenspektrum diente die Krisen- und Kriegsberichterstattung schon immer vielen gestandenen Journalisten als Karrieresprungbrett und begeistert auch heute junge Nachwuchsreporter. Bei "Kriseneinsätzen“ schien es weniger um reflektiertes Handeln mit einer rationalen Abwägung der (möglichen) Folgen zu gehen, sondern um soziale Instinkte und spontane "Bauchentscheidungen“, von denen sich die Krisenreporter vor Ort leiten lassen, um unter widrigen Bedingungen über die Welt in Schieflage berichten zu können. Dabei geht es selten um heroische Taten, in der Regel auch nicht um eine schöne Schreibe oder die Jagd nach exklusiven Schlagzeilen, sondern – unter dem Vorzeichen akuter sicherheitspolitischer Bedrohungen – zunächst um die eigene körperliche und seelische Unversehrtheit. Wie Krisenjournalisten arbeiten, welche Rolle ausgeklügelte Recherchepläne, vertraute Netzwerke und Kontakte zu Einheimischen oder sogenannten Stringern und Fixern spielen, also Ortskundigen, die um die kulturellen Friktionen in Krisengebieten wissen, ist weitgehend unerforscht. Wie wichtig sind Stolz oder persönlicher Ruhm im Vergleich zu pragmatischen Entscheidungen? Wie entscheidend sind Talent, aber auch Mut und Vertrauen in die eigenen professionellen Fähigkeiten, um sich in solche gefährlichen Krisengebiete vorzuwagen? Weil die jahrhundertealte Konzentration journalistischer Berichterstattung auf alles, was aktuell, relevant, überraschend sowie geografisch und psychologisch nah ist, im globalen Nachrichtengeschäft meist nur übertrumpft wird durch spektakuläre Großereignisse mit maximalen negativen Folgen, nimmt es kaum Wunder, dass die Krisen- und Kriegsberichterstattung zu einem der abenteuerlichsten und damit auch gefährlichsten und umstrittensten Tätigkeitsfelder im gegenwärtigen Journalismus geworden ist.
Wie Krisenreporter täglich recherchieren und sich untereinander vernetzen, wie sie mit den Heimatredaktionen zusammenarbeiten und mit Gefahrensituationen umgehen, welche ihrer Geschichten über Kriege, Flutkatastrophen und Terroranschläge eine gewisse Eigendynamik entfalten und welche vernachlässigt werden, wurde im Rahmen einer explorativen Studie näher untersucht, welche speziell die Handelnden im Berufsfeld Krisenjournalismus in den Blick nahm. Als Untersuchungsgegenstand wurden also jene Akteure angesprochen, die in unterschiedlichen Kontexten Krisen als professionell Beobachtende begleiten oder begleitet haben. Grundlage für die nachfolgend zusammengetragenen Forschungsergebnisse, die ein tieferes Verständnis für die Arbeitssituation von Krisenreportern ermöglichen sollen, bildeten insgesamt 17 Expertengespräche, darunter neun Krisenjournalistinnen und acht Krisenjournalisten, die für deutsche Nachrichtenmedien tätig sind oder waren. Für die Untersuchung wurden insbesondere Selbstverständnis und Rollenbilder, strukturelle Zwänge bei der Krisen- und Kriegsberichterstattung sowie die konkreten Herausforderungen und Determinanten bei der journalistischen Tätigkeit in Krisengebieten ins Auge gefasst. Am Ende dieser Analyse steht eine Reihe von Vorschlägen zur Steigerung der professionellen Qualität in der Krisenberichterstattung. Rollenbilder im Krisenjournalismus
Abenteurer, Aufklärer oder Weltverbesserer versus Rechercheure, Prinzipienverfechter oder Chronisten: Das Selbstverständnis der befragten Krisenreporter unterscheidet sich zum Teil gravierend voneinander. Ihre auf sich selbst projizierten Rollenbilder deuten darauf hin, um was für ein uneinheitliches Berufsbild es sich beim Krisenjournalismus handelt. Ein Krisenreporter steht beispielsweise immer vor dem Problem, Krisen- oder Kriegszustände zu beschreiben, die unsere herkömmliche Urteilkraft übersteigen: Wie soll etwas beurteilt oder beschrieben werden, das schwer zu begreifen ist? Krisengebiete seien nicht einfach nur fremd und anders, sondern auch moralisch verstörend, sagt Carolin Emcke ("Die Zeit“): "Deshalb sagen wir so oft diese Floskeln: 'unfassbar‘, 'unaussprechlich‘, 'unbegreiflich‘.“ Emcke nennt dies eine "Lücke des Verstehens“: "Wir wollen nicht begreifen, dass sich Menschen Verbrechen antun, wir wollen nicht verstehen, wie Gewalt sich einschreibt in Menschen.“ Das sei ein psychisches Phänomen, dem sich auch Krisenreporter kaum entziehen könnten. Sie und ihre Kollegen müssten jedoch gegen diesen – inneren wie äußeren – Widerstand der kognitiven Sprachlosigkeit anschreiben.
Krisenreporter finden sich bisweilen schnell in der Rolle der Vorkämpfer wieder, die sich, wie Susanne Koelbl ("Der Spiegel“) bestätigt, in Regionen vorwagen, über die seit langer Zeit niemand mehr berichtet hat. Von diesem Pioniercharakter zeugen auch alle möglichen Schilderungen der Befragten, wenn es zum Beispiel um die Überwindung bürokratischer, finanzieller oder rein praktischer Hürden etwa bei Reise- und Recherchetätigkeiten geht. Angetrieben werden viele von ihrer Entdeckerlust: "Meine Neugierde ist eigentlich immer dieselbe“, sagt RTL-Auslandsreporterin Antonia Rados – egal, ob sie aus dem Jemen oder Iran, über den Krieg oder die Ruhe vor dem Sturm, die Bundeswehr oder afghanische Frauen berichte. Krisen-Hopping oder Wurzeln schlagen?
Auch wenn es die redaktionellen Ressourcen immer seltener zulassen, versuchen viele der befragten Experten mindestens für mehrere Monate im Krisengebiet zu bleiben. So können sie sich in der Regel auf das jeweilige Gebiet spezialisieren, in einen engeren Kontakt mit der Bevölkerung kommen, die politischen Machtverhältnisse eruieren, sich besser mit einheimischen Informanten vernetzen und insgesamt die kulturellen und sozialen Gepflogenheiten besser studieren. Für die Recherchebedingungen wird der längerfristige Umgang mit Einheimischen durchweg als positiv und gewinnbringend für die journalistische Arbeit empfunden, weil hierdurch ein authentisches Bild von den Lebensweisen und kulturellen Umständen vermittelt werden könne.
Ein fester Wohnsitz am Brennpunkt birgt für die Korrespondenten jedoch auch Risiken: Sie könnten die professionelle Distanz verlieren oder sich mit bestimmten Akteuren und Ansichten gemein machen. Daraus können emotionale Abstumpfung, (politische oder soziale) Parteinahme in Konfliktsituationen und Schwierigkeiten bei der neutralen Berichterstattung aktueller Entwicklungen folgen, die aus einem voreingenommenen Blick auf die Region resultieren.
Dagegen scheinen journalistische Kurzeinsätze bei aller Kritik gegenüber einem "Krisentourismus“ den Vorteil zu eröffnen, über einzelne Krisengebiete unvoreingenommener berichten zu können. Bei mehreren kurzen Reisen über längere Zeiträume hinweg werden Ursachen und Andersartigkeiten zwischen unterschiedlichen Krisen zudem häufig differenzierter wahrgenommen, was das Beurteilungsvermögen insgesamt schärfen kann. Ein solches "Krisen-Hopping“ ist also durchaus ein geeignetes Mittel, um die professionelle Distanz aufrechtzuerhalten, verlangt dem Reporter aber zusätzliche Kompetenzen und Anstrengungen ab, um die entstehenden Wissens- und Erfahrungslücken zu kompensieren. Ökonomische Zwänge, neue Einflüsse und alte Widerstände
Die beruflichen Rahmenbedingungen für professionelle Krisenjournalisten haben sich gerade unter dem Druck der Medienkrise in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert – meinen zumindest die Betroffenen: Auch wenn die ökonomische Situation nach Aussage einzelner Befragter bei einschlägigen deutschen Wochenzeitungen, Nachrichtenmagazinen und den öffentlich-rechtlichen Medien komfortabler zu sein scheint als bei Tageszeitungen, gibt es sogar hier erste spürbare Einschnitte und Rationalisierungsansätze: Die Auslandsberichterstattung insgesamt ist nach Einschätzung der Befragten vergleichsweise unpopulär geworden und geht mengenmäßig gesehen zurück oder stagniert seit einigen Jahren.
Der Schwerpunkt verschiebt sich dabei auf mediale Großereignisse: Finanzielle Mittel werden, wenn überhaupt, eher für eine geballte Event-Berichterstattung über Katastrophen und Kriege mit großer Tragweite zur Verfügung gestellt als für Berichte über schwelende Konflikte und latente Krisenherde. Es droht ein Missverhältnis, was auch auf das rasch abflauende öffentliche Interesse zurückzuführen ist, sobald der Verlauf der Krise nicht mehr einer gefälligen Dramaturgie und Inszenierungslogik der Medien folgt wie schon wenige Wochen nach Beginn des Irak-Kriegs 2003 oder der Erdbebenkatastrophe in Haiti im Januar 2010. Die geringe Kontinuität der Berichterstattung droht Klischees und Vorurteile über die jeweiligen Krisen im öffentlichen Bewusstsein dauerhaft zu verankern und das Image von der "hoffnungslosen“ oder "verlorenen“ Krisenregion zu erhärten.
Unter den aktuellen Medienbedingungen führt auch im Krisenjournalismus kein Weg an Social Media vorbei, das zeigte insbesondere der "Arabische Frühling“, bei dem Soziale Netzwerke, YouTube und Twitter als wesentliche Kommunikations- und Verbreitungsplattformen für nutzergenerierte Inhalte über die Proteste in vielen nordafrikanischen und Nahost-Staaten fungierten. Neue Medientechnologien werden im Zusammenhang mit der Krisenberichterstattung von den Befragten jedoch als ambivalent eingeschätzt. Zwar können die Authentizität und Aktualität einzelner Blogger im Vergleich zu den eher monolithisch wirkenden Nachrichtenorganisationen mit ihren Starreportern die aktuelle Vermittlung und Wahrnehmung von Krisen wesentlich beeinflussen. Auch ergänzen die neuen Kommunikationsmedien die Arbeit der Krisenjournalisten auf vielfältige Weise, zum Beispiel durch Mehrwert bei Recherchen oder wenn es darum geht, Stimmungen und Meinungen der einheimischen Bevölkerung in die Berichterstattung einfließen zu lassen. Blogs und soziale Medien erschweren die journalistische Quellenprüfung aber auch. Zu unsicher sind die Identitäten derjenigen, die eine Nachricht über diese Kanäle verbreiten, zu wenig belastbar die Herkunft der von ihnen angebotenen Informationen. Die Suche nach validen Quellen wird für Krisenjournalisten eher unübersichtlicher und stellt sie vor neue, nicht zu unterschätzende Herausforderungen, weil herkömmliche Prüfmechanismen in der digitalen Umgebung nicht eins zu eins anwendbar sind, sondern angepasste Strategien erfordern.
Obwohl der vor allem durch die Iran-Krise 2009 ausgelöste Hype um Twitter, Facebook oder Blogs als primäre Quellen für Nachrichten aus erster Hand längst nicht mehr neu ist, ist das handwerkliche Rüstzeug von Krisenberichterstattern weitgehend gleich geblieben. Noch wurde der Königsweg nicht gefunden, Quellen über diese Kanäle verlässlich zu verifizieren und einzuordnen.
Bei der Themensetzung (Agenda Setting) ist der Korrespondent nach Aussagen der befragten Journalisten das schwächste Glied in der Berichterstattungskette. Die Heimatredaktionen stützen sich häufig auf die herrschende Nachrichtenlage führender (internationaler) Leitmedien wie der "New York Times“, CNN oder BBC und richten ihre aktuelle Themenplanung insbesondere nach den Eilmeldungen der großen Nachrichtenagenturen aus, sodass gegenläufige Meinungen und Perspektiven tendenziell unberücksichtigt bleiben. Gegen diesen publizistischen Einfluss kann sich die Einschätzung der Korrespondenten, was vor Ort wichtig und relevant ist, immer seltener durchsetzen: Eigene Sichtweisen, Interpretationen und Analysen müssen sie aufwendig und teilweise gegen den Willen der Redakteure ins Blatt oder auf den Sender bringen. Dass die eigenen Reporter Krisensituationen in den betreffenden Regionen besser einschätzen und schlüssiger einordnen können, wird aus Sicht der Befragten nicht selten geflissentlich ignoriert. Auch an der Heimatfront herrscht somit ein gefühltes Desinteresse gegenüber ohnehin vernachlässigten Themen. Ohne Risiko keine Krisenberichterstattung
Seit Beginn des weltweiten "Kriegs gegen den Terror“ im Jahr 2001 sind Krisenjournalisten selbst vermehrt zu Opfern von Gewaltakten und Geiselnahmen geworden. In einigen Krisenregionen werden sie nicht mehr als neutrale Beobachter und Rechercheure akzeptiert. Terroristen sehen ihre Entführung als lukrative Möglichkeit, hohe Lösegeldsummen von westlichen Regierungen und Medienunternehmen zu erpressen oder aber – meist noch wichtiger – eine breite Medienpräsenz für ihre Botschaften zu erwirken, was die Gefahr erhöht, dass Medienschaffende ein besonders attraktives Angriffsziel für Terroristen werden. Die befragten Korrespondenten versuchen sich mit unterschiedlichen Vorkehrungen gegen die gefährlichen Unwägbarkeiten bei ihren Kriseneinsätzen zu wappnen, die hauptsächlich auf individuellen Erfahrungen basieren. Das Gros der Befragten versucht dabei jedoch auch, den Zwang zu spontanen Instinkthandlungen und Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu vermeiden, um ihr Wohl oder Wehe nicht allein ihrem Glück und dem Zufall zu überlassen.
Dennoch bekennen die Befragten, dass der Versuch, Kontrolle über das Chaos zu gewinnen, immer Grenzen habe. Es gelte stets: "Ohne Risiko keine Krisenberichterstattung“, wie es Antonia Rados ausdrückt. Wichtig sei jedoch, so Christoph Reuter vom "Spiegel“, dass die eigene Vernunft (und jene der Auftraggeber) handlungsleitend bleibe: Man sollte "keine zu großen Risiken eingehen. Denn genau das machen ja viele, dass sie sagen: "Wenn ich 1.000 Dollar dafür kriege, dann mache ich alles!‘ Man findet immer jemanden, der sein eigenes Leben für 1.000 Dollar auf Spiel setzt, leider aber dann auch das des Journalisten, mit dem sie unterwegs sind.“ Unabhängig und abhängig zugleich – von Kollegen, Helfern und dem Militär
Krisenjournalisten entsprechen üblicherweise nicht dem Klischee eines Einzelgängers, der für die Berufsehre sein Leben riskiert. Vielmehr führen sowohl Sicherheitserwägungen als auch die Sorge, wichtige Informationen zu verpassen, häufig zu einer eigenwilligen Rudelbildung: Das Phänomen, dass Medienakteure in Krisengebieten mitunter regelrecht aufeinanderhocken, sich also geballt in einem Hotel einmieten und sich regelmäßig untereinander austauschen, wird als Palestine-Syndrom bezeichnet (nach dem in den Irak-Kriegen bekannt gewordenen Journalisten-Hotel "Palestine“ in Bagdad). In diesen alltäglichen Situationen inmitten von Krisenkontexten drohen nicht nur psychosoziale Spannungen aufgrund des begrenzten Raums und der prekären Sicherheitslage, auch berichten einige der Befragten, dass sich Kollegen gegenseitig zu übertrumpfen versuchen.
Das Beisammensein von Krisenreportern ergebe noch keineswegs eine verschworene Gemeinschaft, sagt Katrin Sandmann (ehemals N24). Ganz im Gegenteil: Diejenigen Korrespondenten, die Erfahrung hätten, würden um alles in der Welt einen Lagerkoller vermeiden wollen. Daher werde ein ausgeprägtes Miteinander nur unter wenigen Kollegen zelebriert. Der Charme einer solchen Art von "Hotel-Berichterstattung“ entspringe oft einzig und allein der Möglichkeit, seinen Stress mit spontanen Journalisten-Partys abzubauen, um sich vom schweren Druck des Arbeitsalltags im Krisengebiet und vom Wahnsinn der Krise selbst abzulenken. Die generelle Stimmung unter den Kollegen hat sich allerdings offensichtlich zusehends verschlechtert. Einzelne Befragte wie "Spiegel Online“-Chefreporter Matthias Gebauer berichten davon, dass Journalisten in Krisengebieten mitunter versuchen würden, sich gegenseitig zu beschatten und auszuspionieren.
"Ohne Stringer oder Dolmetscher kommt man im Grunde nicht mehr aus, wenn man in die Tiefe recherchieren will und nicht nur im Hotel hocken möchte.“ Matthias Gebauer hat den Wert von lokalen Helfern und Helfershelfern bei der Recherchetätigkeit in Krisengebieten über viele Jahre zu schätzen gelernt. Stringer oder Fixer fädeln gemäß der Ursprungsbedeutung der englischen Begriffe ein, sie legen Schnüre, knüpfen Kontakte. Für ausländische Journalisten sind sie durch ihr Detailwissen für eine bestimmte Region meist mehr als bloße Dienstleister, die logistische oder sprachliche Hürden überwinden. Sie sind auch Ratgeber in unbekannten und unsicheren Gegenden und Kontexten, sie recherchieren und organisieren und tragen mit ihrem Erfahrungsschatz entscheidend dazu bei, wie und zum Teil auch worüber aus Krisengebieten berichtet wird.
Aus der großen Abhängigkeit der Korrespondenten von ihren Informantennetzwerken und der organisatorischen Unterstützung von Stringern und Fixern entsteht ein Gefangenendilemma, weil Manipulation und Missbrauch nie gänzlich ausgeschlossen werden können, insbesondere wegen der in erster Linie geschäftlichen Beziehung zwischen Krisenjournalisten und einheimischen Helfenden. Das Verhältnis steht zudem auf wackeligen Füßen: Die zunehmende Unprofessionalität von Stringern manifestiert sich bisweilen in Abwerbungen durch konkurrierende Journalisten, Käuflichkeit oder Parteinahme.
Nicht nur daher ist für viele Krisenreporter der Schulterschluss mit dem Militär alternativlos, um aus Territorien zu berichten, in denen die Sicherheit nicht ausreichend gewährleistet ist. "Der Weg zum Krieg führt über die Armee“, sagt etwa Katrin Sandmann. Entsprechend haben Krisenreporter auch hier mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sie sich – indem sie sich in die Obhut einer staatlichen Ordnungsmacht begeben – auf ein direktes Abhängigkeitsverhältnis einlassen. Sich von der Bundeswehr oder dem Militär der NATO-Bündnispartner "einbetten“ zu lassen, ist laut Auskunft der befragten Korrespondenten mittlerweile eine anerkannte Recherchemethode, über die gemeinhin keine hitzigen Debatten (mehr) geführt werden. Die offenkundigen Vorteile für Krisenreporter beträfen in erster Linie die ungehinderten Einblicke in die Organisationsabläufe und in die Psyche der Soldaten – ein Thema, das automatisch wichtiger wird, sobald sich eine Nation im Ausland militärisch engagiert. Allerdings birgt das Embedding das Risiko eines professionellen Distanzverlusts, der den unvoreingenommenen Blick der Korrespondenten auf die jeweilige Krise manipulieren könnte und von ihnen kaum offen thematisiert wird. Wer sich embedden lasse, könne kaum etwas gegen die korrumpierende Nähe ausrichten. Auf dem Prüfstand
Um sich über mögliche praxisorientierte Vorschläge und Konzepte auszutauschen, wie der Krisenjournalismus insgesamt verbessert werden kann, lassen sich aus der Sicht der befragten Berichterstatter folgende maßgebliche Kernprobleme des Tätigkeitsfeldes zusammenfassen:
Die redaktionelle Vorbereitung von Kriseneinsätzen wird als problematisch eingeschätzt, wobei das zuweilen praktizierte autodidaktische Prinzip enorme Risiken birgt. Für eine psychologische Nachbereitung von Kriseneinsätzen gibt es keine verlässlichen Anlaufstellen und Abläufe in den meisten Heimatredaktionen. Der zunehmende Zeit- und Arbeitsdruck, der auf den Heimatredaktionen lastet, untergräbt die Sicherheit, Unabhängigkeit und Betreuung der eigenen Krisenreporter. Krisenjournalisten sind häufig auf sich allein gestellt und können sich gerade in Gefahrensituationen bisweilen nur auf die eigenen Erfahrungswerte und Instinkte verlassen. Die Qualität der Krisenberichterstattung ist insgesamt verbesserungswürdig, vor allem, was die Unterstützung und den Austausch mit den Reportern vor Ort angeht.
Ausgehend von den geführten Expertengesprächen sowie im Rückgriff auf den allgemeinen Forschungsstand zu den Friktionen und Defiziten im Krisenjournalismus können auf Grundlage einer Zusammenfassung der von den Befragten identifizierten Missstände einige Handlungsempfehlungen formuliert werden, die zur generellen Steigerung der Qualität in der Krisen- und Kriegsberichterstattung beitragen können. Im Vordergrund stehen strukturelle und handwerkliche Verbesserungen, die zur Schärfung des krisenjournalistischen Berufsprofils, zur Systematisierung und Verstetigung seiner Ausbildungswege und zur Professionalisierung des Tätigkeitsfeldes insgesamt beitragen sollen. Abgesehen von generellen Erfordernissen (wie eine nachhaltige Investition in die Auslands- und Krisenberichterstattung statt Rationalisierungsmaßnahmen) werden folgende strukturelle und handwerkliche Verbesserungen vorgeschlagen:
Auch wenn in Krisengebieten vor allem die Eigenverantwortung und das Einfühlungsvermögen der Reporter gefragt sind und diese generell Richtlinienkatalogen skeptisch gegenüberstehen: Die zunehmenden Probleme im Krisenjournalismus erfordern ein klares krisenjournalistisches Berufsprofil, zugeschnittene Verhaltenskodizes und redaktionelle Richtlinien, die eine wahrheitsgemäße, ausgewogene, ideologiefreie und – zumindest in Teilen – transparente Berichterstattung in Ausnahmesituationen unter erschwerten Arbeitsbedingungen ermöglichen. Angesichts der nicht zu unterschätzenden Bedeutung kultureller Differenzen und Animositäten und dem Umgang damit sind eine Spezialisierung der Journalismusausbildung auf Krisen- und Konfliktsituationen und das begleitende Hintergrundwissen unabdingbar. Eine systematische Zusatzausbildung für Krisenberichterstatter würde über die anekdotische Qualität vereinzelter Seminare über journalistische Kriseneinsätze hinaus zu einem tieferen Verständnis der berufsethischen Prinzipien sowie zu einem schärfer konturierten Berufsbild des Krisenjournalisten insgesamt beitragen. Während die inhaltlich-praktische Vorbereitung maßgeblich in der Eigenverantwortung der Krisenjournalisten liegt, muss von den Verlagen, Rundfunksendern und den Berufsverbänden eine Optimierungsstrategie bei der redaktionellen Vor- und Nachbereitung von Kriseneinsätzen eingefordert werden. Mit den gestiegenen Risiken für Leib und Leben in vielen Teilen der Welt werden praktische Sicherheitstrainings gefordert, die auf die widrigen Umstände für Krisenreporter ausgerichtet sind. Dass Journalisten teils immer noch in solche Gebiete entsendet werden, ohne ein gesondertes Erste-Hilfe-Training durchlaufen, geschweige denn eine Sicherheitsschulung absolviert zu haben, ist fahrlässig und setzt Reporter wie auch die Redaktion vermeidbaren Gefahren aus. Unentschieden blieb unter den Befragten, wie und von wem solche Trainings realisiert werden sollen. Unbestritten jedoch ist, dass ein Sicherheitstraining wie das der Bundeswehr in Hammelburg alleine nicht ausreicht, sondern eine Spezialisierung im Hinblick auf die journalistischen Einsatzmodalitäten und typischen Gefahrensituationen bei der Berichterstattung vonnöten ist. Ein ebenso vielversprechendes wie in einigen Redaktionen schon länger angedachtes Modell zur Vor- und Nachbereitung von Krisenreportern ist die Einrichtung sogenannter redaktioneller Task Forces. Hierbei handelt es sich um Sonderredaktionen, die zum Beispiel ressortübergreifend zusätzliches Personal einbeziehen, das schon einmal im Kriseneinsatz war oder sich darauf vorbereiten will. Solche redaktionseigenen Spezialeinheiten für die Krisenberichterstattung würden die notwendige Tradierung inhaltlicher Schwerpunkte und professioneller Erfahrungswerte unter anderem dadurch gewährleisten, dass die oftmals in unterschiedlichen Ressorts tätigen Kollegen regelmäßig miteinander in Kontakt treten und sich untereinander austauschen könnten. Eine weitere Maßnahme wäre der Zugriff auf Rechercheure und Faktenprüfer, die vom Redaktionstisch aus die Krisenreporter bei Recherchen, Kontaktaufnahmen oder zum Informationsaustausch gezielt und als dauerhafte Ansprechpartner unterstützen, sodass Krisenreporter seltener auf sich allein gestellt sind und sich auf zuverlässige Zuarbeit aus der Heimatredaktion verlassen können. Eine redaktionsübergreifende Plattform zwischen erfahrenen und unerfahrenen Kollegen könnte durch ein Reporterforum ergänzt werden, das regelmäßig einlädt, um das Konkurrenzdenken zu überwinden und die rein handwerklich-praktischen Probleme bei Kriseneinsätzen zu diskutieren.
Um die ideologische Unabhängigkeit, Authentizität und Glaubwürdigkeit internationaler Krisenberichterstattung gewährleisten zu können, gilt es, die Ausbildung, die Recherchemöglichkeiten und die Sicherheitsbedingungen von Krisenjournalisten kontinuierlich zu verbessern. Hierdurch könnte sich die Presse auch effektiver dagegen wappnen, dass aus Krisen und Kriegen voyeuristisches Medienspektakel und aus Berichtenden unfreiwillige Spielbälle politischer Interessen werden.
Reporters Without Borders, Handbook for Journalists, Paris 2007, S. 50.
Wenn im Folgenden von "Journalisten“ oder "Reportern“ die Rede ist, sind stets auch die weiblichen gemeint.
Vgl. Michaela Maier/Karin Stengel/Joachim Marschall, Nachrichtenwerttheorie, Stuttgart 2010.
Vgl. Stephan Weichert/Leif Kramp, Die Vorkämpfer. Wie Journalisten über die Welt im Ausnahmezustand berichten, Köln 2011.
Die Gesprächspartner waren: Fiona Ehlers, Susanne Koelbl ("Der Spiegel“), Carolin Emcke, Reiner Luyken ("Die Zeit“), Christoph Maria Fröhder, Ariane Reimers (ARD), Matthias Gebauer ("Spiegel Online“), Gerhard Kromschröder, Christoph Reuter ("Stern“), Souad Mekhennet (ZDF, "New York Times“), Antonia Rados (RTL), Maike Rudolph (NDR), Katrin Sandmann (N24), Elmar Theveßen (ZDF), Ulrich Tilgner (SR), Susanne Fischer und Stephan Kloss (frei).
| Article | , Stephan Weichert | , Leif Kramp | , Alexander Matschke | 2021-12-07T00:00:00 | 2012-07-10T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/140225/1000-dollar-fuer-ein-menschenleben-ueberlegungen-zur-qualitaet-im-krisenjournalismus/ | Kriegsberichterstattung gilt als Königsdisziplin im Journalismus. In kaum einem journalistischen Handlungsfeld liegen Mythos und Realität jedoch so weit auseinander. Zur Qualitätsverbesserung gibt es mehrere Ansatzpunkte. | [
"Journalismus",
"Auslandsjournalismus"
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Analyse: Russische kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) in der Corona-Krise – Ein Sterben auf Raten | Russland-Analysen | bpb.de | Zusammenfassung
Seit vielen Jahren verspricht die Elite Russlands die Stärkung der kleineren und mittleren Unternehmen (KMUs) und deren Rolle in der Volkswirtschaft. Manchmal überschlägt sich dabei die politische Rhetorik im Eifer des Gefechts und zuvor ausgerufene Ziele müssen revidiert werden. So geschehen auch mit den mittelfristigen Entwicklungszielen der KMUs, das heißt Firmen mit bis zu 250 Beschäftigten und 2 Mrd. Rubel Umsatz (ca. 30 Mio. Euro). Diese wurden im Nationalen Projekt mit dem Titel "kleine und mittlere Unternehmen und die Förderung des individuellen Unternehmertums" festgehalten. Zuerst sollte der Anteil dieser Unternehmen am BIP bis zum Jahr 2030 auf 40 % steigen, was später auf 32,5 % gesenkt wurde. Damit wäre das Land jedoch immer noch deutlich hinter anderen Industrienationen. In der EU beispielsweise betrug der Anteil 2019 knapp 56 %. Im Vergleich dazu steuerten russische KMUs im gleichen Zeitraum nur knapp 20 % zum BIP bei und selbst dieser niedrige Wert war seit einigen Jahren rückläufig. Die Probleme dafür sind im polit-ökonomischen System selbst zu finden und geben zudem Aufschluss darüber, wie und weshalb die politischen Lenker im Kreml auf die Corona-Krise antworteten und welche Konsequenzen dieses Handeln langfristig haben kann. Die Auswirkungen des politischen Systems in Russland auf KMUs
Die wirtschaftlichen Strukturen des Landes ähneln stark den politischen. Dies ist auf die Politisierung der Wirtschaft zurückzuführen, die eine Konsequenz des Regimetyps ist. Im Klartext handelt es sich beim flächenmäßig größten Land der Erde um einen autoritären Staat. Davon können zwei wichtige Einsichten in Bezug auf den Stellungswert von KMUs in einem solchen politischen System abgeleitet werden: Erstens werden KMUs von den Machthabern höchstens als schlechtere Alternative zu Großunternehmen gesehen. Das liegt vor allem daran, dass Letztere, insbesondere wenn es sich um staatseigene Unternehmen handelt, einfacher zu kontrollieren sind, bzw. direkt für politische und finanzielle Interessen des Kremls eingesetzt werden können. Somit sind z. B. mehr oder minder verpflichtende Wahlkampagnen in Großunternehmen ein häufiges Instrument, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Gleichzeitig kann der potenzielle Verlust seines Arbeitsplatzes in einem Unternehmen für Arbeitnehmer abschreckend im Hinblick auf politischen Aktivismus wirken. Je höher somit der Beschäftigtenanteil in Großunternehmen ist, umso einfacher kann von diesen Instrumenten Gebrauch gemacht werden; was in KMUs unter gleicher Zielsetzung aus rein logistischen Gesichtspunkten weniger praktikabel wäre. Entsprechend dieser Devise gehen Berechnungen davon aus, dass ungefähr jeder zweite formell beschäftigte Arbeitnehmer in Russland in einem Unternehmen mit Staatsbeteiligung angestellt ist. Gleichzeitig können auch Entscheidungen von wenigen, bedeutenden Großunternehmen einfacher politisch gesteuert werden. Sie können so z. B. für außenpolitische Zwecke, wie im Falle von Gazprom, oder Patenschaften für Prestigeprojekte auf lokaler, regionaler als auch auf föderaler Ebene genutzt werden. Es ist somit nicht verwunderlich, dass der Übergang in ein autokratisches System in Russland, der insbesondere nach der Machtübernahme Putins an Tempo zulegte, Hand in Hand mit der Zentralisierung sowie Verstaatlichung von zentralen Wirtschaftszweigen einherging. Zweitens sind es die Auswüchse einer Autokratie, die stellvertretend für die Probleme stehen, die KMUs heute in Russland daran hindern, zu wachsen. Die politische Vereinnahmung von Großunternehmen in einem System mit formell schwachen Institutionen führte zu einer Zentralisierung der Korruption. Diese ging mit der Instrumentalisierung der Justiz einher, welche ein Mittel zum Zweck in den Händen des Kremls und ihm nahestehender Personen darstellt. Das daraus resultierende unsichere institutionelle Umfeld und die Gefahr von Enteignungen stellt eine ungemeine Barriere für privates Unternehmertum dar. Wettbewerb zwischen Unternehmen findet in einem solchen System weniger auf der Basis von wirtschaftlichen Aspekten denn des Zugangs zu politischen Ressourcen statt. So ist es wenig verwunderlich, dass es dann gerade die Großunternehmen sind, die im wirtschaftlichen Wettbewerb die mit Abstand besten Karten haben. Diese Wettbewerbsverzerrung ist insbesondere wichtig im Hinblick auf den Unterschied zwischen den theoretischen und den faktischen Rahmenbedingungen zum Führen eines Unternehmens. Aus der politischen Lenkung des freien Wettbewerbs auf dem Markt speist sich die generelle Einstellung von autoritären Staaten gegenüber internationaler Kooperation. In der Wissenschaft allseits bekannt ist die Theorie des demokratischen Friedens, die besagt, dass demokratische Staaten deutlich weniger Kriege gegeneinander führen. Gleichweg findet auch die These breite Zustimmung, dass diese Staaten stärkeren Handel mit der Außenwelt betreiben. Russland ist keine Ausnahme dieser Regel, sondern ein gutes Beispiel im umgekehrten Sinne. Mit zunehmendem Autoritarismus nahmen auch die Konflikte mit Nachbarländern zu, die wirtschaftlich in den Sanktionen, Embargos und der zunehmenden Isolierung Russlands kulminierten. Dies geschah parallel zu einer breit angelegten Strategie der Importsubstitution, bei der ausländische Güter durch einheimische Produkte ersetzt werden sollten. Insbesondere protektionistische Maßnahmen wurden dafür eingesetzt, die jedoch bei Ausbleiben von systemischen Reformen eine Umverteilung von breiten Bevölkerungsschichten zu Gunsten einiger, wenig konkurrenzfähiger Wirtschaftszweige darstellen. Diese Einschränkungen sind von zentraler Bedeutung. Denn das seit längerem rückläufige Kaufkraftniveau in Russland ist eine buchstäbliche Folge dieser Entwicklungen. Selbst wenn KMUs von keinen direkten Folgen des unsicheren institutionellen Umfelds getroffen werden sollten, beispielsweise in Form von Enteignungen, so sind sie dennoch durch diese wirtschaftliche Stagnation gebeutelt. Im Unternehmensbarometer der KMU-nahen Organisation "Opora" wurde bereits lange vor der Corona-Krise das Fehlen an heimischer Produktnachfrage als Hauptgrund für eine negative Wirtschaftslage der KMUs erkannt. Diese Not wird dadurch erhöht, dass Russlands KMUs in überwältigender Mehrheit ausschließlich auf dem heimischen Markt agieren und nur für knapp 9 % der russischen Ausfuhren außerhalb des Rohstoffsektors stehen. Dies erklärt auch, wieso bereits vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie der Anteil russischer KMUs an der Wirtschaftsleistung des Landes zurückging, da jene überproportional von den hausgemachten Nachfrageproblemen getroffen waren. Wieso der Staat 2020 anders als 2009 handelte
Die Pandemie traf somit auf einen bereits angeschlagenen und im besten Falle stagnierenden KMU-Sektor in Russland. Der zuvor genannte Zugang zu politischen Ressourcen als wichtigstes Mittel zur Wettbewerbsführung wird dabei auch deutlich in den Anpassungsmechanismen an Krisen sichtbar. Es gab zwar Stützungsmaßnahmen, die die russische Regierung den durch die Corona-Krise gebeutelten Unternehmen anbot. Jedoch war die Dimension dieser Maßnahmen eine völlig andere im Vergleich zu anderen, insbesondere westlichen Ländern. Gerade einmal 4,5 % des BIPs veranschlagten all diese Maßnahmen bis Mai 2021. Im Vergleich dazu fielen die Stimuli und Hilfen in den USA mit 26 % und Deutschland mit 39 % des BIPs um ein Vielfaches höher aus. Auch waren direkte Unterstützungszahlungen, die man in Deutschland u. a. als Überbrückungshilfen kennt, kaum Bestandteil der Maßnahmen der russischen Regierung. Ein Finanztopf zur Stützung von KMUs wurde zwar aufgelegt, jedoch enthielt er gerade einmal 80 Mrd. Rubel, was in etwa 1 Mrd. Euro entspricht. Während der ersten Welle, als sich das Land im Lockdown befand, wurden 12.000 Rubel pro Arbeitnehmer an Unternehmen ausgezahlt. Dies geschah unter der Bedingung, dass die Firma mindestens 90 % der Arbeitsplätze der Vorkrisenzeit beibehielt. Dass dies jedoch mit umgerechnet 170 Euro pro Kopf eine ziemlich bescheidene Hilfszahlung ist, muss hierbei nicht gesondert erwähnt werden. Einen direkten Kanal, um Umsatzausfälle zu kompensieren, ähnlich der in Deutschland bekannten Maßnahmen, gab es in Russland so gesehen nicht. Wie Umfragen zeigen, nahmen KMUs neben dem Zurückgreifen auf Eigenmittel in erster Linie Kredite auf, um mit den negativen Konsequenzen der Pandemie zurechtzukommen. Von Seiten der Regierung wurden dafür die Voraussetzungen zur Kreditvergabe gelockert und Staatsbanken spielten eine beträchtliche Rolle in der praktischen Umsetzung. Ein spezielles Programm wurde explizit für KMUs aufgesetzt, das vorsah, kurzfristige Kredite (bis zu 12 Monate) mit einer niedrigen Verzinsung zur Verfügung zu stellen. In der Praxis stellte sich jedoch heraus, dass diese Kredite häufig verwehrt wurden und eine hohe Ablehnungsquote (bis zu 70 % in der ersten Welle) ließ sogar den Wirtschafts-Ombudsmann, Boris Titov, im Kreml intervenieren, was letztlich von Erfolg geprägt war. Die gelockerten Bedingungen zur Kreditvergabe wurden von Seiten des Staates durch ein Moratorium für Inspektionen und einer Lockerung der Insolvenzregelungen komplementiert. Hinzu kamen Stundungen bzw. Verlagerungen für die Zahlung von Steuerschulden sowie Sozialabgaben. In der Gesamtwirtschaft sollen diese Maßnahmen zu Einsparungen von rund 25 Mrd. Euro (ca. 2 Billionen Rubel) geführt haben. Jedoch waren sie, wie bereits erwähnt, relativ bescheiden in ihrem Umfang, insbesondere in Anbetracht der knapp 118 Milliarden Euro, die der staatliche "Nationale Vermögensfonds" Russlands, der für genau solche Krisen gedacht ist, im März 2020 zur Verfügung hatte. Diese Tatsache wirkt noch paradoxer, wenn gleichzeitig die weitere Wertentwicklung dieses Vermögensfonds betrachtet wird. Der Gesamtwert stieg nämlich bis August 2020 auf über 145 Mrd. Euro an, da der Goldpreis im Zuge der Pandemie anzog und das Edelmetall inzwischen die Größte Position dieses Fonds darstellt. Dass der russische Staat jedoch auch anders wirtschaften kann, wurde während der Weltwirtschaftskrise 2009 sichtbar. Damals pumpte der Kreml den Gegenwert von 6,8 % seines BIPs in den Markt in Form von Stützungsmaßnahmen und Stimuli, was den größten Wert aller G20-Staaten darstellte. Knapp 45 % des damaligen Reservefonds, der 2018 mit dem Nationalen Vermögensfond fusionierte, wurden dafür aufgebraucht. Dabei zeigten Studien, dass von diesen enormen Summen überproportional stark Großunternehmen profitierten. Dies trifft auch im Kern einen der zwei Gründe, weshalb der Kreml im Vergleich zu 2009 in der Corona-Krise einen Paradigmenwechsel vollzog und deutlich zurückhaltender agierte. Erstens kann anhand von Unternehmensdaten abgelesen werden, dass in erster Linie KMUs von den Einschränkungen der ersten Welle getroffen waren. Während angenommen wurde, dass die Gewinne der größten Unternehmen des Landes um 8 % fallen werden, fielen sie für die anderen Unternehmen um rund 40 %. Zweitens wird der 2009 noch nicht in diesem Ausmaß vorhandene Fiskalkonservatismus des Kremls als zusätzlicher Grund für das Ausbleiben einer größeren Reaktion 2020 sein. Es wurde viel über die russische Strategie der relativen Unabhängigkeit von globalen Schocks, ergo auch Sanktionen, geschrieben. Die Idee einen großen fiskalischen Puffer zu haben, um so den Einfluss von heutigen und potenziell zukünftigen Strafmaßnahmen zu verringern, scheint den Kreml spätestens seit der Ukrainekrise prioritär umzutreiben. Dies führte dazu, dass der Fiskalkonservatismus und die gleichzeitige Strategie zur Importsubstitution an Fahrt aufnahmen. Staatliche Hilfen – nicht nur ein Angebotsproblem
Bei einer genaueren Untersuchung der KMUs wird dabei jedoch sichtbar, dass nicht einzig und allein das wenig ambitionierte Hilfspaket der russischen Regierung von Bedeutung ist. Selbst dieses eher bescheidene Angebot traf auf eine geringe Nachfrage seitens der Unternehmen. Die Betrachtung der Gründe für diesen Zustand führt wiederum zu den eingangs erörterten politischen Merkmalen des Systems Putin. Laut Experten der Hochschule "RANEPA" nahmen knapp 90 % der KMUs die eigentlich verfügbaren Hilfen nicht an. Als Hauptgrund wurden das mangelnde Vertrauen der Unternehmer in die russische Regierung, die niedrigen Unterstützungssummen, sowie übermäßige Bürokratie angeführt. Andere Studien kamen zum Ergebnis, dass zwar 40 % der KMUs irgendeine Art von Hilfe in Anspruch nahmen, was dennoch 60 % der Unternehmen außen vorlässt. Diese Kombination an mangelnder Nachfrage und eines mangelnden Angebots an staatlicher Unterstützung kann sich jedoch als tickende Zeitbombe herausstellen. Denn dadurch, dass in erster Linie Stützungskredite aufgenommen wurden, ist ein deutlicher Anstieg der Schuldenlast zu beobachten. Knapp zwei Drittel der kleinen Unternehmen in Russland werden inzwischen als Schuldner gesehen. Da die Kredite in der Regel für einen kurzen Zeitraum gedacht waren, nahen Rückzahlungstermine. Aus dem Sberbank-"KMU Wachstumsindex" wird deutlich, dass nicht einmal die Hälfte der verschuldeten KMUs in der Lage ist, jene nun zurückzuzahlen. Und obgleich der Aussetzung der Insolvenzregeln für KMUs im Zuge der Pandemie schloss bis August 2020 knapp jedes fünfte KMU. Parallel dazu kamen zwar neue Unternehmensgründungen, jedoch schlug der Nettoverlust an Unternehmen dieser Art in diesem Zeitraum mit knapp 4,2 % zu Buche. Nichtsdestotrotz hellte sich die Situation der KMUs im Zuge der zweiten und dritten Pandemiewelle auf, was in erster Linie auf das weitgehende Ausbleiben von pandemiebedingten Einschränkungen in Russland zurückgeführt werden kann. Die Öffnung der Wirtschaft inmitten einer Pandemie kann dabei als Weg gesehen werden, den heimischen Konsum, das Hauptproblem der KMUs, zu stärken, insbesondere in einer Lage, in der der Kreml nicht gewillt ist, größere Stimuli auf den Weg zu bringen und den Unternehmen augenscheinlich das Vertrauen in die Regierung fehlt, jene anzunehmen. Der Nachteil dieser Politik liegt jedoch auf der Hand, nämlich viele Todesfälle und ungeahnte Langzeitfolgen für Betroffene. Die tatsächliche Übersterblichkeit in Russland während der Pandemie wird dementsprechend von verschiedenen, unabhängigen Stellen auf 400.000 bis 600.000 Toten beziffert, was einen der höchsten Werte weltweit darstellt. Die aktuellen Maßnahmen und das damit verbundene Rückgreifen vieler KMUs auf Kredite führen somit viele dieser Unternehmen vor die langfristige Zahlungsunfähigkeit. Besonders weil viele KMUs bereits vor der Pandemie zu kämpfen hatten und die Probleme durch die Krise und die spärliche Antwort darauf von Seiten des Kremls potenziert wurden. Eine Negativspirale ist seit längerer Zeit im Gange und wenig deutet auf einen Ausbruch daraus hin. Auch im ersten Quartal 2021 sanken die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung um 3,6 %, was das achte Jahr des Rückgangs in Folge darstellt. Der Grund dafür ist im politischen System selbst zu finden. Sollten keine tiefgreifenden Systemreformen kommen, so wird die durch die Corona-Pandemie gestiegene Schuldenlast für viele KMUs den Tod auf Raten bedeuten. Der Beitrag wurde im Rahmen des von der EU finanzierten Innovativen Trainingsnetzwerks "MARKETS" verfasst und stellt ausschließlich die Meinung des Autors dar. Lesetipps:
Åslund, Anders. Russia’s Crony Capitalism. Yale University Press, 2019. Belton, Catherine. Putin’s people: how the KGB took back Russia and then took on the West. Farrar, Straus and Giroux, 2020. Dawisha, Karen. Putin’s kleptocracy: who owns Russia?. Simon and Schuster, 2015. Miller, Chris. Putinomics: Power and money in resurgent Russia. UNC Press Books, 2018. Sakwa, Richard. Putin redux: Power and contradiction in contemporary Russia. Routledge, 2014.
| Article | Michael Martin Richter (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen) | 2021-09-30T00:00:00 | 2021-08-10T00:00:00 | 2021-09-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-404/338037/analyse-russische-kleine-und-mittlere-unternehmen-kmus-in-der-corona-krise-ein-sterben-auf-raten/ | Seit Jahren verspricht die Elite Russlands kleine und mittlere Unternehmen zu fördern. Doch der Anteil dieser am BIP ist sogar rückläufig - ein Symptom des polit-ökonomischen Systems. | [
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Aus russischen Blogs: Endspurt der Duma vor den Wahlen. Antiterror-Gesetz und Vorratsdatenspeicherung | Russland-Analysen | bpb.de | Am 7. Juli hat Präsident Wladimir Putin ein umstrittenes "Antiterror"-Gesetzespaket unterzeichnet, das die Duma am letzten Sitzungstag vor den Wahlen im September im Eiltempo verabschiedetet hatte. Die Gesetzesänderungen verschärfen die meisten Paragraphen des Strafgesetzbuches für extremistische und terroristische Delikte und führen neue Strafen ein, so zum Beispiel für das Nicht-Anzeigen von schweren Verbrechen. Das "Antiterror"-Gesetzespaket war von der Vorsitzenden des Sicherheitsausschusses Irina Jarowaja und dem Vorsitzenden des Sicherheits- und Verteidigungsausschusses des Föderationsrats,Viktor Osjorow, entworfen und mit den Stimmen der Fraktionen "Einiges Russland" und "Gerechtes Russland" gebilligt. Die Kommunistische Partei und die LDPR stimmten dagegen. Das Gesetzespaket von Jarowaja und Osjorow (in Russland auch als Jarowaja-Paket bekannt) wurde auch von einigen "systemischen" Politikern kritisiert. Vor allem die Gesetzesänderungen zur Vorratsdatenspeicherung sorgten für Empörung, da sie den Geheimdiensten uneingeschränkten Zugang zu Telefonaten, E-Mails, Datenübertragung in sozialen Netzwerken und Messengerdiensten gewährt. Vertreter von Mobilfunk- und Internetanbietern sowie einige Beamte des Telekommunikationsministeriums warnten zudem vor einer Verdoppelung der Preise, da die Unternehmen dem neuen Gesetz zufolge die Kosten für die Speicherung des Datenverkehrs für einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten tragen sollen. Die Autorin des Gesetzespakets weist in einem Interview mit dem russischen Nachrichtensender "Rossija 24" alle Vorwürfe zurück und betont, es seien viele falsche Informationen über das Gesetz im Umlauf gewesen. Die Gegner werfen dem Kreml hingegen vor, das Gesetz über Massendatenspeicherung schränke nicht nur die Rechte der Bürger ein, sondern sei auchaus technischen und wirtschaftlichen Gründen unmöglich umzusetzen. Zu diesem Thema äußerten sich unter anderem der Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow, der Chefredakteur von "Inliberty" Andrej Babitski, der Vorsitzende des Vereins "Offiziere Russlands" Anton Zwetkow und die Oppositionspolitiker Leonid Wolkow ("Vereinigung für Internetfreiheit") und Alexej Nawalnyj ("Stiftung für Korruptionsbekämpfung"). Die meisten kremlnahen Experten und Politologen hielten sich bei diesem Thema auffällig zurück.
Jarowaja: Es wurden viele falsche Informationen und Lügen über das Gesetz verbreitet
"Das Gesetz schlägt nicht vor, Informationen zu speichern. Verstehen Sie das bitte. Ich möchte, dass das die Bürger Russlands zu hören bekommen. Das Gesetz gibt der Regierung der Russischen Föderation nur das Recht, sich innerhalb von zwei Jahren entscheiden zu können: Soll etwas gespeichert werden oder nicht? In welchem Umfang? Welchen Teil der Informationen? Das heißt, das Gesetz reguliert diese Fragen überhaupt nicht. Das Gesetz legt nur die Befugnisse der Regierung fest, damit die sich entscheidet. Dabei beschränken wir die Regierung bei der Entscheidungsfindung dadurch, dass wir sagen: Wenn Sie Prozedere, Fristen, Bedingungen der Speicherung festlegen werden, darf die Entscheidung einen Zeitraum von 0 bis 6 Monaten betreffen. Das heißt, das können 12 oder 24 Stunden sein. Also sind das Fragen, die man berechnen und technisch sicherstellen muss. […]
Deswegen ist eine andere Frage interessant. Ich habe z. B. darauf geachtet, wer die Quelle der Fehlinformationen ist. Das ist sehr interessant. Das beantwortet einiges. […]
Das war Herr Gudkow, Ponomarjow, der Medschlis der Krimtataren, das war Herr Durow. Es ist für mich völlig klar, dass unsere Zielsetzung natürlich nicht mit deren Zielsetzung übereinstimmt. Weil das jene Leute sind, die in die USA fahren, um unser Land zu diskreditieren, und sich tatsächlich Mühe geben, um in Russland Sicherheitsfragen abzuwerten – wir haben eine andere Aufgabe. Und hier besteht eindeutig ein Unterschied der prinzipiellen Interessen. Deswegen glaube ich, dass diese systematische Desinformation, die organisiert wurden, um bei den Menschen die Illusion zu erzeugen, dass etwas teurer werden soll, dass es einen Zugang zu privater Information geben soll – das ist absolut nicht wahr.[…]"
Irina Jarowaja am 5.7.2016 in einem Interview für "Rossija 24"; Externer Link: http://www.vestifinance.ru/articles/72602.
Gudkow: Willkommen in der neuen Welt mit teurem Internet, Gefängnissen für Kinder, totaler Überwachung und Haftstrafen fürs Nicht-Anzeigen.
"Das war’s; Putin hat das Gesetzespaket von Jarowaja/Osjorow unterzeichnet. Sei gegrüßt, schöne neue Welt mit teurem Internet, Gefängnissen für Kinder, totaler Überwachung und Haftstrafen fürs Nicht-Anzeigen.
Wer hatte daran gezweifelt, dass es so kommen wird – die "Sonderabgeordnete" Jarowaja bringt nicht einfach so Gesetze ein.
Ich sage nur eins: Wenn Sie nicht wollen, dass solche Gesetze entstehen, wenn Sie wollen, dass dieses Gesetz abgeschafft wird, dann gehen Sie zur den Wahl. Eine andere Möglichkeit, das Leben im Lande in Ordnung zu bringen, haben wir nicht."
Dmitrij Gudkow am 7.7.2016 auf Facebook; Externer Link: https://www.facebook.com/dgudkov/posts/1166227776751994.
Babizkij: Träumerei von nationaler Sicherheit
"Das Gesetz über die Speicherung der Daten von Internetnutzern gehört zu denjenigen Gesetzen, die man nur als irgendein abgefahrenes Experiment deuten kann. Es ist derart grotesk, unbegründet und unerfüllbar, dass selbst die an alles gewöhnten Bürger Russlands sicher sind, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Vielleicht wird der Präsident es nicht unterschreiben oder er wird es unterschreiben, und es geht dann im Kreml verloren,oder es wird sich von selbst in Luft auflösen. Es ist doch Unsinn, das ganze Gelaber, das die Einwohner des Landes untereinander austauschen, jahrelang anzuhäufen. Es ist doch unmöglich, 20 Millionen FSB-Offiziere irgendwo herzubekommen, um in dieser Riesen-Lawine digitaler Informationen nach Gefahren für die nationale Sicherheit zu suchen. Unmöglich ist es auch, im Jahr 2016 die Telekommunikationsbranche in einem Land von 17 Millionen Quadratkilometern einfach so zu vernichten. Der Grad des Wahnsinns dieses Gesetzes ist derart groß, dass die Abgeordneten mit demselben Erfolg über einen Text hätten abstimmen können, der in Altbirmesisch verfasst ist; die praktischen Folgen wären die gleichen.
Nichts aber lässt in dem Gesetz das Spiel eines übergeschnappten Hirns, eine freundschaftliche Charade oder eine soziale Performance vermuten. Es ist das ehrliche Arbeitsergebnis von Menschen, die für unsere Sicherheit verantwortlich sein sollen. Der Gesetzesentwurf wurde von der Vorsitzenden des entsprechenden Ausschusses eingebracht und – da sind sich die Experten einig – nicht ohne Hilfe der Leitung der Geheimdienste entworfen. Die denken ganz ehrlich, dass auf diese Weise die Sicherheit gewährleistet werden kann.
Gleichzeitig wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, das aus dem Schoß der Sicherheitsdienste stammt: das Verbot eines Einsatzes von genmanipulierten Organismen. In der Begründung werden keine Gründe für die Notwendigkeit einer Verabschiedung des Gesetzes angegeben, sondern nur, dass es in der Folge einer längst vergangenen Sitzung des Sicherheitsrats im Jahre 2014 entworfen wurde. Das Gesetz hatte ein schweres Los, wurde aber letztendlich angenommen – in den letzten Tagen werden alle Träume der "Silowiki"-Lobby Wirklichkeit. […]
Es ist sehr schlecht, dass die "Silowiki" gegen eine nicht existierende Gefahr kämpfen, vor allem deshalb, weil sie dadurch nicht gegen reale Gefahrenv orgehen können. Vielleicht möchten die Bürger Russlands ja, dass es im Land weniger Gewalttaten und Terroranschläge, keine Korruption und Revolutionen gibt. […] Wenn Russland, Gott bewahre, eine Revolution drohen sollte, könnten die Sicherheitsdienste diese nicht verhindern. Sie wären mit dem Krieg gegen die Tomaten beschäftigt.
Andrej Babitskij am 1.7.2016 bei "Wedomosti"; http://www.vedomosti.ru/opinion/columns/2016/07/01/647558-grezi -natsionalnoi-bezopasnosti.
Zwetkow: Es ist nicht so schlimm, wenn Mobilfunkanbieter für die Sicherheit der Bürger zahlen
"Das Gesetz ist richtig und "Arbeit, um Vorsprung zu gewinnen"; es ist eine Antwort auf die modernen Herausforderungen und Bedrohungen. Zweifellos läuft eine intensive PR- und Lobby-Kampagne von Mobilfunkanbietern, die keine zusätzlichen Kosten tragen möchten. Man kann sie verstehen: Ihre Sache ist es, Geld zu verdienen. Andererseits ist es nichts Schlimmes, wenn sie einen Teil ihres Gewinns unmittelbar für die Speicherung von Daten aufwenden, die wichtig sind, um die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten. […]
Anton Zwetkow am 7.7.2016 in einem Interview der "Iswestija"; Externer Link: http://izvestia.ru/news/621300.
Wolkow: Das ist ein Schritt gegen Messenger
"Putin hat nicht nur das Jarowaja-Paket unterschrieben, er hat außerdem den FSB der Russischen Föderationangewiesen (ich zitiere) "ein Verfahren zur Zertifizierung von Verschlüsselungstechnologien zur Datenübermittlung im Internet auszuarbeiten, wobei ein Verzeichnis der zu zertifizierenden Technologien zu erstellen ist, sowie das Verfahren zur Übergabe der Schlüssel an die für die Sicherheit in der Russischen Föderation zuständige Behörde festzulegen." (also an den FSB).
Sie geben ganz offen zu, worin das Ziel des Jarowaja-Pakets besteht. Es ist vor allem ein Feldzug gegen Messenger-Dienste, ein Versuch, ein vollständiges System zur Überwachung der Korrespondenz über Messenger und soziale Netzwerke zu schaffen. Dafür muss ein bestimmtes "neues" Zertifizierungssystem für Verschlüsselungstechnologien geschaffen und das Sammeln der Schlüssel organisiert werden (das ist technisch unmöglich, aber wen interessiert das schon!).
Leonid Wolkow am 7.7.2016 auf Facebook; Externer Link: https://www.facebook.com/leonid.m.volkov/posts/1125592744130024.
Nawalnyj: Unterschriften gegen Verrat und Sabotage
"Das Jarowaja-Paket ist nicht einfach nur eine Sammlung schlechter und schädlicher Gesetzesentwürfe. Es ist ein verräterischer Akt gegen unser Land und eine Sabotage gegen die Wirtschaft, die Bürger und die Unternehmen.
Durch das Gesetzespaket wird Telekommunikation teurer und schlechter. Die Unternehmer verlieren Einnahmen, die Mitarbeiter Geld – wir alle werden tiefer in die Taschegreifen müssen.
Und das ist nicht nur die Überlegung eines Couch-Analytikers; das ist die Meinung der Unternehmen selbst, darunter auch von Staatsunternehmen.
Die Telefonate und die private Korrespondenz aller werden komplett aufgezeichnet und zum Objekt eines einfachen Zugriffs sowohl durch die Gauner aus den Geheimdiensten als auch durch normale Gauner, die Ihnen aus kommerziellen Motiven oder einfach aus Neugier nachspionieren wollen.
Deswegen muss man sich gegen das "Jarowaja-Paket" einsetzen, dagegen demonstrieren und Unterschriften sammeln.[…]"
Alexej Nawalnyj am 11.7.2016; Externer Link: https://navalny.com/p/4950/. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2016-07-25T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-320/231556/aus-russischen-blogs-endspurt-der-duma-vor-den-wahlen-antiterror-gesetz-und-vorratsdatenspeicherung/ | Am letzten Sitzungstag hatte die Duma es verabschiedet - im Eilverfahren: Das neue "Antiterror"-Gesetzespaket sieht erhebliche Verschärfungen des Strafgesetzes vor. Besonders die neuen Möglichkeiten zur Vorratsdatenspeicherung werden kontrovers disku | [
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Editorial | Deutschland und Israel | bpb.de | Als die Bundesrepublik Deutschland und Israel am 12. Mai 1965 diplomatische Beziehungen vereinbarten, war der unmittelbare Anlass Ulbrichts pompöser Staatsbesuch in Ägypten im Februar. Das drohende Scheitern der Hallstein-Doktrin in der arabischen Welt führte zur Flucht nach vorn. Israel befand sich vom Tag der Staatsgründung im Mai 1948 an im Konflikt gegen feindliche Nachbarn. Die inoffiziellen Kontakte zur Bundesrepublik waren weit vorangeschritten - ein hohes Gut, nur wenige Jahre nachdem alliierte Soldaten die Vernichtungslager der Nationalsozialisten befreit und den Völkermord an den Juden beendet hatten. Die DDR hat Israel niemals anerkannt. Erst die frei gewählte Volkskammer bekannte sich im April 1990 zur Verantwortung für die deutsche Geschichte. In den vergangenen 40 Jahren gab es in den bilateralen Beziehungen Höhen und Tiefen, wesentlich bestimmt vom persönlichen Verhältnis der Regierenden zueinander. Doch zugleich ist ein tragfähiges, außerordentlich verzweigtes zivilgesellschaftliches Netzwerk gewachsen, zu dem auch die Bundeszentrale für politische Bildung weiter beitragen wird. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis ist gut und belastbar - vielleicht gerade weil die Vergangenheit stets präsent ist. Nicht aufgrund einer deutschen Kollektivschuld, sondern einer wohl verstandenen kollektiven Verantwortung, so Botschafter Rudolf Dreßler, ist die gesicherte Existenz des Staates Israel heute Teil der deutschen Staatsräson. Dazu bedarf es an erster Stelle der Beilegung des Dauerkonfliktes mit den arabischen Nachbarn und einer friedlichen Entwicklung im Nahen Osten. | Article | Hans-Georg Golz | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29116/editorial/ | Das Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis ist 40 Jahre nach der Aufnahme offizieller Beziehungen gut und belastbar – vielleicht gerade weil die Vergangenheit stets präsent ist. | [
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Bundesverfassungsgerichtsurteil zum OMT-Programm | Hintergrund aktuell | bpb.de | Am 21. Juni wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Interner Link: "Outright Monetary Transactions"-Programm (OMT-Programm) der Interner Link: Europäischen Zentralbank (EZB) verkündet. Das Urteil erfolgt auf Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 16. Februar 2016. Bereits im Juni 2013 hatten erste mündliche Verhandlungen stattgefunden. Dabei wurden bisher grundlegende Fragen hinsichtlich der EU-Verfassungsorgane und ihrer Zuständigkeiten geprüft: Etwa, ob die EZB die "Verfassungsidentität" des deutschen Staates verletzt haben könnte, indem sie das OMT-Programm auflegte. Zudem wurde geprüft, ob die EZB ihre Befugnisse überschritten hat und in ihrem Handeln demokratisch legitimiert ist.
Das "Outright Monetary Transactions"-Programm
"Outright Monetary Transactions", im Deutschen auch "geldpolitische Outright-Geschäfte" genannt, bezeichnet ein Programm des Eurosystems zum Ankauf von Staatsanleihen. Im September 2012 ersetzten diese geldpolitischen Outright-Geschäfte das Programm für die Interner Link: Wertpapiermärkte (Securities Marktes Programme, SMP). Mit dem OMT-Programm kann die EZB Staatsanleihen anderer EU-Staaten in zunächst nicht begrenzter Höhe aufkaufen. Damit beabsichtigt der EZB-Rat, eine einheitliche Geldpolitik in der Eurozone sicherzustellen und damit die Preisstabilität zu erhalten. Die potentiellen Transaktionen konzentrieren sich vor allem auf Staatsanleihen mit kurzen Laufzeiten zwischen ein und drei Jahren. Das Programm sieht zudem vor, das für die Wertpapierkäufe geschaffene Geld der Zentralbank dem Geldmarkt zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu entziehen. Der EZB-Rat entscheidet über Start, Dauer und Ende der Transaktionen.
Im Rahmen des OMT-Programms kann der Ankauf von Staatsanleihen nur erfolgen, wenn sich der betreffende Staat den Auflagen im Rahmen eines EFSF1-/ESM-Programms unterwirft. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde in Reaktion auf die globale Wirtschaftskrise installiert, um die Zahlungsfähigkeit der Euro-Länder bei vorübergehenden Finanzierungsproblemen mithilfe von Krediten, Bürgschaften oder dem Ankauf von Staatsanleihen sicherzustellen. Er ersetzte am 1. Juli 2013 den vorläufigen Rettungsschirm Interner Link: EFSF (European Financial Stability Facility). Indem sich Staaten unter den sogenannten europäischen Rettungsschirm begeben, verpflichten sie sich zu strengen Reform- und Sparmaßnahmen.
Bislang wurde das OMT-Programm nicht angewendet. Stattdessen legte die EZB mit dem Quantitative Easing-Programm einen Mechanismus auf, der das Kaufen von Anleihen nicht nur auf Staaten mit fiskalischen Schwierigkeiten beschränkt – sondern auch von Banken und Großinvestoren Staatsanleihen abkaufen kann. Allein die Ankündigung Mario Draghis im Sommer 2012, das OMT-Programm ins Leben rufen zu wollen, beruhigte damals die Märkte. Die Aussage verstanden Investoren als Garantie, den Euro über diese Staatsanleihekäufe in jedem Fall zu stützen.
Kompetenzen der EZB
Die EZB untersteht keinerlei Weisungen und ist unabhängig. Das vorrangige Ziel der EZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten, indem sie die Währungspolitik in den Staaten bestimmt, die den Euro als Zahlungsmittel haben. Ohne dieses Ziel zu beeinträchtigen, unterstützt die EZB zudem die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union, um dazu beizutragen, die in Artikel 3 des Interner Link: Vertrages über die Europäische Union festgelegten Ziele zu verwirklichen.
