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Ein Fluss und seine Stadt | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Hauptstadt der Selbstmörder Wir schreiben das Jahr 1877. Der Dichter János Arany veröffentlicht sein Gedicht "Brückenweihe". In der Hauptrolle: die Margarethenbrücke. Ein Jahr zuvor wurde sie als zweite Verbindung über die Donau in Budapest fertig gestellt. Den Budapester Selbstmördern war damit eine weitere Möglichkeit gegeben, frühzeitig auf die andere Seite zu wechseln. Sechs Personen nutzten sie gleich in jenem Jahr. Und der Dichter Arany hatte Stoff für sein Werk. In den 20 Strophen dieser "Stadtballade" lässt er einen Querschnitt der ungarischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts über das Geländer springen. Den glücklosen Kartenspieler trifft es dabei ebenso wie die unglücklich Verliebten, die Betrogenen, die Armen, die beruflich und sozial Gescheiterten, die Kranken und die schlicht und einfach Lebensmüden. Im Jahr von Aranys "Brückenweihe" entschieden sich in Bundapest insgesamt über hundert Menschen, eine solche Abkürzung aus dem Leben zu nehmen. 30 davon sprangen ins Wasser, was nur 14 von ihnen überlebten. Damit war der Sprung in Wasser die häufigste Art des Suizids, gefolgt von Aufhängen und Kopfschuss. Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Selbstmordrate in Ungarn kontinuierlich an. Budapest ließ in dieser Hinsicht nicht nur Wien, die andere Metropole der Donau-Monarchie hinter sich, sondern auch weitere europäische Hauptstädte. Den Statistiken zufolge schieden vor allem Arbeiter, Lehrlinge, Dienstpersonal oder Tagelöhner freiwillig aus dem Leben, die untere Gesellschaftsschicht also, die den Großteil der Budapester Bevölkerung ausmachte. Doch während diese an den Rändern der Stadt – etwa in der später abgerissenen Mária-Valéria-Siedlung – in zum Teil elenden Zuständen hausten, blühte die Stadt selbst zur Metropole auf, repräsentierte, wo es nur ging, und nahm die Moderne im Eiltempo in Angriff. Metropole an der Donau Budapest war an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert schon längst eine europäische Stadt geworden. Kein Wiener hätte in dieser Zeit mehr die Ansicht des Fürsten Metternich geteilt, Budapest gehöre zum Orient. Wer um etwa 1820 in die ungarische Hauptstadt fuhr, begab sich auf eine Expedition. Zum Ende des Jahrhunderts fuhr man hin, um Geschäfte zu erledigen. Nicht nur mit seinen erstklassigen Restaurants und Hotels, mit seiner elektrischen Straßenbahn und der U-Bahn (der ersten auf dem europäischen Kontinent) war Budapest kosmopolitisch geworden, weite Teile der Bevölkerung sprachen Deutsch, viele auch Französisch. Noch vor dem Entstehen des heutigen Budapests hatte die Gegend unterschiedliche Völker angezogen. Und mittendrin war immer die Donau. Die Römer errichteten hier an ihren Ufern Aquincum, die Hauptstadt der Provinz Pannonien. Unter römischer Herrschaft prosperierte die Stadt. Mit Statthalterpalast, mehreren Amphitheatern und Bädern bot sie alles, was eine Stadt damals an Macht und Demonstration und eben auch Unterhaltung zu bieten hatte. Als Grenzstadt am Grenzfluss war auch ihre strategische Bedeutung immens. Allein, mit jeder Grenzverschiebung kann ein vormals wichtiger Posten in die Bedeutungslosigkeit versinken. Und so hatte auch die Blütezeit Aquincums ein Verfallsdatum. Am Ende des 4. Jahrhunderts kam es im Zuge der Völkerwanderung vermehrt zu Einfällen germanischer und hunnischer Stämme. Nach dem Untergang des Römischen Reiches und dem Ende der Völkerwanderung siedelte hier zunächst eine slawische Bevölkerung, die aber ab 896 von Ungarn, uralischen Völkern, die in die pannonische Tiefebene einwanderten, verdrängt wurden. Noch im Mittelalter konnten weder Buda noch Pest als richtige Städte bezeichnet werden. Das politische Geschehen spielte sich in Esztergom ab. Während des Mongolensturms 1241 wurden beide Teile des heutigen Bundapests zerstört. Zur ungarischen Hauptstadt wurde Buda erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Doch selbst nach dem Ende der Türkenherrschaft im späten 17. Jahrhundert blieben Buda mit 13.000 und Pest mit 4.000 Einwohnern Provinznester, die von der breiten und unregulierten Donau getrennt waren, nur zeitweilig durch eine wacklige Pontonbrücke verbunden. Die alten Völker, die einst an der Donau wohnten, sind verschwunden, versunken in der Zeit. Manche Spuren blieben, viele wurden in die Vergessenheit gespült. Es kamen immer wieder neue hinzu. Ihr immer wieder neues Erwachen verdankt die Stadt in erster Linie der Donau. Aufbruch in die Moderne Im Zentrum wichtiger Verkehrswege gewann Pest immer mehr an Bedeutung. Am Ende des 18. Jahrhunderts war Budapest der größte Hafen entlang der fast 3.000 Kilometer langen Donau. Der beste und billigste Weg in die ungarische Hauptstadt zu kommen, war per Boot. Dauerhaft verbunden wurden Buda und Pest schließlich mit der Kettenbrücke. Bei ihrer Fertigstellung 1849 war sie die erste steinerne Brücke an der Donau unterhalb von Regensburg. Namensgeber Széchenyi, so heißt es, wurde zu ihrem Bau angeregt, nachdem er eine Woche lang warten musste, um zum Begräbnis seines Vaters ans andere Ufer zu kommen. Politisch verbunden wurden die einzelnen Teile der Stadt jedoch erst Jahrzehnte später. 1873 wurden die zuvor selbständigen Städte Buda, Óbuda und Pest zusammengelegt. Der Name Budapest selbst tauchte zuvor nicht auf, üblich im Sprachgebrauch war Pest-Buda. Die vorherige Eigenständigkeit der Städte ergab sich nicht nur durch ihre Trennung durch die Donau. Während Buda größtenteils deutschsprachig, katholisch und loyal zum habsburgischen Königshaus war, brach in Pest 1848 die antihabsburgische Revolution aus – angeführt von dem Protestanten Lajos Kossuth. Drei Jahrzehnte später, in der Zeit der Vereinigung der drei Stadtteile, erfuhr die Stadt eine rasante Entwicklung. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem seit dem "Ausgleich" 1867, der die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn auf die Bühne der Weltgeschichte einführte, und bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich Budapest sehr plötzlich zur Metropole, heftiger noch als andere Hauptstädte, die auf eine größere Vergangenheit zurückblicken konnten. In dieser Zeit versiebenfachte sich die Einwohnerzahl der Stadt auf fast 750.000. Budapest stieg von der Bevölkerungszahl her in die Top Ten der europäischen Städte auf, es war nun größer als Rom, Madrid oder Hamburg. Es wurde zur größten Stadt zwischen Wien und St. Petersburg. Die Bevölkerungsexplosion betraf vornehmlich Pest. Jünger und weit weniger idyllisch als Buda war es doch der dynamische Motor, der Budapest berühmt machte und in dem um die Jahrhundertwende 83 Prozent der Einwohner lebten. Neue Brücken Das veränderte auch das Stadtbild. Das bis dahin provinzielle Zentrum passte nicht mehr zu der modernen Metropole und den neuen Brücken. Deshalb legte man die Uferpromenade an, außerdem entstanden – neben neuen Donaubrücken – die Ringstraßen, der Andrássy Boulevard (heute zusammen mit der unter ihm verlaufenden ältesten U-Bahn-Strecke des Kontinents ebenfalls Teil des Unesco-Weltkulturerbes), die Oper, das Parlament, die Fischerbastei, die Hotels an der Donau, nicht zu vergessen die unzähligen Kaffeehäuser. Zumindest einem Kaffeehaus erwies die Donau einen guten Dienst: Das "Café New York" wurde 1894 im prunkvollen Gebäude der New York Life Insurance Company gegründet. Es zog die Redaktion der Zeitung Nyugat und viele weitere Intellektueller an. Einer Anekdote zufolge warf der Schriftsteller Ferenc Molnár zur Eröffnung die Schlüssel des Cafés in die Donau, damit es seinen Gästen Tag und Nacht offen stehe. "Pest hat die Maske der Bescheidenheit abgelegt", beschrieb der ungarische Schriftsteller Gyula Krúdy diese Zeit. Jedes Jahr behänge sich die Stadt mit mehr Juwelen, das Sparsame sei dem Spekulieren gewichen, das Anspruchslose dem Lauten. Krúdys Beschreibungen des Budapests der Jahrhundertwende überborden von Farbe, Tönen und Gerüchen. Die Stadt setzte er mit den Jungfrauen gleich, die ihre niedergeschlagenen Augen öffnen und sich ihres ganzen Frauseins erfreuen. Manchmal ging es mit ihm aber die Begeisterung durch, etwa wenn er meinte, "die Frauen riechen wie Orangen in Japan". Zwischen all den jauchzenden Tönen stimmte der Schriftsteller jedoch auch ernste Töne an, wenn er das andere Gesicht der Metropole zeichnet, die Paläste und Türme, die alten Leute und Häuser, die alten Straßen und alten Gebräuche in der Stadt. Dennoch: Wer würde sich nicht wünschen, an diesem prachtvollen Ort zu leben, an dem – glauben wir Krúdy – "sich jeder in einer Menschenmasse für einen Gentleman hält, selbst wenn er am Tag zuvor erst aus dem Gefängnis entlassen wurde"? Und wenn er er seinen Blick weiter durch die Stadt streifen ließ, sah er auch "die blau-weißen Türme und die endlos emporsteigenden Dächer, die weißen Schiffe, die sich auf dem Fluss vermehren, und die regenbogengefärbten Donau-Brücken". Die Donau und die Poeten Der Fluss ist damals wie heute gleichzeitig Hauptverkehrsstraße der ungarischen Hauptstadt und Trennlinie ihrer beiden Teile. An der Nordgrenze der Stadt ist die Donau noch fast einen Kilometer breit. Unterhalb der Margareteninsel verschlankt sie sich. Im Zentrum der Stadt, am Fuße des Gellértberges, ist sie am schmalsten, nur insgesamt 230 Meter breit. Dass der Fluss genau durch ihre Mitte fließt, kann keine andere Großstadt entlang der Donau bieten. Man kann beispielsweise in Wien sein, ohne die Donau überhaupt zu bemerken. So schön sie anzusehen ist, ein Fluss der Lebensfreude ist sie nicht. Dafür reicht schon ein kurzer Blick in die Lyrik. Attila József, einer der bedeutendsten Dichter des Landes, saß seinerzeit einfach nur am Ufer und beobachtete, wie Melonenschalen wegschwammen. Eine dröge Beschäftigung. 1937 warf er sich vor einen Zug. An der Donau sitzt er noch heute, als nachdenkliche Skulptur neben dem Parlament. Jeden Zweifel zerstreut Endre Ady, einer der Erneuerer der ungarischen Dichtkunst. "Ein fröhliches Volk hat sie hier nie gesehen", schreibt er in A Duna vállomása (Das Bekenntnis der Donau). Auch nach seinem Tod 1919 sollte sich daran nicht viel ändern. Besonders schlecht hatte es die Donau mit der Stadt lange zuvor gemeint: An das historische Donauhochwasser vom 15. März 1838 erinnern noch heute weit von ihrem Ufer entfernt Wasserstandsmarken und an der Franziskanerkirche am Ferenciek tere ein dramatisches Fresko . Auch weitere Poeten konnten nur Nachdenkliches aus dem Fluss ziehen. Dem Dichter László Ölvedi perlten die Tränen abends am Donaustrand. Allerdings nicht lange. Er starb 1931 mit nur 28 Jahren. Nicht so jung, dafür arm und vergessen, starb 1953 Ernő Szép – und wandte damit der Donau endgültig den Rücken zu. Schon zu Lebzeiten fand er in seinem gleichnamigen Gedicht, dass man die Brücken allesamt schließen sollte, um die Armen und Angstlosen vor sich selbst zu schützen. Schon mit der ersten und noch heute bedeutendsten Budapester Brücke wird eine traurige Geschichte in Verbindung gebracht. Der Bau der Széchenyi Lánchíd, so der offizielle Name, geht auf den ungarischen Reformer István Széchenyi (1791-1860) zurück. Mit dem Entwurf der Kettenbrücke wurde der renommierte englische Ingenieur William Tierny Clark beauftragt. Die Bauleitung erhielt sein Namensvetter Adam Clark. Mit dem Bau der Kettenbrücke haben sie sich allesamt unsterblich gemacht. Und sehr langlebig ist auch die Legende, wie die Kettenbrücke ihr erstes Todesopfer forderte. Je nach Erzählung ist es der Architekt selbst oder der Bildhauer, der die imposanten Löwen an den Brückenköpfen modellierte. Man solle einen Makel an der Brücke finden, hieß es nach ihrer Fertigstellung. Als nun darauf hingewiesen wurde, dass die Löwen gar keine Zungen hätten, gab es keinen anderen Ausweg mehr, als sich der Schmach durch Suizid zu entziehen. Eine Legende freilich, aber eine immer wieder gern erzählte. Zumal die Löwen in Wirklichkeit Zungen haben. Auch Graf Széchenyi konnte sich nicht lange über "seine" Brücke freuen. Denn er betrat sie nie. Nach einem Zusammenbruch im September 1848 verbrachte er den Rest seines Lebens in einer Nervenheilanstalt in Wien. Die Kettenbrücke als Symbol Die Kettenbrücke symbolisiert wie kaum ein anderes Bauwerk des 19. Jahrhunderts Budapests Aufstieg von der Provinzstadt zur Metropole. Erbaut wurde sie zwischen 1842 und 1849. Die Spannweite zwischen ihren beiden Pfeilern beträgt 202 Meter. Die ursprüngliche Konstruktion wog mehr als 2.000 Tonnen. Sie war noch nicht vollkommen fertiggestellt, als die Österreicher zur Zeit des Freiheitskampfes auf dem Rückzug nach Buda versuchten, sie in die Luft zu sprengen. Der unfachmännisch angebrachte Sprengstoff konnte der Brücke jedoch wenig anhaben, umso mehr aber dem Oberst, der den Sprengungsbefehl gegeben hatte. Er wurde in Stücke gerissen. Sehr fachmännisch wiederum brachten die Deutschen 1945 den Sprengstoff an. Sie zündeten ihn und versenkten das Mittelstück der Brücke in der Donau. Aus Anlass der Feierlichkeiten zum 1.000. Jahrestages der Landnahme wurde 1896 die Freiheitsbrücke, die dritte Brücke über die Donau neben der Kettenbrücke und der Margarethenbrücke, errichtet. Ihr ursprünglicher Namensgeber, der österreichische Kaiser Franz Joseph, schlug damals selbst einen Nagel ein. Aber natürlich nicht eigenhändig. Von einem Zelt auf der Pester Seite betätigte er lediglich einen Knopf, der daraufhin einen 45 Tonnen schweren Hammer in Bewegung setzte. Die Freiheitsbrücke symbolisiert die Freude an Schmuck und Zierde, wie sie an kaum einem anderen Bauwerk des Fin-de-siecle zu finden ist. Auf jedem Brückenpfeiler steht ein Turul, der mythische Vogel der Ungarn, auf einer Goldkugel, die Flügel zum Abflug gespreizt. Auch heute noch erklettern die Selbstmordkandidaten mit Vorliebe einen der Pfeiler – und werden meist von der Feuerwehr wieder herunter geholt. Nicht alle aber. 2010 ist dem Fotografen Peter Lakatos ein Schnappschuss gelungen, den sich jeder, der nicht selbst dabei war, zur World Press Photo-Ausstellung ansehen konnte. Darauf nahm sich ein Mann auf der Freiheitsbrücke seine ganz persönliche Freiheit, aus dem Leben zu scheiden. Durch ihre Gitterkonstruktion ist es ein Leichtes für jeden Lebensmüden, auf eines der Brückentore zu klettern. Eben dies schaffte er ohne Probleme, ließ sich oben nieder – und zündete sich an. Ein Video kursiert im Internet, je länger er brennt, umso unerträglicher wird es. Schließlich erlöste er sich selbst und die Schaulustigen mit einem finalen Sprung auf den Asphalt. Und in dieser Sekunde klickte der Apparat des Fotografen. Tragisch, dazu verworren und gänzlich ohne Augenzeugen war der Fall einer französischen Austauschstudentin, die in einer Nacht im Dezember 2008 auf der Kettenbrücke verschwand. Sicherheitskameras konnten ihren Weg von einem Club in der Stadt bis zum Fuße der Kettenbrücke nachzeichnen. Doch auf der anderen Seite kam sie nie an. Ihre Handtasche mit sämtlichen Dokumenten wurde mitten auf der Brücke gefunden. Stadt der Illusionen Der Architekt und Schriftsteller Pál Granasztói (1908-1985) bezeichnete in seinem Buch Budapest wie ein Architekt es sieht die Metropole der Jahrhundertwende als "Stadt der Illusionen". Die Spuren von den Illusionen einstiger Größe, vermeintlicher Werte und ehrgeiziger Ziele haben die Jahrzehnte überdauert. Viel von ihrer Anziehungskraft, wenn nicht gar den Hauptteil, verdankt Budapest seiner landschaftlichen Umgebung. Granasztói zitiert in seinem Buch den französischen Schriftsteller Jules Romains mit den Worten: "Budapest mit der Donau bietet eines der schönsten Stadtbilder, die es gibt, vielleicht sogar das schönste in ganz Europa, London mit seiner Themse und Paris mit seiner Seine inbegriffen." Neun Brücken überspannen heute die Donau in Budapest. Die nördliche Eisenbahnbrücke und die Árpád-Brücke im Norden sowie die Rákóczi-Brücke und die südliche Eisenbahnbrücke im Süden dienen in erster Linie den Verkehr. Die Rákóczi-Brücke ist die jüngste im Bunde, erbaut von 1992 bis 1995. Dadurch entging sie dem Schicksal der historischen Budapester Donaubrücken am Ende des Zweiten Weltkrieges. Um nach dem Krieg ein Provisorium zu schaffen, entstand auf der Höhe des Parlaments die Kossuth-Brücke. 1960, als die anderen Brücken wieder aufgebaut wurden, wurde sie demontiert und nicht ersetzt. Heute befinden sich an beiden Flussufern Gedenktafeln in Höhe der ehemaligen Brückenköpfe. Die Brücken waren jedoch nicht die einzigen, denen die deutsche Besatzung zum Verhängnis wurde. Zwischen Ketten- und Margaretenbrücke, nahe der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, installierten die Künstler Gyula Bauer und Can Togay 2005 die "Schuhe am Donauufer". Auf einer Länge von 40 Metern wurden sechzig Paar Schuhe aus Metall zum Gedenken an die Erschießungen von 1944 und 1945 am Boden angebracht. Sie erinnern an die Zeit, als Pfeilkreuzler, das ungarische Nazi-Pendant, jüdische Ungarn am Donauufer zusammentrieben und erschossen. Die Schuhe stehen oder liegen "wie zufällig" übrig geblieben. Das Mahnmal ist so gestaltet, dass es auf den ersten Blick nicht verrät, welches Geschehen dahintersteckt. Die vierte ständige Brücke, die Elisabethbrücke, wurde zwischen 1898 und 1903 gebaut. Sie war zu ihrer Bauzeit die längste Kettenbrücke der Welt. Benannt wurde sie nach nach "Sisi", der Kaiserin und Königin Elisabeth, die im Jahr des Baubeginns in Genf Opfer eines Anarchisten wurde. Opfer fremder Mächte wurde ebenso der heilige Gellért. Am Budaer Ende der Brücke steht das Denkmal dieses Märtyrerbischofs. Der Legende nach haben die heidnischen Ungarn den missionierenden Bischof von dort in einem Holzfass in die Donau geworfen.
Article
Sebastian Garthoff
2021-12-13T00:00:00
2013-05-06T00:00:00
2021-12-13T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/159502/ein-fluss-und-seine-stadt/
Budapest schwankte immer zwischen den Extremen. Großstadt, Repräsentation und Moderne standen Melancholie, Zukunftsangst und Todessehnsucht gegenüber. Und mittendrin war und ist die Donau.
[ "Budapest", "Donau", "Fluss", "Selbstmord", "Metropole", "Stadt", "Österreich-Ungarn", "Brücke", "Ungarn", "Budapest" ]
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Akteure in Migrationsregimen und das Aushandeln von Migration | Akteure im (inter-)nationalen (Flucht-)Migrationsregime | bpb.de
Interner Link: 1. Einleitung Interner Link: 2. Gesellschaften handeln Migration und Flucht aus Interner Link: 3. Migrationsregime Interner Link: 4. Migrationsregime und das Aushandeln von Migration 1. Einleitung 'Migration' oder 'Mobilität', 'Einwanderung' oder 'Zuwanderung', 'Flüchtlinge' oder 'Geflüchtete', 'Ausländer' oder 'Menschen mit Migrationshintergrund'. Eine Vielzahl von umkämpften Begriffen kennzeichnet das Sprechen und Schreiben über Migration und die auf unterschiedliche Weise bezeichneten und kategorisierten Migrant:innen. Solche Kategorien verweisen auf Vorstellungen über gesellschaftliche Hierarchien und (Nicht-)Zugehörigkeit, die sich beispielsweise an Erwartungen über Nützlichkeit und Hilfsbedürftigkeit von Eingewanderten orientieren. Begriffe sind weit mehr als nur eine Anzahl von Buchstaben. Denn mit Bedeutungen aufgeladen, beeinflussen sie die Wahrnehmung von Menschen in Bewegung und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. So macht es einen Unterschied, ob etwa ein Mensch, der eine Grenze ohne Visum überschreitet und Asyl beantragt, als 'Schutzsuchender' oder als 'illegale Migrantin' bezeichnet wird: 'Schutzsuchend' verweist auf eine Notsituation und den Bedarf an Unterstützung, 'illegal' hingegen auf kriminelle Aktivitäten. Gesellschaften handeln fortwährend neu aus, welche Bezeichnungen und Zuschreibungen für Menschen in Bewegung verwendet werden, wer als zugehörig gilt oder wem wenigstens ein Näheverhältnis zugebilligt wird, wen sie als hilfs- und damit als schutzbedürftig wahrnehmen. Solche Aushandlungsprozesse können in rechtliche Regelungen, Gesetze und den Auf-, Ab- oder Umbau von Organisationen münden – d.h. Normen und Strukturen, die wiederum den Rahmen bilden für neues gesellschaftliches Aushandeln etwa über die Frage, wie homogen oder heterogen die Gesellschaft sein sollte oder ob eine Interner Link: Antidiskriminierungspolitik eher die Gleichheit aller Menschen betonen oder auf marginalisierte Lebenswirklichkeiten hinweisen sollte. 2. Gesellschaften handeln Migration und Flucht aus Warum ist von Aushandeln und Aushandlungsprozessen die Rede? In der Interaktionsforschung und in der Verhandlungsforschung wird schon seit Jahrzehnten davon ausgegangen, dass Entscheidungen ausschließlich über den Ausgleich von Interessen von Akteuren im Modus von Verhandlungen möglich sind und als gemeinsam produziert (also als ko-produziert) verstanden werden können. Klassische Konstellationen, die die Verhandlungsforschung untersucht, beziehen sich auf Verhandlungen über zwischenstaatliche Abkommen, Tarifverträge, Gesetzesvorhaben, Koalitionen oder Verträge zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen. In all diesen Feldern vermag weder ein Akteur durch Machtentscheidung und Einsatz von Sanktionsmitteln sein spezifisches Interesse in vollem Umfang durchzusetzen, noch können die Akteure eine gemeinsame Perspektive durch eine Diskussion erreichen, deren Voraussetzung eine mehr oder minder ausgeprägte Ähnlichkeit von Interessen und das Streben nach einem Ergebnis im Konsens wäre. Verhandelt wird also vornehmlich dann, wenn Herrschaftsträger, Machthabende oder Dominierende ihre Position nicht einseitig durchsetzen können oder wollen. In Verhandlungen sind die Akteure (untereinander) bekannt, ihre Zahl bleibt beschränkt, die jeweils formulierten Interessen werden gegenseitig als legitim verstanden und die Akteure agieren strategisch – das heißt, sie verfolgen bestimmte Interessen bewusst und geplant. Das Ziel der Verhandlungen wird in der Regel vorab oder zu Beginn festgelegt. Gemeinsam soll Handlungsfähigkeit hergestellt werden, und zwar zweck- und zielorientiert auf der Basis eines Ausgleichs von Interessen. Von so definierten Verhandlungen lassen sich Aushandlungen abgrenzen. Bei Aushandlungen sind die Rahmenbedingungen erheblich offener, der Prozess selbst ist dynamischer: Die Interaktion bezieht sich zwar auf ein bestimmtes Thema mit Bezug auf eine konkrete Konstellation, wie beispielsweise den Umgang mit einer aktuell laufenden Fluchtbewegung, die eine Gesellschaft erreicht (zu denken ist etwa an die breiten Debatten Interner Link: um die Aufnahme von Schutzsuchenden in der Bundesrepublik des Jahres 2015 unter Beteiligung zahlreicher Akteure). Allerdings sind nicht nur die behandelten Sachverhalte und die Bedeutung der verwendeten Begriffe Gegenstand der Aushandlung, sondern auch die Kommunikationsverhältnisse insgesamt. Weder die Form der Aushandlung ist festlegt noch die Zahl der teilnehmenden Akteure oder deren Verhältnis zueinander. Dass sich die teilnehmenden Akteure kennen, ist keine Voraussetzung – sonst wäre in einer Gesellschaft, in er sich im Allgemeinen die Allerwenigsten kennen, keine Aushandlung möglich. Dennoch ist der Prozess des Aushandelns keineswegs als vollkommen willkürlich und unabgrenzbar zu verstehen: Aushandlungen sind in der Regel gekennzeichnet durch stabile Akteurskonstellationen, Herrschafts- und Machtverhältnisse, die den ko-produktiven Prozess der Aushandlung steuern und die über hohe Gestaltungskapazitäten verfügen. 'Macht' lässt sich in diesem Sinne als ein soziales Verhältnis definieren, als eine Asymmetrie in sozialen Beziehungen. Diese kann sehr unterschiedliche Formen annehmen – mal ist sie auf eine längere Dauer ausgerichtet, mal tritt sie ad hoc auf, mal kann sie umfassend sein, mal auf einzelne Situationen und Konstellationen bezogen. 'Macht' wird fortwährend neu ausgehandelt. 'Herrschaft' ist demgegenüber verfestigte, verstetigte Macht, die insbesondere als institutionalisierte und formalisierte, auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete Machtausübung verstanden werden kann. Vor allem Organisationen sorgen für Herrschaft als "Sonderfall von Macht", also für die (relativ) dauerhafte Durchsetzung der Asymmetrien, für deren Anerkennung, Aufrechterhaltung und für deren Sichtbarkeit. Mit dem Bezug auf Macht und Herrschaft kommt der Begriff der Migrationsregime ins Spiel. 3. Migrationsregime Der Begriff 'Regime' leitet sich aus dem Lateinischen ab und verweist auf die 'Regierung', die 'Leitung'; das Verb 'regere' auf 'lenken', 'herrschen' und 'beherrschen'. Regime können als institutionalisierte Macht begriffen werden. So verstanden, sind Migrationsregime recht stabile Apparate der Produktion von Interner Link: Normen, Strukturen und Organisationen zur Beeinflussung von Interner Link: Migration. Sie sind durch institutionelle Akteure gekennzeichnet, die einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens fokussieren, Migrationsbewegungen kanalisieren und die (potentiellen) Migrant:innen kategorisieren. Jedes Migrationsregime hat eigene Organisationen, umfasst spezifische Regeln und Verfahren sowie Bedingungen und Formen des Sammelns von Informationen über auf bestimmte Art und Weise definierte Migrationsbewegungen bzw. Kategorien von Migrant:innen; und jedes Migrationsregime bewertet diese Informationen anders und vermittelt die Ergebnisse je verschieden zwischen institutionellen Akteuren, gegenüber (potentiellen) Migrant:innen und der Öffentlichkeit. So lässt sich beispielsweise von einem internationalen Fluchtregime dort sprechen, wo der Interner Link: Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und nationale Regierungen (in Kooperation oder im Konflikt) weltweit Bewegungsmöglichkeiten und Lebensbedingungen von Schutzsuchenden gestalten. So ist es etwa 1998 im Kontext der Verabschiedung der UN-Leitlinien für Binnenvertriebene (Guiding Principles on Internal Displacement) geschehen. Ein Migrationsregime kann größere Teile eines Kontinents umschließen, wie es beispielsweise aus dem Zusammenhang des 'Gastarbeiter'-Regimes von den späten 1940er bis Anfang der 1970er Jahre für Westeuropa bekannt ist. Bilaterale Anwerbeabkommen zwischen Herkunfts- und Ankunftsstaaten bildeten damals ein zentrales Element der Steuerung von Migrationsbewegungen; in den Ankunftsstaaten lassen sich weitreichende Aushandlungen insbesondere zwischen Ministerien, Unternehmen und Gewerkschaften ausmachen, in deren Rahmen Migration und Teilhabe der angeworbenen Arbeitsmigrant:innen gestaltet wurden. Migrationsregime können aber auch nur lokale Dimensionen haben, z.B. dann, wenn unter Beteiligung zahlreicher Organisationen (UNHCR, nationale Regierungen, regionale Behörden, Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen) vor Ort Regelungen ausgestaltet werden, welche Personen unter welchen Umständen in ein Interner Link: Flüchtlingslager aufgenommen und welche Rechte und Leistungen ihnen zugebilligt werden. Die Interessen, Beobachtungsweisen, Normen und Praktiken solcher Organisationen bringen sehr unterschiedliche Begriffe und Kategorisierungen von Migrant:innen hervor, die die soziale, ökonomische, politische oder kulturelle Teilhabe am Zielort beeinflussen. Sie handeln vor dem Hintergrund spezifischer Fremdbilder und Stereotype gegenüber Menschen und ihren Bewegungen und verbinden mit ihnen bestimmte Erwartungen. Jedes Regime produziert, kategorisiert und bearbeitet 'seine' Migrationen jeweils verschieden. Migrationsregime verfügen immer über zwei elementare und miteinander verflochtene Felder: 'Mobilitätsregime' verweisen darauf, inwiefern auf den Zugang zu bzw. die Abwanderung aus einem Staat oder einem Territorium Einfluss genommen werden kann. 'Präsenzregime' umfassen Normen und Praktiken der Einbeziehung bzw. des Ausschlusses von Zugewanderten in gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise Politik, Recht, Wirtschaft oder Erziehung. Präsenzregime rahmen mithin Interner Link: Integration, die als das permanente Aushandeln von Chancen der ökonomischen, politischen, religiösen oder rechtlichen Teilhabe verstanden werden kann. 4. Migrationsregime und das Aushandeln von Migration Migrationsregime sind aufgrund der Bedeutung der Organisationen als Herrschaftsstrukturen bzw. Formen institutionalisierter Macht zwar in der Regel sehr stabil. Dennoch sind sie Teil und Gegenstand von Aushandlungen und deren spezifischen Dynamiken: Neue Themen werden aufgeworfen, Kompetenzen werden bestritten, neue Akteure treten mit neuen Positionen hinzu, neue Bündnisse zwischen Akteuren werden geschlossen, die dadurch Handlungsmacht gewinnen und in die Aushandlung einbringen. Mit der Aushandlung wird der diskursiv bearbeitete Gegenstand dann variabel, verschiedene Bedeutungen gewinnen unterschiedliche Relevanz. Die Aushandlung selbst verschiebt Grenzen des (Un-)Sag- und (Un-)Zeigbaren, führt oder zwingt auch Organisationen zu Handlungen. In Aushandlungen um Migration können auch Migrant:innen eine erhebliche Bedeutung gewinnen. Sie bilden Konkurrent:innen in Konflikten oder werden umworben: (Potentielle) Migrant:innen reagieren auf restriktive Interventionen (z.B. Ab- bzw. Zuwanderungsverbote), auf Zwangsmaßnahmen (z.B. Ausweisung) oder auf Einwanderungsangebote (z.B. Anwerbung durch Unternehmen, Programme zur Gewinnung von Hochqualifizierten). Migrant:innen fordern also Migrationsregime individuell oder kollektiv heraus. Sie entwickeln Strategien, um in einem durch Herrschaftspraktiken und Identitätszuschreibungen geprägten Feld eigene räumliche Bewegungen sowie gesellschaftliche Teilhabe durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Migrant:innen verfolgen ihre eigenen Interessen und Ziele, verfügen über eine jeweils unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital – mit der Folge je verschieden ausgeformter Handlungsspielräume gegenüber dem Migrationsregime. So haben beispielsweise Hochqualifizierte oder 'Expats' (von einem multinationalen Unternehmen an einen anderen Unternehmensstandort im Ausland geschickte Mitarbeiter:innen) wesentlich größere Handlungsmöglichkeiten als politisch Verfolgte aus afrikanischen Staaten, denen es kaum gelingen wird, ein Visum zu erlangen, um einen europäischen Staat zu erreichen. Beobachten lassen sich zudem unterschiedliche Reichweiten und Wirkungsgrade im Wechselverhältnis von einerseits Normen, Strategien und Maßnahmen von Organisationen im Migrationsregime und andererseits Taktiken, Aktivitäten und Handlungen (potentieller) Migrant:innen. Auf diese Weise prägen, formen, (ko-)produzieren Organisationen und Migrant:innen in Konflikt und Kooperation das, was unter 'Migration', 'Flucht' oder 'Mobilität' verstanden und als 'Geflüchtete', 'internationaler Studierender' oder 'Hochqualifizierter' bezeichnet wird. Siehe beispielsweise für die Presseberichterstattung: Jung, Matthias/Niehr, Thomas/Böke, Karin (2000): Ausländer und Migranten im Spiegel der Presse. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag; oder zu Talkshows: Simon Goebel, Politische Talkshows über Flucht. Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Eine kritische Analyse, Bielefeld: transcript 2017. Zum Begriff des Aushandelns siehe: Jochen Oltmer, Lernen als Aushandlung, in: Weiterbildung. Zeitschrift für Grundlagen, Praxis und Trends, 29. 2018, H. 6, S. 16–20; ders., Migration im Prozess gesellschaftlichen Aushandelns: Eine geschichtswissenschaftliche Verortung, in: Agnes Bresselau von Bressensdorf (Hg.), Über Grenzen. Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 31–47. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. Tübingen 1976, S. S. 541. Jochen Oltmer, Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 35. 2009, H. 1, S. 5–27.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2021-11-08T00:00:00
2021-10-07T00:00:00
2021-11-08T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/341498/akteure-in-migrationsregimen-und-das-aushandeln-von-migration/
Wer als Migrant gilt, sich in einem Land unter welchen Bedingungen wie lange aufhalten darf – oder auch nicht – wird fortwährend (neu) ausgehandelt. Dabei spielen Migrationsregime eine wichtige Rolle. Aber was ist das überhaupt? Eine Einführung.
[ "Akteure", "Migrationsregime", "Migration" ]
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bpb-Angebote zur Europawahl – die Onlineprodukte | Themen | bpb.de
Seit 1952 gibt es eine parlamentarische Versammlung auf europäischer Ebene, seit 1979 wählen die EU-Bürger diese direkt. Aber nach welchen Regeln? Und warum ist die Wahlbeteiligung eigentlich so niedrig? Antworten darauf finden Sie in unserem Interner Link: Europawahl-Dossier, das bis zum Wahltag aktualisiert wird. Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission stellen wir in Infofilmen vor. Hintergründe zur Sperrklausel finden Sie in einem Text von Lothar Probst. Was wollen die Parteien, die sich zur Wahl stellen? Rechtzeitig zur Wahl startet am 28. April der Interner Link: Wahl-O-Mat, das Frage-und-Antwort-Tool, das zeigt, welche Parteien Ihrer eigenen politischen Position am nächsten stehen. Informationen über die EU Wissen Sie eigentlich, wer was macht in der EU? Zum Nachschlagen bietet sich die Interner Link: Online-Ausgabe des Europa-Lexikons an - hier finden Sie Erklärungen zu Begriffen, Institutionen und Namen in 600 Stichworten. Eilige finden kurze Antworten in der Online-Ausgabe von Pocket Europa. Im Europawahl-Dossier erfahren Sie auch Interessantes aus den einzelnen Ländern. Welche Themen stehen dort im Wahlkampf jeweils im Fokus? Wie kommentieren die nationalen Medien? Korrespondenten berichten. Die Externer Link: euro|topics-Presseschau wirft darüber hinaus Tag für Tag einen Blick auf Meinungsartikel über Politik, Gesellschaft und Kultur - und das aus Medien aus ganz Europa. Europa - das ist für viele ein fremder Ort, ein abstraktes Gebilde. Dabei regelt die Europäische Union jetzt schon vieles, was jeden von uns im täglichen Leben betrifft. Hintergründe und Historisches fassen wir im Interner Link: Dossier Europäische Union zusammen, das bis zur Wahl aktualisiert wird. Von der Altersstruktur bis zum Bruttoinlandsprodukt: Interner Link: Zahlen und Fakten Europa bereitet wichtige Aspekte in Infografiken auf. Debatten über Europa Umstrittene Positionen zu den Grundfragen der europäischen Politik thematisieren wir in Europa kontrovers, zum Beispiel über die Eurokrise oder die Werteordnung der EU. Zuwanderung, Flucht und Asyl - damit befassen sich Autoren in Kurzdossiers. Hier stehen unter anderem Themen wie der Interner Link: Demografische Wandel und Migration in Europa oder die Interner Link: EU-Binnenmigration im Fokus. Wo fängt Europa an und wo hört es auf? Darum geht es auf fluter.de in Externer Link: Europa - Die neue alte Welt und Externer Link: Generation EU. Kommentierte Linklisten Sie suchen Informationen rund ums Thema Europa im Internet? Hinweise finden Sie in den Interner Link: kommentierten Linklisten. Wie einfach wählen ist, zeigen wir in der Anleitung in Leichter Sprache. Und für Lokaljournalisten präsentiert der Externer Link: drehscheibe-Blog des Lokaljournalistenprogramms leicht umsetzbare Ideen. Eine Übersicht über alle Online-Angebote der bpb zur Wahl finden Sie auch unter www.bpb.de/politik/wahlen/europawahl-2014/.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-03-11T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/europawahlblog-2014/179019/bpb-angebote-zur-europawahl-die-onlineprodukte/
Wie funktioniert die Europawahl? Was passiert mit meiner Stimme? Und worüber diskutieren die Menschen in den verschiedenen Mitgliedstaaten im Wahlkampf? Antworten darauf finden Sie in den Online-Publikationen der bpb zur Europawahl. Von allgemein bis
[ "Europa", "EU", "Wahl", "Parlament", "Europaparlament" ]
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Kunst als Zeugnis | Geschichte begreifen | bpb.de
Viele der realen Geschehnisse im Nationalsozialismus sowie das Erleben der Opfer sind für die Nachgeborenen nur in ihrer Abstraktion nachvollziehbar. Die Nicht-Eindeutigkeit von Kunst sowie die Rezeption ihrer Entstehung bieten Chancen einer besonderen Form von empathischer Annäherung. Diese kann das Geschehene reflektieren, ohne einer vorschnellen Identifikation mit den Verfolgten und Gepeinigten zu erliegen und sie zu vereinnahmen. Die in den Konzentrationslagern geschaffenen Bilder sind künstlerische Zeugnisse der Verfolgten. Sie erhalten ihre Autorität durch den primären Charakter der Darstellung. Die oft erzählende Struktur der in den Lagern entstandenen Bilder macht diese zu Zeugnissen, welche die Geschichte der jeweiligen Lagerrealitäten zu rekonstruieren vermögen. Die erzählende Struktur gibt zentral die Sicht der Häftlingsgruppen wieder. Historische Bildung kann anbieten, in diesen Bildern zu lesen und sie zu übersetzen - etwa mithilfe von belegbaren Quellen wie der Biographie des Künstlers oder der Künstlerin. So kann eine Annäherung an die Ereignisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager mittels Kunst für Jugendliche möglich werden. So eindrücklich das subjektive Erleben bei Führungen an den historischen Orten oder bei der Rezeption von Kunst auch sein mag, die Struktur der Häftlingsgesellschaft, die Funktionsweise des Lagersystems und die Macht der SS bedürfen der Erklärung. Kunst, die sich extremen menschlichen Erfahrungen im Kontext nationalsozialistischer Massenverbrechen widmet, macht in der historisch-politischen Bildung folgende Prämissen erforderlich: Man muss sie ihre eigene künstlerische Sprache entfalten lassen und gleichermaßen präzise das spezifische derjenigen historischen Orte erklären, über die in den Kunstwerken kommuniziert und reflektiert wird. InfoMethodensteckbrief Teilnehmerzahl: KleingruppenAltersstufe: ab 16 JahrenZeitbedarf: keine AngabenPreis (ohne Fahrten): nicht ermittelbarBenötigte Ausstattung: Reproduktionen von Kunstwerken, ggfs. Fotoapparat Die hier skizzierten Konzepte und Methoden für die kunstpädagogische Arbeit zum Thema Holocaust in Gedenkstätten und Schulen richten sich an Jugendliche ab 15 Jahren und Erwachsene als Zielgruppe. Allerdings setzt das Konzept ein Grundwissen über Nationalsozialismus, Holocaust und andere Massenverbrechen in diesem Kontext voraus. Eine Vorbereitung, beispielsweise durch begleitende Lehrer, ist wünschenswert. Kunstpädagogische Herangehensweisen Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit mit Kunst sind Übungen, in denen sich die Teilnehmenden mit Bildern von Künstler/innen, die in den Konzentrationslagern inhaftiert waren, auseinandersetzen können. Kopien von Kunstwerken sollten dabei von den Teilnehmenden selbst ausgewählt werden auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und Erlebnisse aus dem vorangegangenen Gedenkstättenbesuch. Führungen über historische Gelände können mit literarischen Ausführungen und Zeitzeugenberichten kontrastiert werden, indem Textpassagen zum Vorlesen an die Teilnehmenden verteilt und offene Fragen geklärt werden. Dabei sollten die Textformen und ihre Hintergründe erläutert werden - ob beispielsweise ein Zeitzeugenbericht oder eine literarische Figur benutzt werden. Eine zentrale Übung kann die Arbeit mit einem "Gedenkstättencluster" sein, das sich über die Zeit des Seminars mit Bildern der Teilnehmenden füllt und eine imaginäre Erinnerungslandschaft in Form eines reproduzierten Lageplans der Gedenkstätte abbildet. Die Teilnehmenden ergänzen je nach Fragestellung die Perspektive der Kunstwerke und ihre persönlichen Interpretationen auf dem Plan der vorliegenden Erinnerungslandschaft und stellen so den Prozess ihres Zugangs an das Gedenkstättengelände dar. Photographische Erkundungen können die Teilnehmenden noch stärker in eine forschende Perspektive bringen. Indem sie selbst mit der Kamera über das Gelände gehen, wird ihr Blick geschärft für künstlich Geschaffenes und bewusste Inszenierungen von Gedenken. Reflektionen über die Emotionen der Teilnehmenden ermöglichen es den Jugendlichen, ihre Gefühle über ihre Wahrnehmung des historischen Ortes zur Sprache zu bringen. Dabei ist von großer Bedeutung, dass eine weite Bandbreite von Gefühlen legitim ist - von Betroffenheit und Trauer über Wut bis zum Gefühl einer emotionalen Distanz zum Geschehenen. Bewährt haben sich außerdem kunstpädagogische Aktivitäten, in denen die Teilnehmer/innen sich selbst zum Ausdruck bringen können, z.B. Malen und Zeichnen, kreatives Schreiben, theaterpädagogische Elemente, Erinnerungscollagen oder Arbeit mit Ton. Es sollten mehrere Medien zur Auswahl gestellt werden, so dass die Teilnehmenden ein Medium wählen können, mit dem sie gerne arbeiten. Grenzen der gedenkstättenpädagogischen Arbeit mit Kunst Eine wichtige Frage ist die nach den Grenzen von Kunst in der gedenkstättenpädagogischen Arbeit. Die Kunst, das Lernen an historischen Orten in Bewegung zu bringen, besteht darin, einen Prozess des Perspektivenwechsel bei den Teilnehmenden anzustoßen. Dieser sollte sich die historische Quellenlage zunutze machen und zugleich neue Wege der Präsentation gehen. Künstlerische Umwege, die sich der Methode einer Spurensicherung bedienen, nehmen die Teilnehmenden mit auf eine Bildungsreise, wo ihnen Zeitzeugen/innen oder deren Biographien begegnen mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Leidensgeschichten. Die pädagogische Herausforderung besteht darin, einen Bildungsprozess zu fördern, zu begleiten und kritisch zu kommentieren, in dem die Teilnehmenden eigene Ergebnisse erzeugen und präsentieren. Ästhetische Bildung in diesem Kontext versteht sich als prozesshaftes Lernen in kleinen Schritten, das sich ausdrücklich nicht außerhalb des Kontextes eines geschichtlichen Ortes bewegt und eigene Befindlichkeiten ausdrückt. Die Teilnehmenden werden dabei nicht selbst zu Kunstschaffenden. Stattdessen bekommen sie die Möglichkeit, sich über künstlerische Medien den Gedenkorten und den musealen Ausstellungen anzunähern. Idealerweise werden so Erweiterungen und Erfahrungsräume erschlossen, die im Rahmen von Gedenkstättenfahrten und -besuchen meist nicht behandelt oder bestenfalls kurz angerissen werden können. In Bildern zu lesen ist eine Aufgabe, die auch mit bildungsfernen Gruppen gut umzusetzen ist. Die Verfasser haben die Erfahrung gemacht, dass Zeichnungen und Bilder einen emotionalen Zugang ermöglichen, ähnlich wie Begegnungen mit Zeitzeugen/innen. Ein wesentliches Anliegen von kunstbezogenen Konzepten sollte darin bestehen, nicht bei Emotionalisierungen und Moralpädagogik zu verharren, da Gefühle für sich nicht zwangsläufig einen Lernprozess im Sinne historischen Verstehens evozieren. Allein kunst- oder theaterpädagogische Konzepte können der historischen Komplexität nicht gerecht werden. Ebenso wenig kann eine rein kognitive Wissensvermittlung angesichts des zunehmenden zeitlichen Abstands jungen Menschen einen empathischen Zugang eröffnen, beziehungsweise überbordende Emotionalisierungen und Opferidentifizierungen thematisieren. Aus diesem Wissen heraus sollten die unterschiedlichen pädagogischen Zugangsweisen kombiniert werden. Kunstpädagogisches Arbeiten ist kein Ersatz für die schulische Thematisierung des Nationalsozialismus, sondern vielmehr eine Möglichkeit, sie zu erweitern. Beispiele aus der Praxis Die hier geschilderten Praxisbeispiele und -erfahrungen beziehen sich auf das pädagogische Projekt "Kunst als Zeugnis" des Berliner Arbeitskreis Konfrontationen, das durch das Programm "entimon" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde. Das Modul Externer Link: "Zeichnen im Rückblick" des Arbeitskreis Konfrontationen vertieft anhand der Werke von zwei Künstlerinnen und ehemaligen Ravensbrückerinnen die Perspektive der Häftlingsfrauen auf den Lageralltag und stellt ihre Biographien vor. Ausgewählt wurden die deutsche Künstlerin Helen Ernst und die Ungarin Edith Kiss. Beide Frauen stehen mit ihren Bildern für den Versuch, sich durch den künstlerischen Schaffensprozess vom Trauma der Haft zu befreien. Beiden gelingt dieser erhoffte Prozess der Erleichterung nicht. Helen Ernst stirbt im März 1948 geschwächt an den Folgen der Konzentrationslagerhaft. Edith Kiss, die im Jahre 1948 von Ungarn in den Westen übersiedelte, nahm sich 1966 in Paris das Leben. Ähnlich, ja deckungsgleich, ist die Intention der beiden Frauen zu malen, gänzlich unterschiedlich ist ihr Stil und der Gegenstand ihrer Bilder. Helen Ernst konzentriert sich in den dunkel gehaltenen Tuschepinselzeichnungen, die durch ein pastellartiges blau ergänzt sind, ausschließlich auf die Körperhaltung der Häftlingsfrauen, die zumeist vornehmlich dargestellt in Zweier- und Dreiergruppen ohne jegliche Einbettung in einen Umgebungszusammenhang förmlich im Nichts stehen, von Leere umgeben sind. Die in eigenwilligen pastellartigen Farben gehaltenen Gouachen von Edith Kiss hingegen stellen Szenen des Lageralltags dar. Ihr Blick richtet sich auf die Häftlingsfrauen im konkreten Zusammenhang mit dem äußeren Geschehen. Sie hält Momentaufnahmen fest, die endlos wirken und von Bild zu Bild einen katastrophalen Ablauf beschreiben, der ebenso endlos scheint. Die Bilder der beiden Künstlerinnen eröffnen in ihrer Gegensätzlichkeit zwei Ebenen der Annäherung an den Lageralltag der Häftlingsfrauen. Mit den Zeichnungen von Helen Ernst kann über den dramatischen psychischen und physischen Zustand der Frauen gesprochen werden. Dies setzt Einfühlungsvermögen voraus, ohne sich im Pathos zu verlieren. Anhand der Bilder von Edith Kiss lassen sich die Lagerverhältnisse thematisieren, wie beispielweise die Ankunftssituation, das Verhalten der Aufseherinnen und die Zwangsarbeit. Der zweite Schwerpunkt des Moduls beschäftigt sich mit den Biographien der beiden Künstlerinnen. Diese ziehen bewusst ihr Leben vor der Inhaftierung und nach der Befreiung mit ein und reduzieren den Lebenslauf nicht auf die Verfolgungs- und Haftzeit. Die Gesamtbiographien stellen die Persönlichkeiten der Frauen, ihren beruflichen und künstlerischen Werdegang heraus. Und sie verdeutlichen wie die nationalsozialistische Verfolgung und Haft einen unwiderruflichen Bruch im Leben der politisch und sozial engagierten Grafikerin und Künstlerin Helen Ernst und der erfolgreichen Malerin Edith Kiss in Ungarn markiert, der für beide Frauen nicht zu überwinden war. Erfahrungen aus der Praxis Im Seminargeschehen zeigt sich häufiger die Problematik des emotionalen Nachempfindens, welches vor allem Jugendliche im Identitätsfindungsprozess zu überwältigen droht und den Weg zu einer kritischen Annäherung an Geschichte verbaut. Während eines Seminars an der Gedenkstätte Ravensbrück wurde dieses Problem beispielhaft deutlich. In der Schulklasse waren zwei Teilnehmerinnen, die sich der Gothic- und Dark Wave-Subkultur zugehörig fühlten. Die Situation in der Gedenkstätte – die Nähe zum ehemaligen Konzentrationslager und die Unterbringung in den früheren Wohnhäusern der Aufseherinnen – beeindruckte vor allem diese beiden Teilnehmerinnen. Hinzu kam, dass sie sich durch ihre subkulturelle Identifizierung als Außenseiterinnen fühlten und real bereits Bedrohungen durch Neo-Nazis ausgesetzt waren. Die auf der künstlichen Halbinsel des Schwedtsees stehende Skulptur "Tragende" (1959) von Will Lammert wurde für die beiden Jugendlichen zu einem zentralen Bezugspunkt. Sie entzündeten in den frühen Abendstunden Kerzen am Fuß der Skulptur und verbrachten ihre Zeit dort. In Gesprächen wurde deutlich, dass die jungen Frauen von dem Schicksal der Gefangenen sehr berührt waren und deren hoffnungslose Situation mit der eigenen verglichen. Diese hohe Emotionalisierung und Opferidentifizierung war für die beiden Teilnehmerinnen auch der Anlass, sich im Seminarrahmen besonders intensiv mit der Geschichte der Skulptur auseinander zu setzen. Die produktorientierte Arbeit mit eigenen Fotografien, die Auseinandersetzung mit Künstlerbiographien sowie die Kontextualisierung des Ortes in den unterschiedlichen geschichtlichen Epochen von Nationalsozialismus und DDR ermöglichten der Seminargruppe Reflexion und Distanzierung. Die Gruppenmitglieder stellten außerdem auf dem Gelände befindliche Statuen, unter anderem "Die Tragende", mit ihren eigenen Körpern nach. Intensiver, als es eine Erklärung alleine vermocht hätte, konnte durch die physische Unmöglichkeit der Figurenhaltung aufgezeigt werden, wie Geschichtsbilder durch Formen des Gedenkens konstruiert werden und wie wenig sie sich der realen Situation in den Konzentrationslagern annähern. Wie sehr Sichtweisen auf Bilder divergieren können und welchen subjektiven Spielraum auch Häftlingszeichnungen bieten, zeigte sich an einer Diskussion mit einer Gruppe von Teilnehmerinnen des diesjährigen 3. Ravensbrücker Generationenforums um das Bild "In der Strohschuhflechterei" von Nina Jirsiková. Die Zeichnung aus dem Jahr 1942 illustriert die Ausstellung im ehemaligen Industriehof von Ravensbrück und zeigt eine Gruppe von Frauen bei der Zwangsarbeit. Sie müssen Strohschuhe herstellen, die als Wärmeisolierung für Wehrmachtssoldaten dienten. Eine Besonderheit der Buntstiftzeichnung liegt in der individuellen Skizzierung der Gesichter und Köpfe. Die Kleidung, bestehend aus blau-weiß gestreiften Kitteln und Galoschen, entspricht dem Bild, welches allgemein von weiblichen Häftlingen der Konzentrationslager besteht. Diese Darstellung bricht das allgemein bestehende Bild von Frauen im Konzentrationslager, indem die geschminkt wirkenden Augen und überzeichneten Gesichtskonturen grotesk wirken. Die Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe sahen in der Darstellung nahezu unisono vor allem das Elend der Frauen dargestellt und in der Überzeichnung einen Ausdruck der Bewahrung von Individualität. Eine karikierende Absicht konnten sie aus der Zeichnung nicht heraus lesen. In der Lesart der Interpretierenden fand sich in der Zeichnung weder Überspitzung, noch eine charakteristische Verzerrung der Personen. Externer Link: Lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Externer Link: by-nc-nd/2.0/de. Teilnehmerzahl: KleingruppenAltersstufe: ab 16 JahrenZeitbedarf: keine AngabenPreis (ohne Fahrten): nicht ermittelbarBenötigte Ausstattung: Reproduktionen von Kunstwerken, ggfs. Fotoapparat
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Matthias Schwerendt, Paul Stefanowske, Ingolf Seidel, Dagi Knellessen
2021-06-23T00:00:00
2011-11-21T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/historisch-politische-bildung/geschichte-begreifen/42338/kunst-als-zeugnis/
Kunstbezogene Methoden ermöglichen eine besondere Form von empathischer Annäherung an die Zeit des Nationalsozialismus. Die NS-Gedenkstätten haben daher in den vergangenen Jahren ein größeres Gewicht auf die künstlerische Vermittlung von Ereignisgesc
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Ist Frieden zwischen Israelis und Palästinensern möglich? | Nahost | bpb.de
Befreiungsbewegungen versus Unterdrücker und Opfer Der arabisch-jüdische Konflikt ist einzigartig und beispiellos. Anders als bei auf den ersten Blick vergleichbaren historischen Auseinandersetzungen in Europa und anderswo geht es hier nicht um einen zwischen zwei Staaten umstrittenen Grenzbereich, sondern um unversöhnliche Ansprüche zweier Konkurrenten, der Israelis und der Palästinenser, auf ein und dasselbe kleine Land und seine heilige und hoch empfindliche Hauptstadt - Jerusalem. Die Palästinenser waren seit der Gründung Israels gegen das zionistische Unternehmen. Als die Vereinten Nationen (UN) im November 1947 eine Resolution zur Teilung Palästinas und Schaffung eines jüdischen und eines palästinensischen Staates annahmen, wiesen die Palästinenser diese Resolution umgehend zurück. Sie weigerten sich, die Verantwortung nur für ihren Teil des Landes zu erhalten, und begannen - unterstützt von den arabischen Staaten - einen Krieg, um einen jüdischen Staat zu verhindern. Indem sie diesen Krieg verloren, wurden sie zu seinen Opfern, aber sie sind weit davon entfernt, die unschuldigen Opfer zu sein, als die sie sich heute präsentieren. Der zentrale Punkt in dieser Auseinandersetzung ist die arabische Weigerung, sich mit Israel auszusöhnen und dessen Existenzberechtigung anzuerkennen. Nach der Niederlage von 1948 machten die arabischen Staaten genau jene UN-Resolutionen, gegen die sie sich vor ihrer militärischen Niederlage so vehement gewehrt hatten - 181 (Teilung) und 194 (unter anderem Erlaubnis zur Rückkehr von Flüchtlingen) - zum Eckpfeiler ihrer Argumentation gegen Israel. Die Araber bestanden zynischerweise auf einer strikten Erfüllung der UN-Resolutionen, verweigerten aber im Gegenzug die Anerkennung ihres neuen Nachbarn. Politische und wirtschaftliche Beziehungen mit Israel, so wurde behauptet, seien Angelegenheit der Araber und sollten nicht mit der Implementierung der UN-Resolutionen verknüpft werden, die eine internationale Verpflichtung seien. Diese Haltung wurde bis zum Besuch von Anwar al-Sadat in Jerusalem 1977 vertreten. In jüngster Vergangenheit haben Teile der arabischen Welt ihre Position geändert, obwohl die Anerkennung der Rechtmäßigkeit Israels grundsätzlich ungelöst bleibt. Der arabisch-jüdische Konflikt war niemals symmetrisch. Seine Asymmetrie ist in den gegensätzlichen Sichtweisen der Parteien begründet. Die Israelis nehmen den arabisch-jüdischen Konflikt als Zusammenprall zweier konkurrierender nationaler Befreiungsbewegungen wahr. In solchen Konflikten sollte ein Kompromiss möglich sein. Die Auffassung der Palästinenser ist damit nicht vereinbar: Sie sehen den Konflikt als das Aufeinandertreffen einer nationalen Befreiungsbewegung (der Palästinenser) und einer unterdrückenden Kolonialmacht (des Zionismus, also Israel), die von imperialistischen Mächten unterstützt wird (erst von Großbritannien und später den Vereinigten Staaten). Israels Ziel war es, von den umliegenden arabischen Staaten akzeptiert zu werden und in einer Art Koexistenz mit seinen Nachbarn zu leben. Die meisten Israelis haben in den vergangenen Jahren erkannt, dass sie zur Erreichung dieser Ziele Zugeständnisse machen und Kompromisse eingehen müssen. Innenpolitische Debatten konzentrieren sich auf das Ausmaß der Zugeständnisse und die Reichweite der Kompromissbereitschaft. Auf der anderen Seite wollen die Palästinenser weder Koexistenz noch Kompromiss, sondern Gerechtigkeit: In ihren Augen sollte eine abschließende, dauerhafte Konfliktlösung mit Israel alle Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind, wieder gutmachen. Solange die israelischen Zugeständnisse der palästinensischen Vorstellung von Gerechtigkeit entsprachen, dauerte der so genannte "Friedensprozess" an. Als Israel mit den Zugeständnissen aufhörte und auf bestimmten Positionen bestand, brach der Kampf der Palästinenser um das, was sie als ihr gutes Recht empfinden, wieder auf. Und das ist der Punkt, an dem sich die Parteien Anfang 2004 befinden. Die Rückkehr zur Gewalt signalisiert die fehlende Bereitschaft der Palästinenser, auf irgendetwas zu verzichten, das sie als das Ihre betrachten. Diese Taktik gab natürlich dem Zweifel der Israelis an der grundsätzlichen Aufrichtigkeit der Palästinenser neue Nahrung. Mit Hilfe einiger revisionistischer israelischer Gelehrter - lautstark im Ausland, aber in Israel unbedeutend - haben die Palästinenser lange Zeit versucht, die kolonialistische Qualität des Zionismus nachzuweisen, um ihre Sache zu stützen. Die Verknüpfung des Zionismus mit dem Kolonialismus ist so alt wie der Konflikt, und die Beschwerden der Palästinenser reichen zurück bis zum ersten Palästina-Kongress in Jerusalem Anfang 1919, wenn nicht noch weiter. Diese Beweisführung beruht auf dürftigen und zweifelhaften historischen Fakten, die meist das Gegenteil belegen. Zionismus ist nicht Kolonialismus Einfach dargestellt, bedeutet Zionismus im Kern in der Tat die Einwanderung nach Israel und die Besiedelung des Landes - reiner Kolonialismus in der Art der spanischen Conquistadores und der langen Reihe europäischer Nachfolger. Der Zionismus hatte zeitweilig die Unterstützung einer imperialistischen Macht, Großbritannien, wenn auch aus weit komplexeren Gründen als aus simplen imperialistischen Interessen. An dieser Stelle endet jedoch bereits die Vergleichbarkeit. Gemessen an der Wirklichkeit des Mittleren Ostens, kann das Beispiel des Post-Kolonialismus das Phänomen des Zionismus nicht angemessen erklären. Anders als europäische Kolonialisten anderswo in der Welt kamen die jüdischen Einwanderer, die seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in das "Land von Israel" strömten, nicht bewaffnet bis an die Zähne, um das Land mit Gewalt von den Einheimischen zu nehmen. Versucht man es mit einem semiotischen Ansatz, so zeigt sich, dass das hebräische Wort Kibbush (Besetzung, Eroberung) bis 1948 eine friedliche Bedeutung hatte, die sich auf die Kultivierung der Wildnis, auf das Arbeiten mit den Händen oder das Weiden bezog, allenfalls war noch der eigenständige Schutz jüdischer Siedlungen gemeint, statt Araber dafür anzuheuern. Andere militärische Begriffe wie gdud (Bataillon) oder plugah (Kompanie) bezogen sich ebenfalls auf Arbeit und nicht auf militärische Einheiten. Postkolonialistische Wirtschaftstheorien über Ausbeutung und soziologische Theorien über Wanderungsbewegungen sind, angewandt auf den Zionismus, ebenfalls nicht valide oder zumindest unzureichend. Palästina unterschied sich von den typischen Einwanderungsländern vor allem durch seine Unterentwicklung und seine Armut. Im Gegensatz zu den europäischen Zeitgenossen, die in Länder auswanderten, welche reich an natürlichen Ressourcen und arm an Arbeitskräften zu deren Ausbeutung waren, kamen die jüdischen Immigranten in ein Land, das nicht einmal seine eingeborene Bevölkerung ernähren konnte. Palästinenser wanderten gegen Ende des Osmanischen Reiches nach Amerika und Australien aus. Die zionistische Ideologie und der Import von privatem und nationalem jüdischem Kapital glichen den Mangel an natürlichen Ressourcen aus und beschleunigten die Modernisierung. Ideologie und Kapitalimport sind zwei Faktoren, die anderen Kolonialbewegungen völlig fehlen. Imperialistische Mächte beuteten ihre Kolonien in der Regel zum Vorteil des eigenen Vaterlandes aus und investierten nicht über das zur Ausbeutung notwendige hinaus. Im Gegensatz dazu floss aus Palästina keinerlei materieller Vorteil an das jüdische Volk oder Großbritannien. Zu der Tatsache, dass die Zionisten bis 1948 Land in Palästina kauften und nicht eroberten, gibt es ebenfalls keine Parallele in kolonialen Bewegungen. Auf der Liste der Verkäufer steht jeder bekannte Clan der palästinensisch-arabischen Elite, die trotz ihrer radikal antijüdischen politischen Haltung der Versuchung steigender Grundstückspreise im Gefolge jüdischer Einwanderung nicht widerstehen konnte. Die Palästinenser machten für gewöhnlich ausländische Grundbesitzer für die Vertreibung der Pächter verantwortlich und verschleierten die Rolle der einheimischen Oberschicht bei den Grundstückstransaktionen mit den Zionisten. Nach der Staatsgründung wurde staatliches Land beschlagnahmt und privates Land wurde manchmal enteignet. Dennoch, der jüdische Staat entschädigte private Besitzer, und bis heute werden größere Flächen von einzelnen Arabern gekauft, die entweder in Israel oder im Ausland wohnen. Ebenso konkurrierten die jüdischen Immigranten in der Mandatszeit und den frühen Jahren israelischer Staatlichkeit auf dem städtischen und ländlichen Arbeitsmarkt mit den (arabischen) Einheimischen - ein Wettbewerb, der in Kolonien unvorstellbar wäre. Die Juden bauten keine Kolonialwirtschaft auf wie die Briten in Südafrika oder Rhodesien, und sie wurden nicht von der bestehenden Wirtschaft aufgesogen wie in den Vereinigten Staaten, Kanada oder Argentinien. Sie entwickelten eine separate Wirtschaft, parallel zur bestehenden arabischen, und jede Welle von Immigranten legte die Fundamente für die Absorption der nächsten Einwanderungswelle. Eine Untersuchung der Kultur schließt den Zionismus ebenfalls vom postkolonialistischen Verhaltensmuster aus. Im Gegensatz zum üblichen kolonialistischen Stereotyp ließen die jüdischen Immigranten ihre Zugehörigkeit zu ihren Ursprungsländern und deren Kulturen hinter sich zurück. Stattdessen belebten sie eine alte Sprache neu und schufen auf der Basis des Hebräischen eine neue Kultur, die sich in alle Lebenssphären ausdehnte. Außerdem: Alle kolonialen Auswanderer in der Welt versuchten entweder aus einer düsteren Gegenwart zu fliehen, oder sie suchten eine lukrative Zukunft. Die Juden, die in das Land von Israel auswanderten, reagierten zwar auf die gleichen Auslöser, wurden jedoch getrieben von einer einzigartigen Motivation, die sie von allen anderen kolonialen Bewegungen unterscheidet: der Wiederbelebung eines uralten Erbes. Diese Belege sollten ausreichen, um eine Identifikation des Zionismus mit dem Kolonialismus zurückzuweisen. Die scheinbar historischen Argumente ziehen sich bis in die Gegenwart. Nachdem nahezu alle nationalen Befreiungsbewegungen ihre Ziele erreicht und den Kolonialismus vor langer Zeit abgeschüttelt haben, treten die Palästinenser - die während der ganzen Zeit sehr viel umfangreichere internationale Unterstützung erfahren haben - noch immer auf der Stelle, wenn sich ihre Situation nicht sogar verschlechtert hat. Allein diese Tatsache hätte sie zu einer neuerlichen Überprüfung ihres traditionellen Paradigmas führen müssen. Die Kultivierung der Verknüpfung von Zionismus und Kolonialismus ist nur ein Vorwand, um einer solchen erneuten Untersuchung auszuweichen und auf einem Weg weiterzugehen, der offensichtlich in eine Sackgasse führt. Folgt man der Ansicht, der israelisch-palästinensische Konflikt sei ein Konflikt zwischen zwei oppositionellen nationalen Bewegungen, dann bieten sich prinzipiell drei mögliche Lösungen an. Unglücklicherweise scheint keine dieser Lösungen zurzeit oder in absehbarer Zukunft realisierbar. Koexistenz, Vertreibung, Teilung Eine mögliche Lösung wäre, einen gemeinsamen Staat für beide Völker zu schaffen, die das Land bewohnen. Die meisten Juden lehnen einen solchen Staat ab, der nie das Ziel der Schaffung einer nationalen Heimat war. Vor der Staatsgründung traten nur zwei Minderheitengruppen für eine binationale Lösung ein: die linksgerichtete zionistische Fraktion Hashomer Hatzair (ein Vorläufer der heutigen Meretz Partei), die an die Brüderlichkeit der Völker glaubt, und die Partei der deutschen Einwanderer, die angesichts der unversöhnlichen Opposition der Palästinenser gegen den Zionismus die Hoffnung auf einen rein jüdischen Staat aufgegeben hatten. Nach der Staatsgründung verschwand die binationale Idee völlig, abgesehen von einigen Randgruppen am äußersten linken Rand des israelischen politischen Spektrums. Die Palästinenser, die eine binationale Lösung in der Vergangenheit kategorisch abgelehnt hatten, sehen darin heute eine Übergangsphase, die das Land wieder arabisch machen soll. Sie glauben, die verbleibenden Juden würden in einem künftigen binationalen Staat mit der arabischen Mehrheit verschmelzen und den Status einer autonomen religiösen Minderheit genießen. Eine zweite Option ist die Vertreibung des Gegners oder die freiwillige Aufgabe des Landes durch einen der Konkurrenten. Die Vertreibung des Feindes übersteigt die Möglichkeiten beider Gegner. Selbst wenn dies möglich wäre, hätten internationale Beschränkungen es verhindert. Aufgabe und Rückzug hat es tatsächlich in jüngster Vergangenheit auf beiden Seiten der Barrikaden gegeben, aber der Prozess verläuft sehr langsam, ist umkehrbar und kann beim gegenwärtigen Tempo keine der beiden Seiten ermutigen. Vertreibung oder "Transfer" hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Erstmals aufgebracht wurde die Idee durch die British Royal Commission im Jahr 1937 als Ergänzung zur Teilung. Die Kommissare meinten damit einen Austausch der Bevölkerung zwischen dem jüdischen und dem arabischen Staat in Palästina. 1940 entwickelte ein anderer Brite, St. John Philby, die Idee, die arabische Bevölkerung Palästinas auf die arabische Halbinsel umzusiedeln. Im Mai 1944 nahm die Jahresversammlung der britischen Labour Party einen entsprechenden Antrag an. Diese Version der "Transfer"-Idee sollte eine Alternative zur Teilung darstellen und weniger eine Ergänzung. Die Meinungen der zionistischen Führer hierzu gingen auseinander, und die Bewegung übernahm keinen der beiden Pläne. Eine dritte Möglichkeit ist die Teilung. Die Mehrheit der Juden stimmte in der Vergangenheit einer Teilung zu und befürwortet diese auch heute noch, obwohl die Meinungen hinsichtlich der Demarkationslinie auseinander gehen. Die Palästinenser haben eine Teilung in der Vergangenheit abgelehnt (1937 und 1947), verweigerten die Annahme einer Autonomie, die ihnen angeboten wurde, bevor der Alon-Plan Ende 1967 dem jordanischen König Hussein vorgestellt wurde, und bekamen kalte Füße, als Ehud Barak im Jahr 2000 erneut eine Teilung vorschlug. Im Moment wehren sie sich vehement gegen den Zaun, den sie "Die Mauer" nennen. Der Bau dieses Zaunes führt zu einer neuen Teilung, und die Ursache der heftigen palästinensischen Gegenwehr ist in deren Ablehnung des Prinzips begründet. Im Gegensatz zur allgemein anerkannten Annahme in der aktuellen israelischen und westlichen Debatte streben die Palästinenser nicht nach einem Staat. Wenn sie ihn wollten, hätten sie ihn vor langer Zeit bekommen. Auf kurze Sicht zögern sie, die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal in einem scheinbar nicht lebensfähigen Staat auf der anderen Seite des Zaunes oder jenseits irgendeiner anderen Demarkationslinie, der Israel zustimmen könnte, zu übernehmen. Dazu gehört auch die alte Waffenstillstandslinie von 1949 ("Die Grüne Linie") zwischen Jordanien und Israel, die sie die Grenze von 1967 nennen. Langfristig glauben die Palästinenser, dass sie, zur gegebenen Zeit, das ganze Land gewinnen werden. Bis heute ist der Teilungsplan von 1947 die einzige Trennlinie zwischen Israelis und Palästinensern, die internationale Zustimmung erhalten hat. Die Waffenstillstandslinien der Jahre 1949 - 1967 trennte nicht Israel und die Palästinenser, sondern Israel und die arabischen Staaten, die Teile Palästinas besetzt hatten - Transjordanien und Ägypten. Die Palästinenser waren an der Ziehung dieser Linie nicht beteiligt. Sie haben sie niemals anerkannt, und die Linie war aus ihrer Sicht irrelevant. Die Teilungsgrenze ist wahrscheinlich das wahre Ziel der Palästinenser, was sie aus taktischen Gründen zur Zeit nicht zugeben mögen. Einer der Gründe, weshalb die Palästinenser ihr Streben nach den Grenzen von 1947 verschleiern, ist der Status von Jerusalem. Die Heilige Stadt nahm im Teilungsplan von 1947 eine Sonderstellung ein, und die Vereinten Nationen entschieden sich für ihre Internationalisierung. Diese Lösung konnte nicht realisiert werden - hauptsächlich aufgrund der Unfähigkeit der Vereinten Nationen und ihres Unvermögens, ihre Autorität durchzusetzen. Israel und Jordanien teilten sich die Stadt bis 1967. Da sich die Palästinenser mit ihrem Anspruch auf Jerusalem nicht auf den Teilungsplan von 1947 verlassen können, stellen sie ihren Fall provisorisch auf die "Grenzen von 1967" ab. In den Augen der Palästinenser verkörpert Jerusalem den gesamten Konflikt, denn abgesehen von seiner religiösen und historischen Bedeutung berührt das Schicksal der heiligen Stadt auch territoriale und Flüchtlingsfragen. Obwohl Jerusalem seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine jüdische Bevölkerungsmehrheit aufwies, war die Stadt zugleich der Sitz der arabischen Elite in Palästina und das traditionelle Zentrum arabischen politischen Lebens im Land. In den Augen der Juden ist Jerusalem hauptsächlich die historische Hauptstadt des jüdischen Volkes, die heilige Stadt, über Generationen Mittelpunkt überlieferter Sehnsüchte nach einer Rückkehr nach Zion. Das Schicksal der Stadt im Jahr 1948 symbolisiert das Versagen der Vereinten Nationen, den Teilungsplan gegen die arabische Opposition durchzusetzen. Israel zog es daher vor, als kleineres Übel die Stadt mit Jordanien zu teilen. Beide Staaten arbeiteten zusammen, als es nach dem Krieg darum ging, die Versuche der UN zur Wiederbelebung der Internationalisierung zu vereiteln. Mit dem jordanischen Abzug vom Westufer im Jahr 1967 annektierte Israel Jerusalem. Seither bemüht es sich hartnäckig, den Palästinensern jeglichen politischen Einfluss dort zu verweigern. Israel behauptet, die Palästinenser hätten in Jerusalem weder einen historischen noch einen politischen Status. Trotz des guten Willens Einzelner auf beiden Seiten scheint dies eine unüberbrückbare Kluft zu sein. Jegliche Form der Teilung erfordert einen Partner, aber es ist kein ernst zu nehmender Partner in Sicht. Daher spielen die Israelis mit der Idee, einseitige Schritte zu unternehmen. Solche einseitigen Schritte werden nichts ändern. Während kleinere Modifikationen Israel sicherlich zeitweilige taktische Vorteile bieten, muss sich ein größerer Rückzug aus Gaza, wie Sharon ihn heute beabsichtigt, wahrscheinlich als strategisches Desaster erweisen. Er wird niemanden auf der palästinensischen Seite zufrieden stellen und den Terrorismus nicht verringern. Außerdem wird dies keine Auswirkungen auf die antiisraelische Propaganda-Kampagne haben, die sich über den Globus zieht, oder auf die Dämonisierung und Delegitimierung Israels in Europa. Zugleich würde ein Rückzug unter den gegenwärtigen Umständen den Zusammenhalt und die Solidarität der israelischen Gesellschaft weiter auflösen, ohne dass damit im Gegenzug irgendein Vorteil gewonnen wäre. Ebenso wäre die angedachte Rückkehr ägyptischer Truppen nach Sinai und eventuell in den Gaza-Streifen ein noch größerer Fehler. Dem Anschein nach mögen die Ägypter damit einverstanden sein, im Chaos, das im Gaza-Streifen nach dem Abzug der israelischen Armee (IDF) wahrscheinlich herrschen wird, die Ordnung wiederherzustellen. Auf lange Sicht riskiert Israel jedoch, eine seiner größten strategischen Errungenschaften zu verlieren: den Friedensvertrag mit Ägypten und den Abzug der ägyptischen Armee von seinen Grenzen. Falls ein Regimewechsel in Ägypten eine fundamentalistisch-islamische Regierung an die Macht brächte, oder im Falle von Anarchie im Gaza-Streifen, könnte Israel sich in einem völlig unnötigen Krieg gegen Ägypten wiederfinden. Flüchtlinge - eine Frage unterschiedlicher Traditionen Der Gaza-Streifen symbolisiert das palästinensische Flüchtlingsproblem und den Fehlschlag einer ernsthaften Problembewältigung durch den Osloer Vertrag. Die Flüchtlinge innerhalb des Landes und im Ausland haben mit dem Oslo-Prozess nichts gewonnen, und ihre Situation hat sich nicht verbessert. Wahrscheinlich hat sie sich noch verschlechtert. Dieser Vertrag war der Versuch, die 1967 durch den Sechs-Tage-Krieg geschaffenen Probleme und die israelische Besetzung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens anzugehen, und das Vermächtnis des Krieges von 1948 zu umgehen. Die Unterhändler ignorierten wissentlich die älteren und grundlegenden Probleme: Flüchtlinge, Grenzen und den Status von Jerusalem, die den Kern des Konflikts bildeten und bilden. Diese vorsätzliche Vermeidung war der Hauptgrund für den spektakulären Zusammenbruch der Einigung in Camp David 2000. Israel sollte Vorsicht walten lassen, um seinen fundamentalen Fehler von Oslo nicht zu wiederholen. Als Gegenleistung für Zugeständnisse bei den Gewinnen von 1967 sollte es zumindest darauf bestehen, dass die Palästinenser die 1949 im Land geschaffene Realität anerkennen. Wenn dies nicht geschieht, sieht sich ein stärker verwundbares Israel künftig neuen palästinensischen Forderungen hinsichtlich der Grenzen von 1947, der Forderung nach einem Rückkehrrecht von Flüchtlingen und so weiter gegenüber. Von all diesen Problemen ist das Flüchtlingsproblem das wichtigste. Im 20. Jahrhundert hat die Welt mehrere solcher großen Flüchtlingsprobleme gesehen - in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei, auf dem Balkan, in Indien und Pakistan, in Vietnam und verschiedenen afrikanischen Ländern. Die meisten wurden vor langer Zeit gelöst. Nur das ewige Problem der Palästina-Flüchtlinge gibt es immer noch. Mehr als in jedem anderen Faktor des israelisch-arabischen Konflikts manifestiert sich im Flüchtlingsproblem die Konfrontation zwischen gegnerischen Zivilisationen, es reicht über das gewöhnliche nationale oder religiöse Niveau anderer historischer Auseinandersetzungen hinaus. Der Anspruch der Palästinenser auf ein "Rückkehrrecht" symbolisiert die enorme geistige Kluft zwischen den Gegnern und die Unvereinbarkeit ihrer jeweiligen Wahrnehmung von Recht, Gerechtigkeit, Frieden, Krieg, Kompromiss und praktischen Vereinbarungen. Die Bedeutung dieser Kluft ist ohne ein Verständnis für die geschichtlichen Wurzeln des Problems nicht möglich. Wie andere Gesellschaften des Mittleren Ostens hatten die Palästinenser bis 1948 keine geschichtliche Erfahrung eines nationalen Krieges oder eine Vorstellung von seinem Wesen. Über Jahrhunderte fanden Kriege in dieser Region entweder zwischen ausländischen Mächten oder zwischen lokalen Herrschern statt, die um die Macht kämpften. Die Kriege von Napoleon und Muhammad Ali gegen den Sultan oder der britische Feldzug gegen die Türkei im Ersten Weltkrieg waren irrelevant für eine Bevölkerung, die sich nicht auf die Seite eines der Protagonisten schlug. Über die Jahrhunderte entwickelten die Völker dieser Region ihren eigenen Weg, in den Kriegen anderer zu überleben. Sie wichen für gewöhnlich den Härten der Kampfhandlungen aus, indem sie zeitweilige Zufluchtsorte in der Nähe fanden, bis die Gefahr vorüber war und sie sicher in ihre Häuser zurückkehren konnten. Zu Beginn des Krieges von 1948 waren sich die Palästinenser der veränderten historischen Umstände nicht bewusst und reagierten in ähnlicher Weise. Ihre empfindliche Gesellschaftsstruktur brach zusammen - ursprünglich mehr auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten als auf Grund tatsächlichen militärischen Drucks. Von Beginn der Kämpfe an schickten diejenigen, die es sich leisten konnten, ihre Familien ins Ausland, meist in benachbarte Länder, und folgten ihnen später, als die Situation sich verschlechterte. Andere zogen von den Frontlinien weg ins Hinterland, insbesondere, wenn sie dort Verwandte hatten, die sie aufnehmen konnten. Um den Härten des Krieges auszuweichen, kehrten Tausende ägyptischer, libanesischer und syrischer Einwanderer, zeitweilige Einwohner und Arbeiter in ihre Heimatländer zurück. Die erste Generation derer, die von den ländlichen Dörfern in die städtischen Siedlungen gezogen waren, kehrte auf das Land zurück. Als sie wegliefen, vertrauten die Flüchtlinge darauf, am Ende der Feindseligkeiten zurückkehren zu können: im Falle eines Waffenstillstands und sicherlich im Falle eines Friedens. Aus den Erfahrungen ihrer Vorfahren wussten sie, dass dies bei Kriegen im Mittleren Osten über Jahrhunderte der Fall gewesen war. Sie sollten jedoch eine Überraschung erleben. Ihre jüdischen Gegner gehörten einer fremden europäischen Zivilisation an, deren geschichtliche Erfahrungen und Konzepte der Kriegführung damit unvereinbar waren. Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es unvorstellbar, dass Sudetendeutsche oder Deutsche aus Pommern oder Schlesien, die von den Tschechen, Polen und Russen vertrieben worden waren, jemals in ihre frühere Heimat würden zurückkehren können. Die Polen, die aus Ostgalizien nach Schlesien umgesiedelt wurden, dachten nicht, dass sie jemals nach Lwow (Lemberg) zurückkehren können würden. Die Menschen erinnerten sich noch an den Krieg zwischen der Türkei und Griechenland Anfang der zwanziger Jahre und den darauf folgenden Bevölkerungsaustausch zwischen diesen beiden Ländern. Europa war voll von Weißrussen, die ihre Heimat nach der bolschewistischen Revolution und dem folgenden Bürgerkrieg verlassen hatten, und von Armeniern, die im Ersten Weltkrieg vor den Massakern der Türken geflohen waren. Die Israelis dachten nicht, dass es den Palästinensern - die sie für den Krieg, die Invasion und die folgenden Leiden verantwortlich machten - besser ergehen sollte. In Europa sind Kriegsflüchtlinge selten in ihre Häuser zurückgekehrt, wenn der siegreiche Feind sie besetzt hatte. Gewöhnlich ließen sie sich anderswo nieder, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die Israelis wollten dieses Prinzip auf den Mittleren Osten übertragen. Mit Gewalt stoppten sie die während des Waffenstillstands und nach dem Krieg zurückkehrenden Infiltratoren. Mehr noch, sie beschlagnahmten deren Land und siedelten in den aufgegebenen arabischen Städten Evakuierte aus jüdischen Siedlungen an, die von den einfallenden arabischen Truppen besetzt worden waren. Auch neue Einwanderer und demobilisierte Soldaten wurden dort angesiedelt. Auf diese Weise wurde aus der vermeintlich zeitweiligen Flucht ein dauerhaftes, nahezu ewiges Flüchtlingsproblem. Israel machte die Arabische Liga für das Schicksal der Flüchtlinge verantwortlich und erwartete von den arabischen Regierungen, dass diese sich um eine Wiederansiedelung der Palästinenser in deren Ländern kümmern würden, so wie Deutschland Volksdeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg aufnahm und Israel selbst Flüchtlings-Einwanderer aus den arabischen Ländern. Die Bemühungen der Israelis, die Palästinenser, die arabischen Staaten und die ganze Welt davon zu überzeugen, dass dieses Problem durch eine Wiederansiedelung gelöst werden müsse, waren ernst gemeint, aber fehl am Platze. Die arabische Umgebung - die Flüchtlinge selbst, die nicht geflohenen Palästinenser und die arabischen Staaten - weigerte sich, die fremden Regeln zu akzeptieren, die Israel in der Region anwenden beziehungsweise der Region aufzwingen wollte. In den fünfzig Jahren seit dem Ende des Krieges haben die arabischen Staaten - mit Ausnahme Jordaniens - keine Flüchtlinge aufgenommen. Auch wenn Einzelne sich innerhalb und außerhalb der Region niedergelassen und ein neues Leben begonnen haben, die Mehrheit hat sich kaum mit ihren Gastgebern vermischt - nicht im Westjordanland und im Gaza-Streifen und auch nicht in den arabischen Ländern. Sie blieben abseits der einheimischen Bevölkerung, leben sozial wie geographisch in getrennten Lagern und warten auf ihre Rückkehr. Nach dem Kriege neutralisierte die israelische Diplomatie erfolgreich das explosive Potenzial des Flüchtlingsproblems und verwandelte es in ein Problem internationaler Hilfe, welche die Vereinten Nationen auf sich nahmen. Die Großmächte stimmten dieser Veränderung zu, aber die arabische Welt weigerte sich, dem zu folgen. Die Araber wiesen den israelischen Ansatz und Israels Lösungsvorschläge postwendend zurück. Die darin enthaltene Botschaft war eindeutig: Erstens, die palästinensischen Flüchtlinge sind Folge israelischen Handelns und Israel daher für sie verantwortlich. Israel sollte nicht von der arabischen Welt erwarten, dass diese das Problem lösen oder sich an der Verantwortung für das Schicksal der Flüchtlinge beteiligen würde. Zweitens, die Araber waren zwar nicht in der Lage, den israelischen Staat zu vernichten, aber Israel kann nicht erwarten, dass sie sich fremden Verhaltensregeln anpassen. Anders als in Europa sieht das Muster im Nahen Osten vor, dass Kriegsflüchtlinge nicht anderswo neu siedeln, sondern in ihre Heimat zurückkehren, wenn die Feindseligkeiten beendet sind. Und die Feindseligkeiten sind nicht beendet, solange sie nicht zurückgekehrt sind. Israel muss diese Botschaft einkalkulieren, und es ist schwer vorhersehbar, wie das Problem gelöst werden könnte. Anders als bei den Flüchtlingen anderer Auseinandersetzungen liegt das Schicksal der Palästinenser nicht in der Verantwortung des UN-Hochkommissars für Flüchtlingsfragen, sondern in der Verantwortung eines speziellen Gremiums, das ausschließlich für sie geschaffen wurde - beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Im Falle aller anderen Flüchtlinge erkennen die Vereinten Nationen nur die erste Generation als rehabilitierungsberechtigt an. Die UNRWA kümmert sich um die dritte und vierte Generation der Palästina-Flüchtlinge von 1948 und wird dies auf Grund ihres Mandat bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Dies ist ein indirekter Ausdruck der Schuldgefühle der Vereinten Nationen wegen der Teilungs-Resolution, welche die Palästinenser zu "Opfern" machte. Solange dieses Symbol der Schuld existiert, wird es für die Araber keinen Anlass geben, eine Lösung des Problems voranzutreiben. Eine Vorbedingung für die Lösung des Konflikts muss daher die Auflösung der UNRWA sein, und ihr Budget wie auch ihre Verantwortung für das Schicksal und Wohlergehen der Flüchtlinge müssen auf die Regierungen der Gastgeberländer und der Palästinenser übertragen werden. Seit Oslo und dem spektakulären Handschlag zwischen Rabin und Arafat in Washington hat sich bei den meisten Israelis und Palästinensern speziell in dem Jahrzehnt der Illusionen über eine neue Ära im Nahen Osten Ernüchterung breit gemacht. Die Geschichte hat ihren Lauf im Sommer 1993 nicht geändert. Die Kräfte, die den arabisch-jüdischen Konflikt in Gang halten, scheinen dauerhafter als die diplomatischen Manöver und die Festivals und virtuellen Realitäten der Medien. Sie sind sogar stärker als innenpolitische und wirtschaftliche Interessen wichtiger Sektoren auf beiden Seiten. Die Vorstellung, die Palästinenser könnten, nachdem sie die Juden 85 Jahre lang bekämpft haben, mit einem kleinen, entmilitarisierten Staat im Westjordanland und dem Gaza-Streifen zufrieden sein und statt der Rückkehr der Zerstreuung der Flüchtlinge über die ganze Welt zustimmen, war bestenfalls naiv. Daher werfen Vereinbarungen und Pläne wie der Osloer Vertrag oder die "Genfer Initiative" vom Dezember 2003, die immanente Verwerfungen und Widersprüche mit undurchsichtigen Worten überdecken, die Frage auf, wer in diesem Schauspiel der Schurke und wer der Narr ist. Überleben nur durch gesellschaftlichen Zusammenhalt Es ist wahrscheinlich Israels Schicksal, auf unbestimmte Zeit mit diesem andauernden Kampf zu leben. Unglücklicherweise hat es wenig Einfluss auf die zentralen Faktoren, welche die künftige Entwicklung des arabisch-jüdischen Konflikts bestimmen. Israel hat keinen Einfluss auf die demographische Entwicklung der Palästinenser. Es kann die Palästinenser politisch nicht befriedigen, ohne nationalen Selbstmord zu begehen. Es kann der nuklearen Entwicklung in Iran nicht alleine begegnen. Es hat keine Möglichkeit, auf das Wachstum des islamischen Fundamentalismus einzuwirken und den sozialen und demographischen Prozess zu steuern, der Europa für die palästinensische Sache gefügiger gemacht hat. Und es wählt oder nominiert nicht die Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der einzige Faktor, der ausschließlich in der Hand der Israelis liegt, ist die Macht der israelischen Gesellschaft. Seit 1967 und speziell in dem Jahrzehnt der Illusionen (in den neunziger Jahren) unterwanderten die sozialen Prozesse der Individualisierung, des Egozentrismus und Karrierismus die israelische Gesellschaft und brachten sie in jüngster Vergangenheit an den Rand der sozialen und politischen Anarchie. Auf lange Sicht hängt Israels Überleben vom sozialen Zusammenhalt und von seiner anhaltenden sozialen Mobilisierungsfähigkeit ab. Was Israel braucht, ist eine gründliche Reform des politischen Systems, das zu einem der schlechtesten und ineffizientesten in der demokratischen Welt geworden ist. Darüber hinaus muss eine grundlegende Reform der sozioökonomischen Politik Israels eine neue Rangfolge der Prioritäten etablieren und ein klügeres und feinfühligeres Gleichgewicht zwischen sozialen Realitäten und den Anforderungen der Wirtschaft herbeiführen. Solche Reformen sind wesentlich für das Durchhaltevermögen Israels, nicht weniger als der Bau von Zäunen. Die jüngste Veränderung der israelischen Gesellschaft verschleiert eine große Illusion. Der Erfolg des Zionismus bei der Lösung der jüdischen Frage war spektakulär, aber unvollständig. Das Entstehen des Staates Israel verlagerte das Problem des Überlebens der Juden von Europa in den Nahen Osten und brachte es von der Ebene der Individuen und Gemeinden auf die nationale und internationale Bühne, wo es zum Gegenstand unablässiger nationaler Konflikte wurde. Die Israel umgebenden arabischen Nationen weigern sich, mit einer souveränen jüdischen Nation im Nahen Osten versöhnt zu werden, gerade so wie das moderne Europa sich gegen die individuellen und kommunalen Formen jüdischer Existenz und die Aufrechterhaltung ihrer historischen Kultur wandte. Inzwischen, so scheint es, haben Juden als Individuen eine erfolgreiche Alternative auf die Frage ihres Überlebens gefunden - die pluralistische Gesellschaft der Vereinigen Staaten von Amerika. Was wäre einfacher, als den amerikanischen Prototyp im Mittleren Osten nachzuahmen? Mit anderen Worten, was läge näher, als zur Beseitigung des Problems des kollektiven Überlebens der Juden die Idee eines jüdischen Nationalstaates aufzugeben und ihn durch einen pluralistischen zu ersetzen? Das ist genau jene Illusion, die bestimmte Kreise in Israel in der Hoffnung auf Normalisierung hegen, mit dem Anspruch, sie seien "erleuchtet" oder "vernünftig". Israel bleibt jedoch im Nahen Osten und liegt nicht im Mittleren Westen der USA. Sein Hauptproblem ist noch immer das Überleben. Die ungehemmte Sehnsucht nach Normalität sowie die blinde Nachahmung des westlichen Individualismus sind unreif - Israel kann sich das nicht leisten. Übersetzung aus dem Englischen: Martina Boden, Winsen/Aller.
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Gelber, Yoav
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28328/ist-frieden-zwischen-israelis-und-palaestinensern-moeglich/
Für den Autor ist der arabisch-jüdische Konflikt einzigartig und beispiellos. Es geht um unversöhnliche Ansprüche zweier Konkurrenten, den Israelis und Palästinensern, auf das selbe Land und seine Hauptstadt Jerusalem.
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31,204
Workshop 2: NATO, EU und die transatlantische Perspektive | 18. Bensberger Gespräche 2023 | bpb.de
In seinem Vortrag arbeitete Dr. Markus Kaim zunächst die unterschiedlichen Dimensionen des Ukraine-Krieges heraus. Der Krieg trage zum einen Elemente eines hegemonialen und imperialen Konfliktes. Die hegemoniale Komponente habe vor allem zu Kriegsbeginn eine Rolle gespielt, als das Motiv der politischen Vorherrschaft im Mittelpunkt gestanden habe und in Kiew eine kremltreue Marionetten-Regierung eingesetzt werden sollte. Mit der Annexion der vier ukrainischen Territorien durch Russland im Herbst 2022 sei dann die imperiale Facette des Krieges hervorgetreten. Darüber hinaus lägen Elemente eines Wertekonfliktes vor, der sich beispielsweise widerspiegele in Äußerungen vom "moralisch verkommenen Westen", dem Russland als letztes Refugium traditioneller Werte gegenüberstehe. Drittens sei der Ukraine-Krieg auch ein Stellvertreterkonflikt. Die Stellvertreterdimension komme häufig in Narrativen zum Vorschein, wenn auf russischer Seite etwa die Ukraine als vom Westen gesteuerter Staat ohne eigene Autonomie bezeichnet werde und auf westlicher, insbesondere US-amerikanischer Seite vom Kampf der Demokratien gegen die Autokratien gesprochen werde. Als die dominanteste Dimension mit den langfristigsten Auswirkungen für die deutsche und europäische Politik bezeichnete Kaim den ordnungspolitischen Konflikt. Der 1990 in der Charta von Paris und 1997 in der NATO-Russland-Grundakte vereinbarte ordnungspolitische Konsens, basierend auf Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Unverletzlichkeit des Territoriums, Nichtanwendung militärischer Gewalt und freie Bündniswahl, sei mit dem russischen Angriffskrieg gebrochen worden. Es stünden sich nun zwei ordnungspolitische Blöcke gegenüber, in denen die Akteure auf der einen Seite mit den Prinzipien "Werte und Recht" und die auf der anderen Seite mit "Raum und Macht" argumentierten. Zukünftig müsse europäische Sicherheit mindestens ohne Russland oder sogar gegen Russland organisiert werden. Die NATO habe einen erheblichen Bedeutungsgewinn erfahren und ein neues strategisches Konzept verabschiedet, das Russland als Sicherheitsbedrohung für die Allianz priorisiere und den Fokus auf Bündnisverteidigung und Abschreckung lege. Die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Krise markiere zudem die Rückkehr der USA als europäische Macht. Eine dauerhafte amerikanische Präsenz in Europa nach dem Krieg sei aber keineswegs sicher. Die Priorität von US-Präsident Biden habe eigentlich auf dem systemischen Konflikt mit China gelegen. Ebenso habe er eine innenpolitische Grundierung der US-Außenpolitik verfolgt, die mit einer Erhöhung der Schwelle für die Bereitschaft der USA zu globalem Engagement als Ordnungsmacht einhergehe. Europa müsse seine sicherheitspolitische Rolle in einer geopolitisierten Welt neu definieren. Wenn die Weltordnung auf ein multipolares System hinauslaufe, stelle sich für Europa die Frage, ob es einer dieser Pole sein wolle und was hierfür politisch, militärisch und finanziell notwendig sei. Ein Konzept könne eine strategische Autonomie unter neuen Vorzeichen sein, bei der es nicht um die Abgrenzung von, sondern um die Absprache mit den USA gehe. In der Diskussion bezweifelten die meisten Teilnehmenden, dass sich die Handlungsfähigkeit Europas im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik erhöhen werde. Der Krieg in der Ukraine habe tendenziell nicht zu Fortschritten in den europäischen Autonomiebestrebungen geführt, sondern eher das Gegenteil bewirkt, weil er insbesondere in den osteuropäischen Staaten den Eindruck verstärkt habe, dass die USA der verlässlichere Partner seien. Angesprochen wurde in der Diskussion auch der schlechte derzeitige Zustand des deutsch-französischen Tandems, ohne das Europa sicherheitspolitisch nicht zu denken sei. Eine europäische Armee werde es auf absehbare Zeit auch deshalb nicht geben, weil Staaten wie Frankreich nicht bereit seien, die Souveränität über ihre eigenen Streitkräfte aufzugeben. Der skeptischen Einschätzung zur Realisierung einer europäischen Armee schloss sich Kaim an. Es fehle vor allem der politische Wille und für die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seien weitere Integrationsschritte erforderlich. Eine funktionierende europäische Armee habe letztendlich die Vereinigten Staaten von Europa zur Voraussetzung. Quellen / Literatur Dokumentation: Nils Hermsen Dokumentation: Nils Hermsen
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-04-14T00:00:00
2023-02-20T00:00:00
2023-04-14T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bensberger-gespraeche/518413/workshop-2-nato-eu-und-die-transatlantische-perspektive/
Dr. Markus Kaim, Senior Fellow in der Forschungsgruppe „Sicherheitspolitik“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sprach mit den Teilnehmenden über die langfristigen Entwicklungslinien, die der Krieg in der Ukraine in Gang gesetzt, beschleunig
[ "Sicherheitspolitik", "Russischer Angriffskrieg", "Krieg in der Ukraine", "Deutschland", "Europa" ]
31,205
Was ist Bildung? | Bildung | bpb.de
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2023-05-31T00:00:00
2012-09-27T00:00:00
2023-05-31T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/145147/was-ist-bildung/
Was Bildung ausmacht, wie Bildungseinrichtungen gestaltet werden sollen und was wir als Gesellschaft vom Bildungssystem erwarten, darüber wird bis heute heftig gestritten.
[ "Bildung", "Zukunft Bildung", "Dossier Bildung", "Schule", "Erziehung", "Universität", "Studium", "Ausbildung" ]
31,206
Analyse: Der Kampf um die Wahlbeteiligung: Zunehmende Personalisierung der russischen Präsidentschaftswahlen 2018 | Russland-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Die Rolle der Präsidentschaftswahlen für die Aufrechterhaltung des autoritären Regimes unterscheidet sich von der Rolle, die Parlamentswahlen in Russland haben. Die Präsidentschaftswahl ist eng mit dem Ausmaß von präsidialer Macht und Personalisierung verbunden. Das politische Regime in Russland entwickelt sich zunehmend in Richtung eines konsolidierten personalisierten autoritären Regimes, in dem Präsidentschaftswahlen darauf abzielen, über eine Erhöhung der Wahlbeteiligung die Stärke des Regimes zu signalisieren und die Opposition zu spalten. Einleitung In dem bekannten Musical Anatevka nach dem Roman "Tevje, der Milchmann" von Scholem Alejchem fragt Tevje in einer der Episoden seine Frau Golde nach vielen Jahren Ehe plötzlich: "Liebst du mich?". Verdutzt erwidert sie: "Ob ich dich liebe? Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich deine Kleider gewaschen, dir Essen gekocht, dein Haus geputzt, dir Kinder geschenkt, die Kuh gemolken. Warum redest du jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, von Liebe?". Die russischen Präsidentschaftswahlen werden dieses Jahr am 18. März stattfinden, am Jahrestag der offiziellen Eingliederung der Krim und mit Präsident Putin seit fast 20 Jahren an der Macht. Rhetorisch – um die Metapher fortzuführen – fragen die Wahlen, ob die russischen Wähler den Präsidenten immer noch unterstützen, jetzt, da der Effekt des "Sich-um-die Flagge-scharen" abgeebbt ist. Neben Wladimir Putin gehen altbekannte Gesichter ins Rennen (Wladimir Schirinowskij von der LDPR, Sergej Baburin, der die Kleinstpartei "Russische Union des ganzen Volkes" vertritt, und Grigorij Jawlinskij von "Jabloko"), aber es gibt auch neue Gesichter. Zum einen ist da Ksenija Sobtschak mit ihrer "Bürgerinitiative". Sie ist die Tochter von Putins ehemaligen Chef Anatolij Sobtschak und hat sich als "Kandidatin gegen alle" präsentiert. Dann kandidieren Pawel Grudinin, der für die KPRF als Kandidat an die Stelle von Gennadij Sjuganow getreten ist, und eindeutige Spoiler-Kandidaten wie Boris Titov von der "Wachstumspartei" und Maxim Surajkin, ein weiterer Kommunist. Die Frage ist deshalb rhetorisch, weil niemand Zweifel hat, dass der Wahlausgang von vornherein feststeht. Die Frage ist jedoch: Warum werden die Wahlen eigentlich abgehalten? Und worin liegt deren Zweck für die Machthaber? Wahlen: Stütze oder Falle? Es besteht die Ansicht, dass in autoritären Regimen Wahlen ein zweischneidiges Schwert sind, das einerseits der Aufrechterhaltung der autoritären Herrschaft dienen soll, das sich aber andererseits unter bestimmten Umständen gegen seinen Herren richten kann. Einige behaupten sogar, dass wiederholte Wahlen Politiker und Wähler allmählich sozialisieren und an einem bestimmten Punkt das Regime demokratisieren würden. Allerdings gibt es genügend Hinweise, die dieser Ansicht entgegenstehen. Wiederholte Wahlen in Russland (Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen) scheinen nicht zu einer Liberalisierung des Regimes zu führen. In autoritären Regimen bedeuten Wahlen auf vielfältige Weise eine Unterstützung: Sie verringern die Ungewissheit, die in allen nichtdemokratischen Regimen um sich greift, sie kooptieren Eliten und sie spalten die Opposition. In dieser Hinsicht erfüllen die Parlamentswahlen in Russland eine Reihe von nützlichen Funktionen: Sie verteilen Macht, verteilen "Beute" und spalten die Opposition. 2003 absorbierte "Einiges Russland" eine große Zahl unabhängiger Mandatsträger sowie Abgeordneter anderer Parteien, 2007 implodierte die politische Bühne, die sich dabei auf vier "Systemparteien" reduzierte und die stärkeren Oppositionskräfte ausschaltete. 2011 liefen die Dumawahlen aus dem Ruder und führten zur massenhaften Protestbewegung "Für faire Wahlen". Neue Wahl- und Parteigesetze öffneten danach de jure die politische Bühne für andere Parteien. "Einiges Russland" kam bei den Dumawahlen im September 2016 mit 54 Prozent der Stimmen noch einmal mit einem blauen Auge davon, wobei es eine geringere Wahlbeteiligung, eine dürftige Berichterstattung in den Medien und in der Frühphase des Wahlgangs eine größere Anzahl von Spoiler-Parteien gab. Die Parlamentswahlen von 2003 waren auf Machtverteilung und weitreichende Kooptierung gerichtet. Die Wahlen von 2007, 2011 und 2016 sollten ein glaubwürdiges Signal der Stärke des Regimes senden. 2011 war die Regierung allerdings nicht in der Lage, dies zu erreichen. Signal der Stärke Die Rolle der Präsidentschaftswahlen bei der Aufrechterhaltung des autoritären Regimes unterscheidet sich von der Rolle der Parlamentswahlen und ist eng mit dem jeweils vorhandenen Ausmaß von präsidentieller Macht und Personalisierung verknüpft. In parteigestützten autoritären Regimen dienen Präsidentschaftswahlen vor allem zur internen Personalrotation und zur Informationsgewinnung, wie in Mexiko unter der "Partei der institutionalisierten Revolution" (PRI) oder in Tansania unter der "Chama-Cha Mapenduzi" (CCM; dt.: "Partei der Revolution"). Der Grad an Personalisierung ist in solchen Regimen begrenzt. Die Entwicklungsbahn des politischen Regimes in Russland hingegen verläuft in Richtung eines personalisierten autoritären Regimes, in dem Präsidentschaftswahlen darauf abzielen, dass das Regime seine Muskeln zeigt und die Unbesiegbarkeit des Regimes signalisiert. Wladimir Putin kandidiert jetzt für seine letzte verfassungsgemäße Amtszeit als Präsident und versucht, mit erneuter Vehemenz seine politische Stärke zu signalisieren. Eine Kooptierung von Eliten spielt bei diesen Wahlen keine allzu große Rolle, da hier nur eine Person für das Amt kandidieren kann. Gleichwohl ist die Fähigkeit, ein starkes und überzeugendes Signal an die Eliten, die Wähler und die internationale Gemeinschaft zu senden, für Putins politisches Überleben und seine Pläne zur Machterhaltung von größter Bedeutung. Die verschiedenen Gruppen in der Elite sollen ein weiteres Mal verinnerlichen, dass der Amtsinhaber längst noch keine lahme Ente ist, dass er immer noch die Unterstützung der Bevölkerung besitzt und weiterhin als wichtigster Vermittler bei Verhandlungen und Konflikten innerhalb der Eliten fungiert. Den Wählern soll vermittelt werden, dass es keine echte Alternative zu Putin gibt und die überwältigende Mehrheit der Mitbürger den Amtsinhaber begeistert unterstützt, selbst wenn einige (wenige) das nicht tun. Anhänger der Opposition würden die Botschaft empfangen, dass sie sich tief in Feindesland befinden und ihr Widerstand zwecklos ist. Schließlich würden die Entscheidungsträger im Ausland einen weiteren Beleg erhalten, dass Wladimir Putin ungeachtet seiner widersprüchlichen Außenpolitik massenhafte Unterstützung in der Bevölkerung genießt, sein wichtigstes politisches Kapital. Die Frage der Wahlbeteiligung Der Ausgang der anstehenden Wahlen im März lässt keine nennenswerte Spannung aufkommen. Die führenden Umfrageinstitute FOM und WZIOM veröffentlichen zu erwartende Stimmenanteile Putins von über 70 Prozent. Dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut "Lewada-Zentrum" ist es wegen seiner Einstufung als "ausländischer Agent" verboten, seine Umfrageergebnisse zu veröffentlichen. Das eigentlich Spannende entwickelt sich allerdings um die Frage der zu erwartenden Wahlbeteiligung, die ja das Ausmaß der massiven politischen Zustimmung demonstrieren soll, die der Präsident erfährt. Bei diesen Wahlen sind also die Zahlen zur Wahlbeteiligung verknüpft mit den Wahlergebnissen jene entscheidenden Parameter, die es zu maximieren gilt und die die Gouverneure der russischen Regionen sicherzustellen haben. Laut den vorläufigen Berechnungen von FOM und WZIOM ist eine außerordentlich hohe Wahlbeteiligung zu erwarten, nämlich rund 80 Prozent. Wenn die tatsächlichen Zahlen dicht an diese Schätzungen herankommen, würde das Regime in Russland in dieser Hinsicht in die Nähe von Ländern rücken, in denen zur Wahl zu gehen kein Recht, sondern Pflicht ist, und wo das Nichterscheinen im Wahllokal empfindliche Strafen nach sich zieht. Die Zentrale Wahlkommission wie auch die Regional- und Kommunalverwaltungen legen sich mit allen Mitteln ins Zeug, um möglichst viele Wähler zu mobilisieren. Im Januar und Februar dieses Jahres erhielten Tausende Wahlberechtigte persönliche E-Mails mit einer Erinnerung, dass sie ihren Stimmzettel abgeben können, auch wenn sie nicht dort wohnen, wo sie gemeldet sind. Oder sie erhielten Besuch von Mitarbeitern der Kommunalverwaltung oder Mitgliedern der Wahlkommission im Stimmbezirk. Die Zentrale Wahlkommission plant, 700 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 10 Mio. Euro] auszugeben, um die Bevölkerung über die Möglichkeit der Stimmabgabe zu informieren. Externer Link: Die Zeitung "Wedomosti" berichtete, dass russische spin-doctors und Wahlfachleute beauftragt wurden, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Wahlbeteiligung erhöht werden kann. Bei den anstehenden Wahlen sollen Wähler durch Unterhaltungsangebote mobilisiert werden, und durch ein breites Angebot an neuen Kandidaten, vor allem solchen mit widersprüchlichem politischen Hintergrund wie der TV-Prominenten Ksenija Sobtschak. Die Frage des Boykotts Der Wettbewerb bei den Wahlen erscheint unfair, wenn die Opposition an einer Teilnahme gehindert wird. Alexej Nawalnyj und seine Anhänger haben eine landesweite Kampagne zum Boykott der Wahlen gestartet, einen "Wählerstreik", da Alexej Nawalnyj es nicht geschafft hatte, sich als Präsidentschaftskandidat registrieren zu lassen. Wenn eine hohe Wahlbeteiligung das Hauptziel des Kreml ist, dann trifft die Boykottkampagne den Plan, möglichst viele Wähler zu mobilisieren, in seinem Kern. In dieser Hinsicht ist es keine Überraschung, dass die Anführer von "Jabloko" (einer der Parteien der Systemopposition, denen eine Teilnahme an der Wahl gestattet wurde) erklären, die Boykottaufrufe zielten in die falsche Richtung. Folgt man deren Logik, sind Wahlverweigerer nicht besser als jene, die eh nicht zur Wahl gehen. Externer Link: Boris Wischnewskij formuliert es in der Nowaja Gaseta so: "[…] wenn die oppositionellen Wähler nicht bei vielen Wahlen der letzten Jahre "gestreikt" hätten, würden wir jetzt ein anderes Parlament haben, und vielleicht auch einen anderen Präsidenten". "Bürgerinitiative", die Partei von Ksenija Sobtschak, und Pawel Grudinin von der KPRF vertreten den gleichen Ansatz: Oppositionelle Wähler sollten trotzdem zur Urne gehen, um für ihre Sache einzustehen und ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Aussagen solcher Art zeigen deutlich, wie die Präsidentschaftswahlen die Opposition spalten, indem einigen eine Kandidatur erlaubt wird und man anderen eine Teilnahme verwehrt. Boykotte verringern die Wahrscheinlichkeit, dass es nach den Wahlen zu Protesten kommt, da die Wähler ja bereits wissen, dass die Wahlen nicht internationalen Standards genügen. Ein Wahlboykott kann aber unter personalisierter Herrschaft und unter bestimmten Bedingungen die vom Regime angestrebte Signalfunktion stören und womöglich mit Blick auf die Wähler und die internationale Gemeinschaft in stärkerem Maße einen Ansehensverlust bedeuten. Da Alexej Nawalnyj über keine Alternative verfügt, erscheint seine Strategie rational. Abgleiten in Personalismus Die erheblichen präsidialen Machtbefugnisse und die Personalisierung, d. h. die Abhängigkeit der russischen Politik von der Person Putins, reduzieren das Demokratisierungspotential von Wahlen. Es sollte aber auch berücksichtigt werden, dass der Grad der Personalisierung in den vergangenen zwei Jahrzehnten zugenommen hat. Das politische Regime in Russland hat sich seit 2000 von fehlgeschlagenen Versuchen, eine funktionierende "Partei der Macht" aufzubauen, hin zu einem kaum gezügelten Personalismus entwickelt. Dementsprechend hat sich die Rolle von Wahlen und Wahlbeteiligung verändert. So ist der Indikator der Beschränkungen und Kontrollen der höheren Ebenen der politischen Exekutive dem "Polity"-Projekt zufolge von fünf im Jahre 1992 (was auf erhebliche Beschränkungen für die Exekutive verweist) auf drei (geringe bis mittlere Beschränkung) in den Jahren 1993 bis 1999 zurückgegangen. Nach 2000 bewegte sich der "Polity"-Indikator wieder zurück auf "erhebliche Beschränkungen". Nach 2007 wurden die Beschränkungen wieder schwächer. Die Grafik im Anschluss an diesen Text zeigt die Ausschläge des "Polity-IV"-Index für Demokratie, der von –10 bis +10 reicht und bei dem 10 für rundum vollwertige Demokratien steht. Die Beschränkungen für die Exekutive sind eine Komponente des "Polity-IV"-Index, bei der gemessen wird, inwieweit die Exekutive im Zuge der demokratischen Gewaltenteilung institutionell durch Judikative, Legislative und andere politische Akteure Beschränkungen unterworfen ist. Mit anderen Worten: Das politische Regime in Russland hat seit 2007 die Funktionalität (und Neutralität) seiner Institutionen wieder verloren. Die Personalisierung und die Deinstitutionalisierung gingen nach 2007 weiter. Der Polity-Indikator erfasst nur institutionelle Dimensionen, die sich auch in Gesetzen widerspiegeln. Betrachten wir allerdings die Veränderungen, die es bei den Nominierungsverfahren für Präsidentschaftswahlen gegeben hat, so erkennen wir, dass Dmitrij Medwedew 2008 von "Einiges Russland" nominiert und von einer Reihe anderer Parteien unterstützt wurde. Wladimir Putin wurde 2011 von "Einiges Russland" nominiert. 2017/18 kandidiert er allerdings als Unabhängiger. Diese kleinen Änderungen spiegeln die anhaltende Deinstitutionalisierung und die Schwächung der übrigen Parteistrukturen wider. Eine weitere Personalisierung der Macht dürfte unweigerlich die signalgebende Rolle der Wahlbeteiligung und die Spaltung der oppositionellen Wählerschaft und Parteien verstärken. Gleiches gilt für die Rolle der russischen Präsidentschaftswahlen als Anlass, die Muskeln spielen zu lassen. Angesichts der Signal- und Spaltfunktion dieser Wahlen haben wir bereits eine dramatische Ungleichheit hinsichtlich des Zugangs auf die Wahlbühne feststellen können, die sich in der selektiven Anwendung der Gesetzgebung widerspiegelt. Wir können im Zusammenhang mit der Wählermobilisierung eine Zunahme der Unregelmäßigkeiten erwarten, und zwar einen massiven Einsatz administrativer Ressourcen und der Mobilisierung am Arbeitsplatz. Falls die reale Wahlbeteiligung dennoch geringer ausfällt, dürften auch die nachträglichen Manipulationen zunehmen, etwa durch Fälschungen bei der Ermittlung des Wahlergebnisses oder der Erstellung der Wahlprotokolle. Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder Lesetipps Smyth, R.; I. V. Soboleva: Navalny's Gamesters: Protest, Opposition Innovation, and Authoritarian Stability in Russia, in: Russian Politics, 1.2016, Nr. 4, S. 347–371.Morse, Y. L.: Presidential power and democratization by elections in Africa, in: Democratization, 25.2018, Nr. 4, S. 709–727.Smith, I. O. (2014). Election boycotts and hybrid regime survival. Comparative Political Studies, 47.2014, Nr. 5, S. 743–765.Zavadskaya, M.; M. Grömping, F.M. i Coma: Electoral Sources of Authoritarian Resilience in Russia: Varieties of Electoral Malpractice, 2007–2016, in: Demokratizatsiya: The Journal of Post-Soviet Democratization, 25.2017, Nr. 4, S. 455–480.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2018-03-13T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-350/266182/analyse-der-kampf-um-die-wahlbeteiligung-zunehmende-personalisierung-der-russischen-praesidentschaftswahlen-2018/
Für Wladimir Putin ist die Präsidentschaftswahl ein weiterer Schritt zu Konsolidierung und Ausbau seiner Macht. Ein wichtiger Baustein ist die Wahlbeteiligung, denn diese kann Stärke oder Schwäche des Regimes signalisieren. Wird sich Russland weiter
[ "Russland; Russland-Wahl; Präsidentschaftswahlen 2018;" ]
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M 04.03 Daten als privates Gut | Digitalisierung - Meine Daten, meine Entscheidung! | bpb.de
Internet ≠ kostenlos! Der US-amerikanische Internetkritiker und Virtual-Reality-Pionier Jaron Lanier diagnostizierte eine seltsame Widersprüchlichkeit, was unsere Wünsche und Ansprüche bezüglich des Internets angeht: Denn einerseits erwarten wir Nutzenden, dass im Internet alles frei zugänglich und kostenlos ist – andererseits möchten wir nicht, dass der Staat alle Fäden in der Hand hält, und manche bewundern aus diesem Grund herausragende Unternehmer wie Steve Jobs oder Bill Gates, die in den Anfangsjahren des Internets sehr frei agierten. Diese seltsame, unglückliche Mischung aus unvereinbaren Idealen war es, die laut Lanier zu einer Lüge geführt hat, die vorgab, beides unter einen Hut zu bekommen: Gemeint ist das Werbe-Modell der heutigen Datenökonomie, das kostenlose Serviceangebote vortäusche, wo in Wirklichkeit Handel stattfinde. Autonomie durch Daten-Verkauf? Anstatt dieses System ganz auszuhebeln, möchte Lanier es lieber offenlegen: Zukünftig soll jeder für eine schöpferische Leistung (etwa ein beliebter Post in einem Sozialen Medium) ebenso bezahlt werden wie für die einfache Generierung von Nutzer-Daten (beim Surfen). Auf diese Weise soll einerseits die Datenerzeugung durch Nutzende als das anerkannt und vergütet werden, was sie ist: die Wertquelle der Datenökonomie. Andererseits erhalten die Nutzenden in Laniers Modell eine gewisse Autonomie über ihre Daten, weil sie selbst entscheiden können, an wen sie diese verkaufen – und an wen nicht. Das Modell sieht also die Einrichtung einer rechtlichen Basis für den Handel zwischen Datenerzeugenden und Datenkäufern vor, der künftig unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle geregelt durchgeführt werden soll. Mehr Selbstbestimmung durch offene Kommerzialisierung Grob ausgedrückt besteht Laniers Lösung für das von ihm diagnostizierte Problem darin, den Widerspruch zugunsten eines der beiden vorhandenen Ideale aufzulösen. Das Internet als öffentlich-rechtliche und somit staatlich regulierte Institution lehnt Lanier jedoch ab, da die Gefahr der Ausnutzung von und der Diskriminierung mittels Nutzerdaten durch undemokratische Staaten zu groß sei. Stattdessen hat sich der Internetkritiker also für die vollständige Kommerzialisierung des Internets entschieden, in der niemand als passive Nutzerin oder als passiver Nutzer auftritt, sondern jede und jeder zugleich selbstbestimmte Produzentin und Konsumentin oder selbstbestimmter Produzent und Konsument ist. Durch diese neuen Möglichkeiten der Selbstbestimmung sollen zudem Macht-Ungleichverteilungen zwischen den Nutzenden und den Online-Dienst-Anbietern beziehungsweise Datenbrokern verringert werden. Das Modell in der Praxis Nach Lanier könnte der Transfer von Geld und Daten über ein umfassendes Mikrozahlungssystem erfolgen. Zu diesem Zweck müssten alle Daten mit ihrer jeweiligen Erzeugerin oder ihrem jeweiligen Erzeuger verknüpfbar sein. Sobald die Daten erworben würden oder ein Beitrag an Beliebtheit gewänne, würde ihr oder ihm ein geringer Betrag auf das digitale Konto überwiesen. Dabei sollen die Preise von den Nutzenden selbst festgelegt werden können; der Datenmarkt würde infolgedessen weitgehend von Angebot und Nachfrage reguliert. Damit die Nutzenden ihre Daten geregelt verkaufen können, muss ihnen jedoch zunächst ein Hoheitsrecht über diese zugeschrieben werden. Das heißt, dass Daten zuallererst als privates Gut beziehungsweise als Eigentum anerkannt werden müssten. Wo liegen die Schwächen des Modells? Da Lanier in der Ausformulierung seines Modells vage bleibt, ergeben sich einige Fragen bezüglich der praktischen Ausführung, etwa ob Nutzende bezüglich jedes einzelnen Datums mit Anbietern in Kontakt treten müssten – was einen kaum zu überschätzenden Arbeitsaufwand bedeuten würde – oder wie das allumfassende Mikrobezahlsystem vor staatlicher Überwachung geschützt werden könnte – wo doch der Staat die Kontrollinstanz des darüber abgewickelten Datenhandels übernehmen sollte. Aus finanzieller Sicht dürfte der zu erwartende Gewinn für die Nutzenden zudem recht gering ausfallen, da Daten ihren tatsächlichen Marktwert zumeist erst durch ihre nachfolgende Verkettung und Auswertung gewinnen; ein weiterer Grund, weshalb der enorme Aufwand für die Einzelne oder den Einzelnen nur schwer zu rechtfertigen ist. Trotz der vermutlich eher geringen Gewinnspanne bleibt außerdem zu befürchten, dass sich finanzschwache Nutzende dazu gezwungen sehen, all ihre Daten zu veräußern, um ihre finanziellen Mittel aufzubessern. Dabei sollte Datenschutz auf keinen Fall zum Luxusgut werden, dass sich nur leisten kann, wer finanziell gut abgesichert ist. In diesem Zusammenhang sehen Datenschützerinnen und Datenschützer ein weiteres Problem, und zwar die Tatsache, dass Eigentum grundsätzlich vollständig veräußert werden kann; hier besteht womöglich ein Widerspruch zwischen dem Modell und der Datenschutz-Grundverordnung, die persönliche Daten grundrechtlich schützen soll. Zu guter Letzt ist fraglich, inwiefern sich das ungleiche Machtverhältnis zwischen Datenproduzentinnen und -produzenten und Datenverwertern tatsächlich verschieben würde. Denn auch wenn Nutzende selbst über den Verkauf ihrer Daten entscheiden können, scheint die Verhandlungsposition der oder des Einzelnen deutlich schwächer zu sein als beispielsweise die eines internationalen Plattform-Betreibers. Arbeitsaufträge Einzelarbeit Lies den Text aufmerksam durch und trage die Antworten zu folgenden Fragen in deine Auswertungsmatrix ein: Was ist die Grundidee des vorgestellten Modells? Wer soll laut Modell künftig über die Daten verfügen? Wer soll die Daten und den Datenhandel laut Modell künftig regulieren? Wo zeigen sich Schwierigkeiten und welche Kritik wird am Modell geäußert? Gruppenarbeit Vergleicht eure Ergebnisse innerhalb der Gruppe und ergänzt diese. Expertengruppen Bildet für das Gruppenpuzzle jeweils neue Gruppen mit je einem Mitglied aus jeder Arbeitsgruppe und stellt euch gegenseitig jeweils das Modell eurer ursprünglichen Gruppe vor. Ergänzt die Ergebnisse zu den anderen Modellen in eurer Auswertungsmatrix. Quellen Laaff, Meike (05.01.2019): Schluss mit der Umsonst-Kultur im Netz! Externer Link: Deutschlandfunk Kultur. Lanier, Jaron (05.01.2019): Im Interview mit Meike Laaff. Externer Link: Deutschlandfunk Kultur. Mühlhäuser, Max (2019): Open Metadata: Nutzerzentrierte wettbewerbliche Datenverwertung mit offenen Rahmendaten. In: Ochs, Carsten (u.a.) (Hrsg.): Die Zukunft der Datenökonomie. Zwischen Geschäftsmodell, Kollektivgut und Verbraucherschutz. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Schneider, Ingrid (07.06.2019): Regulierungsansätze in der Datenökonomie. Interner Link: APUZ 24-26/2019. Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. (26.11.2018): „Meine Daten gehören dir“. Der Externer Link: vzbv zur Gefahr eines Dateneigentums. Das Material steht als formatiertes Interner Link: PDF-Format zur Verfügung.