Konkret hat die EZB die Aufgaben, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen, Devisengeschäfte durchzuführen, die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedsstaaten zu verwalten und zu gewährleisten, dass die Zahlungssysteme funktionieren. Eine direkte Finanzierung von Staaten darf die EZB nach Paragraph 123 des Externer Link: Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union jedoch nicht betreiben. Konkret ist der EZB der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von Staaten untersagt. Doch das "Outright Monetary Transactions"-Programm würde es der EZB ermöglichen, Staatsanleihen von privaten Akteuren, Banken und Investoren, aufzukaufen. Damit würde, so die Befürchtung, nicht mehr reine Geldpolitik, sondern Wirtschaftspolitik betrieben – wofür die EZB aber nicht zuständig ist.
Die Sicht der Klägerseite
Die Klage beim Bundesverfassungsgericht haben der Politiker Peter Gauweiler (CSU), die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, die Linkspartei und der Verein "Mehr Demokratie" angestrengt. Rund 12.000 Bürger schlossen sich der Klägerseite an. Gauweiler sieht im OMT-Programm eine Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsschulden gegen den Willen der Vertragsstaaten. Zudem überschreite die EZB ihr geldpolitisches Mandat und greife in die wirtschaftliche Kompetenz der Euro-Staaten ein.
Bisherige Gerichtsentscheide und Ausblick auf das Urteil
Bereits am 16. Juni 2015 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) zum OMT-Programm. Demnach darf die EZB Staatsanleihen von Euro-Ländern kaufen, die fiskalische Schwierigkeiten haben. Das Programm überschreite nicht die währungspolitischen Befugnisse der EZB, verstoße nicht gegen das Verbot der Finanzierung einzelner Mitgliedstaaten und sei keine Wirtschaftspolitik.
Ob sich das Bundesverfassungsgericht am 21. Juni in seinem Urteil an der vorherigen Entscheidung des EuGH orientieren wird, wird unterschiedlich eingeschätzt. Zumindest könnte das Bundesverfassungsgericht das OMT-Programm im Grundsatz genehmigen, aber eventuell eigene Bedingungen an eine mögliche Beteiligung Deutschlands stellen.
Mehr zum Thema:
Interner Link: Stratenschulte, Eckart D.: Bewältigung der Eurokrise
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-04-08T00:00:00 | 2016-06-16T00:00:00 | 2022-04-08T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/229552/bundesverfassungsgerichtsurteil-zum-omt-programm/ | Am 21. Juni verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil, ob die Europäische Zentralbank Staatsanleihen bestimmter Euroländer erwerben darf. Damit endet ein mehrjähriges Verfahren. | [
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"Europäische Zentralbank (EZB)",
"Bundesverfassungsgericht",
"Urteil",
"Staatsschuldenkrise",
"Euro-Krise"
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Politisches Wissen im Internet – Relaunch von bpb.de | Presse | bpb.de | 1998 ist die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb unter Externer Link: www.bpb.de online gegangen. Im Herbst 2002 wurde der Webauftritt unter dem Motto „Politisches Wissen im Internet“ völlig neu ausgerichtet und seitdem immer weiterentwickelt. 24 Jahre nach der Erstveröffentlichung präsentiert sie sich jetzt wieder rundum erneuert. Bis heute gleichgeblieben: die Adresse Externer Link: www.bpb.de und der Anspruch, eine verlässliche Adresse für politisches Wissen im Internet zu sein.
Das Design hat sich sichtbar verändert und ermöglicht eine bruchlose und barrierearme Nutzung auf Smartphone, Tablet und Desktop. Auch konzeptionell wurde das größte Portal für politische Bildung im deutschsprachigen Raum auf neue Füße gestellt. Was bleibt, ist die Seriosität, Überparteilichkeit und der große Wissensspeicher in Sachen Politik, Wirtschaft und Geschichte. Mit u.a. solch bekannten Angeboten wie dem Wahl-O-Mat, den Informationen zur politischen Bildung („schwarze Hefte“) oder der Fachzeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ“ sowie dem Jugendmagazin „fluter“, die alle auch über Externer Link: www.bpb.de erreichbar sind.
Auf der Website findet man auf rund 50 Themenseiten das gesamte Angebot der bpb. Die Mediathek (mit aktuell mehr als 3.000 Videos) wurden stärker auf den jeweiligen Nutzungszweck fokussiert und das Finden von Veranstaltungen sowie das Bestellen von Publikationen im bpb-Shop einfacher und komfortabler gemacht. Zudem wurden technische Barrieren abgebaut, die Suchfunktion optimiert und neue Features wie eine „Merkliste“ entwickelt.
Im letzten Jahr verzeichnete Externer Link: www.bpb.de fast 60 Millionen Besuche. Die Website bietet allen Interessierten Grundlagen- und Hintergrundtexte, Grafiken, Lehrmaterialien sowie Erklärfilme, Dokumentationen und Podcasts zu zeithistorischen und politischen Themen - sehr häufig als „Creative Commons Lizenz“ und frei für den nichtkommerziellen Bereich nutzbar. Darüber hinaus kann man im großen digitalen oder analogen Veranstaltungsbereich der Bildungseinrichtung suchen oder im Online-Shop eine der rund 1.400 aktuell lieferbaren Publikationen gegen eine geringe Bereitstellungspauschale bestellen.
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Die Kurdenfrage in der Türkei und der Krieg in Syrien | Syrien, Irak und Region | bpb.de | Seit den territorialen Grenzziehungen, die nach dem Ersten Weltkrieg im Vorderen Orient das Entstehen eines kurdischen Staates verhindert hatten, zählt der Kurdenkonflikt "zu den nachhaltigsten Ursachen für Instabilität und grenzübergreifende Konflikte in der Region". Wenngleich er daher manchmal als "der Palästinenserkonflikt des 21. Jahrhunderts" bezeichnet wird, so ziehen kurdische Akteure wie der ehemalige irakisch-kurdische Bildungsminister Dlawer Ala’Aldeen aktuell eine überraschend positive Zwischenbilanz – zumindest für die kurdischen Bestrebungen im Irak: "Zum ersten Mal können sich unsere Nachbarn tatsächlich ein unabhängiges Kurdistan vorstellen, ohne dass deswegen Blut fließen muss. (…) Ja, die gesamte Ordnung im Nahen Osten ändert sich. Nie zuvor in der Geschichte war die Konstellation für die Kurden so gut." Von der irakischen zur syrischen Kurdenfrage
Der Sturz Saddam Husseins 2003 und die seitdem andauernde Krise der Zentralgewalt im Irak hatten insbesondere für die irakischen Kurden eine große politische Dynamik ermöglicht. Seit 2008 hatte zudem die Türkei, anfangs wenig begeistert über die immer größere Selbständigkeit der irakischen Kurden, ihre Beziehungen zur kurdischen Regionalregierung "deutlich verbessert und ausgeweitet". Doch seit im März 2011 Syrien von Unruhen erschüttert wurde, die zu dem bis heute andauernden Krieg führten, ist eine "neue Kurdenfrage" auf die regionalpolitische Agenda gerückt: die der syrischen Kurden. Wie im Falle der irakischen Kurden trägt auch bei den syrischen Kurden die Schwäche des Zentralstaats zum Aufleben eines nationalen kurdischen Bewusstseins und entsprechender politischer Bestrebungen bei. Der Begriff "Kurdischer Frühling" hat – in Anlehnung an den inzwischen eher kontrovers diskutierten Begriff "Arabischer Frühling" – Eingang in die Debatten gefunden.
Dieser Kurdische Frühling wirkt sich aufgrund der inneren und der regionalen Dynamik insbesondere auf die Türkei aus, die selbst die größte kurdische Bevölkerungsgruppe beheimatet, lange Grenzen mit den kurdisch besiedelten Regionen in Syrien und im Irak teilt und historisch eng mit ihnen verwoben ist. Und wie zuvor im Falle der irakischen Kurden ist die Türkei auch heute wieder höchst besorgt, dass sich die Entwicklungen in den syrischen Kurdengebieten negativ auf die Lage in der Türkei auswirken könnten. Der Kurdische Frühling in der Türkei droht – wie sein arabisches Pendant – durch die konfliktreiche Lage in der Türkei, angeheizt durch terroristische Gewaltakte sowie durch die hohe Instabilität in der Region zu einem "Kurdischen Herbst" zu werden.
In der Türkei veränderte sich während und nach dem Arabischen Frühling – und insbesondere durch die folgenden kriegerischen Entwicklungen in Syrien – das Verhältnis zwischen kurdischer Bewegung und türkischer Regierung. Drei Faktoren beeinflussten diese Entwicklung maßgeblich:
die transnationale Ausrichtung der als terroristisch verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die Transformation der PKK in eine gegen den "Islamischen Staat" (IS) kämpfende Miliz, die internationale Aufwertung beziehungsweise Legitimierung der kurdischen Milizen einschließlich der in vielen Staaten als Terrororganisation gelisteten PKK.
Kurdischer Frühling in Anatolien
In der Türkei selbst war seit der von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geführten Regierung vorangetriebenen Öffnung 2009 ein Kurdischer Frühling durchaus wahrnehmbar.
Wie positiv sich die politische Integration der Kurden infolge der Enttabuisierung der "Kurdenfrage" entwickelt hatte und wie hoch die Akzeptanz für das kurdische politische Milieu war, machten die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 deutlich, als der prononciert kurdisch-nationalistische Kandidat Selahattin Demirtas rund zehn Prozent der Wählerstimmen gewann. Dieser Achtungserfolg bei den ersten Präsidentschaftswahlen, bei denen die Bevölkerung den Präsidenten direkt wählen konnte, ermutigte dann 2015 die stark kurdisch geprägte Demokratische Partei der Völker (HDP) dazu, nicht mehr nur mit einzelnen Kandidaten zur Parlamentswahl am 7. Juni 2015 anzutreten, sondern als linke Sammlungspartei, die verschiedene politische Kräfte – bis hin zu den türkischen Grünen – einschloss. Aus Deutschland unterstützten dann auch gleich zwei Parteien die HDP offiziell bei ihrem Wahlkampf: Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Auch bei diesen Wahlen bestätigte das Ergebnis von rund 13 Prozent für die HDP, dass eine starke politische Kraft der kurdischen Nationalbewegung mit der demokratischen Entwicklung in der Türkei konform ging. Allerdings verschlechterte sich die Stimmung in der Türkei erheblich dadurch, dass der relativ weit gediehene Dialogprozess zwischen türkischem Staat und PKK nicht abgeschlossen wurde und die PKK im Sommer 2015 wieder türkische Sicherheitskräfte angriff. Ein nicht unwichtiger Faktor für die im zweiten Halbjahr 2015 immer stärker eskalierende Situation war die Rolle des IS in der Türkei, der die blutigsten Anschläge in der türkischen Geschichte gegen linke und kurdische Aktivisten und Politiker verübte und sich dazu auch HDP-Wahlveranstaltungen als Anschlagsziele aussuchte. Die starke politische Polarisierung, die seit den Protesten im Istanbuler Gezi-Park 2013 immer weiter zugenommen hatte, bekam zusätzlich eine ethnische Dimension. Trotz der aufflammenden Gewalt und der massiven Kampagne der Regierung, die die HDP immer stärker als politischen Arm des PKK-Terrors schmähte, gelang es der Partei bei den Neuwahlen, die nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen ausgerufen worden waren, am 1. November 2015 wiederum die Zehnprozenthürde zu überwinden und mit 69 Abgeordneten in der Großen Türkischen Nationalversammlung präsent zu sein. Erklärung von Diyarbakir
Seit diesen Wahlen agierte die HDP wieder stärker als kurdisch-nationale Kraft. Dies wurde deutlich, als sich am 26. Dezember 2015 in Diyarbakir der "Kongress für eine demokratische Gesellschaft" (DTK) traf und der Kovorsitzende der HDP Selahattin Demirtas erklärte: "Der Widerstand wird zum Sieg führen. Die Kurden werden von nun an ihren politischen Willen in ihren Ländern haben. Die Kurden werden vielleicht einen unabhängigen Staat haben, einen föderalen Staat haben, Kantone oder autonome Regionen." In seiner Abschlusserklärung forderte der Kongress dann tatsächlich für die gesamte Türkei die Bildung "demokratischer autonomer Regionen".
Dieses politische Vorgehen polarisierte die öffentliche Meinung, da zeitgleich die Gewalt in der Türkei förmlich explodierte, vor allem auch am Ort des Kongresstreffens, in der "heimlichen Hauptstadt" der Kurden, in Diyabarkir. Die Hauptkritik aus dem Regierungslager und der oppositionellen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) gegen die HDP hatte sich schon im Wahlkampf im Juni 2015 darauf ausgerichtet, dass die HDP nur unzureichend Kritik an der PKK-Gewaltstrategie übte beziehungsweise sich von dieser nicht klar und deutlich distanzierte. Führende HDP-Funktionäre wie die Kovorsitzende Figen Yüksekdag bekannten sich vielmehr offen zum "kurdischen Befreiungskampf". Aufgrund dieser Nähe und Verbundenheit von PKK und HDP wurde das Parteilogo der HDP im Wahlkampf von den Gegnern umgestaltet: Statt der Hände, die wie ein stilisierter Baum Blätter tragen, zeigte das Logo Hände, die Handgranaten hielten. Im Kontext der zunehmenden Spannungen wurde die HDP auch von liberalen Kräften, die die Partei zuvor als Bollwerk gegen die Regierung und Präsident Erdogans Machtstreben gesehen hatten, kritisiert, Sprachrohr der PKK zu sein.
Wenngleich die türkische Regierung unter Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und die Regierungspartei AKP politische Gespräche mit der HDP seit dem zweiten Halbjahr 2015 ablehnen, so ist diese Haltung möglicherweise nicht von Dauer. Denn Mitte Januar 2016 lud der türkische Parlamentspräsident alle Parteien zu Gesprächen über eine neue Verfassung ein – ausdrücklich auch die HDP.
Der Konfliktverlauf im Südosten der Türkei im Dezember 2015 und im Januar 2016 führte in den südostanatolischen Städten Cizre, Silopi, Diyarbakir und Van zu massiven militärischen Zusammenstößen zwischen türkischer Sicherheit und PKK beziehungsweise PKK-nahen Gruppen, die Hunderte Getöteter und Verwundeter auf beiden Seiten zur Folge hatten. Besonders besorgniserregend war dabei die Rolle der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), die in den städtischen Unruhegebieten an vorderster Front kämpfte. Bei ihren Kämpfern soll es sich auch um die Kinder von vertriebenen Kurden und getöteten PKK-Kämpfern gehandelt haben. Im Januar 2016 wurde dann die Gründung einer neuen PKK-Untergliederung gemeldet, der Zivilen Verteidigungseinheit (YPS), die ebenfalls Kinder für ihren Kampf rekrutiert haben soll. Kampf um Kobane
Die Entwicklung der PKK und ihres Kampfes in der Türkei ist eng mit der Situation in Syrien verbunden. Jahrelang hatte das syrische Baath-Regime unter Hafez al-Assad dem PKK-Führer Abdullah Öcalan und seiner Miliz eine sichere Rückzugsmöglichkeit geboten. Erst 1998, 20 Jahre nach Gründung der PKK, sorgten massive türkische Drohungen dafür, dass Syrien seinen konfrontativen Kurs änderte, Öcalan auswies und im "Vertrag von Adana" eine Zusammenarbeit mit der Türkei vereinbarte. Dies sorgte bis 2011 unter dem Sohn und Nachfolger im Präsidentenamt, Bashar al-Assad, für zunehmend positive Entwicklungen zwischen beiden Ländern. Doch mit der türkischen Unterstützung für die gegen Assad kämpfenden Milizen wendete sich das Blatt dann wieder. Die Türkei hatte diesen Kurswechsel 2011 in der Erwartung eines schnellen Sturzes von Assad vollzogen, daher mögliche "Kollateralschäden" für die eigene Sicherheit nur begrenzt perzipiert. Assad revanchierte sich aber, indem er "mit der PKK kooperierte, ihr logistische Unterstützung zuteilwerden ließ und ihr sogar die Organisation der syrischen Kurden überließ". Der stärksten syrischen Kurdenpartei, der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihrem bewaffneten Arm, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), wird dementsprechend eine enge Verbindung zur PKK nachgesagt. Ein Großteil ihrer Kämpfer soll sich heute sogar aus der Türkei rekrutieren.
Die Kooperation beider Milizen zeigte sich bei der Befreiung von Kobane, der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt im Gouvernement Aleppo, von den Kämpfern des IS. Die Türkei hatte eine Unterstützung der syrischen Kurden bei ihrem Überlebenskampf abgelehnt. In Sichtweite des türkischen Militärs fand die Zerstörung dieser Stadt statt. Schließlich akzeptierte die Türkei aber, dass Peshmerga-Kämpfer aus Irakisch-Kurdistan über die türkische Grenze nach Kobane reisen konnten, um die dortigen kurdischen Kämpfer zu unterstützen.
Die Ereignisse von Kobane und die innerkurdische Kooperation zwischen den PKK- und Peshmerga-Kämpfern machten der Türkei deutlich, dass sich die Zusammenarbeit der Kurdenmilizen gegen den IS nicht verhindern ließ. Dieses neue kurdische Bündnis hatte sich bereits angekündigt, als umgekehrt die PKK den Peshmerga bei der Verteidigung der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, Erbil, im Irak gegen den IS zur Hilfe geeilt war. "Rojava" und Ankaras Kampf gegen kurdische Bestrebungen in Syrien
Trotz der Kriegsnot hat sich für die syrischen Kurden in den vergangenen Jahren einiges zum Positiven entwickelt. Erst nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges hatte das Assad-Regime ihnen die staatsbürgerschaftlichen Rechte verliehen, um sich so ihre Loyalität zu sichern. Noch relevanter für die syrischen Kurden aber war, dass die syrische Armee sich praktisch vollständig aus den syrischen Kurdengebieten zurückzog und damit die kurdischen Milizen der YPG und die politischen Kräfte der PYD das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehmen konnten. Im von rund zwei Millionen Kurden und zwei Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen besiedelten Nordsyrien wurde bald nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges ein "radikaldemokratisches Experiment" durchgeführt: "Mit Beginn des syrischen Aufstands wurden dort bereits Jahre zuvor vorbereitete politische und soziale Strukturen gebildet, die eine Selbstverwaltung in politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Hinsicht ermöglichen. Es wurden im Verborgenen Räte und provisorische Verwaltungen gebildet, Selbstverteidigungskräfte aufgestellt und Wirtschaftskooperativen gegründet."
Die drei Kantone Efrin, Kobane und Cizire haben sich im Januar 2014 herausgebildet und sich eine neue "politische Verfassung" gegeben, die den "demokratischen Konföderalismus" anstrebt. In der von den drei Kantonen verabschiedeten Verfassung beziehungsweise dem "Gesellschaftsvertrag" heißt es dazu: "Die Kantone der demokratisch-autonomen Verwaltung akzeptieren weder das nationalstaatliche, militaristische und religiöse Staatsverständnis, noch akzeptieren sie die Zentralverwaltung oder Zentralmacht. (…) Sie erkennen die Grenzen Syriens an."
Die PKK sieht diese Autonomieentwicklung in der "Rojava" genannten Region als ein Modell auch für die Türkei an. Für die Türkei bedeutet dies jedoch, dass sich nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch auf der zivil-politischen Ebene zwischen syrischen und türkischen Kurden Allianzen bilden, die als Gefährdung der territorialen Integrität der Türkei betrachtet werden können. Inwieweit sich dieses "Experiment", das sich durch "multiethnische und multireligiöse Selbstverwaltungsstrukturen" auszeichnen soll, aber durchsetzen beziehungsweise für den demokratischen Aufbau Syriens eine Modellfunktion haben wird, ist völlig offen. Aus türkischer Perspektive ist vor allem die enge Zusammenarbeit zwischen den syrisch-kurdischen und türkisch-kurdischen Milizen eine unakzeptable Sicherheitsgefährdung, die eine Akzeptanz der politischen Entwicklung in Rojava nicht erwarten lässt. Ankaras Politik gegenüber den syrischen Kurden ist vielmehr grundsätzlich darauf ausgerichtet, das Schaffen von solchen Fakten in den syrisch-kurdischen Gebieten zu verhindern, die sich als problematisch für die Eindämmung der politischen Bestrebungen der Kurden in der Türkei erweisen könnten.
Allerdings befindet sich die Türkei hier in einer schwierigen Lage, da die USA im Kampf gegen den IS ganz unbedingt auf die militärische Unterstützung auf dem Boden durch die syrisch-kurdische PYD setzen, deren YPG-Volksschutzeinheiten und das PYD/YPG-dominierte Bündnis der Syrisch-Demokratischen Kräfte, das auch Turkmenen, Araber und Christen umfasst. Die jüngsten Erfolge dieser Milizen gegen den IS in Syrien wurden durch Luftschläge der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition dann auch massiv unterstützt und damit erst ermöglicht. PYD mit Teheran und Moskau gegen Ankara
Auch der Iran, der in Syrien fest an der Seite des Assad-Regimes steht, ist ein taktisches Bündnis mit den syrisch-kurdischen Milizen eingegangen und soll die PYD im Kampf gegen den IS unterstützen. Für die Türkei, die sich in Syrien in scharfem Gegensatz zum Iran befindet, ist dies besonders bitter, da es in der Vergangenheit zwischen Ankara und Teheran durchaus ein gemeinsames Interesse an der Niederhaltung kurdischer Bestrebungen gegeben hatte.
Auch Moskau, als wichtigste Macht hinter dem Assad-Regime, sieht die Kurden als verlässliche Bündnispartner im Kampf gegen den IS-Terror und zugleich gegen die von den Russen nicht gewünschte türkische Einflussnahme auf die Ereignisse in Syrien an. Wie der Kovorsitzende der PYD, Salih Muslim, im Oktober 2015 in einem Interview sagte, sind die Russen aus syrisch-kurdischer Sicht eine Gewähr dafür, dass die Türken die Grenzen zu Syrien nicht überschreiten werden.
Nach dem Abschuss eines russischen Jagdfliegers durch die türkische Luftwaffe am 23. November 2015 über syrischem Territorium eskalierte der Konflikt zwischen Russland und der Türkei. Der türkische Botschafter in den USA, Serdar Kilic, kommentierte den Vorfall auf Twitter: "Testet nicht die türkische Geduld." Aus türkischer Sicht hatten die Russen keineswegs nur den IS angegriffen, sondern auch die von den Türken unterstützten Turkmenen. Die einst nomadischen turkmenischen Stämme waren bereits im 11. Jahrhundert aus Anatolien und Mesopotamien in das Gebiet des heutigen Syrien gewandert. 2012, zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges, hatten sie sich zur Syrisch-Turkmenischen Versammlung zusammengeschlossen und einen militärischen Arm – die Syrisch-Turkmenischen Brigaden – gebildet. Dieser kämpft sowohl gegen das Assad-Regime als auch gegen IS und YPG.
Für die Türkei entwickelte sich nach diesem Abschuss die ohnehin prekäre Lage in Syrien insbesondere mit Blick auf die türkisch-kurdische Dynamik ungünstig. Russland hatte schon zuvor die von der Türkei unterstützten sunnitischen Milizen wie Ahrar Al-Sham und Nusra-Front bekämpft. Der Kovorsitzende der HDP Selahattin Demirtas und der Kovorsitzende der PYD Salih Muslim nahmen gemeinsam an einer fünftägigen Konferenz in Moskau zur Kurdenfrage in Syrien und in der Türkei teil, auf der sie scharf die Position und die Rolle der Türkei gegenüber dem IS kritisierten. In der Türkei wurde Demirtas diese Moskaureise – bei der er explizit auch den Abschuss des russischen Jets durch türkische Kampfflieger als "falsche Entscheidung" bezeichnet hatte – als Verrat angekreidet.
Als besonders problematisch wurde aus türkischer Perspektive aber wahrgenommen, dass Russland – durch die von der Türkei zwar unterstellte, aber nicht belegte Anfachung weiterer Gewaltausübung durch die PKK in der Türkei – Druck auf dieselbe ausüben wollte. Da Russland der Türkei gegenüber den offiziellen Standpunkt dargelegt hatte, dass weder die PKK noch die PYD als "terroristische Organisationen" angesehen würden, war die behauptete Eskalation der Gewalt und die Instrumentalisierung der PKK durch Moskau für die Türkei wichtiger Bestandteil einer russlandkritischen Sicht geworden. Russlands Ziel war nach dieser Lesart, dass die Türkei ihre Haltung gegenüber den syrischen Kurden, insbesondere gegenüber der Präsenz der PKK in den syrischen Kurdengebieten, änderte. Die deutsche Homepage der regierungsnahen türkischen Tageszeitung Sabah berichtete sogar, dass Demirtas bei seinem Treffen den russischen Außenminister Sergej Lawrow um Raketenwerfer des Typs AT-14 für den Kampf der PKK gebeten habe. Bereits im Oktober 2015 hatte das türkische Außenministerium neben dem US-Botschafter John Bass auch den russischen Botschafter Andrej Karlow einbestellt, um die Ablehnung der Bewaffnung der syrischen Kurden durch diese beiden Großmächte zum Ausdruck zu bringen. Von russischer Seite war dies damit kommentiert worden, dass eine Bewaffnung der syrischen Kurden durch Russland unwahrscheinlich sei, da Russland den syrischen Staatschef Assad und ein einheitliches Syrien unterstütze. Ausblick
Der Einfluss der Türkei auf die Ereignisse in Syrien und im syrisch-kurdisch-türkischen Grenzgebiet erscheint heute vergleichsweise gering. Die Türkei allein wird die kurdischen Bestrebungen in Syrien weder militärisch noch politisch in ihrem Sinne eindämmen können. Für eine erfolgreiche Strategie fehlen ihr die notwendigen Kooperationspartner in der Region. Auf der Gegenseite ist die Achse zwischen den zivil-politischen und den militanten Kräften der türkischen und der syrischen Kurden dagegen fest etabliert. Dieses Bündnis muss sich aber nicht zwangsläufig dauerhaft gegen die türkischen Sicherheitsinteressen richten. Und die Türkei verfügt über einige Gestaltungsmöglichkeiten. Sie könnte durch die Wiederaufnahme des zuvor schon weit gediehenen Friedensprozesses mit den militanten türkisch-kurdischen Kräften und durch einen politischen Dialog mit der HDP einen neuen Prozess der Vertrauensbildung einleiten. Zurzeit erschwert die Gleichsetzung von HDP und PKK durch die türkische Regierung aber einen glaubwürdigen und nachhaltigen Friedenskurs. Ein nicht auszuschließendes Verbot der HDP und die derzeit angestrebte Verurteilung ihrer Führer wären entsprechend höchst kontraproduktiv. Die Lage in Syrien macht aber deutlich, dass die Türkei keine Zeit zu verlieren hat, wenn es um die Aussöhnung mit kurdischen Kräften in der Türkei und in Syrien geht. Gerade für den prioritären "Kurdischen Friedensprozess" in der Türkei hat die EU zuletzt am 16. Januar 2016 ihre Unterstützung angeboten.
Die internationale Unterstützung für einen Prozess, der die kurdischen Milizen aus der Türkei entfernt und in Syrien und im Irak in (im besten Fall mit der Türkei abgestimmte) sicherheitspolitische Strukturen einbindet, ist gegeben, da die Kurdenmilizen sich im Kampf gegen den IS bewährt haben. Die seit vielen Jahren bestehende, enge türkische Kooperation mit den Peshmerga in Kurdistan im Nordirak macht deutlich, dass die Türkei einen pragmatischen Weg zu gehen bereit ist, wenn die Sicherheit ihres eigenen Territoriums gewahrt bleibt. Wie im Nordirak ist die Türkei auch in Syrien als stabilisierende Regionalmacht von Bedeutung. Eine Entwicklung in den syrischen Kurdengebieten, die den türkischen Interessen diametral widerspricht, wird es nicht geben, da die Türkei diesen etwa 800 Kilometer langen Raum an ihrer Grenze schon aus sicherheitspolitischen Gründen wird stabilisieren müssen. Auch die syrischen Kurden sind daher herausgefordert, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden und sich aus der Umklammerung durch die PKK zu befreien.
Bei den anstehenden Verhandlungen über Syrien ist es wichtig, dass die in ihren jeweiligen syrienpolitischen und kurdenpolitischen Ansätzen stark divergierenden Gestaltungsmächte USA und Russland die türkischen Interessen angemessen berücksichtigen und die Türkei aktiv in den Lösungsprozess einbinden.
Für die proaktive türkische Außenpolitik wird die Stabilisierung der Lage in Syrien und insbesondere auch die Entwicklung in den syrischen Kurdengebieten im Jahr 2016 eine der wichtigsten Herausforderungen bleiben. Die weitere Ausgestaltung der Beziehungen Ankaras mit der kurdischen Region im Irak wird hiervon auch berührt, da der Kampf gegen den IS auch für die irakischen Kurden oberste Priorität genießt und sie sich hierbei den syrischen und türkischen Kurden enger verbunden fühlen, als dies Ankara gefällt. Nicht zuletzt würde die türkische Kurdenpolitik auch im Inneren der Türkei eine sehr positive Dynamik entfalten, wenn Ankara durch ein konstruktives Vorgehen – gemeinsam mit seinen Verbündeten – die syrischen Kurden für einen gemeinsamen Ansatz beim Aufbau einer syrischen Nachkriegsordnung gewinnen könnte. Eine aktive Unterstützung Ankaras für die syrischen Kurden würde diese nicht nur aus der iranischen und russischen Umklammerung befreien, sondern auch die sicherheitspolitische Lage in der Region erheblich stabilisieren.
Perspektivisch könnte sich hierdurch eine für die Türkei wichtige innenpolitische Dimension entwickeln: Wenn die Türkei den Prozess der politischen Integration der jahrzehntelang vom Baath-Regime unterdrückten und entrechteten syrischen Kurden in ein Nachkriegssyrien unterstützte, dann würde dies potenziell auch den Versöhnungsprozess mit denjenigen Kräften unter den türkischen Kurden befördern, die sich heute noch als "Befreiungsbewegung" verstehen und den türkischen Staat teilweise mit terroristischer Gewalt bekämpfen. Das Diktum Atatürks, des Gründers der türkischen Republik, – "Frieden im Land – Frieden in der Welt" – würde hierdurch eine neue Strahlkraft erhalten und die Rolle der Türkei als Ankerland in einer instabilen Krisenregion stärken.
Vgl. Oliver Ernst, Menschenrechte und Demokratie in den deutsch-türkischen Beziehungen. Die Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland im Spannungsfeld der inneren und äußeren Sicherheit, Münster 2002.
Awat Asadi, Der Kurdistan-Irak-Konflikt. Der Weg zur Autonomie seit dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2007, S. 14.
Oliver Ernst, Erdogan kämpft gegen die PKK. Ein neuer Kurdenkrieg in der Türkei würde auch Deutschland erfassen, 28.7.2015, Externer Link: http://www.focus.de/politik/experten/ernst/tuerkei-kaempft-gegen-pkk-ein-neuer-kurdenkrieg-in-der-tuerkei-wuerde-auch-deutschland-erfassen_id_4842580.html (16.1.2016).
Zit. nach Hans-Joachim Löwer, Die Stunde der Kurden. Wie sie den Nahen Osten verändern, Wien–Graz–Klagenfurt 2015, S. 173f.
Vgl. Oliver Ernst, Türken und Kurden an einen Tisch, 3.4.2003, Externer Link: http://www.n-tv.de/archiv/Tuerken-und-Kurden-an-einen-Tisch-article111509.html (16.1.2016).
Guido Steinberg, Die neue Kurdenfrage. Irakisch-Kurdistan und seine Nachbarn, Berlin 2011, S. 6.
Vgl. David L. Phillips, The Kurdish Spring. A New Map of the Middle East, New Brunswick–London 2015.
Vgl. Gülistan Gürbey, Die Kurdenpolitik der AKP-Regierung zwischen türkischnationalistischer-islamischer Staatsideologie, Liberalisierung und Populismus, in: Olaf Leiße (Hrsg.), Die Türkei im Wandel, Baden-Baden 2013, S. 299–317.
Vgl. Oliver Ernst, Kurdischer Frühling, türkischer Herbst? In: Die Politische Meinung, 60 (2015) 535, S. 109–115, Externer Link: http://www.kas.de/wf/doc/kas_43507-544-1-30.pdf?151202101027 (16.1.2016).
Vgl. Gökhan Bacik, How the Arab Spring Transformed Turkey’s Kurdish Issue, in: Orient, 56 (2015) 1, S. 37–45.
Vgl. Dilek Kurban, Kein Fahrplan für den Frieden. Erdogans Demokratiepaket enttäuscht kurdische Erwartungen, SWP-Aktuell 71/2013, S. 2.
Vgl. Julia Ley, Die Türkei wählt frei, aber nicht fair, 2.11.2015, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlen-in-der-tuerkei-die-tuerkei-waehlt-frei-aber-nicht-fair-1.2718870 (20.1.2016).
Zit. n. Kadri Gürsel, Is Turkey Heading to Partition?, 4.1.2016, Externer Link: http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/01/turkey-clashes-pkk-losing-kurdish-minds-and-hearts.html (11.1.2016).
Vgl. Mustafa Akyol, The Rapid Rise and Fall of Turkey’s Pro-Kurdish Party, 4.1.2016, Externer Link: http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2015/12/turkey-quick-rise-and-fall-of-pro-kurdish-party.html (10.1.2016)
Vgl. Jürgen Gottschlich, Türkische Regierung reagiert auf Druck. Erste Signale an die Kurden, 10.1.2016, Externer Link: http://www.taz.de/!5265009 (11.1.2016).
Vgl. Mahmut Bozarslan, Kurds on Hunger Strike for Bodies of Dead Relatives, 8.1.2016, Externer Link: http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/01/turkey-clashes-pkk-kurds-on-hunger-strike.html (11.1.2016).
Vgl. Terrorist PKK Establishes New Group Called YPS, 3.1.2016, Externer Link: http://www.todayszaman.com/national_terrorist-pkk-establishes-new-group-called-yps_408663.html (10.1.2016)
S. Özlem Tür, Turkey and the Syrian Crisis, in: Orient, 56 (2015) 1, S. 26f.
Vgl. Syrien: YPG setzt vor allem Kurden aus der Türkei als Kämpfer ein, 7.1.2016, Externer Link: http://www.kurdwatch.org/?d3721 (16.1.2016).
Vgl. Oliver Ernst, Der IS ist für viele Sunniten das kleinere Übel, 10.10.2014, Externer Link: http://www.dw.com/de/ernst-der-is-ist-f%C3%BCr-viele-sunniten-das-kleinere-%C3%BCbel/a-17987383 (4.1.2016).
Vgl. Raymond Hinnebusch, Turkey-Syria Relations since the Syrian Uprising, in: Orient, 56 (2015) 1, S. 18.
Jörn Essig-Gutschmidt, Rojava – Modell für den Mittleren Osten, in: Perspektive Rojava, 1 (2015) 1, S. 1–2.
Ebd. S. 2.
Vgl. Walter Posch, The Changing Faces of the PKK, in: Wolfgang Taucher/Mathias Vogl/Peter Webinger (Hrsg.), The Kurds. History – Religion – Language – Politics, Wien 2015, S. 109.
Vgl. Bayram Sinkaya, Iran-PYD-iliskileri. Taktik ortaklik (Die Iran-PYD-Zusammenarbeit. Ein taktisches Bündnis), in: Ortadogu Analiz, 7 (2015) 70, S. 50ff.
Vgl. Amberin Zaman, PYD-Leader: Russia Will Stop Turkey from Intervening in Syria, 1.10.2015, Externer Link: http://www.al-monitor.com/pulse/en/originals/2015/10/turkey-syria-russia-pyd-leader-muslim-moscow-prevent-ankara.html (10.1.2016).
Zit. nach Zeynep Bilginsoy/Don Melvin/Michael Martinez, Putin Calls Jet’s Downing ‚Stab in the Back‘. Turkey Said Warning Ignored, 24.11.2015, Externer Link: http://edition.cnn.com/2015/11/24/middleeast/warplane-crashes-near-syria-turkey-border/ (10.1.2016).
Vgl. Oytun Orhan, Syrian Turkmens: Political Movements and Military Structure, März 2013, Externer Link: http://www.orsam.org.tr/en/enUploads/Article/Files/2013320_150ing.pdf (20.1.2016).
Vgl. Fabrice Balanche, Syrian’s Kurds Are Contemplating an Aleppo Alliance with Assad and Russia, 7.10.2015, Externer Link: http://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/syrias-kurds-are-contemplating-an-aleppo-alliance-with-assad-and-russia (10.1.2016).
Vgl. HDP Europa, Demirtas – Moscow Visit, Externer Link: http://en.hdpeurope.com/?p=1335 (10.1.2016).
Vgl. Russian Envoy to Ankara: PKK not a Terrorist Organization, 18.10.2015, Externer Link: http://www.dailysabah.com/politics/2015/10/19/russian-envoy-to-ankara-pkk-not-a-terrorist-organization (20.1.2016).
Vgl. Ilnur Cevik, Russia Using Demirtas and PKK to Hurt Turkey, 24.12.2015, Externer Link: http://www.dailysabah.com/columns/ilnur-cevik/2015/12/25/russia-using-demirtas-and-pkk-to-hurt-turkey (2.1.2016).
Vgl. Demirtas bettelt in Russland um Waffen für die PKK, 4.1.2016, Externer Link: http://sabahdeutsch.de/demirtas-bettelt-russland-um-waffen-fuer-die-pkk (9.1.2016).
Vgl. Türkei warnt Russland und USA vor Bewaffnung der Kurden, 15.10.2016, Externer Link: http://de.sputniknews.com/zeitungen/20151015/304960589/tuerkei-russland-usa-bewaffnung-kurden.html (5.1.2016).
Vgl. EEAS, Statement by the Spokesperson on the Situation in the Southeast of Turkey and Steps Taken against a Group of Academics, Brüssel, 16.1.2016, Externer Link: http://eeas.europa.eu/statements-eeas/2016/160116_01_en.htm (17.1.2016).
| Article | , Oliver Ernst | 2022-02-17T00:00:00 | 2016-02-18T00:00:00 | 2022-02-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/221174/die-kurdenfrage-in-der-tuerkei-und-der-krieg-in-syrien/ | In Syriens Kurdengebieten ist eine unerwartete Dynamik entstanden. Die Türkei ist beunruhigt, da die türkisch-kurdische PKK militärisch mit den syrischen Kurden kooperiert. Dem kann Ankara einen politischen Prozess entgegen setzen. | [
"Kurden-Frage",
"Kurden-Konflikt",
"HDP",
"Arbeiterpartei Kurdistans PKK",
"PKK",
"kurdische Milizen",
"syrischer Bürgerkrieg",
"Türkei",
"Syrien"
] | 31,071 |
7. Was bedeutet uns der Fall der Mauer? | Deutschland Archiv | bpb.de |
Interner Link: Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Sprache
Interner Link: Interview mit Lore
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Interner Link: Interview mit Maria
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Interner Link: Interview mit Lena 1989
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Interner Link: Interview mit Lena 1991
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Interner Link: Interview mit Peter
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Interner Link: Interview mit Ilona
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Interner Link: Interview mit Piet
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Interner Link: Interview mit Dithmar
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Gesellschaftspolitischer Hintergrund und Sprache
Für die Westberliner (-deutsche) hat sich im Prinzip nicht viel geändert – sie führen ihr Leben unter gleichen gsellschaftspolitischen Bedingungen fort. Das Grundgesetz von 1949 ist erfüllt: Deutschland ist wiedervereinigt (welch ein GLÜCK, diese Vollendung des Grundgesetzes!). Die Westberliner erleben den Mauerfall als Befreiung von dem Eingeschlossensein in Mauern. Sie fahren ins Umland, geniessen die Natur und den Freiraum der Lanschaft (siehe die Belege (f), (g) und (h)).
Für die Ostberliner (und die Angehörigen der ehemaligen DDR) gibt es dagegen zwei Zeitpunkte, die retrospektiv ganz unterschiedliche Bewertungen aufrufen. Unmittelbar nach dem Mauerfall herrschen Freude und Glücksgefühle über die neu gewonnenen freien Reise- und Einkaufsmöglichkeiten vor. NACH der offiziellen Wiedervereinigung in Form einer Art Anschluss der ehemaligen DDR an die ehemalige BRD (Änderungen im Grundgesetz) wirken die neuen Gesetze und Bestimmungen im gesamten sozialen Umfeld des Lebens: Arbeit, Krankheit, Kinderkrippen, Versicherungen, Schulwesen (u.a.). Niemand will wirklich zurück in die "alte" DDR. Viele erleben ihre eigene soziale Identität aber als beschädigt, der Habitus der Westdeutschen wird als hegemonial wahrgenommen. Sie wollen keine Bürger zweiter Klasse sein. Unter dem Druck der neuen Normen lebend, aber auch am Verlust des Verlorenen leidend haben viele die Hoffnung, dass sich das soziale Umfeld langfristig zu ihren Gunsten ändert (siehe Beitrag (e)). Ihre Einstellung ist idealtypisch ambivalent: einerseits, andererseits (siehe insbesondere Beitrag (d)). Viele Ostdeutsche/ -berliner konnten oder wollten nicht darüber öffentlich reden.
Vielleicht ist der 30. Jahrestag des Mauerfalls ein Anlass mitzuteilen, was fehlt, irritiert, falsch gelaufen ist, was verändert und verbessert werden muss.
(a) Lore BW 17 Befreiung vom Zwang, seine Meinung nicht sagen zu dürfen
Lore - Situativer Kontext und sprachlicher Kotext
Für Lore ist die Freiheit der Meinungsäußerung ein grosses Geschenk. Unter politischem Druck zu handeln hat sie mit "ohnmächtiger Wut" erlebt. Wie ausdrucksstark ist die Metapher vom Stein, der ihr vom Herzen fällt! Und das Wort "Wahnsinn" unterstreicht die nicht eingrenzbare positive Dimension der gerade gewonnen Feiheit.
Ausschnitt des Interviews mit Lore und Transkription
45 LORE
Für die Westberliner (-deutsche) hat sich im Prinzip nicht viel geändert – sie führen ihr Leben unter gleichen gsellschaftspolitischen Bedingungen fort. Das Grundgesetz von 1949 ist erfüllt: Deutschland ist wiedervereinigt (welch ein GLÜCK, diese Vollendung des Grundgesetzes!). Die Westberliner erleben den Mauerfall als Befreiung von dem Eingeschlossensein in Mauern. Sie fahren ins Umland, geniessen die Natur und den Freiraum der Lanschaft (siehe die Belege (f), (g) und (h)).
Für die Ostberliner (und die Angehörigen der ehemaligen DDR) gibt es dagegen zwei Zeitpunkte, die retrospektiv ganz unterschiedliche Bewertungen aufrufen. Unmittelbar nach dem Mauerfall herrschen Freude und Glücksgefühle über die neu gewonnenen freien Reise- und Einkaufsmöglichkeiten vor. NACH der offiziellen Wiedervereinigung in Form einer Art Anschluss der ehemaligen DDR an die ehemalige BRD (Änderungen im Grundgesetz) wirken die neuen Gesetze und Bestimmungen im gesamten sozialen Umfeld des Lebens: Arbeit, Krankheit, Kinderkrippen, Versicherungen, Schulwesen (u.a.). Niemand will wirklich zurück in die "alte" DDR. Viele erleben ihre eigene soziale Identität aber als beschädigt, der Habitus der Westdeutschen wird als hegemonial wahrgenommen. Sie wollen keine Bürger zweiter Klasse sein. Unter dem Druck der neuen Normen lebend, aber auch am Verlust des Verlorenen leidend haben viele die Hoffnung, dass sich das soziale Umfeld langfristig zu ihren Gunsten ändert (siehe Beitrag (e)). Ihre Einstellung ist idealtypisch ambivalent: einerseits, andererseits (siehe insbesondere Beitrag (d)). Viele Ostdeutsche/ -berliner konnten oder wollten nicht darüber öffentlich reden.
Vielleicht ist der 30. Jahrestag des Mauerfalls ein Anlass mitzuteilen, was fehlt, irritiert, falsch gelaufen ist, was verändert und verbessert werden muss.
Für Lore ist die Freiheit der Meinungsäußerung ein grosses Geschenk. Unter politischem Druck zu handeln hat sie mit "ohnmächtiger Wut" erlebt. Wie ausdrucksstark ist die Metapher vom Stein, der ihr vom Herzen fällt! Und das Wort "Wahnsinn" unterstreicht die nicht eingrenzbare positive Dimension der gerade gewonnen Feiheit.
….machtn umfragn von drübn warn die * machtn umfragn * mh * was man so empfindit was man erwartet * und und * konnte immer im immer nur dasselbe sagn
(2.3) (3.0) daß ich mich also * naja freude * dis is is is (0.3) son * son plakativer ausdruck * kann man eigentlich jar nich richtich beschreibm * ähm * all die argumente die wa immer * äh * mh * genannt ham * warum wa eigentlich * naja sagn wa mal nich raus wolltn aber die verän die ver verhältnisse verändert ham wolltn * die sind plötzlich einjetretn ja^ * plötzlich äh * durft ick den leutn erzähln^
(2.0) wat ick nich jut finde ja^ * wat ick in mich hineinjefressn habe sonst * oder wat ma nur in soner kleen nische eben * äh * besprochn ham * aber eigentlich nur in ohnmächtiger wut * ähm * dit fiel allit * wien sch stein * ick muß die füße zur seite nehm damit se nich zerquetscht werdn so groß is der stein der also aus (0.2) mir vom herzn fiel ja^ ((Ausatmen)) (3.0) war wahnsinn äh (b) Maria BW 15 Umdenken ist ein langwieriger Prozess
Maria - Situativer Kontext
Maria (Lehrerin) tut sich schwer mit der Anpassung an die geltenden sozialen Bedingungen des neuen Staates. Direkt nach dem Mauerfall hat sie erstmal gar keine spezifischen Erwartungen an die neue Gesellschaft. Sie brauchte dann eine längere persönliche "Auszeit", um Abstand zu ihren tief sitzenden sozialistischen Routinen zu gewinnen. Schließlich bekommt sie durch Unterrichtsbesuche in Westberlin neue Anregungen, die sich offenbar (positiv) bewähren.
Ausschnitt des Interviews mit Maria und Transkription
Maria (Lehrerin) tut sich schwer mit der Anpassung an die geltenden sozialen Bedingungen des neuen Staates. Direkt nach dem Mauerfall hat sie erstmal gar keine spezifischen Erwartungen an die neue Gesellschaft. Sie brauchte dann eine längere persönliche "Auszeit", um Abstand zu ihren tief sitzenden sozialistischen Routinen zu gewinnen. Schließlich bekommt sie durch Unterrichtsbesuche in Westberlin neue Anregungen, die sich offenbar (positiv) bewähren.
(….) nach dem neunten november muß ick sagen hatt ick jar keene erwartungshaltung * erstmal hab ick jesehn daß bei mir allet den bach runterjegangen is und nu hab ick erstmal versucht meine innern verhältnisse innerlich in mir zu ordnen^ und * habe dann eigntlich dit umfeld in angriff jenommen nachdem ick dann nach drei wochen einjermaßen mit mir halbwegs klar jekomm bin hab ick mir also mein umfeld betrachtet ehm (2.0) sprich daß meine unterrichtsarbeit * ne wendung erfährt * denn unsre lehrpläne warn ja doch n bißchen eng gefaßt jewesen von ner * grundmethodik her war et sehr gut^ aber von der freien methodik hatten wir ebend wenig freiraum * und dit war also die sache die ick im westteil der stadt lernen konnte^ daß also ne jewisse freiarbeit auch wat bringt * da bin ick dann zu weiterbildungen in den westteil marschiert und habe mich dort bilden lassen und habe versucht dort mein nachholebedarf aufzuholn^ (c) Lena BW 16 (Osten) Nach der Euphorie der Kater: "Besuchsrecht" reicht, die Mauer kann bleiben
Lena - Situativer Kontext (direkt nach dem Mauerfall)
Auch Lena ist von dem hier und JETZT des Mauerfalls erstmal völlig absorbiert. Dieser erste Moment war so mächtig, dass es kaum andere Erwartungen gab. Offenbar im Bewusstsein der vielen schlechten wirtschaftlichen Nachrichten in den ersten zwei Jahren der Wiedervereinigung ("Treuhand") würde ihr ein "Besuchsrecht" im Westen reichen, d.h. unkompliziert Besuche im Westen machen zu können so wie wenn man jemanden im Krankenhaus besucht und nachher wieder nach Hause geht. Die Mauer könnte ruhig bleiben.
Ausschnitt des Interviews mit Lena und Transkription
Auch Lena ist von dem hier und JETZT des Mauerfalls erstmal völlig absorbiert. Dieser erste Moment war so mächtig, dass es kaum andere Erwartungen gab. Offenbar im Bewusstsein der vielen schlechten wirtschaftlichen Nachrichten in den ersten zwei Jahren der Wiedervereinigung ("Treuhand") würde ihr ein "Besuchsrecht" im Westen reichen, d.h. unkompliziert Besuche im Westen machen zu können so wie wenn man jemanden im Krankenhaus besucht und nachher wieder nach Hause geht. Die Mauer könnte ruhig bleiben.
0014 OL und welche erwartungen hattest du eigentlich als du das gehört hast * das nun * allet besser wird oder^ (3.0)
0015 LENA nee * eigentlich erwartungen hab ick jar keene jehabt * ick hatte eigentlich nur jedacht * wenn ick jetzt dat geld habe * denn kann ick * mir schöne sachen koofen^ * für die kinda weeß ick schönet spielzeug* und die kinder schön kleiden * und kann mal dahin reisen und hierhin reisen * aber äh an soziale sachen so * allet andre * hab ick im ersten moment übahaupt nich jedacht *
0016 OL na ja bloß wir hatten ja zuerst ooch bloß hundert mark^ da war dit ja
0017 LENA na ja denn jeht dit natürlich nicht
0018 OL da war das ja mit dem geld noch gar nicht abzusehen * ick meine jetzt so im ersten moment^ * als: du gehört hast die mauer is * geöffnet
0019 LENA da war mein erster jedanke nur * jetzt ist alles wieder eins * wir könnn also hin und her^ * können jeden besuchen * an mehr hab ick nich jedacht (2.0) konnte mir ooch nich vorstelln^ * daß die mauer irgendwie richtig vaschwindet * sondern daß das imma nur so wie son besuchsrecht ist * als wenn ick ins krankenhaus jemand besuchen jehe * und wieda zurückkann *
0020 OL das im prinzip allet so beim alten bleibt * ja^
0021 LENA ja * hätte mir ooch völlig jereicht * (d) Lena BW 16 Osten Jeder auf seine Seite
Lena - Situativer Kontext 1991
Ein klares Urteil nach etwa zwei Jahren Wiedervereinigung: Die sozialen Einrichtungen in der ehemaligen DDR und die damit verbundene soziale Sicherheit werden besser bewertet als die materiellen Vorteile in der "westlichen Welt". Die neue Währung und die "Freiheit reisen zu können" sollen aber auf jeden Fall beibehalten werden – im Übrigen könnte die Mauer durchaus bleiben. Soziologischer Leuchtturm: jeder (=West wie Ost) soll auf "seiner Seite" bleiben. Im Sinne der lebensweltlichen Soziologie (Alfred Schütz/Thomas Luckmann (1994), Strukturen der Lebenswelt, Suhrkamp: Frankfurt a.M.) ist die soziale Identität fest an einen ORT gebunden.
Lenas Bewertungen machen deutlich: die euphorischen Erwartungen rund um den Mauerfall wurden durch den Abbau der sozialen Sicherheit und den Ausverkauf der DDR-Betriebe in den ersten zwei Jahren der Wiedervereinigung (= Arbeitslosigkeit!) zutiefst enttäuscht.
Ausschnitt des Interviews mit Lena und Transkription
Ein klares Urteil nach etwa zwei Jahren Wiedervereinigung: Die sozialen Einrichtungen in der ehemaligen DDR und die damit verbundene soziale Sicherheit werden besser bewertet als die materiellen Vorteile in der "westlichen Welt". Die neue Währung und die "Freiheit reisen zu können" sollen aber auf jeden Fall beibehalten werden – im Übrigen könnte die Mauer durchaus bleiben. Soziologischer Leuchtturm: jeder (=West wie Ost) soll auf "seiner Seite" bleiben. Im Sinne der lebensweltlichen Soziologie (Alfred Schütz/Thomas Luckmann (1994), Strukturen der Lebenswelt, Suhrkamp: Frankfurt a.M.) ist die soziale Identität fest an einen ORT gebunden.
Lenas Bewertungen machen deutlich: die euphorischen Erwartungen rund um den Mauerfall wurden durch den Abbau der sozialen Sicherheit und den Ausverkauf der DDR-Betriebe in den ersten zwei Jahren der Wiedervereinigung (= Arbeitslosigkeit!) zutiefst enttäuscht.
0079 OL wie siehst du denn nach vier jahrn jetzt die ereignisse von neunundachtzig^
0080 LENA (2.0) tja also für uns persönlich für meine familie hat dit ja eigntlich nur * negative sachen gebracht (3.0) und wir ham ja auch viele gute dinge die wir hatten^ wir unser sozialet netz wat wir hatten verzichten müssen ne^ * mir gefällt dit zum beispiel nich mit den krankenscheinen * die regelung dat * sagt mir also überhaupt nicht zu (4.0) ach weeßte manchmal hab ick ja schon jesagt die könnten die mauer wieder zumachen (0.6) jereist bin ick noch nicht * dit geld lassen so daß wir überall hinreisen könn uns die möglichkeit lassen aber jeder auf seine seite (2.0) (e) Peter BW 28 (im Osten aufgewachsen, nach Westberlin ausgereist)
Peter - Situativer Kontext
Peter ist im Osten aufgewachsen, aber vor dem Fall der Mauer nach West-Berlin ausgereist.
Seine Einschätzung ist sehr kritisch, er benennt die vielen Umstellungsprobleme, die eine positive Integration verhindern. Viele Missstände gelten auch heute noch, obwohl sie bekannt sind. Wichtig in seinem Verständnis ist die grundlegend positive Einschätzung: dass es die Hoffnung gibt, dass sich die ostdeutschen Länder aus den soziokulturellen Fesseln des Westens als "Bürger zweiter Klasse" selbst befreien können.
Ausschnitt des Interviews mit Peter und Transkription
Peter ist im Osten aufgewachsen, aber vor dem Fall der Mauer nach West-Berlin ausgereist.
Seine Einschätzung ist sehr kritisch, er benennt die vielen Umstellungsprobleme, die eine positive Integration verhindern. Viele Missstände gelten auch heute noch, obwohl sie bekannt sind. Wichtig in seinem Verständnis ist die grundlegend positive Einschätzung: dass es die Hoffnung gibt, dass sich die ostdeutschen Länder aus den soziokulturellen Fesseln des Westens als "Bürger zweiter Klasse" selbst befreien können.
7 OL und fands du das nun als positiv oder * negativ^
8 PETER tja positiv und negativ^
9 OL zu diesem damaligen zeitpunkt (2.0)
10 PETER tja was soll ich sagen positiv negativ was heißt positiv was heißt negativ^ (1.2) ich bin * dreißig jahre * lang groß geworden in diesem land ddr (0.8) und bin erzogen worden in der schule^ (2.0) über die jugendorganisation (0.5) sprich fdj auch * bin (2.0) selbst * dann lehrer geworden * und habe eigentlich selbst doch ne ganze menge * dieser dinge die: ich eigentlich gelehrt bekommen habe * weitergegeben grade was * ich sag mal doch * damals für eigentlich der sinn des sozialismus war^
11 PETER (0.9) und (2.0) bin (2.0) doch in sag ick mal groß geworden aufgewachsen habe alles durchlebt und habe doch auch irgendwo * einen gewissen * stolz * gehabt auf dieses land eh die ddr (1.1) ja und ja kann man eigentlich schlecht sagen gut oder schlecht (0.7) (2.0) dadran (3.0) für uns für uns wars etwas neues _ etwas neues zu entdecken oder zu erfahrn eigentlich das was man uns ewig erzählt hat eh na ja von dem goldenen westen und daß da aber doch nich alles golden ist * und daß man vielleicht auch n bißchen geblendet is durch dieses ganze matrejelle materielle
12 PETER (0.9) eh tja irgendwo wars dann letztendlich doch so daß man(0.9) daß man mit großen aufgerissenen augen da durch die gegend gelaufen is (0.5) und die glitzernden glimmernden schaufenster dort gesehn hat * auch in den späteren besuchen dann kurz vor weihnachten und so (1.1) (2.0) also: irgendwo war (2.0) war da auch sicherlich ne gewisse neugier auf diese (0.1) ich sag mal auf den westen_ * war da * tja als gut hab ichs * empfunden daß * ja v daß man doch jetzt überall hinkonnte wo man hinwollte
13 PETER (0.5) zum beispiel die tante besuchen in der nähe von frankfurt am main (1.5) (2.0) oder * vielleicht auch doch mal * urlaub machen wo man möchte (1.7) (2.0) erstmal deutschland kennenlern mit all seinen * hübschen orten und gegenden das war eigentlich doch das* das gute was es * gebracht hat dieser * neunte oder auch zehnte november^ (0.8) aber (2.0) das weniger gute war * im nachhinein doch die ganzen
14 PETER (0.7) veränderungen ich sag mal riesenhaften veränderungen * eh die das ganze natürlich mitgebracht hat für die menschen^ * ausm osten ja die doch * einige zeit * riesige umstellungsprobleme hatten^ sicherlich gab es einige die sich sehr schnell umstellen konnten^ (0.7) (2.0) und denen doch diese neue zeit sag ich mal in anführungsstrichen (1.7) (2.0) vorteile gebracht hat^ * aber (2.0) ich denke mal selbst heute (0.7) nach vier jahrn eh nach der maueröffnung * daß das ganze doch (0.6) für viele immer noch mit sehr vielen problemen verbunden ist_ * und auch sicherlich verbunden sein wird_ (2.0) tja eh * was weniger eigentlich noch daran ist daß es immer noch * die ossis und die wessis gibt (2.0) daß man * immer noch das gefühl hat (0.7) eh na ja wir sind doch irgendwo zweiter klasse * ((unverständlich)) hier in diesem (1.3) land (2.0) aber die hoffnung is immer irgendwo da daß es doch auch anders wird (1.1) (2.0) daß man * ein volk * ist daß man wie ein volk und vielleicht auch für gleiche arbeit den gleichen lohn erhält (1.1) daß man * doch auch sich selbst und immer mehr von sich selbst einbringen kann * in diese neue zeit_ * grade im berufsleben_ (2.0) (f) Ilona BW 33 (West) Lob der Natur: "is ja herrlich, die Natur, weil wir dit ja nich haben"
Ilona - Situativer Kontext
Ilona erlebt den Mauerfall wie ein großes Fest, eine ereignisreiche Party – im Unterschied zu den Ostberlinern, deren Emotionen existenzieller Art sind. Ilona outet sich auch gleich mit dem für den Westen so typischen einnehmenden Wesen: Sie fühlt sich in dem schönen Umland gleich "zu Hause".
Ausschnitt des Interviews mit Ilona und Transkription
Ilona erlebt den Mauerfall wie ein großes Fest, eine ereignisreiche Party – im Unterschied zu den Ostberlinern, deren Emotionen existenzieller Art sind. Ilona outet sich auch gleich mit dem für den Westen so typischen einnehmenden Wesen: Sie fühlt sich in dem schönen Umland gleich "zu Hause".
0082 ILONA und eh * ja also s war schon; eh es war * wirklich ein ein wahnsinnig wunderschöner * eh wunderschönes erlebnis für mich. und wir ham das gleich so ehm (1.7) genútzt auch, * die möglichkeit eh rüberzukommen wir haben von da an ständig ausflüge gemacht und ham die nähere umgebung abgeklappert; und eh ich hatte das gefühl jétzt bin ich wieder zu hause.
0083 UM hmhm (g) Piet BW 43 (West) "'n paar Störche angucken"
Piet - Situativer Kontext
Für Piet hat sich positiv geändert, dass er sich "mal n paar Störche angucken kann" im Umland. Sonst hat sich für ihn die "Szene" verschlechtert, was vielleicht so viel heißt wie: Die fianziellen Belastungen für die Revitalisierung des Ostens sind aus seiner Sicht eine große Belastung.
Ausschnitt des Interviews mit Piet und Transkription
Für Piet hat sich positiv geändert, dass er sich "mal n paar Störche angucken kann" im Umland. Sonst hat sich für ihn die "Szene" verschlechtert, was vielleicht so viel heißt wie: Die fianziellen Belastungen für die Revitalisierung des Ostens sind aus seiner Sicht eine große Belastung.
JD aalso im prinzíp hat sich nich viel verändert für sie persönlich.
101 PIET na für mich persóenlich hat sich verändert; daß ich eben halt mal mit meinem motorrad oder so
102 JD ins umland.
103 PIET einfach mal ráusfahren kann, mich irgendwo aufn feld setzen kann; oder
104 JD und nicht an der mauer
105 PIET oder mal n paar störche angucken kann; und so weiter und so fort. und hab auch * nette cafés so jefunden; so auf dörfern; (oder da) man mal so hinfährt; wo man leute dann schon kennengelernt hat; und so weiter. aber sonst * hat sich grundsätzlich also * kulturell die szene eigentlich eher für mich verschlechtert. (h) Dithmar BW 22 (West) Dithmar will keinen politischen Anschluss, sondern eine Föderation
Dithmar - Situativer Kontext
Eine bemerkenswerte Sicht: Eine Föderation hätte den "neuen" Bundesländern mehr eigenständige Entfaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben. In der Retrospektive ist es schade, dass diese Option nicht in die engere Wahl gekommen ist.
Ausschnitt des Interviews mit Dithmar und Transkription
Eine bemerkenswerte Sicht: Eine Föderation hätte den "neuen" Bundesländern mehr eigenständige Entfaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben. In der Retrospektive ist es schade, dass diese Option nicht in die engere Wahl gekommen ist.
20 X32 damals als die grenze offen war, hattest n gutes gefühl. und hast gedacht das wird alles gut.
21 Dithmar wenn dit ne föderation jeworden wär wär-t super jewesen. * aber nich so wie jetze anschluß unter paragraph (dreiundvierzig) oh (entschuldige) dit wußt ick von anfang an. daß dit scheiße wird. * daß dit scheiße wird. so wie-t jetzt is is scheiße. * ja. okkupation sämtlicher *
22 X32 föderation was bedeutet das?
23 Dithmar na föderation is im prinzip * dit récht und jesétz bleibt eigenständig. dit is sozusagen die die verbund von mehreren eigenständigen staaten, als föderation. * so wie die us amerikaner dit haben. die usa is so- n so-ne förderation. * die eh union hier weeßte dit wär dit ideále jewesen. wenn de jetzt zum beispiel im staat alabama bist, haste eh * diese jesetze; und eh wenn de jetzt weiter fährst nach texas ham se wieder eh * eigenständije eigenständije jesetze, eigenständige urteilskraft; und nich inner abhängigkeit so wie jetzte. *
22 X32 hmhm,
25 Dithmar WEIL wir ja unter anschluß dreiundzwánzig ham wir im prinzip alle gesetze; ob bewährt oder schlecht * ham wir * eh übern jordan jeworfen sozusagen ham wir abjelehnt; und es gelten nur noch die jesetze der bundesrepublik und die sind ja großen teils großer mist. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2020-09-30T00:00:00 | 2019-12-19T00:00:00 | 2020-09-30T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/302637/7-was-bedeutet-uns-der-fall-der-mauer/ | Im ersten Moment herrschte Freude. Meinungsfreiheit und Reise- und Bewegungsfreiheit wurden bejubelt. Aber binnen kurzer Zeit wuchs auch Ernüchterung. Seidem ziehen Ostdeutsche eine differenzierte Bilanz, was Ihnen die Einheit wirklich gebracht - und | [
"DDR"
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Fachbücher | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de |
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1. Radikalisierung und Prävention
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und PerspektivenJens Ostwaldt, 2020 Interner Link: Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte StudienForschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention, 2020
Interner Link: Handbuch ExtremismuspräventionHrsg.: Brahim Ben Slama, Uwe E. Kemmesies, 2020
Interner Link: Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissenHrsg.: Christopher Daase, Nicole Deitelhoff, Julian Junk, 2019
Interner Link: Gewalt und RadikalitätHrsg.: Erich Marks, Helmut Fünfsinn, 2019
Interner Link: "Lasset uns in sha'a Allah ein Plan machen". Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-GruppeMichael Kiefer, Jörg Hüttermann, Bacem Dziri, Rauf Ceylan, Viktoria Roth, Fabian Srowig, Andreas Zick, 2018
Interner Link: "Sie haben keinen Plan B". Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und InterventionHrsg.: Jana Kärgel, 2017
Interner Link: Radikalisierungsprävention in der Praxis. Antworten der Zivilgesellschaft auf den gewaltbereiten NeosalafismusRauf Ceylan und Michael Kiefer, 2017
Interner Link: Jihadismus. Ideologie, Prävention und DeradikalisierungThomas Schmidinger, 2016
Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven
Jens Ostwaldt
Islamische und migrantische Vereine gelten als mögliche Akteure in der Extremismusprävention. Sie befinden sich dabei in einem Spannungsfeld von gesellschaftlicher Erwartung auf der einen Seite und der Verantwortung gegenüber der eigenen Community auf der anderen Seite. Der Band bietet auf Grundlage einer bundesweiten qualitativen Interviewstudie konkrete Handlungsempfehlungen für die präventive Praxis und die politische Bildung. 5/2020 | Wochenschau Verlag | 384 Seiten | Broschur: 39,90 Euro | PDF: 31,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien
Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention
Im ersten Teil des Sammelbandes werden die Begriffe Religion und Radikalisierung kritisch erörtert. Im zweiten Teil werden empirische Fallstudien zu den Social Media-Kanälen einer Gruppe jugendlicher Salafisten vorgestellt. Der dritte Teil schließt mit Vergleichsstudien zur Rolle islamistischer Bildmedien auf Facebook sowie zur Radikalisierungsprävention in Justizvollzugsanstalten. Das "Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention" vereinigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Bielefeld und Osnabrück und betrachtet das Themenfeld aus islamwissenschaftlicher, soziologischer und theologischer Perspektive. 1/2020 | Institut für islamische Theologie | 220 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: repositorium.ub-uni-osnabruek.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Handbuch Extremismusprävention
Hrsg.: Brahim Ben Slama, Uwe E. Kemmesies
Das Handbuch Extremismusprävention informiert im ersten Teil über die Grundlagen verschiedener Phänomenbereiche, über Radikalisierungsprozesse sowie über unterschiedliche Ansätze der Evaluation. In einem Praxisteil werden verschiedene Aspekte der Umsetzung von Prävention aufgezeigt. Im dritten Teil geht es um gesamtgesellschaftliche Ansätze, wie zum Beispiel die Rolle von Moscheen oder der politischen Bildung in der Extremismusprävention. 2020 | Bundeskriminalamt | 755 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: bka.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen
Hrsg.: Christopher Daase, Nicole Deitelhoff, Julian Junk Auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums, aber auch in religiösen Milieus radikalisieren sich Personen und stellen demokratische Werte und Institutionen infrage. Der Band gibt einen Überblick über die zentralen Aspekte dieses Phänomens: die Radikalisierung von Individuen, von Gruppen und von Gesellschaften, Deradikalisierung, Online- Radikalisierung und Präventionsmaßnahmen. Es werden zahlreiche Handlungsempfehlungen für Politik und Zivilgesellschaft formuliert. 8/2019 | campus Verlag | 295 Seiten | Kartoniert: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: campus.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Gewalt und Radikalität
Hrsg.: Erich Marks, Helmut Fünfsinn Der Deutsche Präventionstag hat einen Band mit Beiträgen zum 23. Deutschen Präventionstag veröffentlicht, der im Mai 2018 in Dresden stattfand. Darunter unter anderem folgende Themen: "Prävention im Bereich des religiös begründeten Extremismus", "Prävention von Radikalisierung in NRW-Justizvollzugsanstalten" sowie "Psychotherapeutische Beiträge zur Extremismus-Prävention". 8/2019 | Forum Verlag Godesberg | 420 Seiten | Paperback: 29,00 Euro | E-Book: 17,99 Euro | Download einzelner Beiträge: kostenfrei Zum kostenfreien Download der einzelnen Beiträge auf Externer Link: praeventionstag.de Zur Bestellung auf Externer Link: hugendubel.info
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Michael Kiefer, Jörg Hüttermann, Bacem Dziri, Rauf Ceylan, Viktoria Roth, Fabian Srowig, Andreas Zick Die Forscherinnen und Forscher haben WhatsApp-Chat-Protokolle einer militanten, salafistischen Jugendgruppe ausgewertet. Diese bieten einen Einblick in die gruppeninterne Dynamik junger Salafisten und ermöglichen es, Radikalisierungsprozesse zu rekonstruieren. Ziel der Studie war es, die Protokolle aus einer interdisziplinären Perspektive zu analysieren und Handlungsempfehlungen zu formulieren. 6/2018 | Springer VS | 396 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
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Hrsg.: Jana Kärgel Warum radikalisieren sich junge Menschen? Was macht islamistische Ideologien so attraktiv? Was kann man ihnen entgegensetzen? Fachleute aus der Präventionspraxis, der Wissenschaft und den Sicherheitsbehörden leuchten in dem Sammelband Möglichkeiten und Grenzen der Radikalisierungsprävention aus. 11/2017 | Bundeszentrale für politische Bildung | 412 Seiten | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de
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Rauf Ceylan und Michael Kiefer Rauf Ceylan und Michael Kiefer analysieren in ihrem Praxishandbuch die vorhandenen Probleme und zeigen auf, welche Voraussetzungen für eine funktionierende Radikalisierungsprävention erfüllt sein müssen. Darüber hinaus bieten sie einen Überblick über die westeuropäische Präventionslandschaft und stellen wegweisende Konzepte und Initiativen vor. 8/2017 | Springer VS | 160 Seiten | Softcover: 49,99 Euro | PDF: 39,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
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Thomas Schmidinger Das kompakte Buch ist als Einführung ins Thema gedacht. Es soll praktische Hinweise vermitteln für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in Schule und Sozialarbeit sowie für Eltern, deren Kinder sich dschihadistischen Gruppen zuwenden. Das Buch basiert nicht nur auf einer politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, sondern auch auf der Beratungspraxis mit zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 8/2016 | Mandelbaum Verlag | 126 Seiten | Broschur: 14,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: mandelbaum.at
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2. Radikalisierung und Prävention im Internet
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Interner Link: Die Attraktion des Extremen. Radikalisierungsprävention im NetzHrsg.: Andrea Keller, Andreas Büsch, Sandra Bischoff, Gunter Geiger, 2021
Interner Link: Radikalisierung im Cyberspace. Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen InternetDr. Mahmud El-Wereny, 2020
Interner Link: Propaganda und Prävention Hrsg.: Josephine B. Schmitt, Julian Ernst, Diana Rieger. Hans-Joachim Roth, 2020
Interner Link: Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und PraxisHrsg.: Sally Hohnstein, Maruta Herding, 2017
Die Attraktion des Extremen. Radikalisierungsprävention im Netz
Hrsg.: Andrea Keller, Andreas Büsch, Sandra Bischoff, Gunter Geiger Wie kann Bildungsarbeit auf die Anziehungskraft extremistischer Propaganda reagieren? Im Fokus des Bandes stehen Strategien zur Erregung von Aufmerksamkeit im Internet. Fachleute aus Praxis und Wissenschaft zeigen, wie Jugendhilfe, Polizei, Schule, Sozialarbeit und Medienpädagogik auf die daraus resultierenden Herausforderungen reagieren können. 2021 | Wochenschau Verlag | 96 Seiten | Print: 14,99 Euro | PDF: 13,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung im Cyberspace. Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Internet
Dr. Mahmud El-Wereny Islamwissenschaftler Mahmud El-Wereny möchte mit seiner Forschung die Frage beantworten, ob die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Raum zur islamistischen Radikalisierung beiträgt. Er regt dazu an, Jugendliche für kritische Mediennutzung zu sensibilisieren sowie Alternativangebote zur salafistischen Propaganda zu schaffen. 10/2020 | transcript Verlag | 280 Seiten | Print: 60,00 Euro | PDF: 59,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: transcript-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Propaganda und Prävention
Hrsg.: Josephine B. Schmitt, Julian Ernst, Diana Rieger. Hans-Joachim Roth Der Sammelband stellt Fachkräften der Bildungsarbeit Unterrichtsmaterialien sowie Hintergrundinformationen zur Verfügung. Damit soll Medienkritikfähigkeit gefördert werden. Darüber hinaus möchte das Buch einen Beitrag leisten zum wissenschaftlichen Diskurs über Online-Propaganda, ihre Strategien, ihre Verbreitung und ihre Rezeption sowie über Gegenstrategien und -maßnahmen. Für das Buch arbeiteten unter anderem Fachleute aus der Wissenschaft sowie des Bundeskriminalamts, der Bundeszentrale für politische Bildung, von ufuq.de und von jugendschutz.net zusammen. 2020 | Springer VS | 655 Seiten | Softcover: 49,99 Euro | PDF: 39,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Digitale Medien und politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis
Hrsg.: Sally Hohnstein, Maruta Herding Im Sammelband werden Befunde zu derzeitigen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und (gewaltorientiertem) Islamismus im Kontext digitaler Medien vorgestellt. Außerdem bieten Praktikerinnen und Praktiker Einblicke in ihre Arbeit, Sie reflektieren, welche Anforderungen aus den rechtsextremen und islamistischen Aktivitäten im Netz für pädagogische Akteure entstehen. Und sie beschreiben, welche pädagogischen Gegenstrategien bislang erprobt werden. 2017 | DJI | 290 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de
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3. Salafismus, Dschihadismus und Terrorismus
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im SalafismusUmut Akkus, Ahmet Toprak, Deniz Yilmaz, Vera Götting, 2020
Interner Link: Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – TaktikStefan Goertz, 2019
Interner Link: Dschihadistinnen. Faszination MärtyrertodHassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman, 2018
Interner Link: Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, HandlungsempfehlungenHrsg.: Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk, Harald Müller, 2016
Interner Link: Salafismus und Dschihadismus in DeutschlandHrsg.: Janusz Biene, Julian Junk, 2016
Interner Link: Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer MobilisierungBehnam T. Said, 2016
Interner Link: Der Dschihad und der Nihilismus des WestensJürgen Manemann, 2015
Interner Link: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und RadikalisierungspräventionRauf Ceylan, Michael Kiefer, 2013
Zusammengehörigkeit, Genderaspekte und Jugendkultur im Salafismus
Umut Akkus, Ahmet Toprak, Deniz Yilmaz, Vera Götting Warum fühlen sich Mädchen und junge Frauen einer restriktiven Ideologie zugehörig, die eine strenge Geschlechtertrennung praktiziert? Das Forschungsprojekt „Die jugendkulturelle Dimension des Salafismus aus der Genderperspektive" ist dieser Frage nachgegangen. Für das Projekt wurden Einzel- sowie Gruppeninterviews mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 27 Jahren aus unterschiedlichen Städten in NRW durchgeführt. 2020 | Springer VS | 170 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik
Stefan Goertz Stefan Goertz analysiert die sicherheitspolitischen Bedrohungen Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus und stellt diese anhand aktueller Beispiele dar. 6/2019 | C. F. Müller | 223 Seiten | Softcover: 27,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: otto-schmidt.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod
Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman Zahlreiche junge Frauen im Westen und in muslimischen Ländern gaben ihr bisheriges Leben auf, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Wie, wo und von wem wurden diese jungen Frauen rekrutiert? Welche psychologischen, kulturellen und sozialen Faktoren treiben sie an, sich dem Gedankengut einer dschihadistischen Organisation zu unterwerfen? Die Studie der jordanischen Islamismusexperten Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman basiert auf einer Analyse der „IS“-Ideologie und seines Frauenbildes sowie auf Statistiken und Quellen, die Auskunft über die Anzahl und den Werdegang von Dschihadistinnen geben. 8/2018 | Dietz Verlag | 304 Seiten | Broschur: 22,00 Euro | E-Book: 17,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: dietz-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen
Hrsg.: Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk, Harald Müller Der Band beleuchtet die organisatorischen Strukturen der salafistischen Bewegung in Deutschland sowie ihre transnationale Vernetzung. Wie rekrutieren die Bewegungen ihre Mitglieder? Und wie rechtfertigen sich insbesondere Dschihadisten? Die Autorinnen und Autoren bewerten laufende Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen und schlagen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Dabei betrachten sie nicht nur sicherheitspolitische Fragen, sondern nehmen in interdisziplinärer Perspektive Salafismus und Dschihadismus auch als gesellschaftliche Herausforderung ernst. 12/2016 | campus Verlag | 301 Seiten | Kartoniert: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: campus.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus und Dschihadismus in Deutschland
Hrsg.: Janusz Biene, Julian Junk Der Sammelband enthält rund zwanzig Beiträge zu verschiedenen Aspekten des Phänomens, verfasst von Fachleuten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien. Neben ideologischen Grundlagen der Bewegung werden unter anderem salafistische Narrative und anti-salafistische Gegennarrative thematisiert. Zudem geht es darum, aus welchen Gründen sich Individuen und Gruppen radikalisieren sowie um die Bedingungen erfolgreicher Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Die Beiträge sind im Dezember 2015 und Januar 2016 im Sicherheitspolitik-Blog erschienen. 2/2016 | Sicherheitspolitik-Blog | 164 Seiten | Softcover: 9,99 Euro | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien PDF-Download auf Externer Link: publikationen.ub.uni-frankfurt.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Hymnen des Jihads. Naschids im Kontext jihadistischer Mobilisierung
Behnam T. Said Aus Sicht von Behnam Said stellt ein enormer Korpus kriegstreiberischer Lieder den vielleicht bemerkenswertesten Ausdruck einer dschihadistischen Kultur dar. Diese wurden bislang so gut wie kaum erforscht, so dass viele Fragen zu den „Naschid" genannten Gesängen bislang offen blieben. Wo liegen die Anfänge dieser islamistisch-militanten Hymnen? Wie sind sie vor dem Hintergrund einer grundsätzlich kritischen bis ablehnenden Haltung der islamischen Gelehrsamkeit zur Musik zu verstehen? Welchen Beitrag leisten diese Lieder für den Dschihadismus und was erzählen sie uns über die Bewegung? 2016 | Ergon | 361 Seiten | Softcover: 48,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: nomos-shop.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Der Dschihad und der Nihilismus des Westens
Jürgen Manemann Warum übt der Dschihadismus auf junge Menschen in der westlichen Welt eine so große Faszination aus? Jürgen Manemann geht den Ursachen für diese Anziehungskraft auf den Grund, indem er den Blick auf die kulturellen Krisen westlicher Gesellschaften richtet: auf Gefühle der Leere, der Sinn- und Hoffnungslosigkeit und ihre Folgen – in Form von Resignation, Ressentiment und Zynismus. Der Dschihadismus präsentiert sich als Gegenmittel. Er wirkt jedoch krisenverschärfend, da er die Unfähigkeit verstärkt, das Leben zu bejahen. Er produziert Empathieunfähigkeit, Hass und blinde Gewalt. Aus Sicht des Autors müssen die westlichen Gesellschaften Gegenkräfte entwickeln, indem sie eine konsequente Politik der Anerkennung und der Leidempfindlichkeit verfolgen und so den Sinn für eine Kultur der Humanität wieder stärken. 10/2015 | transcript Verlag | 136 Seiten | Taschenbuch: 14,99 Euro | PDF: 12,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: transcript-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention
Rauf Ceylan, Michael Kiefer Der Band möchte einen kompakten Überblick über die historischen Wurzeln und die politisch-theologischen Ideologien des Neo-Salafismus geben. Als zweiter Themenschwerpunkt werden spezifische Präventionsmaßnahmen für den islamischen Religionsunterricht, für die Jugend- und Gemeindearbeit vorgestellt und kritisch eingeordnet sowie auf die Defizite in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Präventionsarbeit hingewiesen. 2013 | Springer VS | 168 Seiten | Softcover: 37,99 Euro | E-Book: 13,48 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
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4. Soziale Arbeit, Kinder- & Jugendarbeit, Pädagogik
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Interner Link: Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Salafismus. Soziale Arbeit und RadikalisierungspräventionDavid Yuzva Clement, 2020
Interner Link: Konflikte, Radikalisierung, Gewalt. Hintergründe, Entwicklungen und Handlungsstrategien in Schule und Sozialer ArbeitRainer Kilb, 2020
Interner Link: Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem ExtremismusHrsg.: Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Honstein, Björn Milbradt, 2020
Interner Link: Jugendextremismus als Herausforderung der Sozialen Arbeit. Eine vergleichende Analyse vom jugendlichen Rechtsextremismus und IslamismusMehmet Koc, 2019
Interner Link: Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und JugendhilfeHrsg.: Michaela Glaser, Anja Frank, Maruta Herding, 2018
Interner Link: Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher GemeinschaftenAnja Gollan, Sabine Riede, Stefan Schlang, 2018
Interner Link: Islamismus als pädagogische HerausforderungKurt Edler, 2017
Interner Link: Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische PerspektivenHrsg.: Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel, 2017
Interner Link: Demokratische ResilienzKurt Edler, 2017
Interner Link: Radikaler Islam im JugendalterHrsg.: Maruta Herding, 2013
Offene Kinder- und Jugendarbeit im Kontext des Salafismus. Soziale Arbeit und Radikalisierungsprävention
David Yuzva Clement In dem Band geht es darum, wie pädagogische Fachkräfte Jugendlichen helfen können, konstruierte Unterschiedlichkeitsbilder zu hinterfragen. Weiterhin geht es darum, wie sich pädagogische Fachkräfte in der offenen Kinder- und Jugendarbeit mit Hinwendungsprozessen von Jugendlichen zum Salafismus auseinandersetzen können. 6/2020 | Springer VS | 488 Seiten | Softcover: 54,99 Euro | PDF: 42,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Konflikte, Radikalisierung, Gewalt. Hintergründe, Entwicklungen und Handlungsstrategien in Schule und Sozialer Arbeit
Rainer Kilb Rainer Kilb betrachtet Konflikte, Radikalisierung und Gewalt zunächst getrennt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten abzugrenzen. Anschießend setzt er sie in Beziehung zueinander, um ausgewählte Handlungsansätze und Strategien im Umgang mit ihnen zu analysieren. Daraus leitet Kilb Ansätze zur Beilegung von Konflikten sowie zur Prävention von Radikalisierung und Gewalt ab. 05/2020 | Beltz Verlag | 339 Seiten | Broschur: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Religion in der pädagogischen Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus
Hrsg.: Joachim Langner, Maruta Herding, Sally Honstein, Björn Milbradt Die Autorinnen und Autoren diskutieren, welche Rolle Religion in Hinwendungs- und Radikalisierungsprozessen spielt und wie Religion in der Prävention und in der Distanzierungsarbeit eingesetzt werden kann. Dazu werden Forschungsergebnisse dargestellt, die das Deutsche Jugendinstitut in den Projekten „Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention“ (AFS) und „Programmevaluation Demokratie Leben!“ gewonnen hat. 2020 | DJI | 176 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Jugendextremismus als Herausforderung der Sozialen Arbeit. Eine vergleichende Analyse vom jugendlichen Rechtsextremismus und Islamismus
Mehmet Koc Mehmet Koc führt eine vergleichende Analyse von jugendlichem Rechtsextremismus und Islamismus durch. Er zeigt auf, welchen Herausforderungen die Soziale Arbeit ausgesetzt ist und wie diese fachlich bearbeitet werden können. 2019 | Tectum Verlag | 114 Seiten | Broschur: 32,00 Euro | E-Book: 25,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: nomos-shop.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Gewaltorientierter Islamismus im Jugendalter. Perspektiven aus Jugendforschung und Jugendhilfe
Hrsg.: Michaela Glaser, Anja Frank, Maruta Herding Der Sammelband kombiniert Erkenntnisse aus der Jugendforschung mit Erfahrungen der sozialen und pädagogischen Praxis. Aus jugend- und jugendhilfeorientierter Perspektive werden Forschungsbefunde zu Hintergründen und Motiven von Jugendlichen diskutiert, die sich islamistisch-extremistischen Angeboten zuwenden. Zudem werden die Erfahrungen und Herausforderungen der sozialen und pädagogischen Arbeit mit diesen Jugendlichen aufgezeigt. Die Beiträge konzentrieren sich auf praxisrelevante Erklärungsansätze zum Phänomen sowie auf Ansatzpunkte für fachliches Handeln. 9/2018 | Beltz Verlag | 168 Seiten | Print: 24,95 Euro | PDF: 22,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften
Anja Gollan, Sabine Riede, Stefan Schlang Die Publikation greift das Thema „Glaubensfreiheit versus Kindeswohl“ aus zwei Perspektiven auf: der juristischen und der pädagogischen. Im ersten Teil werden die rechtlichen Grundlagen dargestellt und anhand konkreter Gerichtsentscheidungen erläutert. Der zweite Teil behandelt religiös-weltanschaulich geprägte Erziehungskonzepte und -praktiken, die zu einer Kindeswohlgefährdung führen können. 2018 | AJS NRW & Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e. V. | 128 Seiten | Print: 14,50 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: ajs.nrw
Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamismus als pädagogische Herausforderung
Kurt Edler Was kann die Schule tun, wie können Eltern und Lehrkräfte reagieren, wenn sich Schülerinnen und Schüler radikal gegen unsere Gesellschaft und Verfassung bekennen? Wenn sie Sympathie für den Terrorkrieg des „Islamischen Staats" äußern? Kurt Edler bietet Fallbeispiele, praktische Tipps und Erfahrungswissen aus seiner Zusammenarbeit mit Schulleitungen, Verfassungsschutz, polizeilichem Staatsschutz, Jugendarbeit, muslimischen Verbänden sowie Fachkräften der interkulturellen Bildung und Gewaltprävention. 2017 | Kohlhammer Verlag | 114 Seiten | Kartoniert: 24,00 Euro | PDF: 21,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: kohlhammer.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven
Hrsg.: Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel In den Texten des Sammelbandes wird Salafismus als Phänomen einer Jugendkultur untersucht. Zunächst werden die theologisch-historischen Hintergründe des Salafismus beschrieben. Die Texte im zweiten Teil befassen sich mit der Attraktivität dieser Jugendkultur sowie ihren medialen und subkulturellen Mustern. Im dritten Abschnitt werden schließlich Prävention und Deradikalisierung in den Fokus genommen. Das Buch wendet sich an Fachkräfte aus der Religions- und Sozialpädagogik, Jugendforscher und -forscherinnen sowie Personen, die in der Jugendhilfe tätig sind. 2017 | Springer VS | 194 Seiten | PDF: 29,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: springer.com
Interner Link: Zum Anfang der Seite Demokratische Resilienz
Kurt Edler Kann sich schon beim Kind eine Widerstandsfähigkeit gegen Radikalisierung entwickeln? Diese Frage beantwortet der frühere Pädagoge und Lehrerfortbildner Kurt Edler vor dem Hintergrund der Bedrohung von Menschenrechten und Demokratie. Er skizziert in aller Kürze die vorpolitischen Formen der Beeinflussung und greift auf seine langjährigen Erfahrungen in der Extremismusprävention zurück, um daraus Handlungsempfehlungen für eine grundrechtsklare pädagogische Praxis abzuleiten. 2017 | Wochenschau Verlag | 48 Seiten | Print: 9,80 Euro | PDF: 9,80 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikaler Islam im Jugendalter
Hrsg.: Maruta Herding Der Sammelband dokumentiert die Ergebnisse eines Expertenhearings, das das Deutsche Jugendinstitut im Jahr 2012 veranstaltet hat. Die Autorinnen und Autoren gehen auf Erscheinungsformen und ursächliche Erklärungsmuster für radikalen Islam bei Jugendlichen ein oder befassen sich mit dem gesellschaftlichen Kontext von Radikalisierungsprozessen. Zudem wird das Phänomen in wissenschaftliche und öffentliche Debatten eingeordnet. Konkret geht es in den einzelnen Beiträgen um den Stand der Forschung im Themenfeld, Migrationshintergrund und biografische Belastungen, die Bedeutung der Jugendphase, Frauen in dschihadistischen Strukturen, das niederländische Hofstad-Netzwerk, britische Identitätspolitik, Auswirkungen von Terrorismusverdacht und um den Gesichtsschleier in Europa. 2013 | DJI | 176 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download und zur kostenfreien Bestellung auf Externer Link: dji.de
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5. Politische Bildung & Anti-Diskriminierungsarbeit
Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen.
Interner Link: Politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Angebote, Bedarfe und LeerstellenJens Borchert, Maren Jütz, Diana Beyer, 2020
Interner Link: Politische Bildung im Kontext von Islam und IslamismusHrsg.: Stefan E. Hößl, Lobna Jamal, Frank Schellenberg, 2020
Interner Link: Das Religiöse ist politisch: Plädoyer für eine religionssensible politische BildungHrsg.: Siegfried Grillmeyer, Karl Weber, 2019
Politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Angebote, Bedarfe und Leerstellen
Jens Borchert, Maren Jütz, Diana Beyer Die Studie untersucht Chancen, Voraussetzungen und Herausforderungen für politische Bildung im Jugendstrafvollzug. Sie nimmt sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden in den Blick und geht der Frage nach, wie politische Bildung im Strafvollzug dazu beitragen kann, dass das Leben nach der Haft gelingt. 09/2020 | Beltz Verlag | 220 Seiten | Broschiert: 29,95 Euro | PDF: 27,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: beltz.de Auch erhältlich in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus
Hrsg.: Stefan E. Hößl, Lobna Jamal, Frank Schellenberg Der Sammelband beschäftigt sich mit kontrovers diskutierten Fragen zu politischer Bildung im Kontext von Islam und Islamismus sowie antimuslimischem Rassismus. Auch die Vielfalt muslimischer Lebenswelten und identitätsbezogener Entwürfe sowie die Gefahren von Stigmatisierungen werden beleuchtet. 8/2020 | Bundeszentrale für politische Bildung | 432 Seiten | Print: 4,50 Euro Zur Bestellung auf Interner Link: bpb.de
Interner Link: Zum Anfang der Seite Das Religiöse ist politisch: Plädoyer für eine religionssensible politische Bildung
Hrsg.: Siegfried Grillmeyer, Karl Weber Religiöse Vielfalt wird in der öffentlichen Diskussion immer wieder als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert. Religiöse Einstellungen und der Umgang mit religiöser Vielfalt sind auch für junge Menschen Thema. Der Sammelband, der von Siegfried Grillmeyer und Karl Weber herausgegeben wurde, nimmt Bezug auf aktuelle Studien, begründet die Notwendigkeit einer religionssensiblen politischen Bildung und erörtert konkrete Perspektiven für die politische Bildungspraxis. 2/2019 | Echter Verlag | 120 Seiten | Broschur: 5,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: echter.de
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Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-07-19T00:00:00 | 2021-08-04T00:00:00 | 2023-07-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/infodienst/337739/fachbuecher/ | Für Fachleute: Was wissen wir über Radikalisierungsprozesse? Wie kann Präventionsarbeit gelingen? Welche Rolle spielt das Internet? Was kennzeichnet Islamismus, Salafismus und Dschihadismus? | [
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Nichtwähler - Studien zur Wahl 2013 | Themen | bpb.de | Mehrere Institute haben kürzlich versucht, dem Phänomen des Nichtwählers auf die Spur zu kommen. Ob Bertelsmann-, Adenauer-, Friedrich-Ebert-Stiftung oder auch Pro SiebenSat1, sie kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Jüngere, Einkommensschwache, Bildungsferne, Nicht-Privilegierte und Unzufriedene bleiben der Wahl fern. Die Friedrich-Ebert-Stiftung nennt das "eine Schieflage in der sozialen Repräsentanz der Politik". (Externer Link: Hier geht's zum PDF der Studie). In einer Studie der Bertelsmann Stiftung und des Instituts für Demoskopie Allensbach heißt es: "Wir erleben eine zunehmend sozial gespaltene Demokratie." (Externer Link: Zum PDF) Ganze gesellschaftliche Gruppen oder soziale Schichten drohen verloren zu gehen.
Der Anteil der Nicht-Wähler steigt seit Jahren. (Wikimedia, Udo Brechtel) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Welche Motive haben die Menschen, der Wahlurne fernzubleiben? In der Externer Link: Nichtwähler-Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung wird vor allem Distanz zur Politik und das Gefühl, keinen Einfluss auf Politik zu haben, genannt. Die Menschen glauben, dass die Parteien und Politiker doch machen, was sie wollen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung sieht Unzufriedenheit mit politischen Akteuren und politischen Inhalten als Hauptmotiv. In der Nichtwählerstudie von Pro SiebenSat1 und Forsa heißt es: "Je weniger die Menschen die Auswirkungen der Politik auf ihr persönliches Leben erkennen können, desto skeptischer stehen sie der Stimmabgabe gegenüber." Die Bertelsmann-Studie hat einen anderen Fokus: "Ob jemand wählen geht, hängt erheblich davon ab, wo er wohnt, welche Freunde er hat und ob in seiner Familie über Politik gesprochen wurde." Wählen keine Bürgerpflicht mehr
Einig sind sich die Meinungsforscher darin, dass hinter der Wahlabstinenz keine allgemeine Politikverdrossenheit steckt. Die Mehrheit der Nichtwähler sei mit der Demokratie und dem politischen System zufrieden, zeige Interesse am politischen Geschehen, verstehe sich als "Wähler auf Urlaub". Allerdings schwindet besonders bei der jüngeren Generation das Gefühl, mit dem Wahlgang einer Bürgerpflicht nachzukommen. Nichtwähler wünschen sich eine "kümmernde" Politik, heißt es in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Politiker und Parteien sollten "wieder ein Ohr für die wirklichen Sorgen und Nöte der Menschen" haben und sich mehr um die kleinen Leute und die mittleren Schichten kümmern. Als besonders wichtig nannten die Befragten ein gutes Schul- und Bildungssystem, ein gutes Gesundheitssystem, die Sicherung der Altersvorsorge sowie die Sicherung von Arbeitsplätzen. Sehnsucht nach Konsens
Eng damit verbunden wird die Forderung, die Parteien sollten unnötigen Streit vermeiden und sich im Konsens der Lösung wichtiger Probleme widmen. Auch in der Bertelsmann-Studie lautet der Schluss: Aktivierung und Erklärung statt Polarisierung. Es gelte, Strategien zu entwickeln, um Jüngere und sozial schwächere Menschen wieder mehr für Politik zu begeistern. Dieser Aufruf geht zuerst an die Politiker selbst, aber ebenso an Bildungseinrichtungen. Doch auch die Medien können dazu beitragen. "Mangelndes Politikinteresse ist ein Vermittlungsproblem", besagt die Externer Link: Studie von ProSieben. Je besser die Menschen erkennen, wie sich Politik auf ihr persönliches Leben auswirkt, umso mehr werden sie auch zur Mitwirkung animiert. Deshalb ruft die Studie dazu auf: "Es ist eine zentrale Aufgabe aller Medien, zwischen den politischen Akteuren und der Bevölkerung zu vermitteln und komplexe Sachverhalte verständlich und gleichzeitig interessant zu erklären."
Der Anteil der Nicht-Wähler steigt seit Jahren. (Wikimedia, Udo Brechtel) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2013-09-16T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bundestagswahlen/wahlblog/166972/nichtwaehler-studien-zur-wahl-2013/ | Immer mehr Wähler machen Urlaub – und zwar vom Wählen. Wenn man den Umfragen glaubt, dann planen mehr als 30 Prozent der Wahlberechtigten, im Herbst nicht an der Bundestagswahl teilzunehemn. Das wäre ein neuer Negativrekord. Mehrere Studien haben sic | [
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Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) | Landtagswahl Hessen 2018 | bpb.de |
Gründungsjahr Landesverband 1863* Mitgliederzahl in Hessen 55.000* Landesvorsitz Thorsten Schäfer-Gumbel* Wahlergebnis 2013 30,7 Prozent *nach Angaben der Partei
Die "Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD) trägt ihren Namen seit 1890. Zuvor bestand sie als "Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP). Diese war 1875 aus der Fusion des 1863 gegründeten "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" (ADAV) mit der 1869 entstandenen "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" (SDAP) hervorgegangen. Beide zählten zum politischen Arm der organisierten Arbeiterbewegung. Mit Godesberger Programm von 1959 verabschiedete sich die SPD von ihren marxistischen Wurzeln und versteht sich heute als soziale und fortschrittliche Volkspartei.
In Hessen ist die SPD die mitgliederstärkste Partei. Das Selbstverständnis als Mitgliederpartei, das sich in einer Vielzahl von Ortsvereinen widerspiegelt, gehört zu ihren wesentlichen Merkmalen. Prägend ist auch die traditionelle Aufteilung in zwei Bezirke und einem dadurch eher schwachen Landesverband. Von 1946 bis 1987 sowie 1991 bis 1999 war die SPD an der hessischen Landesregierung beteiligt und stellte den Ministerpräsidenten. Thorsten Schäfer-Gümbel ist ihr Spitzenkandidat.
Das Wahlprogramm "Zukunft jetzt machen" stellt vier Themenfelder in den Vordergrund: 1. Ein jährlicher Neubau von mindestens 6.000 Wohnungen sowie mehr Mittel für den sozialen Wohnungsbau sollen für mehr bezahlbaren Wohnraum in Ballungsräumen sorgen. 2. Gleiche Bildungschancen und lebenslanges Lernen sollen allen Menschen offenstehen. Kitas und Krippen sollen gebührenfrei, sowie Ganztagsschulen und individuelle Förderung ausgebaut werden. Mehr Lehrer und mehr Ausbildungsplätze für Erzieher sollen die Bildungsqualität verbessern. Der Ausbau von Kitas zu Familienzentren soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen. Eine Ausbildungsgarantie und ein durchlässigeres Bildungssystem sollen jungen Menschen den Einstieg in den Beruf erleichtern. 3. Für gleiche Lebensbedingungen in Stadt und ländlichem Raum soll eine flächendeckende moderne Infrastruktur für Gesundheit, Bildung, Kultur und günstigen öffentlichen Nahverkehr entstehen. 4. Moderne Industrie, Verkehrsinfrastruktur und die Energiewende (mit dem Ziel einer 100%igen Bedarfsdeckung aus erneuerbaren Energien bis 2050) werden als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und sichere Arbeitsplätze identifiziert.
Gründungsjahr Landesverband 1863* Mitgliederzahl in Hessen 55.000* Landesvorsitz Thorsten Schäfer-Gumbel* Wahlergebnis 2013 30,7 Prozent *nach Angaben der Partei
| Article | Samuel Greef | 2018-10-02T00:00:00 | 2018-09-04T00:00:00 | 2018-10-02T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/hessen-2018/275295/sozialdemokratische-partei-deutschlands-spd/ | In Hessen ist die SPD die mitgliederstärkste Partei. Von 1946 bis 1987 sowie 1991 bis 1999 war die SPD an der hessischen Landesregierung beteiligt und stellte den Ministerpräsidenten. Für die Landtagswahl fordern sie u.a. mehr bezahlbaren Wohnraum, g | [
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Was sind Flüchtlinge? | einfach POLITIK | bpb.de | Flüchtlinge sind Menschen. Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie Angst um ihr Leben haben.
Syrische Flüchtlinge überqueren die Grenze zur Türkei (15. Juni 2015) (© picture-alliance, AA)
Flüchtlinge haben keine Hoffnung mehr auf ein menschenwürdiges Leben in ihrer Heimat. Das bedeutet:
Sie haben Angst, in ihrem Land nicht sicher leben zu können.
Sie sind dort nicht gut versorgt. Ihnen fehlen zum Beispiel Essen, Trinken und Medizin.
Flüchtlinge sind auch Mütter oder Väter, Köche oder Lehrerinnen. Die Flucht ist nur ein Teil ihres Lebens. Manche sagen deshalb: Es ist besser, Geflüchtete zu sagen als Flüchtlinge. Wir schreiben aber in 'einfach POLITIK: Flucht und Asyl' Flüchtlinge, weil mehr Menschen das Wort kennen.
Warum fliehen Menschen?
Syrische Flüchtlinge überqueren die Grenze zur Türkei (15. Juni 2015) (© picture-alliance, AA)
Flüchtlinge möchten ihre Heimat nicht verlassen. Sie sehen aber keine andere Möglichkeit. Die meisten Menschen fliehen,
weil in ihrer Heimat Krieg ist, weil sie in ihrer Heimat verfolgt werden: wegen ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechtes, ihrer politischen Ansicht oder ihrer Religion.
Es gibt noch andere Gründe für Flucht:
Menschen fliehen vor Hunger und Armut, Menschen fliehen vor Erdbeben oder Überschwemmungen.
Manche Menschen gehen auch freiwillig. Diese Menschen nennt man nicht Flüchtlinge. Sie heißen Migranten. Flüchtlinge auf der Welt
Auf der ganzen Welt waren im Jahr 2015 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Zum Vergleich: Italien hat fast 60 Millionen Einwohner. Die meisten Flüchtlinge bleiben in ihrem Heimatland. Sie ziehen in ihrem Land an einen sicheren Ort. Diese Flüchtlinge werden Binnenflüchtlinge genannt. Die anderen Flüchtlinge
Anteil der Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. (© bpb)
verlassen ihr Heimatland. Sie ziehen meistens in die Nachbarländer von ihrem Heimatland. Zum Beispiel von dem Heimatland Syrien in die Türkei oder in den Libanon. Viele ziehen dort in ein Flüchtlingslager. Flüchtlingslager sind oft überfüllt. Die Flüchtlinge können dort nicht bekommen, was sie brauchen. Zum Beispiel: Genug Essen,eine Unterkunft, in die es nicht hineinregnet, oder Schulen für die Kinder. Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge kommt nach Europa oder nach Deutschland.
Syrische Flüchtlinge überqueren die Grenze zur Türkei (15. Juni 2015) (© picture-alliance, AA)
Syrische Flüchtlinge überqueren die Grenze zur Türkei (15. Juni 2015) (© picture-alliance, AA)
Anteil der Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. (© bpb)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-07T00:00:00 | 2016-04-26T00:00:00 | 2022-01-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/226097/was-sind-fluechtlinge/ | Flüchtlinge sind Menschen. Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie Angst um ihr Leben haben. | [
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"Flüchtlingslager"
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Erwerbstätigkeit nach Geschlecht | Europa | bpb.de | Im Jahr 2017 erreichte die Erwerbstätigenquote der 28 EU-Mitgliedstaaten mit 72,2 Prozent den höchsten je verzeichneten Wert. Insbesondere zwei Faktoren sind für diese Entwicklung verantwortlich: Die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Älteren. Während die Erwerbstätigenquote der 20- bis 64-jährigen Männer EU-weit zwischen 2002 und 2017 lediglich von 75,5 auf 78,0 Prozent zunahm (+3,3%), stieg die Quote der Frauen von 58,2 auf 66,5 Prozent (+14,3%). Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen nahm dabei die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen relativ am stärksten zu (+56,6% bzw. +125,6%). Trotz der Annäherung der Erwerbstätigenquoten in den allermeisten EU-Staaten lag die Quote der Männer im Jahr 2017 in allen Mitgliedstaaten oberhalb der Quote der Frauen.
Fakten
Im Jahr 2002 lag die Erwerbstätigenquote der 20- bis 64-Jährigen in der Europäischen Union (EU) bei 66,8 Prozent. Trotz des zwischenzeitlichen Rückgangs aufgrund der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 erreichte die Erwerbstätigenquote der 28 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2017 mit 72,2 Prozent den höchsten je verzeichneten Wert. Insbesondere zwei Faktoren sind für diese Entwicklung verantwortlich: Die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Älteren. Während die Erwerbstätigenquote der 20- bis 64-jährigen Männer EU-weit zwischen 2002 und 2017 lediglich von 75,5 auf 78,0 Prozent zunahm (+3,3%), stieg die Quote der 20- bis 64-jährigen Frauen von 58,2 auf 66,5 Prozent (+14,3%).
Bei den 20- bis 24-jährigen Männern sank die Erwerbstätigenquote zwischen 2002 und 2017 EU-weit sogar von 57,8 auf 54,8 Prozent (-3,0 Prozentpunkte bzw. -5,2%). Bei den 25- bis 54-jährigen Männern war die Quote weitgehend stabil. Am stärksten nahm sie bei den Männern im Alter von 60 bis 64 Jahren zu – hier erhöhte sich die Erwerbstätigenquote in den Jahren 2002 bis 2017 von 31,6 auf 49,5 Prozent (+56,6%). Bei den 65- bis 69-jährigen Männern stieg die Quote im selben Zeitraum von 11,0 auf 16,4 Prozent (+49,1%).
Bei den Frauen haben sich EU-weit die Erwerbstätigenquoten aller Altersgruppen zwischen 2002 und 2017 erhöht. Während die Erwerbstätigenquote der 25- bis 54-jährigen Frauen von 67,3 auf 73,7 Prozent zunahm (+9,5%), stieg die Quote der 55- bis 59-jährigen von 41,3 auf 64,5 Prozent (+56,2%). Die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-jährigen Frauen hat sich sogar deutlich mehr als verdoppelt – und zwar von 16,0 auf 36,1 Prozent (+125,6%). Bei den 65- bis 69-jährigen Frauen erhöhte sich die Erwerbstätigenquote von 2002 bis 2017 von 6,2 auf 9,4 Prozent (+51,6%).
Trotz der Annäherung im Zeitverlauf lag die Erwerbstätigenquote der Männer im Jahr 2017 nicht nur bezogen auf die EU oberhalb der Quote der Frauen (78,0 gegenüber 66,5 Prozent), sondern auch in jedem einzelnen Mitgliedstaat. Die Differenz der Erwerbstätigenquoten der 20- bis 64-jährigen Männer und Frauen lag dabei zwischen 1,0 Prozentpunkten in Litauen (76,5 gegenüber 75,5 Prozent) und 25,0 Prozentpunkten in Malta (83,4/58,4 Prozent). In Finnland, Schweden und Lettland sowie – außerhalb der EU – in Norwegen lag die Differenz der geschlechtsspezifischen Erwerbstätigenquoten ebenfalls unter 5 Prozentpunkten. Zwischen 15 und 20 Prozentpunkten betrug die Differenz in Italien, Griechenland, Rumänien, Tschechien und Ungarn. Schließlich lag die Erwerbstätigenquote der Männer in Mazedonien (ehem. j.R.) 21,9 Prozentpunkte über der der Frauen und in der Türkei lag die Differenz bei 41,6 Prozentpunkten (76,1 gegenüber 34,5 Prozent).
Die Erwerbstätigenquoten der 20- bis 64-jährigen Männer und Frauen haben sich in fast allen EU-Staaten angeglichen. Seit 2002 am stärksten in Malta, Spanien, Luxemburg, Griechenland und Zypern. Auf der anderen Seite waren beispielsweise in Rumänien und Polen die Erwerbstätigenquoten der Männer und Frauen im Jahr 2017 weiter voneinander entfernt als 2002. Bei beiden Staaten ist der Grund dafür allerdings, dass die Erwerbstätigenquote der Männer noch schneller gestiegen ist als die der Frauen. Für alle 34 hier betrachteten Staaten gilt, dass die Erwerbstätigenquote der Frauen 2017 höher war als im Jahr 2002 bzw. als im ersten Jahr für das Daten vorliegen.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Informationen zum Thema Erwerbstätigenquoten nach Anzahl der Kinder finden Sie Interner Link: hier...
Die Erwerbstätigenquote entspricht dem Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung. Da sich jüngere Personen häufiger noch in der Ausbildung befinden, wird hier die Gruppe der 20- bis unter 65-jährigen Personen betrachtet.
Erwerbstätige sind grundsätzlich alle Personen im Alter von mindestens 15 Jahren, die in der Bezugswoche (der EU-Arbeitskräfteerhebung) gegen Entgelt oder zur Gewinnerzielung mindestens eine Stunde gearbeitet haben sowie alle Personen, die nur vorübergehend von ihrer Arbeit abwesend sind (zum Beispiel aufgrund von Krankheit, Urlaub, Streik, Aus- oder Weiterbildungsmaßnahmen).
Quellen / Literatur
Eurostat: Online-Datenbank: Beschäftigte und Erwerbspersonen nach Alter und Geschlecht (Stand: 07/2018), Erwerbstätigenquoten nach Geschlecht, Alter und Bildungsabschluss (Stand: 08/2018)
Eurostat: Online-Datenbank: Beschäftigte und Erwerbspersonen nach Alter und Geschlecht (Stand: 07/2018), Erwerbstätigenquoten nach Geschlecht, Alter und Bildungsabschluss (Stand: 08/2018)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-14T00:00:00 | 2012-02-29T00:00:00 | 2022-01-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/70593/erwerbstaetigkeit-nach-geschlecht/ | Insbesondere zwei Faktoren führten zu einer Erhöhung der Erwerbstätigenquote in der EU: Die zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Älteren. | [
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Schifffahrt ohne Grenzen | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de | Am Anfang jedes Vorhabens steht eine Idee. Manche Ideen sind aber so zukunftsweisend, dass ihre Umsetzung unmöglich scheint. So war es im Fall von Wadim Tyszkiewicz.
"Wenn man sich zum Fluss hinwenden will, muss man einen Stadthafen bauen lassen", verkündete der Bürgermeister von Nowa Sól (Neusalz an der Oder) vor einigen Jahren während einer Oderkonferenz in Interner Link: Stettin und tat so, als ob das die einfachste Sache der Welt wäre. Die Teilnehmer der Veranstaltung und die lokalen Behörden waren skeptisch. Mittlerweile weiß Tyszkiewicz, dass er Recht behalten hat. "Niemand hat daran geglaubt, dass der Hafen entstehen wird, erst recht nicht in so kurzer Zeit", erzählt der 53-jährige sichtlich zufrieden. "Doch der Hafen steht und viele von denen, die damals skeptisch waren, sind längst nicht mehr in ihren Ämtern." Anders dagegen Tyszkiewicz. Er regiert, seit er 2002 erstmals gewählt wurde, bereits in der dritten Amtszeit.
3
Mündungsflüsse hat die Oder zwischen Haff und Ostsee. Es ist die Peene, die Swine/Swina und die Dievenov/Dziwna. Ein Teil der Swine ist kanalisiert worden und hieß seit 1880 Kaiserfahrt, weil der Kanal die schnellste Verbindung zum Seebad Swinemünde und zu den Kaiserbädern Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin war.
"Ohne einen Hafen ist es unmöglich, den Wassertourismus an der Oder zu beleben. Immer wieder habe ich zu hören bekommen: Wozu braucht ihr einen Hafen, wenn es keine Schiffe gibt?" Manche würden an dieser Stelle aufgeben. Tyszkiewicz hat erst angefangen.
Erst der Hafen, dann die Schiffe
Im März 2005 haben Vertreter der Odergemeinden Sulechów, Nowa Sól und Bytom Odrzański eine Vereinbarung über den Bau der Hafeninfrastruktur unterzeichnet. Die Bauarbeiten dauerten nur zwei Jahre. Im Juni und Juli 2007 wurden die Häfen feierlich eröffnet.
Die Rechnung ging auf. Das neue Angebot hat eine neue Nachfrage geschaffen – der Wassertourismus kam in Schwung. Doch damit wollen sich die an der Oder liegenden Städte und Gemeinden nicht zufrieden geben. Sie planen bereits weitere Investitionen. Inzwischen entstehen in Sulechów, Nowa Sól und Bytom Odrzański auch Anlegestellen für Passagierschiffe. Allein in Nowa Sól können Schiffe mit einer Länge bis zu 83 Metern und einer Breite von 9,5 Metern anlegen. Theoretisch. Ein Problem hat Tyszkiewicz, der Visionär, nämlich noch. Es gibt zwar einen Hafen, aber noch keine Schiffe. Aber auch das soll sich bald ändern. Dafür ist das Projekt "Oder für Touristen 2014" da. Das Ziel: Der Bau zweier Fahrgastschiffe.
Im Oktober 2011 wurde die Ausschreibung veröffentlicht. Beide Schiffe sollen bis zu 120 Personen auf zwei Decks befördern können. Auch für Fahrräder soll es Platz geben. Der Tourismus an der Oder, ist sich Tyszkiewicz sicher, wird eine Kombination aus Radtourismus und Fahrgastschifffahrt sein.
Noch sind die Schiffe nicht fertig, aber einen Namen haben sie schon. Nimfa und Laguna sollen sie heißen und 2012 die ersten Touristen auf eine Oderfahrt mitnehmen. Ihre Heimathäfen sollen Nowa Sól und Kostrzyn nad Odrą (Küstrin an der Oder) sein. Auf der Route dazwischen, 250 Kilometer Oderlauf, sollen sie verkehren.
Deutsche Beteiligung
Am Projekt haben sich auch deutsche Gemeinden beteiligt. Das Land Brandenburg gilt als offizieller Partner des Vorhabens. "Der Wassertourismus hat in Brandenburg einen ganz besonderen Stellenwert. Einmal, weil unser Land über die größte Zahl der Flüsse und Seen in ganz Deutschland verfügt. Zum anderen, weil auf der deutschen Seite viele Fahrradrouten entlang der Oder entstanden sind." Auch Martin Linsen vom Tourismus-Referat des Ministeriums für Wirtschaft und Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg will den Fahrradtourismus an der Oder mit den Schiffen kombinieren.
Natürlich sollen die Nimfa und Laguna auch auf der deutschen Seite der Grenze anhalten. Eisenhüttenstadt, Frankfurt an der Oder, Ratzdorf und Küstrin-Kietz sollen die Stationen sein. Dort bereitet man sich bereits auf wachsende Touristenzahlen vor. 2008 ist in Eisenhüttenstadt ein modernes Bollwerk eingeweiht worden. Wie in Nowa Sól bietet die Anlage Motorbooten und Paddelbooten Anlegemöglichkeiten. Hier sollen auch die neuen Fahrgastschiffe anlegen.
Den Initiatoren des Projekts war es wichtig, dass die Boote einen Tiefgang von weniger als einem Meter haben, um auch bei Niedrigwasser auf der Oder fahren zu können. Das sei besonders wichtig, sagt Martin Linsen, denn normalerweise bedeutet Niedrigwasser das Aus für den Schiffsverkehr. Auch die MS Fürstenberg aus Eisenhüttenstadt hat es erleben müssen. Wegen der wechselnden Wasserstände verbrachte das Fahrgastschiff mehr Zeit im Hafen als auf der Oder. Inzwischen haben die Betreiber aufgegeben.
Insgesamt über sechs Millionen Euro soll die zweite Phase des Projektes "Die Oder für Touristen 2014 – Entwicklung des Wassertourismus im grenzübergreifenden Gebiet der mittleren Oder" kosten. Zum Projekt gehört auch eine deutsch-polnische Werbekampagne für die mittlere Oder. Ohne EU-Mittel könnten sich die kleinen Gemeinden an der Oder eine solche Kampagne nicht leisten. Bis zu 85 Prozent aller Kosten sollen aus Brüssel übernommen werden.
Fähre ohne Grenzen
Die Fahrgastschiffe, die bald entstehen sollen, werden nicht die ersten sein, die die beiden Oderufer verbinden. Bereits seit 2007 verkehrt zwischen dem polnischen Ort Gozdowice und dem deutschen Güstebiese Loose eine Fähre. "Ohne Grenzen" heißt sie, von April bis Mitte Oktober bringt sie die Leute ans jeweils andere Ufer.
Die Geschichte der Fähre ist auch ein Beispiel dafür, wie viel sich seit dem Fall der Mauer im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen verändert hat. Denn schon damals gab es die Idee, eine Fähre einzurichten. Die Initiative war von einem Ehepaar ausgegangen, doch schnell war klar, dass es niemanden gab, der das finanzieren wollte. Mitte der neunziger Jahre gab es einen zweiten Versuch. Nun wollte ein Verein die Oder zwischen Gozdowice und Güstebiese Loose überqueren. Auch dieser Versuch scheiterte.
Doch der dritte Versuch klappte. Inzwischen war nämlich in Mieszkowice (Bärwalde) mit Piotr Szymkiewicz ein neuer Bürgermeister gewählt worden. Gozdowice gehört der Gemeinde Mieszkowice an, und der neue Bürgermeister war von der Idee der Fähre begeistert. Also stellte Piotr Szymkiewicz einen Antrag auf EU-Fördermittel und bekam vom Interreg IIIA Programm einen Förderbescheid von 450.000 Euro. Den Rest, etwa 25.000 Euro, gab der Landkreis Barnim.
Fähre "Bez Granic" (Ohne Grenzen) zwischen Gozdowice und Güstebieser Loose. (© Inka Schwand)
Allerdings vergingen noch fast sieben Jahre, bis die Fähre die ersten Passagiere auf die andere Seite der Oder transportieren konnte. Noch war Polen kein Mitglied der Europäischen Union, von der Schengen-Zone ganz zu schweigen. Um die Idee einer grenzüberschreitenden Fähre zu verwirklichen, blieb nichts anderes übrig, als einen neuen Grenzübergang zu bauen. Doch auch hier stießen die Ideengeber wieder auf unzählige Hürden. Soll der Übergang den deutschen oder den polnischen Behörden unterordnet werden? Diese Frage blieb lange unbeantwortet. Zwei Jahre dauerte es, die nötigen Unterschriften unter die Dokumente zu bringen. Im Oktober 2007 war es dann soweit: Die Fähre zwischen Gozdowice und Güstebiese wurde feierlich in Betrieb genommen. Wie sich zwei Monate später herausstellte, war der frisch eingeweihte Grenzübergang gar nicht nötig gewesen – im Dezember 2007 trat Polen der Schengen-Zone bei.
Von Cigacice nach Berlin
Diese Probleme blieben den Ideengebern aus Nowa Sól gespart. Grenzübergänge und Grenzkontrollen gehören der Vergangenheit an. Der ehemalige Grenzfluss ist, zumindest für den Wassertourismus, wieder ein ganz normaler Strom. Das hat auch private Investoren ermutigt. Seit April 2010 ist Cigacice (Tschicherzig), ein kleiner Ort etwa 40 Km nördlich von Nowa Sól, um eine Attraktion reicher. Von Frühjahr bis Herbst kann man hier sich auf eine Oderfahrt mit einem Frachtkahn machen. Die auf historisch getrimmten Boote bestehen ausschließlich aus Holz.
"Noch vor dem Zweiten Weltkrieg war Cigacice ein Luftkurort", erzählt Piotr Włoch, der die Idee mit dem "galar" hatte. "Galar", das ist die polnische Bezeichnung für einen Frachtkahn, auch wenn der "galar" von Piotr Włoch natürlich nachgebaut ist. "Tschicherzig war damals sehr populär. Ob es damals schon Frachtkähne gab, weiß ich nicht. Aber man konnte aber einen Ausflug mit Booten machen. So wie heute wieder."
Auch die Geschichte von Piotr Włoch ist eine Erfolgsgeschichte. Alleine im Jahr 2011 nahmen 6.000 Passagiere an den Ausflügen teil. Im Vergleich zu 2010 war das Interesse so groß, dass Piotr Włoch sich entschieden hat, ein drittes Boot bauen lassen. Die meisten Touristen kommen während des alljährlichen Weinfestes in Zielona Góra (Grünberg) – sie verbinden den Ausflug nach Cigacice mit dem Besuch der umliegenden Weinberge.
Auch in Deutschland finden Włochs "galary" an Zuspruch – und das ohne besondere Werbekampagnen. "Bis Ende Juni machten die Deutschen etwa 50 Prozent aller Touristen aus", sagt Piotr Włoch. Das hat ihn ermuntert. Ab 2012 plant er auch Ausflüge von Cigacice nach Berlin und zurück.
Einmal ist der junge Pole die Strecke mit seinem Frachtkahn schon gefahren. Drei Tage dauerte es, bis das kleine Boot über Oder und Spree die deutsche Hauptstadt erreichte. "Die Landschaft und die Erlebnisse waren unvergesslich", erinnert sich Piotr Włoch. "Unser Boot war die ganz große Attraktion. Sogar die Wasserpolizei hat von unserem "galar" Fotos gemacht."
Fähre "Bez Granic" (Ohne Grenzen) zwischen Gozdowice und Güstebieser Loose. (© Inka Schwand)
| Article | Monika Stefanek | 2021-12-13T00:00:00 | 2012-05-14T00:00:00 | 2021-12-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135941/schifffahrt-ohne-grenzen/ | Die Schiffe dem Fluss und nicht den Fluss den Schiffen anpassen: An der Oder soll es Wirklichkeit werden. Derzeit werden mit Hilfe der EU zwei Fahrgastschiffe gebaut. Eine Fähre verkehrt schon. | [
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] | 31,078 |
Integrationsquote: Anteil der Inklusionsschüler:innen steigt | Bildung | bpb.de |
Seit Deutschland 2009 der Interner Link: UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) beigetreten ist, steigt in allen Bundesländern der Anteil der Schüler:innen, die einen sonderpädagogischen Förderstatus (SPF) haben und statt einer Förderschule eine Regelschule besuchen – wenn dies auch nicht überall kontinuierlich oder in vergleichbarem Tempo geschieht. Wie stark „Inklusionsschüler:innen“ an den Regelschulen präsent sind, unterscheidet sich daher stark von Bundesland zu Bundesland. Bremen weist von allen Bundesländern den höchsten Anteil von integrativ geförderten Schüler:innen auf; dort stellen sie im Schuljahr 2020/21 ganze 7,5 Prozent der Schüler:innenschaft des Landes. Mit einigem Abstand folgen Berlin und Hamburg mit 6,2 bzw. 5,3 Prozent. Am wenigsten verbreitet sind „Inklusionsschüler:innen“ dagegen in Rheinland-Pfalz (2,0 Prozent), Hessen (2,1 Prozent) und Bayern (2,2 Prozent).
Doch Achtung: Integrationsquoten sind nicht ohne Weiteres als Hinweis auf den Stand der Inklusion in einem Bundesland zu werten. Ein steigender Anteil von integrativ geförderten Schüler:innen mit SPF unter den Schüler:innen und Schülern bedeutet nämlich nicht notwendig, dass zugleich auch der Anteil der Schüler:innenschaft an Förderschulen sinkt – und eben dies ist das eigentliche Ziel der Inklusion, wie es in der UN-BRK formuliert ist. Wie die Interner Link: Grafik zur Förderschulbesuchsquote zeigt, gibt es nicht wenige Bundesländer, in denen der Anteil der Schüler:innen an Förderschulen trotz steigender Integrationszahlen stagniert oder sogar gestiegen ist, so etwa in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder dem Saarland. In solchen Bundesländern kommen steigende Integrationsquoten allein durch das vermehrte Diagnostizieren von Förderbedarfen zustande und nicht durch eine Verminderung des Anteils der Kinder und Jugendlichen, die an einer Förderschule lernen. Um den Stand der Inklusion zu bewerten, sind daher die Förderschulbesuchsquoten aussagekräftiger. Ein vollständiges Bild der sonderpädagogischen Förderlandschaft erhält man aber erst, wenn man Förderquoten, Förderschulbesuchsquoten und Integrationsquoten im Zusammenhang betrachtet, wie sie Interner Link: diese Grafik für Deutschland insgesamt zeigt. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-05-23T00:00:00 | 2023-02-13T00:00:00 | 2023-05-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/518229/integrationsquote-anteil-der-inklusionsschueler-innen-steigt/ | Wie stark „Inklusionsschüler:innen“ an den Regelschulen präsent sind, unterscheidet sich daher stark von Bundesland zu Bundesland. | [
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Erfolgs- und Risikofaktoren für Demokratien | Demokratie | bpb.de |
Das Konzept der "eingebetteten Demokratie" (© Bergmoser und Höller Verlag AG, Zahlenbild 95092)
Die moderne, empirische und vergleichende Demokratieforschung hat gezeigt, dass demokratische Verhältnisse nicht zwangsläufig dann eintreten, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. So lassen sich auch keine zuverlässigen Prognosen über den Erfolg von Demokratisierungsprozessen erstellen. Denn deren Erfolg oder Scheitern hängen von den konkreten Umständen und Situationen, aber auch vom Verhalten der jeweils politisch Handelnden ab. Dennoch hat die Demokratieforschung Erkenntnisse gewonnen, wonach bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen die Entstehung und Stabilität demokratischer Ordnung begünstigen. Was eine Demokratie funktionsfähig werden lässt
Vier Bedingungen fördern zusammen eine funktionsfähige Demokratie.
Erstens muss die internationale Lage für die Demokratie verträglich oder förderlich sein. Kein Staat ist unabhängig von seinem Umfeld. Interventionen einer ausländischen Macht und außenpolitische Abhängigkeiten können die Demokratie fördern, aber auch hemmen oder gar zu deren Abschaffung beitragen. So hinderte beispielsweise der Einfluss der Sowjetunion auf Mittel- und Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg einige Länder wie die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen daran, sich als Demokratien zu etablieren. Erst der Wandel und spätere Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre ermöglichte den Übergang vieler ost- und mitteleuropäischer Staaten von autoritär-sozialistischen Regimen zu Demokratien. Die internationale Unterstützung etwa durch die Aufnahme in militärische Bündnisse oder durch die Aussicht auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union sollte zugleich helfen, die neu gegründeten Demokratien im Innern zu stabilisieren. Diese Absicht führte allerdings nicht immer zum Erfolg: In der Ukraine setzte Russland seinen geopolitischen Machtanspruch durch, indem es die Krim annektierte und zur Destabilisierung der Ostukraine beitrug.
In Lateinamerika haben die USA mehrmals, zum Teil auch gewaltsam, interveniert, um demokratisch gewählte Regierungen abzusetzen, die ihren geografischen, sicherheitspolitischen oder ökonomischen Interessen nicht zu entsprechen schienen. Panama, Chile und Guatemala sind solche Beispiele.
Es waren andererseits aber auch die USA – und Großbritannien –, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Wiederbegründung der Demokratie wesentlich beförderten. Das gilt besonders für Westdeutschland, das die westlichen Besatzungsmächte beim Wiederaufbau der Demokratie unterstützten, während die USA gleichzeitig mit ökonomischen Hilfsprogrammen dafür sorgten, dass ein stabilisierendes, rapides wirtschaftliches Wachstum in Gang kam. Die Bundesrepublik Deutschland und Japan sind die offensichtlichsten Fälle, in denen eine Demokratiegründung mit Hilfe demokratischer Siegermächte nachhaltig erfolgreich war. Nicht immer aber können durch militärische Interventionen herbeigeführte Regimewechsel, wie sie zuletzt in Afghanistan, Irak und Libyen erfolgten, als Garanten für erfolgreiche Demokratisierungsprozesse angesehen werden. Im Gegenteil können sie dort, wo sie vom Zerfall der staatlichen Ordnungsstrukturen begleitet werden und zugleich die kulturellen, ethnischen oder religiösen Gegensätze in der Gesellschaft sehr groß sind, zu Bürgerkriegen und (neuer) Gewaltherrschaft führen. Wichtig für das Gelingen eines Demokratisierungsprozesses ist zweitens eine effektive zivile Kontrolle polizeilicher und militärischer Macht. Befindet sie sich in den Händen Einzelner oder in der alleinigen Verfügungsgewalt von Gruppen, kommt es nur äußerst selten, wenn überhaupt, zu freien und fairen Wahlen, der Mindestvoraussetzung einer Demokratie. Demokratien beruhen auf Recht und Gesetz. Willkür und Gewaltanwendung sowie die Ausschaltung eines freien politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses sind ihnen wesensfremd. Für die Entstehung und den Erhalt demokratischer Institutionen ist deshalb die zivile Kontrolle über Polizei und Militär von existenzieller Bedeutung.