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Selina Kalms
2021-06-23T00:00:00
2020-05-14T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/digitalisierung-grafstat/309844/m-04-03-daten-als-privates-gut/
Wie wäre es, wenn Unternehmen uns unsere Daten abkaufen müssten? Im datenökonomischen Modell des Internetkritikers Jaron Lanier gelten Daten als privates Gut, das von Digital-Unternehmen nicht einfach gesammelt werden darf. Hier lernen Schülerinnen u
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Neue Wege für die politische Bildung | Kulturelle Bildung | bpb.de
Politische Bildung verfolgt das Ziel, Menschen zu autonomen und mündigen Staatsbürgern zu erziehen, indem Kenntnisse über das demokratische System vermittelt und Kompetenzen für demokratisches Handeln gestärkt werden – es geht also darum, Demokratie zu lernen. Vor diesem Hintergrund befasst sich der folgende Beitrag mit der Programmatik der Stadtteil- und Soziokultur, weil diese junge Kultursparte vor rund 30 Jahren unter dem Motto "Kultur für alle" antrat, eine "Demokratisierung durch Kultur" bzw. "Demokratisierung der Kultur" voranzutreiben. Durch Strategien und Methoden der Kultur sowie durch die Eröffnung der Teilhabechancen an der Kultur sollte eine Demokratisierung der Gesellschaft insgesamt angestoßen werden. Das Thema kulturelle Bildung wird zurzeit aus unterschiedlichen Gründen und Perspektiven breit diskutiert. Die Aktualität und Intensität dieser Debatte haben verschiedene Ursachen. Im Wesentlichen geht es dabei um den Versuch, einen angemessenen Umgang mit komplexen gesellschaftlichen Veränderungen zu finden, die auch die politische Bildung und ihre Träger vor neue Aufgaben und Herausforderungen stellen. Die Veränderungsprozesse, auf die sie reagieren müssen, sind vielfältiger Art: die zunehmend heterogene Zusammensetzung der europäischen Gesellschaften durch Zuwanderung, das Auseinanderdriften der sozialen Milieus im Kontext sozioökonomischen Wandels, die Reformen der Bildungssysteme und -strukturen angesichts von PISA und Bologna, aber auch die Transformation der Geschlechterbeziehungen, der Rückgang politischer Beteiligung und abnehmendes politisches Interesse. Hinzu kommt eine Medienlandschaft, die einerseits ein breitgefächertes Spektrum an Informationsmöglichkeiten und Partizipation bietet sowie eine enorme Geschwindigkeit und Aktualität, die aber andererseits unter diesem Druck teilweise Abstriche in punkto Qualität eingehen muss oder sich verstärkt Strategien wie Skandalisierung und Sensationalisierung bedient. Neue Kommunikationsmedien wie Twitter, Facebook oder Youtube beschleunigen die Verbreitung von Inhalten zwar in einem bisher nicht möglich gewesenem Ausmaß, erschweren die Verifizierung von Quellen und Nachrichten aber eklatant. Ebenso unterschiedlich wie der gesellschaftliche Wandel sind die Herausforderungen, die sich daraus für die politische Bildungsarbeit ergeben. Klassische Felder wie Geschichtsvermittlung oder Erinnerungsarbeit müssen im Zuge der Einwanderungsgesellschaft neu gedacht werden. Veränderungen in der Mediennutzung müssen berücksichtigt und die Möglichkeiten neuer Medien – wie Computerspiele oder Onlineportale – in die politische Bildungsarbeit einbezogen werden. In der durch das Internet massiv angestiegenen Informationsflut gilt es, Orientierungspunkte zu schaffen, eine kritische Perspektive zu vermitteln und den Blick auf vermeintliche Fakten zu schärfen. Zugleich benötigt die politische Bildung ein Instrumentarium, das der zunehmenden Vielfalt der Gesellschaft gerecht wird. Der Anteil 'politikferner' Zielgruppen wird nicht nur immer größer, sondern zugleich in sich heterogener. Dachte man vor einigen Jahren den Begriff 'politikfern' synonym mit 'bildungsfern' und assoziierte damit Menschen aus sozial benachteiligten Milieus, so präsentiert sich die Situation in der Gegenwart sehr viel differenzierter. Auch Bürgerinnen und Bürger mit relativ hohem Bildungsniveau sind nicht unbedingt automatisch politikinteressiert und stets tagesaktuell "auf dem Laufenden". Darüber hinaus hat sich die Rezeptionskultur breiter Bevölkerungsschichten und -kreise verschoben. Nicht nur im Alltag von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen spielt Kultur – allem voran Musik, Film und unterschiedliche Unterhaltungsmedien – eine zentrale Rolle. Bildungsinhalte und Angebote müssen gerade im Hinblick auf die knappe, zur Verfügung stehende Zeit der Menschen einen neuen Anstrich erhalten, um sich überhaupt gegen die Konkurrenz eines vielfältigen Freizeitangebots behaupten zu können. Insofern zählen Form und Verpackung immer mehr, während die Erwartungen an die Qualität von Inhalten ohnehin gleichbleibend hoch ist. Vor diesem Hintergrund ist es also bedeutsam, sich mit dem Erlebnisfaktor und Eventcharakter von Veranstaltungen politischer Bildung zu beschäftigen und diese entsprechend zu berücksichtigen, denn auch politische Bildung ist prinzipiell ein Produkt, das man der Kundschaft auf eine Art und Weise präsentieren muss, die ihr Interesse daran weckt. Kulturelle politische Bildung ist also durchaus auch als neue Werbe- und Marketingstrategie zu begreifen. All diesen komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen und den mit ihnen einhergehenden Herausforderungen muss sich eine bundesweit und modellhaft agierende Institution wie die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in besonderem Maße stellen. Ihren Auftrag, das Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern und möglichst viele Bürgerinnen und Bürger zu motivieren und zu befähigen, sich kritisch mit politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen und aktiv am politischen Leben teilzunehmen, kann sie nur dann erfolgreich umsetzen, wenn es ihr gelingt, die Menschen mit ihren Angeboten zu erreichen. Vor diesem Hintergrund muss sie wie ein Seismograf neue Themen und zivilgesellschaftliche Impulse aufspüren und in attraktive, zeitgemäße Vermittlungsformate übersetzen. Vor diesem Hintergrund ist die bpb einem offenen Verständnis von politischer Bildung verpflichtet. Sie betrachtet insbesondere die Auseinandersetzung mit aktuellen kulturellen Angeboten aller Sparten – von Film über Musik, Theater, Literatur bis hin zu Performance oder Mode – als wichtige Voraussetzung sozialer Teilhabe und politischen Interesses. Festival "Politik im freien Theater" Ende der 1980er-Jahre startete die bpb erste Versuche, mit ihren Angeboten neue Zielgruppen zu erschließen und sich verstärkt am veränderten Freizeit- und Bildungsverhalten und den damit verbundenen Bedürfnissen der Endverbraucher zu orientieren. Zu diesem Zeitpunkt war der gesunkene Stellenwert der klassischen Vermittler politischer Bildung wie Parteien, Kirchen, Verbände bereits deutlich erkennbar. Ebenso augenscheinlich war der Erfolg der an ihre Stelle getretenen nicht-organisierten Meinungsführer, Künstler und Intellektuellen, die sich ihren eigenen Wirkungskreis erschlossen, der zumeist im Freizeitbereich, fernab der Politik und der klassischen politischen Bildung angesiedelt war. Im Zuge dieses Wandels intensivierte nun auch die bpb ihr Bestreben sich zu öffnen, sich das künstlerisch-kulturelle Leben in der Gesellschaft für die politische Bildungsarbeit nutzbar zu machen. Als einen wichtigen Bereich sah die bpb zunächst das Theater. Denn das Theater verstand und versteht sich seit jeher als ein Forum politischer Auseinandersetzung, in dem brisante zeitgeschichtliche Fragestellungen in unmittelbarer Art und Weise diskutiert und die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste einer Gesellschaft offengelegt werden. Auch die immer stärker werdende Bedeutung der visuellen Wahrnehmung spielte bei der Entscheidung, das Theater als Instrument politischer Bildung zu nutzen, eine bedeutende Rolle. Als Partner der bpb kam zum damaligen Zeitpunkt das institutionalisierte Theater, d.h. das hoch subventionierte Staats- und Stadttheater, nicht in Frage, da es als Meinungsführer nur noch eine sekundäre Rolle spielte. Es hatte sich weitgehend aus der Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen auf einen häufig puren Ästhetizismus zurückgezogen und verzeichnete überdies einen massiven Publikumsschwund. Demgegenüber hatte die Attraktivität "freier" Theater (oder Off-Theater), insbesondere bei jugendlichem Publikum sprunghaft zugenommen. Freie Theater versuchten, sich sowohl politisch als auch ästhetisch zu profilieren, indem sie sich stärker als die Stadt- und Staatstheater an der Lebenswelt des Publikums orientierten und in den Inszenierungen deutliche politische und soziale Akzente setzten. Rückenwind erhielten sie damals durch neue soziale Bewegungen, bei deren Veranstaltungen und Aktionen sie häufig auftraten. Sie waren dabei nicht nur unterhaltsames Beiwerk, sondern Ausdruck und Manifestation einer alternativen Kulturpolitik und eines "anderen" Kunstverständnisses. Diese Gegebenheiten veranlassten die bpb 1988 zur Ausrichtung des ersten Festivals "Politik im freien Theater". Erklärtes Ziel war die Präsentation von professionellen und ästhetisch herausragenden Produktionen des frei produzierten Sprechtheaters, die zur Beschäftigung mit aktuellen politischen und sozialen Themen anregten. Publikumsgespräche und flankierende Diskussionsreihen sollten zusätzlich zur intellektuellen Auseinandersetzung mit den eingeladenen Produktionen animieren. Außerdem sollte durch das Festival die Arbeit derjenigen Theatermacher unterstützt werden, die zu politischen Themen der Gegenwart Stellung bezogen und deren Engagement sich nicht in unverbindlichen modischen Trends erschöpfte. Die unerwartet hohen Zuschauerzahlen, das außerordentlich breite Interesse an einem Theaterfestival, das sich ausdrücklich als politisch orientiert auswies, und emphatische Reaktionen seitens des Publikums sprachen für den Erfolg dieses Experiments. Unübersehbar trafen sich in diesem Forum die Interessen der politischen Bildungsarbeit mit denen der freien Theaterszene: das Werben um die ernsthafte Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Fragen, die Suche nach einem offenen, pluralen Diskurs, der auch Schüler miteinbezog und sie über eine intensive Diskussion zur Auseinandersetzung mit den politischen Aspekten der jeweiligen Aufführungen zu bewegen vermochte. Das von der bpb seit dem damaligen Zeitpunkt im Dreijahresturnus in stets wechselnden Städten veranstaltete Festival "Politik im freien Theater" hat sich im Laufe der Jahre zu einem der wichtigsten Theatertreffen in der freien Szene entwickelt. Auch heute noch – 20 Jahre später – ist das Festival eine Plattform für innovative, interdisziplinäre und genreübergreifende Produktionen, die auf künstlerische Weise Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen beziehen. Darüber hinaus knüpft die Ausrichtung des Festivals an einen Gedanken des französischen Film-Regisseurs Jean-Luc Godard an, der davon sprach, nicht politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen. Dies beinhaltet nicht allein eine Handlungsanweisung zur gesellschaftlichen Veränderung vorzustellen, sondern Kunstwerke zu schaffen, die komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht werden, möglicherweise selbst eine politische Handlung darstellen. Darunter fallen insbesondere Formate, die auf einer Partizipation des Publikums beruhen. Das freie Theater hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt Formaten zugewandt, welche die gesellschaftliche Realität nicht nur in Form theatraler Zeichen abbilden, sondern die Realität unmittelbar auf die Bühne stellen oder zur Bühne machen. Zahlreiche Gruppen arbeiten mit nicht professionellen Schauspielern, mit "Komplizen" oder "Spezialisten" und holen so das vermeintlich "echte" Leben ins Theater. Andere verlassen die Bühne und begeben sich in den öffentlichen Raum. Oder sie mischen dokumentarisches Material mit Fiktivem. Dahinter steht die Suche nach neuen ästhetischen Mitteln, um einer veränderten gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden. Die Öffnung theatraler Prozesse in die Wirklichkeit, und damit die Aufhebung der Trennung von Kunst und Realität, hat den traditionellen Theaterbegriff in den vergangenen Jahren mehr und mehr in Frage gestellt. Die Geschichte des Festivals "Politik im freien Theater" ist im Laufe der Jahre zu einer Geschichte des Freien Theaters geworden. (Mehr Informationen unter Interner Link: www.bpb.de/politikimfreientheater) Next Generation – Die Zukunft der Stadt Neben dem "Politik im Freien Theater"-Festival, das von der Bundeszentrale alle drei Jahre ausgerichtet wird, kooperiert die bpb im Rahmen theatraler Modellprojekte auch mit renommierten Schauspielhäusern. Das Projekt "Next Generation – Die Zukunft der Stadt", das sie in Zusammenarbeit mit Ruhr.2010, dem Schauspiel Essen und dem Schauspiel Bochum initiiert, knüpft an die erfolgreiche Theaterarbeit "Homestories – Geschichten aus der Heimat" des Schauspiels Essen von 2005 an. "Next Generation – Die Zukunft der Stadt" soll aber noch einen Schritt weitergehen. In "Zukunftshäusern" können Jugendliche aus der Ruhr-Metropole Visionen in Form von eigenen Projekten zur Zukunft ihrer Stadt und Region entwerfen: "Wie sieht der Ort aus, an dem wir leben? Und wie soll der Ort aussehen, an dem wir auch in Zukunft leben wollen?" Durch Beteiligung von Heranwachsenden sowohl aus dem Nordgürtel (Duisburg und Herne) als auch dem traditionell wohlhabenderen Süden des Ballungsraumes (Essen und Bochum) soll ein exemplarisches Panorama von Jugend in einer Stadt und Region im Wandel entstehen. In den miteinander zu vernetzenden "Zukunftshäusern" können die Jugendlichen – unterstützt von Filmemachern, Theaterleuten, Musikern, Künstlern und politischen Bildnern – eigene Ideen entwickeln und umsetzen. Auszüge und Ergebnisse werden in Zusammenarbeit mit Regisseur Nuran David Calis im Herbst 2010 auf die Bühne gebracht. Gerahmt wird die Aufgabe der Jugendlichen durch die vier Themenbereiche Arbeit, Bildung, Kultur und Herkunft – Themen, die zentrale Bedeutung sowohl für die Perspektiven von Jugendlichen als auch für die Entwicklung der Gesellschaft haben. So gelungen diese vier miteinander in enger Beziehung stehenden Dimensionen zukünftig entwickelt und behandelt werden, so die These der Veranstalter, so zukunftsfähig wird eine Gesellschaft sein. Dabei kommt das Konzept zum Tragen, Inhalte subtil zu vermitteln und Jugendliche indirekt, aber intensiv zur Auseinandersetzung mit komplexen gesellschaftlichen Phänomenen, die sie selbst und ihr unmittelbares Umfeld betreffen, zu motivieren. In einem aktiven und künstlerisch-kreativen Prozess der kulturell-politischen Bildung wird so den Jugendlichen eine Plattform geboten, sich selbst auszudrücken. Darüber hinaus wird nicht nur die Möglichkeit der Partizipation vermittelt, sondern auch die Notwendigkeit der aktiven Mitgestaltung der Gesellschaft verdeutlicht, die das Fundament der Demokratie bildet. schule@museum Neben dem Theaterbereich hat die bpb zwischenzeitlich auch zahlreiche andere kulturelle Bereiche für die politische Bildungsarbeit erschlossen. Häufig entstehen im Rahmen künstlerisch-kultureller Modellprojekte neue, ungewöhnliche Partnerschaften, die langfristig gesehen zu spannenden und tragfähigen Netzwerken heranwachsen, die für alle Beteiligten vielfältige, teils auch durchaus überraschende Synergien bieten. Das Wettbewerbsprojekt schule@museum der bpb, des Deutschen Museumsbundes, des Bundesverbandes Museumspädagogik und des BDK-Fachverbandes für Kunstpädagogik, in dem unterschiedliche Formate auf ihr kreatives kulturelles Potenzial getestet wurden, war bisher als offenes Labor zu verstehen. 2009 soll das Projekt in eine substanziell neue Phase eintreten: Ziel der neuen Ausschreibung ist es, bundesweit Schulen und Museen zu inspirieren, in Kooperation Modelle langfristiger und nachhaltiger Zusammenarbeit zu entwickeln, die geeignet sind, einen Beitrag zu einer qualitätsorientierten kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen zu leisten und Räume für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu öffnen. 16 miteinander zu vernetzende Tandems sollen die Gelegenheit erhalten, ihre im Austausch und mit fachkundiger Unterstützung entwickelten Strukturen erfolgreicher Zusammenarbeit längerfristig zu erproben. Die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I sollen innerhalb der Tandems federführend an der Konzept- und Netzwerkentwicklung beteiligt werden. Die Idee hinter dem Projekt ist es, die Angebote von Museen den Wünschen und Vorstellungen junger Besucher/-innen anzupassen. Die Fragen lauten: Was wünschen sich Kinder und Jugendliche? Wie müssen Ausstellungen gestaltet werden, um ein junges Publikum zu binden? Jugendliche, sind schließlich die Museumsbesucher der Zukunft. Die Schülerinnen und Schüler einzubinden, ist eine Doppelstrategie, die eine Situation schafft, von der beide Seiten profitieren. Einerseits haben die Kinder die Möglichkeit, aktiv ein Angebot zu kreieren, das sowohl inhaltlich als auch in seiner Form perfekt den eigenen Idealen von Museumsarbeit entspricht, andererseits haben die Museen die Chance, durch den unmittelbaren Kontakt vom jungen Publikum zu lernen, wo Schwächen und Stärken in ihren bisherigen Konzepten liegen. fashion@society – Modedesign, Jugendkulturen, soziale Identitäten Das Erschließen neuer Bereiche und Zielgruppen ist eine permanente Zielsetzung, die für die Arbeit politischer Bildner charakteristisch ist. Gerade weil, wie bereits eingangs erwähnt, die klassischen Kategorisierungen "politikferner" Zielgruppen immer weniger greifen. Ein weiterer Versuch, ein gut ausgebildetes, junges und kreatives Publikum zu erreichen, das trotzdem politisch wenig interessiert ist, war das Symposium "fashion@society – Modedesign, Jugendkulturen, soziale Identitäten". Mit diesem Projekt widmete sich die bpb einem neuen Experimentierfeld der kulturellen Bildung und wagte sich erstmals an den Themenkomplex Mode und Politik heran. Vielen Menschen erscheint Mode auf den ersten Blick als eine rein individuelle Ausdrucksform, als bloße Demonstration des persönlichen Geschmacks. Aber unsere Garderobe ist unabhängig von ihrer Herkunft – ob Haute Couture, Second-Hand oder Kleidung vom Textil-Discounter – nicht nur als bloße Stoffhülle zu verstehen, sondern hat darüber hinaus identitätsstiftenden Charakter. Sie ist ein Medium, mit dem zwangsläufig jeder Mensch tagtäglich aktiv und passiv konfrontiert wird. Kleidung ist der kulturelle Code eines Lebensgefühls, des sozialen Status, und nicht selten ist sie mit einer bestimmten Jugend- und Musikkultur verbunden, wie Klaus Farin, der Leiter des Archivs der Jugendkulturen anhand anschaulicher Beispiele verdeutlichte. Neben Diskussionsrunden mit Modeprofis, wie der Kölner Designerin Eva Gronbach und Vorträgen von Experten wie Jeroen van Rooijen, dem Stilredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, der den Einfluss der sogenannten Street-Style-Blogs auf die Modewelt erörterte, wurden auch Ergebnisse von Schülerworkshops gezeigt, in denen sich Jugendliche zum Beispiel kritisch mit den Bildern in Hochglanzmagazinen beschäftigten. Ein Schüler der Rütlischule in Berlin-Neukölln stellte das Sozialprojekt Rütliwear vor, bei dem die Jugendlichen selbst Motive entwerfen, sie auf Kleidungsstücke drucken und verkaufen. Dorothea Melis, ehemalige Redakteurin der "Sibylle", der einzigen Modezeitschrift der DDR, zeigte nicht nur eine große Anzahl beeindruckender Fotos, sondern zeichnete anhand dieser auch die Schwierigkeiten und Probleme nach, mit denen kreative Modeschöpfer, aber auch Fotografen und modebegeisterte Menschen, unter dem sozialistischen Regime konfrontiert wurden. Die "Lifestyles" junger Muslime in Deutschland wurden ebenso thematisiert wie die Zusammenhänge der Mode, die Jugendliche tragen, und ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu. Anhand von Präsentationen, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und einem neuen, interaktiven Talkshowformat des Korsakow-Instituts zum Abschluss des Abends, wurde die Vielfalt und Bedeutung der Mode als ein kulturell-ästhetisches Zeichensystem mit gesellschaftlicher Relevanz offengelegt, als ein alltägliches Mittel, das sowohl für individuelle Identität als auch als Symbol von sozialer Abgrenzung und Zugehörigkeit von formativer Bedeutung ist. Die Tagung wurde in Kooperation mit dem Goethe-Institut im Rahmen des 2009 zum zweiten Mal ausgeschriebenen Wettbewerbs für Nachwuchsdesigner "createurope: The Fashion Design Award" veranstaltet. Der Wettbewerb, getragen vom Goethe-Institut und EUNIC, hat sich zum Ziel gesetzt, die Kreativszenen über Europa hinaus zu vernetzen und einen intensiven interkulturellen Austausch zwischen angehenden Talenten und Mode(hoch)schulen nachhaltig zu fördern. Mit dem Symposium schaffte es die bpb, nicht nur ein neues Themenfeld zu betreten, sondern auch die anvisierte und bis dato kaum in den Fokus der politischen Bildung genommene Zielgruppe zu erreichen: junge, kreative und künstlerisch veranlagte Menschen, deren Interessen üblicherweise eher Fashion, Design und Lifestyle als politische Bildung sind: 69,1 Prozent der Teilnehmer/-innen besuchten zum ersten Mal eine Veranstaltung der bpb, beinahe 90 Prozent gaben an, neue, interessante Erkenntnisse gewonnen zu haben. Die positive Resonanz und der Erfolg sämtlicher Veranstaltungen, die im Bereich der kulturellen politischen Bildung bisher durchgeführt wurden, zeigen, dass sich die bpb auf einem guten Weg befindet. Sie profitiert von der eigenen Offenheit, sich mit neuen Entwicklungen mutig auseinanderzusetzen und Konzepte zu entwickeln, die sich eng an die Interessen der Bürgerinnen und Bürger anlehnen. Projekte der kulturellen politischen Bildung bieten für die bpb Vermittlungsmöglichkeiten und Kommunikationswege, die sich an den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen orientieren. Sie ermöglichen es, neue Zielgruppen zu erschließen und an Inhalte der politischen Bildung heranzuführen. Aspekte der kulturellen Bildung erweitern und bereichern somit das Spektrum der Formate und Methoden der politischen Bildungsarbeit und werden es auch künftig in wachsendem Maße tun.
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Sabine Dengel, Milena Mushak, Dominic Sickelmann
2021-06-23T00:00:00
2012-01-26T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59956/neue-wege-fuer-die-politische-bildung/
Die bpb verfolgt das Ziel, möglichst viele Menschen für Angebote der politischen Bildung zu öffnen. Ein wichtiger Baustein ist die Auseinandersetzung mit aktuellen kulturellen Angeboten aller Sparten – von Film über Musik und Theater bis hin zu Perfo
[ "politische Bildung", "Kulturangebot", "bpb", "Projekte" ]
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Krankheit als Werturteil | Krankheit und Gesellschaft | bpb.de
Krankheit ist ein soziales Ereignis. Wir erfahren Krankheit in unserem Alltag als bösartige Einschränkung durch Leid und/oder Schmerzen und sind deswegen bereit, für eine bestimmte Zeit – etwa im Krankenhaus – noch erheblich weiter reichende Einschränkungen und Regulierungen unseres alltäglichen Lebens zu akzeptieren, wenn dies die Heilung und das Ende der krankheitsbedingten Einschränkungen verspricht. Dafür erwarten wir Verständnis von unserer Umgebung und akzeptieren üblicherweise auch Einschränkungen, die uns die Erkrankungen anderer bereiten. Krankheit ist auch ein Bedürfnis nach Hilfe und Unterstützung. Sucht man nach den verschiedenen historischen Organisationsformen der Unterstützung für Kranke, stößt man bald auf die charakteristische Doppelrolle der Medizin: Medizin leistet nicht nur Hilfe, sondern ist wesentliche Instanz für die Unterscheidung von Gesunden und Kranken; sie veranlasst und begründet somit ihr eigenes Handeln, wie auch das von Individuen und Gemeinschaften. Der historische Blick zeigt zudem, dass Krankheitsbegriffe und Unterscheidungskriterien sich, abhängig von historischen und gesellschaftlichen Umständen, kontinuierlich wandeln und kein überzeitlicher Krankheitsbegriff existiert. In diesem Sinne gilt es, zu untersuchen, von welchen Krankheitsbegriffen die Menschen jeweils ausgingen. Gerade in der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit verleiht eine Gesellschaft ihren grundlegenden Norm- und Idealvorstellungen vom Menschen Form; Medizin macht diese im jeweils aktuellen Wissen vom Menschen wie auch in ihrer medizinischen Praxis explizit. Auch als historischer Vorgang medizinischer Begriffsbildung ist Krankheit somit ein soziales Ereignis. Anhand der fünf Beispiele Aussatz, Gesundheitsfürsorge, psychische Krankheit, Geschlecht und Eugenik, die von alttestamentarischer Zeit bis ins 20. Jahrhundert reichen, beleuchten wir im Folgenden verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Krankheit in Deutschland, vor allem aber mit den erkrankten Menschen. Aus-Satz Ein frühes und besonderes drastisches Beispiel für den Umgang mit Erkrankten ist die Lepra: Bereits seit dem Mittelalter werden Leprose im Deutschen als "Aussätzige" bezeichnet, seit dem 16. Jahrhundert bürgerte sich die deutsche Bezeichnung "Aussatz" als Krankheitsbezeichnung ein. Die rigide Trennungsregel, die eine strikte wohnliche Trennung zwischen Leprakranken und Gesunden fordert, geht vordergründig auf das Alte Testament zurück. Allerdings ist im hebräischen Text von "tsara’at" die Rede, eine Bezeichnung, die auf eine religiös-rituell verstandene Unreinheit verweist, und nicht allein Menschen, sondern auch Tiere oder Häuser betreffen kann. Als dieser Text noch vorchristlich von gelehrten Juden ins Griechische übersetzt wurde, wählten sie den Terminus "lepra", der allerdings der antiken medizinischen Fachsprache entstammt. Bezeichnet wurde damit eine undramatische und schmerzlose, wenig auffällige weißlich-schuppige Veränderung der Haut. In dieser Form und Bedeutung hielt die "lepra" Einzug in das Neue Testament der Christen. Anschließend änderte indes die Medizin den Bedeutungsrahmen ihres Fachterminus "lepra". Mit der Ausweitung auf die Erkrankung, die in der Antike als "elephantiasis" bekannt war, redefinierte die Medizin die "lepra" zu einer dramatischen, bösartig entstellenden, unheilbaren und tödlichen Erkrankung. Erst mit der Drucklegung der antiken Texte zu Beginn der Neuzeit wurde die begriffliche Verknotung des Lepra-Begriffes fassbar – und als erhebliches Problem erkannt. Wenn Ärzten die Aufgabe zukam, die "lepra" einwandfrei zu identifizieren, bedurfte es eines halbwegs klaren und unstrittigen Begriffs, was denn die "lepra" war, und wie daran Erkrankte zuverlässig erkannt, und anschließend aus-gesetzt werden könnten. Der biblische Text, die medizinische Überlieferung seit der Antike und die beobachteten Krankheitsphänomene ließen sich nicht widerspruchsfrei unter einen Begriff subsumieren. Schließlich firmierte der Aussatz seit dem frühen 16. Jahrhundert unter den "Unreinigkeiten der Haut" gemeinsam mit der "Räude" und der "Krätze". Die Figur des Ausgesetzten als des Ärmsten unter den Armen, denen sich Christus mit besonderer Hingabe widmet, findet sich im Neuen Testament und tauchte in der Folge regelmäßig auch in Heiligenviten auf. Außerdem gerieten durch die Umdeutung der Hiobsfigur zum Leprosen die von Gott geprüften, auserwählten und damit Gott besonders nahen Leprakranken in den Blick. Die gesellschaftliche Reaktion einer Welt, die sich als christlich begriff, konnte sich nicht auf die rigide Ausgrenzung der Leprosen beschränken. In diesem Sinne wurden – stets außerhalb der Stadtmauern – seit dem Hochmittelalter hunderte von Lepraspitälern angelegt und unterhalten. Das Stigma "Lepra" führte so gleichzeitig zur Ausgrenzung wie auch zur Berechtigung, in Lepraspitälern versorgt zu werden. So wurden seit dem 16. Jahrhundert Klagen über die Simulation von Aussatz sowohl in Polizei- und Bettelordnungen als auch in der medizinischen Literatur laut. Mehr und mehr verloren die Leprosen somit ihren Sonderstatus gegenüber anderen Erkrankten; die Leprosorien gerieten in den Ruf, vorwiegend als Unterschlupf für faules und verbrecherisches Gesindel zu dienen. Höhepunkt war der Prozess gegen die "Große Siechenbande" 1710–1712 in Düsseldorf, auf den die Schließung sämtlicher Leprosorien der niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Berg, bald darauf auch in Kurköln folgte. Ende der 1870er Jahre machte die Entdeckung des Lepra-Erregers im noch jungen bakteriologischen Diskurs Furore. Leprakranke gab es in dieser Zeit nördlich der Alpen nur noch im Baltikum und in Skandinavien. Die Ausgrenzung Leproser bleibt allerdings bis heute ein erhebliches Problem: So werden weltweit 77 Gesetze gezählt, die Leprose diskriminieren. Krankheit und Armut Annähernd zeitlos scheint auch die Debatte über Armut und Krankheit. Dass mangelhafte Lebensumstände – allen voran Hunger – unmittelbar oder auch mittelbar zu Krankheiten und Tod führen, liegt auf der Hand. Wenn aber umgekehrt Armut definitorisch den Rang einer Krankheit erlangt, wie in der Präambel der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 1946 ("Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens"), wird eine Analyse des spezifischen Verhältnisses von Armut und Krankheit unmöglich. Zusammenhänge zwischen Armut und Krankheit wurden schon im Mittelalter berücksichtigt: So prüften Hospitäler die "Hospitalfähigkeit" der um Aufnahme Nachsuchenden, wobei Krankheit ein bevorzugter Aufnahmegrund war, und Bettel- und Almosenordnungen des Spätmittelalters unterschieden zwischen den "unwürdigen", weil "faulen", und den "würdigen" Bettlern, wobei erneut Krankheit ein vorrangig akzeptabler Grund für die Bettelerlaubnis wurde. Vor dem Hintergrund aufklärerischer Vorstellungen von "Nützlichkeit" wurde Gesundheit gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur ersten Bürgerpflicht. In seiner programmatischen Schrift "Von den Vortheilen der Krankenhäuser für den Staat" (1790) erklärte Adalbert Friedrich Markus, Leibarzt des Fürstbischofs von Würzburg und Bamberg, Armut und Krankheit zu den mächtigsten Feinden der menschlichen Natur, "welche auf Kosten des Staates großes Verderben anrichten". Christoph Wilhelm Hufeland, Leibarzt des preußischen Königs, proklamierte 1809 gar: "Der Kranke allein ist arm. – ein Mensch, der noch gesund ist an Leib und Seele, ist nicht arm […]. Aber wenn Krankheit zur Dürftigkeit kommt, dann erst tritt die wahre Hülflosigkeit ein, und es wird heilige Pflicht der Mitmenschen und des Staates, dem Verlassenen beizustehen." Die Bedeutung staatlicher und kommunaler Fürsorge-Institutionen verstärkte sich seit dem 19. Jahrhundert, als in bis dahin nicht gekanntem Maße Menschen in die Zentren der Industrialisierung wanderten. Sobald sie auf dem Weg erkrankten oder, etwa aufgrund von (Arbeits-)Unfällen, nicht weiter arbeiten konnten, fehlten die traditionellen Versorgungsnetzwerke in Familie, Nachbarschaft und dem kirchlichen Umfeld. Die Dienstherrschaften entließen ihre erkrankten Mägde wie die Handwerksmeister ihre erkrankten Knechte, Lehrlinge und Gesellen, die Kommunen organisierten das Verbringen dieser Menschen in "Bettelfuhren". Vielerorts wurden deshalb im 19. Jahrhundert Krankenhäuser errichtet, die ausdrücklich als Armenkrankenanstalten firmierten. In Verträgen mit den kommunalen Armenkassen wurden fixierte Pflegesätze vereinbart, daneben existierten Verabredungen mit den Dienstherrschaften, Handwerksvereinigungen und Gesellenvereinen, die gegen regelmäßige Abonnementgebühren sicherstellten, dass erkranktes Personal verpflegt wurde. Die aufblühenden Universitäten und ihre Medizinischen Fakultäten waren ebenfalls stark an der Belegung von Krankenhausbetten interessiert, da die neue Form (natur)wissenschaftlich geprägter medizinischer Forschung auf der Beobachtung von, und mehr und mehr auch auf Experimenten an erkrankten Armen in Forschung und Lehre beruhte, wie sie in dieser Masse nur in Krankenhäusern gelingen konnte. Als Zahlenreihen darstellbare Parameter zur Beschreibung von Krankheitszuständen (Fieber, Blutdruck) sind Produkte der Krankenhausmedizin der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mehr und mehr ersetzten Tabellen und Kurven den Erfahrungsbericht der erkrankten Person. Zugleich geriet die vergleichende Beobachtung der Krankheiten zum Goldstandard klinischer Ausbildung. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen führte die deutsche Reichsregierung unter Kanzler Otto von Bismarck die Sozialversicherung der Fabrikarbeiter ein (Krankenversicherung 1884, Unfallversicherung 1885, Rentenversicherung 1891). Eine Krankenversicherung war ursprünglich nicht vorgesehen, wurde aber notwendig, als der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann im Reichsamt des Innern den Leistungsbezug der Unfallversicherung auf die 14. Woche nach einem Unfall festlegte. Unauffällig im Windschatten der Debatte um die Unfallversicherung wurde somit die wohl folgenschwerste gesundheitspolitische Entscheidung der letzten 150 Jahre getroffen. Lohmanns Idee folgend trugen die zwangsversicherten Arbeiter zwei Drittel der Beiträge, waren im Gegenzug aber mit der gleichen Quote an deren Selbstverwaltung maßgeblich beteiligt – und wurden so zu entscheidenden Agenten der Gesundheits- und Sozialpolitik. Vorerst stand vor allem Krankentagegeld im Mittelpunkt, bald aber die Gewährung von Medikamenten, Heilmitteln und ärztlicher Behandlung gegebenenfalls im Krankenhaus. Bis zum Ersten Weltkrieg führten verschiedene Reformen zur Versicherungspflicht für Angestellte und weitere Berufsgruppen und ergänzten deren Familienangehörige als Mitversicherte. Das Hufeland’sche Programm ("Der Kranke allein ist arm") vom Beginn des 19. Jahrhunderts war damit weitgehend eingelöst: Zum einen priorisiert die gesetzliche Sozialversicherung die Arbeit in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Das seit dem 19. Jahrhundert proklamierte "Recht auf Arbeit" umfasste damit in mancherlei Hinsicht ein "Recht auf Gesundheit" im Sinne der Sozialversicherungspflicht. Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung definierten per Gesetz "Krankheit" als Arbeitsunfähigkeit, die durch umlagefinanzierte Gesundheitsdienstleistungen zu verhüten und zu beseitigen sei. Zum anderen wurden Form und Umfang dieser Leistungen nunmehr ausschließlich durch ärztliche Entscheidungen über den Gesundheitszustand der Betroffenen bestimmt. Psychische Krankheiten Sind die Abgrenzung und Definition und demzufolge der Umgang mit körperlichen Krankheiten wie der Lepra bereits historischen Veränderungsprozessen unterworfen, so trifft dies für psychische Krankheiten in besonderem Maße zu. Allein das Konzept "psychische Krankheit" ist erst wenig mehr als hundert Jahre alt. Es setzt die Idee einer abgrenzbaren Psyche voraus, die analog zur körperlichen Beeinträchtigung erkranken kann – eine Vorstellung, die stark durch den Psychologen Sigmund Freud mitgeprägt wurde und der Tendenz der modernen Medizin entspricht, Krankheiten nach Ursachen oder befallenem Organ zu kategorisieren. Ganz anders wurde das Phänomen "Wahnsinn", oder neutraler ausgedrückt "stark normabweichende Wahrnehmung, Denkfähigkeit und/oder Verhalten", in der vormodernen Medizin gefasst: Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein unterschied die medizinische Lehre nicht zwischen körperlichen und geistigen Krankheiten, sondern ordnete Krankheiten hauptsächlich anhand ihrer typischen Symptome ein. So konnte sich ein spezielles Fieber außer durch die erhöhte Körpertemperatur und typisches Ausscheidungsverhalten auch durch Halluzinationen oder Tobsucht definieren. Krankheiten ohne körperliche Symptome wurden allerdings kaum beschrieben; so zeichnete sich etwa das Krankheitskonzept der Melancholie – deren Begriff im heutigen Vokabular nur noch für niedergedrückte Stimmung steht – insbesondere auch durch charakteristische Verdauungsbeschwerden, Krampfadern sowie diverse somatische Zeichen wie etwa blasse Haut und starren Blick aus. Störungen der Geistestätigkeit wurden genauso auf materielle Vorgänge im Körper zurückgeführt wie alle anderen Krankheiten auch; gleichzeitig ging man davon aus, dass starke Emotionen und Wahrnehmungseindrücke erheblichen Einfluss auf die Körpersäfte und somit auf die Gesundheit nähmen. Geistestätigkeit und Materie des Körpers waren damit in der vormodernen Medizin sehr eng miteinander verschlungen. Die Diagnose von "Wahnsinn" war in der Praxis keinesfalls den Ärzten vorbehalten. "Wahnsinn" ist und war eine sozial determinierte Kategorie, mit der Menschen normabweichenden Verhaltens aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden: Ihre Stimme muss nicht mehr gehört werden, und sie verlieren ihre Selbstbestimmung. Ihr Leben findet am Rand oder außerhalb der Gesellschaft statt. Ob jemand als wahnsinnig zu gelten habe, schien in historischer Zeit zumeist selbstevident zu sein, auch für das Einsperren zuhause oder in einem Irrenhaus mit entsprechenden Zwangsmaßnahmen. Verwandte, örtliche Autoritäten und besonders die Gerichte konnten aber Ärzte als Spezialisten heranziehen, um bei Bedarf deren Meinung einzuholen oder Therapiemöglichkeiten auszuloten. Man wusste, dass die medizinischen Mittel sehr begrenzt waren. Es gab in der Vormoderne allerdings auch alternative Deutungsmuster; so konnte "Wahnsinn" insbesondere als moralische Schwäche, mangelnde Charakterfestigkeit oder religiöse Devianz verurteilt werden. Entsprechend sahen sich die Anstaltsleiter der Irrenanstalten des frühen 19. Jahrhunderts als gestrenge Väter ihrer Zöglinge – und Heilung geriet zur Erziehung. Wie in den Armenkrankenhäusern dieser Zeit stand im Zentrum der Bemühungen, die Arbeitskraft in einer standes- und geschlechtsgemäßen Beschäftigung wiederherzustellen, sowie Fleiß, Moral und Gottesfurcht. Solche oder ähnliche gesellschaftlich determinierte Normvorstellungen bestimmten noch im 20. Jahrhundert die psychiatrische Praxis: Der durch sein abweichendes Verhalten ausgeschlossene Patient sollte in die Lage versetzt werden, wieder Teil der "normalen" Gesellschaft zu werden. Im Zuge ihrer Ausrichtung auf naturwissenschaftliche Methoden versuchte die Medizin seit dem späten 19. Jahrhundert mehrfach, sich dieser gesellschaftlich determinierten Dimensionen von Krankheit zu entledigen. Insbesondere zwischen 1910 und 1930 diskutierten Ärzte intensiv darüber, wie "Krankheit"/"Gesundheit" und "normal"/"anomal" innerhalb des naturwissenschaftlichen Paradigmas eindeutig voneinander abgegrenzt werden könnten, zum Beispiel mithilfe statistischer Methoden. Zu einer Lösung des Problems fanden sie nicht. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers schloss deshalb weitsichtig, dass in jeder Verwendung des Begriffs "krank" "ein Werturteil ausgedrückt wird". Eine rein medizinische Definition sei nicht möglich. Geschlecht und Deutungsmacht der Medizin Diese Werturteile unterscheiden sich jedoch nicht nur im historischen Zeitverlauf, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft. Sie werden davon beeinflusst, welche Verhaltensnormen für eine gesellschaftliche Gruppe – abhängig von sozialem Stand, Alter und Geschlecht – zutreffen. Was für die eine Gruppe ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten ist, kann für die andere schon als "Wahnsinn" gelten. Somit kommt der modernen Medizin eine erhebliche Deutungsmacht über Fragen nach Gesundheit und Krankheit, Körper und Psyche, Verhalten und Identität zu. Ein Beispiel dafür ist die Hysterie, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in aller Munde war. Diese auf Frauen beschränkte Geisteskrankheit zeichnete sich durch einen leicht erregbaren Grundcharakter der Patientinnen aus und konnte sich in unzähligen Symptomen äußern: Krampfanfälle, Phantomschmerzen, geistige und sensorische Ausfälle (etwa Blindheit), Ohnmachten, starke Gefühle, theatralisches Benehmen und vieles mehr. Gerade leichtere Symptome waren eng mit gesellschaftlichen Normvorstellungen verknüpft. Sigmund Freud und Josef Breuer beschrieben etwa bei Patientinnen, die sie in den 1890er Jahren in Wien behandelten, dass diese sich Tagträumereien und ihrer überbordenden Fantasie hingaben, statt sich auf Handarbeiten zu konzentrieren, keine Lust an weiblichen Tätigkeiten entwickeln konnten und stark negative Gefühle gegenüber Familienmitglieder entwickelten. So wurde als Grund für einen Anstaltsaufenthalt von sogenannten Hysterikerinnen immer wieder die Unfähigkeit oder der Unwillen genannt, den Haushalt zu führen – also ihrer sozialen Rolle nachzukommen. Dabei konnten sowohl Ehemänner oder andere Familienmitglieder die Einweisung betreiben als auch Patientinnen aus eigenem Leidensdruck heraus psychiatrische Hilfe suchen. Das zeigt, wie anfällig die oft normenbezogene Definition von Geisteskrankheit für Missbrauch ist – gerade weil die Diagnose von Wahnsinn oder Geisteskrankheit die Patienten zusätzlich ihrer Stimme beraubt und entmündigt. In diesem Sinne wurde die Diagnose auch häufig im öffentlichen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts verwendet, um Frauen mit ihren Anliegen zu diffamieren, etwa Forderungen der Frauenbewegung. Stigmatisierend war die Diagnose mit der Frauenkrankheit "Hysterie" auch für Männer. Da die Diagnose den Betroffenen einen hysterischen Grundcharakter unterstellte, mussten männliche Hysteriker als "verweiblicht" oder gar "weibisch" gelten. Ein solch ehrenrühriges Urteil wurde allerdings hauptsächlich über Patienten der unteren Schichten verhängt und bürgerlichen Männern, also Standesgenossen der behandelnden Ärzte, nicht zugemutet. Für diese wurde in der Folge mit der Neurasthenie eine positiv besetzte Krankheit entwickelt, die ähnliche Symptome abdeckte. Wie später der "Burn-out" als "Managerkrankheit" die prinzipielle Leistungsfähigkeit der Erkrankten hervorhob, war auch die Neurasthenie mit dem Druck einer Leitungsposition und überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten verknüpft – Eigenschaften eines Mannes der Oberschicht. Wie dieses Beispiel und bereits das Beispiel Armut und Krankheit zeigte, haben Ärzte und Medizin seit der frühen Neuzeit nicht nur ihre Aufgaben- und Kompetenzgebiete erfolgreich ausgeweitet, sondern schafften es vor allem auch, ein vernunftgeleitetes Deutungsangebot zu etablieren, das mit wissenschaftlicher Autorität umfassende Handlungsanweisungen und Antworten auf gesellschaftliche Fragen vorbrachte. So suchten Ärzte als Spezialisten für menschliche Biologie zu erklären, weshalb Frauen sowie Angehörige der Unterschichten und anderer "Rassen" weniger wert seien als der bürgerliche weiße Mann. Die "Frauenkrankheit" Hysterie ist in diesem Zusammenhang nur ein kleines Rädchen im großen Gefüge medizinischer Ausdeutung, Bewertung und Sanktionierung weiblichen Verhaltens. In einer "weiblichen Sonderanatomie" wurden nicht zufällig seit dem 18. Jahrhundert (unter Rückgriff auf die Antike) die Mängel und Abweichungen des weiblichen Körpers thematisiert – etwa zur selben Zeit, als die Aufklärung die traditionellen Geschlechterrollen infrage stellte und in der Französischen Revolution die Menschenrechte auch für Frauen gefordert wurden. Die vormals absolute Gewissheit, dass Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Position zukäme, erhielt dadurch nachhaltige Risse. In diesem eigentlich gesellschaftspolitischen Streit traten Ärzte als ausgewiesene Fachmänner für den "weiblichen Geschlechtscharakter" auf und stellten wie der Anatom und Physiologe Theodor Bischoff 1872 im Namen der wissenschaftlichen Medizin klar: "Denn es hat sich dabei durch die unparteiischste und gründlichste anatomische und physiologische Forschung herausgestellt, dass das Weib entschieden ungleich schwächer ist, in seiner ganzen Organisation einen minder hohen Entwicklungsgrad erreicht hat, und in allen Beziehungen dem Kinde näher steht, als dem Mann." Frauenärzte prophezeiten studierwilligen Frauen noch in den 1890er Jahren diverse körperliche wie geistige Krankheiten und vor allem Unfruchtbarkeit. Erst 1896 (Abitur) beziehungsweise 1900 (Studium im Großherzogtum Baden) erhielten Frauen im Kaiserreich Zugang zu höherer Bildung. So trugen Mediziner mit ihrer wissenschaftlichen Autorität aktiv dazu bei, dass Frauen neben der Studierfähigkeit politische Rechte ebenso verwehrt wurden wie die Bestimmung über ihre Finanzen, Vormundschaft über die eigenen Kinder oder die körperliche Selbstbestimmung in der Ehe. Ist das historische Beispiel der medizinisch untermauerten Geschlechterrollen besonders eindrücklich, so sollte es nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieselbe Denkfigur bis heute verwendet wird, um soziale Zuschreibungen durch wissenschaftliche Autorität im Körper der Betroffenen zu verankern. So, wie die Medizin Armut als medizinisches Problem definierte und die Ordnung der Geschlechter legitimierte, trat bald darauf die Hygiene an, die Umwelt der Menschen und deren Verhalten darin medizinisch zu erörtern, bis Vererbungslehre und Eugenik – im Verbund mit der Psychiatrie – dazu übergingen, Sexualität und Fortpflanzungsverhalten der Menschen nach medizinischen Maßstäben zu bewerten und nach Möglichkeit zu regulieren. Hygiene, Eugenik, Krankenmord Zunächst initiierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Hygiene städtebauliche Maßnahmen wie die Versorgung europäischer Städte mit "gesundem" Trinkwasser aus Wasserleitungen und die anschließenden Entwässerung mittels Kanalisation. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dann die "soziale Hygiene" als "die Lehre von den Einflüssen der Umwelt auf die Gesundheitsverhältnisse von Bevölkerungsschichten, Gemeinden und Staaten"; sie formulierte auf neue, detaillierte Weise das Verhältnis von "Krankheit und sozialer Lage" und legte in den 1920er Jahren die Grundlage der modernen Gesundheitswissenschaften und Public Health-Forschung. Mit der breiten Rezeption der darwinschen Evolutionsbiologie und der Vererbungsgesetze von Otto Mendel – und schließlich ihrer unheilvollen Verknüpfung miteinander und mit dem Hygiene-Diskurs – geriet ein neuer Aspekt in die medizinische und öffentliche Debatte. Der Bakteriologe Ferdinand Hueppe befand 1925, "daß das Individuum nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erhaltung der Art ist", in welchem Zuge "Humanitätsdusel sogar zu einer Gefahr werden kann, wenn Minderwertige besser betreut werden als die kernhaft Gesunden, von deren Erhaltung, Stärkung und Fortpflanzung die wirtschaftliche und nationale Leistungsfähigkeit eines Volkes und Staates abhängt". Fortan wurde immer häufiger diskutiert: Inwiefern sind bestimmte Erkrankungen, unerwünschte Verhaltensweisen und die Neigung zur Kränklichkeit vererblich? Inwiefern bevorzugt ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat solche unerwünschten Eigenschaften und wirkt damit der "natürlichen Selektion" entgegen? Welche – unter diesen Umständen gar vermeidbaren – Kosten entstehen der Allgemeinheit dabei? Schließlich: Liegt nicht der uralte Menschheitstraum von glücklichen Menschen in einer gesunden Gesellschaft zum Greifen nahe, wenn Krankheiten durch Kontrolle der Fortpflanzung weitestgehend verhindert werden können? Mit diesen Fragen beschäftigte sich wissenschaftlich die Erbgesundheitslehre als Rassenhygiene beziehungsweise Eugenik. Eine darauf beruhende Bevölkerungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik konnte auf der einen Seite versuchen, die Vererbung besonders erwünschter Eigenschaften zu fördern ("positive Eugenik"), gleichzeitig aber auch die Vererbung unerwünschter Eigenschaften durch das Verhindern der Fortpflanzung unter deren (vermeintlichen) Trägerinnen und Trägern zu verhindern ("negative Eugenik"). So oder so aber wurde grundlegend, die Bevölkerung nach den Trägern erwünschter und unerwünschter (mutmaßlich) vererblicher Eigenschaften zu klassifizieren, um anschließend ihr sexuelles Verhalten zu steuern. In diesem Zusammenhang war seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine schlüssige Gesetzgebung zur Sterilisation diskutiert und insbesondere von Ärzten zum Teil vehement gefordert worden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs existierten in 16 Staaten der USA Gesetze zur Unfruchtbarmachung von "Gewohnheitsverbrechern", "Idioten" und Sexualstraftätern. Deutschland, so schien es den Eugenikern, hinkte international hinterher, bis im Sommer 1933 die nationalsozialistische Reichsregierung unter Adolf Hitler mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" weltweit erstmals ein Verfahren einführte, das die Unfruchtbarmachung auf Beschluss von "Erbgesundheitsgerichten" auch gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen und ihrer Angehörigen vorschrieb. Auf dieser gesetzlichen Grundlage wurden in Deutschland zwischen 1934 und 1945 etwa 400000 zuvor von ärztlichen Gutachtern als "erbkrank" befundene Menschen ihrer Fruchtbarkeit beraubt. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurde erst 1974 aufgehoben, erst 1988 geächtet. Der größere Teil der Opfer ist nicht entschädigt worden. Aus Kranken wurden "Ballastexistenzen", wie der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche schon 1920 formulierten. Ihre Programmschrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" schließt in der Hoffnung: "Wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der Geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt." Es sollte noch zwei Jahrzehnte dauern, bis dies im nationalsozialistischen Krankenmord massenhaft praktiziert wurde. Vollständig umgedeutet und entstellend wurde die Bezeichnung "Euthanasie" dafür gängig, Kranke durch Tötung "von ihren Leiden zu befreien". Im Unterschied zu den Zwangssterilisationen sind die großangelegten Krankenmorde, denen mehr als 300000 Kranke zum Opfer fielen, nie auch nur unter den Schein der Legalität gestellt worden. Joseph Goebbels sprach in seinem Tagebuch 1941 von der "stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken". Die organisierte Tötung von Erwachsenen wurde eingestellt, nachdem sich der entschiedene Einspruch dagegen zunehmend öffentlich formulierte; als Wegmarke gilt die Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen im August 1941. Fortgeführt wurde die Ermordung Kranker in den Arbeits- und Konzentrationslagern, die sogenannte Kinder-Euthanasie sowie die Tötung durch Vernachlässigung, Nahrungsentzug und die Gabe von Betäubungsmitteln dezentral innerhalb der psychiatrischen Anstalten. Fazit In den meisten entwickelten Industriestaaten der westlichen Welt ist der Gesundheitssektor inzwischen der umsatzstärkste Wirtschaftszweig. Hat also im gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit die Barmherzigkeit gesiegt? Keinesfalls. Das Aussatzmuster, wie wir es am Beispiel der Lepra eingeführt haben, ist insbesondere bei ansteckenden Erkrankungen immer wieder neu zu beobachten, so in den 1980er Jahren am Beispiel AIDS/HIV, zuletzt im Zuge der Ebola-Epidemie. Aktuell wird auch das Verhältnis von Krankheit und Armut bleiben. Am Beispiel der Transgender-Debatte erleben wir eine Umbruchsituation in der Frage, was eigentlich "Geschlecht" definiert; ebenso geben überwunden geglaubte Spielarten des Rasse-Diskurses ihr Comeback. Die ambivalente Haltung gegenüber psychisch Kranken hat etwa der 2011/12 publik gewordene "Fall Gustl Mollath" ebenso deutlich gemacht wie die aktuelle Debatte um das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in Bayern. Zugrunde liegt nicht zuletzt ein medizin- und wissenschaftstheoretisches Problem: Ein überzeitlich gültiger Krankheitsbegriff ist unmöglich, er kann sich auch nicht aus der Summe von einzelnen Krankheitsbezeichnungen ergeben. Innerhalb der Medizin ändern sich die Bezugssysteme fortlaufend schneller: Welchen Krankheitswert etwa hat eine genetische Anomalie, von der (vorerst?) nicht bekannt ist, ob und welche Einschränkungen sie den davon Betroffenen bereitet? Schließlich wird der Grat zwischen besonderer Hinwendung und Fürsorge auf der einen, Abscheu und Segregation auf der anderen Seite systematisch auch deshalb ein schmaler bleiben, weil er auf der Unterscheidung zwischen Gesunden und Kranken beruht. Wir werden auch zukünftig Gesunde von Kranken unterscheiden, uns dabei vorrangig auf die Medizin verlassen, und Kranke anders behandeln als Gesunde. Vgl. 3. Buch Mose (Leviticus) 13, 45f. Vgl. Karl-Heinz Leven, Lepra, in: ders. (Hrsg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, S. 565ff. Vgl. Lorenz Fries, Spiegel der Artzny …, Straßburg 1518, f. clxxxii (v)–clxxxiiii (r). Vgl. Fritz Dross/Marion Maria Ruisinger, Krisenzeiten. Pest, Lepra und ihre Patrone, in: Marion Maria Ruisinger (Hrsg.), Heilige und Heilkunst, Ingolstadt 2009, S. 23–38. Vgl. Fritz Dross, Seuchenpolizei und ärztliche Expertise, in: Carl Christian Wahrmann/Martin Buchsteiner/Antje Strahl (Hrsg.), Seuche und Mensch, Berlin 2012, S. 283–301. Vgl. Martin Uhrmacher, Lepra und Leprosorien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Trier 2011, S. 188–196. Vgl. Henrik Eßler, Die Ärmsten der Armen … Aspekte einer Sozialgeschichte der Lepra im 20. Jahrhundert, in: Die Klapper 24/2016, S. 2–6. Adalbert Friedrich Markus, Von den Vortheilen der Krankenhäuser für den Staat, Bamberg–Wirzburg 1790, S. 9. Christoph Wilhelm Hufeland, Die Armenkrankenverpflegung zu Berlin, in: Journal der practischen Heilkunde 12/1809, S. 1–25; zum Hintergrund der Debatte vgl. Fritz Dross, "Der Kranke allein ist arm." Die Diskussion über den Zusammenhang von Krankheit und Armut um 1800, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1/2005, S. 1–15. Vgl. Ole Peter Grell/Andrew Cunningham/Robert Jütte (Hrsg.), Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Northern Europe, Aldershot 2002. Vgl. Ludwig Quidde, Arme Leute in Krankenhäusern, München 1900; Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996. Vgl. Florian Tennstedt/Heidi Winter, "Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen, und es ist nicht weise, die Sorgen der Zukunft freiwillig auf die Gegenwart zu übernehmen." Die Anfänge des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871, in: Zeitschrift für Sozialreform 41/1995, S. 671–700. Vgl. Nadine Metzger, Railway Spine, Shell Shock and Psychological Trauma, in: Eve-Marie Becker/Jan Dochhorn/Else K. Holdt (Hrsg.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions, Göttingen 2014, S. 43–61, hier S. 56f. Vgl. Edward Shorter, Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999. Vgl. Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Saturn und Melancholie, Frankfurt/M. 1990, S. 101–124. Vgl. Doris Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die "Erfindung" der Psychiatrie in Deutschland, 1770–1850, Göttingen 1995, S. 195–282. Vgl. dazu Shorter (Anm. 14), S. 56ff. Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie für Studierende, Ärzte und Psychologen, Berlin 19202, S. 4. Vgl. Alfons Labisch/Reinhard Spree (Hrsg.), Medizinische Deutungsmacht im sozialen Wandel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bonn 1989. Vgl. Karen Nolte, Gelebte Hysterie, Frankfurt/M.–New York 2003, hier S. 112–134. Vgl. Sigmund Freud/Josef Breuer, Studien über Hysterie, Frankfurt/M. 1991 (1916). Vgl. Nolte (Anm. 20), S. 53ff. Vgl. u.a. Londa Schiebinger, Am Busen der Natur, Stuttgart 1995. Vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte, Frankfurt/M. 1986. Theodor von Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen, München 1872, S. 14. Vgl. Arthur Kirchhoff (Hrsg.), Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin 1897, S. 126ff. Alfons Fischer, Grundriss der Sozialen Hygiene, Karlsruhe 19252, S. 1. Max Mosse/Gustav Tugendreich (Hrsg.), Krankheit und soziale Lage, München 1913. Ferdinand Hueppe, Zur Geschichte der Sozialhygiene, in: Eduard Dietrich (Hrsg.), Grundlagen und Methoden. Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfuersorge, Bd. 1, Berlin 1925, S. 5–70, hier S. 5. Vgl. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene, Frankfurt/M. 20175. Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Zwangssterilisation, in: Robert Jütte et al. (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 201–213. Vgl. Stefanie Westermann, Verschwiegenes Leid, Köln 2010; Henning Tümmers, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011. Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Leipzig 19222, S. 57. Vgl. Wolfgang Uwe Eckart, Medizin in der NS-Diktatur, Wien 2012, S. 133–149. Zit. nach Heinz Faulstich, Goebbels’ Tagebücher und der Abbruch der "Aktion T4", in: Christian Gerlach (Hrsg.), "Durchschnittstäter", Berlin 2000, S. 211f, hier S. 211. Vgl. Irene Papanicolas/Liana R. Woskie/Ashish K. Jha, Health Care Spending in the United States and Other High-Income Countries, in: JAMA – Journal of the American Medical Association 10/2018, S. 1024–1039. Vgl. Florian Bruns, Der gefährliche Irre in unseren Köpfen, 28.4.2018, Externer Link: http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-04/psychiatrie-gesetz-bayern-psychkhg-stigmatisierung-psychisch-kranke-nationalsozialismus. Vgl. z.B. Peter Hucklenbroich (Hrsg.), Wissenschaftstheoretische Aspekte des Krankheitsbegriffs, Münster 2013. Vgl. Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt/M. 1986.
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, Fritz Dross | , Nadine Metzger
2022-02-17T00:00:00
2018-06-06T00:00:00
2022-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270305/krankheit-als-werturteil/
Durch die Unterscheidung zwischen Gesunden und Kranken werden Normen für die medizinische Praxis gesetzt. Im Umgang mit Erkrankten spiegeln sich Werthaltungen zu Körper und Verhalten.
[ "Krankheit", "Lepra", "Armut", "Geschlecht", "Psyche", "Gesellschaft" ]
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Spain: How the Catalonia issue is eclipsing all other themes | euro|topics-Wahlmonitor | bpb.de
A Externer Link: snap general election will take place this Sunday in Spain. The minority government, led by Socialist Prime Minister Pedro Sánchez, Externer Link: collapsed in February after just a few months in office because the Catalan regional parties rejected the head of government's budget plan in parliament. They did this because in their opinion Sánchez hadn't made enough concessions to their side in the Catalonia conflict. The voters must now decide whether they want to be governed by a left-wing coalition under Sánchez's PSOE and the Podemos party or a right-wing coalition between the conservative Partido Popular (PP), the centre-right Ciudadanos party and the far-right newcomer Vox. These three parties managed to mobilise tens of thousands of voters in February to demonstrate in Madrid against Sánchez's government. PP leader Pablo Casado and Ciudadanos leader Albert Rivera even appeared together with Santiago Abascal, the leader of the far-right party Vox. Externer Link: euro|topics correspondent Tom Gebhardt, who scans the Spanish press for commentaries and translates them for the euro|topics European press review, explains in a video interview how the general election campaign is displacing the European Parliament campaign in Spain and which issues are decisive for the vote.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-04-26T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/et-wahlmonitor-2019/290265/spain-how-the-catalonia-issue-is-eclipsing-all-other-themes/
A look at Spain's EU Parliament election campaign - which, however, is currently eclipsed by the campaign for the national parliamentary elections - shows how the Catalonia crisis has stirred up tensions in the country. euro|topics correspondent Tom
[ "euro|topics: European Elections 2019", "European elections 2019", "Spain", "Spain" ]
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Editorial | Rechtsterrorismus | bpb.de
Das Jahr 2019 hat in besonderer Weise vor Augen geführt, dass die rechtsterroristische Gefahr real und akut ist: In der Nacht zum 2. Juni wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses ermordet; vier Monate später, am 9. Oktober, wurden in Halle an der Saale zwei Menschen erschossen – dass es nicht zum geplanten Blutbad in der Synagoge kam, ist lediglich einer massiven Holztür zu verdanken. Zahlreiche Meldungen über aufgefundene Waffenlager, kursierende Feindeslisten, offene Todesdrohungen und die Aufdeckung staatsfeindlicher Netzwerke, die bis in Polizeikreise reichen, lieferten weitere alarmierende Hinweise. Nicht jede rassistisch motivierte Straftat ist Terrorismus. Aber die Übergänge sind fließend, und auch Taten unterhalb dieser Schwelle übermitteln letztlich dieselbe menschenverachtende Botschaft. Die Vorfälle in Deutschland lassen sich in einen internationalen Kontext einordnen. Die gewaltbereite rechtsextreme Szene vernetzt sich grenzübergreifend, und die Massenmorde in Christchurch am 15. März und in El Paso am 3. August 2019 haben einmal mehr gezeigt, dass es ideologische Grundlagen gibt, die diese "Einzeltäter" teilen. Eine verbreitete Verschwörungserzählung ist etwa jene vom "großen Austausch", wonach "die weiße christliche" Bevölkerung auf Geheiß dunkler Mächte durch eine andere ersetzt werde. Der Angriff wird so zur Verteidigung, der Täter zum vermeintlichen Opfer. In Abstufungen hat dieses Gedankengut den Weg in deutsche Parlamente gefunden. Wer vom "Bevölkerungsaustausch" spricht, ruft zwar nicht zum Mord auf, bedient aber die Selbstviktimisierung potenzieller Gewalttäter. Am 26. Juni 2019 gedachte der Deutsche Bundestag Walter Lübckes. Vor dem Eintritt in die Tagesordnung mahnte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: "Menschenfeindliche Hetze war in der Vergangenheit und sie ist auch heute der Nährboden für Gewalt, bis hin zum Mord – und wer diesen Nährboden düngt, macht sich mitschuldig."