QuellentextTyrannei der Mehrheit
Das Buch "De la democratie en Amérique" ("Über die Demokratie in Amerika") von Alexis Clérel de Tocqueville erschien 1835, drei Jahre nach einer Amerikareise, die der Verfasser im Auftrag der französischen Regierung unternommen hatte. […] Tocqueville ist Empiriker und ein überzeugter Verfechter der Demokratie, die er für die neue, kommende Staatsform hält, vor deren Gefährdungen er allerdings warnen will. Ich halte den Grundsatz, dass im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich, und dennoch leite ich alle Gewalt im Staat aus dem Willen der Mehrheit ab. Widerspreche ich mir damit selbst? Es gibt ein allgemeines Gesetz, das nicht bloß von der Mehrheit irgendeines Volkes, sondern von der Mehrheit aller Menschen, wenn nicht aufgestellt, so doch angenommen worden ist. Dieses Gesetz ist die Gerechtigkeit. Das Recht eines jeden Volkes findet seine Grenze an der Gerechtigkeit. […] Wenn ich daher einem ungerechten Gesetz den Gehorsam verweigere, spreche ich keineswegs der Mehrheit das Recht ab, zu befehlen; ich appelliere lediglich von der Souveränität des Volkes an die Souveränität der Menschheit. […] Was ist denn die Mehrheit im Ganzen genommen anderes als ein Individuum mit Ansichten und Interessen, die meistens denen eines anderen Individuums, genannt Minderheit, zuwiderlaufen? […] [U]nd niemals werde ich die Befugnis, schlechthin alles zu tun, die ich einem Einzelnen unter meinesgleichen versage, einer Mehrheit zugestehen. […] Es gibt auf Erden keine an sich selbst so ehrwürdige, keine mit so geheiligtem Recht ausgestattete Macht, dass ich sie unkontrolliert handeln und ungehindert herrschen lassen wollte. Sobald ich daher sehe, dass man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennen, man mag sie in einer Monarchie oder in einer Republik ausüben, sobald ich das sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei, und ich werde versuchen, unter andern Gesetzen zu leben. […] Stellen wir uns dagegen eine gesetzgebende Gewalt vor, die die Mehrheit repräsentiert, ohne notwendig der Sklave von deren Leidenschaften zu sein; eine ausführende Gewalt, die eine angemessene Macht besitzt, und eine richterliche Gewalt, die von den anderen beiden Gewalten unabhängig ist; auch dann haben wir eine Demokratie, aber für die Tyrannei wird es kaum noch Chancen geben. […] Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, ausgewählt und herausgegeben von J.P. Mayer, Philipp Reclam jun. Verlag Ditzingen 2006, S. 145 ff
QuellentextFür die Freiheit Andersdenkender
Der englische Philosoph John Stuart Mill gehört zu den bedeutendsten Denkern des Liberalismus. In seiner Jugend beeinflusste ihn der Bentham’sche Utilitarismus. Er beruht auf dem Grundsatz: Wenn nur jeder rational gemäß seiner eigenen Wünsche und frei von staatlichen Eingriffen handelt, dann führt das zum größten Glück für eine immer größere Zahl von Menschen. Darüber hinaus widmete sich Mill auch der Frage der Vereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie. In der Schrift Considerations on Representative Government bietet er als Lösung ein parlamentarisches Regierungssystem an. […] Die Gesellschaft kann ihre eigenen Befehle vollstrecken und tut das auch, und wenn sie schlechte statt guter Befehle gibt oder sich überhaupt in Dinge mischt, mit denen sie sich besser nicht befaßte, so übt sie eine soziale Tyrannei aus, die furchtbarer ist als manche Arten obrigkeitlicher Bedrückung. Sie bietet zwar für gewöhnlich nicht die äußersten Strafmittel auf; aber sie läßt weniger Wege zum Entkommen, sie dringt viel tiefer in die Einzelheiten des Lebens und versklavt die Seele selbst. So genügt es nicht, sich gegen die Tyrannei der Machthaber zu schützen, man muß sich auch schützen vor der Tyrannei der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls, vor der Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken denjenigen als Verhaltensregeln aufzuzwingen, die davon abweichen. Man muß sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eigenen Muster zu richten. Es gibt eine Grenze für das berechtigte Eingreifen der kollektiven Meinung in die persönliche Unabhängigkeit, und diese Grenze zu finden und sie gegen Übergriffe zu schützen ist für eine gute Sicherung des menschlichen Lebens ebenso unentbehrlich wie der Schutz gegen politischen Despotismus. [...] John Stuart Mill, Über die Freiheit, hg. von Horst D. Brandt, übers. von Else Wentscher, 2., verbesserte Aufl., Felix Meiner Verlag GmbH Hamburg 2011, S. 9
Eine funktionsfähige und stabile Demokratie erfordert drittens eine pluralistisch gegliederte, von staatlichem Dirigismus freie Gesellschaft, in der die Machtressourcen in Politik, Geselltschaft und Wirtschaft breit gestreut sind. Nur wenn die Verfügungsmacht über Kapital, Arbeit, Geld, physische und psychische Gewalt, Information, Medien und Wissen breit verteilt ist, lässt sich eine Machtkonzentration verhindern, die den demokratischen Prozess verzerrt oder ihn durch die Herrschaft Einzelner oder Cliquen zur Oligarchie deformiert. Deshalb ist es auch erforderlich, dass die politischen Gewalten auf unterschiedliche Institutionen aufgeteilt sind. Nach einhelliger Ansicht Montesquieus und der Federalists müssen die Gewalten sich zudem gegenseitig kontrollieren und dadurch ein Macht zähmendes und Freiheit ermöglichendes Gleichgewicht herstellen. Darüber hinaus verweisen der französische Publizist, Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) und der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806 – 1873) auf die Notwendigkeit, eine Tyrannei der Mehrheit selbst zu verhindern. Keine Gruppe in der Gesellschaft darf so mächtig werden, dass sie andere Gruppen und Minderheiten beherrschen oder unterdrücken kann. In einer freiheitlichen, liberalen Demokratie sollte die Minderheit von heute immer die Chance haben, die Mehrheit von morgen zu werden.Je stärker die Macht auf viele Träger verteilt ist, desto höher ist der Demokratiegehalt eines Systems. Je stärker die Macht konzentriert ist, desto niedriger fällt der Demokratiegehalt aus. Pluralität in der Gesellschaft, Vielfalt in der Kultur und Wettbewerb in der Wirtschaft, Bausteine dessen, was der Philosoph Karl R. Popper (1902 – 1994) die "offene Gesellschaft" genannt hat, sind also gute Voraussetzungen für eine stabile und funktionsfähige Demokratie. Zur Demokratie gehört viertens auch eine aktive Bürgergesellschaft, die mit ihren vielfältigen Gemeinschaften und intermediären, zwischen Staat und Gesellschaft vermittelnden Vereinigungen wie Parteien, Vereinen und Bürgerinitiativen Bürgersinn und damit eine demokratische politische Kultur ausbildet. So wird die Demokratie als Regierungsform bürgerschaftlicher Selbstregierung gestützt und lebendig gehalten.
Das Scheitern der Weimarer Demokratie verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie anerkennen und ihren Institutionen vertrauen, die Verfahren demokratischer Konfliktlösung und politischer Kompromissfindung akzeptieren und die Entscheidungen respektieren können. Je mehr Unterstützung die Bürgerinnen und Bürger zu geben bereit sind, desto ausgeprägter ist die Stabilität der Demokratie, desto besser kann sie temporäre Krisen der Institutionen oder auch wirtschaftliche Probleme ohne bleibenden Schaden überstehen.
Problematisch wird es, wenn der Demokratie auf Dauer die Bewältigung von politischen, sozialen und ökonomischen Aufgaben nicht mehr zugetraut wird. Dann erzeugen Effizienzprobleme auch Legitimitätseinbußen. Eine politische Kultur mit einer aktiven Bürgergesellschaft ist in der Lage, Effizienzprobleme aufzufangen, weil die Beteiligten nicht alleine auf staatliche Entscheidungsprozesse und staatliche Leistungen, sondern auch auf ihre eigene Aktivität und Leistung, ihren Beitrag als Staatsbürger, setzen. Vor allem Länder, die von Diktaturen zu demokratischen Regierungsformen übergegangen sind, benötigen solche bürgergesellschaftlichen Kulturen, die allerdings meist erst in einem sich über viele Jahre hinziehenden Anpassungsprozess entstehen. Denn Menschen, die jahrzehntelang politisch entmündigt wurden, verwandeln sich nicht von heute auf morgen in die aktiven und gestaltenden Bürgerinnen und Bürger, von denen die Demokratie letztlich lebt. Hierzu bedarf es aufbauender Erfahrungen, der Eingewöhnung in demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse und schließlich auch der Überzeugung, dass die Demokratie trotz aller Schwächen die mit Abstand beste Staatsform ist.
QuellentextAbschied von den Utopien
[…] Im Jahr 1945, in dem der Zweite Weltkrieg endete, erschien in London das Buch des damals bereits 43-jährigen österreichischen Emigranten Karl Popper, der die Kriegsjahre als Dozent für Philosophie in Christchurch in Neuseeland überlebt hatte. "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" wurde zu einem der wichtigsten politischen Bücher des 20. Jahrhunderts. Popper ist nicht konziliant, kein versöhnlicher Denker. […] "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" […] wendet sich ebenso gegen den Totalitarismus von Faschismus und Kommunismus wie gegen die vermeintlich so nette abendländische Denktradition Platons. Platon, Hegel und Marx, so Popper […] stünden nicht für Offenheit, sondern für das Konzept des Historizismus, also der Vorstellung, dass die Welt und ihre Bewohner festen Gesetzen unterliegen, einem zwangsläufigen Ablauf. Die Geschichte ist nicht offen, sie ist festgelegt. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ein Programm, das abgespult wird. […] Die Folge sind Ideologien, also geschlossene Weltbilder, die die scheinbare Folgerichtigkeit der Abläufe erst produzieren, jene innere Logik also, von der so oft die Rede ist. Offenheit hingegen ist, wenn man auch anders kann, in Alternativen und im Plural denkt. Warum machen die Leute zu? Weil sie Angst haben. Weil sie unsicher sind. Und weil ihnen die geschlossenen Gesellschaften die Wahrnehmung vermitteln, dass alles geordnet ist, also nach Plan läuft, so wie es mehr als 2000 Jahre Geistesgeschichte immer wieder behauptet haben. Am Ende winkt allen "das Himmelreich auf Erden", sagt Popper, und damit droht großes Unheil: "Wenn wir die Welt nicht (…) ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltbeglückung aufgeben", befand er. Die offene Gesellschaft ist nicht harmonisch, nicht widerspruchsfrei, in ihr fügt sich nicht alles scheinbar ins andere. Man muss was aushalten – vor allen Dingen die anderen. Das ist ihr Preis. Poppers wichtigster Rat ist, sich von den großen Würfen zu entfernen, von den Utopien und den Utopisten. Die offene Gesellschaft entspricht dem Individuum, die geschlossene Gesellschaft der Zwangskollektivierung. Wer Offenheit will, muss ins Detail gehen, immer wieder. Bei Karl Popper heißt das: Die offene Gesellschaft geht in kleinen Schritten, sie produziert "Stückwerk". Das ist nicht sehr attraktiv, wenn man allen alles versprechen will, wenn man sämtliche Probleme lösen und das Gute und Schöne schlagartig verbreiten möchte. Genau das aber macht die Feinde der offenen Gesellschaft aus. Sie nehmen sich zu viel vor, sie sind nicht nüchtern, sie sind für die Freiheit nicht bescheiden genug. Poppers offene Gesellschaft setzt auf Institutionen, die sich kritisch kontrollieren lassen, auf Selbstkritik, ständiges Hinterfragen der eigenen Positionen. Sie ist von Helden und Anführern befreit. Die wahren Troubleshooter sind ganz normale Leute, die Bürger der Zivilgesellschaft, nichts Spektakuläres. Die Demokratie ist kein Pathos, sondern ein Werkzeug, das nicht dazu da ist, alle glücklich zu machen, sondern schlicht die Leiden so klein wie möglich zu halten. Sie bringt unterschiedliche Interessen in Konsensform und bildet damit die Vielfalt ab. Sie ist keine "Volksherrschaft", warnt Karl Popper, denn die "Mehrheit kann auch die Tyrannis stützen." Wahlen haben in seiner Sicht der Dinge eine simple Funktion. Sie sollen für den unblutigen Machtwechsel sorgen. […] Zu Poppers Werk gehört auch der kritische Umgang mit scheinbaren Gewissheiten. Die Vorstellung, dass das Neue besser sei als das, was man kennt, erweist sich so als eben jenes Vorurteil wie das Gegenteil. Der Sinn und Zweck von Offenheit ist nicht, die Katze im Sack zu kaufen, sondern den Sack aufzumachen und nachzusehen, was drin ist. […] Wolf Lotter, "In offener Gesellschaft", in: Brand eins 01/2017, S. 34 ff. Der vollständige Artikel "In offener Gesellschaft" ist zu lesen unter: Externer Link: www.brandeins.de/archiv/2017/offenheit/in-offener-gesellschaft/
Weitere Voraussetzungen
Als eine politisch-kulturelle Voraussetzung für die Demokratie wird auch immer wieder die Trennung von Staat und Religion genannt. Historisch gesehen, konnten sich die modernen Demokratien erst entwickeln, als die Staaten, nicht zuletzt infolge der Bürger- und Religionskriege, die institutionelle Trennung von Kirche und Religion vollzogen und eine weltliche Herrschaftsordnung etabliert hatten. Eine solche Säkularisierung scheint also zu den Bedingungen erfolgreicher Demokratie zu gehören.
Eine engagierte Zivilgesellschaft trägt dazu bei, die Effizienz bei der Lösung von Herausforderungen der Demokratie zu erhöhen. Freiwillige helfen am 12. September 2015 am Münchener Hauptbahnhof bei der Versorgung von Geflüchteten. (© picture-alliance/dpa)
Allerdings haben sich in den Demokratien des Westens sehr unterschiedliche Verhältnisse zwischen Staat und Kirche, Politik und Religion herausgebildet. Die Trennung verläuft zum Beispiel in Frankreich schärfer als in Deutschland. Hier ist der Staat in religiösen Dingen zu Neutralität verpflichtet, gewährt den Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit jedoch Raum zur Entfaltung und zieht die Kirchensteuern ein. In den USA existiert eine, von Thomas Jefferson so genannte wall of separation, die es dem Staat verbietet, sich mit einer Religion zu identifizieren, zugleich aber religiöse Äußerungen, auch im öffentlichen Raum, erlaubt. Religion und Kirche sind Teil der autonomen Bürgergesellschaft. Doch gilt für alle westlichen Demokratien das Gebot der Trennung von Religion und Politik. Hier liegt der Hauptunterschied zu vielen arabischen und asiatischen Gesellschaften. Das Verhältnis von Demokratie und Religion gestaltet sich in ihnen anders, weil es keinen vergleichbaren historischen Prozess von Aufklärung und Säkularisierung gegeben hat. Die Traditionen von Konfuzianismus, Buddhismus und Hinduismus beispielsweise sind nicht per se demokratiefeindlich, wie sich am Beispiel Japans und Indiens zeigt. Doch in den Regionen Asiens und Arabiens gibt es religiöse Strömungen, die eine eher hierarchische, autoritäre Regierungsform bevorzugen. Allgemeingültige Aussagen über das Verhältnis des politischen Islam zur Demokratie lassen sich nicht treffen, zu vielfältig sind die religiösen Strömungen und die staatlichen Ordnungen in der islamischen Welt. In manchen Staaten stellt der Islam allerdings nicht nur eine Religion, sondern zugleich die Grundordnung des politischen Systems selbst dar. Vielen Gesellschaften der islamischen Welt fehlt eine Tradition der persönlichen, intellektuellen, wirtschaftlichen und politischen Freiheit, die einen schnellen Prozess grundlegender Demokratisierung befördern könnte. Gleichwohl können sich in mehrheitlich islamischen Gesellschaften Prozesse der Demokratisierung einstellen. So gelang es in Ägypten, Tunesien oder Libyen zunächst Teilen der protestierenden Zivilgesellschaft, autokratische oder diktatorische Herrschaft zu überwinden. Doch mangelte es an Voraussetzungen für die Herausbildung stabiler demokratischer Strukturen: Die Zivilgesellschaft war zu schwach entwickelt, dazu behinderten Rivalitäten unterschiedlicher religiöser Strömungen innerhalb des Islam sowie soziale und ethnische Konfliktlagen die Transitionsprozesse und bescherten ihnen herbe Rückschläge. In Ägypten etablierte sich zunächst ein religiöses Regime, dem allerdings bald das in Ägypten mächtige Militär ein Ende bereitete. Breite Teile der Bevölkerung bestätigten durch Wahl des dem Militär zugehörigen Präsidenten die erneute Militärherrschaft. Libyen ist als Staat wegen ethnisch-religiöser und auf Stammesrivalitäten beruhender Konflikte zerfallen. Nur in Tunesien, das traditionell eine verhältnismäßig starke Zivilgesellschaft aufweist, konnten sich semi-demokratische Strukturen herausbilden. Und in der Türkei, wo sich unter dem Einfluss des Staatsgründers Kemal Atatürk seit 1923 ein säkularer Staat mit Trennung von Staat und Religion herausgebildet hatte, kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Verfechtern konservativer religiös-kultureller Vorstellungen und "Modernisierern". Letztere bestehen auf der Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten genauso wie auf den grundlegenden demokratischen Prinzipien der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Infolge eines Putschversuchs durch Teile des Militärs erlitten diese Kräfte 2016 allerdings einen erheblichen Rückschlag. Seitdem lassen die hohe Zahl von Verhaftungen, die teilweise Außerkraftsetzung von Grundrechten sowie die Ausschaltung von Oppositionsgruppen und die Behinderung der freien Presse eine autoritär-präsidiale Überformung der demokratischen Strukturen befürchten. So wichtig eine offene Bürgergesellschaft und eine lebendige politische Kultur für die Demokratie sind, so notwendig ist andererseits ein übergreifender Grundkonsens zwischen den einzelnen Gesellschaftsgruppen. Moderne Gesellschaften haben sich in ihrem Inneren sehr stark pluralisiert, Einwanderungsgesellschaften bilden unterschiedliche Teilkulturen über sprachliche, kulturelle, religiöse, ethnische oder regionale Merkmale aus. Wenn diese Teilkulturen starke eigene Identitäten erzeugen, sich von anderen abgrenzen und auf Anerkennung ihrer Unterschiedlichkeit in den politischen Institutionen pochen, können Demokratien in erhebliche Belastungsproben geraten. Denn die Wahrung partikularer Identitäten kollidiert mit der Notwendigkeit, in demokratischen Entscheidungsverfahren zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Die Gefahr gesellschaftlicher und politischer Polarisierung wird dort besonders groß, wo sich Gruppen Zugewanderter abschotten oder ihrerseits von Gruppierungen der Aufnahmegesellschaft ausgeschlossen werden, weil diese sich gegen die Zuwanderung wenden und in den Problemen der Integration unüberwindbare Hindernisse für ein gedeihliches soziales Zusammenleben sehen. Besonders brisant wird es, wenn sich soziale, ökonomische, ethnische und religiös-kulturelle Konflikte überlagern. Staaten mit großen sprachlich-kulturellen Unterschieden wie die USA, Kanada, Belgien und die Schweiz haben bei der Bewältigung dieser Problemlagen eigene Lösungen gesucht und zum Teil gefunden. Diese Lösungen können im Schutz von Minderheiten liegen, in der Förderung und Integration sprachlich und kulturell verschiedener Bevölkerungsteile bzw. neuer Zuwanderungsgruppen, aber auch indem diesen Bevölkerungsgruppen besondere politische Rechte zur Wahrung der eigenen Identität eingeräumt werden. Einwanderungsgesellschaften versuchen, die Spaltung entlang ethnokultureller oder religiöser Konfliktlinien mit Programmen der Integration und demokratischer Teilhabe zu vermeiden, können aber nicht immer sicher sein, damit eine nachhaltige Befriedung der Konflikte zu erreichen. Ein Mittel politischer Integration kann aber auch darin bestehen, die Repräsentanten von Minderheiten in Abstimmungsverfahren einzubeziehen, damit ihre Anliegen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft berücksichtigt werden. Indes besteht immer die Gefahr, dass die Einräumung besonderer Autonomie- und Sprachenrechte auch Fliehkräfte der (Ab-)Spaltung freisetzt. Im schlimmsten Fall können diese Spaltungstendenzen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen – wie zum Beispiel im Libanon – führen. Auf jeden Fall manifestieren sie sich in permanenten Konflikten. Beispiele dafür sind in Belgien die Reibungen zwischen den Sprachgruppen der Flamen und Wallonen oder in Spanien das Aufbegehren von Landesteilen, die nationale Autonomie für sich beanspruchen (Katalonien und Baskenland). Als Bedingung einer stabilen Demokratie wird immer wieder auf das Bestehen einer marktwirtschaftlichen Ordnung verwiesen. Dieser Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Demokratie ist allerdings umstritten. Zwar verfügen viele ältere Demokratien über liberale, wenngleich nicht immer staatsfreie Wirtschaftssysteme, und sie sind vergleichsweise reiche Länder. Doch finden sich kapitalistische Marktwirtschaften auch in halbdemokratischen und autoritären Regimen wie in China. Und Staaten, die in den letzten Jahrzehnten den Übergang von der sozialistischen Plan- zur Marktwirtschaft vollzogen, haben dies zum Teil nur unter halbdemokratisch zu nennenden Vorzeichen getan. Einerseits schafft eine freie Wirtschaft Wohlstand. Und dieser ist fast schon eine Garantie für die Demokratie: Je reicher ein Land ist, desto größere Chancen bestehen für eine demokratische Staatsverfassung. Eine fortdauernd prosperierende Marktwirtschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein autokratisches oder halbdemokratisches Land zu einer vollen Demokratie entwickeln kann. Marktwirtschaften besitzen aber andererseits auch ein Gefährdungspotenzial für die Demokratie. So können sie, vor allem in der Entstehungsphase, aber auch in Perioden großer Dynamik, soziale und ökonomische Ungleichheiten erzeugen. Die Folge sind dann soziale Konflikte, die nicht immer auf demokratischem und parlamentarischem Wege zu schlichten sind und daher die Demokratie und ihre Institutionen belasten. Auch Machtzusammenballungen auf dem Markt in Form von Monopolen, Trusts (Zusammenschluss mehrerer Unternehmen) und Kartellen können die Politik unter Druck setzen. Technologischer Fortschritt trägt zu wirtschaftlicher Dynamik und Wohlstand bei, erzeugt aber auch strukturelle Krisen, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt. Ein Beispiel aus jüngster Zeit bietet die informationstechnologische, "digitale" Revolution. Die mit ihr einhergehenden Auswirkungen auf die industrielle Produktion, auf das Dienstleistungsgewerbe und die Logistik verändern die Arbeits- und Gütermärkte. Dies kann bei negativ Betroffenen zu Unzufriedenheit und Protest führen, welche dann in Politik- und Parteienverdrossenheit münden, das Wahlverhalten sowie das Regierungshandeln beeinflussen und letztlich auf die Demokratie durchschlagen. Ein ähnliches Gefährdungspotenzial geht von der Globalisierung der Finanz-, Waren- und Arbeitsmärkte aus, welche die demokratische Einflussnahme und die nationalstaatlichen Regulierungsmöglichkeiten tendenziell verringern. Krisen des internationalen Finanzsystems wirken sich auf die Staatenwelt aus und erzeugen Krisen auch in demokratischen Staaten. Transnationale Lösungsmechanismen sind manchmal nur unter Preisgabe einzelstaatlicher demokratischer Souveränitätsrechte einsetzbar. So waren in Deutschland beispielsweise die transnationalen Maßnahmen zur Lösung der sogenannten Euro- und Finanzkrise seit 2008 höchst umstritten. Denn ihre Kritiker befürchteten einen Einflussverlust der Nationalstaaten und ihrer Parlamente auf die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union sowie der Europäischen Zentralbank und damit eine Aushöhlung des Demokratieprinzips. Und in Großbritannien führten Ängste vor Überfremdung, vor der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und vor dem Verlust nationalstaatlicher Souveränität zu einem Referendum, mit dem der "Brexit", der Austritt aus der Europäischen Union, beschlossen wurde. Andererseits haben Demokratien, das zeigt die historische Erfahrung, aber auch gelernt, mit den Gefährdungspotenzialen einer freien Wirtschaft umzugehen. Sie sind lernfähige Systeme, die es ermöglichen, soziale und ökonomische Probleme im politischen System hörbar und lösbar zu machen. So gelang es, den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu transformieren und die sozioökonomischen Folgewirkungen durch sozialpolitische Maßnahmen abzumildern. Wettbewerbs- und Kartellgesetzgebung, staatliche Rahmenordnungen und Regulierungen zur Einhaltung von Arbeits-, Gesundheits- und Umweltstandards gehörten ebenso dazu wie sozial- und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen von der Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung bis zur Sozialhilfe. Gleichzeitig haben sich moderne Demokratien daran beteiligt, Institutionen zur Kontrolle der Geldströme und transnationale Einrichtungen zu schaffen, die die Selbstregulierung der Wirtschafts- und Finanzsysteme stärken und überwachen sollen, auch wenn sie vielleicht nicht immer oder noch nicht effizient genug erscheinen mögen. Marktwirtschaft und Demokratie stehen somit in einem Verhältnis wechselseitiger Bestärkung, das jedoch nicht frei von Spannungen und Konflikten ist. Diese können sich zu einer Krise der Demokratie auswachsen, wo sich deregulierte globale Märkte jeglicher Einflussnahme demokratischer Politik entziehen, die ökonomischen, ökologischen, finanziellen und sozialen Folgeprobleme aber einseitig den politischen Systemen und ihren Bürgern aufgebürdet werden.
QuellentextEinfluss der Wirtschaft auf die Demokratie
[…] Die Trennung von Wirtschaft und Politik [...] ist aus drei Gründen schwierig. Erstens ist der Staat die Hauptquelle für Maßnahmen gegen Marktversagen. Zweitens ist der Markt auf ein funktionierendes Rechtssystem angewiesen; das betrifft mindestens die Etablierung eines anerkannten Zahlungsmittels und Maßnahmen gegen dessen Fälschung, weiterhin auch Sanktionen gegen Vertragsbruch und den Schutz von Patenten und Urheberrechten. [...] So sehr die Wirtschaft in dieser Hinsicht vom Staat abhängig ist, so sehr kann sie auf der anderen Seite Einfluß auf die Politik nehmen. In einer Demokratie läßt sich kaum verhindern, daß Wohlstand mit politischem Einfluß einhergeht. Der Wohlhabende kann mit Hilfe seines Geldes gleichgesinnte Politiker und Parteien unterstützen oder andersdenkende von seiner Meinung zu überzeugen versuchen. Er kann die öffentliche Meinung mit Kampagnen beeinflussen oder Zeitungen und andere Medien, deren Besitzer er ist, zu diesem Zweck instrumentalisieren. Obwohl sowohl Demokratie als auch Marktwirtschaft sich dazu bekennen, den Einfluß der Reichen eindämmen zu wollen, tragen sie auf ihre jeweilige Weise zum Gegenteil bei. [...] Macht und Reichtum sind konvertierbare Währungen. Auch dadurch vergrößert sich die Ungleichheit in marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaften. [...] Von allen Formen des Marktversagens sind daher jene die gefährlichsten, welche die unverhältnismäßige Konzentration von Wohlstand befördern, da sie sowohl den Markt als auch die Demokratie unterhöhlen. [...] Sowohl das demokratische Gemeinwesen als auch der Markt weisen gegenwärtig Defizite auf, die an bestimmten Punkten auf besorgniserregende Weise miteinander zusammenhängen. Die Demokratie leidet darunter, daß die Öffentlichkeit heute weder in sich einheitlich genug noch nah genug an der Politik ist, um hinreichend Druck auf die Politiker auszuüben, wenigstens im Vergleich zu Unternehmen. Die beiden wichtigsten Mechanismen, die zwischen der Öffentlichkeit und den politischen Eliten vermitteln, die Parteien und die Massenmedien, werden dafür immer ungeeigneter. Die Parteien wurzeln kaum noch in den Interessen großer Bevölkerungsgruppen, weshalb sie sich anderswo nach finanzieller Unterstützung umsehen müssen, um die Verbindung zur Bevölkerung auf andere Weise wiederherzustellen. Nur bei Konzernen und Superreichen lassen sich solche Ressourcen in größerem Maßstab auftreiben. Die für die Demokratie unverzichtbaren Massenmedien wiederum werden zunehmend zu Marionetten der Großkonzerne und Superreichen, die die demokratische Meinungsbildung auf diese Weise mit ihren ganz speziellen Interessen dominieren. [...] Diese Entwicklungen werden nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Marktwirtschaft zum Problem. Es gibt keine politische oder ökonomische Theorie, die zeigt, daß das Gemeinwohl bei Großkonzernen, die weitgehend frei von den Einschränkungen des Wettbewerbs sind oder ihn zu dominieren vermögen und sich zur Hauptquelle politischer Macht entwickeln, in guten Händen wäre. [...] Der deutsche Ordoliberalismus wollte freie Märkte, die in ein Rechtssystem eingebettet sind, das das Überleben der die Produktionsmittel besitzenden Mittelklasse gewährleistet, die wiederum die politische Dominanz des Großkapitals einerseits und der Arbeiterklasse andererseits verhindern sollte; zugleich wollte auch er die Konzentration und Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Macht verhindern. Doch diese älteren Schulen des Wirtschaftsliberalismus werden der globalisierten Wirtschaft nicht gerecht [...]. Zwar hat die Globalisierung eine erhebliche Zunahme an Wettbewerb gebracht und den Konsumenten in vielen Marktbereichen Vorteile verschafft. Zugleich sind durch sie aber auch Sektoren entstanden, in denen die Notwendigkeit, weltweit zu agieren, von den Unternehmen eine gewisse Größe verlangt. Das stellt ein hohes Marktzugangshindernis dar, das einigen wenigen Großkonzernen nützt, die in besonderem Maß von Netzwerkexternalitäten profitieren. Daraus resultiert die wachsende Ungleichheit innerhalb der und zwischen den Nationalstaaten, die sich daran zeigt, daß einige wenige Personen und Unternehmen enorme Reichtümer anhäufen. [...] Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Postdemokratie II, übers. von Frank Jakubzik, © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 74 ff. und S. 227 ff.
Messbarkeitskriterien
Um den demokratischen Gehalt politischer Systeme und seine Messbarkeit hat es große theoretische und auch empirische Kontroversen gegeben. Bei der Erörterung dieser Fragen muss zwischen verschiedenen Demokratiebegriffen unterschieden werden. Wahldemokratie Reguläre, freie und faire Wahlen, unterschiedliche Parteien, aus denen eine Auswahl getroffen werden kann, und die Abwahlmöglichkeit von Regierungen sind wesentliche Merkmale, gleichsam Mindestanforderungen an eine Demokratie. Nur durch Wahlen sind Regierungen in Demokratien legitimiert, Entscheidungen zu treffen und diese auszuführen. Wo gewählt wird, müssen Alternativen zur Auswahl gestellt werden, d. h. Kandidierende oder Gruppen von Kandidierenden als Parteien oder Wählergemeinschaften. Der Ökonom und Sozialphilosoph Joseph Schumpeter (1883 – 1950) hat eine solche Minimaldefinition von Demokratie wie folgt formuliert: "Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis mittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben." Vollständige Demokratie Ein anspruchsvollerer Demokratiebegriff geht über die Wahlmöglichkeit hinaus. Er fordert zusätzlich eine Garantie der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, der individuellen Grundrechte wie Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum sowie das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, also die politischen Freiheits- und Partizipationsrechte. Der ungehinderte Austausch von Informationen und Meinungen sowie ein freier Prozess von Kommunikation und Interaktion müssen gewährleistet sein. Hinzu treten verfassungs- und rechtsstaatliche Sicherungen, die dafür sorgen, dass alle Individuen gleiche Grundrechte und Schutz genießen. Exekutive und legislative Akte müssen von der Judikative überprüft werden können. Deshalb muss es eine politisch unabhängige und neutrale Justiz geben sowie eine Trennung der Gewalten von Legislative, Exekutive und Rechtsprechung. Die liberale Demokratie setzt also den Rechts- und Verfassungsstaat voraus. Zur vollentwickelten Demokratie gehört auch eine lebendige Bürgergesellschaft. Sie stellt Öffentlichkeit her und schafft Formen sowie Arenen direkter Beteiligung – vielfach auf lokaler Ebene. Eine lebendige Bürgergesellschaft erzeugt und artikuliert gemeinschaftliche Werte und gesellschaftliche Interessen – auch außerhalb von Parlamenten. Außerdem übt sie Konfliktregulierung und Willensbildungsprozesse ein und bildet eine politische Kultur aus, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Demokratie stützen und zu einer eingeübten Lebensform werden lassen. Unvollständige Demokratie Bei weitem nicht alle Demokratien weisen sämtliche Merkmale dieses umfassenden Demokratieverständnisses auf. Staatswesen, die dahinter zurückbleiben, können als unvollständige oder, wie die empirische Demokratieforschung auch formuliert, als "defekte" Demokratien bezeichnet werden. In ihnen sind zwar allgemeine, freie, gleiche und faire Wahlen möglich, womit im Unterschied zu autokratischen Regimen formal gesehen das Prinzip der Volkssouveränität erfüllt ist. Von umfassenden Demokratien unterscheiden sich unvollständige Demokratien aber vor allem dadurch, dass die bürgerlichen Freiheits- und Schutzrechte des Individuums nur eingeschränkt gelten und die Rechtsstaatlichkeit oder die Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative nicht gänzlich gewährleistet sind. Als weiteres Unterscheidungsmerkmal gilt das Fehlen eines öffentlichen Raumes, in dem sich bürgerschaftliches Engagement und eine lebendige Zivilgesellschaft entwickeln können. Eine mögliche Ursache dafür kann ein eingeschränktes Medien-, Informations- und Kommunikationssystem sein. Eine weitere Ursache kann darin liegen, dass politische Institutionen bzw. die im Amt befindlichen Regierungen die Wahrnehmung von Teilhaberechten erschweren oder verweigern. Nach Erkenntnissen der empirisch-quantitativen Demokratieforschung ist die Zahl der "elektoralen Demokratien", der Wahldemokratien, seit 1985 insgesamt angewachsen. Doch der Anteil der liberalen und vollständigen Demokratien unterlag – so der Forschungsbefund – größeren Schwankungen und war in den letzten Jahren rückläufig. Demokratisierungsgewinnen, wie sie in den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas, vor allem nach dem "Arabischen Frühling", vorübergehend zu verzeichnen waren, stehen neuere, antidemokratische Tendenzen entgegen. Zwar konnten sich teilweise Zivilgesellschaften herausbilden, doch repressive staatliche Maßnahmen haben ihre Entfaltung wieder behindert. In Ägypten haben sich neue autoritäre Herrschaftsformen auf wahldemokratischer Grundlage etabliert, in Libyen ist der Staat weitgehend zerfallen. Der Krieg in Syrien, die terroristischen Aktivitäten des "Islamischen Staates" sowie die Flüchtlingskrise haben nicht nur zu einer menschlichen und geopolitischen Katastrophe geführt, sondern auch die demokratischen und freiheitlichen Strukturen in den etablierten Demokratien Europas herausgefordert. Bei den unvollständigen Demokratien handelt es sich ganz überwiegend um junge Demokratien. Sie sind in allen Regionen anzutreffen, besonders häufig jedoch in Lateinamerika und Asien. Mittel- und Osteuropa sind etwas weniger betroffen, wenngleich auch hier in jüngster Zeit rückläufige Entwicklungen zu beobachten waren. Das Gleiche gilt für die Staaten des Balkans, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und den Kosovo. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lässt sich ein Trend zur unvollständigen Demokratie erkennen, zuletzt sind dort autoritäre Bestrebungen wieder erstarkt. Rückschläge zeigen sich hier vor allem in Form von Einschränkungen der Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Behinderung von Nichtregierungsorganisationen und der unabhängigen Justiz. Ein Rückfall dieser unvollständigen Demokratien in offen autokratische Regime ist noch nicht beobachtbar, doch findet vielfach eine schleichende Umformung der Regierungssysteme statt. Teilweise wird hier von einem neuen Modell der "illiberalen Demokratie" (so der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in einer Grundsatzrede am 26. Juli 2014 in Ba˘ile Tus¸nad, Rumänien) gesprochen. In einzelnen Staaten – wie zuletzt in Nigeria, Myanmar, Liberia, der Elfenbeinküste, Sri Lanka oder Burkina Faso – konnten Machtwechsel durch freie Wahlen erreicht werden. Im Kontrast dazu setzen sich in vielen Staaten der Erde, besonders in Mittel- und Südamerika sowie in Afrika südlich der Sahara, viele Amtsinhaber mit legalen und nicht-legalen Mitteln über die konstitutionellen und demokratischen Regeln hinweg, um ihre Macht zu erhalten.
QuellentextDas neue Ungarn?
[…] Die intellektuelle Aufgabe, die vor uns liegt, besteht darin, […] die globalen Machtverschiebungen im Finanzwesen, im Welthandel, sowie in machtpolitischer und militärischer Hinsicht, die 2008 zu Tage traten, zu unserem […] Ausgangspunkt [zu] machen. […] Meiner Meinung nach kann […] das bestimmende Moment in der heutigen Welt vielleicht so formuliert werden, dass ein Wettlauf um die Organisationsform der Gemeinschaft, des Staates vor sich geht, der am besten fähig ist, eine Nation, eine Gemeinschaft international wettbewerbsfähig zu machen. Das ist die Erklärung dafür, […] dass das "Schlagerthema" im heutigen Denken das Verstehen derjenigen Systeme ist, die nicht westlich, nicht liberal und keine liberale Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind und trotzdem Nationen erfolgreich machen. […] Indem wir uns von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen und uns von ihnen unabhängig machen, versuchen wir, die Organisationsform der Gemeinschaft, den neuen ungarischen Staat zu finden, der imstande ist, unsere Gemeinschaft in der Perspektive von Jahrzehnten im großen Wettlauf der Welt wettbewerbsfähig zu machen. Um dazu imstande zu sein, mussten wir […] mutig […] aussprechen, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss. Etwas, das nicht liberal ist, kann noch eine Demokratie sein. […] Und die Frage ist, was kommt jetzt? Die ungarische Antwort ist, dass die Epoche eines auf Arbeit basierten Staates anbrechen kann, wir wollen eine auf Arbeit basierte Gesellschaft organisieren, die […] das Odium auf sich nimmt, klar auszusprechen, dass sie nicht liberaler Natur ist. […] Das bedeutet, dass wir uns lossagen müssen von den liberalen Prinzipien und Methoden der Gesellschaftsorganisation, und überhaupt vom liberalen Verständnis der Gesellschaft. […] Das Organisationsprinzip der ungarischen Gesellschaft soll nicht sein, dass man alles darf, was die Freiheit von anderen nicht einschränkt, sondern das Prinzip soll sein: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu. Und wir versuchen im ungarischen öffentlichen Denken, im Bildungswesen, in unserem eigenen Benehmen und an unserem eigenen Beispiel diese Welt, die wir ungarische Gesellschaft nennen können, auf diese Basis zu stellen. […] Was also heute in Ungarn geschieht, kann so verstanden werden, dass […] die ungarische Nation […] nicht einfach eine bloße Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft [ist], die organisiert, gestärkt, ja sogar aufgebaut werden muss. In diesem Sinne ist also der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat. Er verneint nicht die Grundwerte des Liberalismus, wie die Freiheit, und ich könnte noch weitere Beispiele nennen, macht aber diese Ideologie nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation, sondern enthält einen von dieser abweichenden, eigenen, nationalen Denkansatz. […] Da die gegenwärtige Weltordnung nicht gerade nach unserem Geschmack ist, meine ich, dass die Epoche des "alles kann geschehen", die vor uns liegt, laut vielen zwar Unsicherheiten birgt, und auch Probleme daraus entstehen können, aber dass sie für die ungarische Nation auch mindestens genauso viele Möglichkeiten und Chancen bringt. […] Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vom 26. Juli 2014 Übersetzt von Júlia Horváth, Lektorat PR. Externer Link: https://pusztaranger.wordpress.com/2014/08/01/viktor-orbans-rede-auf-der-25-freien-sommeruniversitat-in-baile-tusnad-rumanien-am-26-juli-2014/
Das Konzept der "eingebetteten Demokratie" (© Bergmoser und Höller Verlag AG, Zahlenbild 95092)
Das Buch "De la democratie en Amérique" ("Über die Demokratie in Amerika") von Alexis Clérel de Tocqueville erschien 1835, drei Jahre nach einer Amerikareise, die der Verfasser im Auftrag der französischen Regierung unternommen hatte. […] Tocqueville ist Empiriker und ein überzeugter Verfechter der Demokratie, die er für die neue, kommende Staatsform hält, vor deren Gefährdungen er allerdings warnen will. Ich halte den Grundsatz, dass im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich, und dennoch leite ich alle Gewalt im Staat aus dem Willen der Mehrheit ab. Widerspreche ich mir damit selbst? Es gibt ein allgemeines Gesetz, das nicht bloß von der Mehrheit irgendeines Volkes, sondern von der Mehrheit aller Menschen, wenn nicht aufgestellt, so doch angenommen worden ist. Dieses Gesetz ist die Gerechtigkeit. Das Recht eines jeden Volkes findet seine Grenze an der Gerechtigkeit. […] Wenn ich daher einem ungerechten Gesetz den Gehorsam verweigere, spreche ich keineswegs der Mehrheit das Recht ab, zu befehlen; ich appelliere lediglich von der Souveränität des Volkes an die Souveränität der Menschheit. […] Was ist denn die Mehrheit im Ganzen genommen anderes als ein Individuum mit Ansichten und Interessen, die meistens denen eines anderen Individuums, genannt Minderheit, zuwiderlaufen? […] [U]nd niemals werde ich die Befugnis, schlechthin alles zu tun, die ich einem Einzelnen unter meinesgleichen versage, einer Mehrheit zugestehen. […] Es gibt auf Erden keine an sich selbst so ehrwürdige, keine mit so geheiligtem Recht ausgestattete Macht, dass ich sie unkontrolliert handeln und ungehindert herrschen lassen wollte. Sobald ich daher sehe, dass man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennen, man mag sie in einer Monarchie oder in einer Republik ausüben, sobald ich das sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei, und ich werde versuchen, unter andern Gesetzen zu leben. […] Stellen wir uns dagegen eine gesetzgebende Gewalt vor, die die Mehrheit repräsentiert, ohne notwendig der Sklave von deren Leidenschaften zu sein; eine ausführende Gewalt, die eine angemessene Macht besitzt, und eine richterliche Gewalt, die von den anderen beiden Gewalten unabhängig ist; auch dann haben wir eine Demokratie, aber für die Tyrannei wird es kaum noch Chancen geben. […] Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, ausgewählt und herausgegeben von J.P. Mayer, Philipp Reclam jun. Verlag Ditzingen 2006, S. 145 ff
Der englische Philosoph John Stuart Mill gehört zu den bedeutendsten Denkern des Liberalismus. In seiner Jugend beeinflusste ihn der Bentham’sche Utilitarismus. Er beruht auf dem Grundsatz: Wenn nur jeder rational gemäß seiner eigenen Wünsche und frei von staatlichen Eingriffen handelt, dann führt das zum größten Glück für eine immer größere Zahl von Menschen. Darüber hinaus widmete sich Mill auch der Frage der Vereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie. In der Schrift Considerations on Representative Government bietet er als Lösung ein parlamentarisches Regierungssystem an. […] Die Gesellschaft kann ihre eigenen Befehle vollstrecken und tut das auch, und wenn sie schlechte statt guter Befehle gibt oder sich überhaupt in Dinge mischt, mit denen sie sich besser nicht befaßte, so übt sie eine soziale Tyrannei aus, die furchtbarer ist als manche Arten obrigkeitlicher Bedrückung. Sie bietet zwar für gewöhnlich nicht die äußersten Strafmittel auf; aber sie läßt weniger Wege zum Entkommen, sie dringt viel tiefer in die Einzelheiten des Lebens und versklavt die Seele selbst. So genügt es nicht, sich gegen die Tyrannei der Machthaber zu schützen, man muß sich auch schützen vor der Tyrannei der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls, vor der Absicht der Gesellschaft, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken denjenigen als Verhaltensregeln aufzuzwingen, die davon abweichen. Man muß sich hüten vor der Neigung der Gesellschaft, die Entwicklung und, wenn möglich, die Bildung jeder Individualität zu hindern, die mit den Wegen der Allgemeinheit nicht übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eigenen Muster zu richten. Es gibt eine Grenze für das berechtigte Eingreifen der kollektiven Meinung in die persönliche Unabhängigkeit, und diese Grenze zu finden und sie gegen Übergriffe zu schützen ist für eine gute Sicherung des menschlichen Lebens ebenso unentbehrlich wie der Schutz gegen politischen Despotismus. [...] John Stuart Mill, Über die Freiheit, hg. von Horst D. Brandt, übers. von Else Wentscher, 2., verbesserte Aufl., Felix Meiner Verlag GmbH Hamburg 2011, S. 9
[…] Im Jahr 1945, in dem der Zweite Weltkrieg endete, erschien in London das Buch des damals bereits 43-jährigen österreichischen Emigranten Karl Popper, der die Kriegsjahre als Dozent für Philosophie in Christchurch in Neuseeland überlebt hatte. "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" wurde zu einem der wichtigsten politischen Bücher des 20. Jahrhunderts. Popper ist nicht konziliant, kein versöhnlicher Denker. […] "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" […] wendet sich ebenso gegen den Totalitarismus von Faschismus und Kommunismus wie gegen die vermeintlich so nette abendländische Denktradition Platons. Platon, Hegel und Marx, so Popper […] stünden nicht für Offenheit, sondern für das Konzept des Historizismus, also der Vorstellung, dass die Welt und ihre Bewohner festen Gesetzen unterliegen, einem zwangsläufigen Ablauf. Die Geschichte ist nicht offen, sie ist festgelegt. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ein Programm, das abgespult wird. […] Die Folge sind Ideologien, also geschlossene Weltbilder, die die scheinbare Folgerichtigkeit der Abläufe erst produzieren, jene innere Logik also, von der so oft die Rede ist. Offenheit hingegen ist, wenn man auch anders kann, in Alternativen und im Plural denkt. Warum machen die Leute zu? Weil sie Angst haben. Weil sie unsicher sind. Und weil ihnen die geschlossenen Gesellschaften die Wahrnehmung vermitteln, dass alles geordnet ist, also nach Plan läuft, so wie es mehr als 2000 Jahre Geistesgeschichte immer wieder behauptet haben. Am Ende winkt allen "das Himmelreich auf Erden", sagt Popper, und damit droht großes Unheil: "Wenn wir die Welt nicht (…) ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltbeglückung aufgeben", befand er. Die offene Gesellschaft ist nicht harmonisch, nicht widerspruchsfrei, in ihr fügt sich nicht alles scheinbar ins andere. Man muss was aushalten – vor allen Dingen die anderen. Das ist ihr Preis. Poppers wichtigster Rat ist, sich von den großen Würfen zu entfernen, von den Utopien und den Utopisten. Die offene Gesellschaft entspricht dem Individuum, die geschlossene Gesellschaft der Zwangskollektivierung. Wer Offenheit will, muss ins Detail gehen, immer wieder. Bei Karl Popper heißt das: Die offene Gesellschaft geht in kleinen Schritten, sie produziert "Stückwerk". Das ist nicht sehr attraktiv, wenn man allen alles versprechen will, wenn man sämtliche Probleme lösen und das Gute und Schöne schlagartig verbreiten möchte. Genau das aber macht die Feinde der offenen Gesellschaft aus. Sie nehmen sich zu viel vor, sie sind nicht nüchtern, sie sind für die Freiheit nicht bescheiden genug. Poppers offene Gesellschaft setzt auf Institutionen, die sich kritisch kontrollieren lassen, auf Selbstkritik, ständiges Hinterfragen der eigenen Positionen. Sie ist von Helden und Anführern befreit. Die wahren Troubleshooter sind ganz normale Leute, die Bürger der Zivilgesellschaft, nichts Spektakuläres. Die Demokratie ist kein Pathos, sondern ein Werkzeug, das nicht dazu da ist, alle glücklich zu machen, sondern schlicht die Leiden so klein wie möglich zu halten. Sie bringt unterschiedliche Interessen in Konsensform und bildet damit die Vielfalt ab. Sie ist keine "Volksherrschaft", warnt Karl Popper, denn die "Mehrheit kann auch die Tyrannis stützen." Wahlen haben in seiner Sicht der Dinge eine simple Funktion. Sie sollen für den unblutigen Machtwechsel sorgen. […] Zu Poppers Werk gehört auch der kritische Umgang mit scheinbaren Gewissheiten. Die Vorstellung, dass das Neue besser sei als das, was man kennt, erweist sich so als eben jenes Vorurteil wie das Gegenteil. Der Sinn und Zweck von Offenheit ist nicht, die Katze im Sack zu kaufen, sondern den Sack aufzumachen und nachzusehen, was drin ist. […] Wolf Lotter, "In offener Gesellschaft", in: Brand eins 01/2017, S. 34 ff. Der vollständige Artikel "In offener Gesellschaft" ist zu lesen unter: Externer Link: www.brandeins.de/archiv/2017/offenheit/in-offener-gesellschaft/
Eine engagierte Zivilgesellschaft trägt dazu bei, die Effizienz bei der Lösung von Herausforderungen der Demokratie zu erhöhen. Freiwillige helfen am 12. September 2015 am Münchener Hauptbahnhof bei der Versorgung von Geflüchteten. (© picture-alliance/dpa)
[…] Die Trennung von Wirtschaft und Politik [...] ist aus drei Gründen schwierig. Erstens ist der Staat die Hauptquelle für Maßnahmen gegen Marktversagen. Zweitens ist der Markt auf ein funktionierendes Rechtssystem angewiesen; das betrifft mindestens die Etablierung eines anerkannten Zahlungsmittels und Maßnahmen gegen dessen Fälschung, weiterhin auch Sanktionen gegen Vertragsbruch und den Schutz von Patenten und Urheberrechten. [...] So sehr die Wirtschaft in dieser Hinsicht vom Staat abhängig ist, so sehr kann sie auf der anderen Seite Einfluß auf die Politik nehmen. In einer Demokratie läßt sich kaum verhindern, daß Wohlstand mit politischem Einfluß einhergeht. Der Wohlhabende kann mit Hilfe seines Geldes gleichgesinnte Politiker und Parteien unterstützen oder andersdenkende von seiner Meinung zu überzeugen versuchen. Er kann die öffentliche Meinung mit Kampagnen beeinflussen oder Zeitungen und andere Medien, deren Besitzer er ist, zu diesem Zweck instrumentalisieren. Obwohl sowohl Demokratie als auch Marktwirtschaft sich dazu bekennen, den Einfluß der Reichen eindämmen zu wollen, tragen sie auf ihre jeweilige Weise zum Gegenteil bei. [...] Macht und Reichtum sind konvertierbare Währungen. Auch dadurch vergrößert sich die Ungleichheit in marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaften. [...] Von allen Formen des Marktversagens sind daher jene die gefährlichsten, welche die unverhältnismäßige Konzentration von Wohlstand befördern, da sie sowohl den Markt als auch die Demokratie unterhöhlen. [...] Sowohl das demokratische Gemeinwesen als auch der Markt weisen gegenwärtig Defizite auf, die an bestimmten Punkten auf besorgniserregende Weise miteinander zusammenhängen. Die Demokratie leidet darunter, daß die Öffentlichkeit heute weder in sich einheitlich genug noch nah genug an der Politik ist, um hinreichend Druck auf die Politiker auszuüben, wenigstens im Vergleich zu Unternehmen. Die beiden wichtigsten Mechanismen, die zwischen der Öffentlichkeit und den politischen Eliten vermitteln, die Parteien und die Massenmedien, werden dafür immer ungeeigneter. Die Parteien wurzeln kaum noch in den Interessen großer Bevölkerungsgruppen, weshalb sie sich anderswo nach finanzieller Unterstützung umsehen müssen, um die Verbindung zur Bevölkerung auf andere Weise wiederherzustellen. Nur bei Konzernen und Superreichen lassen sich solche Ressourcen in größerem Maßstab auftreiben. Die für die Demokratie unverzichtbaren Massenmedien wiederum werden zunehmend zu Marionetten der Großkonzerne und Superreichen, die die demokratische Meinungsbildung auf diese Weise mit ihren ganz speziellen Interessen dominieren. [...] Diese Entwicklungen werden nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Marktwirtschaft zum Problem. Es gibt keine politische oder ökonomische Theorie, die zeigt, daß das Gemeinwohl bei Großkonzernen, die weitgehend frei von den Einschränkungen des Wettbewerbs sind oder ihn zu dominieren vermögen und sich zur Hauptquelle politischer Macht entwickeln, in guten Händen wäre. [...] Der deutsche Ordoliberalismus wollte freie Märkte, die in ein Rechtssystem eingebettet sind, das das Überleben der die Produktionsmittel besitzenden Mittelklasse gewährleistet, die wiederum die politische Dominanz des Großkapitals einerseits und der Arbeiterklasse andererseits verhindern sollte; zugleich wollte auch er die Konzentration und Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Macht verhindern. Doch diese älteren Schulen des Wirtschaftsliberalismus werden der globalisierten Wirtschaft nicht gerecht [...]. Zwar hat die Globalisierung eine erhebliche Zunahme an Wettbewerb gebracht und den Konsumenten in vielen Marktbereichen Vorteile verschafft. Zugleich sind durch sie aber auch Sektoren entstanden, in denen die Notwendigkeit, weltweit zu agieren, von den Unternehmen eine gewisse Größe verlangt. Das stellt ein hohes Marktzugangshindernis dar, das einigen wenigen Großkonzernen nützt, die in besonderem Maß von Netzwerkexternalitäten profitieren. Daraus resultiert die wachsende Ungleichheit innerhalb der und zwischen den Nationalstaaten, die sich daran zeigt, daß einige wenige Personen und Unternehmen enorme Reichtümer anhäufen. [...] Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Postdemokratie II, übers. von Frank Jakubzik, © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 74 ff. und S. 227 ff.
[…] Die intellektuelle Aufgabe, die vor uns liegt, besteht darin, […] die globalen Machtverschiebungen im Finanzwesen, im Welthandel, sowie in machtpolitischer und militärischer Hinsicht, die 2008 zu Tage traten, zu unserem […] Ausgangspunkt [zu] machen. […] Meiner Meinung nach kann […] das bestimmende Moment in der heutigen Welt vielleicht so formuliert werden, dass ein Wettlauf um die Organisationsform der Gemeinschaft, des Staates vor sich geht, der am besten fähig ist, eine Nation, eine Gemeinschaft international wettbewerbsfähig zu machen. Das ist die Erklärung dafür, […] dass das "Schlagerthema" im heutigen Denken das Verstehen derjenigen Systeme ist, die nicht westlich, nicht liberal und keine liberale Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind und trotzdem Nationen erfolgreich machen. […] Indem wir uns von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen und uns von ihnen unabhängig machen, versuchen wir, die Organisationsform der Gemeinschaft, den neuen ungarischen Staat zu finden, der imstande ist, unsere Gemeinschaft in der Perspektive von Jahrzehnten im großen Wettlauf der Welt wettbewerbsfähig zu machen. Um dazu imstande zu sein, mussten wir […] mutig […] aussprechen, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss. Etwas, das nicht liberal ist, kann noch eine Demokratie sein. […] Und die Frage ist, was kommt jetzt? Die ungarische Antwort ist, dass die Epoche eines auf Arbeit basierten Staates anbrechen kann, wir wollen eine auf Arbeit basierte Gesellschaft organisieren, die […] das Odium auf sich nimmt, klar auszusprechen, dass sie nicht liberaler Natur ist. […] Das bedeutet, dass wir uns lossagen müssen von den liberalen Prinzipien und Methoden der Gesellschaftsorganisation, und überhaupt vom liberalen Verständnis der Gesellschaft. […] Das Organisationsprinzip der ungarischen Gesellschaft soll nicht sein, dass man alles darf, was die Freiheit von anderen nicht einschränkt, sondern das Prinzip soll sein: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu. Und wir versuchen im ungarischen öffentlichen Denken, im Bildungswesen, in unserem eigenen Benehmen und an unserem eigenen Beispiel diese Welt, die wir ungarische Gesellschaft nennen können, auf diese Basis zu stellen. […] Was also heute in Ungarn geschieht, kann so verstanden werden, dass […] die ungarische Nation […] nicht einfach eine bloße Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft [ist], die organisiert, gestärkt, ja sogar aufgebaut werden muss. In diesem Sinne ist also der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat. Er verneint nicht die Grundwerte des Liberalismus, wie die Freiheit, und ich könnte noch weitere Beispiele nennen, macht aber diese Ideologie nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation, sondern enthält einen von dieser abweichenden, eigenen, nationalen Denkansatz. […] Da die gegenwärtige Weltordnung nicht gerade nach unserem Geschmack ist, meine ich, dass die Epoche des "alles kann geschehen", die vor uns liegt, laut vielen zwar Unsicherheiten birgt, und auch Probleme daraus entstehen können, aber dass sie für die ungarische Nation auch mindestens genauso viele Möglichkeiten und Chancen bringt. […] Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vom 26. Juli 2014 Übersetzt von Júlia Horváth, Lektorat PR. Externer Link: https://pusztaranger.wordpress.com/2014/08/01/viktor-orbans-rede-auf-der-25-freien-sommeruniversitat-in-baile-tusnad-rumanien-am-26-juli-2014/
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-19T00:00:00 | 2017-05-18T00:00:00 | 2022-01-19T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/demokratie-332/248576/erfolgs-und-risikofaktoren-fuer-demokratien/ | Wie gelingt Demokratie? Ein günstiges Umfeld, eine effektive zivile Kontrolle staatlicher Gewalt sowie eine pluralistische, aktive Zivilgesellschaft sind Bedingungen für Entwicklung und Stabilität von Demokratien. Auch Säkularisierung und stabile wir | [
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"Politik",
"Staatsform"
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Das Smartphone: Ein Computer | einfach POLITIK | bpb.de |
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Das Wort Smartphone kommt aus der englischen Sprache. Es bedeutet "schlaues Telefon". Das Smartphone ist nicht nur ein Telefon zum Telefonieren. Es kann sehr viel mehr. Der Bildschirm eines Smartphones ist ein Touchscreen.
Touchscreen
Das Wort Touchscreen kommt aus der englischen Sprache. Es besteht aus zwei englischen Wörtern "Touch" und "Screen". Touch bedeutet "Berührung". Screen bedeutet "Bildschirm". Auf Deutsch kann man sagen "Berührungsbildschirm".
Touchscreen (© bpb)
Der Bildschirm wird mit Berührungen gesteuert. Man berührt den Bildschirm mit dem Finger, um zum Beispiel jemanden anzurufen oder um eine Nachricht zu schreiben. Für manche Menschen kann ein Touchscreen schwierig sein. Zum Beispiel, • weil sie die kleinen Symbole auf dem Bildschirm nicht gut berühren können • oder weil es keine oder nur wenige Tasten zum Fühlen gibt. Das Smartphone besteht aus Hardware und Software. Es hat einen Prozessor und ein Betriebssystem. Das Smartphone ist also ein Computer – auch wenn er ganz schön klein ist. Richtig schlau wird das Smartphone erst durch die Software. Man kann zu Software auch Programme sagen. Auf das Smartphone kann man verschiedene Programme laden. Sehr viele Menschen benutzen heute ein Smartphone. In Deutschland haben zum Beispiel 8 von 10 Menschen ein Smartphone.
Das Wort Touchscreen kommt aus der englischen Sprache. Es besteht aus zwei englischen Wörtern "Touch" und "Screen". Touch bedeutet "Berührung". Screen bedeutet "Bildschirm". Auf Deutsch kann man sagen "Berührungsbildschirm".
Touchscreen (© bpb)
Zugang zu digitalen Inhalten
Gespräch zwischen Freunden (© bpb)
Mit dem Smartphone kann man digitale Inhalte nutzen. Das Wort "digital" kommt ursprünglich vom lateinischen Wort "digitus". "Digitus“ bedeutet "Finger" und auch "Ziffer". Digital bedeutet: Man stellt etwas mit den Ziffern 0 und 1 in einer bestimmten Reihenfolge dar. So kann man Nachrichten und Informationen senden und nutzen.
Zum Beispiel:
Ein Treffen und ein Gespräch Ole geht einkaufen und trifft seine Freundin Naomi. Er begrüßt sie und unterhält sich mit ihr. Diese Unterhaltung ist nicht digital.
SMS schreiben (© bpb)
SMS schreiben und senden Ole kommt wieder nach Hause und schreibt Naomi eine SMS. Er gibt die Nachricht in sein Smartphone ein: "Es war schön dich zu treffen". Ole schickt die Nachricht ab. Das Smartphone schickt Oles Nachricht aber nicht in Form von Buchstaben. Oles Nachricht wird in die Ziffern 0 und 1 umgewandelt.
Oles Nachricht sieht dann so aus: 01000101011100110010000001110111011000010111 00100010000001110011011000110110100011000011 10110110011011100010000001100100011010010110 00110110100000100000011110100111010100100000 011101000111001001100101011001100110011001100 1010110111000101110
SMS erhalten (© bpb)
SMS erhalten und lesen Dann kommt die Nachricht mit ganz vielen Nullen und Einsen auf Naomis Smartphone an. Auf Naomis Smartphone wird die Nachricht wieder in Buchstaben umgewandelt. Und Naomi kann die Nachricht auf ihrem Smartphone lesen: "Es war schön dich zu treffen."
Mit einem Smartphone hat man Zugang zu digitalen Inhalten. Digitale Inhalte sind: • Programme • Filme • Fotos und andere Bilder • Texte • Sprache, Musik und andere Töne Diese liegen in der Sprache aus Nullen und Einsen vor. Sie sind über digitale Geräte nutzbar. Digitale Geräte sind zum Beispiel: • Navigationsgeräte im Auto, die Staus melden, • Parkscheinautomaten, die wissen, wann der Parkplatz voll ist, • smarte Fernsehgeräte, die mit dem Internet verbunden sind, • und eben auch der eigene Computer oder das Smartphone
Gespräch zwischen Freunden (© bpb)
SMS schreiben (© bpb)
SMS erhalten (© bpb)
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-03-14T00:00:00 | 2019-10-01T00:00:00 | 2022-03-14T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/297833/das-smartphone-ein-computer/ | Das Smartphone ist ein "schlaues Telefon". Das Smartphone ist nicht nur ein Telefon zum Telefonieren. Es kann sehr viel mehr. Es ist ein Computer. | [
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Festakt zur Feier des Tages des Grundgesetzes Auszeichnung der Botschafter für Demokratie und Toleranz 2014 | Presse | bpb.de | Am 23. Mai 2014 verleiht das Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) zum 13. Mal in einem feierlichen Festakt die Auszeichnung "Botschafter für Demokratie und Toleranz" an fünf Persönlichkeiten und Initiativen, die sich in herausragender Weise um Demokratie und Toleranz verdient gemacht haben. Der Preis ist eine der bedeutendsten bundesweiten Anerkennungen um zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland öffentlich zu würdigen und ist mit jeweils 5000 € dotiert.
Die fünf Preisträger werden durch die Mitglieder des Beirats des BfDT Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, Monika Lazar (MdB), Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast und Prof. em. Dr. Wolfgang Benz ausgezeichnet.
Das Bündnis für Demokratie und Toleranz setzt mit der Preisverleihung ein klares Zeichen für eine starke und aktive Zivilgesellschaft als eine tragende Säule der Demokratie. Die Preisträger zeigen vorbildhaft, was man gegen Vorurteile, rechtsextremistische Aktivitäten oder soziale Ausgrenzung vor Ort bewirken kann. Mit der Preisverleihung dankt das BfDT auch den Millionen Menschen, die sich in Deutschland täglich meist ehrenamtlich als Einzelpersonen oder in Bürgerbündnissen, Initiativen, Vereinen und Aktionsgemeinschaften für eine demokratische und tolerante Gesellschaft engagieren
Die Botschafter für Demokratie und Toleranz 2014 sind:
KIgA – Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V. für neue und innovative Ansätze in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft in Berlin- Kreuzberg
Storch Heinar für satirisches Engagement gegen Rechtsextremismus, kulturelle und gesellschaftspolitische Bildung, lokale Vernetzung und langfristig angelegte Mitmachangebote
Andrea Röpke für journalistische Aufklärungsarbeit und Engagement gegen Rechtsextremismus
Bürgerprojekt "Nienhagen Rechtsrockfrei" für den gemeinsamen Einsatz gegen rechtsextremistische Musikveranstaltungen in Nienhagen
Jana Müller für Zeitzeugenarbeit, Gedenkstättenfahrten und ehrenamtliches Engagement gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Antiziganismus in Dessau
Das Programm finden Sie im Anhang.
Weiterer Höhepunkt ist die Gesprächsrunde "Europäisch. Demokratisch. Aktiv." mit Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Dr. Gregor Rosenthal, Leiter der Geschäftsstelle BfDT und zwei Teilnehmenden des bundesweiten Jugendkongresses des BfDT.