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Johannes Piepenbrink
2021-12-07T00:00:00
2019-11-28T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/301127/editorial/
[ "Rechtsextremismus", "Rechtsterrorismus", "Extremismus", "Terrorismus", "Gewalt" ]
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Russland und die internationalen Organisationen | Russland | bpb.de
Russland ist Mitglied in einer Vielzahl internationaler Organisationen, darunter ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in der Welthandelsorganisation, in der OSZE, im Europarat, in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), im Internationalen Olympischen Komitee, in der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (kurz OVKS, auch als "Taschkenter Vertrag" bekannt) und in einer Staatenunion mit Belarus. UN-Sicherheitsrat Russland ist ein ständiges Mitglied des Interner Link: UN-Sicherheitsrates und als solches eine potente Vetomacht. Seit der Perestroika (1985-1991) unter dem Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, setzte sich die sowjetische, später russische Politik für eine Stärkung der Vereinten Nationen bei der Regelung internationaler Konflikte ein. Vor dem Hintergrund nicht-mandatierter Interventionen westlicher Staaten bzw. des Missbrauchs von UN-Mandaten (vor allem im Kosovo 1999, im Irak 2003 und in Libyen 2011) ist Russland im UN-Sicherheitsrat immer weniger kooperationswillig. In jüngerer Zeit hat sich Russland konsequent allen Verurteilungen Syriens aufgrund von Verletzungen des Kriegsvölkerrechtes, insbesondere des Einsatzes von Giftgas, entgegen gestellt. Russland beteiligt sich nur sehr geringfügig mit ca. zwei Prozent der Finanzierung an friedenserhaltenden UN-Missionen, personell beteiligt sich Russland in der Regel nur mit wenigen Beobachtern an laufenden UN-Missionen. Das russische Mitspracherecht durch den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat steht in deutlichem Kontrast zur Bereitschaft, eigene Beiträge zu leisten. Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Die Interner Link: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde am 8. Dezember 1991 als Nachfolgeorganisation der Sowjetunion gegründet, sie dient nominell der Koordination von Handel, Finanzen, der Gesetzgebung und der Sicherheitspolitik der Mitglieder. Bei ihrer Gründung hatte die GUS elf Mitglieder (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und Ukraine). Die drei Baltischen Staaten betrachten ihre Eingliederung in die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges als völkerrechtswidrige Annexion und sehen sich folglich auch nicht als Nachfolgestaaten der UdSSR. Georgien trat erst 1993 ein und 2008 wieder aus, die Ukraine trat 2018 aus allen GUS-Organen aus. Beide Staaten reichten ihren Austritt nach der aus ihrer Sicht "russischen Aggression" gegen ihre Souveränität ein. Formell gibt es in der GUS einen Rat der Verteidigungsminister, doch seit Jahren finden keine Gipfeltreffen mehr statt, es handelt sich de facto um eine lose Assoziation von Nachfolgestaaten der Sowjetunion ohne politische Bedeutung. Die GUS kann am ehesten als Abwicklungsgemeinschaft für die Sowjetunion bezeichnet werden, die ihre Funktion nach der Erlangung der Souveränität der Nachfolgestaaten der Sowjetunion eingebüßt hat. Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) wurde 2001 verkündet und hat ihren Sitz in Peking. Die SOZ ist eine direkte Nachfolgeorganisation der 1996 initiierten sogenannten Schanghaier Fünf (China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan – 2001 schloss sich Usbekistan an). Ihr Zweck ist die sicherheitspolitische Zusammenarbeit und die Abstimmung von Wirtschafts- und Handelsfragen zwischen den Mitgliedern. Zu diesem Zweck wurde ein Anti-Terror-Zentrum aufgebaut, die Staaten stimmen sich bei der Anti-Drogen Politik ab, insbesondere Russland und China führen im Rahmen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit auch gemeinsame Manöver durch. Seit 2017 sind Indien und Pakistan Mitglieder. Einen Beobachterstatus haben die Mongolei, Iran, Afghanistan und Belarus, als "Dialogpartner" zählen Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Nepal, Sri Lanka und die Türkei. In den Mitgliedsstaaten der SOZ leben derzeit ca. 40 Prozent der Weltbevölkerung. Seit 2005 führen insbesondere Russland und China gemeinsame Großmanöver durch. Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit stellt keine Militärallianz dar, sie bildet jedoch ein Gegengewicht zum weit gespannten Netz von US-amerikanischen Militärbasen in Asien. Die SOZ ist Teil der "Seidenstraßen"-Politik Chinas, dient aber aus russischer Sicht vor allem der Eindämmung des Einflusses der NATO und insbesondere der USA in Zentralasien. Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit kann auch als Allianz autoritärer Staaten gegen "farbige Revolutionen" (z.B. Interner Link: Orangene Revolution 2004 in der Ukraine, Tulpenrevolution 2005 in Kirgisistan) interpretiert werden. Eurasische Wirtschaftsunion Die Interner Link: Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ist ein Zusammenschluss von mehreren Staaten zu einem Binnenmarkt mit Zollunion. Zwischen Russland, Belarus und Kasachstan wurden bis Juli 2011 alle Zollschranken abgebaut und zum 1. Januar 2012 wurde der gemeinsame Wirtschaftsraum für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeit zwischen Russland, Kasachstan und Belarus verwirklicht. Aus dieser Zollunion ging die EAWU hervor. Gründungsmitglieder sind seit Mai 2014 Kasachstan, Russland und Belarus, seit Oktober 2014 gehören Armenien und seit August 2015 Kirgisistan ebenfalls zur EAWU. Zu den Zielen der EAWU gehören die Zollunion, ein einheitlicher Wirtschaftsraum, freier Austausch von Dienstleistungen und Arbeitskräften, die Kooperation in den Bereichen Energie, Industrie, Landwirtschaft und Transport und perspektivisch ein gemeinsamer Strom-, Erdöl- und Gasmarkt und die Schaffung eines einheitlichen Finanzmarktes sowie einer gemeinsamen Währung. Ob es zu diesen weiteren Integrationsschritten kommt, ist insbesondere vor dem Hintergrund der russischen Intervention in der Ukraine fraglich, denn seither befürchten die nicht-russischen Mitgliedstaaten, dass Russland russisch-sprachige Minderheiten auch bei ihnen mobilisieren und zum Vorwand für Intervention nutzen könnte. Die Mitglieder der EAWU wollen nach dem Vorbild der Europäischen Union auch ihre Wirtschaftspolitik abstimmen. Aufgrund des Assoziierungsabkommens mit der EU gelang es Russland indes nicht, die Ukraine für eine Mitgliedschaft in der EAWU zu gewinnen. Usbekistan hat mehrfach erwogen, der Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan beizutreten, hat davon jedoch bisher aus politischen Gründen Abstand genommen. Ein Abkommen zwischen Russland und der separatistischen Region Abchasien (de jure Teil von Georgien) legt fest, dass Abchasien seine Handelsgesetze an die der Eurasischen Wirtschaftsunion angleicht. Durch abchasisch-russische und südossetisch-russische Verträge sind diese nicht anerkannten Republiken faktisch mit der EAWU assoziiert. Ähnlich hat die nicht anerkannte Republik Transnistrien (de jure Teil von Moldau) im November 2012 ein Konzept für die Integration Transnistriens in die EAWU verabschiedet. Mit dem Beitritt Armeniens zur EAWU wurde die nicht anerkannte Republik Berg Karabach de facto auch in die EAWU integriert. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sicherte Aserbaidschan zwar formell zu, dass Berg-Karabach nicht in die EAWU einbezogen würde, dies ist jedoch nicht umsetzbar, da zwischen Armenien und Berg Karabach keine Zollgrenze besteht. Der russische Botschafter bei der EU schlug vor, dass die EU eine Freihandelszone mit der EAWU bildet, und zwar als Alternative zur Freihandelszone mit Nordamerika (TTIP). Bundeskanzlerin Merkel griff 2015 den Vorschlag auf und erwog die Möglichkeit einer Freihandelszone "von Lissabon bis Wladiwostok", allerdings unter der Voraussetzung, dass die Ukrainekrise gelöst würde. Russland drängt auf die Schaffung von supranationalen Behörden im Rahmen der EAWU, darunter einer Kommission, vergleichbar der Kommission der Europäischen Union, und eines gemeinsamen Parlamentes. Die Bildung von supranationalen Institutionen nach dem Vorbild der EU stößt jedoch bei einigen Mitgliedern auf Vorbehalte, da russische Dominanz befürchtet wird. Insbesondere Kasachstan und Belarus beharren auf ihrer Souveränität und befürchten die Wiedererrichtung einer "neuen Sowjetunion" unter russischer Vorherrschaft. Die russischen Vorstellungen zur EAWU orientieren sich oberflächlich an der EU, sie soll jedoch aus russischer Sicht eine Alternative zur EU und deren Assoziierungspolitik sein und zugleich als zentrales Bindeglied zwischen den Wirtschaften Asiens und Europas dienen. Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit Russland ist Mitglied in der Interner Link: Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS, oder "Taschkenter Vertrag"), der Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan und Belarus angehören. Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan haben ihre Mitgliedschaft aufgekündigt. Ziel des "Taschkenter Vertrages" ist die Zusammenarbeit in den Bereichen Außenpolitik, Militär und Militärtechnologien, die Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus, die Abhaltung gemeinsamer Militärmanöver und die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Russisch-Weißrussische Union Formell befindet sich Russland in der "Russisch-Weißrussischen Union", einem Staatenbund, der im Kern eine Verteidigungs- und eine Wirtschaftsgemeinschaft umfasst. Die Kompetenzen des überstaatlichen Unionsrates sind jedoch ungeklärt. Der Präsident von Belarus, Lukaschenka, lehnt eine Vertiefung der Union ab, insbesondere nach der russischen Krim-Annexion und aufgrund des anhaltenden Streites um die Rubel-Einführung in Belarus sowie um die Gaspreise und den Öltransit. Belarus will nicht als Provinz zu Russland gehören. Die regionale Kooperation im eurasischen Raum reagiert auf die fehlende EU- und Nato-Perspektive für die meisten post-sowjetischen Staaten. Die Eurasische Wirtschaftsunion imitiert die EU, basiert jedoch nicht auf einer Wertegemeinschaft. Die Mitglieder fürchten die Dominanz Russlands und stellen sich deshalb einer supranationalen Integration, wie von Russland gewünscht, entgegen. Die Kooperation ist folglich intergouvernemental und nicht mit dem Aufbau von supranationalen Institutionen in der EU zu vergleichen. Welthandelsorganisation Seit 2012 ist Russland Mitglied der Interner Link: Welthandelsorganisation (WTO), deren Funktion darin besteht, Importzölle zu reduzieren und die dadurch auch zur Liberalisierung des russischen Marktes beitragen soll. Tatsächlich haben sich die Zölle zwischen 2012 und 2017 von 9,6 Prozent auf 5,4 Prozent verringert, doch die Sanktionen infolge der Krim-Annexion und der Militärintervention im ukrainischen Donbass sowie die russischen Gegensanktionen haben den Nutzen der WTO-Mitgliedschaft für Russland gemindert. Die westlichen Russland-Sanktionen verstoßen aus russischer Sicht gegen die WTO-Regeln, da diese keine politisch motivierten Sanktionen vorsehen, allerdings erwägt Russland keinen Austritt. Die russische Regierung schwächt ausländische Konkurrenz auf dem russischen Automarkt durch protektionistische Maßnahmen. Kritik an der WTO-Mitgliedschaft kommt aus der russischen Landwirtschaft, die wiederum am meisten von den westlichen Sanktionen profitiert. Die EU forderte 1,39 Milliarden Euro Schadensersatz für das Verbot Russlands, Schweinefleisch aus Europa einzuführen. Im August 2016 urteilte ein Schiedsgericht der WTO, dass die russischen Einfuhrbeschränkungen für Schweinefleisch aus der EU in der Tat gegen die WTO-Regeln verstießen. Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit Russland war Gründungsmitglied der Interner Link: Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1995 in die Interner Link: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) umgeformt wurde. Russland setzte anfänglich hohe Erwartungen auf die OSZE als möglicher gesamteuropäischer Alternative zur Ausweitung der NATO. Beginnend mit dem Kosovokrieg 1999, dem zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2006) und der Nicht-Ratifikation des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (angepasster KSE Vertrag von 1999) änderte sich die russische Bewertung der OSZE, die zunehmend als Mittel westlicher Einflussnahme auf die Innenpolitik angesehen wurde. Insbesondere das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte galt als Hebel, um die "farbigen Revolutionen" (Regimewechsel) im postsowjetischen Raum zu befördern. Dem Wertekanon der Pariser Charta der OSZE von 1990 fühlte sich Russlands Außen- und Sicherheitspolitik immer weniger verpflichtet. Ab 2007 unterband Russland die Beobachtung von Wahlen durch die OSZE in Russland und 2007 suspendierte Russland seine Teilnahme am KSE-Vertrag (Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa). Mit der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine kooperiert Russland in begrenztem Maße, selbst wenn deren Beobachtertätigkeit, z.B. Informationsbeschaffung mittels Aufklärungsdrohnen, massiv behindert wird. Spätestens seit 2007 lässt sich eine Spaltung zwischen Russland und den westlichen Staaten innerhalb der OSZE beobachten, die zu einer weitgehenden Paralyse der OSZE geführt hat. Gleichzeitig ist die OSZE jedoch das einzige Forum, in dem trotz der Spannungen regelmäßig über Sicherheitsfragen kommuniziert wird. Europarat Russland ist seit 1996 Mitglied des Europarates, einem Forum für den Einsatz zugunsten von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Europäische Menschenrechtskonvention stellt den wichtigsten Vertrag im Rahmen des Europarates dar. Russland gehört neben der Türkei zu den Staaten, die am häufigsten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention angeklagt bzw. verklagt wurden. Infolge der Annexion der Krim ist Russland in der parlamentarischen Versammlung des Europarates das Stimmrecht entzogen worden. Ab dem Jahr 2107 stellte Russland in Reaktion darauf seine Zahlungen an den Europarat teilweise ein. Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, warnte Russland vor einem möglichen Ausschluss, sollte es im ersten Halbjahr 2019 seine Beiträge nicht zahlen. Russland zeigt ein instrumentelles Verhältnis zu internationalen Organisationen, vermeidet es jedoch bisher, aus Konventionen, die es unterzeichnet hat, formell gänzlich auszusteigen, da Russland völkerrechtlich nicht als Paria-Staat angesehen werden möchte. Russland hat es bisher nur begrenzt vermocht, die Integration nicht-westlicher internationaler Organisationen voranzutreiben. Dies hängt zum einen mit der Furcht vor russischer Hegemonie bei Partnern, mit dem Misstrauen aufgrund des Autoritarismus in Russland und den Methoden russischer Einflusspolitik zusammen. Literatur: Ian Bond: Russia in International Organizations: The Shift from Defence to Offence, in: D. Cadier, M. Light (eds): Russia’s Foreign Policy, London: Palgrave Macmillan, 2015, S. 189-203. Richard Sakwa: Russia against the Rest: The Post-Cold War Crisis of World Order, Cam bridge: Cambridge University Press, 2017
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-12-20T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland/47969/russland-und-die-internationalen-organisationen/
Russland zeigt als Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen eher ein instrumentelles Verhältnis zu diesen. Trotz verschiedener Ansätze hat es Russland bisher nur begrenzt vermocht, die Integration nicht-westlicher internationaler Organisat
[ "Russland", "internationale Organisationen", "UN-Sicherheitsrat", "GUS", "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten", "Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit", "Eurasische Wirtschaftsunion", "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit", "Russisch-Weißrussische Union", "Welthandelsorganisation", "WTO", "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit", "OSZE", "Europarat", "Russland", "Russische Föderation" ]
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Zur falschen Zeit am falschen Ort | Müll | bpb.de
Die stetig wachsende Weltbevölkerung, die nachholende Industrialisierung in den Schwellenländern sowie die nach wie vor hohe Nachfrage nach Rohstoffen in der industrialisierten Welt führen zu einer enormen Beanspruchung der natürlichen Ressourcen und einer erheblichen Belastung der Umwelt. Aktuell verbraucht die Menschheit für die jährliche Produktion von Gütern und Dienstleistungen 1,7 Erden: Das heißt, wir nutzen die Natur 1,7-mal schneller, als Ökosysteme sich regenerieren können, und es ist absehbar, dass die Vorkommen mancher Rohstoffe bald erschöpft sein werden. Seit einigen Jahren wird die zunehmende Verknappung der Ressourcen verstärkt thematisiert, wodurch Fragen zur Ressourceneffizienz und Ressourcensicherheit immer mehr in den Fokus gerückt sind. Zugleich werden damit auch Fragen nach der Wiederverwertung der bereits genutzten Rohstoffe immer relevanter – und, damit verbunden, wird auch eine andere Betrachtung unseres "Mülls" interessant und notwendig. Denn die Dinge, die wir täglich ausmustern und wegschmeißen, sind zugleich ein Fundus an wichtigen Materialien und Stoffen, die sich wieder nutzbar machen ließen. In unserem Müll sind diese wertvollen Stoffe schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden zunächst auf einige allgemeine Grundlagen zur Reichweite von Rohstoffen und ihrer Verteilung eingehen, um dann im Speziellen drei wichtige Rohstoffe näher zu betrachten, ohne die unser Leben anders aussähe: Phosphor, Kobalt und Kupfer. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie allgegenwärtig sind, aber ebenfalls in großen Mengen ungenutzt oder vermeintlich "verbraucht" auf Deponien landen. Reichweite und Verteilungsungleichgewicht Das Problem der Verknappung von Rohstoffen lässt sich durch die Betrachtung der sogenannten statischen Reichweite veranschaulichen. Die Reichweite gibt das Zeitintervall an, wie lange ein Rohstoff nach aktueller Datenlage zur Verfügung steht. Berechnet wird dieser nach den derzeit bekannten und wirtschaftlich gewinnbaren Vorräten (Reserven) und der aktuellen Produktion eines Rohstoffes. Auf Basis der Daten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe wird für Erdöl zum Beispiel eine statische Reichweite von 41 Jahren berechnet. Werden die Vorkommen berücksichtigt, die zwar bekannt sind, aber nicht mit den heutigen technischen Möglichkeiten wirtschaftlich gefördert werden können (Ressourcen), erhöht sich die Reichweite auf 64 Jahre. Inwieweit die Ressourcenknappheit vorangeschritten ist, verdeutlichen die statischen Reichweiten anderer wichtiger Rohstoffe, wie Antimon, Chrom, Zinn und Zink, die mit unter 20 Jahren angegeben werden. Global betrachtet sind die Rohstoffe ungleich verteilt: Die Lagerstätten konzentrieren sich oft auf wenige Länder, was mit einer regionalen Abhängigkeit einhergehen kann. Deutschland ist weltweit einer der größten Rohstoffkonsumenten. Die inländischen Rohstoffe beschränken sich jedoch maßgeblich auf Kies, Sand, Kalkstein und Ton – eine Vielzahl von Rohstoffen wie Eisen, Buntmetalle und sogenannte Technologierohstoffe müssen importiert werden. Lithium, das in Batterien verbaut wird, spielt für die Elektromobilität eine entscheidende Rolle. Die Förderung von Lithium in Deutschland ist jedoch marginal. Dies trifft ebenfalls für die sogenannten Seltenen Erden zu, die unter anderem für Magnetwerkstoffe der Generatoren von Windkraftanlagen oder in den Motoren von Elektrofahrzeugen benötigt werden. Deutschland sichert sich seine Position auf dem Weltmarkt durch Exporte von Technologien. Diese können nicht ohne Energierohstoffe und Metalle produziert werden, was zu einer geopolitischen Abhängigkeit von anderen Ländern führt. Die steigende Nachfrage nach bestimmten Elementen lässt rohstoffreiche Länder an Bedeutung gewinnen, sowohl für den globalen Markt als auch für Deutschland. Damit steigt auch die Bedeutung des Rohstoffsektors für die Entwicklung der Produzentenländer selbst. Um eine Vorstellung von zukünftigen potenziellen Versorgungsengpässen zu erhalten, wird auf sogenannte Kritikalitätsanalysen zurückgegriffen. In diesen werden einerseits die sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Versorgung (Versorgungsrisiken) und andererseits die Abhängigkeit einer Wirtschaft von den mineralischen Rohstoffen (Vulnerabilität) berücksichtigt. Genauer: Rohstoffe sind als kritisch zu bezeichnen, "wenn das mit ihnen verbundene hohe Versorgungsrisiko in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass sich die weltweite Produktion zum großen Teil in wenigen Ländern konzentriert". In der Regel sind diese Rohstoffe nur schwer durch andere Stoffe ersetzbar und haben eine geringe Recyclingquote. Beispielsweise wurden in der Studie "Critical Raw Materials for the EU" 20 von 54 untersuchten Rohstoffen für die Europäische Union als "versorgungskritisch" eingestuft. Bei diesen handelt es sich um Borate, Chrom, Kokskohle, Magnesit, Phosphatgestein und Silicium sowie Antimon, Beryllium, Flussspat, Gallium, Germanium, Graphit, Indium, Kobalt, Magnesium, Niob, Metalle der Platingruppe, schwere Seltene Erden, leichte Seltene Erden und Wolfram. Die Kritikalitätsbetrachtungen basieren in der Regel auf qualitativen Experteneinschätzungen. Dennoch liefern sie wertvolle Hinweise für die Bewertung der Rohstoffverfügbarkeit in einzelnen Ländern, um zukünftige Entwicklungen besser abschätzen zu können. Die folgenden Beispiele – Phosphor, Kobalt und Kupfer – stehen exemplarisch für die Notwendigkeit, unsere Ressourcen intensiver in den Blick zu nehmen. Dabei soll der Fokus verstärkt von den Primärrohstoffen auf die Sekundärrohstoffe gelegt werden. Sekundärrohstoffe sind Elemente beziehungsweise Stoffe, die aus flüssigen oder festen Abfällen stammen und durch gezieltes Recycling für den Wertstoffkreislauf zurückgewonnen wurden. Lebensessenz Phosphor Ein lebensnotwendiger Nährstoff für alle Organismen ist Phosphor. Für zahlreiche physiologische und biochemische Prozesse, etwa für die DNA, die Zähne oder den Knochenbau, ist dieser Stoff essenziell. Phosphor wird – in Form von Phosphaten, also Salzen der Phosphorsäure – ausschließlich durch die Nahrung aufgenommen und kann nicht selbstständig vom Körper gebildet werden. Neben Kalium und Sticksoff ist Phosphor einer der drei Hauptnährstoffe für Pflanzen, der nicht durch andere ersetzt werden kann. Um eine optimale Pflanzenentwicklung zu ermöglichen, muss Phosphat in ausreichender Menge und in pflanzenverfügbarer Form im Boden vorhanden sein. Aufgrund seiner Relevanz für die Nahrungsmittelproduktion zählt Phosphor zu den wichtigsten mineralischen Rohstoffen. Das Hauptanwendungsgebiet von Phosphor ist die Düngemittelindustrie. Von der gesamten Phosphatproduktion fließen 80 bis 90 Prozent in diesen Sektor, weltweit werden jährlich über 40 Millionen Tonnen als Düngemittel in der Landwirtschaft eingesetzt. Hierbei werden organische sowie mineralische Düngemittel verwendet. Organisches Düngemittel (Wirtschaftsdünger) wird aus Gülle, Mist oder natürlichen Pflanzenrückständen gewonnen. Im Vergleich zu mineralischen Düngemitteln spielen diese jedoch eine eher untergeordnete Rolle, da der Phosphorgehalt im Vergleich zum Stickstoffgehalt geringer ist und zum anderen mineralische Dünger wegen ihrer homogenen Zusammensetzung und besseren Lagerfähigkeit präferiert werden. Weitere große Anwendungsgebiete von Phosphor sind die Futter- und Nahrungsmittelproduktion sowie die Wasch- und Reinigungsmittelherstellung. Mineralisches Phosphat wird fast ausschließlich im Tagebau gewonnen. Die Lagerstätten sind zu 85 Prozent aus sedimentären und rund 15 Prozent magmatischen Ursprungs. Je nach Entstehungsort variiert der Erzgehalt des Gesteins zwischen 5 und 37 Prozent. Nach dem Abbau werden die Erze mittels physikalischer Verfahren (Flotationsverfahren) zu Rohphosphat aufkonzentriert und der weiteren Aufarbeitung zugeführt. Über zwei Drittel der globalen Rohphosphatförderung entfallen auf nur drei Länder: Mit einem Anteil von 45 Prozent ist China das größte Förderland, gefolgt von Marokko mit 14 Prozent und den USA mit 12 Prozent. Auch auf der Produktionsseite spielen diese Länder eine große Rolle. Damit zeigt sich eine relativ hohe regionale und unternehmerische Konzentration bei der Rohphosphatversorgung. Die Nachfrage an Düngemitteln ist seit den 1980er Jahren um rund 30 Prozent angestiegen. Speziell in den Schwellenländern hat sie sich stark erhöht, vor allem wegen des gestiegenen Bedarfs an Lebensmitteln, Futtermitteln und Biokraftstoffen. Aktuell wird die weltweite Phosphatnachfrage stark von China, Indien, den USA und Brasilien bestimmt. Rund 70 Prozent aller verfügbaren Phosphatdüngemittel werden dort verbraucht. Aufgrund des zu erwartenden Bevölkerungswachstums ist langfristig mit einem weiteren Anstieg der Phosphatnachfrage zu rechnen. Da Phosphor ein nicht erneuerbarer Rohstoff ist, wird in den vergangenen Jahren vermehrt auf seine Knappheit hingewiesen. Der sogenannte peak phosphor – also der Zeitpunkt, zu dem die maximale globale Phosphorproduktionsrate erreicht ist – soll in etwa 20 Jahren erreicht sein. Die globalen Phosphatreserven werden aktuell noch auf rund 70 Milliarden Tonnen geschätzt. Bei einem jährlichen Verbrauch von etwa 260 Millionen Tonnen ergibt sich daraus eine statische Reichweite von mehr als 300 Jahren. Demzufolge steht Phosphat aus geologischer Sicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Die langfristige Verfügbarkeit hängt jedoch auch von der Wirtschaftlichkeit der Lagerstätten ab und in wieweit diese technisch nutzbar sind. Folglich muss es das Ziel sein, den Rohstoff optimal und effizient zu nutzen, um auch nachfolgenden Generationen eine ausreichende Versorgung mit Phosphor zu gewährleisten. Wegen fehlender Lagerstätten sind die Länder der Europäischen Union fast zu 100 Prozent abhängig von ausländischen Phosphorimporten. Auch die Europäische Kommission hat Phosphor als kritischen Rohstoff eingestuft. Begründet wird dies unter anderem durch geopolitische Unwägbarkeiten sowie starke Preisschwankungen durch unerwartete Nachfrageschübe aus Drittländern. Folglich rückt die Sicherung der Rohstoffbasis für Phosphat in der EU und in Deutschland zunehmend in den Fokus. Tatsächlich aber ist Deutschland gar kein phosphorarmes Land. Allein der Klärschlamm, der jährlich in der Bundesrepublik anfällt, enthält rund 60.000 Tonnen Phosphor. Dieses gelangt über die Ausscheidungen der Menschen in die Abwässer und wird in Kläranlagen teilweise aufbereitet. Etwa ein Viertel des Klärschlamms wird in der Landwirtschaft genutzt. Der Großteil, rund 65 Prozent, geht in die Verbrennungsanlagen. Dort entsteht die Klärschlammasche, die immer noch zu 10 bis 20 Prozent aus Phosphaten besteht. Aktuell werden unterschiedliche Verfahren getestet, um aus der Klärschlammasche Düngemittel, Phosphorsäure oder elementaren Phosphor zu gewinnen. Weitere Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit Phosphor-Rückgewinnungsverfahren direkt aus Abwasser beziehungsweise aus dem anfallenden Klärschlamm. Das Interesse an neuen Rückgewinnungsverfahren ist nicht zuletzt deshalb groß, weil mit der Neufassung der Klärschlammverordnung vom 3. Oktober 2017 die Rückgewinnung aus Klärschlamm beziehungsweise Verbrennungsaschen zur Pflicht geworden ist. Bis 2029 müssen Kläranlagen ab 100.000 Einwohnerwerten und ab 2032 mit einer Ausbaugröße über 50.000 Einwohnerwerten eine Phosphorrückgewinnung vorweisen. Schlämme mit einem höheren Phosphorgehalt als 20g/kg Trockenmasse dürfen dann nicht mehr direkt landwirtschaftlich genutzt werden, um der Sorge eines Schadstofftransfers in die Futtermittel- beziehungsweise Nahrungsmittelkette vorzubeugen. Aktuell werden in Deutschland rund 70 Verfahren zur Phosphatrückgewinnung diskutiert. Von diesen sind etwa 30 in der Erprobung. Nur wenige werden gegenwärtig im Pilotmaßstab getestet, der die notwenigen Parameter für einen Einsatz in industriellen Großanlagen liefert. Es besteht weiterhin Forschungsbedarf, um ein effizientes und wirtschaftliches Rückgewinnungsverfahren für Phosphor zu gewährleisten. Handyrohstoff Kobalt Der Aufschwung der Hightechbranche in den vergangenen Jahrzehnten hat dazu geführt, dass ein Rohstoff aus unserem Umfeld nicht mehr wegzudenken ist: Kobalt. Das Metall ist ferromagnetisch und sehr hart. Es behält seine Stabilität sowie die magnetischen Eigenschaften auch bei hohen Temperaturen bei und ist ein guter Strom- und Wärmeleiter. Sein Hauptanwendungsgebiet ist der Batteriesektor, wo es in Lithium-Ionen-Akkus verbaut wird. Weiterhin ist Kobalt ein wichtiger Rohstoff für temperaturbeständige Superlegierungen, Hochleistungsschnellschnittstahl, Katalysatoren, Hartmetalle, Färbemittel und Magnete. Die weltweite Nachfrage nach Kobalt ist zuletzt stark gestiegen. 2010 lag der jährliche Bedarf bei 65.000 Tonnen, 2015 betrug er über 90.000 Tonnen. Schätzungen zufolge wird die Nachfrage bis 2025 auf etwa 155.000 Tonnen pro Jahr ansteigen. Allein für den Einsatz in Batterien für Elektrofahrzeuge wird für das Jahr 2035 ein Bedarf an 122.000 Tonnen prognostiziert. 2017 wurden weltweit etwa 118.500 Tonnen Kobalt abgebaut, 64 Prozent davon (76.000 Tonnen) allein in der Demokratischen Republik Kongo. Weitere relevante Abbaugebiete sind in China, Kanada und Australien. Kobalt wird fast ausschließlich als Nebenprodukt der Nickel- und Kupferproduktion gewonnen, die Förderung aus Primärlagerstätten macht lediglich 2 Prozent aus. Folglich ist der Kobaltabbau stark an den Abbau dieser Metalle gekoppelt, was dazu beiträgt, dass sowohl das Angebot als auch die Preise für Kobalt erheblichen Schwankungen unterliegen. Reserven sind in großem Maße vorhanden (weltweit rund sieben Millionen Tonnen), unter Berücksichtigung des derzeitigen Verbrauchs liegt ihre statische Reichweite bei 61 Jahren. Trotzdem wird Kobalt in Rohstoffrisikobewertungen als sehr kritisch betrachtet: Da etwa 48 Prozent der Reserven in der DR Kongo liegen und dieses Land stark von Unsicherheit, Ausbeutung und Korruption geprägt ist, gilt das Metall als Konfliktmaterial. In manchen Anwendungsbereichen, etwa für Legierungen, lässt sich Kobalt durch andere Stoffe ersetzen, jedoch macht dies nur einen geringen Teil aus und geht meist mit Einbußen der gewünschten Eigenschaften einher. Vor diesem Hintergrund und angesichts der zentralen Rolle, die Kobalt für die Hightechbranche spielt, ist es insbesondere in den Industrienationen angebracht, verstärkt über Recyclingmöglichkeiten nachzudenken. Einige Unternehmen haben bereits erfolgreiche Verfahren entwickelt, etwa die belgische Firma Umicore und die Firma Accurec aus Krefeld. Seit einigen Jahren wird Kobalt aus Katalysatoren, Hartmetall- und Superlegierungsschrott zurückgewonnen. Auch aus Lithium-Ionen-Batterien kann Kobalt in Form von Kobaltsulfat erfolgreich zurückgewonnen werden. Das Problem des Recyclings liegt indes weniger in den Verfahren als in der Sammlung und Vorbehandlung der Batterien. Weltweit werden rund 30.000 Tonnen Kobalt in kleinen Batterien verbaut, wie sie etwa in Smartphones und Laptops gebraucht werden. Nur ein kleiner Teil davon gelangt durch Recycling zurück in den Stoffkreislauf. Angesichts schwankender beziehungsweise steigender Preise versuchen Unternehmen auf der gesamten Welt, ihre Kobaltversorgung zu sichern. Aktuell plant beispielsweise der südkoreanische Bildschirm- und Batteriehersteller Samsung SDI, Kobalt aus gebrauchten Mobiltelefonen zu recyceln. Das Recycling von Althandys und Smartphones birgt durchaus großes Potenzial: Es wird geschätzt, dass sich schon bald jährlich mehrere Tausend Tonnen Kobalt aus alten Batterien gewinnen lassen. Immer mehr Batteriehersteller sind an neuen Recyclingtechnologien interessiert und versuchen auf diese Weise, die Abhängigkeit von dem Hauptförderland DR Kongo zu verringern. Althandys in deutschen Haushalten, in Millionen. (© Bitkom Research, 2018 (Schätzung auf Grundlage einer Befragung von 1009 Personen ab 14 Jahren in Deutschland)) Allein 2018 wurden in Deutschland rund 22,7 Millionen Smartphones verkauft, und jährlich werden neue Absatzrekorde gemeldet. Durchschnittlich wechseln die Besitzer alle zweieinhalb Jahre ihr Handy beziehungsweise Smartphone. Durch immer neue Innovationen wird diese Nutzungsdauer konstant bleiben oder sich noch verringern. Die Folge: Es werden auch mehr Geräte ausgemustert. Diese Altgeräte werden jedoch meist zu Hause in der Schublade gehortet, statt sie einer Verwertung zuzuführen. Mittlerweile werden in deutschen Haushalten über 120 Millionen Altgeräte unbenutzt aufbewahrt (Abbildung). Ähnlich verhält es sich mit Laptops und Tablets. Verschiedene Hersteller und Netzbetreiber bieten mittlerweile einfache Rücknahmemöglichkeiten an, um Altgeräte in den Rohstoffkreislauf zurückzuführen. Nach wie vor ist das Bewusstsein in der Bevölkerung, dass alte Elektronikgeräte nicht nur Abfall, sondern wertvolle Rohstoffquellen sein können, jedoch noch ausbaufähig. Erstes Gebrauchsmetall: Kupfer Kupfer ist eines der ersten Metalle, das von Menschen verwendet wurde. Und auch heute – trotz immer komplexer werdender technischer und industrieller Prozesse – gehört dieses Metall zu den am weitesten verbreiteten Materialien in unserem alltäglichen Umfeld. Seine vielfältigen Eigenschaften machen es zu einem der nützlichsten Werkstoffe überhaupt, der durch das Legieren mit anderen Metallen noch optimiert werden kann. Denn Kupfer hat eine hervorragende Wärme- und elektrische Leitfähigkeit, ist sehr korrosionsbeständig und lässt sich gut verarbeiten und formen. Daraus ergeben sich vielfältige Anwendungsbereiche. Der wichtigste ist die Elektrotechnik, wo Kupfer beispielsweise als elektrischer Leiter für die Kabelindustrie zum Einsatz kommt. Das zweitwichtigste Anwendungsgebiet ist das Bauwesen, hier wird das Buntmetall unter anderem für Rohre im Sanitär- und Heizungsbereich benötigt. Gewonnen wird Kupfer aus Erzen, Kiesen und Sanden, je nach den geografischen Gegebenheiten im oberflächennahen Tagebau oder "unter Tage" in Bergwerken. Das geförderte Erz wird durch Flotation zu Kupferkonzentrat aufbereitet. Dieses hat einen durchschnittlichen Kupfergehalt von 25 bis 35 Prozent. Anschließend wird das Konzentrat verhüttet und raffiniert. 2017 wurden weltweit rund 19,7 Millionen Tonnen Kupfer abgebaut. Das größte Abbauland ist Chile mit 5,3 Millionen Tonnen, gefolgt von Peru mit rund 2,4 Millionen Tonnen und China mit 1,8 Millionen Tonnen. Chile verfügt über die größten bekannten Kupfervorkommen der Welt (etwa 40 Prozent) und gehört zu den führenden Produzenten dieses Metalls. Die Reserven Chiles beliefen sich 2017 auf insgesamt 170 Millionen Tonnen. Die Länderkonzentration der Produktion ist trotz des großen chilenischen Anteils gering. Insgesamt werden die geopolitischen Risiken für den Kupfermarkt als unkritisch bis mäßig kritisch bewertet. Deshalb, aber auch wegen der weltweiten Verteilung der Produktionsstandorte, ist nicht zu befürchten, dass es zu einer Firmenkonzentration oder Konzentration der Rohstoffproduktion auf Länderebene kommt. Für Deutschland wird die Importabhängigkeit im Kupferbereich insgesamt als unkritisch eingeschätzt. Die weltweiten Reserven werden auf 720 Millionen Tonnen und die statische Reichweite auf 39 Jahre geschätzt. Berücksichtigt man die vorhandenen Kupferressourcen (rund 2100 Millionen Tonnen), erhöht sich die geschätzte statische Ressourcenreichweite auf 112 Jahre. Folglich ist unter geologischen Gesichtspunkten die Verfügbarkeit von Kupfer mittelfristig sichergestellt – sofern es gelingt, die Vorkommen durch neue Technologien zu erschließen. Bei dieser Berechnung ist allerdings nicht berücksichtigt, dass sich der Kupferbedarf in den kommenden Jahren, unter anderem im Zuge der eingeleiteten Energiewende in Deutschland, voraussichtlich deutlich steigern wird. Um die Verfügbarkeit von Kupfer also auch für die nächsten Jahrzehnte zu sichern, gilt es, die Voraussetzungen sowohl für den Abbau als auch für das Recycling des Metalls zu verbessern. Denn Kupfer wird in der Regel nicht "verbraucht": Kupfer ist einer der wenigen Rohstoffe, der ohne jeden Leistungsverlust immer wieder recycelt werden kann. Folglich gibt es keine Qualitätsunterschiede zwischen Primär- und Sekundärkupfer. Zwei Drittel des seit 1900 geförderten Kupfers werden noch immer produktiv genutzt. Dieser hohe Anteil ist vor allem durch Anwendungsbereiche mit langer Nutzungsdauer zu erklären: Rund 55 Prozent des Kupfers werden in Gebäuden mit einer Nutzungsdauer von bis zu 80 Jahren eingesetzt, 15 Prozent werden für Infrastruktur und 10 Prozent in der Industrie verwendet. An und für sich ist Kupfer leicht zu recyceln, allerdings ergeben sich Schwierigkeiten bei der Sammlung. Aktuell werden jährlich etwa neun Millionen Tonnen Kupfer aus der Wiederverwertung von "altem" Schrott (Kupfer in Altprodukten) und "neuem" Schrott (der bei Produktions- und Fertigungsprozessen anfallende Schrott) gewonnen. Die Recyclingrate, die sich aus der jährlich produzierten Menge aus Sekundärmaterial bezogen auf die Jahresproduktion ergibt, beträgt für Kupfer 45 Prozent. Das heißt, bereits 45 Prozent des gesamten Kupferbedarfs können durch Schrotte und Rücklaufmaterialien abgedeckt werden. Eine Versorgung ausschließlich durch Sekundärkupfer ist zwar kaum möglich, aber dennoch kann das Recyclingmaterial einen erheblichen Beitrag zur Deckung des Bedarfs leisten und somit zu einer nachhaltigen Wirtschaft beitragen. Speziell für Deutschland, das fast ausschließlich auf Kupferimporte angewiesen ist, ist das Recyclingmaterial also eine wichtige Ressource zur Deckung des Kupferbedarfes. Abfall als Zukunftsrohstoff Soll ein nachhaltiger und effizienter Umgang mit heutigen und zukünftigen Ressourcen erreicht werden, ist der Versorgung mit Sekundärrohstoffen eine besondere Bedeutung zuzuschreiben. Das Recycling von ausrangierten Produkten wie Althandys und -laptops, Schrott und Klärschlamm kann die Reichweite der primären Ressourcen maßgeblich verlängern. Somit birgt der "Müll" von heute erhebliches Potenzial, die zukünftige Versorgung mit Rohstoffen zumindest teilweise zu gewährleisten. In Deutschland stand lange Zeit die sichere und umweltfreundliche Entsorgung im Mittelpunkt der Abfallwirtschaft. Die stoffliche und thermische Verwertung hatte primär die Reduktion der Restabfallmengen zum Ziel. Mittlerweile haben sich jedoch die Verwertungskonzepte der Kreislaufwirtschaft erfolgreich durchgesetzt, und mit dem Altpapier-, Kunststoff- und Glasrecycling sowie der getrennten Bioabfallsammlung und -kompostierung wurden wichtige Schritte hin zu einer geschlossenen Rohstoffwirtschaft getan. Zu einer zukunftsfähigen Kreislaufwirtschaft gehört aber auch der Blick auf das sortenreine und vollständige Wiedergewinnen knapper Ressourcen. Die Aufbereitung von Elektro- und Elektronikgeräten, die verschiedenste knappe Rohstoffmetalle enthalten, ist noch ausbaufähig. Hindernde Faktoren sind bislang einerseits die Aufbereitungskosten und andererseits der Mangel an praxistauglichen Aufbereitungs- sowie effizienten Trenntechnologien. Darüber hinaus gilt es, Rückholkonzepte zu entwickeln beziehungsweise zu optimieren, um die hochkonzentrierten "kleinen Rohstoffminen", die in unseren Schubladen schlummern, wieder ins System zurückzuführen. Zu einer nachhaltigen Rohstoffpolitik gehört demnach auch, dass Wirtschaftsmodelle erdacht werden, bei denen nicht der Besitz beziehungsweise Kauf eines Gerätes im Vordergrund steht, sondern die Nutzung beziehungsweise die Miete eines Gerätes. Erst dann wird der Produzent seiner Produktverantwortung vollumfänglich gerecht und kann das von ihm gefertigte Gerät als Rohstofflager für die nächsten Gerätegenerationen nutzen. Zu guter Letzt sollte der Effekt des Rohstoffrecyclings für den Klima- und Umweltschutz nicht unbeachtet bleiben. Die Erdbewegungen durch den Abbau von Rohstoffen aus geologischen Lagerstätten sowie die nachfolgende Aufbereitung bringen erhebliche Umweltbelastungen mit sich, unter anderem Bodendegradierung, Wasserknappheit, Verlust der biologischen Vielfalt und Beeinträchtigungen der Ökosystemfunktionen. Hinzu kommt der Energieaufwand, der mit der Produktion von Primärrohstoffen verbunden ist. Im Vergleich zur Primärrohstoffgewinnung entfallen beim Recycling und der Sekundärrohstoffgewinnung diese erheblichen Umweltbelastungen. Beispielhaft sei das Kupferrecycling angeführt, das rund viermal weniger Energie benötigt als die Primärgewinnung. Demnach hat das konsequente Wiedernutzbarmachen von Altrohstoffen mehrere Vorteile, die nicht zuletzt die natürlichen Rohstoffquellen schützen und sie damit für spätere Generationen bewahren. Althandys in deutschen Haushalten, in Millionen. (© Bitkom Research, 2018 (Schätzung auf Grundlage einer Befragung von 1009 Personen ab 14 Jahren in Deutschland)) Vgl. Earth Overshoot Day 2018: Ressourcenbudget verbraucht, 1.8.2018, Externer Link: http://www.umweltbundesamt.de/themen/earth-overshoot-day-2018-ressourcenbudget. Vgl. Peter Hennike/Kora Kristof/Ulrike Dorner, Ressourcensicherheit und Ressourceneffizienz – Wege aus der Rohstoffkrise, Policy Paper zu Arbeitspaket 7 des Projekts "Materialeffizienz und Ressourcenschonung" (MaRess), Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, 2009. Vgl. Dieter Lohmann/Nadja Podbregar/Harald Frater, Im Fokus: Bodenschätze. Auf der Suche nach Rohstoffen, Heidelberg u.a. 2012. Vgl. Lukas Egle/Helmut Rechberger/Matthias Zessner, Vergleich von Verfahren zur Rückgewinnung von Phosphor aus Abwasser und Klärschlamm, in: Österreichische Wasser- und Abfallwirtschaft 1–2/2014, S. 30–39. Vgl. Malte Drobe/Franziska Killiches, Vorkommen und Produktion mineralischer Rohstoffe – ein Ländervergleich, Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), Hannover 2014. Vgl. Michael Schmidt, Rohstoffrisikobewertung – Lithium, Deutsche Rohstoffagentur, DERA Rohstoffinformationen 33/2017. Europäische Kommission, Große Herausforderung für die Industrie der EU: 20 kritische Rohstoffe, Pressemitteilung, 26.5.2014. Vgl. Europäische Kommission, Report on Critical Raw Materials for the EU. Report of the Ad-hoc Working Group on Defining Critical Raw Materials, Mai 2014, Externer Link: http://ec.europa.eu/DocsRoom/documents/10010/attachments/1/translations. Vgl. Egle/Rechberger/Zessner (Anm. 4); Franziska Killiches et al., Phosphat. Mineralischer Rohstoff und unverzichtbarer Nährstoff für die Ernährungssicherheit weltweit, BGR, Hannover 2013. Vgl. Alexander Maurer et al., Phosphor und Phosphatrecycling, in: Chemie in unserer Zeit 5/2018, S. 350–358. Vgl. Industrieverband Agrar e.V. (Hrsg.), Wichtige Zahlen: Düngemittel. Produktion, Markt, Landwirtschaft, 2013–2014, Frankfurt/M. 2014. Vgl. Mark M. Alley/Bernard Vanlauwe, The Role of Fertilizers in Integrated Plant Nutrient Management, Paris 2009. Vgl. Maurer et al. (Anm. 10). Vgl. Killiches et al. (Anm. 9). Vgl. Stephen M. Jasinski, Phosphate Rock, in: U.S. Geological Survey, Mineral Commodity Summaries 2018, Washington, D.C. 2018, S. 122f. Vgl. Killiches et al. (Anm. 9). Vgl. Maurer et al. (Anm. 10). Vgl. Martin Bertau et al., Statuspapier Phosphatrückgewinnung, Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie, Frankfurt/M. 2017. Vgl. Jasinski (Anm. 15). Vgl. Maurer et al. (Anm. 10). Vgl. Siyamend Al Barazi et al., Kobalt aus der DR Kongo – Potenziale, Risiken und Bedeutung für den Kobaltmarkt, Commodity TopNews 53/2017. Vgl. Frank Marscheider-Weidemann et al., Rohstoffe für Zukunftstechnologien 2016, DERA Rohstoffinformationen 28/2016. Vgl. Siyamend Al Barazi, Vortrag auf dem DERA Industrieworkshop zur Verfügbarkeit von Kobalt für den Industriestandort Deutschland, Berlin, 2.7.2018. Vgl. Marscheider-Weidemann et al. (Anm. 22). Vgl. Al Barazi et al. (Anm. 21). Vgl. Al Barazi (Anm. 23). Vgl. Jan Harvey, Metal Recyclers Prepare for Electric Car Revolution, 17.11.2017, Externer Link: http://www.reuters.com/article/idUSKBN1DH1DS. Vgl. Statista, Absatz von Smartphones in Deutschland in den Jahren 2009 bis 2018 (in Millionen Stück), August 2018, Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/77637. Vgl. Ulrike Dorner et al., Rohstoffrisikobewertung – Kupfer, DERA Rohstoffinformationen 16/2013. Vgl. ebd. Vgl. Daniel M. Flanagan, Copper, in: U.S. Geological Survey, Mineral Commodity Summaries 2018, Washington, D.C. 2018, S. 52f. Vgl. Dorner et al. (Anm. 29). Vgl. Deutsches Kupferinstitut, Die langfristige Verfügbarkeit von Kupfer, 2018, Externer Link: http://www.copperalliance.de/uploads/2018/06/langfristige-verfuegbarkeit-von-kupfer.pdf. Vgl. dass., Recycling von Kupfer und Kupferlegierungen, 2018, Externer Link: http://www.kupferinstitut.de/de/werkstoffe/system/recycling-kupfer.html. Vgl. Abfallwirtschaftsbetrieb München, Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Abfall – eine Rohstoffquelle der Zukunft?, Pressehintergrundgespräch mit Gabriele Friderich und Helmut Schmidt, München, 7.2.2011.
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, Stefan Gäth | , Frances Eck
2022-02-17T00:00:00
2018-11-28T00:00:00
2022-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/281502/zur-falschen-zeit-am-falschen-ort/
Die Dinge, die wir ausmustern und wegschmeißen, sind zugleich ein Fundus an Materialien und Stoffen, die sich wieder nutzbar machen ließen. Am Beispiel der Rohstoffe Phosphor, Kobalt und Kupfer wird deutlich, welche Bedeutung effizientes Recycling ha
[ "Müll", "Abfall", "Recycling", "Ressourcen" ]
31,214
Zivilcourage in der Genozidgedenkstätte | Helfer, Retter und Netzwerker des Widerstands | bpb.de
Helmut Rez von der Gedenkstätte “Dachauer Forum”. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Im Workshop "Retter und Helfer – Zivilcourage damals und heute – Internationale Perspektiven, Transnationale Projekte und Gedenkstättenarbeit" sprachen außerdem Julia Franz von der “Edith Stein Society” und Ingrida Vilkiene von der "International Commission for the Evaluation of the Crimes of the Nazi and Soviet Occupation Regimes in Lithuania", während der Politologe Matthias Haß in den Workshop einführte und ihn moderierte. Zum Einführungsvortrag von Matthias Haß gelangen Sie hier: Interner Link: Workshop7_Haß.pdf Den Vortrag von Helmut Rez finden Sie hier: Interner Link: Workshop7_Rez.pdf Helmut Rez von der Gedenkstätte “Dachauer Forum”. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-01-30T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/konferenz-holocaustforschung/190889/zivilcourage-in-der-genozidgedenkstaette/
Helmut Rez vom "Dachauer Forum" stellte Ansätze der Arbeit der Gedenkstätte in Dachau vor, die über Gegenwartsbezüge versucht das Interesse junger Besucher zu wecken.