Programm
Festakt zur Feier des Tages des Grundgesetzes
23. Mai 2014 14.00 Uhr bis 15.30 Uhr
Begrüßung Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung
Film des Jugendkongresses 2014
Gesprächsrunde: "Europäisch. Demokratisch. Aktiv." mit Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, Mitglied im Beirat des BfDT Dr. Gregor Rosenthal, Leiter Geschäftsstelle BfDT zwei Teilnehmende des Jugendkongresses des BfDT
Verleihung des Preises "Botschafter für Demokratie und Toleranz" durch Christian Lange, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Mitglied im Beirat des BfDT Prof. em. Dr. Wolfgang Benz, Mitglied im Beirat des BfDT Monika Lazar, MdB, Mitglied im Beirat des BfDT Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Mitglied im Beirat des BfDT
Moderation: Shelly Kupferberg, Kulturradio rbb Musikalische Begleitung: Jamaram
Interner Link: Pressemitteilung als PDF.
Pressekontakt bpb:
Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2014-05-23T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/184958/festakt-zur-feier-des-tages-des-grundgesetzes-auszeichnung-der-botschafter-fuer-demokratie-und-toleranz-2014/ | Am 23. Mai 2014 verleiht das Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) zum 13. Mal in einem feierlichen Festakt die Auszeichnung "Botschafter für Demokratie und Toleranz" an fünf Persönlichkeiten und Initiativen, die s | [
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Bundestagswahl 2013 im Netz | Bundestagswahl 2013 | bpb.de | Während der Online-Wahlkampf zur Bundestagswahl 2009 geprägt war von der Euphorie, die durch den Obama-Wahlkampf nach Deutschland herüber geschwappt war, ist der Online-Wahlkampf 2013 in mancherlei Hinsicht in der Normalität angekommen. Inzwischen sind 77,2 Prozent der Erwachsenen in Deutschland online, 2009 waren es noch 67,1 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zeit, die die Deutschen online verbringen, an. 2013 lag sie bei 169 Minuten täglich, 2009 waren es noch 136 Minuten. Entsprechend wurde dem Online-Wahlkampf 2013 von den Parteien eine große, allerdings keine wahlentscheidende Bedeutung zugemessen. Diese realistischere Betrachtung der Möglichkeiten im Netz basierte vor allem auf den Erfahrungen von 2009. Damals konnten die Parteien längst nicht so viel Zugriffe auf ihre Webangebote verzeichnen wie erwartet, und nur ein Drittel der Wählerinnen und Wähler informierte sich überhaupt online über den Bundestagswahlkampf. Insofern war das Internet 2013 für die Parteien ein Kanal für Wahlkampfaktivitäten neben anderen. Von der eigenen Webseite über Angebote in sozialen Netzwerken, YouTube-Kanälen und Tumblr-Blogs bis hin zu eigenen Community-Seiten war auf den ersten Blick alles vertreten, was im Internet heute möglich ist. Während jedoch 2009 auf den Webseiten fast aller Parteien direkt und deutlich auf die vielen anderen Online-Kanäle hingewiesen wurde, waren 2013 Verlinkungen auf externe Seiten nahezu versteckt. Gleich geblieben ist die starke Personalisierung, die wie schon 2009 fast alle Webaktivitäten der beiden großen Parteien prägte. Allen voran setzte die CDU voll und ganz auf Angela Merkel, so sehr, dass man auf ihrer Webseite den Hinweis auf die Partei leicht übersehen konnte. Wahlkampf im Social Web – Dialog mit den Wählern?
Unter den Online-Aktivitäten der Parteien gab es eine ganze Reihe von Formaten, die die Chance für einen Dialog mit den Wählern boten. Wer aber etwas genauer hinschaute, musste feststellen, dass die Parteien wie schon 2009 die Online-Kommunikation in erster Linie nutzten, um eigene Botschaften zu verbreiten. Ein Dialog mit den Wählern kam nur selten zustande – trotz gegenteiliger Ankündigungen im Vorfeld. Parteivertreter machten in einer Studie deutlich, dass sie das Internet vor allem als Distributionskanal für Informationen ansehen. Sie stimmten zwar zu, dass die Partizipationsmöglichkeiten ein wesentlicher Mehrwert der sozialen Medien sind, trotzdem werden Twitter und Facebook vor allem genutzt, um auf Pressemitteilungen und Veranstaltungen hinzuweisen und gelegentlich Themen zu kommentieren. Nur ein Teil der Befragten thematisierte, "dass Feedback und Kritik in den sozialen Medien in einem nennenswerten Umfang intern diskutiert werden und gegebenenfalls zu Ausschlusshandlungen führen." Soziale Netzwerke
Diese Tendenz spiegelt sich auch in den eigentlich dialogorientierten Online-Auftritten wieder. So waren alle Parteien auf den verschiedenen sozialen Netzwerken vertreten, allen voran auf Facebook, das mit gut 26 Millionen Nutzern in Deutschland inzwischen die unangefochtene Nummer eins bei den sozialen Netzwerken ist. Dort war die Piratenpartei mit über 88.000 Fans die erfolgreichste Partei, gefolgt von der erst im Februar 2013 gegründeten Alternative für Deutschland (AfD) mit über 86.000 Fans. Erst dann folgten die anderen Parteien. Bei den Spitzenkandidaten konnte Bundeskanzlerin Angela Merkel siebenmal mehr Fans auf Facebook verzeichnen als der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Als zweites soziales Netzwerk hat sich Google+ im Repertoire der Wahlkämpfer etabliert.
Alle sozialen Netzwerke wurden allerdings von den Parteien und den Spitzenkandidaten vornehmlich genutzt, um auf Wahlkampfveranstaltungen hinzuweisen und – oft parallel zur Nachrichtenlage – Beiträge zu verschiedenen Themen zu publizieren. Ein Dialog fand jedoch kaum statt. So diskutierten die Nutzer zwar zum Teil miteinander, aber überwiegend ohne Reaktionen der Parteienvertreter zu bekommen. Auch blieben die Facebook-Auftritte von Angela Merkel und Peer Steinbrück, aber auch die der Parteizentralen von CDU und SPD, weitestgehend unmoderiert. So fanden sich dort neben den wahlkampforientierten Kommentaren von Anhängern und Gegnern auch viele unsachliche Kommentare, Werbeaussagen für andere Parteien und Beleidigungen. Noch bei der letzten Bundestagswahl wurden Kritik und themenfremde Posts schnell gelöscht. 2013 blieben sie sehr oft unmoderiert online. Bei den parteieigenen Blogs sah es nicht viel besser aus. Hier hielt sich die Zahl der Beiträge in überschaubaren Grenzen, und die Zahl der Kommentare tendierte gegen Null. Eigene Communities ohne Leben
Neben den sozialen Netzwerken gab es auch einige der zum Wahlkampf 2009 nach US-Vorbild gelaunchten Partei-Communities, die auch wieder für Nicht-Mitglieder zugänglich waren. Aber sowohl die Möglichkeiten als auch die Resonanz ließen auf den meisten Plattformen zu wünschen übrig. Die SPD hatte ihre Community-Plattform meineSPD.net aus dem Bundestagswahlkampf 2009 kurz danach beendet und startete im April 2013 unter mitmachen.spd.de eine neue Plattform. Auf der sollte die Wahlkreisarbeit koordiniert und der Wahlkampf vor Ort organisiert werden. Außerdem sollten darüber interessierte Nicht-Mitglieder eingebunden werden – ganz nach dem Vorbild der Community-Webseite des US-Präsidenten Barack Obama, wie einer der Wahlkampfmanager erklärte. Doch diese und ähnliche Plattformen anderer Parteien waren zwar wie die Obama-Community für jeden offen, aber die Resonanz und Aktivitäten waren keinesfalls vergleichbar. Die Wahlkampfmanager selbst waren offenbar zufrieden, sie fanden, dass ihnen "eine ‚solide‘ Bespielung der unterschiedlichen Social-Media-Kanäle durch die Parteien (…) gelungen" sei.
Die Zahl der angemeldeten Unterstützer in den Nicht-Mitglieder-Bereichen war eher gering und die Interaktionen blieben meist überschaubar. Selbst eine Woche vor der Wahl gab es beispielsweise bei der SPD für viele Wahlkreise noch keine Teamer, also Ansprechpartner für die Nicht-Mitglieder. Auch fehlte es an organisierten Aktionen, die Nicht-Mitglieder hätte unterstützen können. Selbst auf Wahlkampfveranstaltungen des Kanzlerkandidaten Steinbrücks im Wahlkreis wurde nicht hingewiesen. Nicht viel anders sah es auf den Seiten der CDU aus, die ihre Community "TeamDeutschland" aus dem Wahlkampf 2009 fortgeführt hatte. Auch FDP, die Linke und die Grünen boten Communities beziehungsweise Mitmach-Bereiche auf ihren Webseiten an, auf denen man sich für Wahlkampfaktionen online melden oder per Newsletter über Wahlkampfveranstaltungen informieren lassen konnte. Dialog-Ansätze
Einige Dialoge mit den Wählern im Netz gab es dann aber doch. Die SPD versuchte es beispielsweise mit einer Twitter-Townhall, bei der jeder unter dem Hashtag #fragpeer über Twitter Fragen stellen konnte. Peer Steinbrück antwortete dann eine Stunde lang im Livestream und über seinen Twitter-Account beziehungsweise ließ seine Mitarbeiter die Antworten dort tippen. Die wenigen Antworttweets ließen bei den Nutzern jedoch Unmut aufkommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte Hangout, den Video-Chat von Google, der ebenfalls im Livestream übertragen wurde. Sie sprach aber nur mit wenigen ausgewählten Bürgern. Die Grünen setzten wie schon 2009 im Schlussspurt des Wahlkampfes auf ihre Aktion "3 Tage wach". Die letzten 72 Stunden vor dem Wahltermin konnten interessierte Bürger über eine Webseite Fragen zu allen Themen stellen. Über 7.000 Fragen kamen zusammen. Neben grünen Kernthemen wie Energie und Tierschutz ging es vor allem um das umstrittene Steuerkonzept und den Skandal um pädophile Strömungen in der Frühphase der Partei. Twitter oder die Angst vor dem Shitstorm
Der Online-Wahlkampf war aber nicht nur geprägt von den Aktivitäten der Parteien selbst. Twitter beispielsweise bestimmte mehr als einmal die – vor allem auch mediale – Wahrnehmung von Ereignissen. Zu Beginn des Wahljahres sorgten Steinbrücks sogenannte Wohnzimmergespräche für Gesprächsstoff. Geplant waren Besuche bei "normalen" Bürgern zu Hause, doch diese entpuppten sich beim ersten Wohnzimmergespräch als die Eltern einer ehemaligen SPD-Mitarbeiterin. Diese Panne sorgte erst unter dem Hashtag #Eierlikörgate für Hohn und Spott auf Twitter und anschließend in den Medien. Ebenfalls im Januar 2013 entfachte Rainer Brüderle von der FDP durch eine Bemerkung zur "Oberweite" einer "Stern"-Journalistin unter dem Hashtag #aufschrei eine Debatte zum Thema Sexismus auf Twitter und in den klassischen Medien. Mit einer ganz anderen Art von Twitter-Problematik kämpfte Steinbrück dann im Juni 2013, als der sprunghafte Anstieg der Follower-Zahlen erst den Verdacht aufkommen ließ, die SPD hätte Follower gekauft, bevor die Partei klarstellte, sie selbst habe die vielen Fake-Accounts bei Twitter gemeldet. Ebenfalls im Juni 2013 zeigte eine Aussage der Bundeskanzlerin, wie schnell Twitter einen einzelnen Satz zu einer Nachricht machen kann. Beim Besuch des US-Präsidenten Obama in Berlin antwortete die Kanzlerin auf der gemeinsamen Pressekonferenz auf eine Frage zum NSA-Abhörskandal mit dem Satz: "Das Internet ist für uns alle Neuland." Dies verbreitete sich über Twitter rasend schnell. Was folgte, war ein Sturm von Spott und Häme im Netz, der schnell auch Eingang in die Berichterstattung der Massenmedien fand und nahezu alle weiteren auf der Pressekonferenz angesprochenen Themen verdrängte. Second-Screen – TV-Duell online
Twitter war während des ganzen Wahlkampfes immer mal wieder Thema in den klassischen Massenmedien. Der Höhepunkt war allerdings das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück. Das wurde nicht nur auf vier Sendern gleichzeitig übertragen, sondern auch online auf den verschiedensten Kanälen begleitet und analysiert. Vor allem die großen Medien boten spezielle Online-Angebote parallel zum TV-Duell an und griffen vielfach auf Twitter-Meldungen zur Kommentierung zurück. Auf Tagesschau.de konnten die Nutzer den Live-Stream direkt kommentieren. Der "Spiegel" bot schon vor dem TV-Duell einen Vergleich der Anzahl der Tweets, kommentierte während des TV-Duells das Geschehen und überprüfte die von Kanzlerin und Kandidaten verwendeten Zahlen mit schnell recherchierten Zahlen und Grafiken. Die Wochenzeitung "Die Zeit" wiederum forderte ihre Leser auf, mit entsprechenden Hashtags die Kandidaten direkt auf Twitter zu bewerten. Die "Bild"-Zeitung stellte eine Art Barometer zum gleichen Thema auf die Startseite. Auch die Parteien selbst kommentierten online das TV-Duell – auf Twitter und Facebook. Dort verwies die CDU beispielsweise zu den jeweils angesprochenen Themen im Duell immer wieder auf die eigene Fakten-Webseite.
Auch im Anschluss an das TV-Duell spielte Twitter eine Rolle in der Berichterstattung. Einen erstaunlich hohen Stellenwert bekamen dabei Tweets über die schwarz-rot-goldene Kette der Bundeskanzlerin. Das lag sicherlich auch daran, dass jemand einen Twitter-Account unter @schlandkette dafür einrichtete und damit auf Anhieb 6.000 Follower generieren konnte. Daneben wurde in den Massenmedien vor allem die Zahl der Tweets zu den beiden Politikern miteinander verglichen und als Bewertungsmaßstab herangezogen. Dabei ist Twitter aufgrund der insgesamt in Deutschland eher geringen aktiven Nutzerschaft alles andere als repräsentativ, selbst wenn in den 90 Minuten mehr als 173.000 Tweets mit dem Hashtag #TVDuell verschickt wurden. "Spiegel"-Journalist Ole Reißmann errechnete, dass nur 36.000 Twitter-Nutzer über das TV-Duell diskutierte, was gerade mal 0,058 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung entspricht. Zudem twitterten viele Politiker Lobeshymnen auf ihren Kandidaten, was von anderen Nutzern abfällig als "Pflichttweets" kommentiert wurde. Die Tweets der Politiker fanden aber kaum Eingang in die mediale Berichterstattung. Das schafften in erster Linie die satirischen Kommentare. Beobachtung des Wahlkampfes online
Nicht nur beim TV-Duell wurden die Online-Aktivitäten beobachtet, auf einer Vielzahl von Webseiten wurde der Wahlkampf der Parteien im Netz analysiert und verglichen. Teils von Firmen bereitgestellt, die sonst Webbeobachtung für Unternehmen anbieten, teils von Privatpersonen, verschafften diese Webseiten jedem User einen Überblick über die Webaktivitäten der Parteien. Geprägt waren alle Angebote von einen quantitativ vergleichenden Charakter, das heißt die Aktivitäten der Parteien im Netz wurden wie ein horse race fast ausschließlich auf die rein statistischen Werte reduziert. Beispielsweise wurden auf FanpageRadar die Facebook-Aktivitäten der Parteien miteinander verglichen, mit minütlichen Updates zur Menge der Fans, der Posts und der Interaktionen. Auf Bundestwitter.de wurde das Twitterverhalten deutscher Politiker dargestellt, samt Anzahl der Follower, der aktuell wichtigsten Hashtags und aktivsten Accounts. Ähnliches bot das Twitterbarometer, das positive und negative Bewertungen auf Twitter auswertete. Weitere Webseiten berechneten Rankings, erstellten Themenübersichten und packten sie in übersichtliche Grafiken. Auch Google bot in Zusammenarbeit mit politik-digital.de eine eigene Wahlseite an. Dort wurden ebenfalls Informationen zu Parteien, Kandidaten und Wahlkampfthemen dargestellt. Aber auch spezielle Tools wie Google Trends, eine Analyse auf Basis häufig verwendeter Suchbegriffe, kamen zum Einsatz. Das Besondere an diesem Angebot war aber der Anspruch, über das soziale Netzwerk Google+ einen Dialog zwischen Bürgern und Kandidaten herstellen zu wollen. So konnten sich Nutzer in der Rubrik #Debatte in einer virtuellen Stadt bewegen, in der Sprechblasen den Einstieg in verschiedene Themen boten, die dann bei Google+ diskutiert werden konnten. Wie schon bei den anderen sozialen Netzwerken diskutierten hier die Nutzer aber eher miteinander denn mit den Kandidaten oder Parteivertretern. Am Wahltag selbst bot Google die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise über eine Karte an. Wahlentscheidungs-Tools im Netz
Wer sich vor der Wahl nicht entscheiden konnte, dem standen 2013 eine Reihe von Online-Tools als Informations- und Entscheidungshilfe zur Verfügung. Die bekannteste und sicherlich erfolgreichste Orientierungshilfe war der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Seit 2002 soll dieses Online-Tool Bürgerinnen und Bürger helfen, sich über die zur Wahl stehenden Parteien zu informieren, und es erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Wurde der Wahl-O-Mat 2009 über 6,7 Millionen Mal genutzt, so waren es zur Bundestagswahl 2013 über 13,2 Millionen Mal. Nutzer konnten anhand von 38 Thesen aus verschiedenen Politikfeldern herausfinden, welches Parteiprogramm den eigenen Positionen am nächsten kommt.
Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert der Bundeswahlkompass. Auch hier standen Aussagen zu verschiedenen Themen im Mittelpunkt. Zusätzliche Fragen drehten sich um Sympathie und Kompetenzzuschreibung für die Spitzenkandidaten. Außerdem wurde die grundsätzliche Bereitschaft, eine bestimmte Partei zu wählen, abgefragt. Der Bundeswahlkompass erfasste allerdings nur die sieben Parteien, die nach Meinungsumfragen eine Chance auf Einzug in den Bundestag hatten beziehungsweise die in der öffentlichen Debatte besonders vertreten waren. Das Ergebnis wurde den Nutzer am Ende als Grafik präsentiert, die eine Einordnung in die politische Landschaft verdeutlichen sollte.
Ähnliches bietet der ParteieNavi der Universität Konstanz. Auch dort zeigte eine Grafik die Einordnung in die politische Landschaft, aber wie beim Wahl-O-Mat bekam der Nutzer auch gezeigt, mit welchen Parteiprogramm am meisten Übereinstimmungen vorlagen.
Speziell für die Entscheidung über die Direktkandidaten in den 299 Wahlkreisen konzipiert war der Kandidatencheck von Abgeordnetenwatch. Hier konnten Wähler anhand von 24 Thesen herausfinden, welche Einstellung die Kandidaten in ihrem Wahlkreis haben. Die Nutzer kamen über die Eingabe der eigenen Postleitzahl direkt zu den in ihrem Wahlkreis antretenden Kandidaten. Ein Link führte zum Profil der Kandidaten auf abgeordnetenwatch.de, auf dem weitere Information zu finden waren sowie die Möglichkeit bestand, eigene Fragen zu stellen. Bis zum Wahlabend wurde Kandidatencheck fast 600.000 Mal genutzt.
Zusätzlich gab es noch einige themenspezifische Entscheidungshilfen im Netz. So betrachtete der Wahlcheck des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen nur verbraucherpolitische Fragen. Das Netzradar vom Verein Internet & Gesellschaft Collaboratory widmete sich nur netzpolitischen Themen, basierend auf Aussagen aus den Wahlprogrammen, allerdings nur der im Bundestag bereits vertretenen Parteien. Viel Raum für Satire
Neben den ernsthaften Online-Aktivitäten von Parteien, Medien und anderen Akteuren fand sich im Netz aber auch viel Satire. Fast alle Parteien boten Anlässe für satirische Kommentierungen. Das übergroße Wahlplakat der CDU am Berliner Washingtonplatz, auf dem nur die Hände der Bundeskanzlerin in ihrer typischen Haltung zu sehen war, bekam einen eigenen Tumblr-Blog, in dem jeder satirische Bildmontagen einstellen konnte. Ähnlich erging es auch Christian Ude, Spitzenkandidat der SPD bei den Landtagswahlen in Bayern. Sein Wahlplakat, in dem er im wahrsten Sinne des Wortes ein Wort hält, wurde im Netz ebenso parodiert wie die Plakatmotive der FDP. Ernst gemeint hingegen war der Tumblr der Piratenpartei, die ihre politische Programmatik aber in witzigen Motiven verpackte.
Einen maßgeblichen Anteil am satirischen Charakter des Wahlkampfes im Netz hatte nicht zuletzt die Partei des ehemaligen "Titanic"-Chefredakteurs Martin Sonneborn – "Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative", kurz "Die PARTEI". Sie erregte mit satirischen Antworten im Wahl-O-Mat, mit einem Wahlwerbespot zur Familienpolitik, der aufgrund pornografischer Inhalte von YouTube gelöscht, im Fernsehen aber gezeigt wurde, sowie mit einer "iDemo" Aufmerksamkeit. Bei dieser Art von Demo konnten nach Aussage von Sonneborn die Bürger selbst entscheiden, wofür oder wogegen sie demonstrieren wollen. Auf einer Webseite konnte jeder Forderungen und Wahlslogans eintragen, die dann auf diversen Tablets bei einer Demonstration in Berlin vor dem Brandenburger Tor gezeigt wurden. Am Ende waren es nach Angaben der PARTEI über 25.000 Botschaften.
Bis auf solche amüsanten Randerscheinungen war der Online-Wahlkampf 2013 insgesamt aber wenig innovativ und geprägt vor allem von nicht ergriffenen Chancen, das Internet als Kommunikationskanal für einen echten Dialog mit den Wählern zu nutzen.
Dieser Beitrag beruht unter anderem auf teilnehmender Beobachtung, für die sich die Autorin auf verschiedenen Plattformen angemeldet hatte, um die Aktivitäten dort beurteilen zu können. Dafür wurden auch Sachfragen gepostet, um die Reaktionen der Parteien zu überprüfen.
Vgl. Birgit van Eimeren/Beate Frees, Rasanter Anstieg des Internetkonsums – Onliner fast drei Stunden täglich im Netz, in: Media Perspektiven, 17 (2013) 7–8, S. 358–372.
Vgl. Lukas Hellbrügge, E-Campaigning in den Wahlkämpfen zum Deutschen Bundestag und Bayerischen Landtag 2013, August 2013, S. 8, Externer Link: http://www.cap-lmu.de/publikationen/2013/e-campaigning.php (16.10.2013).
Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Nicole Podschuweit, Der Online-Wahlkampf der Parteien: Alternative oder Ergänzung?, in: Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Am Ende der Gewissheiten: Wähler, Parteien und Koalitionen in Bewegung. Die Bundestagswahl 2009, München 2011; Thilo von Pape/Thorsten Quandt, Wen erreicht der Wahlkampf 2.0? Eine Repräsentativstudie zum Informationsverhalten im Bundestagswahlkampf 2009, in: Media Perspektiven, 14 (2010) 9, S. 390–398.
Vgl. L. Hellbrügge (Anm. 3), S. 19f.
Vgl. Olaf Hoffjann/Jeannette Gusko, Der Partizipationsmythos – Wie Verbände Facebook, Twitter & Co. nutzen, Otto-Brenner-Stiftung Arbeitsheft 75, Frankfurt/M., 2013, S. 35ff.
Ebd., S. 36.
Stand: 24. Juni 2013, Externer Link: http://allfacebook.de/userdata (24.6.2013).
Vgl. zum Beispiel Externer Link: http://schwarzgelblog.de/ oder Externer Link: http://blogfraktion.de/ (20.9.2013)
Für diesen Beitrag konnten nur die für Nicht-Mitglieder zugänglichen Bereiche beurteilt werden. Es wurden – soweit möglich – eine Reihe von ländlichen und städtischen Wahlkreisen betrachtet.
Vgl. Wahlkampf nach Obama-Vorbild – und viel Satire, 11.9.2013, Externer Link: http://www.golem.de/news/bundestagswahl-wie-das-internet-die-wahl-entscheidet-1309-101504-2.html (16.10.2013).
Alinka Rother, Die Digitalkämpfer. Ein Rückblick auf den digitalen Bundestagswahlkampf, 26.9.2013, Externer Link: http://politik-digital.de/die-digitalkaempfer-ein-rueckblick-auf-den-digitalen-bundestagswahlkampf (16.10.2013).
Vgl. Laura Waßermann, Peers Eintönigkeit auf 140 Zeichen, 3.9.2013, Externer Link: http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bundestagswahl-2013/twitter-aktion-peers-eintoenigkeit-auf-140-zeichen/8736458.html (16.10.2013).
Externer Link: https://3tw.gruene.de (16.10.2013).
Vgl. Oliver Voß, Steinbrücks falsche Twitter-Freunde, 14.6.2013, Externer Link: http://www.wiwo.de/politik/deutschland/online-wahlkampf-steinbruecks-falsche-twitter-freunde/8352354.html (16.10.2013).
Vgl. Externer Link: http://www.wahlfakten.cdu.de (16.10.2013).
Vgl. Externer Link: https://twitter.com/twitter_politik/status/374272281347772418 (16.10.2013); Isa Sonnenfeld, So verlief das TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück auf Twitter, 1.9.2013, Externer Link: https://blog.twitter.com/de/2013/so-verlief-das-tvduell-zwischen-merkel-und-steinbruck-auf-twitter (3.9.2013).
Vgl. Ole Reißmann, Wir sind die 0,01 Prozent: Die Second-Screen-Twitter-Blase, 2.9.2013, Externer Link: http://olereissmann.de/2013/09/wir-sind-die-001-prozent-die-second-screen-twitter-blase/ (16.10.2013).
Externer Link: http://www.fanpagekarma.com/wahl2013 (16.10.2013).
Externer Link: http://www.bundestwitter.de (16.10.2013).
Externer Link: http://twitterbarometer.de (16.10.2013).
Externer Link: http://www.wahl.de, Externer Link: http://www.online-reputation-manager.de/webpolitics.html, Externer Link: https://pluragraph.de/categories/politik, Externer Link: http://wahlkampfanalyse.de, Externer Link: http://www.wahlrausch.de, Externer Link: http://wahl-o-meter.com (16.10.2013).
Externer Link: http://www.google.de/wahlen (16.10.2013).
Externer Link: http://www.wahl-o-mat.de/bundestagswahl2013/ (16.10.2013).
Vgl. Hagen Albers, Onlinewahlkampf 2009, in: APuZ, (2009) 51, S. 33-38.
Stand: 23.9.2013, Externer Link: http://www.wahl-o-mat.de/bundestagswahl2013/popup_faq.php (23.9.2013).
Ein gemeinsames Projekt der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und der Freien Universität Berlin, Externer Link: http://www.bundeswahlkompass.de (16.10.2013).
Externer Link: http://www.parteienavi.de (16.10.2013).
Externer Link: http://kandidatencheck.abgeordnetenwatch.de (16.10.2013).
Vgl. Newsletter von abgeordnetenwatch.de vom 26.9.2013.
Externer Link: http://www.verbraucher-entscheiden.de (16.10.2013).
Externer Link: http://netzradar.collaboratory.de (16.10.2013).
Externer Link: http://merkelraute.tumblr.com (16.10.2013).
Externer Link: http://udeholdingthings.tumblr.com (16.10.2013).
Externer Link: http://gutgemachtfdp.tumblr.com (16.10.2013).
Externer Link: http://wirstellendasmalinfrage.tumblr.com (16.10.2013).
Vgl. Imke Schröder, "Die Grünen sind die FDP des dummen Mannes". Martin Sonnenborn im Interview, 27.9.2013, Externer Link: http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Die-Partei-Vorsitzender-Martin-Sonneborn-im-Interview-ueber-die-Wahl (30.9.2013).
| Article | , Kathrin Voss | 2021-12-07T00:00:00 | 2013-11-19T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/172970/bundestagswahl-2013-im-netz/ | Im Bundestagswahlkampf 2013 nutzten die Parteien von eigenen Webseiten über Facebook und YouTube bis hin zu Twitter nahezu alle Möglichkeiten im Netz. Gleichzeitig gelang es ihnen aber kaum, das interaktive Potenzial auszunutzen. | [
"Bundestagswahl 2013",
"Online-Wahlkampf",
"Wahlkampf im Social Web",
"TV-Duell",
"Wahlentscheidungs-Tool",
"Wahl-O-Mat",
"Twitter",
"Bundesrepublik Deutschland",
"Deutschland"
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Heimat Almanya | Türkei | bpb.de | Annähernd vier Millionen Menschen kamen im Rahmen des Anwerbeabkommens von 1961 nach Deutschland, etwa die Hälfte von ihnen ging später wieder in die Türkei zurück. 1973 verordnete die Bundesregierung einen Anwerbestopp für Arbeitnehmer aus dem Ausland, wodurch die Arbeitsmigration nach Deutschland insgesamt zurückging, die Zahl der Zugewanderten stieg dennoch weiter an: Die "Gastarbeiter" holten ihre in der Heimat verbliebenen Partner und Kinder nach.
Der Familienmigration in den 1970er-Jahren folgte nach dem Militärputsch von 1980 eine politisch motivierte Migrationsbewegung aus der Türkei, zahlreiche politisch Verfolgte suchten Schutz in Deutschland. Was dem politischen Transnationalismus – also der politischen und sozialen Interaktionen über die Landesgrenzen hinweg – Auftrieb gab: Es entstanden Migrantenorganisationen und eine transnationale politische Solidarität, die den politisch Verfolgten aus der Türkei die Zuwanderung nach Deutschland und die Eingliederung in die Gesellschaft erleichterten.
In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre kam es zu einer Rückwanderung von Türkeistämmigen in die Türkei, deren Zahl auf etwa 400.000 geschätzt wird. Angestoßen wurde sie durch das Rückkehrförderungsgesetz, das von der konservativ-liberalen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl 1983 verabschiedet wurde, und das finanzielle Anreize für die Heimkehr von "Gastarbeitern" und ihren Familien schaffte. Ausschlaggebend für dieses Gesetz waren nicht nur ökonomische Erwägungen, sondern auch die Annahme, dass die meisten Türkeistämmigen in Deutschland aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit in ein christlich geprägtes westeuropäisches Land nicht integrierbar seien.
In den 1990er-Jahren spitzte sich der bewaffnete Kampf zwischen den türkischen Streitkräften und der kurdischen Terrormiliz PKK zu, wodurch eine Welle der Abwanderung aus den Südosten in die Westtürkei und von dort aus auch nach Deutschland ausgelöst wurde. Viele Kurdinnen und Kurden kamen nach Deutschland und beantragten Asyl, wodurch in Deutschland eine transnationale kurdische Diaspora entstand.
Migrationswende
In den 2000er-Jahren kam es dann zu einer Interner Link: Wende in der türkisch-deutschen Migrationsgeschichte: 2006 wanderten erstmals mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei ab als umgekehrt aus der Türkei nach Deutschland zuwanderten. Seit 2005 hat sich die Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland stark verlangsamt, während umgekehrt die Abwanderung aus Deutschland in die Türkei relativ konstant blieb. Im Jahr 1991 wies die deutsch-türkische Migrationsbilanz noch ein Plus von etwa 46.000 Personen zugunsten Deutschlands auf. Im Jahr 2000 waren es noch knapp 10.000, 2006 gab es schließlich eine negative Migrationsbilanz für Deutschland, die sich bis 2014 fortsetzte.
Hierbei sollte beachtet werden, dass die "Zuwanderung" aus der Türkei nach Deutschland "übererfasst" ist, die negative Migrationsbilanz eigentlich noch größer war: Denn die jährlichen Einreisen aus der Türkei nach Deutschland waren beispielsweise in den letzten drei bis vier Jahren etwa drei Mal höher als die an türkische Staatsbürger erteilten Einreisevisa. Daraus lässt sich schließen, dass etwa zwei Drittel der Zugewanderten bereits in Deutschland gelebt haben und daher im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder der deutschen Staatsbürgerschaft sein müssten. Insofern handelt es sich bei einem Großteil der aus der Türkei nach Deutschland Zugewanderten nicht um "Neuankömmlinge", wie es angenommen wird, sondern um "Rückkehrer" (zirkuläre Migration).
2015 wies die deutsch-türkische Migration erstmals seit 2005 wieder eine positive Bilanz auf. Die Zuzüge aus der Türkei nach Deutschland sind von 21.508 im Jahr 2015 auf 24.337, der Wanderungssaldo von 6.649 auf 9.488 im Jahr 2016 angestiegen. Dieser Trend dürfte sich aufgrund von politischen Ereignissen in der Türkei (Putschversuch am 15. Juli 2016, seither Ausnahmezustand) fortgesetzt haben – offizielle Daten dazu existieren jedoch noch nicht.
Das Profil der Mobilität zwischen Deutschland und der Türkei hat sich ebenfalls gewandelt. Die aktuelle deutsch-türkische Migration besteht nicht nur aus der Familienmigration, die in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat, und der Pendelmigration deutscher wie türkeistämmiger Pensionierter. Es finden auch Geschäfts- und Urlaubsreisen und temporäre Aufenthalte von Studenten, Wissenschaftlern und sonstigen Hochqualifizierten in beide Richtungen statt.
Diese immense Intensivierung und Diversifizierung des sozialen, kulturellen und politischen Austauschs ist sowohl Ergebnis als auch Folge der Transnationalisierung, die die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei in der Vergangenheit erfahren haben. Die Transnationalität kommt in den bikulturellen Orientierungen, den Doppelidentitäten und Doppelloyalitäten von Türkeistämmigen zum Ausdruck, aber auch in deren sozio-politischen Aktivitäten, die sich auf beide Länder beziehen.
Transnationale türkische Diaspora in Deutschland
In Deutschland hat sich im Zuge der Zuwanderung aus der Türkei eine transnationale Diaspora herausgebildet, in der soziale, kulturelle und politische Elemente aus der Türkei weiter wirken, sich mit hiesigen Elementen vermischen und beide Gesellschaften und politische Systeme beeinflussen. Dabei spielen die sowohl in Deutschland betriebenen türkischen Medien als auch die in der Türkei aufgelegten, die auch in Deutschland konsumiert werden, eine wichtige Vermittlungsrolle: Sie bilden quasi eine "Zwischenwelt" deutsch-türkischer Beziehungen. Eine nicht zu vernachlässigende Vermittlerfunktion zwischen der Politik und den Türkeistämmigen übernehmen auch die transnational ausgerichteten migrantischen Selbstorganisationen, die den Türkeistämmigen diverse Veranstaltungen anbieten und Interessenvertretung betreiben. Die Türkeistämmigen prägen mit ihren wirtschaftlichen, soziopolitischen und kulturellen Aktivitäten nicht nur die Gesellschaft und Politik in Deutschland nachhaltig mit, sondern auch einen Teil der deutsch-türkischen und der EU-Türkei-Beziehungen.
Von den knapp drei Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Wurzeln in der Türkei sind etwa 1,6 Millionen deutsche und 1,4 Millionen türkische Staatsangehörige. Laut Zensus 2011 liegt die Zahl der Türkeistämmigen mit Doppelpass bei 530.596. Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen ist rückläufig, was in erster Linie mit Einbürgerungen, Verleihung der Staatsbürgerschaft durch Geburt, der Nichtzulassung der doppelten Staatsbürgerschaft und den restriktiven Einreisebedingungen auch bei der Familienzusammenführung erklären lässt.
Verteilung der türkischen Staatsbürger in Deutschland nach Bundesländern 2016 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Der Großteil der türkischen Staatsbürger lebt in den vier großen Flächenländern: In NRW leben 33,57 Prozent, in Baden-Württemberg 17,38 Prozent, in Bayern 13,3 Prozent und in Hessen 10,48 Prozent der türkischen Bürger. In den drei Stadtstaaten leben zusammen 11,94 Prozent der türkischen Staatsbürger in Deutschland; in Berlin 7,23 Prozent, in Hamburg 3,09 Prozent und in Bremen 1,62 Prozent. Schlusslichter sind Sachsen (0,3), Sachsen-Anhalt (0,18), Brandenburg (0,17), Thüringen (0,14) und Mecklenburg-Vorpommern (0,09).
19 Prozent der deutschen Frauen, die eine binationale Ehe führten, hatten einen türkischen Ehemann, 14 Prozent der deutschen Männer mit binationalen Ehen, waren mit einer türkischen Frau verheiratet (Destatis, 18.2.2015). Rund 96.000 türkische Unternehmer in Deutschland beschäftigen derzeit ca. 500.000 Mitarbeiter und erwirtschaften einen Jahresumsatz von ca. 50 Mrd. Euro.
Religion und Türkeistämmige
Im Zuge der Debatten um den politischen Islam, angestoßen u.a. durch die Terroranschläge von 11. September 2001 und den Aufstieg des IS und dschihadistischen Gruppierungen im Nahen Osten und deren Anschlägen in Europa, ist die Skepsis der Deutschen gegenüber Türkeistämmigen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit angestiegen.
Eine repräsentative Erhebung von Kantar EMNID von 2016 hat ergeben, dass 82 Prozent der Deutschen den Islam mit der Benachteiligung von Frauen, 72 Prozent mit Fundamentalismus und 64 Prozent mit Gewaltbereitschaft assoziieren. Währenddessen hält nur 7 Prozent der befragten Türkeistämmigen es für gerechtfertigt, Gewalt anzuwenden, wenn es um die Verbreitung und Durchsetzung des Islam geht. 36 Prozent glauben dagegen, dass nur der Islam in der Lage ist, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Die Erhebung kommt zu dem Ergebnis, dass 13 Prozent der Befragten als religiöse Fundamentalisten einzustufen sind, während 67 Prozent sich als religiös einschätzen. Gleichwohl besuchen nur 28 Prozent der Türkeistämmigen regelmäßig eine Moschee und nur 45 Prozent beten regelmäßig.
Selbsteinschätzung der Türkeistämmigen
90 Prozent der befragten Türkeistämmigen fühlen sich in Deutschland wohl, 87 Prozent bringen ihre Verbundenheit mit Deutschland zum Ausdruck und 70 Prozent besitzen einen starken Willen zur Integration: Sie stimmen der Aussage "Ich möchte mich unbedingt und ohne Abstriche in die deutsche Gesellschaft integrieren", zu.
Gleichwohl fühlen sich 51 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland als "Bürger zweiter Klasse" und 54 Prozent sind der Ansicht, dass ihnen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft keine Anerkennung zuteilwerde, ungeachtet dessen, wie sehr sie sich in die Gesellschaft integrierten.
Politische Präferenzen der Türkeistämmigen
Wahlergebnis türkischer Staatsbürger in Deutschland bei den türkischen Parlamentswahlen, November 2015 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Politisch ist die transnationale türkeistämmige Diaspora in Deutschland überaus heterogen. Auf den ersten Blick lässt sich unterscheiden zwischen vor allem traditionskonservativen und religiösen Menschen, aber auch türkische Nationalisten, die den aktuellen innenpolitischen Kurs der türkischen Regierung unterstützen. Auf der anderen Seite stehen Linke und Liberale verschiedener Couleur sowie Teile der Kurden und Aleviten. Als homogen kann jedoch keine der Gruppen bezeichnet werden, gerade auch unter den Türkeistämmigen in Deutschland, die der türkischen Regierung kritisch gegenüberstehen gibt es Spannungen, so beispielsweise in der Bewertung der PKK als Terrororganisation.
Bei der türkischen Parlamentswahl im November 2015 wählten die Türkeistämmigen in Deutschland mit türkischer Staatsbürgerschaft mit 59,2 Prozent die AKP, mit 15,9 Prozent die pro-kurdisch linke HDP, mit 14,8 Prozent die säkular linke CHP und mit 7,5 Prozent die nationalistische MHP. Etwa 70 Prozent der Stimmen entfielen damit auf Parteien rechts der Mitte, rund 30 Prozent auf Parteien links der Mitte.
Wahlverhalten türkischer Staatsbürger zum Verfassungsreferendum, April 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Beim Verfassungsreferendum im April 2017 stimmten 69,1 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland für die Verfassungsänderung, 30,9 Prozent stimmten dagegen. In der Türkei stimmten 51,4 Prozent dafür, 48,6 Prozent dagegen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich von den 1,4 Millionen in Deutschland wahlberechtigten türkischen Staatsbürgern nur 46,2 Prozent am Verfassungsreferendum beteiligten (zur Parlamentswahl lag die Wahlbeteiligung bei 40,8 Prozent). Es kann daher nicht davon gesprochen werden, dass eine Mehrheit der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger die Verfassungsreform befürwortete.
Parteipräferenzen in Deutschland lebender Türkeistämmiger (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Die Parteipräferenzen der Türkeistämmigen mit deutschem Pass in Bezug auf die deutschen Parteien fällt hingegen wie folgt aus: Die SPD lag bei einer Umfrage aus dem Jahr 2016 mit 69,8 Prozent Zustimmung deutlich vor den Grünen mit 13,4 Prozent und der Linken mit 9,6 Prozent. Schlusslicht ist die CDU mit 6,1 Prozent Zustimmung. In Bezug auf das Verhältnis von Parteipräferenz und Bildungsniveau ergibt sich folgende Tendenz: Je höher das Bildungsniveau, desto geringer die Zustimmung für die SPD. Je höher das Bildungsniveau, desto höher die Zustimmung für die Grünen und die Linke. Bei der CDU ist die Differenz mit + 2,6 Prozent nahezu unbedeutend.
Deutsch-türkische Migration: Eine "Win-Win-Story"
Die deutsch-türkische Migration ist ein gutes Beispiel dafür, dass Wanderungsbewegungen offene Prozesse sind, deren Ausgang unabsehbar ist. Die Migration hat beide Gesellschaften maßgeblich mitgeprägt, indem sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur, Religion und Lebensweise zusammenbrachte. Der Integrationsprozess verlief freilich nicht immer reibungslos und wurde vielfach von interkulturellen Missverständnissen und zuweilen auch Spannungen begleitet. Das soziale Zusammenleben zwischen Türkeistämmigen und Einheimischen funktioniert heute jedoch deutlich besser, als es in den Medien und in der Politik dargestellt wird. Türkeistämmige Migranten sind Teil dieser Gesellschaft, partizipieren am gesellschaftlichen Leben, haben hier Familien gegründet, gehen Erwerbsarbeit nach und bestimmen sogar politisch mit.
Profitiert hat auch die Türkei, etwa von Geldüberweisungen, die bis in die 1980er-Jahre einen beachtlichen Anteil an den gesamten Deviseneinnahmen ausmachten: Geldausgaben von Arbeitsmigranten im Urlaub für konsumtive und investive Zwecke (Immobilienkäufe) sowie diverse Hilfsleistungen.
Ein Teil der Türkeistämmigen hat sich erfolgreich in die zentralen Bereiche der Gesellschaft eingegliedert (Integration). Ein kleiner Teil hat sogar seine Herkunftsidentität aufgegeben und ist in der dominanten Kultur und Mehrheitsgesellschaft aufgegangen (Assimilation). Einem weiteren Teil ist es wiederum nicht gelungen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, und so leben sie mehr oder weniger getrennt von der Mehrheitsgesellschaft (Segregation). Gleichwohl sind auch die gut Integrierten zeitweilig mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Nichtanerkennung konfrontiert. Noch immer werden sie von einem Teil der Mehrheitsgesellschaft als nichtdazugehörige Fremde wahrgenommen und behandelt.
Mit ihren transnationalen Orientierungen und Beziehungen prägen die Türkeistämmigen auch die Beziehungen Deutschlands zur Türkei. Innenpolitische Debatten, die in besonderem Maße in Deutschland lebende Türkeistämmige betreffen – darunter der Umgang mit der NSU-Mordserie oder die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft – avancierten in diesem Zusammenhang schon zu außenpolitischen Themen. Umgekehrt sorgen Spannungen in den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei auch für Verstimmungen zwischen – zumindest einen Teil – der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland und der Mehrheitsgesellschaft, der Politik und Medien.
Verteilung der türkischen Staatsbürger in Deutschland nach Bundesländern 2016 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Wahlergebnis türkischer Staatsbürger in Deutschland bei den türkischen Parlamentswahlen, November 2015 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Wahlverhalten türkischer Staatsbürger zum Verfassungsreferendum, April 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Parteipräferenzen in Deutschland lebender Türkeistämmiger (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Einer parlamentarischen Antwort der Bundesregierung zufolge sind in der Zeit vom 1. Dezember 1983 bis zum 30. September 1984 bei der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken 121.566 Anträge auf Beitragserstattung von türkischen Arbeitnehmern eingegangen. Vgl. Externer Link: bundestag.de
Vgl. Externer Link: Bundesgesetzblatt, 30.11.1983.
Vgl. Claus Hecking, Externer Link: "Kohl wollte offenbar jeden zweiten Türken loswerden", 1.8.2013.
Vgl. Externer Link: BAMF
Laut Angaben des BAMF leben in Deutschland 1.490.731 türkische Staatsangehörige, davon 426.387 (28,6%) in Deutschland geboren (Externer Link: BAMF). Dem Migrationsbericht 2015 nach leben in Deutschland insgesamt 2.851.000 Personen mit türkischem Migrationshintergrund; davon 1.364.000 mit eigener Migrationserfahrung, 1.487.000 ohne eigene Migrationserfahrung. An anderer Stelle wird die Zahl türkischer Staatsangehörige mit Aufenthaltsstatus als 1.506.111 angegeben (Externer Link: BAMF). Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in der Statistik nicht erfasst ist, sodass man die Gesamtzahl der Türkeistämmigen knapp über drei Millionen schätzen kann.
Ab dem Jahr 2000 in Deutschland Geborene haben Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ihre Eltern einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben und sich länger als acht Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhalten.
Vgl. Externer Link: Statista
Vgl. Externer Link: AA
Vgl. Universität Münster, Externer Link: „Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland“).
Ebd.
Vgl. "Externer Link: Hoher Wahlausschuss" (türkisch: Yüksek Seçim Kurulu)
Ebd.
Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Externer Link: Policy Brief 2016-5.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-22T00:00:00 | 2017-07-25T00:00:00 | 2021-12-22T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/tuerkei/253189/heimat-almanya/ | 1961 unterzeichneten die türkische Regierung und die Bundesregierung ein Anwerbeabkommen, mit dem ein Migrationsprozess zwischen der Türkei und Deutschland in Gang gesetzt wurde. In differenzierter Form setzt dieser sich bis heute fort. | [
"Türkei",
"Deutschland",
"Anwerbeabkommen",
"Migration",
"Migrationswende",
"Wahlverhalten",
"Staatsbürgerschaft",
"Doppelte Staatsbürgerschaft",
"Gastarbeiter",
"transnational",
"Diaspora",
"Türkei"
] | 31,084 |
Irmela von der Lühe im Gespräch | Danach – Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945 – 1949 | bpb.de | Irmela von der Lühe kann sich den Eventcharakter beim Besuch von Gedenkstätten nicht erklären. | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-12-29T00:00:00 | 2015-01-27T00:00:00 | 2021-12-29T00:00:00 | https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/konferenz-holocaustforschung/200049/irmela-von-der-luehe-im-gesprach/ | Irmela von der Lühe von der Freien Universität in Berlin über das richtige Maß an Empathie mit den Opfern des Holocausts, über ein verfehltes Zeitzeugenprogramm und über die Eventisierung einer Erinnerungskultur. | [
"Zeitzeugen",
"Empathie",
"Opfer",
"Kriegsopfer",
"Genozid",
"Eventcharakter",
"Erinnerungskultur"
] | 31,085 |
10 Jahre Inklusion | Bildung | bpb.de | Zwar ist die 2006 von der UNO verabschiedete Behindertenrechtskonvention in Deutschland erst am 23.3.2009 in Kraft getreten. Aber die Idee des gleichen Rechts auf Bildung für alle ist viel älter. Sie ist Bestandteil verschiedener internationaler Konventionen seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und noch einmal 1994 ausdrücklich in der Salamanca-Erklärung auf der UNESCO-Konferenz "Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität" bekräftigt worden.
Eigentlich gab es also einen langen zeitlichen Vorlauf für die notwendigerweise tiefgreifenden Veränderungen im Bildungssystem, die sich nicht kurzfristig umsetzen lassen. Andere Länder wie Italien oder die skandinavischen Staaten haben deshalb die Entwicklung ihrer Bildungssysteme schon vor der Jahrtausendwende auf das Ziel "Inklusion" hin orientiert. Die deutschen Bundesländer haben diese Chance versäumt. Deshalb hinken sie schon strukturell deutlich hinter anderen Staaten her oder schaffen es nicht, die eigenen Vorgaben so umzusetzen, dass Inklusion im Alltag für Lehrer*innen und Schüler*innen förderlich wirkt – bestimmt durch ein umfassendes Verständnis von Inklusion, die Lernräume für alle Kinder eröffnet und sie bei ihrem individuell nächsten Schritt unterstützt (vgl. Eichholz 2018). Insofern stellt sich auch die Frage: Hat diese Reform wirklich schon richtig begonnen? Für die vorrangig diskutierte Aufnahme behinderter Kinder in Regelschulen zeigen die Statistiken Dreierlei (vgl. Klemm 2015; 2018):
Die Fortschritte hin zu einer inklusiven Schule unterscheiden sich dramatisch von Bundesland zu Bundesland. Der Grad der Inklusion nimmt mit dem Alter der betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen deutlich ab. Während auf der einen Seite immer mehr Kinder mit dem Etikett "sonderpädagogischer Förderbedarf" in Regelschulen unterrichtet werden, bleibt ihr Anteil in separaten Einrichtungen fast unverändert.
Angesichts dieser aktuell schwierigen Situation stellen sich für einen Rückblick drei Fragen:
Was hätte geschehen müssen? Was ist tatsächlich passiert? Wie kann es trotzdem weitergehen?
Was hätte geschehen müssen?
Versteht man Inklusion umfassend als Anspruch aller Kinder und Jugendlichen, in der Schule entsprechend ihren besonderen Bedürfnissen gefördert zu werden (Prengel 1995), müssen sowohl die Strukturen (keine Selektion nach Klasse 4, keine vergleichende Leistungsbeurteilung) als auch die Gleichschritt-Didaktik geöffnet werden für individuelle Lernwege (vgl. den "Standpunkt Inklusive Schule" des Grundschulverbands 2018). Eine solche Schul- und Unterrichtsentwicklung hätte anknüpfen können an den Erfahrungen der erfolgreichen Grundschulgeschichte, in deren Verlauf die Integration von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten, die Koedukation von Mädchen und Jungen, die Überwindung der Konfessionstrennung und der gemeinsame Unterricht von Behinderten und Nicht-Behinderten ausgebaut worden ist. Dabei wurden seit der Reformpädagogik strukturelle Veränderungen durch didaktisch-methodische Konzepte unterfüttert, auch wenn sie selbst heute den Alltag noch immer nicht bestimmen. Eine Vielzahl von gelungenen Beispielen (vgl. etwa die mit dem Jakob-Muth-Preis oder dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Schulen und die Schulverbünde Archiv der Zukunft sowie Blick über den Zaun) hat gezeigt, was auch andernorts möglich gewesen wäre – und kann zumindest für die weitere Entwicklung als Modell dienen.
Um heute ein inklusives System zu haben, dessen Struktur, dessen Pädagogik und dessen Ausstattung dem hohen Anspruch der Inklusion gerecht wird, hätte man einen 10- oder gar 20-Jahres-Plan mit klarem Ziel und verbindlichen Meilensteinen für realistische Zwischenschritte gebraucht. Ein solcher gradueller, aber konsequent durchgeführter Ausbau fand aber weder bei den Verfechter*innen der Inklusion noch bei den Bedenkenträger*innen Unterstützung.
Was ist tatsächlich passiert?
Das erste Problem war die verbreitete Reduktion des Anspruchs inklusiver Bildung auf die Integration Behinderter in eine strukturell und pädagogisch unveränderte Regelschule. So kritisierte Aaron Benavot, Direktor des Weltbildungsberichts bei dessen Vorstellung am 13. September 2016 in Bonn, der international gebräuchliche Begriff von "inclusiveness" werde hierzulande unter Einschränkung des Begriffskonzepts allein auf die Thematik von Menschen mit Behinderungen angewandt. Deutschland müsse dringend Anstrengungen unternehmen, um die Implikationen des international gebräuchlichen – umfassenden – Verständnisses von Inklusion zu erreichen (zit. nach Imhäuser 2016).
Die zeitliche Bindung der Bildungsstandards und Kompetenztests an Jahrgangsstufen statt einer Orientierung der Anforderungen an den individuellen Voraussetzungen und einer Messung des Lernerfolgs an den individuellen Fortschritten verhindern ein Aufbrechen des gleichschrittigen Unterrichts. Flexible Eingangsphasen oder gar Abitur im eigenen Takt sind nach wie vor Ausnahmen – wie auch individuell absolvierbare Zertifikate, z. B. "Führerscheine" zum 1 x 1, zu Rechtschreibstrategien oder Wortschatzstufen im Fremdsprachenunterricht immer noch nicht die Regel darstellen.
Als zweites Problem erweist sich die Delegation des Inklusionsanspruchs an Sonderpädagog*innen. Für Inklusion liegt die entscheidende Differenz aber nicht zwischen Sonder- und allgemeiner Pädagogik, sondern zwischen Gleichschritt-Didaktik und offenem Unterricht. Die inklusive Schule braucht sowohl "besondere Allgemeinpädagogen" als auch "allgemeine Sonderpädagogen" (Wocken 2005) mit einer großen Schnittmenge an Haltungen, Kompetenzen und gemeinsamer Verantwortung für alle Kinder (Franzkowiak 2011). Die Förderbedürfnisse einzelner Kinder sind nicht durch eine global definierte "Sonder"pädagogik zu befriedigen, sondern sehr viel spezifischer. Die eine Schülerin braucht Übersetzungshilfe: das kann die Gebärdensprache, Russisch oder Arabisch sein. Der andere braucht zusätzliche (Schrift-)Sprachförderung, aber nicht eine Sprachtherapeutin. Und auch Sonderpädagog*innen können oft weniger helfen als eine grundständig ausgebildete Lehrerin, die sich mit Lese-/ Rechtschreibschwierigkeiten oder in Deutsch als Zweitsprache auskennt. Auch die Vielfalt körperlicher und geistiger Behinderungen bzw. ihrer individuellen Kombination zeigt, dass selbst diese Kategorien zu global sind, um die auf Lehrer*innen-Seite jeweils notwendige Förderkompetenz zu bestimmen. Für die meisten Lehrer*innen sind zudem nicht die Lernschwierigkeiten von einzelnen Kindern das zentrale Problem, sondern deren Verhaltensweisen, die sie bzw. die Lerngruppe überfordern.
Das dritte Problem ist die Bindung von zusätzlichen Ressourcen an individuell diagnostizierte Schwächen. Aktuell wird der Anspruch auf Ressourcen allerdings schnell kleingerechnet oder ist unpräzise, weil zu pauschal. Die Zuweisung individueller Stunden oder Assistenzen wiederum führt oft nur zur punktuellen Addition von Kompetenzen statt zur Entwicklung des Kollegiums zu einem multiprofessionellen Team. Die Ansprüche an die Zusammenarbeit dürfen allerdings nicht überhöht werden: Mehrperspektivität ist realistischer als Multidisziplinarität – und schon sehr hilfreich, um einen neuen Blick auf alte Probleme und Handlungsroutinen zu gewinnen. Die Parallelexistenz von Sonder- oder Förderschulen kostet Ressourcen, die fehlen, um das Regelschulsystem zu stärken, indem es nach Schülerzahl bemessene Grundzuweisungen erhält und darüber hinaus Zugang zu speziellen Ressourcen für seltene Sonderbedürfnisse bekommt, z. B. bei spezifischen Sinnesbeeinträchtigungen. Auch Teamarbeit braucht Zeit – in doppelter Hinsicht: Entwicklungszeit und Planungszeit. Für beides sind zueinander kompatible Arbeitszeitmodelle der beteiligten Professionen und zusätzliche zeitliche und finanzielle Ressourcen – z. B. für Supervision, notwendig.
Bleibt ein viertes, grundsätzliches Problem: die Vereinfachungen in der medialen Diskussion. Situativ auftretende Schwierigkeiten in Einrichtungen, die Flüchtlinge oder behinderte Kinder aufnehmen, werden zu grundsätzlichen Hürden der Inklusion verallgemeinert. Ihnen werden Einzelfälle gelungener sonderpädagogischer Förderung gegenübergestellt, ohne sie in die vielfach dokumentierten Probleme separater Schulbildung einzuordnen. Nicht minder irreführend sind Erfolgsgeschichten inklusiven Unterrichts, die ausblenden, vor welchen Schwierigkeiten er andernorts durch unzureichende Ausstattung, nicht verlässliche Besetzung mit Fachkräften oder unausgewogene Zusammensetzung der Lerngruppe steht.
Wie es trotz der Hindernisse weitergehen kann
Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre zeigen Zweierlei: Es macht keinen Sinn, die Aufnahme von Kindern mit wenig ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten in ein Gymnasium zu fordern (vgl. den Fall Henry in Baden-Württemberg oder den Streit um das Gymnasium Horn in Bremen), wenn gleichzeitig weiter entwickelte Kinder auf eine Haupt- statt Realschule oder auf eine Sekundar-, Ober- bzw. Stadteilschule statt auf ein Gymnasium müssen. Die Einengung der Inklusionsdiskussion auf die Integration von Kindern mit besonders starkem Förderbedarf führt in Widersprüche. Inklusion ist nur möglich, wenn die selektive Struktur des Schulsystems grundsätzlich infrage gestellt wird.
Ebenso wenig Erfolg verspricht eine bloß organisatorische Veränderung der Schulstruktur. Wenn Haupt- und Realschule zusammengefasst oder mit Gymnasien zu Gesamtschulen entwickelt werden, ohne dass sich der Unterricht für die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder öffnet, dann werden viele von ihnen unter- oder überfordert. Wir brauchen deshalb ein verbindliches Fortbildungsprogramm, das unterrichtsbegleitend angelegt ist und auch den Lehrer*innen ermöglicht, ihre jeweils nächsten Schritte hin zu einem individualisierenden Unterricht zu gehen (vgl. Groeben/ Kaiser 2012) – und die personellen und zeitlichen Ressourcen in den Schulen, die einen solchen veränderten Unterricht attraktiv und realisierbar erscheinen lassen.
Die Bildungspolitik wird nicht umhinkommen nachzuholen, was vor und nach der Jahrtausendwende versäumt wurde: eine langfristige Reformplanung mit realistischen Zwischenschritten. Diese hat zwei Gegner: Diejenigen, die an einem gegliederten Schulsystem um jeden Preis festhalten, und diejenigen, für die Zwischenschritte Verrat an der Idee der Inklusion bedeuten. Hinzu kommen die Probleme, die sich aus den steigenden Schülerzahlen und dem wachsenden Lehrermangel ergeben: Eine durchgängige Doppelbesetzung zu fordern, wenn schon die verlässliche Versorgung mit einer Lehrkraft nicht gelingt, ist aktuell Utopie. Perspektivisch könnte deshalb für die Entwicklung der inklusiven Schule – analog zum Ganztagsschul-Programm – ein stärkeres Engagement des Bundes notwendig sein (Merz-Atalik 2018).
Die wohnortnahe "Schule für alle" muss das Ziel sein. Sie lässt sich aber heute qualitativ angemessen noch nicht flächendeckend anbieten. Auf dem Weg dahin ist allerdings so viel gemeinsamer Unterricht wie möglich zu gewährleisten – im Übergang z. B. durch inklusive Schwerpunktschulen, auch wenn sie für einige Schüler*innen längere Schulwege nötig machen. Diese – zumindest integrativen – Einrichtungen müssten nicht nur dafür besonders ausgestattet sein, sondern auch für den Auftrag, ihnen zugeordnete "Satellitenschulen" auf ihrem Weg zur Inklusion zu unterstützen. Erfolgreich wird das aber nur sein, wenn die Entwicklung über die Schule hinaus gedacht ist und das soziale Umfeld einbezieht (Montag Stiftung 2018).
Genauso wie ein gemeinsamer Unterricht mehr verlangt, als Kinder mit besonderen Belastungen (gleich welcher Art) in den traditionellen Regelunterricht zu "integrieren", kann sich auch die Entwicklung ganztägiger Bildungseinrichtungen nicht darin erschöpfen, der Halbtagsschule sozial- und freizeitpädagogische Elemente hinzuzufügen (Imhäuser/Köster-Ehling 2017) – für die zudem vielerorts kaum zusätzliche Räumlichkeiten vorhanden sind und deren Personal fachlich bzw. pädagogisch oft nicht zureichend ausgebildet und mit dem Kollegium der Schule nicht vernetzt ist.
Konflikte entstehen aber auch aus den unterschiedlichen Vorstellungen von Pädagog*innen und Eltern. Erstere fordern meist einen rhythmisierten Wechsel von Arbeits- und Erholungsphasen, von individuellen und gemeinsamen Aktivitäten, wie er nur im gebundenen Ganztag möglich ist. Viele Eltern dagegen wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und ihnen eigene Angebote machen (und können dies auch …). Um die pädagogische Qualität der inklusiven Ganztagsschule zu sichern und diese damit für alle attraktiv zu machen, brauchen wir deshalb einen Stufenplan für ihren Ausbau, der sich zunächst auf Schulen in schwieriger Lage konzentriert und der auf dem Weg zur gebundenen Ganztagsschule auch die offene Form oder eine Beschränkung auf zwei, drei Tage pro Woche als Zwischenschritte zulässt.
Quellen / Literatur
Brügelmann, H. (2005): Schule verstehen und gestalten – Perspektiven der Forschung auf Probleme von Erziehung und Unterricht. Lengwil/Schweiz.
Eichholz, R. (2018): Eine Schule für Alle: Die inklusive Schule. In: Rathmann, K./ Hurrelmann, K. (Hg.): Leistung und Wohlbe_ nden in der Schule: Herausforderung Inklusion. Weinheim, S. 368 – 382.
Franzkowiak, T. (2012): Meine Schüler, deine Schüler, unsere Schüler – Welche Kompetenzen erwarten GrundschullehrerInnen von den sonderpädagogischen Lehrkräften im Gemeinsamen Unterricht? In: Gemeinsam leben. Zeitschrift für Inklusion, 20 (1), 12 – 19.
Groeben, A. v. d./ Kaiser, I. (Hg.) (2012): Werkstatt Individualisierung. Hamburg. Grundschulverband (2018): Standpunkt Inklusive Schule. Die Verschiedenheit der Kinder respektieren – Eine inklusive Grundschule für alle Kinder entwickeln. Frankfurt/M.
Imhäuser, K. (2016): Bildung für nachhaltige Entwicklung und Implementierungsmechanismen in der schulischen Infrastruktur. Externer Link: https://schulen-planen-und-bauen.de/2016/12/08/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung/ [Abruf: 3.1.2019]
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Konzept und Praxis eines forschenden Projekts. Beiträge zur Sozialästhetik, Band 14. Hg. von der Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft. Bochum/Freiburg i. Br., S. 98 – 104).
Klemm, K. (2015): Inklusion in Deutschland. Daten und Fakten. Gütersloh.
Klemm, K. (2018): Unterwegs zur inklusiven Schule. Lagebericht 2018 aus bildungsstatistischer Perspektive. Gütersloh.
Krönig, F. K./Neubert, T. (Hrsg.) (2017): Musikalisch-kulturelle Bildung an Ganztagsgrundschulen. Konzept und Praxis eines forschenden Projekts. Beiträge zur Sozialästhetik, Band 14. Hg. von der Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft. Bochum/Freiburg i. Br.
Merz-Atalik, K. (2018): 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. In: Grundschule aktuell, H. 143. 40 – 41.
Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (Hg.) (2018): Inklusion ist machbar! Das Erfahrungshandbuch aus der kommunalen Praxis. Berlin.
Rathmann, K./Hurrelmann, K. (Hg.) (2018): Leistung und Wohlbefinden in der Schule: Herausforderung Inklusion. Weinheim.
Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik (2. Aufl.). Opladen.
Wocken, H. (2005): Allgemeine Sonderpädagogin oder Besondere Allgemeinpädagogin? Vortrag auf dem Symposion des Instituts für Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg am 22. Juni 2005. Externer Link: http://www.hans-wocken.de/Werk/werk36.pdf [Abruf: 5.1.2019]. Dieser Beitrag erschien zuerst in: Gemeinsam Lernen – Zeitschrift für Schule, Pädagogik und Gesellschaft, Ausgabe 2/2019, S. 32 – 37. Frankfurt/M.: Debus Pädagogik Verlag.