[ "Gedenkstätten", "Helfer", "Widerstand" ]
31,215
Unterrichtseinheit 2.1.3: Ich bin auf der neuen Insel angekommen, aber ich kann notfalls auf folgende Sachen verzichten… | VorBild – Politische Bildung für Förderschulen und inklusive Schulen | bpb.de
Ziele In dieser Unterrichtseinheit geht es darum, dass die Schüler/-innen darüber nachdenken, ob alle von ihnen empfundenen Wünsche und Bedürfnisse tatsächlich notwendig sind. Es soll hier begonnen werden, objektive Bedürfnisse, die in der Form von sozialen Rechten garantiert sein müssen, von Wünschen zu unterscheiden, die nicht unbedingt durch Rechte gesichert sein müssen. Benötigtes Material DIN A3-Kartonpapier in Blau Reißzwecken Interner Link: Arbeitsblatt (UE 2.1.3 AB 1): Was brauche ich unbedingt?Was muss da sein? Worauf kann ich verzichten? Achtsamkeiten Achten Sie bei diesen Übungen immer darauf, dass die eigenen, individuellen Bedürfnisse nicht durch den Gruppenzwang unterdrückt werden. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin unbedingt etwas dabei haben möchte, sollte dies auch zugelassen werden. Durchführung Heften Sie das blaue DIN A3-Kartonpapier an die Tafel und beschriften Sie dieses mit dem Satz "Worauf ich notfalls verzichten kann". Teilen Sie es mit einem Stift in Spalten auf (pro Kleingruppe eine Spalte). Notieren Sie die Namen der Kleingruppen in die jeweiligen Spalten.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-07-20T00:00:00
2022-03-24T00:00:00
2022-07-20T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/vorbild/506542/unterrichtseinheit-2-1-3-ich-bin-auf-der-neuen-insel-angekommen-aber-ich-kann-notfalls-auf-folgende-sachen-verzichten/
Auf der Fantasieinsel angekommen, müssen sich die Schüler/-innen wichtige Fragen stellen zu den Lebensbedingungen. Dies ist der Beginn der bewussten Unterscheidung zwischen eher lebenswichtigen und nicht so wichtigen Bedürfnissen.
[ "VorBild", "Politische Bildung", "Förderschule", "Insel", "Verzicht" ]
31,216
Religiöse Minderheiten in der Türkei | Religiöse Minderheiten im Islam | bpb.de
Einleitung Am 25. September 2005 fand in der Stadt Antakya, dem alten Antiochien, in der türkischen Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien die "I. Hatay-Zusammenkunft der Zivilisationen" statt. Der Gouverneur hatte eingeladen, und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hielt die Eröffnungsrede. Auch Papst Benedikt XVI. und Samuel P. Huntington, Autor des vielzitierten Clash of Civilizations, waren nach Hatay gebeten worden. "Wenn der Papst wirklich kommt, sieht er, wie friedlich in Hatay die Angehörigen der Religionen miteinander leben", hatte schon zwei Monate zuvor die Zeitung "Hürriyet" geschrieben. Sollte er die Einladung annehmen, würde Huntington klar werden, hieß es auch in der "Sabah", dass seine These, die Türkei passe nicht nach Europa, widerlegt sei. Zwar folgten weder der Papst noch Huntington der Einladung, doch die Häupter der einheimischen Kirchen und Religionsgruppen saßen auf dem Podium: der Präsident der staatlichen Religionsbehörde Ali Bardakoglu, der Ökumenische Patriarch der Griechisch-Orthodoxen Kirche Bartholomäus I., der Patriarch der Gregorianischen Armenier Mesrop Mutafyan, Oberrabbiner Izak Haleva, Bischof Yusuf Çetin von der Syrisch-Orthodoxen Kirche und Edmont Farhat, der Botschafter des Vatikans in der Türkei. Selbst die kleinen Gemeinden der Chaldäer und Nestorianer hatte ihre Priester geschickt. Das Treffen war keine Eintagsfliege. Ähnliche Zusammenkünfte gibt es immer wieder. Bereits am 15. Januar 2004 hatte in Istanbul mit nahezu denselben Teilnehmern eine Art Generalprobe für Hatay stattgefunden, und im Dezember 2007 trafen sich die lokalen Religionsführer in der türkischen Mittelmeerstadt Mersin. Was will man mehr, als dass sich der Regierungschef, die Spitzen der örtlichen Verwaltung und das staatliche Haupt der Mehrheitsreligion, des sunnitischen Islams, für Religionsvielfalt und Toleranz aussprechen? Doch es gibt eine zweite Seite der Medaille. Am 3. März eines jeden Jahres feiert der Landkreis Askale in der ostanatolischen Provinz Erzurum seine Befreiung von der "armenischen Besatzung". Wie jedes Mal zu diesem Tag seit nunmehr 20 Jahren wurde auch am 3. März 2008 den Kindern Askales die Schlechtigkeit und Grausamkeit der Armenier als Straßentheater vorgeführt: Nachdem sie sich betrunken haben, stecken armenische Banden erst die Moschee in Brand, dann erhängen sie den Imam und ermorden schließlich mit dem Seitengewehr das Baby in der Wiege. Endlich tauchen die türkischen Milizen auf, töten alle Armenier und machen dem Spuk ein Ende. Der Bürgermeister von Askale sagt, die Armenier hätten damals 600 Menschen ermordet, darunter 106 Frauen und 63 Kinder. Er lobt die Darstellung, die der Jugend die nationalen Werte einimpfe, und behauptet, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK bestehe letztendlich aus Armeniern. Ein Hauptmann der Armee ergreift das Wort, pflichtet dem Bürgermeister bei und sagt, die Armenier schrieben den Türken heute die Taten zu, die sie damals selbst begangen hätten. Wie Askale gedenken viele türkische Städte jährlich ihrer "Befreiung" vor nun fast 90 Jahren im Rahmen des Unabhängigkeitskriegs. Im Süden feiert man den Sieg gegen französisch-armenische Truppen, im Westen die Abwehr der griechischen Invasion. Zwar wird nicht überall blutiges Geschichtstheater aufgeführt, doch dass der Feind noch heute lauert, wird überall betont, und immer ist auch eine der einheimischen christlichen Gemeinden, Armenier oder Griechen, Teil des Feindbilds. Im Hinblick auf die religiösen Minderheiten in der Türkei spiegeln die beiden Szenen vollkommen konträre Vorstellungswelten wieder, die doch beide gleichzeitig Realität sind. Mehr noch, idealtypisch betrachtet stehen die Grundaussagen beider Szenen für zwei gegensätzliche Auffassungen von Geschichte und Religion. Doch bevor darauf eingegangen werden kann, muss zugestanden werden, dass die Szene friedlichen Nebeneinanders der Religionen selbstverständlich auch Teil einer gezielten Propaganda der Regierung ist, welche nach dem 11. September 2001 sowie den Terroranschlägen von Madrid und London 2004/05 dem wachsenden Widerstand gegen eine türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union begegnen will. Die Regierung Erdogan macht aus der Not eine Tugend. Sie präsentiert die Mitgliedschaft eines muslimischen Landes in der EU als Chance für den interreligiösen Ausgleich und will damit Bedrohungsängste aushebeln. "Unser Islam ist anders", lautet die Botschaft; "seht nur, wie wir mit Minderheiten umgehen." Religiöse Minderheiten im Osmanischen Reich Das harmonische Bild ist Ausdruck einer spezifischen Lesart der türkischen Geschichte, nach der das Osmanische Reich, der Vorgängerstaat der Republik Türkei, als ein für seine Zeit mustergültiger Hort von Toleranz und religiöser Vielfalt aufscheint. Ein prominentes Beispiel dafür liefert der Historiker Kemal Karpat: "Der Osmanische Staat war vielleicht der perfekteste islamische Staat, der je bestand. Sein Streben war darauf gerichtet, mit Hilfe des religiösen Rechts (Scheriat) einen homo islamicus hervorzubringen, während die Nichtmuslime über die liberalen Vorschriften des Millet-Systems in der Lage waren, ihren Glauben und ihre Identität zu bewahren." Karpat ist einer der angesehensten Historiker des Osmanischen Reichs und lehrt in den USA. Mit dieser Einschätzung steht er auch international nicht allein. In der Türkei wird diese Ansicht mit Nachdruck vertreten, und selbst Sprecher der christlichen Minderheiten beziehen sich positiv auf die historische Erfahrung der türkischen Gesellschaft mit Multikulturalität. Das von Karpat angeführte Millet-System ordnete alle Untertanen des Reiches Religionsgruppen, so genannten Millets, zu, die ihre religiösen, schulischen, sozialen und juristischen inneren Angelegenheit selbstverantwortlich regeln durften. An der Spitze stand die herrschende muslimische, danach kamen die griechisch-orthodoxe, die armenisch-gregorianische und dann die jüdische Millet. Auch wenn dieses "System" zeitlich und geographisch große Unterschiede aufwies, sicherte die ihm zugrunde liegende Haltung, dass die christlichen Völker des Balkans und Anatoliens mehrere hundert Jahre osmanischer Herrschaft mit ihrem Glauben, ihrer Sprache und ihrer Sozialorganisation überdauert haben. Gleichheit implizierte dieses System ebenso wenig wie die Verhältnisse im vormodernen Europa, doch kennt die Geschichte des Osmanischen Reichs keine Pogrome gegen Angehörige anderer Religionen, wie sie beispielsweise im christlichen Abendland gegen Juden verübt wurden. Der wirtschaftliche Aufstieg Europas sowie die Nationalbewegungen des Balkans brachten das Millet-System allmählich zum Erliegen. Letztere führten zunächst zur Ausweitung der Zahl der Millets: Es kamen die bulgarische, die rumänische, die protestantische und die (römisch-)katholische Millet hinzu. Die Idee des Nationalstaats und die Gründung von Staaten christlicher Völker auf altem osmanischem Territorium verwandelten die früher "beschützten nichtmuslimischen Untertanen" (dhimmî) zuerst in Gegner des Reiches und später in Feinde der neuen türkischen Nation. Das Reich versuchte mit "Neuordnungen" (tanzimat) eine politische Modernisierung, die auf die Schaffung einer osmanischen Staatsnation gerichtet war, deren Mitglieder unabhängig von der Religion die gleichen Staatsbürgerrechte haben sollten. Doch die Reformen konnten die Frontenbildung zwischen Muslimen und Christen nicht aufhalten, denn die "Neuordnungen" stellten Nichtmuslime den Muslimen rechtlich gleich und machten aus ihnen zuerst politische und wirtschaftliche Konkurrenten und dann "Fünfte Kolonnen" der europäischen Kolonialmächte. Das Bild der friedlichen, wenngleich hierarchischen Ordnung der Religionen, welches in Hatay beschworen wurde, wich dem Bild von der Frontstellung zwischen Christen und Muslimen, wie es uns im Befreiungstheater von Askale entgegentritt. Religiöse Minderheiten in der Zeit des Nationalismus Wichtige Zwischenschritte im Übergang von einem zum anderen Bild waren der osmanisch-russische Krieg von 1879, die Balkankriege 1912/13 sowie der Unabhängigkeitskrieg nach dem Ersten Weltkrieg. Die Niederlagen der Osmanen auf dem Balkan führten zur Massenflucht von mehreren Hunderttausend Türken und Muslimen in die Gebiete Anatoliens und transportierten das Bild vom aggressiven Christen. Das Gegeneinander von Christen und Muslimen wiederholte sich im türkischen Unabhängigkeitskrieg (1918 - 1923), als sich die türkischen und kurdischen Muslime im Namen der Rettung von Reich und Kalifat gegen die christlichen Besatzer (Italiener, Franzosen und Griechen) erhoben. "Amtlich" und international "gerechtfertigt" wurde die Gleichsetzung von religiöser und nationaler Zugehörigkeit durch den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der 1923 auf Vorschlag des griechischen Ministerpräsidenten Elefthérios Venizélos abgeschlossen wurde. Rund 1,2 Millionen "Griechen" mussten damals die Türkei, etwa 400 000 "Türken" Griechenland verlassen. Das Kriterium für die Volkszugehörigkeit war nicht die Sprache, sondern die Religion. Über 400 000 weitere Muslime kamen zwischen 1923 und 1939 im Rahmen ähnlicher Verträge aus Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien nach Anatolien. Dieser auf zwischenstaatlicher Abmachung beruhenden, "zivilen" ethnischen Säuberung von Griechenland, Teilen des Balkans und der Türkei war bereits während des Ersten Weltkrieges die Auslöschung armenischen Lebens in Anatolien vorausgegangen. Die offizielle Türkei bestreitet noch heute, dass die "Deportationen" von rund 800 000 Armeniern auf die Vernichtung des armenischen Volkes zielten, und erhält dabei von einigen westlichen Akademikern Unterstützung. Gleichzeitig sind jedoch in den vergangenen Jahren erstmals auch in der Türkei diejenigen zu Wort gekommen, die von einer von langer Hand vorbereiteten Ausrottung der Armenier sprechen. Zwei Dinge stehen im Zentrum dieser gewaltsamen Konflikte zwischen Christen und Muslimen: zum einen das Aufkommen des modernen Nationalstaats in Europa, zu dessen Credo es gehört, dass er nur einer kulturellen Gruppe, seiner Nation, verpflichtet ist; zum zweiten die Entwicklung nationaler Identität aus religiöser Zugehörigkeit. Auf dem Balkan und auch bei den Armeniern waren die Kirchen und ihre Schulen Keimzellen des Nationalgedankens und die ersten nationalen bzw. nationalistischen Institutionen. Die Türken übernahmen dieses Konzept von Staatsbürgerschaft, das auf der Deckungsgleichheit von Religion und Nation und damit auf der ausschließlich kulturellen Begründung von Staatszugehörigkeit und Staatsbürgerrechten beruht. Für die Nichtmuslime der Türkei bedeutete dies freilich, dass sie in eine so verstandene moderne türkische Nation im Grunde genau so wenig integrierbar sind wie Muslime in die christlichen Nationen des Balkans. Die kulturell homogene Nation Für die politische Kultur der Republik Türkei ist noch ein weiterer Aspekt wichtig. Riza Nur, der bei den Verhandlungen von Lausanne im Ausschuss "Minderheitenfragen" die Türkei vertrat, schreibt in seinen Erinnerungen: "Die Europäer unterscheiden bei uns drei Arten von Minderheiten: rassisch, sprachlich und religiös. Das ist für uns äußerst gefährlich." Nur zählt dann die verschiedenen von Europäern genannten Minderheiten auf und kommt zu dem Schluss: "Praktisch heißt das, dass sie [die Europäer] uns in alle Winde zerstreuen werden. (...) Wir müssen daraus die Lehre ziehen, dass es für uns nur darum gehen kann, im Vaterland keinen Menschen anderer Rasse, anderer Sprache und anderer Religion zu dulden." Damit war nicht die Ausmerzung von "rassischen" und sprachlichen Minderheiten gemeint, sondern ihre Assimilation mit dem Türkentum. Als Bedingung für erfolgreiche Assimilation galt die Zugehörigkeit zum Islam. Musterhaft zeigte sich dies im "Siedlungsgesetz" von 1926, welches drei Gruppen von Einwohnern unterschied: 1. Türken und Türkischsprachige; 2. Nichttürkischsprachige mit Nähe zur türkischen Kultur; 3. Gruppen nichttürkischer Kultur. Kultur diente als Deckwort für Islam. Der Staat hatte seine Säkularisierungspolitik aufgenommen und konnte deshalb den Islam, den er gleichzeitig zurückdrängen wollte, nicht offen zum Kriterium für den Staatsbürger machen. Das Siedlungsgesetz ermächtigte das Innenministerium, Angehörige der Gruppen 2 und 3 umzusiedeln oder des Landes zu verweisen. Zudem wurde verboten, Gruppen von Nichtmuslimen kollektiv die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Zwar wurden die Staatsbürgerrechte offiziell nie an die Religionszugehörigkeit geknüpft, doch die entsprechende Haltung zieht sich durch die Stellungnahmen von Politikern, durch Gerichtsurteile und indirekt auch durch Gesetze und Erlasse. In den 1920er Jahren wurden Privatfirmen gezwungen, den Großteil ihrer nichtmuslimischen Angestellten zu entlassen, und das Beamtengesetz von 1926, welches bis 1965 in Kraft war, machte nicht die Staatsangehörigkeit, sondern die Eigenschaft "Türke" zur Voraussetzung für die Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Noch heute findet sich in der Spitzenbürokratie und in den Offiziersrängen kein einziger Nichtmuslim. Im Jahre 1974 klassifizierte der Kassationsgerichtshof die Stiftungen der religiösen Minderheiten, die Staatsbürger der Türkei sind, als "Stiftungen von Ausländern", und noch 2006 nahm die "Staatsprüfungsbehörde", die dem Staatspräsidenten untersteht, die nichtmuslimischen Stiftungen in ihrem Bericht über den Immobilienerwerb von "Ausländern" in der Türkei auf. Der damalige Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer weigerte sich ein Jahr später, die Neufassung des Stiftungsgesetzes zu unterzeichnen, weil das Gesetz den Minderheitenstiftungen angeblich über den Vertrag von Lausanne hinausgehende Rechte einräume, was "den Interessen der türkischen Nation sowie den historischen und moralischen Werten des Türkentums" widerspreche. Politiker der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der extrem rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) fordern heute, eine Gleichbehandlung der nichtmuslimischen Minderheiten von der Lage der muslimischen Türken im griechischen Westthrazien abhängig zu machen, "und nehmen auf diese Weise die nichtmuslimischen Staatsbürger der Türkei für die Lage der türkisch-muslimischen Artgenossen' (in Griechenland) als Faustpfand". Die eben beschriebene Haltung und kein religiöses Dogma liegt dem langsamen Sterben nichtmuslimischer Gemeinden in der Türkei zugrunde. Die Zahl der Nichtmuslime für das Gebiet der heutigen Türkei nahm im Laufe der vergangenen hundert Jahren immer mehr ab (siehe Tabelle der PDF-Version). Der große Einschnitt von 1914 bis 1927 ist Folge der armenischen Katastrophe, des Bevölkerungsaustauschs mit Griechenland und der muslimischen Einwanderung aus dem Balkan. Die weitere Abnahme der Nichtmuslime seit 1927 hängt mit verschiedenen Maßnahmen zusammen, die aus der Vorstellung einer kulturell homogenen Nation herrühren. Zu den wichtigsten zählen: die Verweigerung der Rechte aus dem Lausanner Vertrag für die ostanatolischen Gemeinden der Syrischen und Nestorianischen Kirche seit der Gründung der Republik; die willkürliche Beschränkung des nichtmuslimischen Wirtschaftslebens durch Einschränkung der Freizügigkeit und der Beschäftigung sowie durch Ausgrenzung der Nichtmuslime aus dem öffentlichen Dienst in den 1920er Jahren; staatlich initiierte Übergriffe gegen Juden in Ostthrazien und ihre Vertreibung nach Istanbul im Jahr 1934; Einberufung aller nichtmuslimischen Männer zwischen 20 und 44 Jahren zum Militärarbeitsdienst im Jahr 1941; Einführung einer Sondersteuer für "Kriegsgewinnler" 1942, die zur Enteignung von nichtmuslimischen Geschäftsleuten genutzt wurde; staatlich initiierte Pogrome gegen nichtmuslimische Geschäfte und Wohnungen in Istanbul im Rahmen der Zypernkrise 1955; willkürliche Ausweisungen griechischer Staatsbürger im Rahmen der Zypernkrise 1964 und Schwächung der griechischen Gemeinde Istanbuls; seit 1974 die schleichende Enteignung der Kirchen-, Schul- und Krankenhausstiftungen der nichtmuslimischen Minderheiten. Nichtmuslime in der Türkei heute Von den etwa 300 000 Armeniern, die bei Gründung der Republik noch in der Türkei gelebt haben sollen, sind heute noch rund 60 000 übrig. Nach einer Kampagne des Istanbuler Patriarchats zur Umsiedlung leben sie fast ausschließlich in Istanbul. Die Istanbuler Griechen, die zusammen mit den Türken in Westthrazien von Bevölkerungsaustausch ausgenommen worden waren, zählten noch Anfang der 1940er Jahre etwa 125 000 Personen. Heute ist die Gemeinde auf weniger als 2000 Mitglieder geschrumpft und ist aus eigener Kraft nicht überlebensfähig. Obwohl die jüdische Gemeinde von allen Minderheitengruppen die besten Beziehungen zum Staat unterhält, ist ihre Zahl von rund 80 000 in den 1930er Jahren auf heute 17 000 zurückgegangen. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 200 000 Gläubige in ihren Zentren an der syrischen Grenze hatte, verfügt dort heute nur noch über rund 4500 Mitglieder. Etwa 10 000 syrische Christen leben in Istanbul. In Schweden und Deutschland leben heute jeweils etwa 60 000 Mitglieder dieser Kirche. Die Liste der Probleme der Gemeinden ist lang, und den Bemühungen, sie zu verkürzen, war bisher nur wenig Erfolg beschieden. Obwohl der Vertrag von Lausanne allen nichtmuslimischen Minderheiten die Weiterführung und Neugründung ihrer Institutionen zusicherte, gewährt der Staat diese Rechte nur äußerst selektiv. Die ostanatolischen Kirchen (Syrer und Nestorianer) können bis heute keine eigenen Schulen betreiben, und die syrischen Christen wurden selbst für den außerschulischen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache häufig vor den Kadi gezerrt. Die protestantischen Gemeinden meist türkischer Konvertiten (etwa 5000) sind für den Staat nicht existent. Bis Juli 1990 mussten die Kinder beider Gruppen am staatlichen Religionsunterricht teilnehmen, der aus islamischer Perspektive unterrichtet wird und noch immer auch islamischen Kult lehrt und abfragt. Alle Staatsbürger zahlen die gleichen Steuern, doch nur (sunnitische) Muslime erhalten religiöse Dienstleistungen. Die Minderheiten müssen nicht nur die Kosten für Religionslehrer und Geistliche selbst tragen, der Staat erlaubt auch nicht, dass geistlicher Nachwuchs ausgebildet wird. Die Priesterseminare der Griechisch-Orthodoxen und der Armenisch-Gregorianischen Kirche (Chalki und Tibrevank) wurden in den 1970er Jahren ohne Ersatz staatlicherseits geschlossen. In den Schulen der Minderheiten wird seit Jahrzehnten um Unterricht in der Muttersprache gestritten. Ein obligatorischer stellvertretender Direktor, der immer "Türke" (sprich: Moslem) ist, führt in den Schulen der Minderheiten oft das eigentliche Regiment. Das finanzielle Rückgrat der Gemeinden bilden ihre Kirchen-, Schul- und Sozialstiftungen. Mit den verschiedensten Begründungen werden seit den 1960er Jahren immer wieder Immobilien beschlagnahmt und Stiftungen willkürlich dem staatlichen Stiftungsdirektorium unterstellt; die Eintragung von Schenkungen wird verhindert. Insgesamt sollen 150 Milliarden US-Dollar auf dem Spiel stehen. Die bisherigen Reformen erlaubten bisher nur in einem Fünftel der Fälle eine befriedigende Lösung. Muslimische Zivilgesellschaft? Es ist kein Zufall, dass das Bild religiöser Vielfalt in der Türkei, welches am Anfang dieses Beitrags steht, primär von muslimischen Kreisen geschaffen und von ihnen benutzt wird. Muslimische Zusammenschlüsse wie die "Stiftung für Schriftsteller und Journalisten" waren die ersten, die den interreligiösen Dialog betrieben, und die muslimisch-konservative AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Erdogan benutzt Auftritte wie den in Hatay für ihren EU-Kurs. Die AKP war es auch, welche die bescheidenen Verbesserungen für Nichtmuslime durchsetzte: Das 6. Anpassungspaket ersetzte im Bebauungsplangesetz (Imar Kanunu) den Ausdruck "Moschee" durch "Gebetshaus" und machte damit die formelle Gleichbehandlung und Neuerrichtung von Kirchen möglich. Die Verwaltung darf seither auch Minderheitenstiftungen Schenkungsimmobilien überschreiben. Erste Schritte zur Gleichbehandlung der Syrisch-Orthodoxen Kirche im Rahmen der Lausanner Vorschriften wurden eingeleitet, und diskriminierende Nummernfolgen in den Pässen der Minderheiten fielen weg. Gleichzeitig machte die Regierung Vorstöße zur Öffnung des griechischen Priesterseminars und verabschiedete ein neues Stiftungsgesetz. Unter allen türkischen Politikern sprach sich bisher nur der Premierminister klar dagegen aus, "religiösen Nationalismus" zu betreiben, denn es sei nicht Aufgabe des säkularen Staates, den Titel " christlicher Geistlicher" zu bewerten. Die Opposition sieht in alldem "Verrat" an der Türkei und eine Schwächung des spezifischen türkischen Laizismus. Denn dieser kennt keine Selbstorganisation der Mehrheitsreligion und deshalb auch keine Trennung von Staat und Religion. Ein Recht der Nichtmuslime auf selbstbestimmte Ausbildung ihres geistlichen Nachwuchses, so fürchtet man, ziehe schnell ähnliche Forderungen von muslimischen Kreisen nach sich. Gleiches gilt für die Gewährung eines rechtlichen Status für die Kirchen jenseits ihrer Verfasstheit als eine Reihe von "Immobilienstiftungen". Religion als Aufgabe der Zivilgesellschaft zu verstehen, würde ganz von selbst die Trennung von Staat und Religion, religiöse Vielfalt und rechtliche Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religion bedeuten. Für die Türkei ist ein solches Konzept noch immer Neuland. Es setzt voraus, dass sich die Geisteshaltung ändert, wonach der Staat seine Nation kulturell formen darf, ja muss, weil es für den Bestand des Staats als unabdingbar gilt. Das bedeutet jedoch auch, dass sich die Republik Türkei von ihrem Misstrauen den eigenen muslimischen Bürgern gegenüber lösen müsste. Vgl. Hürriyet vom 10.7. 2005; Sabah vom 19.6. 2005; Yeni Safak vom 25.8. 2005; Radikal-Iki vom 2.10. 2005. Vgl. Günter Seufert/Christopher Kubaseck, Die Türkei, München 2006, S. 161, und Hürriyet Çukurova vom 22.12. 2007. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten armenische Freischärler, ein unabhängiges Armenien in Anatolien zu gründen. Vgl. Radikal vom 4.3. 2008. Vgl. www.kenthaber.com/Arsiv/Haberler/2008/Mart /03/Haber_344761.aspx (25.4. 2008). Vgl. Murat Belge, Askale zevksizligi, in: Radikal vom 7.3. 2008. Kemal Karpat, Balkanlar'da Osmanli mirasi ve ulusçuluk, zit. nach: www.turkdirlik.com (25.4. 2008). Vgl. z.B. Benjamin Braude/Bernard Lewis (eds.), Christian and Jews in the Ottoman Empire: the functioning of a plural society, New York 1982. Vgl. Hrant Dink, Die Saat der Worte, hrsg. von Günter Seufert, Berlin 2008 (Schiler-Verlag, i.E.), Artikel vom 14.12. 2001. Vgl. aus erster Anschauung: Charles Eliot, Turkey in Europe, London 1900, hier: Ausgabe 1965, S. 65f. Vgl. Çetin Yetkin: Türkiye'nin devlet yasaminda Yahudiler (Juden im türkischen Staatsleben), Istanbul 1992. Von 1876 bis 1927 kamen nach offiziellen Dokumenten 1 994 999 Muslime aus dem Balkan und dem Kaukasus in das Osmanische Reich bzw. ab 1923 in die Republik Türkei; vgl. Cem Behar (Hrsg.), Omanli Imperatorlugu ve Türkiye nüfusu, Bd. II, Ankara 1996, S. 51 und S. 62. Vgl. Ahmet Içduygu: Türkiye'de uluslararasi göçün siyasal arka plani (Der politische Hintergrund internationaler Migration in der Türkei), erscheint auf Deutsch in: Barbara Pusch, Facetten internationaler Migration in die Türkei, Würzburg 2008 (i.E.). Darunter Norman Stone, Bernard Lewis, Guenter Lewy und Standford Shaw. Vgl. zuletzt Taner Akçam, Ermeni meselesi hallolumustur (Die armenische Frage ist gelöst), Istanbul 2008. Für das bulgarische Bespiel vgl. Ch. Eliot (Anm. 10), S. 314 ff.; Tobias Heinzelmann, Die Balkankrise in der osmanischen Karikatur, Istanbul 1999, S. 36ff. Für die Armenier vgl. H. Dink (Anm. 9), Artikel vom 14.11. 2003. Der Vertrag von Lausanne, abgeschlossen nach dem türkischen Unabhängigkeitskrieg 1923, legte die Grenzen des türkischen Staates fest. Zit. nach Ayhan Aktar, Varlik Vergisi ve Türklestirme politikalari (Besitzsteuer und Türkisierungspolitik), Istanbul 2004, S. 111. Vgl. Soner Çagatay, Kemalist dönemde göç ve iskan politikalari (Siedlungs- und Migrationspolitik in der kemalistischen Periode), Toplum ve Bilim, Sommer 2002, S. 218 - 241. Vgl. A. Aktar (Anm. 18), S. 119. H. Dink (Anm. 9), Artikel vom 19.2. 1999. Vgl. Devlet Denetleme Kurumu, Bericht vom 6.2. 2006, S. 3; www.cankaya.gov.tr (27.9. 2007). Zit. nach Baskin Oran, Vakiflar Yasasi (Stiftungsgesetz), Serie in Radikal vom 7. bis 9.2. 2008; hier: Ausgabe vom 8.2. 2008. Turgut Tarhanli, zit. nach Baskin Oran, Islamci laiklerimizle bir gece (Ein Abend mit unseren islamistischen Laizisten), in: Radikal-Iki vom 24.2. 2008. Vgl. A. Içduygu (Anm. 13). Oran 2008, Ausgabe vom 9.2. 2008. Vgl. Kurtulus Tayiz, Resmi raporda Yahudi tehciri, in: Taraf vom 24.4. 2008. Vgl. H. Dink (Anm. 9), Artikel vom 5.1. 2001. Vgl. ebd., Artikel vom 6.12. 2002. Vgl. Dilek Kurban, Vakiflar Kanunu tasarisi gayrimüslim Cemaat Vakflari'nin sorunlari için çözüm getirmiyor (Der Entwurf des Stiftungsgesetzes löst die Probleme der Minderheitenstiftungen nicht), TESEV-Bericht, in: Agos vom 7.12. 2007, S. 12f. Oran 2008, Ausgabe vom 7.2. 2008. Dabei geht es um den Titel "Ökumenisches Patriarchat", den das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat beansprucht und der es zum Primus inter pares seiner Zunft machen soll, während es für die türkischen Behörden nur der Bischofssitz von Istanbul ist. Vgl. dazu Günter Seufert, Staat und Islam in der Türkei, SWP-Bericht, Berlin 2004.
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Seufert, Günter
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31145/religioese-minderheiten-in-der-tuerkei/
Religion als Aufgabe der Zivilgesellschaft zu verstehen, würde die Trennung vom Staat und religiöse Vielfalt bedeuten. Für die Türkei ist ein solches Konzept noch immer Neuland.
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M 01.05. "#Aufschrei" - Diskriminierungsdebatte auf Twitter | Partizipation 2.0 | bpb.de
In Deutschland findet seit Anfang des Jahres 2013 das Thema „Sexismus“ neue Beachtung. Sexismus ist eine "Bezeichnung für jede Art der Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts" (Enzyklo. Online Enzyklopädie: Sexismus, Externer Link: http://www.enzyklo.de/Begriff/Sexismus [21.06.2013]). Eine Bloggerin rief auf Externer Link: Twitter dazu auf, Erfahrungen und Geschichten zu diesem Thema unter dem Hashtag (ein Hashtag markiert relevante Schlagworte innerhalb des Tweets) "#Aufschrei" zu veröffentlichen. Es entfachte sich eine große Diskussion per Twitter, die sich mit diesem gesellschaftlich relevanten Thema beschäftigte. Entstehung des #Aufschreis Die Bloggerin Anne Wizorek schrieb in ihrem Blog über das Thema sexuelle Belästigung mit dem Verweis auf die Twitter-Kampagne Externer Link: "Everyday-Sexism" (www.twitter.com/EverydaySexism) in England. Ein wichtiger Katalysator der Twitterdebatte war ein Fernsehinterview mit einer jungen Journalistin, die sich über das anzügliche Verhalten eines Politikers öffentlich beschwerte. Daraufhin schlug die Bloggerin Anna Wizorek vor, alle Beiträge und Erfahrungen zum Thema Sexismus über den Hashtag "#Aufschrei" zu sammeln. Es folgte eine unerwartet hohe Beteiligung. Viele Frauen schilderten ähnliche Erfahrungen wie die der jungen Journalistin. Die Wirkung des #Aufschreis Zwischen dem 25. und 31. Januar gab es 49.000 Tweets (Beiträge) mit dem Hashtag #Aufschrei und 30.000 Retweets (Antworten). Anna Wizorek erstellte daraufhin eine eigene Webseite zu diesem Thema (Externer Link: www.alltagssexismus.de). Auf dieser Webseite veröffentlichte sie z. B. einen Aufruf zur Petition gegen die öffentlich-rechtlichen Medien mit der Aufforderung, angemessen über die Sexismusdebatte zu berichten. Die Bloggerin wurde zu der Talkshow "Günter Jauch" eingeladen. Ihr TV-Auftritt bewirkte wiederum eine große Beteiligung an der Online-Diskussion auf Twitter. Auch Zeitungen und die internationale Presse berichteten über den "#Aufschrei". Anfang Mai wurde der "#Aufschrei" für den Grimme-Online-Preis, der innovative und einzigartige Netzprojekte auszeichnet, nominiert. Eigener Text nach: Gabriela M. Keller: #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek. Die stille Aufrührerin, in: taz, 13.02.2013, Externer Link: www.taz.de/!110938/ (02.05.2013). Taz.de, Sexismus-Debatte auf Twitter. 50.000facher #Aufschrei, 08.02.2013, Externer Link: www.taz.de/Sexismus-Debatte-auf-Twitter/!110663/ (02.05.2013). Spiegel Online, Sexismusdebatte: #Aufschrei führt zu Twitter-Rekord, 08.02.2013, Externer Link: www.spiegel.de/netzwelt/web/aufschrei-fuehrt-zu-twitter-rekord-a-882207.html (02.05.2013). ZEIT Online, #aufschrei für Grimme Online Award nominiert, 02.05.2013, Externer Link: www.zeit.de/digital/2013-05/grimme-online-award-2013 (23.05.2013). Aufgaben: Lies dir das Material durch und notiere Stichworte zu den folgenden Fragen: Worum geht es bei der Aktion? Wie entstand sie? Welchen Verlauf nahm sie? Welche Zielgruppe sollte angesprochen werden? Wie beurteilst du die Aktion? Können Jugendliche so Einfluss auf die Politik nehmen? Warum/Warum nicht? Triff dich nun mit den Mitgliedern deiner Gruppe und tausche dich mit ihnen über die in Aufgabe 1 formulierten Fragen aus. Erstellt auf der Grundlage der Stichworte einen Steckbrief über die Aktion und no-tiert diesen auf einem Gruppenplakat: Name Entstehung Verlauf Verbreitungsmedium Zielgruppe
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-06-20T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-20/163692/m-01-05-aufschrei-diskriminierungsdebatte-auf-twitter/
Dieses Arbeitsmaterial gehört zu einem Gruppenpuzzle und beschreibt den #Aufschrei, eine Internetdebatte zum Thema Sexismus, die sich durch Twitter im Internet entfachte.