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-05T00:00:00 | 2019-10-18T00:00:00 | 2022-01-05T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/298912/10-jahre-inklusion/ | 10 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention gestaltet sich die Umsetzung von Inklusion in Deutschland nach wie vor schwierig. Was hätte geschehen müssen und was ist tatsächlich geschehen? Welche Probleme zeichnen sich ab und wie ka | [
"Bildung",
"Zukunft Bildung",
"Dossier Bildung",
"Schule",
"Erziehung",
"Universität",
"Studium",
"Ausbildung",
"Bildungspolitik",
"Inklusion",
"Sonderpädagogik",
"Behindertenrechtskonvention",
"Förderbedarf",
"Schulunterricht",
"Behinderte",
"Sonderschule",
"Förderschulen"
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DIE LINKE | Bürgerschaftswahl Bremen 2023 | bpb.de |
DIE LINKE (DIE LINKE)
Die Partei "DIE LINKE" (DIE LINKE) entstand im Juni 2007 aus einem Zusammenschluss der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) und der "Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative" (WASG). Langfristig verfolgt sie das Ziel, den Kapitalismus zu überwinden und einen "demokratischen Sozialismus" zu begründen. Bereits bei der Bürgerschaftswahl im Mai 2007 trat eine Listenverbindung unter dem vorläufigen Namen "Die Linke." an und zog mit 8,4 Prozent erstmals in ein westdeutsches Landesparlament ein. Bei der Bürgerschaftswahl 2019 gelang der LINKEN mit 11,3 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis auf Landesebene. Sie trat nach der Wahl in ein Regierungsbündnis mit SPD und GRÜNEN ein. Bei der bevorstehenden Bürgerschaftswahl strebt DIE LINKE mit ihren Spitzenkandidatinnen und Senatorinnen Kristina Vogt und Claudia Bernhard erneut eine Regierungsbeteiligung an.
Fakten zur Partei
Gründungsjahr Landesverband: 2007* Landesvorsitz: Anna Fischer, Christoph Spehr* Mitgliederzahl in Bremen: 667 (Stand 31.12.2022)* Wahlergebnis 2019: 11,3 %
* nach Angaben der Partei
DIE LINKE in Bremen will einen sozialen Politikwechsel herbeiführen und beansprucht in ihrem Leitspruch zur Wahl, das "neue Rot" zu sein. Soziale Anliegen nehmen im Wahlprogramm einen hohen Stellenwert ein. So will die Partei auf Landesebene einen Sozialtarif für Strom und mittelfristig einen ticketlosen und kostenfreien Öffentlichen Personennahverkehr einführen. Außerdem will sie einen Reformprozess im Bildungswesen hin zu einer "inklusiven Schule für alle" auf den Weg bringen. Es ist in diesem Zusammenhang das erklärte Ziel, die Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu überwinden. Um ihre Forderungen zu finanzieren, bekennt sich DIE LINKE dazu, die Schuldenbremse aus der Landesverfassung zu streichen. Des Weiteren will sie die Grundsteuer auf Immobilien sowie die Gewerbesteuer erhöhen. Ein wichtiges Anliegen ist auch die Schaffung eines Ausbildungsfonds für Jugendliche, der von Betrieben finanziert werden soll, die keine Ausbildung anbieten.
Im Bereich Wirtschaft wirbt DIE LINKE für eine aktive staatliche Industriepolitik und eine Transformation zu einer klimafreundlichen Wirtschaft. In diesem Zusammenhang setzt sie sich für eine Dekarbonisierung des Bremer Stahlwerks durch den Einsatz von grünem Wasserstoff ein. Um der Personalnot im Gesundheitswesen zu begegnen, plant DIE LINKE die Einrichtung von Medizinischen Versorgungszentren, in denen verschiedene Ärztegruppen und andere medizinisch-pflegerisch Tätige ihre Dienste gemeinsam anbieten.
DIE LINKE (DIE LINKE)
Gründungsjahr Landesverband: 2007* Landesvorsitz: Anna Fischer, Christoph Spehr* Mitgliederzahl in Bremen: 667 (Stand 31.12.2022)* Wahlergebnis 2019: 11,3 %
* nach Angaben der Partei
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2023-04-17T00:00:00 | 2023-04-11T00:00:00 | 2023-04-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/bremen-2023/519943/die-linke/ | DIE LINKE entstand 2007 aus dem Zusammenschluss der PDS mit der WASG und ist seitdem in der Bürgerschaft vertreten. Soziale Anliegen besitzen im Wahlprogramm einen hohen Stellenwert. | [
"DIE LINKE (DIE LINKE)",
"Bürgerschaftswahl Bremen 2023",
"Wer steht zur Wahl"
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bpb:analyse-Frühstück nach der US-Wahl 2016 | Die bpb in Bonn | bpb.de | Donald Trump ist zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt worden. Das für viele äußerst überraschende Ergebnis analysierten Fachleute aus Wissenschaft und Medien am Morgen nach der Wahl. Der Einladung zum Analyse-Frühstück waren am 9. November 2016 über 70 Interessierte gefolgt. Von 9 bis 11 Uhr diskutierten im bpb:medienzentrum in Bonn:
Dr. Katrin Amian, Leiterin des Referats Nordamerika, Australien, Neuseeland, Ozeanien der Alexander von Humboldt-Stiftung Dr. Elisabeth Schäfer-Wünsche, Privatdozentin North American Studies Program der Universität Bonn Dr. Helge Matthiesen, Chefredakteur des General-Anzeigers Amien Essif, amerikanischer Volontär der Deutschen Welle
bpb-Pressesprecher Daniel Kraft moderierte die Veranstaltung und übernahm den Staffelstab der Kolleginnen und Kollegen aus Berlin, die zuvor die US-Wahl im Rahmen einer langen Wahlnacht verfolgt hatten.
Hier können Sie das Video zur Wahlnacht ansehen:
Dass so wenige Menschen – Experten wie Nichtexperten – mit dem Sieg Trumps gerechnet hatten, führte Dr. Katrin Amian, Leiterin des Referats Nordamerika, Australien, Neuseeland, Ozeanien der Alexander von Humboldt-Stiftung, darauf zurück, dass viele Prognosen zu wenig detailliert ausgefallen waren. "Zu viele Teilinteressen wurden vergessen, zu große Bevölkerungsteile über einen Kamm geschoren", so Amian.
Dr. Elisabeth Schäfer-Wünsche, Privatdozentin im North American Studies Program der Universität Bonn, sagte, sie müsse sich selbst eingestehen, dass die Möglichkeit eines Trump-Sieges, von ihr und ihrem Umfeld "emotional nicht angedacht" und nicht vorhergesehen worden war. "Auch wenn immer wieder gesagt wurde, dass es knapp aussieht, hat man sich in Europa wohl einige Illusionen gemacht", folgerte Schäfer-Wünsche. Die Erfolgschancen, die Populismus mittlerweile habe, seien unterschätzt worden.
"Wenn es dort ähnlich ausgehe, würden sich nach der kommenden Wahl in Frankreich viele Fragen ganz neu stellen", schlug auch Dr. Helge Matthiesen, Chefredakteur des General-Anzeigers Bonn, die Bogen nach Europa. Der Präsident Trump sei allerdings für viele Überraschungen gut, positive wie negative. Spannend sei vor allem zu beobachten, "wie Trump mit den Menschen umgeht, die ihn gewählt haben, was er ihnen anbietet".
Auch für Amien Essif, US-amerikanischer Volontär der Deutschen Welle, war das Wahlergebnis eine Überraschung. Er glaubt, dass viele US-Bürgerinnen und -Bürger den Wahlkampf wie eine Show im Reality-TV verfolgt hätten. Auf das Wahlverhalten seiner Landsleute angesprochen erklärte er: "Vereinfacht gesagt, wählen Amerikaner immer den Change. Vor acht Jahren war Obama der Change, diesmal ist es Trump."
Nach einer ersten Bilanz wurde gegen 9.30 Uhr nach New York zu Ines Pohl, Korrespondentin der Deutschen Welle, geschaltet. Sie sagte, dass Trump, um überhaupt handlungsfähig zu sein, die Brücken zu seiner eigenen Partei wieder aufbauen muss. "Denn bei den Republikanern gibt es sehr viele Leute, die noch nicht mit ihm zusammenarbeiten wollen", so Pohl.
Wie sich das Wahlergebnis auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen auswirken wird, war für alle Expertinnen und Experten in der Runde noch nicht ersichtlich. "Trump war in dieser Hinsicht sehr unpräzise, will sich international eher zurückziehen", erklärte Dr. Jeff Peck, Direktor/Europe des Beratungsunternehmens AKA | Strategy, der live aus Berlin zugeschaltet war. Was das wirklich für die transatlantischen Beziehungen bedeutet, bleibe abzuwarten.
Auf einer Twitterwall gaben und geben die Kommentare zum Wahlausgang Aufschluss über den aktuellen Diskurs zum Thema in den sozialen Netzwerken: Externer Link: http://twitwalls.com/wall/frag_die_bpb.
Schließlich gab Ulrike Christl von der n-ost Redaktion (ebenfalls zugeschaltet aus Berlin) eine kurze Zusammenfassung über die Berichterstattung der europäischen Medien zur Wahl des neuen US-Präsidenten Donald Trump: Externer Link: www.eurotopics.net.
Die ganze Veranstaltung können Sie hier nachhören: | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-02-04T00:00:00 | 2019-04-16T00:00:00 | 2022-02-04T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/standorte/bonn/289611/bpb-analyse-fruehstueck-nach-der-us-wahl-2016/ | Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Deutsche Welle luden mit freundlicher Unterstützung des General-Anzeigers am 9. November ins bpb:medienzentrum ein: Erste Einschätzungen zur Wahlnacht aus wissenschaftlicher und journalistischer Persp | [
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Partikularismus statt Pluralismus: Identitätspolitik und Presse im Irak | Arabische Welt | bpb.de | Einleitung
Am 7. März 2010 waren die Irakerinnen und Iraker aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Einen klaren Sieg gab es für keine der angetretenen Listen. Aus Enttäuschung behauptete dann auch fast jede der ins Parlament gewählten Parteien, betrogen worden zu sein und erhob gegen die anderen Vorwürfe der Behinderung während des Wahlgangs und der Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung. Verschiedene Spitzenpolitiker beschworen das Wiederaufleben der Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten sowie Arabern und Kurden, falls nicht - zu ihren Gunsten - Nachauszählungen vorgenommen und die Regeln der Regierungsbildung verhandelt werden würden.
Was symbolisch für eine Neuordnung im Irak stehen sollte, bestätigte die ethno-konfessionelle Spaltung der Politik. Dabei setzt die Politik die Medien ein - nicht nur, um dem Volk tagespolitische Entscheidungen zu erklären, sondern auch, um die Bildung kollektiver Identitäten zu unterstützen. Politische Neuordnung und Schwierigkeiten mit der Vielfalt
Als die "Koalition der Willigen" im März 2003 gegen den Irak in den Krieg zog, tat sie das bekanntermaßen mit der Begründung, das Land besitze Massenvernichtungswaffen und sei in die Anschläge vom 11. September 2001 verwickelt gewesen. Mit der symbolischen Handlung des Niederreißens einer riesigen Statue von Saddam Hussein am 9. April 2003 in Bagdad wurden die Irakerinnen und Iraker für befreit erklärt - befreit von einem Regime, das zwischen den Jahren 1968 und 2003 innere Gegner durch Angst und Terror unterdrückt oder (wie in Kurdistan in den Jahren 1983 und 1988) in genozidalen Verfolgungsmaßnahmen vernichtet hatte, und das blutige Kriege mit dem Iran (1980-1988) und gegen Kuwait (1990) geführt hatte. Nun versprachen die neuen Befreier den Irakerinnen und Irakern viele Dinge: die Reintegration in die internationale Gemeinschaft nach 13 Jahren des Leidens und der Isolation durch das Embargo, den ehemals Unterdrückten Hilfe bei der Aufklärung der Verbrechen des Baath-Regimes, Demokratie und Pluralismus sowie Meinungs- und Pressefreiheit.
Aber das Sterben im Irak ging weiter. So spricht der Iraq Body Count von circa 25000 zivilen Opfern in den Jahren 2003 bis 2005 und von 51500 in den Jahren 2006 und 2007. Im Jahre 2008 sank diese Zahl auf etwa 9200 und 2009 nochmals auf 4650. Der dramatische Anstieg der Opferzahlen 2006 und 2007 war eine Folge der politischen Neuordnung des Irak. Vor April 2003 hatte eine Elite aus der Bevölkerungsgruppe der sunnitischen Araber (die etwa 20 Prozent der irakischen Bevölkerung ausmachen) regiert. Diese hatte versucht, den schiitischen Arabern (etwa 55 Prozent), den mehrheitlich sunnitischen Kurden (etwa 20 Prozent) sowie den kleineren Minderheiten wie Turkmenen, Christen, Yeziden, Mandäer und andere (zusammen etwa 5 Prozent) ihre Vorstellung von einem Irak als Teil der großen sunnitisch-arabischen Gemeinschaft aufzuoktroyieren. Gleichzeitig ließ der Staat, vermittelt durch Wohlfahrtspolitik, die Bevölkerung an der Erdölrente partizipieren.
Teilweise gab sich das Baath-Regime säkular, aber insbesondere nach dem Kuwait-Krieg 1990 wurde aus innen- und außenpolitischen Gründen der Islam als Element der irakischen Identität aufgewertet. Der Sturz des Baath-Regimes im Jahr 2003 bot Akteuren aus bislang marginalisierten Gruppen die Gelegenheit der Übernahme von Regierungsgeschäften, legitimiert durch die Wahlen im Januar 2005, das Verfassungsreferendum im Oktober 2005 und die Wahlen im Dezember desselben Jahres. Siegerin der Wahlen war eine Koalition aus (mehrheitlich arabischen) schiitischen Parteien mit religiös-konservativen Einstellungen. Gemeinsam mit den seit 1991 in Kurdistan herrschenden Parteien sowie einigen sunnitisch-arabischen "Alibi-Politikern" wurde eine Konsens-Regierung gebildet und führende Positionen nach ethnisch-konfessioneller Herkunft quotiert: Ministerpräsident wurde ein Schiit, seine Stellvertreter ein Kurde und ein Sunnit, Staatspräsident wurde ein Kurde, seine Stellvertreter ein Schiit und Sunnit.
Das Amt des Ministerpräsidenten erhielt Nuri al-Maliki von der schiitischen Islamischen Daawa Partei. Hoschyar Zebari, ein Spitzenpolitiker der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK), wurde Außenminister und Jalal Talabani, der Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), wurde Staatspräsident. Dies symbolisierte auch den Bruch mit der arabisch-sunnitischen Dominanz auf der Ebene höchster politischer Vertretung und Entscheidung.
Auf der Verfassungsebene erfolgte der Bruch unter anderem mit Begriffen wie "föderales System" (Präambel und Artikel 1), "pluralistisches System" (Präambel) und der Beschreibung des Irak als ein Staat mit "zahlreichen Nationalitäten, Religionen und Konfessionen" (Artikel 3). Allerdings ist der Verfassungstext als ein Kompromiss zwischen den an seiner Entstehung beteiligten partikularistischen Akteuren zu verstehen und enthält viele Artikel, die Raum für Interpretation eröffnen. So garantiert Artikel 38 Meinungs- und Pressefreiheit, aber nur sofern der Gebrauch dieser Rechte "nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt".
Der überwiegende Teil der Sunniten hatte die Wahlen und das Referendum boykottiert. Ihnen war klar gewesen, dass nur die zahlenmäßig überlegenen Schiiten und Kurden gewinnen konnten. Denn aufgrund der Schwäche sunnitischer Akteure in den Übergangsregierungen und anderen Gremien waren sie von der Festlegung der Spielregeln so gut wie ausgeschlossen gewesen. Außerdem hatten sie durch den Umsturz und die Besatzungspolitik an Privilegien verloren und waren am meisten von den Entlassungen und Degradierungen im Rahmen der Entbaathifizierung in Militär, Polizei und zivilen staatlichen Einrichtungen betroffen.
Schließlich war der Boykott aber auch Ausdruck extremer Unsicherheit von Menschen, deren Identität plötzlich abgewertet wurde. Sie sollten akzeptieren, zu einer Minderheit zu gehören und bisher als negativ geltende Differenzen im ethnisch und religiös vielfältigen Irak als positiv anerkennen.
Infolge der Wahlen nahm die Gewalt vor allem zwischen Schiiten und Sunniten zu, und der von al-Qaida nahestehenden sunnitischen Extremisten im Februar 2006 verübte Anschlag auf eines der schiitischen Heiligtümer, die al-Askari Moschee in Samarra, markierte den Beginn schrankenloser, konfessionell begründeter Gewalt im Irak. Diese konnte erst eingedämmt werden, als die Besatzungsmacht und die Regierung Nuri al-Malikis sunnitischen Stammesführern finanzielle Angebote machte und sie in die Sicherheitsstrategien integrierte.
Nuri al-Maliki profitierte zunächst von dem Rückgang der Gewalt: Aus den Provinzratswahlen Anfang 2009 ging seine Allianz für den Rechtsstaat, die sich von ehemaligen Alliierten wie den Anhängern Muqtada al-Sadrs und dem Hohen Islamischen Rat im Irak getrennt und stattdessen mit weniger religiös-radikalen Kräften verbündet hatte, als Gewinnerin hervor. Als es jedoch bei den Parlamentswahlen im März 2010 keinen sunnitischen Boykott gab und regionale Akteure auf landesweite Repräsentanz setzten, verlor al-Maliki knapp gegen das vom arabisch-schiitischen Säkularisten Iyad al-Allawi geführte Bündnis al-Iraqiyya, in dem Vertreter diverser Konfessionen und politischer Einstellungen antraten. Trotz rhetorischer Bekenntnisse zu "Pluralismus" (ta'addudiyya) und "Konsens" (tawâfuqiyya) offenbaren auch politische Vertreter ehemals marginalisierter Gruppen Schwierigkeiten mit der ethnischen und religiösen Pluralität im Irak - und zwar immer dann, wenn es um materiellen Ressourcen, Revenuen und Macht geht.
Symbolisch stehen dafür die Provinz und die gleichnamige Stadt Kirkuk. In Kirkuk lebte nach den Volkszählungen von 1957 und 1977 neben einer arabischen, turkmenischen und christlichen Minderheit eine Mehrheit von Kurden. Da hier jedoch das zweitgrößte Erdölfeld des Irak liegt, betrieb das Baath-Regime ab Mitte der 1970er Jahre eine massive Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik gegenüber den Kurden und forcierte die Ansiedlung von Arabern. Laut aktuell geltender Verfassung des Irak sollte die Arabisierung durch Wiederansiedlung der vertriebenen Kurden rückgängig gemacht und durch Volkszählung und Referendum der Bewohner geklärt werden, ob die Provinz formal an die eigenständige Region Kurdistan angegliedert wird. Faktisch ist sie es bereits.
Allerdings blieben Volkszählung und Referendum bislang aus, und die Streitigkeiten gehen weiter. Vermittlungen externer Akteure wie der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) scheiterten an der wenig kompromissbereiten Haltung der kurdischen Regionalregierung in Erbil einerseits und Nuri al-Maliki in Bagdad sowie einer Reihe arabischer und turkmenischer Interessensgruppen andererseits.
Geht es um das Verhältnis von Regierung zu Provinzen und Regionen und die Zukunft eines Iraks im Geiste des Föderalismus, um den Abzug der Besatzungskräfte, das Verhältnis von Staat und Religion, oder die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, so verlaufen Konfliktlinien längst nicht einfach zwischen "den" Sunniten, Schiiten und Kurden. Vielmehr gibt es eine Reihe von Akteuren, die miteinander um politische Macht, die Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen oder die Einnahmen aus Ölgeschäften und ausländischen Investitionen ringen. Dazu gehören Parteien nationalistischer, säkularer, liberaler, kommunistischer, religiöser oder ethnisch-basierter Couleur, ferner religiöse Akteure mit politischem Gewicht wie Großajatollah Ali al-Sistani und die schiitischen Autoritäten (marja'iyya), außerdem tribale Führer und schließlich Interessenvertreter städtischer Eliten, die sich auf vormoderne wie moderne Formen sozialer Beziehungen stützen.
Partikularismus ist das herrschende Prinzip politischen Handelns, und die Akteure bedienen sich klassischer und neuer Medien, um ihre Politik zu bewerben und zu legitimieren. Die Identitätsangebote zielen darauf, den durch die Unsicherheit Gelenkten mehr Sinn und "Halt" zu verleihen. Medienland Irak
Nach dem Jahr 2003 erlebte der Irak auch eine enorme Transformation der Medienlandschaft. Hatte es zuvor nur regimekonforme und Medien der Baath-Partei gegeben, schossen nun insbesondere Zeitungen wie Pilze aus dem Boden. Anders als in Kurdistan, wo seit 1991 die Parteien die Medien fest im Griff halten, trat in den anderen Teilen des Irak auch eine Reihe von Akteuren ohne Parteibindung in Erscheinung. Gab es in den ersten Monaten nach dem formalen Ende des Krieges nur fünf Tageszeitungen, wuchs die Zahl der Tages- und Wochenblätter auf 180 im Jahre 2006.
Jenes Jahr war zugleich aber auch, wie es der Chefredakteur der unabhängigen irakischen Nachrichtenagentur Aswat al-Iraq Zuhair al-Jezairy ausdrückt, eine "Tragödie für die gesamten Medien und die Journalisten im Irak". Insgesamt 86 Reporter, Redakteure, Kameraleute, Techniker und andere Mitarbeiter starben durch gezielte Attentate, bei Anschlägen und nach Entführungen. Im folgenden Jahr starben weitere 79 Medienmitarbeiter. Selbst Zeitungsverteiler auf den Basaren gerieten in die Schusslinie. So erzählt der Chefredakteur der privaten Tageszeitung al-Sabah al-Jadid Ismail Zayer: "Bis Ende 2006 verloren wir durch die Gewalt der Schiiten und Sunniten zwölf junge Verteiler in Bagdad. Am Ende wollte keiner mehr mit uns arbeiten." Der Zeitungsmarkt brach in einigen Teilen des Landes vorübergehend ein, was vor allem die privaten Zeitungen und diejenigen kleinerer Gruppen traf. Zeitungen einflussreicher Parteien wurden ohnehin eher in den eigenen Strukturen und den (umgestalteten) Einrichtungen des Staates verteilt.
Die Gründung einer Zeitung erwies sich als ein beliebtes Projekt nicht nur von etablierten Parteien, sondern auch von politischen Führungskräften, die sich ein Privatblatt leisten und über dieses eigene politische Positionen verbreiten wollten, ohne von Beschlüssen der Führungsgremien abhängig zu sein. Hinzu kamen neue Zeitungsgründungen durch eine Reihe von Kulturschaffenden und Akademikern mit und ohne Exilhintergrund. Auch zivilgesellschaftliche Gruppen organisierten private Spenden und Zuwendungen von ausländischen Organisationen, um durch Zeitungen ihre Ideen zu verbreiten und ihre eigenen Aktivisten in der Medienarbeit zu trainieren. Neben Neugründungen kam es in der Vergangenheit aber auch zu vielen Schließungen aus politischen und finanziellen Gründen: durch die US-amerikanische Besatzung, die irakische und kurdische Regierung, örtliche Milizen oder einfach, weil den Betreibern das Geld ausging. Reichweite von Presse
Dabei bleibt die Reichweite von Presse grundsätzlich aus mehreren Gründen beschränkt. Erstens, so regional die politischen Akteure verankert sind, so regional begrenzt ist die Zirkulation ihrer Zeitungen. Dies gilt auch für Blätter der irakischen Regierung wie die Tageszeitung al-Sabah. Diese vom Volumen her umfangreichste und mit etwa 20000 Stück auflagenstärkste Zeitung wurde 2003 vom Iraqi Media Network (IMN) gegründet. Das IMN wurde von der Koalitions-Übergangsverwaltung als eine Art öffentlich-rechtliche Anstalt errichtet - "auf den Trümmern des zerstörten Informationsministeriums".
Hauptzirkulationsgebiet von al-Sabah wie auch für viele andere Zeitungen ist die Hauptstadt Bagdad. In anderen, vor allem der kurdischen Region, wird sie jedoch wenig gelesen. So verkaufen lokale Händler im kurdischen Sulaimaniya täglich weniger als zehn Stück. Das mangelnde Interesse liegt weniger an der arabischen Sprache, die für Kurden eine Zweit- oder gar Fremdsprache ist. Vielmehr wird sich der Zeitung verweigert, weil sie ein Regierungsblatt ist. Die international vertriebene arabische Tageszeitung al-Sharq al-Awsat hingegen erfreut sich größerer Beliebtheit.
Zweitens ist die Reichweite von Zeitungen durch die Logik des Krieges eingeschränkt; wo geschossen wird, kann sich Presse kaum entwickeln. Drittens behindert lokal und regional durchgesetzte hegemoniale Gewalt einzelner politischer Akteursgruppen die Pressefreiheit; anders lautende Meinungen werden unterdrückt. Ein vierter Grund für die eingeschränkte Reichweite ist, dass statistisch gesehen 17,5 Prozent der irakischen Männer und Frauen über 15 Jahre Analphabeten sind. Zeitungen werden von der Mittelschicht für die Mittelschicht gemacht. Allerdings trägt die intensive Kommunikation von Menschen auf dem Basar, am Arbeitsplatz, der Universität sowie in Familie und Nachbarschaft zur (interpretativen) Verbreitung von gedruckten Nachrichten bei.
Geht es um aktuelle Informationen aus Politik und Gesellschaft, ist neben den etwa 80 lokalen und überregionalen Radiostationen das Fernsehen die Hauptquelle. Zusätzlich zu den lokalen TV-Sendern betreiben Parteien, mit Parteien verbundene oder unabhängige Privatleute sowie der irakische Staat insgesamt mehr als drei Dutzend Satelliten-Fernsehstationen. Die am meisten gesehenen irakischen Sender in Bagdad scheinen die privaten Sender al-Sharqiyya und al-Sumaria, der Regierungssender al-Iraqiyya sowie der US-amerikanisch finanzierte Sender al-Hurra zu sein. Ein Grund dafür mag die ausgewogene Verbindung von Information mit Unterhaltung sein. Geht es um Nachrichten ist für viele Iraker auch al-Jazeera eine wichtige Quelle.
In Kurdistan dominieren die Satellitensender der DPK und PUK, Kurdistan TV beziehungsweise Kurd Sat. Beide begannen mit der Ausstrahlung bereits Ende der 1990er Jahre. Außerdem sehen die Leute seit einigen Jahren auch den Satellitensender KNN, der zum Medienimperium ehemaliger PUK-Politiker und ihrer neu gegründeten Wahlplattform Goran (Wechsel bzw. Veränderung) gehört. Zur Unterhaltung schalten Araber wie Kurden allerdings oft lieber auf internationale und arabische Musik- und Filmsender.
Wie auch anderenorts nahm in den vergangenen Jahren das Internet an Bedeutung zu. Die Iraker holten schnell nach, was ihnen - mit Ausnahme Kurdistans - vor 2003 verwehrt war. Wie viele von Irakern betriebene Webseiten und Blogs existieren, lässt sich schwer erfassen. Das Internet als Informationsquelle und Kommunikationsort nützt jedoch eher den Lese- und Schreibkundigen und vor allem den jungen Leuten. Durch die unzureichende Stromversorgung und noch unterentwickelte Infrastruktur von Providern ist der Zugang zum Netz im gesamten Land eingeschränkt.
Das Klima von Gewalt und Krieg machte insbesondere die News-Ticker zu einem wichtigen Teil von Strategien des Überlebens. Denn, so Zuhair al-Jezairy, "der Nachrichten entsprechend muss ich entscheiden, ob ich meine Kinder zur Schule schicke oder nicht, ob ich einkaufen gehe oder nicht, oder ob ich von einer Minute zur nächsten in einen anderen Raum meines Hauses gehen soll. Zeitungen hingegen sind eine Art Geschichte". Identitätspolitische Strategien in den Medien
Ethno-konfessionell basierte Parteien machen ethno-konfessionelle Medien und nutzen diese für die Verbreitung von spezifischen Ordnungsvorstellungen. Das hat Ibrahim al-Marashi für den Irak anhand des Satellitenfernsehens bereits festgestellt.
Sprachregelungen:
Al-Marashi zeigt, wie politische Einstellungen Sprachregelungen diktieren. So weist er darauf hin, dass im Fernsehen von Akteuren, die den Krieg im Jahr 2003 befürworteten beziehungsweise sich mit der Besatzung arrangierten, US-Soldaten und ihre Verbündeten neutral als "Koalition" oder "multinationale Kräfte" bezeichnet werden, während sie bei ihren Gegnern "Besatzer" heißen. Aufständische gegen die multinationalen Kräfte erhalten das Label "Terroristen", sterben jedoch Angehörige der neuen irakischen Sicherheitskräfte, sind sie "Märtyrer". Mit der Politik der Integration der Stämme und ehemaliger Aufständischer übernahmen Regierungs- und andere Medien allerdings die Bezeichnung "Outlaws" statt "Terroristen".
Sprachregelungen kennen aber auch diejenigen Akteure, die den ethno-konfessionell begründeten Konflikten und dem Nicht-Wissen der einen über die anderen entgegenwirken. So die Online-Nachrichtenagentur Aswat al-Iraq, die Seiten auf Arabisch, Kurdisch und Englisch betreibt: Politiker und andere Prominente werden in ihrer Funktion, jedoch ohne die für die jeweilige Bezugsgruppe wichtigen Ehrentitel wie "Exzellenz" genannt, "Märtyrer" und "Terroristen" gibt es nur in direkten Zitaten. Um den im fragmentierten Irak lebenden Menschen das Land näherzubringen, erhält der Leser als Nachtrag zu lokalen Nachrichten und Berichten geographische Informationen. Zahlreiche Medien nutzen Aswat al-Iraq als Quelle, aber die Mission der Verständigung kommt kaum an.
Symbole und Bilder:
Irakische Medienproduzenten tendieren dazu, Begriffe, Symbole und Bilder einzusetzen, um an Gruppenidentitäten zu erinnern und diese zu bestätigen. Das beginnt beim Namen und Logo und setzt sich fort über präferierte Archivfotos, Perspektiveneinstellungen und das Datum. Auf Zeitungen beispielsweise finden sich oft mehrere Datumsangaben: arabischsprachig nach Gregorianischem Kalender, kombiniert mit einer entsprechenden englischsprachigen Übersetzung oder dem Datum nach dem islamischen Kalender. Die DPK-Tageszeitung Xebat präsentiert außer dem "westlichen" und "islamischen" Datum noch ein drittes nach dem kurdischen Kalender, das im Jahre 700 v.u.Z. beginnt.
Sprache:
Auch wird auf die feine Sprache von Wort und Bild geachtet. So ist es kein Zufall, dass die DPK-Medien stets von "föderaler Regierung" sprechen, während Parteien arabischer Interessengruppen "irakische Regierung" und "Zentralregierung" bevorzugen. Vielmehr wird durch die Wortwahl die Präferenz zu einer bestimmten Staatsform unterstrichen. Während Föderalismus für die meisten arabischen Akteure eher uninteressant oder bedrohlich ist, sind die kurdischen Parteien unter anderem aus Gründen erlebter Verfolgung ganz besonders daran interessiert, es nie wieder mit einem Zentralstaat Irak zu tun zu haben.
Differenzierung:
Nimmt man die Zeitungen genauer in den Blick, treten drei identitätspolitsche Strategien besonders hervor: Erstens üben sich die Medienmacher in etwas, das in den Geistes- und Sozialwissenschaften Othering genannt wird; das heißt eine Differenzierung der vorgestellten eigenen Gruppe von einer anderen, um die eigene Gruppe positiv abzusetzen. So geistern beispielsweise in kurdischen Zeitungen Stereotype vom "Araber" herum, und ein "guter Araber" ist eigentlich nur, wer die kurdische Sache unterstützt. Obwohl es sich in der arabischen Presse vielerorts durchgesetzt hat, von "Region Kurdistan" statt "Norden des Irak" zu schreiben und damit eben auch die arabischen Leser an die neue Realität gewöhnt werden sollen, ist der "beste Kurde" immer noch derjenige, der für die "irakische Nation" eintritt.
Mythologie:
Zweitens erinnern insbesondere Parteizeitungen immer wieder an die Vergangenheit beziehungsweise an jene Ereignisse und Personen, die in der eigenen Mythologie einen besonders hohen Stellenwert einnehmen. "Geflossenes Blut" ist dabei ein zentrales Motiv. Zum Beispiel ist in der DPK-Zeitung Xebat jeden Tag auf einer der Seiten für "Innenpolitische Nachrichten" (auf denen ausschließlich Nachrichten aus Kurdistan verbreitet werden) der farblich abgesetzte Mahnspruch zu lesen: "Jetzt, da du unter dem Schutz der Freiheit Kurdistans arbeitest, sollst du an das Blut und die Mühen der Märtyrer denken". Diese Zeile stammt von Chefredakteur Nazhad Surme, der überzeugt ist, dass trotz modernerer Kommunikationsmittel das Medium Zeitung nicht überholt sei, denn "Zeitungen sind Dokumente".
In der Regierungszeitung al-Sabah erfolgen Bez Rechtsstaat (dawlat al-qanûn) war gleichzeitig auch der Name der von Nuri al-Maliki geführten Allianz.
Legitimation durch Wissenschaft:
Eine weitere identitätspolitische Strategie besteht schließlich darin, mittels Wissenschaft neue und alte Bedeutung zu legitimieren. So erklären oder bezeugen irakische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die kulturelle, wirtschaftliche oder politische Überlegenheit beispielsweise der Kurden gegenüber den Arabern und umgekehrt, oder sie unterstützen Argumentationen um historische Ansprüche auf Territorium und Güter. Außerdem erfreuen sich Umfragen zu politischen Themen, präsentiert in bunten Diagrammen, immer größerer Beliebtheit. Wissenschaft kommt aber auch ins Spiel, wenn es um Identitätsangebote geht, die nicht ganz oben auf der Agenda ethno-konfessioneller und religiöser Parteien stehen, wie zum Beispiel Ungerechtigkeiten auf der Basis von Geschlecht und Klasse oder aber Konzepte von Bürger- und Zivilgesellschaft. Hier sind es vor allem "westliche" Wissenschaftler und Philosophen, derer sich in den Argumentationen bedient wird. Zeitungen und Identität
Dass es Dank des Fernsehens weniger Bedarf gibt an gedruckten Pressemeldungen, die Fragen beantworten wie "wer traf wen", "was sagte wer" oder "wo wurde geschossen", heißt nicht, dass sich das Zeitungsgeschäft erledigt hat. Im Gegenteil: So hat sich die im Januar 2006 erstmals erschienene unabhängige kurdische Wochenzeitung Awêne auf Korruption und Misswirtschaft in der Region Kurdistan spezialisiert. Der Chefredakteur Shiwan Mihemmed, ein ehemaliger Kommunist, stand bislang mehrmals vor Gericht, weil sich die herrschende Elite ungern kritisieren lässt. In der Zeitung bilden außerdem Nachrichten über "Ehrenmorde" und Selbstverbrennungen von Frauen quasi eine eigene kleine Rubrik.
All das wirkt ebenfalls auf Vorstellungen davon ein, wer wir sind, was wir sein wollen und wie wir uns von anderen abgrenzen. Allerdings heißt das nicht, dass Awêne weniger kurdisch-nationalistisch ist als die DPK- und PUK-Zeitungen. Nicht von ungefähr hat die Zeitung eine ständige Themenseite "Kirkuk". Diese ist nicht nur Ausdruck von kurdischem Patriotismus. Vielmehr herrscht in der Region Kurdistan das konsensuale Gesetz, dass, wer gehört oder gewählt werden will, in der Kirkuk-Frage Engagement demonstrieren muss. Ein Ausbruch aus alten Mustern ist noch nicht in Sicht.
Vgl. die Jahresberichte auf der Webseite des Iraq Body Count, online: www.iraqbodycount.org (13.4.2010).
Zu Unklarheiten hinsichtlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit vgl. Article 19 - Global Campaign for Free Expression, Free Speech in Iraq: Recent Developments, London 2007.
Vgl. Nuri Talabani, Die Region Kirkuk und Versuche der Veränderung seiner nationalen Realität, o.O. 1999, S. 81 (arabisch).
Vgl. International Crisis Group, Iraq and the Kurds: Trouble along the Trigger Line, Middle East Report Nr. 88 vom 8.7.2009, online: www.crisisgroup.org/~/media/Files/Middle%20East%20North%20Africa/Iraq%20Syria%20Lebanon/Iraq/88_iraq_and_the_kurds___trouble_along_the_trigger_line.ashx (13.4.2010).
Vgl. Zuhair al-Jezairy, The Iraqi Press: The Heritage of the Past and the Challenges of the Future, International Media Support, Oktober 2006, online: http://portal.unesco.org/ci/en/files/23828/116870779611099_Iraqi_report.pdf/1099%2BIraqi_report.pdf (13.4.2010).
Interview der Autorin mit Zuhair al-Jezairy in Sulaimaniya/Irak am 7.10.2009.
Interview der Autorin mit Ismail Zayer in Erbil/Irak am 11.10.2009.
Vgl. Interview mit Z. al-Jezairy (Anm. 6).
Anja Wollenberger, Die Meinungsmacher und ihre Widersacher. Entwicklung und Status der Medienproduktion im Irak nach 2003, online: www.mict-international.org/pdf/Wollenberg_MedienentwicklungIRQ.pdf (13.4.2010).
Vgl. United Nations World Food Programme et al. (eds.), Comprehensive Food Security & Vulnerability Analysis (CFSVA), Bagdad 2008, S. 30.
Vgl. A. Wollenberger (Anm. 9).
Vgl. Media in Cooperation and Transition, Media on the Move: A Reader on Iraqi Media and Media Law, Friedrich Ebert Stiftung, Amman 2007.
Vgl. Anna Zayer, What do Iraqis watch on TV? The Story of 600 Diary Keepers, in: ebd., S. 6ff.
Vgl. Interview mit Z. al-Jezairy (Anm. 6).
Vgl. Ibrahim al-Marashi, The Dynamics of Iraq's Media: Ethno-Sectarian Violence, Political Islam, Public Advocacy and Globalization, Budapest 2007, online: www.policy.hu/document/200808/al_marashi.pdf&letoltes=1 (13.4.2010).
So in einem Interview der Autorin mit Nazhad Surme in Erbil/Irak am 12.10.2009.
Falah al-Mashaal in: al-Sabah vom 24.2.2009.
| Article | , Andrea Fischer-Tahir | 2021-12-07T00:00:00 | 2011-10-05T00:00:00 | 2021-12-07T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32694/partikularismus-statt-pluralismus-identitaetspolitik-und-presse-im-irak/ | Seit 2003 erlebt der Irak eine politische und gesellschaftliche Neuordnung. Medien reflektieren diesen Prozess und wirken auf ihn ein, unter anderem dadurch, dass sie Vorstellungen von Identität und Ordnungsmodelle vermitteln. | [
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"Das ist meine Welt! Da muss ich hin!" | 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de | Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Interner Link: 50 Jahre Anwerbeabkommen: Lesung und Gespräch zum Buch "Auf Zeit. Für immer", Oktober 2011.
Dunedin, Neuseeland, 18. Februar 2011
Kia Ora, liebe Frau Goddar, "ia Ora", das ist Maori und bedeutet so viel wie "Mögest du gesund sein". Aus Neuseeland sende ich Ihnen frische Sommerluft mit Ozeanduftgrüßen aus unserem Lieblingsland. Eigentlich wollten wir am 21. März wieder in München sein. Aber nun haben wir ein wunderbares Angebot von der Tante unseres Schwiegersohns aus Sydney bekommen, sie zu besuchen. Es ist für uns natürlich ein Riesenglück, und dann auch noch so günstig, in Australien herumreisen zu können. Und irgendwann würden wir die Tante auch gern in München begrüßen und ihr unser wunderschönes Bayernland zeigen können. Uns geht es sehr gut, wir unternehmen vieles. Wandern, Kanu, Rudern, Fischen, Enkelinnen betreuen, Gartenarbeit, Konzerte besuchen, nette Menschen aus allen Ländern der Welt kennenlernen. Und auch die wunderbare Luft ist für meine Gattin und mich wie Balsam auf unseren Seelen! Herzliche Grüße,
Selahattin Biner Seine Familie hat es immer geahnt: Schon als er von den Anzeigen am Schwarzen Brett seiner Schule erzählt, schärfen Vater und Bruder ihm ein: "Guter Junge, wir wissen ja, wie gerne du reist. Aber wenn du nach Deutschland gehst, dann musst du dort Geld verdienen. Und sparen, dass du dir ein schönes Haus auf einem schönen Grundstück in der Türkei leisten kannst!"
"Ja, ja", erwiderte der Abenteuerlustige da, "wenn es sein muss, spare ich natürlich auch. Aber ich möchte auch das Land, Europa und am besten noch viel mehr kennenlernen!" Nach Deutschland gehen, als Gastarbeiter – um die Welt zu sehen? Seine Familie fand das völlig verrückt.
Dabei war es genau das, was er wollte, 1964, als er mit 20 Jahren an seinem Staatlichen Institut zur Ausbildung von Handwerkern die Aushänge deutscher Firmen studierte: Der junge Selahattin Biner war gut ausgebildet, mobil, unternehmungslustig. Vor allem aber fühlte er sich als Europäer, als einer, dem das Leben im Westen schon deswegen nicht schwerfallen würde, weil seine ganze Umgebung immer schon dorthin geschaut hatte. In seiner Schule waren nicht nur Englisch und Französisch oder Deutsch Pf lichtfächer; die Lehrer lasen mit den Schülern auch die Sage des Rattenfängers von Hameln und das Märchen der Bremer Stadtmusikanten. Und natürlich hatten sie ihnen auch schon vom Ruhrgebiet als der Herzschlagader des deutschen Wirtschaftswunders erzählt. In Kırklareli war das, einer kleinen Stadt in der Nähe von Edirne, im europäischen Teil der Türkei, nahe dem griechisch-bulgarisch-türkischen Dreiländereck. Und der junge Modellschreiner, der er war, dachte sich: "Das ist meine Welt! Da muss ich hin!"
Heute, beinahe ein halbes Jahrhundert später, blickt Selahattin Biner nicht nur auf ein Leben in Duisburg und München zurück. Er kennt auch Polen und Ungarn, die Toskana und Andalusien, den Sinai und Marokko. Und vor allem: Das Land der Schafe und Berge – Neuseeland. Am anderen Ende der Welt haben seine Frau und er nach der zweiten in Deutschland noch eine dritte Heimat gefunden. Ihre ältere Tochter hat es, der Liebe wegen, dorthin verschlagen – und die Biners, die inzwischen auch Großeltern zweier neuseeländischer Enkelinnen sind, lassen keine Gelegenheit aus, sie zu besuchen. Und alles nur, weil er damals, mit 20 Jahren, zusammen mit zwei Freunden beschloss: Wir gehen nach Deutschland! Drei Monate dauerte es nur, dann durften sie weg. "Das war natürlich ein Abenteuer! Wir hatten noch nicht einmal unseren Militärdienst absolviert. Normalerweise hätten wir die Türkei gar nicht verlassen dürfen. Das war verboten. Nur über die Anwerbung aus Deutschland konnten wir überhaupt weg. Wir haben uns riesig gefreut. Unser Arbeitgeber war ein Hersteller von Sitz- und Liegemöbeln, so hieß das damals, in Duisburg. Vier Mark und 16 Pfennig in der Stunde haben wir bekommen, das war ein guter Stundenlohn. Aber wir hatten ja auch einen guten Beruf, man hat uns gebraucht. Leider blieben davon nach Abzug der Kosten für Wohnheim und Essen am Ende jeder Woche dann aber doch nur 15 oder 20 Mark übrig, das war nicht so viel. Also haben wir angefangen, am Wochenende und abends zusätzlich zu arbeiten. Unser Meister, der ja gesehen hat, wie gut wir unseren Job machen, hat da manches vermittelt. So haben wir noch ein bisschen hinzuverdient, sagen wir einmal: unter der Hand. Ansonsten aber war ich natürlich vom ersten Tag kranken- und rentenversichert. Deswegen bekomme ich heute eine ganz zufriedenstellende Rente, mit unseren Bausparanlagen aus dieser Zeit konnten wir es uns dann auch leisten, meinem Betrieb diese Wohnung abzukaufen. Und unsere Reisen müssen auch bezahlt werden!
Aber auch wenn ich gut und gern gearbeitet habe: Ich wollte immer mehr vom Leben; Freunde haben, Sport treiben, meine neue Umgebung erobern. Ich war neugierig auf die deutsche Kultur, die deutsche Sprache, die deutsche Lebensart. Da war es ein Glück, dass ich sofort Kontakt bekommen habe. Im Lohnbüro habe ich den Franz kennengelernt. Wir haben uns gleich angefreundet. Er hat mir Deutsch beigebracht und ich ihm Türkisch. Wann immer wir Zeit hatten, sind der Franz und ich mit den Rädern los, den Rhein hinauf oder bis nach Belgien und Holland. Es war eine wunderbare Zeit; ich habe so viel Neues gesehen! Und obwohl in Duisburg die Luft damals nicht sehr gut war und jedes weiße Hemd von all dem Ruß in einem halben Tag grau wurde – auch dort konnte man viel unternehmen. Ich bin gerudert, und ich habe Basketball gespielt. Beim Meidericher SV, heute heißt er MSV Duisburg, war ich in der Mannschaft. Am Wochenende sind wir bis zu Hannover 96 oder zum HSV nach Hamburg zu unseren Spielen gefahren. Ich war zwar ein kleiner, aber ein sehr zielstrebiger Basketballspieler, darauf bin ich heute noch ein wenig stolz! Ach, dieses erste Jahr in Deutschland – es war eins der schönsten meines Lebens!
Nach einem Jahr lief mein Vertrag aus – aber in die Türkei zurückzugehen hatte ich nie vor. Und ich hatte ein neues und sogar besseres Angebot bekommen: Von einem Campingwagen-Hersteller, der Weltbummler hieß. Für eine Mark mehr in der Stunde als zuvor habe ich dort Modelle für die Inneneinrichtung der Wohnwagen gefertigt: für die Tische oder Bänke oder Betten. Immer größere und schönere Modelle haben wir gebaut. Es war ja die Zeit des Wirtschaftswunders, die Menschen fingen an, Geld auszugeben und anzulegen. Und auch sie wollten einmal etwas anderes machen als arbeiten. An Fernreisen war dennoch für die allermeisten überhaupt noch nicht zu denken. Also haben immer mehr Menschen sich einen Wohnwagen zugelegt und damit am Wochenende und in den Sommerferien Urlaub im grünen Nordrhein-Westfalen gemacht."
Nur kurze Zeit nach dem Wechsel in das Wohnwagen-Geschäft bekommt die Freude über das neue Leben einen gewaltigen Dämpfer. Der junge Gastarbeiter wünscht sich nichts sehnlicher, als in Deutschland zu bleiben, die Sprache besser zu lernen und eine Technische Universität zu besuchen. Erst bezahlt er aus eigener Tasche seine ersten Sprachkurse, dann nimmt er Kontakt zur Carl-Duisberg-Gesellschaft auf. Die, 1949 von Bund und Ländern zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gegründet, unterstützt nicht nur Deutsche bei ihren Auslandsaufenthalten. Sie hilft auch Ausländern in Deutschland. Auch den ehrgeizigen Türken nimmt sie in ihr Programm auf, bietet ihm Schulungen und eine Studienreise nach Berlin an. Die Hoffnung auf das deutsche Studentendasein macht ihm das türkische Generalkonsulat in Köln allerdings gründlich zunichte: Es verlängert seinen Pass nicht, und ohne gültigen Pass kann er nicht bleiben. Schweren Herzens packt er seine Sachen und fährt zurück in die Heimat, und das von ebenjenem Gleis 11 im Münchner Hauptbahnhof, von dem er damals in sein Leben im Ruhrgebiet fuhr. Das Ende eines Abenteuers. Als er in den Zug nach Istanbul einsteigt, laufen ihm die Tränen übers Gesicht.
Wenige Tage später folgt er dem Ruf der türkischen Armee: Erst in Izmir, dann in der Region um den Berg Ararat im äußersten Nordosten des Landes absolviert er seinen Militärdienst. Selbst dort, erzählt er stolz, habe man seine Deutschkenntnisse zu schätzen gewusst – und ihn in einem warmen Büro statt draußen im kalten Freien beschäftigt. Damit er in Deutschland nicht vergessen wird, schreibt er immer wieder Briefe an seinen Arbeitgeber: "Wenn ich hier fertig bin, komme ich gerne wieder!" Als das Militär ihn nach zwei langen Jahren 1967 in die Freiheit entlässt, erhält er aus Duisburg ein entmutigendes Schreiben: "Herr Biner, wir werden Sie gerne holen, sobald wir können." Er möge sich noch ein wenig gedulden, momentan habe man ihn in Deutschland mit einer Rezession zu kämpfen. Und während tausende Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zurück in die Heimat geschickt werden und dort arbeitslos sind, findet der Modellschreiner auch in der Türkei wieder Arbeit. Er fängt als Kassierer bei einer Bank an. Der Traum von Deutschland ist damit aber keineswegs ausgeträumt – er versucht es über einen anderen Weg: Sein Bruder lebt inzwischen in München – ob der nicht etwas organisieren könne? Als der bei seinem Arbeitgeber Krauss-Maffei anfragt, ob ein Modellschreiner gebraucht wird, erwidert man ihm: "Spricht er so gut Deutsch wie Sie? Schicken Sie ihn her!" Mitte 1968 kommt der inzwischen 24-jährige Selahattin zum zweiten Mal in München an, dieses Mal nicht auf der Durchreise ins Ruhrgebiet. Und schon bald will er nie wieder weg.
"In München kam ich wieder in ein Firmenwohnheim. Und wieder dachte ich sofort: Du musst die Gegend erkunden, neue Freunde finden! Also habe ich mir ein Rennrad besorgt und bin los, zusammen mit Hans, einem Arbeitskollegen. Eine unserer ersten Touren werde ich nie vergessen: Plötzlich stand ich am Tegernsee und schaute auf die Berge! Ich habe mich sofort verliebt in die Gegend! Und als mein alter Chef aus Duisburg schrieb 'Herr Biner, es ist Zeit, bitte kommen Sie!', musste ich den netten Kollegen leider erwidern: 'Es tut mir leid – aber ich möchte Bayern nicht mehr verlassen!' Die Alpen zu sehen, das hat mich begeistert wie kaum zuvor etwas in meinem Leben. Inzwischen gehe ich seit Jahrzehnten in die Berge. Immer noch, wenn ich auf einem Gipfel stehe, kann ich mein Glück kaum fassen. Immer wieder spreche ich Leute an und frage sie: 'Sind Sie auch so begeistert?' Und die sind oft ganz überrascht: Türken findet man nicht viele dort droben.
Noch etwas trieb mich um: Ich war 24 und reifer geworden. Und ich dachte: Du willst eine Familie gründen! Eine deutsche Frau zu heiraten hätte ich mir damals nicht vorstellen können. Außerdem gab es in der Türkei jemanden, der mir über die Jahre nicht aus dem Kopf gegangen war: die Tochter meines Schuldirektors. Immer wieder hatte ich sie auf den Sommerfesten in der Schule gesehen, und immer wieder dachte ich: Die ist aber nett. Und was ich zumindest wusste, war, dass ihr Vater mich leidenschaftlich gern mochte, er war ein sehr europäisch orientierter Mensch. Als ich von einem Freund hörte, dass die Tochter noch nicht vergeben war, habe ich mich hingesetzt und geschrieben – erst einen Brief an ihre Mutter, dann eine Postkarte an sie selbst, ich wusste ja, was sich gehört! Die Postkarte hatte ich mit viel Sorgfalt ausgewählt: Das Schloss Neuschwanstein war darauf abgebildet, ich dachte, das Motiv gefällt ihr hoffentlich so gut, dass sie sich vorstellen kann, in Deutschland zu leben! Über Monate haben wir uns dann geschrieben, viele, viele Briefe. Dass wir zusammenpassen, wurde immer deutlicher – und eigentlich hatte ich es mir auch zuvor schon gedacht: Unsere Familien kannten sich, unsere Brüder waren Freunde. In meinem nächsten Urlaub sind wir dann zusammen ausgegangen und haben uns über unsere Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben unterhalten. Dann haben wir sehr schnell entschieden: Wir heiraten!
Die Hochzeit fand in der Türkei statt. Und ich war in deutscher Begleitung. In München hatte ich einen deutschen Theologen getroffen. Er hatte uns, ohne etwas dafür zu nehmen, Deutsch beigebracht. Jeden Aussprachefehler hat er verbessert! Und er hat alles daran gesetzt, zwischen dem islamischen und dem katholischen Glauben zu vermitteln und auch zwischen den Menschen aus der Türkei und denen aus Deutschland. Mehrmals war ich mit ihm in die Türkei gereist und habe ihm bei archäologischen Reisen assistiert. Wir sind richtige Freunde geworden. Ich hoffe, ich darf das so sagen – der Oberstudienrat ist leider, leider schon verstorben! Als ich ihm erzählte, dass ich heiraten würde, sagte er jedenfalls sofort: Ich komme mit, ich bringe dich hin! Bis in die Türkei hat er mich mit seinem Wagen gefahren, die ganze Strecke, über Österreich und Rumänien. Ich bin ihm so dankbar, dem Oberstudienrat! Auch dafür übrigens, dass ich von ihm gelernt habe, wie viele Gemeinsamkeiten es zwischen dem Christentum und dem Islam gibt, und dass es gar nicht so schwer ist, ohne Streit zusammenzuleben!"
Auf der Rückreise aus der Türkei sitzen sie zu dritt im Auto: Der Theologe, der Modellschreiner und seine junge Ehefrau Güzin. In München lernt Güzin ebenfalls fleißig die Sprache, besichtigt die Stadt. Zu den Highlights ihres ersten Jahres gehört der Besuch im Olympiastadion. Ihr Mann hatte sich einen Job als Platzanweiser verschafft – denn natürlich wollten sie bei dem sportlichen Großereignis, den Olympischen Spielen 1972, dabei sein. Für einen Stundenlohn von fünf Mark kann er Freunde und seine Familie ins Stadion lotsen! Von seiner Firma wird er für die Zeit freigestellt. Die Biners haben inzwischen eine Firmenwohnung im Münchner Norden bezogen – angesichts des desolaten Wohnungsmarktes für die inzwischen 250.000 Gastarbeiter in der Stadt ein echter Glücksfall. Und: ein guter Platz für eine Familie. Ende 1972 kommt ihre erste Tochter zur Welt. Mit vier Jahren fällt das kleine Mädchen seinen Erzieherinnen als außergewöhnlich auf: Die kleine Göknil singt, wie schon lange kein Kind in der Untermenzinger Kita mehr gesungen hat! Als eine Erzieherin den Eltern rät, das erstaunliche Talent zu fördern, fragen die begeistert: "Wie? Was können wir tun?" Wenig später erhält Göknil Gesangs- und Instrumentalunterricht; auch das erste Klavier in der Familie wird angeschafft. Als ihre Tochter eingeschult wird, treffen die Eltern eine Entscheidung: "An dem Tag, als Göknil in die erste Klasse kam, haben wir gesagt: Jetzt müssen wir entscheiden, was wir wollen: Nach Hause? Oder hier bleiben? Wir mochten ja die Türkei, keiner von uns hatte je daran gedacht, ein ganzes Leben hier zu verbringen. Aber plötzlich lagen die Dinge anders. Die Älteste kam zur Schule, die Jüngere war gerade geboren. Und als wir auf dem Sofa saßen und überlegten, wurden wir uns schnell einig, dass eine Rückkehr nicht mehr infrage kommt. Die schulische und pädagogische Ausbildung, die unseren Töchtern hier bevorstand, hätte ihnen die Türkei nie geboten, als Mädchen schon gar nicht. Für Kinder und besonders für Mädchen ist die Zukunft in Deutschland einfach eine bessere! Also haben wir entschieden: Wir bleiben. Noch am selben Tag sind wir in den Keller und haben aufgeräumt: All die Kartons, in die wir den Kühlschrank oder den Fernseher wieder einpacken wollten, flogen in den Müll. Alles, worin man etwas verpacken konnte, haben wir weggeschmissen. Und wir haben es nie bereut." Als Göknil Biner eingeschult wird, ist die Presse voll von Berichten über die "hoffnungslose Zukunftssituation" der Gastarbeiterkinder. Mehr als zwei von drei Kindern der zweiten Generation erreichen bereits Mitte der 70er-Jahre nicht den Hauptschulabschluss; als wesentliche Ursache wird die mangelnde Sprachkompetenz ausgemacht. Dass mit den Gastarbeitern auch deren Kinder nach Deutschland ziehen, war bereits zehn Jahre zuvor – also lange vor dem Anwerbestopp, der zum Signal für den Familiennachzug wurde – bekannt. Bereits 1965 forderte die Caritas, die vor allem in den westdeutschen Großstädten Ausländer betreute, die Einrichtung spezieller "Förderinternate" für die Kinder ausländischer Arbeitnehmer im Land. Und ein Jahr zuvor, 1964, hatten die Kultusminister die allgemeine Schulpf licht für Gastarbeiterkinder in einem Beschluss verankert; das damit verbundene erklärte ministeriale Ziel war, auch ihnen gleiche Bildungschancen zu verschaffen.
Wie es aber gelingen sollte, diese zu verwirklichen, dafür fehlte von Beginn an und von Jahr zu Jahr mit immer dramatischeren Auswirkungen ein schlüssiges Konzept. In einem waren sich Bund und Länder in Deutschland mit der Mehrheit der Regierungen der Anwerbestaaten lange einig: Nationale Sonderschulen – wie sie etwa die Griechen in den Folgejahren einrichteten und bis heute gründen – sollte es nicht geben, die Bindung an die Heimat allerdings wegen der geplanten und politisch gewollten Rückkehr dennoch gewahrt bleiben. Das Resultat ist ein Zwittersystem aus deutschen und ausländischen Bildungsinstitutionen. In ganz Deutschland organisieren die türkischen Konsulate muttersprachlichen Ergänzungsunterricht. Dass türkische Lehrer in Deutschland nach türkischen Lehrplänen unterrichten, wird von deutschen Bildungspolitikern und Gewerkschaften über Jahre massiv kritisiert. Viele türkische Familien sehen den Zusatzunterricht allerdings häufig als einzige Chance, den Kindern die Heimat auch in Büchern nahezubringen. Nicht alle allerdings – die Biners lehnen das Modell rundweg ab. "Während der gesamten Schulzeit unserer Kinder war ich im Elternbeirat, erst in der Schule, später auch im Gemeinsamen Elternbeirat der Stadt München. Und dazu muss ich wirklich sagen: Was man damals mit den Kindern veranstaltet hat – von deutscher wie von türkischer Seite – habe ich überhaupt nicht verstanden. Eine Zeit lang hat man in München türkische Klassen gebildet – da wurden nur türkische Kinder unterrichtet. Einen großen Teil der Zeit haben sie von türkischen Lehrern Türkischunterricht bekommen – anstatt, wie es in Deutschland geboten wäre, vernünftig Deutsch zu lernen. Meiner Beobachtung nach haben sich diese zweisprachigen Klassen, fernab von den Kindern der deutschen Regelklassen, überhaupt nicht bewährt. Sowohl als Vater wie auch als Mitglied des Berufsbildungsausschusses bei Krauss-Maffei – dem ich als Betriebsrat angehörte – habe ich immer wieder festgestellt: Die Schüler aus diesen Klassen konnten am Ende weder richtig Türkisch noch Deutsch! Und obwohl ich mich immer wieder dafür eingesetzt habe, mehr ausländische Jugendliche einzustellen, habe ich auch gesehen: Sie hatten eben nicht die gleichen Sprachkenntnisse; im Vergleich zu deutschen Kandidaten waren sie schlichtweg schlechter. Sie waren immer im Nachteil. Besonders geärgert hat mich, dass die Türkei diesen Unsinn jahrzehntelang forciert hat. Anstatt die Kinder ihrer im Ausland lebenden Bürger dabei zu unterstützen, möglichst gut in der neuen Heimat anzukommen, hat sie immer wieder den Daumen drauf gehalten, nach dem Motto: Ihr gehört zu uns! Entfremdet euch nicht. Bewahrt bloß euer Türkentum! Mir hat die Haltung dahinter nie gefallen. Und als ich mich dafür eingesetzt habe, dass unsere Kinder vom deutschen Staat unterrichtet werden und sonst von niemandem, musste ich mich von dem Münchner Konsulat dafür schief anschauen lassen. Dabei waren die türkischen Lehrer im Vergleich zu den deutschen auch noch viel schlechter ausgebildet. Sie konnten auch kein Deutsch; sie haben sich auch gar nicht bemüht, es zu lernen. Für uns kam nie infrage, unsere Töchter in eine solche Klasse zu geben. 'Nicht mit uns', haben wir gesagt – 'was diese Lehrer können, können wir schon lange. Türkisch lehren wir zu Hause und sonst nirgends.'"
Beide Töchter meistern die Schule mit Bravour. Beide machen Abitur, beide starten eine musikalische Laufbahn: Göknil absolviert am Münchner Konservatorium eine Ausbildung zur Sopranistin, die sechs Jahre jüngere Gülbin studiert Musik- und Erziehungswissenschaften an der Ludwig- Maximilians-Universität. Göknil, die Ältere, steht schon bald nach Beginn ihrer Ausbildung nicht nur als Papagena in Mozarts "Zauberflöte" auf der Bühne – in Münchens berühmtestem Gotteshaus, der Frauenkirche, singt sie, in Anwesenheit des Kardinals, das Weihnachtsoratorium. Dass ihre Tochter christlichen Festen huldigt, ist für die liberalen Eltern, die sich durchaus immer noch als Muslime verstehen, kein Thema. Ist es für den Kardinal eins? Als der die hübsche junge Frau mit der schönen Stimme kennenlernt, kann er ihren Namen so wenig glauben, dass er ihre Hand loslässt. 'Vielleicht', sagen ihre Eltern damals, 'ist er einfach nur erstaunt, dass ein muslimisches Mädchen zu Weihnachten auftritt.'
Die junge Nachwuchs-Sopranistin macht weiter ihren Weg. Auf dem Konservatorium lernt Göknil einen Pianisten aus Neuseeland kennen; gemeinsam präsentieren sie dem bayerischen Publikum wenig später eine musikalische Reise um den Globus: "In 40 Minuten um die Welt" heißt das Programm. Es dauert nicht lange, da nimmt der junge Neuseeländer seine Freundin mit in seine Heimat. Nach ihrer Rückkehr eröffnet Göknil ihren Eltern: "Papa, ich habe mich in Tom verliebt. Und in das Land. Wir möchten heiraten und auswandern." Den Eltern, die selbst Jahrzehnte zuvor ebenfalls ihre Heimat verlassen hatten, um in dem Land ihrer Träume zu leben, fällt es nicht schwer, die Tochter ziehen zu lassen: "Mach, was Du für richtig hältst", erwidern sie und besuchen sie, wann immer sie können.
Reisen in die Türkei stehen bei den Biners dagegen nur noch selten auf dem Programm. Aber das schon, seit Anfang der 90er-Jahre ihre Eltern dort verstorben sind. Dass sie sich, wie manche in ihrem Umfeld finden, von Heimat und Herkunft entfremdet hätten, wollen Selahattin und Güzin Biner aber nun keineswegs gelten lassen. » Die eigene Identität vergisst man nie, glauben Sie mir! Wenn Sie unsere Älteste in Neuseeland sähen, würden Sie feststellen: Sogar sie ist noch ganz stark türkisch geprägt. Sie spricht mit ihren Kindern türkisch, sie veranstaltet Feste mit der türkischen Community dort. Und wenn meine Frau und ich deutsch sprechen, weil uns das in Neuseeland mit den drei Sprachen zu kompliziert wird, sagt sie: 'Papi, jetzt lass uns aber wieder türkisch reden!' Verrückt ist das. Und trotzdem ist sie auch Neuseeländerin: Voll integriert, in einem Land, in dem jeder jeden akzeptiert.
Und wir, meine Frau und ich, wir sind auch noch Türken. Was uns aber immer von vielen anderen Türken unterschieden hat, ist unsere Haltung. Wir haben nie gesagt: 'Das ist eine andere Kultur. Die lehnen wir ab. So wie die Menschen hier wollen wir nicht werden.' Ich finde das auch unnatürlich, die Umgebung prägt einen doch. Wenn du in Rom lebst, benimmst du dich eben auch, wie die Römer sich benehmen, und dann wirst du auch ein bisschen Römer, das geht doch gar nicht anders! Wir sind eben ein bisschen wie die Deutschen geworden, das ging ganz von selbst. Wir haben gesehen, dass sie ihre Wäsche am Sonntag nicht nach draußen hängen; also haben wir uns auch angewöhnt, freitags zu waschen. Wir haben gesehen, dass deutsche Kinder nicht bis abends um elf auf der Straße rumlaufen, also haben wir unsere auch zur Tagesschau ins Bett geschickt. Und wenn ich heute in der Türkei bin, irritiert mich eine Wäscheleine am Sonntag ebenso wie Kinder, die nachts herumtoben.
Ich möchte auch Menschen, die sich anders entschieden haben und um jeden Preis an ihrem Türkentum festhalten, nicht verurteilen. Es kann ja jeder leben, wie er möchte, zum Glück. Aber zwei Dinge möchte ich einigen Menschen doch manchmal gern sagen. Erstens: Die Freiheit, die ihr hier habt, gerade die religiöse, die hättet ihr, wenn ihr zum Beispiel Katholiken wärt, in der Türkei nicht! Und zweitens: Bitte, meine Herrschaften, wenn ihr hier nicht weggehen wollt oder könnt: Steht dazu – und gebt euren Kindern die Möglichkeit, so zu leben und sich so zu bilden, wie es Deutsche tun. Denn die Möglichkeiten, die Deutschland bietet, die können einen begeistern! Und wer sie nutzt, verliert deswegen auch überhaupt nicht seine Identität!" | Article | Jeannette Goddar | 2021-12-17T00:00:00 | 2011-11-29T00:00:00 | 2021-12-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/migration-integration/anwerbeabkommen/43215/das-ist-meine-welt-da-muss-ich-hin/ | Selahattin Biner kam aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Edirne in der Türkei. Er war ausgebildeter Modellschreiner und ging 1964 mit zwei Freunden als Gastarbeiter nach Deutschland. Beinahe ein halbes Jahrhundert später haben seine Frau und er n | [
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Menschenrechte in Afrika | Menschenrechte | bpb.de | Einleitung
Von der deutschen Öffentlichkeit wird die Bevölkerung Afrikas im Kontext gewaltsamer Konflikte, des Mangels an wirtschaftlichen und sozialen Gütern und angesichts der insgesamt problematischen Menschenrechtssituation in einigen Ländern häufig als Gesellschaft von Opfern wahrgenommen. Auch wenn keine einzelne Menschenrechtsverletzung ausschließlich in Afrika vorkommt, sind es oft die enorme Intensität, Systematik und Häufung von Menschenrechtsverletzungen, die in Afrika besonders frappierend zu sein scheinen. Im Folgenden gilt es, negative aber auch positive Menschenrechtsentwicklungen in Afrika darzustellen. Kolonialisierung und Unabhängigkeit
Obwohl die Kolonialmächte im Berliner Vertrag von 1885 die Beseitigung des Sklavenhandels und den Schutz afrikanischer Gemeinschaften festlegten, wurden Afrikanern unter der Kolonialherrschaft zahlreiche Rechte, wie z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit, angemessenes Wohnen oder auf Bildung weiterhin versagt. Aus dem Unmut über die zunehmende finanzielle Belastung afrikanischer Arbeiter mit Steuern und der politischen sowie sozialen Unterdrückung entstand zunächst ein passiver Widerstand, aus dem sich später vermehrt bewaffnete Aufstände entwickelten. Diese wurden zumeist brutal niedergeschlagen.
Im allgemeinen geistigen Klima der Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der Schaffung der Vereinten Nationen entstand in Afrika eine breite antikoloniale Bewegung. Diese verknüpfte ihren Kampf um die politische Unabhängigkeit mit der Geltendmachung elementarer menschenrechtlicher Standards. Als erste afrikanische Staaten erlangten Sudan und Ghana 1956 bzw. 1957 die Unabhängigkeit. Namibia war im Jahr 1990 das letzte Land Afrikas, das unabhängig wurde.
Im Jahr 1963 gründeten 30 Staaten die Organisation für Afrikanische Einheit (OAE) mit Sitz in Addis Abeba, Äthiopien. Aus ihr ging im Jahr 2002 die Afrikanische Union (AU) hervor, der alle afrikanischen Staaten bis auf Marokko angehören. Die OAE verstand sich in erster Linie als Organisation zur Förderung der afrikanischen Einheit und vertrat eine strikte Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten. Die Verletzung von Menschenrechten durch Regierungen blieb dadurch zumeist folgenlos. Die AU hingegen bekennt sich offen zu den Menschenrechten. So schreibt ihre Gründungsakte sogar das Recht einer militärischen Intervention aus humanitären Gründen fest. Im Jahr 1986 ist die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker in Kraft getreten. Von allen menschenrechtlichen Verträgen weist sie die größte Mannigfaltigkeit an Rechten auf. Mit 53 Unterzeichnerstaaten ist die Charta das größte regionale Menschenrechtsschutzregime der Welt. Menschenrechtsverletzungen in Afrika
Die politische Unabhängigkeit vieler afrikanischer Länder brachte nicht zwangsläufig eine Verbesserung der Menschenrechtssituation mit sich. Menschenrechte wurden und werden in Afrika auf unterschiedliche Weise verletzt. Zu den gravierendsten Menschenrechtsverletzungen gehört der Gebrauch sexueller Gewalt als Kriegswaffe. Frauen und Mädchen werden in gewaltsamen Konflikten systematisch vergewaltigt, missbraucht und als Sexsklavinnen verschleppt. Dies geschieht häufig vor den Augen ihrer Ehemänner und Familien, um Familien sowie Gemeinschaften zu zerstören und Menschen von ihrem Land zu vertreiben. Missbrauchte Frauen gelten in der Gemeinschaft als Schande, sie werden ausgeschlossen und von ihren Männern meist verstoßen. So waren während des Völkermordes in Ruanda rund 250.000 Frauen und Mädchen Opfer von Vergewaltigung.
Eine weitere, äußerst schmerzhafte Menschenrechtsverletzung, die ebenfalls Frauen und Mädchen betrifft, ist die Verstümmelung weiblicher Genitalien. Genitalverstümmelung ist eng mit regionalen Traditionen und Kulturen verbunden, die den Mittelpunkt des spirituellen Lebens bilden. Verweigert sich eine Frau der Beschneidung, droht ihr und ihrer Familie gesellschaftliche Ächtung. In den meisten afrikanischen Ländern ist Genitalverstümmelung inzwischen gesetzlich verboten. Dennoch sind beispielsweise in Guinea und Nordsudan über 90 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren beschnitten. Die Durchsetzung eines Verbotes von Genitalverstümmelung ist vor allem in ländlichen Gegenden schwierig. Zufluchtsmöglichkeiten wie Frauenhäuser oder Schutzzentren, therapeutische Behandlung und Reintegrationsmaßnahmen für geflüchtete Frauen sind kaum vorhanden.
In Afrika weit verbreitet ist außerdem der Einsatz von Kindersoldaten. Die Lord´s Resistance Army (LRA) bestand während des Konflikts in Norduganda (1986-2006) zu 90 Prozent aus Kindern zwischen 13 und 16 Jahren. Während des Konflikts entführte die LRA rund 25.000 Mädchen und Jungen in Norduganda. Nach der Entführung wurden diese Kinder zum Töten ausgebildet und viele dazu gezwungen, eigene Familienmitglieder umzubringen. Mädchen müssen älteren Soldaten außerdem als Sexsklavinnen dienen. Versuchen die Kinder zu fliehen, droht ihnen der Tod, wobei die Hinrichtungen von anderen Kindern vollstreckt werden. Gelingt die Flucht, bleiben Kindersoldaten zumeist traumatisiert und von der Gesellschaft ausgegrenzt. Menschenrechtsverletzungen in Krisenregionen
Gewaltsame Konflikte können die ohnehin schwierige Menschenrechtssituation in einem Land entscheidend verschärfen. Das Fehlen staatlicher sowie nicht-staatlicher Kontrollinstanzen kann zu einer Atmosphäre permanenter Unsicherheit und der Nicht-Ahndung von Menschenrechtsverletzungen führen: Oft nutzen bewaffnete Gruppen diese Krisensituationen, um in einem rechtsfreien Raum Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen Zivilisten zu begehen. Große Fluchtbewegungen der betroffenen und gefährdeten Menschen sind häufig die Folge.
Somalia ist das klassische Beispiel für einen so genannten failed state, d. h. in Somalia gibt es keine funktionierenden staatlichen Strukturen mehr. Seit 1991 befindet sich das Land im Bürgerkrieg. Bewaffnete Gruppen kämpfen um Land und Einfluss. Kriegsherren und Clans herrschen über weite Teile des Landes. Weit verbreitet sind in Somalia Amputationen von Gliedmaßen als Bestrafung für Ungehorsam gegenüber Milizen oder Personen, die eines Verbrechens verdächtigt werden, ohne dass diese einen fairen Prozess bekämen. Weiterhin kommt es vermehrt zur Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten sowie zu Folterungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen im Zuge des Kriegsgeschehens. Insgesamt gibt es heute bei einer Gesamtbevölkerung von rund neun Millionen Menschen mehr als 1,3 Millionen intern Vertriebene und rund 500.000 somalische Flüchtlinge in den Nachbarländern. Allein zwischen Mai und August 2009 sind 232.000 Menschen aus der Hauptstadt Mogadischu geflohen.
Ein ähnliches Fehlen staatlicher Strukturen liegt im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRK) vor, wo seit 1998 bereits mehrere Millionen Menschen für den Kampf um Bodenschätze ums Leben gekommen sind. Mehrere bewaffnete Rebellengruppen, Armeeangehörige aus unterschiedlichen Ländern (wie Ruanda, Uganda, Burundi) waren und sind im Ostkongo aktiv. Die Regierung ist seit Jahren nicht in der Lage, die Geschehnisse vor Ort zu kontrollieren. Minenarbeiter, Händler, Menschenrechtsverteidiger und Menschen aus der Zivilbevölkerung werden gefoltert und getötet. Kinder werden gezwungen, in Minen zu arbeiten, Dörfer werden geplündert, Menschen verstümmelt, vergewaltigt und vertrieben. Die DRK weist bei einer Bevölkerung von rund 61 Millionen mit 1.200 Menschen pro Tag die höchste Sterberate Afrikas auf. Rund 1,4 Millionen Menschen sind allein innerhalb der DRK auf der Flucht. Ugandische und ruandische Truppen beuten gemeinsam mit bewaffneten kongolesischen Gruppen und Mitgliedern der kongolesischen Armee den Rohstoffreichtum der Region aus. Nutznießer des Konfliktes sind vor allem die bewaffneten Kräfte und ausländische Unternehmen, die am Export und der Verarbeitung von Bodenschätzen aus der Region profitieren. Leidtragend ist die Zivilbevölkerung.
Positive Entwicklungen
In den 1990er Jahren wurden in vielen afrikanischen Verfassungen politische Rechte verankert, die ein pluralistisches zivilgesellschaftliches Engagement ermöglichen. Dies führte zur Gründung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen. So sind in Kenia inzwischen mehr als 2.000 Nichtregierungsorganisationen in den Bereichen Politik, Menschenrechte, Umwelt und Gesundheit aktiv. In Burkina Faso und Simbabwe haben sich starke Gewerkschaften herausgebildet. Die Versorgung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Krise im Kongo wäre ohne zivilgesellschaftliches Engagement undenkbar.
Eine wichtige Rolle in ganz Afrika spielen die Menschenrechtsverteidiger, die z. T. erheblichen Gefahren ausgesetzt sind, wenn sie sich gegenüber der Regierung kritisch äußern oder sich für Belange einsetzen, die auch von der Gesellschaft abgelehnt werden, so z. B. für die Rechte Homosexueller in Nigeria. Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder willkürlich inhaftiert, schikaniert und verfolgt. Dennoch bilden sie ein wichtiges Fundament für die Durchsetzung der Menschenrechte in Afrika. Insgesamt hat sich die Menschrechtssituation in Afrika gegenüber dem Ende des letzten Jahrhunderts erheblich verbessert. Die Bürgerkriege in Liberia, Sierra Leone und Angola konnten beendet werden, die staatlichen Strukturen in Ruanda haben sich nach dem Völkermord stabilisiert. Viele Länder haben die Todesstrafe, wie Togo im Juni 2009, abgeschafft. Einige Länder wie Tansania, Botswana, Ghana oder auch Senegal weisen ein relativ stabiles demokratisches System auf und die Zivilgesellschaft ist in weiten Teilen Afrikas im Gegensatz zu anderen Regionen der Welt sehr aktiv. Nach wie vor bleiben jedoch große Probleme bei der Durchsetzung der Menschenrechte bestehen. Immer wieder werden Menschenrechte auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität verletzt. Dazu gehören neben den oben genannten Menschenrechtsverletzungen auch die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Äthiopien, willkürliche Inhaftierungen und Folter in Simbabwe, Zwangsräumungen in Angola sowie Morde in Guinea, die mit der Billigung oder dem Mitwissen des Staates verübt werden.
Rwanda: "Marked for Death", Rape Survivors Living with HIV/AIDS in Rwanda; Amnesty International 2004, S. 3: http://amnesty.org/en/library/info/AFR47/007/2004/en
Yoder, P. Stanley/Khan, Shane: DHS Working Papers. Numbers of Women circumcised in Africa: The Production of a Total; USAID 2008, S. 8
Vgl. Amnesty International Länderkurzinfo Uganda 1999: http://www.amnesty.de/umleitung/1999/deu04/003?lang=de&mimetype=text/html&destination=node%2F3033%3Fpage%3D5
Somalia: Amnesty International calls for safeguards on arms transfer to Somalia´s Transitional Federal Government, 2009: http://amnesty.org/en/library/info/AFR52/006/2009/en
Democratic republic of Congo: Child Soldiers Abandoned, Amnesty International 2006, S. 2: http://amnesty.org/en/library/info/AFR62/019/2006/en
Vgl. Amnesty Report 2009 Kongo (Demokratische Republik)
| Article | Franziska Ulm | 2021-12-06T00:00:00 | 2011-11-03T00:00:00 | 2021-12-06T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38760/menschenrechte-in-afrika/ | Die Bevölkerung Afrikas wird im Kontext gewaltsamer Konflikte, angesichts gravierender Entwicklungsprobleme und Menschenrechtsverletzungen häufig als Gesellschaft von Opfern wahrgenommen. Ein Bild, das trügt? Franziska Ulm über positive und negative | [
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Deutscher Rhein, französischer Rhein | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de | "Der alte Vater Rhein war also lange Zeit ein Gefangener und sogar eine Geisel der Menschen." (Lucien Febvre) "Eigentlich ist der Vater Rhein gar kein Vater, sondern ein Fluss." (Kurt Schwitters)
Kein anderer europäischer Fluss hat in der Vergangenheit eine solch intensive nationale Inanspruchnahme erfahren und eine vergleichbare Rolle in der politischen Propaganda gespielt wie der Rhein. Und kein anderer hat ein solch zahlreiches Echo in Werken verschiedenster Kunstgattungen gefunden. Klaus Honnef brachte letzteres auf die Formel der "enormen Karriere einer topographisch bestimmbaren Landschaft in der bildenden Kunst". Vor allem holländische und später britische Maler, unter ihnen William Turner, haben das "Bild" des Rheins maßgeblich geprägt. Enorm auch die Anzahl historischer Reisebeschreibungen verschiedenster Provenienz: mit Hölderlin, Karamsin, Schlegel, de Staël, Goethe, Byron, Shelley, Dumas, Hugo und Heine seien nur einige der bekanntesten Autoren genannt. Diese kleine und beliebig erweiterbare Aufzählung illustriert die weit ausstrahlende Faszination des Flusses. Maler und reisende Literaten sind Protagonisten eines Prozesses, der den Rhein innerhalb weniger Jahre zu einem der frühen Ziele des modernen Tourismus formt. An seinem Ende steht die weitreichende "Verwertung" des Flusses in Kitsch und Kommerz, die eng mit der Trivialisierung der Rheinromantik verknüpft ist. Politische Instrumentalisierung, künstlerische Reflexion und ökonomische Nutzbarmachung des Rheins gehen dabei nicht selten eine sehr komplexe Verbindung ein.
Napoleon und der Rheinbund
Im Folgenden soll vor allem der "politische Rhein" im Zeitraum von circa 1790 bis 1930 interessieren – mit dem Mythos vom "deutschen Strom" sowie vom Rhein als "natürlicher Grenze Frankreichs". Die Expansion Frankreichs in die linksrheinischen Gebiete nach 1792 sieht die Region schlagartig mit den Gegebenheiten der neuen civilisation française konfrontiert. Im diesem Zusammenhang werden ältere Vorstellungen vom Rhein als natürlicher Grenze Frankreichs (frontière naturelle) wieder belebt. Diese These wird in den nächsten gut anderthalb Jahrhunderten mehrere Konjunkturen durchlaufen. Sie beruht auf der geopolitisch motivierten Figur des hexagone, d.h. eines von unabänderlichen natürlichen Grenzen umschriebenen Frankreichs. Abbé Grégoire etwa erklärt 1792: "Frankreich ist ein Ganzes, das sich selbst genügt, denn die Natur hat ihm überall Grenzen gegeben, die es ihm ersparen, sich auszudehnen, so dass unsere Interessen mit unseren Prinzipien übereinstimmen."
Dabei wächst dem Rhein die gleiche Bedeutung zu wie dem Ärmelkanal, dem Atlantik, den Pyrenäen, dem Mittelmeer und den Alpen. Danton äußert sich am 31. Januar 1793 wie folgt: "Frankreichs Grenzen werden von der Natur gezogen. Wir werden sie an ihren vier Endpunkten erreichen: dem Meer, dem Rhein, den Alpen und den Pyrenäen." Die Verknüpfung von Geografie und Geschichte lässt sich in Frankreich weit zurückverfolgen. Schon Jean Bodin hatte 1566 in seinem Werk Methodus ad facilem historiarum cognitionem den geografischen Grundlagen der Geschichte großen Wert zuerkannt. Während im Zeichen der Aufklärung der Verweis auf die Natur als große Lehrmeisterin den Diskurs dominiert, findet sich in wenigen älteren Äußerungen auch die Bezugnahme auf die Grenzen des antiken Gallien, die es für Frankreich wieder zu erreichen gelte.
1.000.000
Einwohner hat Köln, es ist damit unangefochten die größte Stadt am Rhein. Es folgen Rotterdam mit 586.000, Düsseldorf mit 582.000 und Duisburg mit 497.000 Einwohnern.
In Verbindung mit der kurzlebigen Mainzer Republik (1793) greift Georg Forster, zu jenem Zeitpunkt noch vom zivilisatorischen Führungsanspruch Frankreichs überzeugter deutscher Jakobiner, die Idee der frontière naturelle auf: "Durch die Vereinigung mit uns erhaltet ihr, was euch von Rechtswegen gehört. Die Natur selbst hat gewollt, daß der Rhein die Gränze Frankreichs sein sollte, er war es in der That in den ersten Jahrhunderten des fränkischen Reichs."
Das napoleonische Frankreich selbst sollte es bei dieser frontière naturelle, zu deren Legitimation Forster zusätzlich die (hier frühmittelalterliche) Geschichte bemühte, jedoch nicht belassen. Nachdem zwischenzeitlich auch die Idee einer cisrhenanischen Republik im Raum stand, wurde in den Friedensschlüssen von Basel (1795), Campo Formio (1797) und Lunéville (1801) zunächst die Anbindung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich festgeschrieben. Die weitere Expansionspolitik führte schließlich 1806 zur Gründung des bezeichnenderweise Rheinbund (Confédération du Rhin) genannten Zusammenschlusses von anfangs 16 süd- und westdeutschen Fürsten, der unter dem Protektorat Napoleons I. der Beherrschung weiter Teile Deutschlands dienen sollte. Das Ende des Alten Reiches im gleichen Jahr bereitete aber zugleich den Boden für zahlreiche Reformen und verstärkte die aufkeimende patriotische Sammlung.
Der "deutsche Rhein"
Der deutsche Gegenentwurf zur frontière naturelle, die Konstruktion des Rheins als "Deutschlands Strom", verdankt sich diesen nationalen Gefühlen in gleichem Maß, wie sie sie befördert. Seine wohl bekannteste unter zahlreichen Formulierungen erfährt er auf dem Höhepunkt des antinapoleonischen Befreiungskampfes in Ernst Moritz Arndts Schrift Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze von 1813. In der Vision des auf Rügen geborenen Arndt wird der Rhein zum politischen, kulturellen und religiös-spirituellen Zentrum eines nicht zuletzt aus mittelalterlicher Größe schöpfenden Deutschlands. Seine Forderung nach einer Ablösung des deutschsprachigen Rheinlands von Frankreich begründet er vor allem auch mit der These: "Die einzige gültigste Naturgrenze macht die Sprache." Und jene Sprachgrenze verlaufe von Dünkirchen bis Basel.
Ähnlich hatte sich Schlegel, enttäuscht von seiner Frankreichreise, bereits 1803 geäußert, doch stand der Rhein bei ihm im Mittelpunkt einer auch europäisch orientierten Utopie:
"Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sie sein könnten, so wach, als am Rheine. Der Anblick diese königlichen Stromes muß jedes deutsche Herz mit Wehmut erfüllen […] Hier wäre der Ort, wo eine Welt zusammenkommen und von hieraus übersehen und gelenkt werden könnte, wenn nicht eine enge Barriere die sogenannte Hauptstadt umschränkte, sondern statt der unnatürlich natürlichen Grenze und der kläglich zerrißnen Einheit der Länder und Nationen, eine Kette von Burgen, Städten und Dörfern längst dem herrlichen Strome wiederum ein Ganzes und gleichsam eine größere Stadt bildeten, als würdigen Mittelpunkt eines glücklichen Weltteils."
Einen Weltteil im Sinne Schlegels zu beglücken, war jedoch nicht mehr Arndts Absicht. Ganze Zeitalter scheinen gar zwischen den Positionen Forsters bzw. Arndts zu liegen. Zwar sind sie in ungleichem Maße repräsentativ; sprach doch Forster zu einem spezifischen Zeitpunkt nur für eine kleine Zahl revolutionsbegeisterter Deutscher, wogegen Arndt einer weit verbreiteten national-patriotischen Stimmung Ausdruck verlieh.
Reformen am Rhein
Ungeachtet davon haben die Jahre der französischen Herrschaft am Rhein eine große Wirkung hinterlassen. Sie brachten den linksrheinischen Territorien nicht nur das Ende des althergebrachten staatlichen Partikularismus, sondern auch eine tief greifende Veränderung der "Landkarte der Gedankensysteme" (Lucien Febvre). Nach dem Frieden von Campo Formio, der die Neuorganisation der eroberten Gebiete in vier Departements nach sich zieht, werden en bloc die Gesetze veröffentlicht, die in Frankreich das Feudalregime und die Privilegien aufgehoben hatten. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gewerbefreiheit, später die Anerkennung des protestantischen (1802) und jüdischen Glaubens (1808) sollten für die weitere Entwicklung des Rheinlandes von größter Bedeutung sein. Gleiches gilt für die weit reichenden Infrastrukturmaßnahmen.
Gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und Transformationen muss die Etablierung Preußens als Machtfaktor am Rhein im Ergebnis des Wiener Kongresses (1815) als entscheidende Zäsur bewertet werden. Preußen hatte eigentlich das Königreich Sachsen favorisiert, erhielt auf dem Kongress auf Vorschlag Talleyrands aber stattdessen das Rheinland und Westfalen. In der Folge sollten die zuvor im deutschen Maßstab wenig politisierten Regionen zum wichtigen Aktionsfeld eines deutschen Nationalismus preußischer Prägung werden, was sich auf die Bewertung des Rheins direkt auswirken musste. Zudem bildet die fast zeitgleiche Entdeckung der reichhaltigen Kohlereviere nicht nur die Basis für den Aufstieg der Rheinprovinz und Westfalens zur größten Industrieansiedlung Mitteleuropas. Sie verstärkt mit der ökonomischen Bedeutung des Rheins, der zu einer der wichtigsten Verkehrsadern der Welt wird, zusätzlich die politische.
Die patriotische Stimmung und Rhetorik der Befreiungskriege erleichterte den neuen Herrschern die Machtübernahme. Bei Heinrich von Treitschke – Vertreter der borussisch-deutschen Nationalgeschichtsschreibung im Zeichen des Historismus – liest sich das neue Kräfteverhältnis am Rhein so:
"Wunderbarer Kreislauf der Geschicke! Von diesen schönen rheinischen Landen war vor einem Jahrtausend unsere Geschichte ausgegangen; jetzt fluthete der mächtige Strom des deutschen Lebens aus den jungen Colonistenlanden des Nordostens wieder nach Westen zurück in sein verschüttetes altes Bette."
Allerdings sollten antipreußische Ressentiments eine Konstante bleiben. Diese hatten einerseits politische Gründe, wie sie später etwa durch Heine oder Herwegh prominente Formulierung erfahren sollten. Zum anderen wurzelten sie in den Spezifika der regionalen Identität, vor allem in der kulturellen Nähe zu Frankreich sowie dem Katholizismus. Die Rheinkrise und die bataille lyrique
Das romantische Mittelrheintal. (© Inka Schwand)
Nachdem Frankreich im Pariser Frieden von 1815 auf das Rheinland verzichtet hatte, lebten die deutsch-französischen Auseinandersetzungen um den Rhein 1840 in aller Heftigkeit wieder auf. Hintergrund war die so genannte Orientkrise (deren Details hier nicht interessieren sollen), die Frankreich eine bittere außenpolitische Niederlage beschert hatte. Als Kompensation und Interessenausgleich im Selbstverständnis der grande nation forderten Politiker und breite Teile der Öffentlichkeit die Reaktivierung der Pläne zur Rückgewinnung des Rheinlandes. Militärische Vorbereitungen wurden getroffen, die Presse verbreitete die bekannte These der frontière naturelle. Fast zeitgleich wurden die Gebeine Napoleons von St. Helena in das Pariser Panthéon überführt, die damit verbundenen Erinnerungen an eine große Vergangenheit heizten die Stimmung zusätzlich an. Die Situation in der Rheinkriese entspannte sich erst mit der Entlassung des kriegsbereiten Ministerpräsidenten Thiers durch Louis Philippe.
Es blieb letztlich bei einer bataille lyrique, deren bekannteste Hervorbringungen verdeutlichen, mit wie viel Emotionalität und welch mythisch geprägtem Vokabular auf beiden Seiten operiert wurde. Eine im jeweiligen nationalen Selbstverständnis interpretierte Geschichte dient dabei der Legitimierung der konkurrierenden Ansprüche.
Als epochemachend ist Nikolaus Beckers Lied Der freie Rhein zu bezeichnen. Nachdem es im Oktober 1840 in der Kölnischen Zeitung, versehen mit einer Widmung an den französischen Schriftsteller Alphonse de Lamartine, zum zweiten Mal veröffentlicht wurde, löste es in Deutschland wie im Nachbarland heftige Reaktionen aus.
"Sie sollen ihn nicht haben,/ Den freien deutschen Rhein,/ Ob sie wie gierige Raben/ Sich heiser danach schrein./Sie sollen ihn nicht haben,/ Den freien deutschen Rhein,/ Bis seine Flut begraben/ Des letzten Manns Gebein!"
Nicht weniger bekannt wurde Max Schneckenburgers Lied Die Wacht am Rhein, das – wie bereits die ersten beiden Strophen verdeutlichen – mit rhetorischem Säbelgerassel gleichfalls nicht spart:
"Es braust ein Ruf wie Donnerhall,/ Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:/ Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!/ Wer will des Stromes Hüter sein?/ Lieb Vaterland, magst ruhig sein;/ Fest steht und treu die Wacht am Rhein!//
Durch Hundertausend zuckt es schnell,/ Und aller Augen blitzen hell:/ Der deutsche Jüngling, fromm und stark,/ Beschirmt die heilge Landesmark./ Lieb Vaterland, magst ruhig sein;/ Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"
Lamartine selbst reagierte im Mai 1841 mit seiner unter direktem Bezug auf Becker verfassten Marseillaise de la Paix in versöhnlicher Weise. Das kann im Vergleich zu den polemischen Ausfällen von deutscher Seite überhaupt für die Mehrzahl der französischen Schriftsteller gelten. Selbst Alfred Musset, für sein Gedicht Le Rhin allemand als Verteidiger nationaler Rechte gefeiert, schlägt wenigstens am Ende desselben einen moderateren Ton an:
"Wir haben ihn gehabt, den deutschen Rhein./ In unsrem Glas sahn wir ihn funkeln./ Mit eures Schlagers Prahlerein/ Wollt ihr die stolze Spur verdunkeln,/ Die unser Rosse Huf grub euch ins Blut hinein?"
"Wir haben ihn gehabt, den deutschen Rhein./ Wo waren die Germanensitten,/ Als über eure Ländereien/ Des mächtgen Kaisers Schatten glitten?/ Wo denn liegt eingesargt des letzten Manns Gebein?"
"Laßt friedlich fließen euren deutschen Rhein;/ Er spiegele geruhsam wider/ Der Dome gotisches Gestein;/ Doch hütet euch, durch trunkne Lieder/ Von ihren blutigen Schlaf die Toten zu befrein."
In offensichtlicher Verkennung der mythischen Qualitäten des Stromes empfahl Edgar Quinet in einem La Teutomanie überschriebenen Zeitungsartikel den Deutschen, sich als Entschädigung für den Rhein und zur Eindämmung russischer Ambitionen besser an der Donau zu positionieren.
Arndts Vision des "deutschen Stromes" wurde mit der Reichsgründung 1871 scheinbar Wirklichkeit. Mit der Angliederung Elsass-Lothringens in der Folge des deutsch-französischen Krieges geriet nun fast der gesamte Rhein, erweitert auf den Abschnitt von Basel bis Emmerich, unter deutsche Kontrolle. Vom Selbstverständnis des Deutschen Reiches, das in nicht geringem Maß auch auf der nun nahezu vollständigen Herrschaft über den Rhein basierte, legt das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am "Deutschen Eck", dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel bei Koblenz, beredtes Zeugnis ab. Glied einer Kette zahlreicher, innerhalb weniger Jahre entstehender Nationaldenkmäler, wird es vom in Richtung des "Erbfeindes" reitenden Hohenzollern Wilhelm I. gekrönt. Einen "Faustschlag aus Stein" nannte es Tucholsky ob seiner politischen Aussage und mangelnden künstlerischen Qualität.
Rheinlandbesetzung und Jahrtausendfeiern
Auf französischer Seite gehörte mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs neben der Repatriierung Elsaß-Lothringens auch die Rheingrenze zum Kanon der Kriegsziele. Neben strategischen und ökonomischen Gründen spielte das historische Argument der frontière naturelle eine mehr als rhetorische Rolle, dient es doch der Konstruktion französischer Rechtsansprüche auf das linke Rheinufer und wurde dadurch zum „juristischen“ Argument. Zur Annexion der Rheinlande sollte es jedoch nicht kommen. Die Franzosen, obgleich zu den Siegern des Krieges gehörend, konnten ihre Gebietsforderungen über die Wiedergewinnung Elsass-Lothringens hinaus nicht durchsetzen und mussten einer befristeten interalliierten Besetzung der Rheinlande im Frieden von Versailles zustimmen. Da diplomatische Interventionen wenig Erfolg versprechend erschienen, versuchte Frankreich zwischen 1919 und 1930 die rheinische Bevölkerung auf dem Umweg einer geeigneten Besatzungspolitik für seine Pläne zu gewinnen. Die Instrumentalisierung historiographischen Wissens spielte dabei eine bedeutende Rolle.
Die französische propagande historique rief einen medialen "Abwehrkampf" auf deutscher Seite hervor, als dessen Höhepunkt die "Jahrtausendfeier" des Jahres 1925 zu sehen ist. Im Rückgriff auf ein eher unbedeutendes und historisch umstrittenes Datum (die Inkorporation Lotharingiens in das Ostfrankenreich 925) wurden in ihr die Zugehörigkeit zu Deutschland und die Zurückweisung des französischen Annexionsgestus eindrucksvoll manifestiert. Im Kontext dieses propagandistischen Kampfes um den Rhein entstand 1927 die eingangs bereits kurz zitierte Satire Vater Rhein von Kurt Schwitters, in der er auf großartige Weise die (pseudo-)historischen Argumentationen ad absurdum führt:
"Übrigens ist der Vater Rhein Deutschlands Strom und nicht Deutschlands Grenze, das können sie schon auf jeder Landkarte finden. Ein Vater kann schlecht eine Grenze sein, dann eher schon ein Strom. Ich bin ja selbst Vater gewesen."
Am Beispiel des Rheins wird deutlich, wie "Landschaften" zum Objekt konkurrierender Inanspruchnahme und Mythenbildung werden können. Ebenso, dass Grenzziehungen mehr sind als politische oder militärische Akte. Oder, um es sinngemäß mit Lucien Febvre zu sagen: verschiedenartige kulturelle Bezugs- und Verweissysteme, abweichende Zusammenhänge von Ideen, Gefühlen und Begeisterungen sowie erregte Leidenschaften bis hin zum Hass markieren Grenzen in nicht geringerem Maß. Chronologie
1792: Napoleon rückt ans linke Ufer des Rheins vor. Es entstehen die Departements du Mont Tonnere, de Rhin et Moselle und de la Roer. 1793: Unter dem Einfluss der französischen Revolution wird die Mainzer Republik gegründet. 1806: Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bildet Napoleon den Rheinbund. 1813: Ernst Moritz Arndt veröffentlicht seine Kampfschrift Der Rhein. Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze. Die deutschen Befreiungskriege beenden den Rheinbund. 1815: Auf dem Wiener Kongress verliert Frankreich die linksrheinischen Gebiete, behält aber das Elsass. Das Rheinland kommt zu Preußen. 1840: Während der Rheinkrise beansprucht Frankreich den Rhein als natürliche Grenze. Es beginnt die Propagandaschlacht um den Rhein. 1871: Im deutsch-französischen Krieg besetzt das Deutsche Reich das Elsass und Lothringen. 1918: Im Waffenstillstand vom 11. November wird die Demilitarisierung des Rheinlandes festgelegt. 1919: Der Versailler Vertrag regelt eine "Friedensbesetzung" des Rheinlands. 1925: Antifranzösische so genannte Jahrtausendfeiern im Rheinland anlässlich des 1.000sten Jahrestags der Einverleibung des mittelfränkischen Lotharingen in das ostfränkische Reich Heinrichs I. 1930: Am 30. Juni beenden die französischen und belgischen Truppen die Rheinlandbesetzung. 1936: Hitler marschiert ins entmilitarisierte Rheinland ein.
Das romantische Mittelrheintal. (© Inka Schwand)
| Article | Dirk Suckow (D) | 2021-12-13T00:00:00 | 2012-05-11T00:00:00 | 2021-12-13T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135684/deutscher-rhein-franzoesischer-rhein/ | Kaum ein anderer Fluss in Europa ist national so aufgeladen wie der Rhein. Vor allem zwischen Deutschland und Frankreich war der 1233 Kilometer lange Fluss immer wieder umstritten und umkämpft. Die Dichter aus Frankreich und Deutschland lieferten sic | [
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Externer Link: Europäische Konservative und Reformer
Externer Link: Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa
Externer Link: Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke
Externer Link: Grüne / Freie Europäische Allianz
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Externer Link: Europa der Nationen und der Freiheit
Externer Link: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb
Externer Link: Bundeswahlleiter – Europawahlen 2019
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Externer Link: Wahlrecht.de, Europawahlrecht | Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2022-01-17T00:00:00 | 2019-03-19T00:00:00 | 2022-01-17T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/wahlen-zum-europaeischen-parlament-339/287777/literaturhinweise/ | Auf dieser Seite finden Sie Literaturangaben und Online-Quellen zur Ausgabe. | [
"IzpB 339/2018-2019"
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Workshop 1 | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de | Input
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Project Presentations
Interner Link: Stefan Krüskemper & Maria Linares, Common Berlin e.V. (Germany), "Common Berlin" (PDF-Version: 181 KB)Interner Link: Emilie Wacogne, Banlieues d´Europe (France), "Banlieues d´Europe" (PDF-Version: 188 KB)
Report
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| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-02-26T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/66631/workshop-1/ | The Impact of Cultural and Citizenship Education on Social Cohesion: Workshop 1 - Working in Neighbourhoods and District Management: Future Models for Participation and Empowerment? | [
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Nicht ganz dicht am rechten Rand? | Militär | bpb.de | Geht die Bundeswehr "verloren", wie Friedrich Merz (CDU) in der "Bild am Sonntag" nahelegte? Lauert eine "Schattenarmee" ("Focus"/"Taz") in den tarnfarbenen Kulissen, um am "Tag X" loszuschlagen? Erliegt die Truppe der rechtspopulistischen Versuchung der AfD, die sich als "Soldatenpartei" ("Bild") zu profilieren versucht? In den vergangenen zwei Jahren ist in der Tat eine Häufung der sogenannten Verdachtsfälle wegen Rechtsextremismus in der Truppe zu erkennen. Die aktuelle Zahl von 592 rechtsextremistischen Verdachtsfällen (von insgesamt 743 in 2019) übersteigt, militärisch gesprochen, die Bataillonsstärke. Von Dunkelziffern und Sympathisanten ist dabei noch gar nicht die Rede. Die Fälle häufen sich beim Kommando Spezialkräfte (KSK), das der Militärische Abschirmdienst (MAD) daher "als Bearbeitungsschwerpunkt in den Fokus" genommen hat.
Die Frage drängt sich auf: Ist die Bundeswehr am rechten Rand nicht ganz dicht? Die Behörden wollen jetzt genauer hinsehen. Eine Koordinierungsstelle für Extremismusverdachtsfälle ist im Verteidigungsministerium eingerichtet worden und legt jährlich öffentliche Berichte vor. "Ziel ist es", so MAD-Präsident Christof Gramm, "nicht nur Extremisten, sondern auch Personen mit fehlender Verfassungstreue aus der Bundeswehr zu entfernen." Soldaten haben "Verfassungspatrioten von Berufs wegen" zu sein, betont er. Doch was Einstellungsmuster in der Truppe und ihren Wandel betrifft, tappt die Bundeswehr einstweilen im Dunklen. Über die Entwicklungen nach Aussetzung der Wehrpflicht 2011 gibt es keine einschlägigen empirischen Untersuchungen. Zudem trägt das Wechselspiel zwischen Bundeswehr, Verteidigungsministerium und Medien wenig dazu bei, das Bild zu erhellen. Gewiss dokumentieren die Medien aufmerksam Vergehen, Skandale und Übergriffe, die aus den Streitkräften zu melden sind. Aber ihr Zugriff ist oft kurzatmig und alarmistisch. Die Politik hingegen hat sich lange Jahre damit begnügt, jeglichen "Generalverdacht" zurückzuweisen, die Summe der Anlässe zu "Einzelfällen" herabzustufen und im Übrigen darauf zu verweisen, dass die Bundeswehr ein "Spiegel der Gesellschaft" sei. Diesen Verlautbarungen ist die Unstimmigkeit entgangen, dass die Spiegel-These unter gegebenen Umständen durchaus einen alarmierenden Trend anzeigen könnte, während die Einzelfall-These genau dies im gleichen Atemzug dementiert.
Eine aktuelle und vorbehaltlose Lageanalyse, die über die Auflistung von "Vorfällen" hinausgeht, fehlt derzeit. Dazu gehört die Frage nach den strukturellen Affinitäten zwischen Militär und Rechtsaußen, den selbstverstärkenden Mechanismen der militärisch-politischen Sozialisation und nach der Bedeutung subkultureller Milieus für die Ausprägung politischer Einstellungen und ihre Radikalisierung. Empirische Studien zu diesen Problemen sind rar und überwiegend mehr als zehn Jahre alt. Insofern operiert jede Bestandsaufnahme gegenwärtig im Ungewissen. Was vorerst bleibt, ist eine indirekte Annäherung an das politische Profil heutiger Bundeswehrsoldaten.
Die hier vorgenommene Erkundung einiger Eigenarten des militärischen Feldes diskutiert fünf Fragestellungen: Erstens, welche Bedeutung hat die Wehrmachtsvergangenheit in der heutigen Bundeswehr? Zweitens, welche Rolle spielt der Militärkonservatismus unter den Bundeswehrsoldaten? Drittens, welche Konflikte erzeugt das Nebeneinander von Einsatzkräften und Ausbildungsarmee in den Streitkräften? Viertens, steht mit der AfD eine rechtspopulistische Soldatenvertretung ins Haus? Und, fünftens, welche Grauzonen bestehen zwischen militärkonservativen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Einstellungen?
Das Wehrmachterbe – eine Frage des Berufsbildes
Die wiederholten Pressemeldungen über einen fragwürdigen Umgang von Soldaten mit Wehrmachtssymbolen irritieren gewiss, weitergehende Schlüsse auf die Einstellungen in der Bundeswehr lassen sie jedoch nicht zu. Nachdrücklich wurde die Abgrenzung von der Wehrmacht als Institution und in ihren Gliederungen in den jüngsten Richtlinien zur Traditionspflege vom März 2018 bekräftigt. Das Problem liegt an anderer Stelle. Die Durchsuchung der Kasernen nach Wehrmachtsdevotionalien, die von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 2017 in Reaktion auf den Fall des als Rechtsterrorist verdächtigten Oberleutnants Franco A. angeordnet wurde, lieferte den Streitkräften einen weiteren Anlass für den verbreiteten Vertrauensverlust in die politische und zum Teil auch militärische Führung. Die Distanz zur Politik ist (nicht nur) dadurch größer geworden.
Im Verhältnis zur Politik und nicht bei den Devotionalien zeigt sich eine indirekte Präsenz des Wehrmachtmythos. In der Nachkriegszeit fand er Ausdruck in der Formel des "unpolitischen Soldaten", der guten Glaubens, eidestreu und tapfer gekämpft habe, aber vom NS-Regime "missbraucht" worden sei. Diese Formel hatte mehr mit dem Entschuldungs- und Integrationskurs der frühen Bundesrepublik zu tun als mit der historischen Realität der Wehrmacht, aber sie war geeignet, eine Legitimationsgemeinschaft zwischen den alten und den neuen Soldaten zu stiften. In die Bemühungen der Wehrreform der 1950er Jahre, mit dem Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" einen modernen Typus des Soldaten zu schaffen, der "freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich" sein sollte, wurde damit ein Widerspruch getrieben. Denn der neue Soldat sollte weder unpolitisch sein, noch sollte er sein Berufsverständnis allein auf militärhandwerkliche Fähigkeiten und ewige Tugenden gründen.
Das gewünschte Mehr ist jedoch immer wieder umstritten. Oftmals erscheint es als eine Zusatzleistung, die dann hintan stehen muss, wenn die "scharfe Seite" des Berufs gefragt ist. So war es bezeichnend, als Bundeswehroffiziere zu Beginn der Auslandseinsätze in den 1990er Jahren davon schwärmten, man sei nun "endlich" wieder in der "Normalität" angekommen. Aus diesen Bemerkungen sprach die Erwartung, mit Einsatz und Kampf seien die Kernaufgaben des Soldatenberufs "wieder" in den Mittelpunkt gerückt. Die spätere Formulierung eines Heeresinspekteurs, man brauche "archaische Kämpfer", war nicht geeignet, solchen Anwandlungen entgegenzuwirken. Das Zentrum Innere Führung der Bundeswehr meldete Dissens an: Die Entscheidung des Ministeriums, Soldatenbild und Berufsprofil zu eng, "robust und kriegsnah" zu bemessen, hätte zur Entwicklung eines "apolitischen Soldatentypus" geführt.
Von den hier beschriebenen Haltungen und Einstellungen führt kein direkter Weg nach Rechtsaußen. Verdichten sie sich aber zu einem Syndrom aus militärhistorischen Mythen, unpolitischen Leitbildern und politischer Ahnungslosigkeit, lassen sich Brücken in diese Vorstellungswelt schlagen.
Der Militärkonservatismus des Staatsbürgers in Uniform
In der Bundeswehr sind alle politischen Einstellungen und parteipolitischen Präferenzen vertreten, das Gesamtspektrum weist jedoch eine eindeutig konservative Schlagseite auf. Empirische Studien über den Offiziersnachwuchs der 1990er Jahre gingen so weit, "einen direkten Zusammenhang von konservativer Weltanschauung, Offizierberufswahl und soldatisch-männlicher Lebenswelt" herzustellen. Das Bild der Bundeswehr, das sich hier ausschnitthaft bot, war kein "Spiegel der Gesellschaft". Das galt jedoch auch in anderer Hinsicht, denn das politische Interesse und die Verantwortungsbereitschaft junger Offiziere waren überdurchschnittlich hoch; nur eine Minderheit kollidierte mit den Normen und Werten der parlamentarischen Demokratie. Wie sah dieser rechte Randbereich aus?
Es macht einen großen Unterschied, ob sich hinter einer konservativen Gesinnung strukturkonservative Haltungen des Bewahrens von Recht und Ordnung, Anstand und Integrität verbergen oder aktivistische Auffassungen der Neuen Rechten, die nach einer kulturell-politischen Hegemonie des Ungleichheitsdenkens oder der Ethnopolitik strebt. Die Ausdifferenzierung des "konservativen gesellschaftspolitischen Einstellungsmusters", das 1997 bei etwa 61 Prozent des Offiziernachwuchses anzutreffen war, offenbarte ein ganzes Spektrum an moderaten, christlichen und liberalen Orientierungen. Insgesamt etwa 17 Prozent der Befragten verorteten sich jedoch nicht nur rechts der Mitte, sondern deutlich rechts von den christlich- oder liberal-konservativen Mehrheitsgruppen ("national-" und "rechts-konservativ"). Aber auch hier kommt es auf die Relationen an, denn eine weitere Studie belegte, dass 2007 die Zustimmungswerte für neurechtes Gedankengut bei den Studierenden ziviler Hochschulen mit 26 Prozent doppelt so hoch waren wie bei den Offizier-Studenten der Bundeswehruniversitäten. Die militärische Affinität zu konservativen Weltbildern führte offenbar keineswegs automatisch zu einer Spitzenposition am rechten Rand – weder in der Gesellschaft noch unter den Studierenden.
Hervorzuheben ist freilich, dass diese Daten aus den Zeiten der Wehrpflicht stammen. Mit dem Übergang zur Berufs- und Freiwilligenarmee hat sich der Kontext gewandelt. Der empirische Befund, dass Berufssoldaten "rechter" sind als Zeitsoldaten, erhält ein anderes Gewicht. Wurden die rechtsextremen "Vorfälle" vordem als Schwellenphänomen bei jungen Wehrpflichtigen bewertet, könnte sich die Problematik jetzt mitten in eine Truppe mit überwiegend längeren Dienstzeiten und auf die Reservisten verlagern. Der kritische Punkt dürfte jedoch bei jenen Sorgen liegen, die schon die rechtslastigen Militärkonservativen der 1990er Jahre umtrieben: Sie verfolgten den Umbau und Auftragswandel der Bundeswehr mit Skepsis. Während sie ihren Berufsstand für außergewöhnlich hielten, befürchteten sie zugleich, dass ihnen die gesellschaftliche Anerkennung vorenthalten werde. Die "Verunsicherung" auf dem rechten Flügel des damaligen Offiziernachwuchses war "unübersehbar". Es scheint so, als sei ein Gefühl des Unbehagens in den Folgejahren generalisiert und politisiert worden. Auch wenn sehr unterschiedliche Motive im Spiel waren, auffällig war, dass 2007 die Hälfte der Offizier-Studenten Kritik am "politischen System" und dem Zustand des Parlamentarismus anmeldeten. Damit war ein deutliches Signal für die Legitimationsschwäche der Politik gegeben und ein mögliches Brückennarrativ etabliert, das von Rechtsaußen wie aus der Mitte heraus bedient werden konnte.
Der Konflikt zweier Bundeswehren – "hot" und "cold"
Die Bundeswehr ist keine "totale Institution" (Erving Goffman) und keine isolierte Instanz. Um jedoch einem möglichen Einstellungswandel unter den Militärangehörigen auf die Spur zu kommen, sind die internen Konfliktfelder zu bedenken. In der Militärsoziologie wird zwischen dem Regelzustand einer Friedensarmee ("cold") und der Dynamik einer Einsatzarmee ("hot") unterschieden. Zeichnet sich der eine Aggregatzustand – idealtypisch – durch Bürokratie, Management, Fragmentierung und sinkende Kohäsion aus, strukturiert sich die "hot organization" flexibel, verlangt herausgehobene Führungsqualitäten, kräftigt das kollektive Handeln, grenzt sich aber auch schärfer nach außen ab und begünstigt subkulturelle Muster. Diese Strukturbeschreibung besitzt mit dem jetzigen Nebeneinander von Ausbildungsarmee und Einsatzarmee aktuelle Relevanz; es ist ein organisatorischer Dauerzustand geworden, der von Reformwellen und Umstrukturierungen und einem andauernden Spannungsverhältnis von Aufträgen, Kräften und Mitteln geprägt ist. In der Truppe treffen diese Problemlagen zudem auf hoch differenzierte Milieus, die eine bunte und durchaus nicht widerspruchsfreie Organisationskultur hervorgebracht haben. Beträchtlichen Einfluss auf das Binnenklima nehmen jene Gruppen der Berufssoldaten, die mit insgesamt 36 Prozent dem traditionellen und dem konservativ-etablierten Milieu zuzurechnen sind. Bemerkenswert ist, dass sich unter den jungen Offizier-Studenten 2014 erstmals eine Gruppe ("Armee im Aufbruch") öffentlich artikuliert und zum Teil radikal konservative Positionen zur Diskussion gestellt hat.
Wer die Meinungsführerschaft in dieser Gemengelage erringen kann, ist nicht abzusehen. Da treffen uniformierte Dienstleister mit Home Office und Teilzeitregelungen auf Einsatzsoldaten, denen die Regulierungen der Soldaten-Arbeitszeitverordnung als Hohn erscheinen; ausgeweidete Truppenteile stehen neben vollausgestatteten Einsatzkräften; Vorgesetzte sind konfrontiert mit bürokratischem Wust und Überzentralisierung, sodass ihnen die Zeit fehlt, sich persönlich um ihre Leute zu kümmern; Neuzugänge warten auf Ausbildung, Gemeinschaft und Einsatz, werden aber in Zwischenverwendungen geschickt und leben auf Einzelstuben in Kasernen, die nach 17 Uhr keine Aufsicht, aber auch keine Freizeitangebote kennen. Diese und ähnliche Erfahrungen tragen den Stachel der Politisierung in sich: wenn Soldaten nicht nur öffentliche Anerkennung vermissen, sondern auch das Verschwinden der Truppe aus der Fläche beklagen; wenn die Würdigung von Einsätzen hohl bleibt, weil die sicherheitspolitische Legitimation und Evaluierung fehlt; wenn allerseits die Mangelausstattung der Streitkräfte beklagt wird, die einsatzfähige Auslieferung aber Jahr um Jahr auf sich warten lässt; wenn die angekündigten "Trendwenden" in Personal, Material, Finanzen und Ausbildung "kaum oder zu langsam greifen"; wenn der Eindruck entsteht, die militärische Führung verhalte sich allzu willfährig gegenüber den Vorgaben der Politik – oder wenn die Politik die erwartete Sorgfalt und Verantwortung vermissen lässt.
Das Wechselbad von "hot" und "cold" kann an die Grenzen der Geduld und der Loyalität führen. Die bei den Soldaten seit Jahren konstatierte "Politikverdrossenheit" bedarf nur noch der Anlässe und Angebote, den angestauten Unmut in Gesinnung und Handeln zu überführen. In Flurgesprächen mit Soldaten ist nicht zu überhören, dass eine Präferenz für die Volksparteien, auch für die Union, nicht mehr automatisch gegeben ist.
Das Angebot des Rechtspopulismus: Zum Wehrprogramm der AfD
Wird die AfD die "neue Soldaten-Partei" und schließt mit ihrer Programmatik eine in den Streitkräften gefühlte Vertretungslücke? Unter den 35.000 Parteimitgliedern werden Schätzungen zufolge 2100 Soldaten vermutet; in der Bundestagsfraktion finden sich elf ehemalige Berufs- und Zeitsoldaten, der Mitarbeiterstamm reicht tief ins rechtsextreme Lager. Inzwischen hat die Partei ein Wehrprogramm vorgelegt, das mit dem wohlwollenden Echo eines ehemaligen Obersten rechnen konnte: "Nicht alles, was die AfD sagt, ist falsch."
Die wehrpolitischen Vorstellungen der Partei präsentieren sich als ein konservatives Programm, zielen in der Substanz jedoch weit über die bestehende Wehr- und Verfassungsordnung und den sicherheitspolitischen Konsens hinaus. Um den schwankenden Wehretat zu stabilisieren, sollen der Verteidigungshaushalt der alljährlichen Zustimmung des Parlaments (Art. 86a GG) entzogen, Rüstung, Beschaffung und Exportquoten mit einer Bestandsgarantie versehen und die grundgesetzliche Trennung von Zivilverwaltung und Militär (Art. 87b GG) aufgehoben werden. Ein Generalstab soll die zersplitterten militärischen Planungs- und Führungsfunktionen bündeln. Die vieldiskutierte Trennung von äußerer und innerer Sicherheit würde nach dem Willen der AfD entfallen und die Bundeswehr fortan "zum Einsatz im Inneren autorisiert". Ein erweitertes Reservistenkorps soll im "Heimatschutz" zum Einsatz kommen, dessen erklärter Schwerpunkt der Schutz der deutschen Außengrenzen ist. Die deutschen Spezialkräfte sollen im Falle terroristischer Bedrohungen, "an jedem Ort der Erde (…) zur Gefahrenabwehr und zur Unterstützung der Strafverfolgung im Ausland" befähigt werden. Die AfD bekennt sich zur Nato und sieht Deutschland in einer "europäischen Führungsrolle", während sie weiteren EU-europäischen Ambitionen eine Absage erteilt.
Die "geistig-moralische Reform", die die AfD der Bundeswehr verschreiben will, zielt auf eine "Armee der Deutschen", deren Soldaten zum "unerbittlichen Kampf im Gefecht" ausgebildet, sich auf "deutsche Werte" und soldatische Tugenden stützen und vom "Wehrwillen" der Bevölkerung getragen werden sollen. Die akademische Ausbildung von Offizieren wird zum Ausnahmefall erklärt, die Traditionsbildung bleibt der Truppe zur Selbstgestaltung überlassen.
Mit dem Vorwurf, die deutsche Politik verübe durch die Vernachlässigung der "Wehrbereitschaft" einen akuten "Verfassungsbruch", erhält das AfD-Wehrprogramm einen dynamischen Überschuss, in dem sich der rechtspopulistische Doppelcharakter der Partei als konventionelle ("bürgerliche") Organisation und als radikale ("gärige") Bewegung deutlich abbildet. Das Programm appelliert an das Ressentiment des Lesers: Wenn von "Verfassungsbruch" und "Staatskrise" die Rede ist, sollte da der Schritt zum "Widerstand" illegitim sein? Die Delegitimierung des Verfassungsstaats fördert ein Klima der Selbstermächtigung, in dem man gegebenenfalls auf eigene Faust tut, was getan werden muss – oder das Tun anderer toleriert. Sollten die Rechtsausleger des Militärkonservatismus dieser Spur folgen, wäre der Rubikon zum Extremismus überschritten.
In der Grauzone – Tendenzen zur Selbstermächtigung
Gerade weil extremistische Einstellungen und Weltbilder nicht geschlossen und monolithisch sind, sondern diffuse Cluster und Muster bilden, sind Radikalisierungsprozesse oft fließend. Ein markantes Merkmal akuter extremistischer Haltungen, diesseits wie jenseits des Straf- und Disziplinarrechts, scheint die individuelle oder gruppenbezogene Selbstermächtigung zu sein. Dabei genügt nicht allein, dass sich rechtsextreme Einstellungsmuster wie ein rassistisch motiviertes Ungleichheitsdenken verfestigen, ethnische Homogenitätsideale vertreten werden, der Vorrang der völkischen Gemeinschaft vor dem Individuum betont oder der Wertepluralismus der liberalen Demokratie abgelehnt wird. Das alles sind Brückennarrative, die dann brisant werden, wenn sich Krisen verdichten.
Das Zusammenspiel von aktivistischen Affekten und Krisenwahrnehmungen lässt sich derzeit in der sogenannten Prepper-Szene beobachten, die sich auf den "Tag X" vorbereitet, an dem, wie unterstellt wird, der Staat versagt, die Infrastruktur zusammenbricht, die Kriminalität überhandnimmt oder die Grenzen offen stehen. Wenn "es passiert", steht alles "auf dem Spiel", das "Maß ist voll" und "die Situation da"; dann muss man "bereit sein, schlechte Dinge tun". Hier handelt es sich zwar um Zitate aus kleinen Chat-Gruppen und informellen Communities, gleichwohl reichen die Netzwerke in die Sicherheitsbehörden hinein. Die Spuren führen bis zu den Kampftruppen; Kontakte gibt es in die Reservistenszene. Aufsehen erregte der Fall des Oberleutnants Franco A., der bis 2017 eine Doppelexistenz als "Flüchtling" und als Soldat führte, sich bewaffnet hatte und in dessen Umfeld sich Anschlagsplanungen und Proskriptionslisten fanden.
Jenseits des Radau-Extremismus einflussreich, aber wenig analysiert ist eine diffuse White-Collar-Dissidenz in Form der Elitenkritik, eines überkommenen "Kasinoextremismus" (Elmar Wiesendahl), des verbreiteten Unbehagens an der "postheroischen" Gesellschaft und einer Politik- und Staatsverdrossenheit, auf die bereits die Studien aus den 1990er Jahren hingewiesen hatten. Auch wenn die Ausgangspunkte durchaus unterschiedlich sein mögen, hier finden sich Anschlussstellen zu extremistischen Einstellungsmustern, und der extremistische Aktivismus kann unter Umständen mit einem Resonanzboden rechnen. Mit der Flüchtlingskrise ab 2015, als bis hinein in die Unionsparteien ein "Staatsversagen" diagnostiziert und von einer "Herrschaft des Unrechts" gesprochen wurde, und seit der Konsolidierung der AfD dürfte diese Haltung an Zulauf gewonnen haben. Wieweit die Netzwerke "alter Herren" aus dem höheren Offizierkorps eine bremsende oder eine Verstärkerfunktion erfüllen, lässt sich empirisch schwer erfassen.
Die in diesen Grauzonen anzutreffende Tendenz zur Selbstermächtigung bedient sich einer Umkehr der Beweislast: Ist Politik und Parlament, Dienstherr oder Kanzlerin erst einmal das Vertrauen entzogen, fällt der Legitimationsgewinn an den Ankläger – er bestimmt, was von Staats wegen geboten ist, was der Soldat zu sein hat, was das Volk will und was die Nation zum Überleben braucht. Dieses Problem verlangt andere Instrumente und Instanzen als die Beobachtung, Meldung und Ahndung von "Vorfällen". Hier ist die Innere Führung gefordert, die dringend der Revitalisierung bedarf. Auf ihre Agenda gehört die Sorge um ein offenes Betriebsklima, eine engagierte innerorganisatorische Kommunikation, eine wirksame niedrigschwellige Fehlerkultur, gute bürokratiearme Führung, eine funktionierende und ansprechende Bildungsarbeit, realistische Berufs- und Leitbilder und eine Überwindung jener bereits seit der Weizsäcker-Kommission zur Zukunft der Bundeswehr (2000) diagnostizierten notorischen "organisierten Verantwortungslosigkeit", die (allzu oft) Ministerium und Truppe lähmt.
Bilanz
Ganz dicht am rechten Rand ist die Bundeswehr nicht. Ob sie aber näher dran ist als die zivile Gesellschaft, ist empirisch eine derzeit offene Frage. In jedem Fall sind extremistische Tendenzen in einem bewaffneten Machtorgan des demokratischen Staates intolerabel und gefährlich. Strukturelle Faktoren innerhalb der Streitkräfte begünstigen die Entwicklung einer Grauzone zwischen dem – dominanten – Militärkonservatismus, rechtspopulistischen Entstellungen und dem rechtsextremen Rand. Dazu gehört ein unpolitisches Berufsbild, die zahllosen Konfliktfelder einer auf Dauer gestellten Mangelbewirtschaftung, Bürokratisierung und Zentralisierung, der verbreitete Eindruck geringer gesellschaftlicher Wertschätzung und der grassierende Vertrauensverlust in "die Politik" und die regierenden Parteien. Die AfD operiert in dieser Grauzone als "Kümmerer-Partei", aber auch mit Sinnangeboten, die eine Radikalisierung begünstigen können. In Gestalt der Inneren Führung, die mündige und zugleich professionelle Bürger-Soldaten zum Leitmodell erklärt, verfügt die Bundeswehr jedoch über ein Brückennarrativ, das in die entgegengesetzte Richtung verweist. Damit dies greift, sind allerdings gemeinsame Anstrengungen von Militär, Politik und Gesellschaft notwendig.
"Bei der Eliteeinheit fünfmal so viele Verdachtsfälle". Interview mit Christof Gramm, dem Präsidenten des MAD, in: Welt am Sonntag, 26.1.2020, S. 5 – Für Diskussionsbereitschaft und Rat danke ich Bernd Gäbler, Uwe Hartmann und Bernhard Muszynski.
Gramm (Anm. 1).
Vgl. Winfried Nachtwei, Eine Diskussion so alt wie die Bundeswehr? Rechtsextreme Einstellungen und Vorfälle im Umfeld der Bundeswehr, in: Gorch Pieken/Mathias Rogg (Hrsg.), Rechtsextreme Gewalt in Deutschland, 1990–2013, Dresden 2013, S. 102–115.
Vgl. vor allem Arwed Bonnemann/Ulrike Hofmann-Broll, Studentische Orientierungen zwischen akademischer und soldatischer Lebenswelt. Evaluation an den Universitäten der Bundeswehr, Baden-Baden 1997; Thomas Bulmahn et al., Ergebnisse der Studentenbefragung an den Universitäten der Bundeswehr Hamburg und München 2007, Potsdam 2010.
Zum Konzept vgl. Ulrich vom Hagen, Homo militaris. Perspektiven einer kritischen Militärsoziologie, Bielefeld 2012.
Vgl. Donald Abenheim/Uwe Hartmann (Hrsg.), Tradition in der Bundeswehr. Zum Erbe des deutschen Soldaten und zur Umsetzung des neuen Traditionserlasses, Berlin 2018.
Vgl. Bert-Oliver Manig, Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2004.
So die Ausgangsdefinition in der Verfügung des Amts Blank: Regelung der "Inneren Führung" vom 10. Januar 1953.
Vgl. Uwe Hartmann, Der gute Soldat. Politische Kultur und soldatisches Selbstverständnis heute, Berlin 2018. Siehe dazu die Debatte zwischen Jochen Bohn und Klaus Naumann, in: Jahrbuch Innere Führung 2018, Berlin 2018, S. 270–291; S. 292–312.
Vgl. Elmar Wiesendahl, Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Ein Beitrag zur Aufhellung eines tabuisierten Themas, in: Sicherheit + Frieden 4/1998, S. 239–246.
"Die Bundeswehr braucht archaische Kämpfer." Hans-Otto Budde soll das Heer in die Zukunft führen, in: Welt am Sonntag, 29.2.2004, S. 5.
Jahresbericht 1997, zit. nach Winfried Nachtwei (MdB, Bündnis-Grüne), Abweichender Ergebnisbericht zum 1. Untersuchungsausschuss des Verteidigungsausschusses, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 13/11005, 18.6.1998, S. 176, Anm. 24.
Bonnemann/Hofmann-Broll (Anm. 4), S. 186, auch S. 142. Vgl. auch vom Hagen (Anm. 5), S. 52ff.
Bulmahn (Anm. 4), S. 130.
Vgl. Bonnemann/Hofmann-Broll (Anm. 4), S. 177–184, S. 185.
Ebd., S. 184.
Vgl. Bulmahn (Anm. 4), S. 14, S. 135f.
Vgl. Joseph L. Soeters/Donna J. Winslow/Alise Weibull, Military Culture, in: Guiseppe Caforio (Hrsg.), Handbook of the Sociology of the Military, New York 2003, S. 237–254; Martin Elbe/Gregor Richter, Militär: Institution und Organisation, in: Nina Leonhard/Ines-Jacqueline Werkner (Hrsg.), Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden 2012², S. 244–263.
Die Konzeption der Bundeswehr, Berlin, 20. Juli 2018, spricht von der "Gleichwertigkeit" der Aufgaben, die aus einem "single set of forces" bedient werden sollen.
Vgl. Marc Calmbach, Bundeswehr. Soziokulturell so vielfältig wie unsere Gesellschaft, in: Kompass 9/2012, S. 4–7.
Vgl. Marcel Bohnert/Lukas J. Reitstetter (Hrsg.), Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr, Berlin 2014.
Ein Stimmungsbild bieten die vom Wehrbeauftragten veröffentlichen Auszüge aus dem ansonsten unzugänglichen Berichtsentwurf zum Bundeswehr-Programm "Innere Führung – heute", BT-Drs. 19/16500, 28.1.2020, S. 12ff.
"Das ist teilweise zermürbend". Interview mit Oberfeldwebel René Schötz, in: Die Bundeswehr 12/2019, S. 31.
Wolf Poulet, Die Angst vor einer "AfD-Wehr", 4.9.2019, Externer Link: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-afd-forderungen-zur-zukunft-der-bundeswehr-16367692.html. Vgl. Arbeitskreis Verteidigung der AfD-Fraktion, Streitkraft Bundeswehr, Berlin 2019; ausführlich zum Wehrprogramm der AfD: Klaus Naumann, Wehrnationalismus und Heimatschutz. Wie die AfD die Bundeswehr, die parlamentarische Ordnung und Europa umkrempeln will, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2019, S. 89–96; Donald Abenheim, Bundeswehr and Alternative für Deutschland (AfD): Die "Soldatenpartei"?, in: Jahrbuch Innere Führung 2019, Berlin 2019, S. 48–79.
Vgl. Christopher Daase/Nicole Deitelhoff/Julian Junk (Hrsg.), Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen, Frankfurt/M. 2019.
Vgl. Armin Steil, Krisen-Semantik. Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem Topos moderner Zeiterfahrung, Opladen 1993; zu den "Brückennarrativen" vgl. Daase/Deitelhoff/Junik (Anm. 25), S. 91–130.
Diese und ähnliche Äußerungen aus der "Prepper"-Szene werden in der Reportage von Justus Bender zitiert, Deutsche Wildnis. Uniter bereitet sich auf die Katastrophe vor, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.9.2019, S. 3.
Vgl. Matthias Meisner/Heike Kleffner (Hrsg.), Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, Freiburg/Br. 2019.
Vgl. Nachtwei (Anm. 3) S. 107ff.; in den Abschlussberichten des 1. Untersuchungsausschusses (Anm. 12), ist nur seitens der Oppositionsparteien von dieser Problematik die Rede.
Das von Uwe Hartmann und Claus von Rosen seit 2009 herausgegebene Jahrbuch Innere Führung ist ein zentraler Protagonist dieser Forderung.
Zu den Defiziten bei der Umsetzung des Programms "Innere Führung – heute" (Anm. 22) vgl. Klaus Naumann, Anspruch und Wirklichkeit: Innere Führung ist mehr als Menschenführung, in: Europäische Sicherheit 7/2019, S. 13–16.
| Article | , Klaus Naumann | 2022-02-10T00:00:00 | 2020-04-09T00:00:00 | 2022-02-10T00:00:00 | https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/307662/nicht-ganz-dicht-am-rechten-rand/ | Häufung von "Verdachtsfällen“, Berichte über eine "Schattenarmee“: Extremistische Tendenzen in einem bewaffneten Machtorgan des demokratischen Staates sind gefährlich. Doch wie dicht dran am rechten Rand ist die Bundeswehr? | [
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Kommentar: Erinnerungskultur in der "Zeitenwende". Die deutsche Weltkriegserinnerung und der Ukrainekrieg | Ukraine-Analysen | bpb.de |
Zusammenfassung
Neben Kanzler Olaf Scholz und den Verfasser:innen Offener Briefe scheinen auch breite Teile der Gesellschaft in Deutschland bei Waffenlieferungen in die Ukraine zu zögern. Ein Grund für dieses Zaudern ist die viel gelobte deutsche Erinnerungskultur.
Neben Kanzler Olaf Scholz und den Verfasser:innen Offener Briefe scheinen auch breite Teile der Gesellschaft in Deutschland bei Waffenlieferungen in die Ukraine zu zögern. Ein Grund für dieses Zaudern ist die viel gelobte deutsche Erinnerungskultur.
Viele Deutsche tun sich schwer damit, die Ukraine in ihrem Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg militärisch zu unterstützen. Eine in der Regierungspolitik vor allem auf Seiten der SPD deutlich erkennbare Zögerlichkeit scheint – wenn man aktuellen Umfragen glauben darf – auch in Teilen der Bevölkerung verbreitet zu sein. Personen des öffentlichen Lebens bringen in Talkshows, Zeitungsartikeln und offenen Briefen nicht nur ihre Ablehnung gegenüber der Lieferung von schweren Waffen zum Ausdruck. Sie äußern auch generell Unbehagen und Zweifel an einer militärischen Gegenwehr, deren letztendlicher Nutzen ihnen angesichts der Opfer und einer möglichen Ausweitung des Krieges fraglich erscheint.
Gelegentlich explizit und noch häufiger implizit wird dabei auf die deutsche Erfahrung des Zweiten Weltkriegs Bezug genommen und auf die Lehren, die daraus zu ziehen sind. Generationsbedingt spielen dabei eigene Erinnerungen nur noch bei wenigen Akteuren eine Rolle (und führen auch zu höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen, zum Beispiel bei Klaus von Dohnanyi und Gerhart Baum). Manche rekurrieren, wie Harald Welzer, auf familiäre Kriegserinnerungen. Von noch größerer Bedeutung ist heute aber wohl die öffentliche Erinnerungskultur, die sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat und den gesellschaftlichen Blick auf Geschichte und Gegenwart gleichermaßen prägt.
Eine "offene und selbstreflexive Debatte um erneuerte historische Vergewisserung" sei in einem "Deutschland der "Zeitenwende"" dringend nötig, schreibt Michael Wildt im Zusammenhang der Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus. Aber gerade auch der Krieg in der Ukraine stellt die deutsche Erinnerungskultur auf den Prüfstand. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise sie zu einer zurückhaltenden und zögerlichen Haltung gegenüber einer militärischen Unterstützung der Ukraine beigetragen hat. Bedürfen bestimmte erinnerungskulturelle Gewissheiten und Gewichtungen vor diesem Hintergrund einer neuen Bewertung oder veränderten Justierung?
"Nie wieder Auschwitz" – "Nie wieder Krieg"
Konstitutiver Bezugspunkt und negatives Zentralereignis der deutschen Erinnerungskultur ist heute unbestreitbar der Holocaust. "Nie wieder Auschwitz!" ist seit den 1980er Jahren erinnerungskultureller Kernbestand und handlungsleitende Maxime zugleich. Vor allem im politisch eher linken Spektrum verband sich damit vielfach das pazifistische Diktum "Nie wieder Krieg!". Zusammen wirkten beide lange Zeit wie zwei Seiten derselben Medaille. Tatsächlich war der Holocaust nur vor dem Hintergrund des deutschen Eroberungskrieges möglich geworden. Andererseits wurde Auschwitz aber auch nur durch die Kriegführung der Alliierten befreit und die Shoah durch ihren militärischen Einsatz beendet.
Dass eine Umsetzung von "Nie wieder Auschwitz!" bedeuten konnte, auch militärisch eingreifen zu müssen, wurde in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien in einem für viele schmerzhaften und kontrovers geführten Prozess zunehmend erkannt. Trotz dieser Erkenntnis blieb dennoch die Ansicht dominierend, dass Deutschland sich wegen seiner Geschichte bei militärischen Aktionen besonders zurückhalten sollte.
Aufgrund der historischen Erfahrung, mit dem Zweiten Weltkrieg unermessliches Leid über andere Völker gebracht zu haben und an seinem Ende auch selbst Opfer dieses Krieges geworden zu sein, hielt sich die Überzeugung, dass Krieg prinzipiell ein illegitimes Mittel sei und insbesondere von deutscher Seite nicht angewendet werden dürfe. Dies galt vor allem für Konflikte, die nicht eindeutig mit genozidalen Verbrechen einhergingen.
Die Verhinderung bzw. Beendigung des Völkermordes an den Juden und Jüdinnen war auf Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg allerdings weder Ursache noch primäres Motiv ihrer Kriegsführung. Sie reagierten vielmehr auf die aggressive Expansionspolitik Deutschlands. Die damit verbundenen deutschen Verbrechen unterhalb der Schwelle des Völkermords – der deutsche Angriffskrieg, die Bombardierung von Städten, massenhafte Verschleppungen von Zivilisten zur Zwangsarbeit, die rassistische und brutale Besatzungspolitik gegenüber der Bevölkerung nicht nur, aber vor allem in Osteuropa – sind in der deutschen Erinnerungskultur weniger verankert. In den davon betroffenen Ländern sind sie dagegen nach wie vor präsent. Sie legitimieren hier rückblickend den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland ebenso wie die grundsätzliche Überzeugung, dass Kriege notwendig sein können.
Kämpfen lohnt sich nicht
Anders als ihre ehemaligen Kriegsgegner haben die Deutschen nicht die Erfahrung eines breiten und letztlich erfolgreichen Widerstandes sowie der Selbstbefreiung vom Nationalsozialismus gemacht. In die deutsche Erinnerungskultur ging vielmehr die Erfahrung ein, im Zweiten Weltkrieg für die falsche Sache und nur in sehr wenigen Fällen und zudem vergeblich gegen den Nationalsozialismus gekämpft zu haben. Die deutsche Bilanz aus dem Zweiten Weltkrieg war, dass der Kampf der Soldaten schlecht und die wenigen Beispiele gewaltsamen Widerstandes erfolglos geblieben waren.
"Unsere Großeltern […] haben Widerstand geleistet. Und das müssen wir auch heute tun." Ein solcher Satz, den der britische Publizist Paul Mason kürzlich zum Ukrainekrieg schrieb, ist in der deutschen Debatte noch nicht gefallen und auch nur schwer vorstellbar. Die historische Erfahrung eines notwendigen Kampfes für eine gerechte Sache fehlt in der jüngeren deutschen Erinnerungskultur ebenso wie die Erfahrung, dass gewaltsamer Widerstand gegen einen verbrecherischen Gegner nicht nur moralisch geboten, sondern auch erfolgreich sein kann. Die deutsche Erfahrung, dass es sich nicht zu kämpfen lohnt, fundierte dagegen eine Nachkriegserinnerung, die langfristig zu einer weitverbreiteten Distanz zu jeglichen Formen von Krieg und Gewalt führte.
Damit hatte sich auch das Modell einer heroischen Kriegserinnerung für die Deutschen erledigt. Anders in der Erinnerungskultur der Alliierten und der ehemals besetzten Länder: Die Erinnerung an Soldat:innen, Widerstandskämpfer:innnen und Partisan:innen, die den Nationalsozialismus nach langem Kampf schließlich erfolgreich besiegt und dafür Gesundheit oder Leben geopfert hatten, begründete und festigte hier durchaus auch ein heroisches Gedächtnis. Es wirkt bis in die Gegenwart fort und wird von deutscher Seite oft mit einer sich postheroisch gebenden Überheblichkeit als vermeintlich aus der Zeit gefallen belächelt. Erst spät und ganz allmählich verankerte sich in der deutschen Erinnerungskultur die Überzeugung, durch den Kampf der anderen nicht nur besiegt, sondern ebenfalls befreit worden zu sein.
Opferidentität und Aufarbeitungsstolz
Die Erinnerung an die siegreichen alliierten Soldaten blieb jedoch ambivalent. Vor allem die Sowjetsoldaten der Roten Armee – schon bei Kriegsende oft verkürzt als "die Russen" bezeichnet – wurden und werden bis heute vor allem als Vergewaltiger deutscher Frauen, als Vertreiber der deutschen Bevölkerung aus dem Osten oder als spätere Besatzer im Ostteil des Landes erinnert. Nicht zuletzt aus dieser Erinnerung heraus resultiert heute eine besondere Furcht vor "den Russen", die als potenziell brutale Gewalttäter besser nicht provoziert, sondern mit denen lieber eine gütliche Einigung gesucht werden sollte.
Die Deutschen selbst bildeten dagegen ein ambivalentes Opfer-Täter-Gedächtnis aus. Dem lange dominierenden Selbstbild als Opfer der Niederlage, alliierter Siegerwillkür oder des Krieges selbst stellte sich später ein Täterbewusstsein an die Seite, das sich vor allem auf die Erinnerung an den Holocaust gründete. Heute gehört die "Aufarbeitung" besonders dieses Teiles der deutschen Geschichte fest zum erinnerungskulturellen Selbstverständnis. Dies führt in Talkshows oder bei anderen Gelegenheiten allerdings gelegentlich auch zu selbstgefälliger Überheblichkeit gegenüber Repräsentanten nichtdeutscher Gesellschaften, die in dieser Hinsicht als rückständig betrachtet werden – wenn sie sich zum Beispiel noch nicht gleichermaßen intensiv mit ihrer Kollaborationsgeschichte auseinandergesetzt haben – oder denen signalisiert wird, dass man in historischer Hinsicht keiner weiteren Belehrung mehr bedürfe, weil man seine Hausaufgaben bereits gemacht habe.
Solidarität und Zurückhaltung
Trotz der Verankerung des Täterbewusstseins in der deutschen Erinnerungskultur verstärkte sich seit dem Ende des Kalten Krieges wieder das Selbstverständnis, auch selbst Opfer des Zweiten Weltkrieges gewesen zu sein. Das deutsche Opferbewusstsein war insbesondere seit der Jahrtausendwende medial präsent. Die derzeitige Solidarität mit den ukrainischen Opfern des russischen Angriffskrieges und die umfangreiche Bereitschaft, sie zu unterstützen, erklärt sich auch vor dem Hintergrund dieser kulturellen Erinnerung an eigene Kriegserfahrungen.
Insbesondere die Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen – meist Frauen und Kinder – scheinen auch eine Folge des etablierten deutschen Opferselbstbildes in der Erinnerung an die meist weiblich visualisierten deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu sein. Die Vergegenwärtigung der Männer, die heute und damals als Soldaten kämpfen, ruft im deutschen Fall dagegen das Täterbewusstsein auf. Kämpfende Männer im Krieg – das ist in der deutschen Erinnerung ein negativ besetztes Motiv, das ebenfalls nachwirkt, wenn es um die militärische Unterstützung der Ukraine geht.
Erinnerungskulturelle Selbstbezogenheit und politische Zaghaftigkeit
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die deutsche Gesellschaft über die Jahrzehnte hinweg eine wechselhafte erinnerungskulturelle Entwicklung genommen. Sie hat dabei die Fähigkeit bewiesen, etablierte Formen des historischen Selbstverständnisses immer wieder selbstreflexiv zu hinterfragen und gegebenenfalls zu regulieren. Das wurde auch außerhalb Deutschlands mit großer Anerkennung registriert. Kürzlich meinte dagegen zum Beispiel der liberale polnische Oppositionsführer und ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, man könne den Eindruck gewinnen, dass Deutschland die falschen Lehren aus der Geschichte gezogen habe.
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird deutlich, dass die deutsche Erinnerungskultur immer noch von einer starken Selbstbezogenheit bestimmt ist. Zu wenig sind die Kriegserinnerungen der europäischen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner wahr- und ernstgenommen worden. Zu wenig sind sie in eine auf sich selbst gerichtete Beschäftigung mit der Geschichte eingegangen und konnten hier eine regulative Wirkung entfalten. In der Folge davon zeigt sich heute gegenüber der Ukraine vielfach eine ebenso zurückhaltende und zaghafte wie selbstgefällige und überhebliche Haltung. Sie wird der existenziellen Bedrohung der Ukraine durch Russland ebenso wenig gerecht wie der damit verbundenen Gefährdung der Demokratie in Europa, für deren Bestand auch die deutsche Erinnerungskultur eine Mitverantwortung trägt.
Der Text ist zuerst erschienen auf der Website "Geschichte der Gegenwart", Externer Link: https://geschichtedergegenwart.ch/erinnerungskultur-in-der-zeitenwende-die-deutsche-weltkriegserinnerung-und-der-ukrainekrieg/ . Wir danken dem Autoren für die Erlaubnis zum Nachdruck. | Article | Von Stephan Scholz (Universität Oldenburg) | 2022-07-11T00:00:00 | 2022-06-24T00:00:00 | 2022-07-11T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-270/509751/kommentar-erinnerungskultur-in-der-zeitenwende-die-deutsche-weltkriegserinnerung-und-der-ukrainekrieg/ | Neben Kanzler Olaf Scholz scheinen auch breite Teile der Gesellschaft in Deutschland bei Waffenlieferungen in die Ukraine zu zögern. Eine Ursache liegt in der viel gelobten deutschen Erinnerungskultur. | [
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"Geschichtsbewusstsein und Vergangenheitspolitik"
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Das Syndrom des Populismus | Rechtspopulismus | bpb.de | Das Ergebnis des britischen Referendums zum Austritt aus der EU (Interner Link: Brexit) und der Sieg des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump haben dem Thema "Populismus" erneut Auftrieb gegeben. Der Begriff bezeichnet rechte oder linke Anti-Establishment-Parteien, die sich gegen die herrschende „Machtelite“ (C. Wright Mills) in Wirtschaft, Politik und Kultur richten. Unter Populisten galt "Populismus" lange als stigmatisierende Fremdzuschreibung. Der populistische Gouverneur von Alabama, George C. Wallace, erklärte in den 1960er Jahren, der Begriff sei nur das hochgestochene Gewäsch von Pseudointellektuellen, die ihm schaden wollten. Erst in jüngerer Zeit haben Linkspopulisten wie Jean-Luc Mélenchon (Vorsitzender der französischen sozialistischen Parti de Gauche) oder Pablo Iglesias (Generalsekretär der 2014 gegründeten linkspopulistischen Partei Podemos in Spanien), Beppe Grillo von der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) oder der Front National das Stigma in eine positiv konnotierte Selbstbezeichnung umgekehrt: Ja, sie seien Populisten und stolz darauf.
Was ist Populismus?
Es gibt keine konsistente Ideologie mit unverwechselbaren Elementen, die ein kohärentes Ganzes bilden, sondern nur ein aus wenigen Kernelementen bestehendes Narrativ. Populismus, so Peter Wiles, sei ein Syndrom, keine Doktrin. Da aber in der Öffentlichkeit bündige Minimaldefinitionen gefragt sind, wird die Polarisierung und Moralisierung von Politik als kleinster gemeinsamer Nenner des Phänomens bestimmt. Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde definiert Populismus als "eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen getrennt ist, das 'reine Volk' und die 'korrupte Elite', und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck der volonté générale oder des allgemeinen Volkswillens sein soll." Ähnlich auch Interner Link: Jan-Werner Müller: "Populismus […] ist eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen." Populisten berufen sich aber nicht auf die 'moralische Reinheit' des Volkes, sondern auf den gesunden Menschenverstand (common sense) der "guten, anständigen, patriotischen, hart arbeitenden, gesetzestreuen Menschen" (Nigel Farage).
Yves Mény und Yves Surel heben drei Kernelemente des populistischen Narrativs hervor: (a) das Volk ist die Grundlage der politischen Gemeinschaft, (b) seine Souveränität wird von einigen Akteuren oder Prozessen missachtet, (c) dies müsse angeprangert und der Platz des Volkes in der Gesellschaft wieder hergestellt werden. Die Missachtung des souveränen Volkes kann von unterschiedlichen, vonseiten der Populisten identifizierten Akteuren ausgehen: vom Finanzkapital, von technokratischen Steuerungseliten, von den Parteien des Mainstream oder von sozialmoralischen Deutungseliten. Mithilfe dieser Merkmalsbestimmung lässt sich Populismus als Reaktion auf den Entzug von Souveränität verstehen.
Populistische Führer sind oft Außenseiter und homines novi. Häufig kommen sie aus der Wirtschaft wie Silvio Berlusconi, der Schweizer Christoph Blocher oder die Amerikaner Henry Ross Perot und Donald Trump. Der Niederländer Pim Fortuyn war als homosexueller, katholisch sozialisierter Intellektueller gleich in dreifacher Hinsicht ein Außenseiter. Individueller Reichtum ist kein Hindernis für ihren Erfolg, zeigt er doch, dass sie weder zum politischen Establishment gehören noch sich von finanzstarken Sponsoren korrumpieren lassen. Trump machte gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton geltend, er sei nicht von Wallstreet "gekauft", sondern unabhängig und daher glaubwürdig. Der eher pseudo-populistische amerikanische Präsident Jimmy Carter, als baptistischer Südstaatenfarmer ebenfalls ein Außenseiter, wich der Frage aus, ob er ein Liberaler oder ein Konservativer sei. Er sei Populist: "Ich habe die politische Unterstützung, den Zuspruch für mich und mein Anliegen direkt vom Volk selbst hergeleitet, nicht von mächtigen Mittelsmännern (intermediaries) oder von Vertretern spezieller Interessen."
Die zwei Säulen der modernen Demokratie
Angst vor Statusverlust, Zukunftsunsicherheit, die wachsende Kluft zwischen arm und reich oder Verteilungskonflikte auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt zwischen Autochthonen und Immigranten lassen sich nicht mehr als Gegensatz zwischen rechts und links abbilden, sondern erscheinen als Konflikt zwischen Volk und Eliten. Zentral zum Verständnis von Populismus ist daher die Frage nach dem Zugang zur Macht: Im Prinzip lehnen Populisten intermediäre Instanzen (vor allem Parteien und mediale Bildungseliten) zwischen dem Volk und der Macht ab, da diese den wahren Volkswillen verfälschten und nur ihre Sonderinteressen im Auge hätten. In der Praxis organisieren sie sich aber in Parteien und nehmen an Wahl teil.
Moderne Demokratien sind Mischsysteme und beruhen auf zwei Pfeilern: dem Konstitutionalismus (in Deutschland eher als Rechtsstaat bekannt) und der Volkssouveränität. Der Rechtsstaat hat ältere Wurzeln, steht für die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) und garantiert konstitutionelle Rechte zum Schutz des Einzelnen oder von Minderheiten gegenüber staatlicher Omnipotenz. Volkssouveränität ist dagegen eine Errungenschaft der Französischen Revolution und besagt, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Das Volk ist der Souverän, d.h. oberster Gesetzgeber und Kontrolleur der Demokratie und bringt seinen Willen durch Wahlen zum Ausdruck. Eine bloße Akklamationsdemokratie – also eine Art Zustimmung- bzw. Ablehnungsdemokratie eines de facto öffentlich versammelten Volkes –, wie sie von rechts (Carl Schmitt) propagiert wurde, entzieht dagegen dem Wahlvolk die Kontrolle.
Das Misstrauen liberaler Eliten gegenüber dem Volk oder den Massen war immer schon groß. Der Liberalkonservative Alexis de Tocqueville (1805-1859) warnte vor der "Tyrannei der Mehrheit". Edmund Burke (1729-1797) oder der französische Liberale François Guizot (1787-1874) erklärten, nicht das Volk sei der Souverän, sondern die Vernunft, zu der nur das Bildungs- und Besitzbürgertum befähigt sei (heute eher Experten, Fachleute oder Berufspolitiker). Das Volk, gleichgesetzt mit dem "niederen" Volk oder den bildungsfernen Massen, sei dagegen stimmungsabhängig, emotional, und verführbar. Nach der Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts hat man daher Filter eingebaut, um zu verhindern, dass der Volkswille unmittelbar zum Ausdruck kommt. Einer dieser Filter sind die Parteien. In der Weimarer Verfassung von 1919 wurden sie nicht erwähnt und galten nur als zivilgesellschaftliche Vereinigungen. Erst das deutsche Grundgesetz hat sie in den Rang von Verfassungsorganen erhoben und ihnen die Aufgabe zugewiesen, den politischen Willen zu bilden und zu aggregieren. Populisten halten diesen Bildungsauftrag der Parteien für eine Bevormundung mündiger Bürger. Sie fordern eine ungefilterte, nicht-mediatisierte Willensartikulation durch direkte Demokratie, entweder nach Schweizer Vorbild oder als Netzdemokratie, für die sich die italienische M5S stark macht.
Es lässt sich kaum bestreiten, dass die beiden Säulen der liberalen Demokratie zunehmend in ein Ungleichgewicht geraten sind. Von der Volkssouveränität ist kaum noch die Rede. Im Zuge des Mehr-Ebenen-Regierens in der EU habe sie ihre Relevanz eingebüßt, zumal es Rechtspopulisten zufolge gar kein europäisches Volk gäbe. Der Populismusforscher Guy Hermet bemerkt dazu: "Besonders auffällig ist, dass der Souveränität des Volkes, bislang als das Herzstück der Demokratie betrachtet, immer weniger Bedeutung beigemessen wird. (…) Es schleicht sich, allgemeiner gesagt, ein philosophischer Zweifel an der Relevanz der Volkssouveränität ein." Wenn aber das Band zwischen Rechtsstaat und Volkssouveränität zerreißt, stehen sich die liberale und die demokratische Komponente wieder als Kontrahenten gegenüber. Cas Mudde und Ivan Krastev sprechen daher in Anlehnung an Fareed Zakaria vom Populismus als demokratischem Illiberalismus: "Populismus ist eine illiberale, [aber] demokratische Antwort auf undemokratischen Liberalismus." Wohlgemerkt: eine Antwort. Als Syndrom ist Populismus eher reaktiv. Aktiv wird er erst, wenn die herrschende Politik auf Missstände nicht adäquat reagiert und den Appell an Emotionen als "Stimmungsmache" abtut.
Rechtspopulismus als Rechtsextremismus light?
In Europa sind rechtsextreme Parteien wie die British National Party (BNP), die deutsche NPD oder ethnozentrische Regionalparteien wie der Vlaams Belang (Belgien) und die Lega Nord (Italien) im Niedergang. Ausnahmen sind die ungarische Partei Jobbik und der französische Front National (FN). Der FN versteht sich als nationalpopulistisch, ist aber für rechtsextreme Strömungen und Holocaust-Leugner offen. Mit einer von der AfD-Politikerin Frauke Petry als "sozialistisch" bezeichneten Sozialpolitik, zugleich aber mit der Öffnung gegenüber sexuellen Minderheiten ist Marine Le Pen, der Vorsitzenden des FN, gelungen, was der Linken immer weniger gelingt: die Verbindung materieller mit postmateriellen Werten und wählersoziologisch ein Bündnis zwischen unteren und mittleren sozialen Segmenten.
Zwischen konservativen Volks- oder Sammlungsparteien und dem rechtsextremen Rand sind neue Parteien entstanden, die trotz teilweise großer programmatischer Unterschiede in der Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik als rechtspopulistisch gelten: in Großbritannien die United Kingdom Independence Party (UKIP), in Flandern die Neue Flämische Allianz (Nieuw Vlaamse Alliantie, N-VA), in Italien die M5S. Sie vertreten einen "Dritten Weges von rechts" (René Cuperus), erklären aber, weder rechts, noch links zu stehen, sondern auf der Seite der Bürger. Da diese neuen Parteien weitaus erfolgreicher als der Rechtsextremismus sind, kann es, wie bei der noch jungen AfD, zu einem Bandwaggon-Effekt kommen: Viele, die in Denkzirkeln der Neuen Rechten oder in rechtsextremen Kleinparteien marginalisiert sind, springen auf den Zug auf und versuchen, seine Richtung zu bestimmen. Ähnlich beschreiten neue Linksparteien wie die spanische Podemos, die griechische Syriza oder der französische Parti de gauche einen "Dritten weg von links" jenseits der alten kommunistischen Linken und der etablierten Sozialdemokratie.
Krise der Repräsentation, Krise der Partizipation, Krise der Souveränität
Wenn sozialdemokratische Parteien ihre Funktion als Volkstribun oder Anwalt der "kleinen Leute" nicht mehr wahrnehmen, konservative Volksparteien sich dagegen "sozialdemokratisieren" und als Modernisierer auftreten, führt dies führt zur Schwächung ihrer Integrationsfunktion, zu Vertrauenskrisen und Wählerschwund. Solche Parteien hinterlassen auf ihrem Weg zur Mitte an den Rändern ein Vakuum, in das rechtspopulistische, nur in Südeuropa auch linkspopulistische, Parteien eindringen und es mit ihren Themen besetzen.
Von Krise der Repräsentation ist die Rede, wenn sich viele Menschen von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen und sie als alternativloses Kartell wahrnehmen. Lange vor dem Kampf der spanischen Podemos gegen die "oligarquía" haben Klassiker des politischen Denkens wie Robert Michels, Josef Schumpeter oder Gerhard Leibholz auf die Tendenz zur Oligarchisierung von Parteien hingewiesen. Parteien nehmen nicht mehr ihre Funktion als Interessenvertretungsorgane zwischen Staat und Gesellschaft wahr, sondern mutieren zu einer abgeschotteten Kaste mit sinkender innerparteilicher Demokratie. Eng verbunden mit der Krise der Repräsentation ist die Krise der Partizipation. Sie liegt vor, wenn eine beträchtliche Anzahl von Wahlbürgern vor allem im unteren sozialen Segment an Politik nicht mehr partizipiert, aber einen Groll gegen "die da oben" hegt und nach Ventilen für ihre Verdrossenheit sucht.
Der dritte Aspekt, die Krise der Souveränität, bezeichnet Einbußen an nationaler Souveränität zugunsten transnationaler Organisationen wie der EU, aber auch den Verlust individueller Handlungskompetenz. "Mit Krisen", so Jürgen Habermas, "verbinden wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück Souveränität entzieht, die ihm normalerweise zusteht." Wenn Menschen die Erfahrung machen, nicht mehr Herr der eigenen Lage zu sein, ihr Leben nicht mehr selbst bestimmen zu können und sich unbeherrschbaren Einflüssen ausgesetzt fühlen, erleben sie dies als Kontrollverlust. Die Sieg Trumps, der Brexit, der Aufstieg der AfD, aber auch der rechtspopulistischen Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna) im Zuge der Massenimmigration von 2015 folgen dem Imperativ: Wiedererlangung der nationalen Kontrolle, in Europa auch gegenüber dem "Leviathan" (Umberto Bossi, ehemals Lega Nord) oder dem "Monster" (Geert Wilders, Partij voor de Vrijheid PVV) in Gestalt der EU.
Neue gesellschaftliche Trennlinien
Zeitdiagnostiker sprechen von einer neuen epochalen Trennlinie (cleavage) zwischen erstarkendem Nationalismus und liberaler Weltoffenheit. Näher betrachtet überlagern sich aber vier Konfliktlinien: ein Konflikt zwischen materieller und postmaterieller Werteorientierung, ein Konflikt zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, ein Identitätskonflikt zwischen Nativismus und Kosmopolitismus, sowie ein Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie. Rechtspopulisten machen auch geltend, die Diskriminierung ethnischer und sexueller Minderheiten oder Frauen stünde einseitig im Zentrum der Aufmerksamkeit, während die soziale Benachteiligung großer Teile der Bevölkerung übergangen würde.
Die soziale Ungleichheit hat unter der Hegemonie des Neoliberalismus zugenommen; die Schere zwischen arm und reich ist weit auseinandergegangen. Das dealignment, d.h. die Abkehr des unteren sozialen Segments (ehemalige Industriearbeiter, junge Arbeitslose, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, kleine Selbständige) von den Linksparteien hat zu einer Unterschichtung rechtspopulistischer Parteien geführt. Sie übernehmen die Funktion eines Fürsprechers bzw. Advokaten, die lang Zeit die Linke innehatte. Populisten richten sich aber nicht an eine bestimmte soziale Klasse oder Schicht, sondern an die Vergessenen (den forgotten man), die "einfachen Menschen" (plain people), die "schweigende Mehrheit", die "ganz normalen Leute", die nicht nur mit drohendem Statusverlust, sondern mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Missständen (aufgeblähte, aber ineffiziente Bürokratie, Korruption, mangelhafte Infrastruktur) konfrontiert sind. Der rasante Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung zur zweitstärksten Partei Italiens ist auch auf das Versagen der etablierten Parteien und ihre Missachtung zentraler Bürgerbelange zurückzuführen. Mittlerweile hat sich die sozialdemokratische Partei unter Matteo Renzi viele soziale und ökologische Forderungen dieser Außenseiterpartei zu Eigen gemacht, auch wenn die Wähler eher dem Original als der Kopie den Vorzug geben.
Ausblick
Die Gründe für den Erfolg rechtspopulistischer Parteien unterscheiden sich von Land zu Land, nach 1989 auch zwischen West- und Mittelosteuropa. Immer geht es aber um die Rückgewinnung von Souveränität und Selbstbestimmung nach außen (gegenüber der EU) und nach innen (gegenüber der Kaste oder dem Kartell der etablierten Parteien oder den vested interests, also Partikularinteressen in den USA). Als Reaktion darauf verschanzt sich die politische Mitte in einer Wagenburg für "aufgeklärte Bürger" (Müller). Wo aber die Parteien des Mainstream als weitere Reaktion darauf zusammenrücken und Große Koalitionen und mithin die Alternativlosigkeit zum Programm erheben, ist das Wasser auf die Mühlen des populistischen Protests. Ralf Dahrendorf prognostizierte schon 1997, das 21. Jahrhundert könnte die Signatur des Autoritarismus tragen. Im gleichen Jahr plädierte ein anderer Liberaler, Fareed Zakaria, für eine liberale Demokratie, "die beide Teile der Formulierung betont." Demnach beruhte die Stabilität der Nachkriegsordnung auf der Verbindung von Rechtsstaat und Volkssouveränität. Inzwischen aber habe die Tektonik dieser beiden Pfeiler Risse bekommen. Das Pendel schlägt in Richtung des liberalen Rechtsstaats und einer "aufgeklärten" Elitenherrschaft aus, die als Bollwerk gegen die Volkssouveränität in Stellung gebracht werden. Wir sind, so Ivan Krastev, "Zeugen eines strukturellen Konflikts zwischen Eliten, welche die Demokratie mit wachsendem Argwohn betrachten, und einer zornigen Wählerschaft, die zunehmend antiliberal wird. (…) Wer die Demokratie retten will, ist dazu aufgerufen, an zwei Fronten zu kämpfen: gegen die Populisten und gegen die liberalen Verächter der Demokratie."
Vgl. Karin Priester, Populismus in den Medien: Realität und Stigmawort, in: Ernst Hillebrand (Hrsg.), Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?, Bonn 2015, S. 138-145. Dies.: Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ, 62 (2012) 5-6, S. 3-9.
Zit. n. Niels Bjerre-Poulsen, Populism – A Brief Introduction to a Baffling Notion, in: American Studies in Scandinavia, 18 (1986), S. 27.
Peter Wiles, A Syndrome, not a Doctrine. Some Elementary Theses on Populism, in: Ghita Ionescu/Ernest Gellner (Hg.), Populism. Its Meanings and National Characteristics, London 1969, S. 166-179.
Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition, 39 (2004) 3, S. 543.
Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, S. 42.
Yves Mény/Yves Surel, Par le peuple, pour le peuple. Le populisme et les démocraties, Paris 2000, S. 181.
Jimmy Carter in einem Interview vom 13.09.1976, in: Don Richardson (Hg.), Conversations with Carter, London 1998, S. 19. Carter berief sich rhetorisch zwar auf das Volk, hat aber während seiner Amtszeit keinen Kampf gegen intermediären Akteure, vor allem die großen Interessengruppen, geführt.
Guy Hermet, Willkommen im nachdemokratischen Zeitalter, in: Internationale Politik, 4 (2008), S. 108f.
Cas Mudde, The problem with populism, in: The Guardian, 17.02.2015. Fareed Zakaria, The Rise of Illiberral Democracy, in: Foreign Affairs 76 (1997), 6, S. 22-43.
Beppe Grillo 2013 auf seinem Blog http://www.beppegrillo.it/2013/12/il_m5s_e_populista_ne_di_destra_ne_di_sinistra.html. (16.12.2016)
Jan-Werner Müller ist unschlüssig, auf wen die Bezeichnung „populistisch“ zutrifft. Am 13. 10.2015 erklärte er auf http://www.ippr.org., Syriza sei populistisch, weil sie beanspruche, das „authentische“ griechische Volk zu repräsentieren, was immer „authenthisch“ bedeuten mag. Ein Jahr später plädierte er in The Guardian vom 02. September 2016 dafür, den Begriff Populismus nicht inflationär zu benutzen und nahm die neue Linke (Bernie Sanders, Jeremy Corbyn, Syriza und Podemos) davon aus. Das seien nur Versuche, die Sozialdemokratie neu zu erfinden. Dagegen erklärte Bill Clinton, Bernie Sanders sei ein „viel positiverer“ Populist als Trump. Diese kontroversen Einschätzungen bestätigen nur, dass „Populismus“ ein ideologischer Kampfbegriff ist, der je nach politischer Präferenz als Selbstbezeichnung oder als stigmatisierendes Etikett eingesetzt wird.
Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, 4. Auflage, S. 10.
Bei den Parlamentswahlen 2010 lagen die Schwedendemokraten bei nur 5,7 Prozent, 2014 bei 12,9 Prozent und bei Umfragen vom Sommer 2015 bereits bei 19,4 Prozent.
Populisten sind nicht immer Nationalisten; sie können sich auch gegen den Nationalstaat richten. Cas Mudde spricht daher eher von Nativismus, einer Einstellung, die die Belange der eingesessenen Bevölkerung in den Vordergrund stellt.
Vgl. Nicolò Conti/Vincenzo Memoli, The Emergence of a New Party in the Italian Party System: Rise and Fortunes of the Five Star Movement, in: West European Politics, 38 (2015), 3, S. 516-534, hier vor allem S. 531f.
Auf die Gründe für die stärker nationalistischen Tendenzen in Mittelosteuropa kann hier nicht eingegangen werden. So spielen beispielsweise in Ungarn die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle für das Erstarken der ungarischen Rechten.
Zakaria (Anm. 9), S. 40.
Ivan Krastev, Die Stunde des Populismus, in: Eurozine, 18.09.2007, S. 5f.
| Article | Bundeszentrale für politische Bildung | 2021-06-23T00:00:00 | 2017-01-16T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/240833/das-syndrom-des-populismus/ | Wie lässt sich das Phänomen des Populismus bestimmen? In seinen vielschichtigen Formen fällt es nämlich zunehmend schwer, einen gemeinsamer Nenner zu finden. Mit Sicherheit gibt es keine konsistente Ideologie – womit es eher ein Syndrom, als eine Dok | [
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Bilder als historische Quellen | Themen | bpb.de | In populären historischen Büchern und Zeitschriften werden Bilder meistens als Illustrationen verwendet, um Geschichte anschaulich und unterhaltsam zu präsentieren. Dahinter steht oft ein zu einfaches Verständnis vom Charakter historischer Bilder. Sie werden aufgefasst als unmittelbare und wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von Realität, gleichsam als ein Fenster zur Vergangenheit. Gewiss zeigen historische Bilder Vergangenheit, aber sie tun dies auf vermittelte und gebrochene Art und Weise. Für die Historiker gehören Bilder – wie Texte oder Sachzeugnisse – zu den so genannten Quellen. Das sind jene Hinterlassenschaften der Vergangenheit, aus denen wir unsere Kenntnisse über sie beziehen.
Die unterschiedlichsten Bildgattungen kommen als historische Quellen in Frage. Sie lassen sich einerseits nach Bildtechniken, Präsentations- und Verbreitungsformen unterscheiden: die Malerei mit Gemälde, Wandbild oder Buchmalerei; der Holzschnitt als Buchillustration oder als Flugblatt; der Kupferstich und die Lithografie, genutzt zum Beispiel für Plakate, Bilderbögen oder Ansichtskarten; die Fotografie und – nimmt man dreidimensionale Bildwerke hinzu – die Plastik. Andererseits lassen sich Gattungen über ihre Themen oder spezifische Wirkungsabsichten definieren: Personenbilder, Landschaftsbilder, Plakate oder Karikaturen. Solche Unterscheidungen sind keine Glasperlenspiele, denn es ist wichtig zu wissen, welche Erkenntnisse man von einer Bildgattung erwarten kann, was ggf. ihre spezifischen Darstellungsmittel oder -konventionen waren und wie es um ihre zeitgenössische Verbreitung und Wirkung stand.
Bilder historischer Ereignisse
Bilder können immer nur Quellen für ihre Entstehungszeit sein. Ein Historienbild aus dem 19. Jahrhundert kann uns keine historischen Aufschlüsse über die Rituale eines Vertragsschlusses in der Karolingerzeit vermitteln, sondern allenfalls Auskunft über die historischen Kenntnisse, Vorstellungen und Projektionen des Künstlers und seiner Zeitgenossen geben.
Bilder können dokumentieren, dass bestimmte historische Ereignisse stattgefunden haben, unter welchen Umständen dies geschah, wer daran beteiligt war etc. Diesem Zweck dienten häufig die Holzschnitte, mit denen die Flugblätter und Flugschriften der Frühen Neuzeit versehen waren, ebenso die Holz- oder Stahlstiche in den Interner Link: frühen illustrierten Blättern des 19. Jahrhunderts, und natürlich hat auch der Großteil der heutigen Pressefotos diese Aufgabe. Schlachten, Belagerungen, Kapitulationen, Friedensverträge, Streiks, Revolutionen, Konzile, Krönungen, Morde und Exekutionen – vor allem Haupt- und Staatsaktionen also – sind in Bildern festgehalten und überliefert worden. Allerdings muss man mit solchen Quellen vorsichtig sein.
Der Prager Fenstersturz, Kupferstich von Mathäus Merian d. Ä. 1635 (© wikipedia.de )
Nehmen wir zum Beispiel den bekannten Kupferstich von Mathäus Merian d. Ä., der den "Prager Fenstersturz" von 1618 zeigt, den Auslöser des Dreißigjährigen Krieges also. Merians Darstellung ist erst Jahre später, nämlich 1635, erschienen. Und natürlich hat er das Geschehen nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern die Szene nach Informationen aus zweiter Hand so gestaltet, wie es ihm passend und wirksam zu sein schien. Es handelt sich also um eine mehr oder weniger zeitgenössische Annäherung an das Ereignis, nicht aber um eine authentische Widergabe. Das Historienbild
Ähnliches gilt für das – schon angesprochene – Genre des Historienbildes. Historienbilder sind per definitionem Bilder, die Vergangenes zeigen. Viele Historienmaler haben aber auch ihre eigene Gegenwart zum Thema genommen. Der Begriff "Historienbild" ist dennoch berechtigt, denn die Gegenwart wird hier nicht eigentlich als Gegenwart, sondern als künftige Vergangenheit gezeigt. Der Maler ist der Überzeugung, das aktuelle Ereignis sei bedeutsam und werde Geschichte machen. Diesen Prozess der Historisierung nimmt er gleichsam vorweg. Selbst wenn Künstler unmittelbar Augenzeugen eines Ereignisses waren, haben sie deshalb nicht einfach ein Abbild des Geschehens gemalt, sondern es in ihrem Sinne gedeutet und überhöht.
Zwar sind solche Bilder wegen ihrer "fotografischen Genauigkeit" gerühmt worden, aber es waren eben keine Fotos. Als Beispiel ein Gemälde von Anton von Werner, dem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts angesehensten und einflussreichsten deutschen Historienmaler.
Kronprinz Friedrich Wilhelm an der Leiche des Generals Abel Douay, 4.8.1870 Hechingen, Burg Hohenzollern
Es trägt den langen Titel "Kronprinz Friedrich Wilhelm an der Leiche des Generals Abel Douay (Weißenburg, 4. August 1870)" und zeigt eine Szene aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Schon dass Ort und Datum in den Bildtitel mit aufgenommen sind, suggeriert äußerste Authentizität. Allerdings war der Maler selbst nicht Augenzeuge, und entstanden ist das Bild erst zwanzig Jahre nach dem Ereignis. Von Werner hat dafür genaue Erkundigungen bei den damals Anwesenden eingezogen. Die Familie des Toten stellte sogar ein Porträt zur Verfügung. Trotz allen Realismus' im Detail ist die Bildkomposition künstlerisch ausgestaltet. Der Kronprinz beherrscht die Szenerie, die Mitglieder seines Stabs halten gebührenden Abstand. Als ritterlicher Sieger erweist er dem gegnerischen Toten die letzte Ehre. Von Werner stilisiert also bis hin zu dem "Heiligenschein" über dem Kopf des Kronprinzen die Situation im Sinne preußischer Dynastiengeschichte.
Fotos als Geschichtsquellen
Fotografien nehmen als Bildquellen einen besonderen Rang ein. Sie ermöglichen – jedenfalls in ihrer äußeren Erscheinungsform – eine stärkere Annäherung an vergangene Wirklichkeit als andere Bildarten. Das technisch erzeugte Bild kann nur zeigen, was sich tatsächlich vor der Linse befindet; der Fotograf kann, anders als der Maler, nichts hinzufügen, aber natürlich das Objekt oder die Szene präparieren.
Fotografien sind jedenfalls für die Ereignisgeschichte die besten Quellen. Nehmen wir das Beispiel einer Demonstration: Wir können sehen, dass sie überhaupt stattgefunden hat, welche Ziele sie hatte (wenn Plakate oder Spruchbänder erkennbar sind), welche (vielleicht anderweitig schon bekannten) Personen dabei waren, wo sie sich aufhielten, wie zahlreich die Menge, wie ihre Stimmung war. Vorsichtig müssen wir freilich sein, wenn wir Deutungen und Verallgemeinerungen vornehmen wollen. Denn ein einzelnes Bild zeigt immer nur einen Einzelfall. Um beurteilen zu können, ob er repräsentativ ist, müssen wir entweder über mehrere ähnliche bildliche Darstellungen oder über zusätzliche Informationen verfügen. Wenn Fotos aus dem Jahre 1914 kriegsbegeisterte Freiwillige zeigen, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass alle begeistert waren; die Forschung hat in jüngerer Zeit entsprechende Relativierungen vorgenommen. Wer nicht begeistert war, blieb zu Hause – davon gibt es keine Bilder. Bildquellen können also in diesem Fall kein vollständiges Bild der historischen Situation vermitteln. Beispiel: Wehrmachtsausstellung
Auch als Beweismittel für punktuelle Ereignisse sind Fotos nur bedingt geeignet. Darum ging es beim Streit um die so genannte Wehrmachtsausstellung. Einzelne Fotos zeigen keine Abläufe, sondern nur Momente. Ob der Soldat, der einen Gefangenen mit angelegtem Gewehr bedroht, tatsächlich geschossen hat, wissen wir nicht. Ob der Tote am Boden tatsächlich von dem Mann, der ihn betrachtet, ermordet worden ist, können wir lediglich vermuten. Das folgende Foto gehörte zu den in der Wehrmachtsausstellung umstrittenen. Es zeigt Wehrmachtssoldaten, möglicherweise auch einen Angehörigen der Sicherheitspolizei und des SD (der SS zugeordneter Sicherheitsdienst) vor Leichen im Hof des Gerichtsgebäudes in Tarnopol; aufgenommen wurde es vermutlich am 4./5. Juli 1941, der Fotograf ist unbekannt. Die alte Wehrmachtsausstellung (1995-1999 in 33 Städten Deutschlands) sah in den Betrachtern auch die Täter. Das Bild bietet dafür freilich keinen Beleg, sogar eher im Gegenteil: Dass sich der Soldat links und der zweite von rechts Taschentücher vor den Mund halten, weist darauf hin, dass die Leichen schon Verwesungsgeruch ausstrahlen. Eine genaue Überprüfung der Ereignisse (Hesse 2000) lässt vermuten, dass es sich bei den auf mehreren Fotografien zu sehenden Toten einerseits um Opfer eines NKWD-Massakers (das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten), andererseits um Opfer eines antijüdischen Pogroms handelt, an dem nach dem Abzug der Roten Armee ukrainische Aktivisten und Angehörige der Waffen-SS, nicht aber der Wehrmacht beteiligt waren.
Für den Quellenwert von Bildern im Bereich Ereignisgeschichte lässt sich also festhalten: Alle Bilder außer der Fotografie ermöglichen nur eine vage Annährung; selbst diese muss mit Vorsicht behandelt werden.
Bilder historischer Personen
Oft wollen wir wissen, wie Personen aussahen, die früher gelebt haben. Das können Persönlichkeiten aus der allgemeinen Geschichte sein oder Personen, die regional oder lokal oder für bestimmte Institutionen von Interesse sind, oder Vorfahren aus der eigenen Familie. Dass es im Mittelalter keine Porträtähnlichkeit gegeben hat, ist eine Binsenweisheit. Aber auch ein Renaissanceporträt muss den Dargestellten nicht unbedingt realistisch zeigen; wie nah es dem kommt, lässt sich nur schwer überprüfen.
Fotografenfoto eines kleinen Jungen, 1903
In der Regel gibt es nur die Möglichkeit, verschiedene Bilder miteinander zu vergleichen: Bei Kolumbus etwa klaffen dann die Ergebnisse ziemlich auseinander. Anlässlich der Weltausstellung 1893 sind 71 Kolumbus-Porträts zusammengetragen worden, die den Entdecker allesamt unterschiedlich darstellen – wir wissen nicht, wie Kolumbus wirklich aussah. Die Künstler pflegten zu verschönern und zu stilisieren; schließlich musste das Bild auch dem Auftraggeber gefallen. Gerade in der Überhöhung der Person, in der Darstellung von Individualität und Charakter, lag ja der Wert des Porträts. Immerhin ermöglichen uns solche Bildquellen aber doch eine Annäherung an eine Person, von der wir uns anhand von Textquellen überhaupt kein Bild zu machen imstande sind.
Auch hier bedeutet die Fotografie einen Sprung hin zu mehr Wirklichkeitsnähe. Allerdings zeigt auch sie eine Person oder ihr Gesicht nicht unbedingt unverstellt. Im 19. und bis ins 20. Jahrhundert waren beim Porträtfoto im Studio Inszenierungen mit Hintergrundleinwand, Stühlen, Tischchen, Säulen, künstlichen Pflanzen üblich, in denen die Personen arrangiert wurden. Dieses Foto eines kleinen Jungen im Kleid aus dem Jahre 1903 zeigt entsprechende Accessoirs – bis hin zum hier ganz unpassenden Buch.
Hinzu kommen die technischen Rahmenbedingungen: Bei minutenlangen Belichtungszeiten ließ sich kein Lächeln einfangen. Dennoch: Nicht zuletzt das spezielle Genre der erkennungsdienstlichen Fotografie belegt, dass mit dieser Technik ein neuer Stand erreicht wurde, das Aussehen von Personen festzuhalten. Und die sinkenden Kosten für die Fotografie demokratisierten gleichsam das Personenbild im Laufe der Zeit.
Geschichte: gemalter Alltag
Der Sänger Chenard in Sansculottenkleidung mit Pantalons, Carmagnole, Kokarde und Fahne. Gemälde aus der Schule von Louis Leopold Bailly, 1792.
Bildquellen sind hervorragende Zeugnisse für die materielle Kultur vergangener Zeiten. Wie sahen Häuser, Städte und Wohnungen aus, wie kleideten sich die Menschen, welche Werkzeuge und Geräte benutzten sie? Soweit uns nicht einschlägige Sachquellen vorliegen, stützen sich unsere historischen Kenntnisse zu solchen Fragen im Wesentlichen auf Bildquellen. Nehmen wir das Beispiel Kleidung: Wie in einem Modekatalog führt uns das Gemälde des Sängers Chenard die typische Kleidung eines Sansculotten in der französischen Revolution vor.
Informationen über Realien geben uns die Maler und ihre Bilder – anders als in diesem Gemälde – zumeist unabsichtlich. Das eigentliche Sujet des Bildes spielt dabei keine Rolle: Eine biblische Szene in einer mittelalterlichen Darstellung ist natürlich mit mittelalterlichen Ausstattungsstücken versehen, denn andere waren dem Künstler gar nicht bekannt. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass Realien ausdrücklich zum Gegenstand von Darstellungen gemacht wurden: Wir haben z. B. – von den mittelalterlichen Monatsbildern angefangen – über landwirtschaftliche Arbeit
Eine bäuerliche Familie bei der Arbeit. Buchmalerei um 1023.
einen großen Fundus an Bildern, aus denen wir viel über die jeweiligen Tätigkeiten, Verfahren und Geräte ablesen können. An dieser um 1023 entstandenen Buchmalerei ist beispielsweise die Technik des so genannten hohen Sichelschnitts sehr gut zu erkennen. Obwohl dies viel weniger anstrengend gewesen wäre, wurde das Getreide nicht mit der Sense, sondern mit der Sichel geschnitten. Man fasste mit der einen Hand die Ähren oder den oberen Teil des Halmes und schnitt mit der anderen den Halm direkt darunter ab. Dadurch konnte man ein Umknicken der Halme oder eine zu große Erschütterung, durch die die Körner leicht verstreut worden wären, vermeiden – schließlich gab es damals noch keine mähdreschergeeigneten Züchtungen. Geschichte: fotografierter Alltag
3,5-Tonnen-Dampfhammer im Essener Hammerwerk II, Foto von vor 1906. (© Krupp Archiv)
Visuelles zum Zwecke der Dokumentation festzuhalten, ist schon lange eine der Aufgaben der Fotografie. Die sozialdokumentarische Fotografie soll soziale Missstände belegen; die Architekturfotografie dient unmittelbar der Aufbewahrung und Erinnerung. Realienkundliche Erkenntnisse aus solchen Bildern haben in vielen Fällen auch als Hilfe bei der Restauration nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gedient. Freilich muss man selbst Dokumentarfotografien, jedenfalls wenn es nicht nur um tote und stehende Objekte geht, mit Zurückhaltung und Sorgfalt betrachten. Die Abbildung eines Dampfhammers im Krupp-Werk Essen scheint zunächst den historischen Arbeitsprozess getreu wiederzugeben. Der Technikhistoriker Ulrich Wengenroth belehrt uns eines Besseren: "Diese Szene wurde wieder vollkommen gestellt. Sowohl der Rohling auf dem Wagen als auch jener unter dem Hammer sind ganz offensichtlich alte, weißgetünchte Stücke. Die Arbeiter drängen sich in möglichst großer Zahl ins Bild und nehmen als 'typisch' empfundene Posen ein. Das Fallgewicht des Hammers ist in einer mittleren Stellung arretiert" (Wengenroth 1994, S. 99).
Kultur- und Mentalitätsgeschichte
Hier liegt das wohl weiteste Feld historischer Möglichkeiten aus Bildern Erkenntnisse zu gewinnen. Bilder können Antworten auf unterschiedlichste Fragen der Sozial-, Alltags-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte geben. Das gilt zunächst einmal für solche, die von vorneherein gewissermaßen "propagandistische" Zielsetzungen hatten. Bilder sollen Ansichten von Herrschern verbreiten oder bestimmte Herrschaftsvorstellungen legitimieren; sie sollen das Selbstverständnis des eigenen Standes demonstrieren und andere herabsetzen; sie sollen den Gegner in politischen oder religiösen Auseinandersetzungen diffamieren, umgekehrt die eigene Sache propagieren und ihre Anhänger mobilisieren. Jenseits solcher Instrumentalisierung zeugen Bilder indirekt auch von gesellschaftlichen Wertvorstellungen, sozialen Beziehungen, den Wahrnehmungen, Gefühlen und Ängsten der Menschen, ihren alltäglichen Haltungen und Verhaltensweisen. Eben weil sie Quellen für (kollektive) Vorstellungen, (Selbst-)Deutungen und Bewusstseinshaltungen sind, erhalten Bildquellen für die neueren kulturwissenschaftlichen Fragestellungen der Geschichtswissenschaft eine besondere Bedeutung.
Die Herrscherpose
Ludwig XIV., König von Frankreich. Gemälde von Hyacinthe Rigaud, Öl auf Leinwand (277x194 cm), um 1700
Die "Propaganda-Funktion" von Bildern lässt sich vorzüglich an dem bekannten Bildnis Ludwig XIV. demonstrieren, das in kaum einem modernen Schulbuch fehlt. Es ist das Herrscherporträt par excellence: Der Maler Hyacinthe Rigaud hat den umfassenden absolutistischen, durch göttlichen Auftrag und Tradition legitimierten Herrschaftsanspruch ins Bild gesetzt. [int. Link auf Werner] Das Bild ist überlebensgroß, fast 3m hoch und 2m breit. Es ist sorgfältig komponiert; wie ausgestellt steht der König in der Bildmitte. Sein Krönungsmantel, der
Kaiser Wilhelm II., Gemälde von Max Koner, Öl auf Leinwand, 1890
Thronsessel rechts und das Tischchen mit der Krone links sind durch das Lilienmuster – die Lilie als Symbol der Bourbonen – miteinander verbunden. Man sieht keinen realistischen Raum, sondern gewissermaßen eine bühnenhafte Hintergrunddekoration. Nichts an diesem Bild ist zufällig, jedes Detail hat Bedeutung.
Rigauds Gemälde war offenbar so beeindruckend, dass es Schule machte. Ludwig XV., XVI. und Karl X. ließen sich in ähnlicher Weise porträtieren und stellten sich damit bewusst in die Tradition des großen Vorgängers. Aber auch in Max Koners Gemälde von Wilhelm II. sind die Anleihen bei Rigaud nicht zu übersehen; allerdings wirkt der damit verbundene Anspruch im Jahre 1890 nicht mehr zeitgemäß, die Darstellung plakativ und geradezu operettenhaft.
Das Familienporträt
Kaiser Wilhelm II. mit seiner Familie. Ansichtskarte, 1906.
Bilder können auch Quellen für Wertvorstellungen und soziale Beziehungen sein. Dafür ist das Familienbild ein gutes Beispiel. Erkennbar wird, wer überhaupt zur Familie zählt, welche Haltung die Familienmitglieder zueinander einnehmen, welcher sozialen Schicht die Familie angehört. Mit der notwendigen Vorsicht lassen sich daraus Aussagen über Zeittypisches ableiten. Dazu drei Beispielbilder. Das erste zeigt Kaiser Wilhelm II. mit seiner Familie auf einer Ansichtskarte von 1906. Die Personen sind nach einem klaren Muster arrangiert,
Familienfoto, um 1880.
das die klassische Rollenverteilung widerspiegelt. Der Vater überragt stehend die Familie, die Mutter sitzt im Kreis der zahlreichen Kinder. Die drei älteren Jungen tragen wie der Kaiser selbst Uniform und nehmen eine entsprechend disziplinierte Haltung ein. Der Vierte hat einen Matrosenanzug an – weit verbreiteter Ausdruck der Flottenbegeisterung in dieser Zeit. Dass das Bild als Ansichtskarte verbreitet wurde, belegt einen modellhaften oder repräsentativen Anspruch.
Zum Vergleich ein kleinbürgerliches Familienfoto von 1880. Die Komposition ist fast dieselbe. Natürlich hat man sich für die Aufnahme in Schale geworfen, dennoch bleibt die soziale Differenz unverkennbar. Aber auch hier fehlt das militärische Moment nicht; dem Jüngsten haben die Eltern eine Militärmütze aufgesetzt.
Familienfoto aus den späten Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts
Der Hintergrund ist deutlich als Vorhang eines Fotostudios erkennbar. Dass sich die Ausstattung auf ein Minimum, nämlich einen schlichten Vorhang und einen Teppich beschränkt, weist daraufhin, dass die Aufnahme von einem billigen Fotografen oder sogar einem Wanderfotografen gemacht worden ist. Ein anderes Bild als Kontrast. Dieses Foto aus den späten Sechzigerjahren zeigt, wie die Familien kleiner werden und die Geschlechterrollen aufweichen: Der Vater kümmert sich um das Baby, die Mutter liest die Zeitung. Die Situation ist informell; einen solchen Schnappschuss hätte die Fototechnik um 1900 nicht zugelassen. Wer das Bild aufgenommen hat, wissen wir nicht. Steht es für eine veränderte Normalität? Oder zeigt es (für diese Zeit oder auch für diese Familie) eine Ausnahmesituation? Solche Fragen lassen sich nur dann und nur näherungsweise klären, wenn man einen größeren Quellenfundus in den Blick nimmt. Bilder des Imaginierten
Der Teufel weist dem heiligen Augustinus das Buch der Laster vor. Ausschnitt aus dem sog. "Kirchenväteraltar" von Michael Pacher, Neustift bei Brixen, um 1480.
Bilder zeigen häufig Imaginäres, Dinge, die nur in den Köpfen der Menschen existierten, aber in ihrem Alltag eine höchst bedeutsame Rolle spielten, z. B. Götter, Teufel, Fabelwesen, Ansichten von Himmel und Hölle. Als Beispiel hier ein Ausschnitt aus einem Altarbild von Michael Pacher (ca. 1482), auf dem der Teufel in sehr vermenschlichter Form dargestellt ist. Er muss dem heiligen Wolfgang (einem deutschen Bischof aus ottonischer Zeit) das Messbuch halten. Bilder als Quellen erlauben also eine Annährung an die religiösen Vorstellungen, die sich Menschen zu verschiedenen Zeiten machten. Beispielsweise haben der französische Historiker Michel Vovelle und seine Frau Altarblätter aus der Provence mit Darstellungen von Seelen im Fegefeuer zwischen 1610 und 1850 untersucht. Sie stellten fest, dass auf den Bildern im 17. Jahrhundert das Leiden der Seelen, im 18. Jahrhundert ihre Erlösung dominiert. Jean Delumeau hat sich in seiner Geschichte der "Angst im Abendland" ebenfalls stark auf Bildquellen gestützt, dasselbe gilt für Philippe Ariés "Geschichte des Todes" oder die Erforschung des Alters in der Geschichte (Biegel 1993). Bild und Kontext
Oft reicht es nicht aus, ein einzelnes Bild zu betrachten; man muss ganze Gruppen und Reihen untersuchen – Bilder also als serielle Quelle. Einschlägige historische Vorkenntnisse sind erforderlich, damit man überhaupt sinnvolle Fragen stellen und Einordnungen vornehmen kann; das ist bei Textquellen nicht anders. Vieles, was für die Menschen damals auf Bildern selbstverständlich war, muss heute erst entschlüsselt werden. Wer auf der Straße einer mittelalterlichen Stadt einem Menschen in blauem oder rotem Gewand begegnete, wusste, dass er es mit einer höhergestellten Person zu tun hatte; die Historiker müssen dieses Wissen erst den zeitgenössischen Kleiderordnungen entnehmen (Roeck 2004, S. 254).
Ebenso wie bei Textquellen muss bei der Interpretation von Bildern der historische Kontext der Quelle in den Blick genommen werden: Wer waren der Künstler und der Auftraggeber, was ihre Intentionen, an wen sollte sich das Bild richten, wie wurde es verbreitet oder präsentiert, wie wurde es rezipiert? Aber auch bei der enger gefassten Analyse beispielsweise eines Gemäldes, das sich auf Komposition, Motivik und Darstellungstechnik richtet, ist Kontextwissen notwendig, nämlich über die Bildkonventionen der Zeit, ihre visuelle Handschrift gleichsam. Der Umgang mit Bildern als historischen Quellen ist also nicht einfach – aber lohnend.
Der Prager Fenstersturz, Kupferstich von Mathäus Merian d. Ä. 1635 (© wikipedia.de )
Kronprinz Friedrich Wilhelm an der Leiche des Generals Abel Douay, 4.8.1870 Hechingen, Burg Hohenzollern
Fotografenfoto eines kleinen Jungen, 1903
Der Sänger Chenard in Sansculottenkleidung mit Pantalons, Carmagnole, Kokarde und Fahne. Gemälde aus der Schule von Louis Leopold Bailly, 1792.
Eine bäuerliche Familie bei der Arbeit. Buchmalerei um 1023.
3,5-Tonnen-Dampfhammer im Essener Hammerwerk II, Foto von vor 1906. (© Krupp Archiv)
Ludwig XIV., König von Frankreich. Gemälde von Hyacinthe Rigaud, Öl auf Leinwand (277x194 cm), um 1700
Kaiser Wilhelm II., Gemälde von Max Koner, Öl auf Leinwand, 1890
Kaiser Wilhelm II. mit seiner Familie. Ansichtskarte, 1906.
Familienfoto, um 1880.
Familienfoto aus den späten Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts
Der Teufel weist dem heiligen Augustinus das Buch der Laster vor. Ausschnitt aus dem sog. "Kirchenväteraltar" von Michael Pacher, Neustift bei Brixen, um 1480.
| Article | Michael Sauer | 2021-06-23T00:00:00 | 2012-03-01T00:00:00 | 2021-06-23T00:00:00 | https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/bilder-in-geschichte-und-politik/73099/bilder-als-historische-quellen/ | Als historische Quellen führten Bilder lange Zeit ein Schattendasein – zu Unrecht, denn sie bieten eine Fülle von Erkenntnismöglichkeiten. Für welche Themenfelder sind sie besonders geeignet? Welche methodischen Probleme gibt es beim Umgang mit Bilde | [
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