[ "Grafstat" ]
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Erst mal kennenlernen - und dann weiterlesen? | Lokaljournalismus | bpb.de
So früh wie möglich und am besten mehrmals: So sollen Kinder und Jugendliche "ihre" Zeitung kennen- und schätzen lernen. Die Initiativen, mit denen sich deutsche Tageszeitungsverlage an junge und jüngste Leser wenden, sind ebenso vielgestaltig wie flächendeckend: Manche basteln schon im Kindergarten mit dem lokalen Blatt, die meisten lesen die Tageszeitung als Schüler, andere vertiefen sich als Azubis in die aktuellen Meldungen. "Seit 1979 das erste Projekt in Aachen startete, hat sich Zeitung und Schule etabliert und ausdifferenziert", sagt Anja Pasquay, Sprecherin des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV). Es gibt kaum einen unter den 350 deutschen Tageszeitungsverlagen, der sich nicht in diesem Feld engagiert. Thorsten Merkle, der beim BDZV das Wissensnetzwerk der Initiative junge Leser (JuLe) leitet, nennt zwei Ziele: Zum einen soll die Lektüre der Tageszeitung das Interesse junger Menschen am Gemeinwesen wecken, ihre Allgemeinbildung und Medienkompetenz stärken. Zum anderen ist es ein (Marketing)-Instrument der Verlage, um Lesernachwuchs zu gewinnen: Schließlich beginne, so die Verleger, die Lesekarriere bereits in Kindheit oder Jugend – oder eben gar nicht. Der erste Weg, Kinder und Jugendliche an die Tageszeitung heranzuführen, sind Kinder- und Jugendseiten oder spezielle Beilagen. Sie greifen die Interessen der Altersgruppe von 6 bis 18 Jahren auf, richten sich in der Themenwahl und in ihrer Sprache auf die Zielgruppe aus. Um die Angebote aber nutzen zu können, muss die nachwachsende Generation die Zeitung überhaupt einmal kennenlernen: Viele Kinder und Jugendliche erfahren heute - auch durch sinkende Abonnenten-Zahlen - den ersten Kontakt nicht mehr über das Elternhaus. An dieser Lücke setzen die "Zeitung in der Schule-Projekte" an: Die Zeitung wird über mehrere Wochen oder sogar Monate kostenlos in die Klasse zugestellt, die Pädagogen erhalten vorbereitetes Lehrmaterial. Noch greifbarer erleben die Schüler die Zeitung durch Besuche von Redakteuren in der Schule oder durch Besichtigungen von Redaktion und Druckerei. Zudem veröffentlichen viele Verlage die Artikel, die in den jungen Zeitungsprojekten entstehen, in ihren Lokalteilen oder Jugendseiten. So, hoffen sie, werden die Schülerinnen und Schüler den Wert der Tageszeitung erkennen. Finanziert wird "Zeitung in der Schule" durch die Verlage, aber auch Sponsoren aus der Wirtschaft (an erster Stelle Banken und Finanzdienstleister) beteiligen sich pauschal oder durch Patenabonnements. Im Nebeneffekt steigern die Verlage mit den jungen Projekten auch ihre Auflage. Es zählen jedoch lediglich Patenabonnements zur "verkauften Auflage", gesponserte Zeitungen fallen unter die "sonstige Auflage". Unterstützung erhalten die verschiedenen Initiativen von den Bildungs- und Kultusministerien der Länder. Neben der Hoffnung auf eine zukünftige Leserschaft verbirgt sich schließlich ein weiteres Anliegen in diesem Engagement: Die Auseinandersetzung mit der Zeitung in der Schule soll Lese- und Informationskompetenz und Demokratieverständnis fördern. So hatte bereits 2006 die Kultusministerkonferenz die Zusammenarbeit von Zeitungsverlagen und Schulen ausdrücklich begrüßt. Lesen sei eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches Lernen und ein selbstbestimmtes Leben. Welchen Effekt hat die frühe Leseförderung für die Zeitung? Bernd Neumann, Staatsminister für Kultur und Medien, betont die enge Verzahnung von Informiertheit und demokratischer Mitbestimmung: "Unsere Demokratie kann nur dann bestehen, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger, gerade auch die jungen, mit politischen Themen beschäftigen und sich darüber informieren, was für unser Land, für die Welt und damit für uns alle wichtig ist. Diese Themen werden in Zeitungen und Zeitschriften heute immer noch besonders gründlich, vielseitig und übersichtlich behandelt". Das Netzwerk "Die Nationale Initiative Printmedien" des Bundes, in dem sich 2008 verschiedene Verleger und Presseverbände zusammengeschlossen haben, will Schülerinnen und Schüler beispielsweise über einen bundesweiten Schülerwettbewerb zur Auseinandersetzung mit Medien- und Meinungsvielfalt anregen. Gleich aus welcher Perspektive – ob Leser werben oder Lesekompetenz gewinnen – bleibt es ein Köder an einer langen Leine. Werden Schüler, die in der Mittelstufe einige Wochen die Zeitung lesen, eine regionale Tageszeitung abonnieren, wenn sie später einen eigenen Haushalt gründen? Wie positiv wirkt sich die frühe Lesephase tatsächlich aus? Langzeitstudien, die zudem eindeutige Ergebnisse liefern, fehlen bisher. Aber es gibt vielversprechende Indizien: Aus Umfragen in den USA weiß man, dass 30- und 40-jährige Zeitungsabonnenten überdurchschnittlich häufig in der Schule Zeitung gelesen hatten. Und jüngst hat die Heilbronner Stimme zwei Durchläufe ihrer Schülerprojekte verglichen und herausgefunden: Wer schon als Grundschüler die Zeitung kennengelernt hat, ist in der 8. Jahrgangsstufe aufgeschossener für die Nachrichtennutzung und kann sich besser orientieren – in der Zeitung wie im täglichen Leben. Um die hochgesteckten Ziele zu erreichen, setzen die Verlage auf ähnliche Kernelemente: Das kostenlose Abo und die Aufarbeitung im Unterricht. Im Detail unterscheiden sich die Ansätze aber. Dadurch ermöglicht sich nicht nur die Ansprache einer bestimmten Altersklasse, sondern auch die Zeitung fächerübergreifend anzudocken: An den Sprachunterricht, an Fächer wie Geschichte, Sozialwissenschaft, Wirtschaft, den Politikunterricht oder aber die Projektarbeit. Auch was die Organisation betrifft, gibt es unterschiedliche Ansätze. Hausgestrickte Modelle mit selbstkonzipierten Materialien stellen die Mehrzahl. Daneben greifen viele Zeitungen auf die Angebote medien-pädagogische Dienstleister zurück wie das Izop-Institut, Promedia, mct media consulting team oder raufeld medien. Sie bieten verschiedene Baukastensysteme an, aus denen sich die Zeitungen und Verlage bedienen können mit Unterrichtsmaterialen, Lehrerbroschüren, Newslettern, Organisation und Begleitaktionen. Aktuelle Trends der seit 30 Jahren lebendigen Idee sind Kindergartenprojekte, bei denen die Jüngsten Artikel ausschneiden und mit der Zeitung basteln und so auch ihre Eltern dafür interessieren, genauso wie Azubi-Projekte. Hier stehen die Bildung und der Nutzwert täglicher Nachrichten im Mittelpunkt – auf beides legen die Betriebe großen Wert. Aus der Vielzahl der Projekte sollen an dieser Stelle exemplarisch die größten Modelle sowie neue Ansätze vorgestellt werden. Klasse! Bei dem Zeitungsprojekt der Mediengruppe Main-Post gibt es kein Muss: Jeder Lehrer kann entscheiden, ob und wann seine Klasse die vierwöchige Zeitungszustellung in Anspruch nimmt und wie er "Klasse!" einsetzt. Das Lehrmaterial freilich ist immer auf dem neuesten Stand: Anhand aktueller Meldungen und Berichte aus dem Lebensumfeld der Schüler – der regionalen Tageszeitung mit ihren Lokalteilen – werden Darstellungsformen erklärt, die Struktur der Zeitung aufgezeigt und das Schreiben eigener Artikel angeregt. Gleich, ob sie den Schulalltag, die Chatsprache oder das Lieblingstier thematisieren. Aber auch das Schreiben ist kein Muss. Absolute Freiwilligkeit bezeichnet Peter Krones, leitender Redakteur und Initiator des Projekts, als Grundvoraussetzung für den anhaltenden Erfolg von Klasse! Im Schuljahr 2010/2011 haben im Verbreitungsgebiet der Main-Post exakt 27.873 Schülerinnen und Schüler in 1264 Klassen daran teilgenommen. Schon beim Start 1996 waren es 412 Klassen mit 10.000 Schülern. Ursprünglich für die 8. und 9. Jahrgangsstufe konzipiert, erreicht Klasse! inzwischen auch Grundschulen, die Oberstufe und Berufsschulen. Inzwischen setzen 30 regionale Tageszeitungen das Konzept von Klasse! um. Externer Link: Klasse! - Mainpost ZeiLe steht für "Zeitung lesen macht Azubis fit". Die Idee kommt von der Rheinpfalz: Ein Jahr lang erhalten Auszubildende die Tageszeitung frei Haus, finanziert wird sie vom Ausbildungsbetrieb. Ob die jungen Leute tatsächlich lesen, wird alle 14 Tage mit einem Quiz überprüft. Außerdem findet zu Beginn und Ende des Zeitungsjahres ein allgemeiner Wissenstest statt, die Ergebnisse werden an die Ausbilder weitergeleitet. Neben dem Allgemeinwissen sollen auch Schreib- und Lesekompetenz gefördert werden – und in der Folge die Leistungen in der Berufsschule und abschließend auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gesteigert werden, so die Projektinitiatoren. Dabei wird "ZeiLe" wissenschaftlich von der Universität Koblenz-Landau begleitet und ausgewertet. Seit 2009 fördert die Ministerien für Bildung, Kultur und Wissenschaft in Rheinland-Pfalz und im Saarland zudem die Aktion. Ergebnis: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe hatten die lesenden Azubis ihr Allgemeinwissen um durchschnittlich elf Prozent verbessert, sie konnten sich besser ausdrücken und hatten ihre Rechtschreibung verbessert. Zudem war ihre Lust aufs Zeitunglesen gewachsen. Fazit der Wissenschaftler: "Der Nutzen für die Gesellschaft liegt auf der Hand: Auszubildende, die über das Tagesgeschehen informiert sind, die sich für die Region, in der sie leben, interessieren, und gleichzeitig über mehr Allgemeinwissen verfügen, sind nicht nur für die ausbildenden Unternehmen wertvolle Mitarbeiter. Sie können sich auch ihrer Verantwortung als mündige, politisch informierte Bürger stellen und aktiver am gesellschaftlichen Leben teilnehmen." Das Modell haben im Ausbildungsjahr 2009 fünf Zeitungsverlage in Rheinland-Pfalz und dem Saarland übernommen, im Ausbildungsjahr 2011/12 beteiligen sich mehr als 1000 Azubis. Externer Link: Rheinpfalz Externer Link: Universität Koblenz-Landau Die ZeitungsZeit in Nordrhein-Westfalen ist die größte bundesweite Initiative im Themenfeld von Zeitung und Schule. Sie zielt mit dem Slogan "Selbstständigkeit macht Schule" speziell auf die ökonomische Bildung und richtet sich in der Phase der Beruforientierung an die neunten Klassen aller weiterführenden Schulen. Im vergangenen und laufenden Schuljahr hat sie jeweils 50.000 Schüler in rund 1900 Klassen erreicht. Die Besonderheit: Die Zeitung wird drei Monate lang kostenlos geliefert, im dritten bei Wunsch auch ins Elternhaus. "Wir wollen die Schüler da erreichen, wo sie im Alltag Medien nutzen", sagt Projektleiterin Ariane Rademacher. Lehrermaterial und Schülerworkbooks werden von der ZeitungsZeit wöchentlich mit einem aktuellen Arbeitsblatt und ausgewählten Ticker-Meldungen im Nachrichtenportal ergänzt, dazu gibt es einen Radio-Podcast und Schreibtipps. An der auf zwei Jahre befristeten Initiative beteiligen sich alle Verlage in Nordrhein-Westfalen und die Landesregierung, gefördert wird sie unter anderem von der Europäischen Union. Externer Link: ZeitungsZeit NRW ZiSch bedeutet "Zeitung in der Schule" und wird zweimal jährlich unter anderem von der Schweriner Volkszeitung umgesetzt. In den pädagogischen Baukasten mit Unterrichtsmaterial greifen Grund- und sogar Förderschulen besonders gern und überproportional häufig. Woran das liegt? Die Lehrer seien pädagogisch besser ausgebildet und benutzten das Projekt selbstverständlicher und zielführender, sagt Philip Schroeder, der für ZiSch zuständige Redakteur. Weil die Praxis wichtiger ist als die Theorie, sollen alle beteiligten Klassen – im Herbst 2011 sind das 267 Klassen mit rund 5200 Schülern – auch Artikel schreiben. Diese werden auf einer durchlaufenden wöchentlichen Schülerseite abgedruckt. "Die Gymnasiasten schreiben schneller und sicherer", sagt Philip Schroeder, "aber für die Förderschulen ist das Erfolgserlebnis umso wichtiger." Externer Link: Schweriner Volkszeitung Externer Link: Stimme.de Externer Link: Stuttgarter-Zeitung Externer Link: Zeitung für Bildung Schüler lesen Zeitung und das "mit schöner Regelmäßigkeit" in Leipzig. In der Messestadt findet "Schüler lesen Zeitung" jährlich zu einem festgelegten Zeitpunkt statt, in den umliegenden Gemeinden in zweijährigem Turnus. Vier Wochen lang erhalten Schüler – aktuell 100 Klassen – kostenlos die Leipziger Volksstimme. Das Unterrichtsmaterial, das die Agentur Promedia für die 8. bis 10. Klassen aufbereitet, können die Lehrer direkt aus dem Internet herunterladen. Vor Beginn des Projekts können sie sich bei einem Seminar informieren, am Ende lädt der Verlag zum Abschlussgespräch. "Am Ende sind es Lehrerinnen und Lehrer, die das durchführen", sagt Projektkoordinator Wolfgang Schmidt. Und die Schüler produzieren. Ihre Artikel finden sich künftig nicht nur im Blatt wieder, sondern können auf einer Online-Plattform publiziert werden. Mehr Artikel – die nach wie vor redaktionell geprüft werden – finden so den Weg in die Öffentlichkeit: Die Hemmschwellen vor Zeitunglesen und Zeitungmachen sinken. Externer Link: LVZ Online Zeus – Zeitung und Schule Zeus ist das medienpädagogische Projekt der WAZ-Gruppe. Als eines der größten in Deutschland hat es in den 15 Jahren seines Bestehens 1,5 Millionen Schüler erreicht und wird von jeder zweiten Schule im Verbreitungsgebiet eingesetzt. Das Credo: Schüler arbeiten wie Journalisten. "Wer für die Zeitung schreibt, hat eine höhere Motivation und entwickelt ein tieferes Nachrichtenverständnis", sagt Harald Heuer, Leiter der Zeus-Medienwelten. Schülerreporter recherchieren, führen Interviews und schreiben Berichte. Ihr Spektrum ist farbig und breit gefächert: Es reicht vom Kaninchen-Interview "Hattu Möhrchen?" über Sport und Jugendmoden bis zur autobiographischen Schilderung einer krebskranken Jugendlichen und Berichten über die Occupy-Bewegung. Das alles spiegelt sich während der halbjährlichen Projektphasen auf den eigenen Seiten. In sieben Wochen produziert das zentrale Zeus-Desk in Essen jeweils 600 bis 650 Seiten mit Texten von Schülern, die nicht nur das Ego der Jungen streicheln sondern wegen des anderen Zugangs auch Lesestoff für ältere Leser sind. Dabei erscheint der größere Teil des gesichteten und redigierten Materials, zirka 60 Prozent, nur online. Unter allen Beiträgen werden die Gewinner des Zeus-Awards – beste Reportage, bestes Bild, beste Aktion – gewählt und die Preise feierlich übergeben. Ein Ansporn: Externer Link: Unter den WAZ-Volontären seien inzwischen einige, sagt Harald Heuer, die schon bei Zeus mitgemacht haben. Links Weitere Informationen, Übersichten und Daten Initiative des Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. Externer Link: http://www.bdzv.de/junge-leser/jule/ Die Nationale Initiative Printmedien Externer Link: http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/BeauftragterfuerKulturundMedien/medien/medienkompetenz/nationaleInitiativePrintmedien/_node.html
Article
Gabi Pfeiffer
2021-06-23T00:00:00
2012-12-07T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/151155/erst-mal-kennenlernen-und-dann-weiterlesen/
Zeitungsprojekte für Schüler und Auszubildende wollen die Medienkompetenz stärken und Lust auf das journalistische Produkt machen
[ "Journalismus", "Zeitung", "Medien", "Schule", "Schüler", "Pädagogik", "Auszubildende", "Medienkompetenz", "Deutschland" ]
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Russland geht gegen NGOs vor | Hintergrund aktuell | bpb.de
Die russische Staatsanwaltschaft sowie Steuer- und Justizbehörden haben in den vergangenen Tagen bis zu 2.000 Büros von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aufgesucht und Kontrollen durchgeführt. Davon betroffen sind unter anderem auch die Menschenrechtsorganisation Memorial, das Moskauer Büro von Amnesty International sowie die Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Bei Kontrollen in den Räumlichkeiten der KAS wurden am heutigen Dienstag (26. März 2013) Computer beschlagnahmt. Laut der Menschenrechtsorganisation Memorial haben die Behörden ihr Vorgehen damit begründet, dass sie geltendes Recht umsetzten. NGOs müssen sich als "ausländische Agenten" registrieren Anlass der Durchsuchungswelle war laut russischen Menschenrechtlern ein Auftritt von Präsident Wladimir Putin vor Vertretern des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB ("Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation"). Dort hatte Putin eine konsequentere Umsetzung des so genannten NGO-Gesetzes gefordert, das im Juni vergangenen Jahres geändert wurde. Das Gesetz stammt ursprünglich aus dem Jahr 2006 und wurde im vergangenen Jahr noch einmal verschärft. Schon bisher unterlagen Organisationen, die aus dem Ausland unterstützt werden, schärferen Kontrollen. Neu ist, dass sich NGOs, die aus dem Ausland finanziell unterstützt werden und politisch aktiv sind, nun in einem speziellen Register geführt werden und sich als "ausländische Agenten" bezeichnen müssen. Wer dies ablehnt, muss mit hohen Geldstrafen rechnen. Auch Haftstrafen sind möglich. Opposition: Gesetz ist ein Instrument der Einschüchterung Offiziell heißt es aus dem Kreml, dass mit dem verschärften NGO-Gesetz die Einmischung des Auslands in die russische Innenpolitik reduziert werden solle. Das sehen Menschenrechtsorganisationen allerdings anders: Es gehe darum, "mit den NGOs fertig zu werden", die zu unabhängig geworden seien, so Oleg Orlow von der Menschenrechtsorganisation Memorial gegenüber tagesschau.de. Orlow sieht darin ein Instrument der Einschüchterung. Zudem, so argumentieren andere Kritiker, impliziere die Bezeichnung "Auslandsagent" indirekt den Vorwurf der Spionage - was dem Ansehen vieler NGOs schaden könne. Memorial hatte gemeinsam mit anderen NGOs Anfang Februar Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das umstrittene "Agentengesetz" eingereicht. Auch das Auswärtige Amt kritisierte das jüngste Vorgehen gegen NGOs: "Ich bin zutiefst beunruhigt über die massiven Kontrollen von Nichtregierungsorganisationen in Russland. Dieses präzedenzlose und aus meiner Sicht willkürliche Vorgehen schüchtert alle ein, die sich in Russland zivilgesellschaftlich engagieren", so der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning. Allerdings gibt es in dem Gesetz noch einige rechtliche Unstimmigkeiten, weshalb es bislang auch noch nicht angewandt wurde. Viele Organisationen sehen sich aber in ihrer Existenz bedroht, sollte das Gesetz konsequent angewendet werden. Sie seien gezwungen auf Projekte zu verzichten, sollte die Finanzierung aus dem Ausland wegfallen. In einigen Fällen drohe gar die Schließung. Opposition unter Druck Das verschärfte NGO-Gesetz ist eines von mehreren legislativen Maßnahmen, die im vergangen Jahr durchgesetzt wurden und vor allem die Opposition und politische Organisationen im Speziellen in ihrer Meinungsfreiheit und Arbeit einschränken. Im Juni 2012 wurde etwa das russische Versammlungsrecht verschärft. Damit wurde die Organisation und Durchführung von Demonstrationen erheblich erschwert - bei Verstößen drohen hohe finanzielle Strafen. Weitere repressive Maßnahmen sind regelmäßige Hausdurchsuchungen, etwa bei führenden Köpfen der Proteste gegen Putin im vergangenen Jahr. Regimekritiker müssen zudem mit Hausarrest und Gerichtsverfahren rechnen. Derzeit stehen im sogenannten "Bolotnaja-Verfahren" 18 Regimegegner vor Gericht, die angeblich bei einer Großdemonstration gegen Putin im Mai 2012 beteiligt waren. Ihnen drohen mehrjährige Haftstrafen wegen der "Teilnahme an Massenunruhen". Auf Druck Moskaus musste die US-Behörde USAID Im Oktober 2012 ihre Arbeit in Russland einstellen. USAID hatte sich sich seit 1991 in Russland engagiert und als wichtiger Geldgeber vor allem regierungskritische Organisationen unterstützt. Das Außenministerium in Moskau begründet den Schritt mit politischer Einmischung: Die russische Zivilgesellschaft benötige keine "Führung von außen". Mehr zum Thema Interner Link: Henning Schröder: Gesellschaftliche Perspektiven im Jahre 2013 - Wandel der Sozialstruktur und Regimeakzeptanz Interner Link: Felix Hett, Reinhard Krumm: Russlands Traum: Gerechtigkeit, Freiheit und ein starker Staat
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-05T00:00:00
2013-03-26T00:00:00
2021-09-05T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/157181/russland-geht-gegen-ngos-vor/
In einer großangelegten Aktion haben russische Behörden die Büros zahlreicher Nichtregierungsorganisationen (NGOs) durchsucht. Hintergrund ist das im Juni 2012 verschärfte NGO-Gesetz. Das Gesetz ist eine von vielen Maßnahmen, welche die Opposition in
[ "Russland", "NGOs", "Nichtregierungsorganisationen", "Opposition", "Putin", "Autokratie", "Konrad-Adenauer-Stiftung", "Friedrich-Ebert-Stiftung" ]
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Die "Ochsentour" als Königsweg | Themen | bpb.de
Was passiert konkret in den Parteien bei der Kandidatensuche? Zunächst ist ein Blick auf das Wahlsystem als wesentliche Rahmenbedingung zu werfen: Europawahlen sind Verhältniswahlen. Gewählt werden können nur nationale Parteien, das heißt weder europäische Parteien noch einzelne Personen. Von den Interner Link: 25 Parteien, die in Deutschland antreten, hatten bisher allerdings nur die im Parteiensystem etablierten eine Chance auf den Einzug ins Europäische Parlament (EP). Nach der Wahl 2014 werden durch den Interner Link: Wegfall der Fünf- und späteren Drei-Prozent-Hürde vermutlich auch mehrere kleine Parteien einige wenige Vertreter nach Brüssel und Straßburg entsenden können. Weitgehend parteienübergreifend gilt bei den Kandidatenaufstellungen für das EP ebenso wie für den Bundestag die Regel: Wer drin ist, bleibt drin; zumindest solange ein Abgeordneter nicht von selbst "abdankt" oder sich keine größeren Verfehlungen zu Schulden kommen lassen hat. So können die Fraktionen ein hohes Niveau an Professionalität gewährleisten. Zugleich aber besteht die Gefahr der Innovationshemmnis. Nach der EP-Wahl 2009 waren ungefähr 60 Prozent der gewählten Parlamentarier "alte Hasen", das heißt sie hatten sich erneut aufstellen lassen. Interesse an Europamandaten gestiegen Von besonderer Bedeutung sind die Kandidaten auf den Spitzenplätzen. Sie sind das Aushängeschild der Parteien. Diese richten ihre Wahlkampagnen vermehrt auf sie aus. Diese Personalisierung geht Hand in Hand mit den Erfordernissen medialer Politikvermittlung. Seit der ersten Europawahl im Jahr 1979 setzen die Parteien immer wieder auch auf verdiente und erfahrene Parteipromis auf den vorderen Plätzen. Anders als vor 35 Jahren geht die Funktion der heutigen Listenanführer aber viel stärker über den nationalen Rahmen hinaus. So ist beispielsweise der EP-Abgeordnete Martin Schulz nicht nur Spitzenkandidat der SPD, sondern auch der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE). Diese Aufwertung der Spitzenkandidaturen ist eine Folge der Machtzuwächse des EP, zuletzt mit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon. Diese haben zudem erheblich dazu beigetragen, dass die Nachfrage nach einem Europamandat deutlich gestiegen ist. Inzwischen gehört das EP- neben dem Bundestagsmandat in der Wahrnehmung der Parteimitglieder zu den attraktivsten parlamentarischen Positionen. Zunehmend werfen ehrgeizige Parteimitglieder ihren Hut in den Ring, die in erster Linie europäische Politik und eben nicht Landes- oder Bundespolitik gestalten wollen. Dieser neuere Typus – man kann ihn als "europäischen Karrieristen" bezeichnen – hat in den vergangenen Jahren an Verbreitung und Einfluss bei den EP-Kandidatenaufstellungen gewonnen. "Parteipolitisches Kapital" als entscheidende Ressource Damit ist ein zentrales Rekrutierungskriterium angesprochen: die Motivation. Sicherlich spielen auf dem Weg ins Parlament viele Faktoren eine Rolle – manchmal muss man einfach nur zur richtigen Zeit am rechten Ort sein. Umso wichtiger sind aber die Motivation und der Wille, eines Tages legislative Politik mitgestalten zu wollen. Sie sind der Antrieb für den individuellen "politischen Kapitalerwerb", anders ausgedrückt für die "Ochsentour" in einer Partei, wie das karriereorientierte, jahrelange innerparteiliche Engagement auch genannt wird. Die Europaabgeordneten haben ihre politische Karriere typischerweise in der Jugendorganisation ihrer Partei begonnen. Später haben sie Ämter und Führungspositionen in der Partei übernommen. Dabei dehnten sie ihr Engagement schrittweise von der lokalen auf die regionale, die Landes- und schließlich die Bundesebene aus. Neben die ehrenamtliche Parteiarbeit trat irgendwann die berufliche, beispielweise als Mitarbeiter in einem Abgeordnetenbüro. So erlernen die Politiker das Handwerk der Parteipolitik von der Pike auf, vergrößern ihre Macht in der Partei und erarbeiten sich ein belastbares innerparteiliches Netzwerk. Bei den aussichtsreich platzierten Europakandidaten kommen als Nominierungsvoraussetzungen oftmals noch eine vorherige Bewährung als Abgeordneter eines Landesparlaments oder des Bundestages und verstärkt auch eine europapolitische Profilierung, beispielsweise durch die Mitarbeit in einem EU-Fachgremium der Partei, hinzu. Unterschiede zwischen den Parteien Fast alle Parteien stellen die Bewerber auf einer Bundesliste auf. Interner Link: Nur die beiden Unionsparteien beschließen Landeslisten. Wahlrechtlich verbindlich nominiert werden die Kandidaten auf Parteitagen. Überwiegend sind dies Delegierten- und nicht Mitgliederversammlungen. Die Verteilung der Bewerber auf die einzelnen Listenplätze ist zumeist Ausdruck von zuvor getroffenen Übereinkünften zentraler Entscheider der Parteien. Dabei werden vielfältige innerparteiliche Personal- sowie persönliche Karriereinteressen ausgelotet. Hierbei ist für die großen Parteien CDU, CSU und SPD der Regionalproporz sehr wichtig. Sie tarieren ihre Listen primär nach Regionen bzw. Bezirks- oder Landesverbänden aus. Auch die anderen Parteien streben eine regionale Ausgewogenheit an. Daneben ringen parteiinterne Strömungen, Flügel oder Gruppierungen um die Präsenz ihrer Kandidaten auf der jeweiligen Liste. Nicht zu vergessen sind schließlich die Quoten für Frauen. So muss bei den Parteien Grüne und Linke mindestens die Hälfte der Plätze weiblich besetzt sein. Eine erfolgversprechende Kandidatur hat also eine lange Vorlaufzeit: Bis zur Nominierung auf einem aussichtsreichen Listenplatz müssen die Politiker die "Ochsentour" absolvieren – und die dauert oft viele Jahre.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-04-02T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/europawahlblog-2014/181421/die-ochsentour-als-koenigsweg/
Wie wird man Kandidat bei der Europawahl? Der Königsweg auf einen aussichtsreichen Listenplatz führt in Deutschland über die engagierte, andauernde Mitarbeit in einer Partei. Freude an der Parteiarbeit, einflussreiche Förderer und Unterstützer in de
[ "Europa", "Europaparlament", "EU", "Wahl", "Europawahl", "Abgeordnete; Ochsentour; Parteikarriere" ]
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Schottlands umstrittene Zukunft | Vereinigtes Königreich | bpb.de
Am 3. Oktober 2022 starb Ian Hamilton, Anwalt und Aktivist des schottischen Nationalismus, im Alter von 97 Jahren. Hamilton war berühmt geworden, weil er an Weihnachten 1950 mit drei Kommilitonen den Stone of Scone, einen von den frühmittelalterlichen Pikten als magisch verehrten Sandsteinblock, aus der Londoner Westminster Abbey gestohlen und diesen zurück nach Schottland gebracht hatte. Der über 150 Kilogramm schwere "Schicksalsstein" der Schotten war vom englischen König Edward I. 1296 aus der schottischen Scone Abbey entwendet worden. Seither war er unter der Sitzfläche des hölzernen Königsthrons angebracht, was der Legende nach garantieren sollte, dass Schottland nie frei sein werde, solange der Stein in London verbliebe. Im 14. Jahrhundert hatte Edward III. zwar versprochen, ihn zurückzugeben, dies aber nie getan. Nach Hamiltons Coup fand die Polizei den Stein schließlich im April 1951 in Schottland und brachte ihn nach Westminster zurück. 1996 kam er nach Edinburgh Castle – auf Leihbasis. Die Geschichte des Stone of Scone steht symbolisch für das Schicksal der Schotten, die seit 1998 ein eigenes Parlament haben – verfassungsrechtlich "auf Leihbasis", denn das Westminster-Parlament in London könnte das schottische Parlament durch Änderung der Dezentralisierungsgesetzgebung (Devolution), trotz anderslautender Garantien im Umfeld des schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014, jederzeit abschaffen (was allerdings unwahrscheinlich ist). Was wird aus Schottland? Hat die Devolutionspolitik der britischen Regierung unter Tony Blair Ende der 1990er Jahre, wie die Gegner der Devolution behaupteten, Schottlands Politik auf eine abschüssige Straße gestellt, auf der das Land ungebremst auf die Loslösung aus dem Vereinigten Königreich zurast? Oder ist die Unabhängigkeit nur noch eine Option der Vergangenheit, nachdem eine Mehrheit der Schotten bei der Volksabstimmung 2014 diese ablehnte? Hat das Brexit-Referendum 2016 die Weichen neu pro Unabhängigkeit gestellt? Welche weiteren Optionen haben die Unabhängigkeitsbefürworter, wenn es zu keinem zweiten Referendum kommt? Politische Entfremdung Das Verhältnis Schottlands zum Vereinigten Königreich und daran anknüpfende staatsrechtliche Fragen entscheiden sich letztendlich auf der Grundlage des Selbstverständnisses der schottischen Bevölkerung. Dass Schottland eine Nation ist, also mehr als eine britische Region, ist unumstritten. Auch die britische Regierung akzeptiert inzwischen, dass Schottland sich in einer freiwilligen Union mit England befindet. Die Mehrheit der schottischen Bevölkerung fühlt sich in erster Linie als "schottisch", was durch den eigenen schottischen Kommunikationsraum, ein eigenes Gesundheits-, Bildungs- und Rechtssystem, eine eigene Nationalkirche und viele weitere schottische Besonderheiten auch im Alltag beständig Bestätigung findet. Für das schottische Selbstverständnis erwies sich die britische Devolutionspolitik als besonders förderlich. Die Regierung Blair (1997–2007) wollte mit dem Gewähren einer eigenständigen schottischen Repräsentation mit begrenzten Rechten – einer Art Kommunalregierung, gewählt nach einem neuen Wahlsystem, das der Labour Party in ihrer schottischen Hochburg die (Mit-)Regierung in Edinburgh garantierte – ihre Position in Schottland festigen und Schottlands Entfremdung vom Vereinigten Königreich vermeiden. Blair dazu in seinen Memoiren: "Wir wollten auf keinen Fall, dass die Schotten den Eindruck hatten, sie könnten nur zwischen Status quo und Separation wählen." Tatsächlich verringerte die Devolutionspolitik aber nicht den Einfluss des Separatismus. Sie bot der für die schottische Unabhängigkeit eintretenden Schottischen Nationalpartei (SNP) ganz unerwartet eine Plattform für ihre Ablehnung des Londoner Unionismus. Die Ablehnung der Konservativen Partei (im Englischen: Conservative and Unionist Party) in Schottland hatte schon Tradition und verstärkte sich in den Regierungsjahren Margaret Thatchers, deren Politik vielfach als Angriff auf schottische Traditionen und das sozialdemokratische Selbstverständnis des Landes interpretiert wurde. Die schottischen Parlamentswahlen gaben Gelegenheit, dem Unwillen gegen den Unionismus Ausdruck zu geben. 2007 gewann die SNP die nationalen Wahlen in Schottland, und mit Wahlsiegen 2011, 2016 und 2021 ist sie mittlerweile mehr als 15 Jahre lang an der Regierung. In Schottland hatte die Konservative Partei nie eine politische Mehrheit. Das schottische Parteiensystem und der dortige politische Willensbildungsprozess haben sich vom gesamtbritischen abgekoppelt. Britische Premierminister wie Boris Johnson (2019–2022) oder Liz Truss (2022) haben den Graben zwischen England und Schottland weiter vertieft. Im Umfeld der Wahl 2019 bewertete fast die Hälfte der schottischen Wählerschaft in Umfragen Johnsons Politik mit dem niedrigst möglichen Wert. Die Wahlforschung kommentierte seine Wahl zum Premierminister mit dem Hinweis, die schottische Unabhängigkeit werde in London am Leben gehalten, solange die britische Politik Personen hervorbringe, die in Schottland verhasst ("toxic") sind. Auf der Ebene des Vereinigten Königreichs wirkt die Dauerherrschaft der Konservativen seit 2010, mit fünf Premierministern seit dem vorerst letzten Labour-Premier Gordon Brown (2007–2010), für die schottische Wählerschaft als dauerhafte Abschreckung von der britischen Politik. Die Konservativen reagieren auf die Devolution, nicht nur in Schottland, mit zaghaften Gesprächsangeboten, die sie – insbesondere im Zuge der Rückverlagerung von Kompetenzen aus Brüssel – jedoch nicht einhalten. Unter Johnson und Truss herrschten Ignoranz und Gesprächsverweigerung vor. Vom aktuellen Premierminister Rishi Sunak wurde wiederholt berichtet, dass er ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum für eine dumme Idee hält ("quite frankly barmy idea"). Bereits die Westminster-Parlamentswahl 2015 markierte das endgültige Ende gesamtbritischer Wahlentscheidungen. Die Wahl zerfiel in ihrem Ergebnis in die Resultate der Referenznationen England, Schottland, Wales und Nordirland, die ihre jeweils eigenständige politische Ausrichtung bestätigt sahen. Die stärkste Partei in England wurden die Konservativen, in Schottland gewann die SNP, in Wales die Labour Party und in Nordirland die Democratic Unionist Party (DUP). Die Labour Party verlor damit ihre schottische Hochburg – sie hatte sich 2014 durch ihr unionistisches Bündnis mit den Konservativen in der Debatte um die schottische Unabhängigkeit als "Stimme Schottlands" diskreditiert. Zwei Referenden, noch weniger Klarheit Die SNP hat sich zu der Partei Schottlands entwickelt (Tabelle 1). Bei ihrer zentralen Forderung nach schottischer Unabhängigkeit und EU-Mitgliedschaft wird sie von den schottischen Grünen und der wenig erfolgreichen Parteiabspaltung Alba unterstützt. Alba wurde vom früheren Parteivorsitzenden Alex Salmond gegründet, der 2014 nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum den Parteivorsitz aufgab. Salmond verließ die SNP, weil sich diese nach seiner Meinung nicht ausreichend für ihn einsetzte, als er wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe angeklagt wurde. Seine Nachfolgerin, auch im Amt des First Minister, wurde Nicola Sturgeon. Die Wahlergebnisse der Kommunalwahlen von 2022, bei denen die SNP erneut stärkste Partei wurde, bestätigten zum wiederholten Male die tiefe Verankerung der SNP in der schottischen Politik. Der Wahlkampf für die Unabhängigkeit 2014 blieb zwar vergeblich, doch wurde durch ihn viel Unterstützung für die SNP mobilisiert. Mit einer Rekordwahlbeteiligung von 84,6 Prozent erreichte die Frage "Who is Scotland’s voice?" die Mitte der Gesellschaft. Bezeichnenderweise war der Spruch: "No more Tory governments – ever" der beliebteste Wahlslogan der Unabhängigkeitsbewegung. Schon jetzt zeigte sich, dass die Labour Party ihre traditionelle Vorherrschaft in Schottland einbüßen würde: 83 Prozent derjenigen, die für die schottische Unabhängigkeit gestimmt hatten, gaben nun an, SNP wählen zu wollen; bei der Wahl zum britischen Parlament 2015 waren es sogar 90 Prozent aus dieser Gruppe, die die SNP unterstützten. Das Referendum hatte das Potenzial, traditionelle Parteibindungen auf der Links-Rechts-Skala durch eine Identitätsskala – also Nationalismus versus Unionismus – neu zu verorten. Unterstützer der Unabhängigkeit wurden in ihrem Wahlverhalten "schottischer", Gegner der Unabhängigkeit dagegen "britischer". Ein wichtiges Argument der Unabhängigkeitsgegner im Referendumswahlkampf lautete, dass Schottland auch seine EU-Mitgliedschaft verliere, wenn es das Vereinigte Königreich verlasse – und dies schwerwiegende ökonomische und politische Folgen hätte. Länder wie Spanien würden ein Veto gegen die (Wieder-)Aufnahme von Separatisten in die EU einlegen. Am 23. Juni 2016 fand dann das Brexit-Referendum statt. In Schottland stimmten 62 Prozent für einen Verbleib des Landes in der EU – das war jedoch nicht genug, um den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu verhindern. Somit wurde Schottland gegen den Willen der schottischen Bevölkerung und im Widerspruch zu den Versprechungen im Umfeld des Unabhängigkeitsreferendums aufgrund des gesamtbritischen Brexit-Votums aus der EU gezwungen. Dies schuf aus Sicht der schottischen SNP-Regierung eine neue Situation. Die grundsätzliche Überlegung der Unabhängigkeitsabstimmung von 2014, dass dies ein Votum für die nächste Generation sei, gelte nun nicht mehr. Schottlands Regierungschefin Sturgeon verkündete umgehend, dass die Brexit-Entscheidung ein zweites Unabhängigkeitsreferendum sehr wahrscheinlich mache ("highly likely") und sagte, dass es nach demokratischen Prinzipien inakzeptabel sei ("democratically unacceptable"), Schottland gegen seinen Willen die EU-Mitgliedschaft zu verwehren. Aus schottischer Sicht klangen die Bekundungen der britischen Premierminister Theresa May (2016–2019) und Boris Johnson absurd, dass das Vereinigte Königreich dem Wählerwillen zu folgen habe und deshalb dem 2016 mehrheitlich geäußerten Austrittswunsch aus der EU nachkommen müsse. Die Annahme, dass der Zwangsaustritt Schottlands aus der EU dem Wunsch nach Unabhängigkeit des Landes vom Vereinigten Königreich einen zusätzlichen Schub verleihen würde, klingt zwar überzeugend. Das schottische Wahlverhalten bei der Parlamentswahl 2017 weist aber auf komplexere Zusammenhänge hin. Das EU-Referendum erzeugte Konfliktlinien, die quer zur Skala Nationalismus–Unionismus lagen. Auf der Skala pro–contra Brexit etwa bildeten die Konservativen einen wichtigen Pol der EU-Mitgliedschaftsgegner. Sie konnten deshalb zahlreiche Wählerinnen und Wähler aus dem SNP-Lager zu sich herüberziehen, die für den Brexit waren. So wie Labour in Schottland 2015 wegen ihrer Ablehnung der Unabhängigkeit Stimmen verloren hatte, verlor die SNP 2017 Stimmen wegen ihrer eindeutig proeuropäischen Haltung. Wähler, die sich für die Unabhängigkeit und für die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen hatten, blieben der SNP erhalten. Auch bei den folgenden Wahlen zum Westminster-Parlament 2019 spalteten die beiden Referenden beziehungsweise die Unabhängigkeitsfrage und die Haltung zum Brexit die schottische Wählerschaft, woraus sich vier Wahlorientierungen ableiten lassen (Tabelle 2). Die Neuorientierung der Wählerschaft hin zur SNP von 2015 scheint indes dauerhafter als der Einfluss des Brexit. Der EU-Austritt ist inzwischen außerhalb Schottlands Konsens der britischen Politik und fällt deshalb als innerschottischer Streitpunkt weitgehend aus. Aber die Unabhängigkeitsfrage gepaart mit der Londoner Tory-Herrschaft und neuerdings auch wieder mit Perspektiven der Energieunabhängigkeit, die schon einmal in den 1970er Jahren der SNP politische Erfolge brachten, bleibt dem Land erhalten. Bei den Wahlen 2019 verloren die Konservativen über die Hälfte ihrer schottischen Sitze, und der Vorsprung der SNP "normalisierte" sich. Die Unabhängigkeitsbefürworter machten in Umfragen regelmäßig um oder über die Hälfte der Befragten aus. Die SNP profitierte dabei lange von der Beliebtheit ihrer Parteivorsitzenden und Regierungschefin Sturgeon, die das Land auch während der Covid-19-Pandemie erfolgreich managte, im Februar 2023 jedoch überraschend ihren Rückzug ankündigte. Optionen für Schottlands Zukunft Die SNP-Regierung in Schottland hat bei jeder Wahl betont, dass ihr Ziel die Unabhängigkeit Schottlands und – nach 2016 – ein EU-Beitritt des Landes sei. Sie interpretiert ihre Wahlerfolge als Bestätigung ihres Kurses. Der Status quo ist also keine Option, zumal die Regierung in London diesen schrittweise zuungunsten Edinburghs wieder verschlechterte. Weder kam die regelmäßige interministerielle Koordination von Edinburgh und London in ausreichendem Maße in Gang, noch wurde die schottische Autonomie stärker beachtet und ausgebaut, was den Schotten bei einer Ablehnung der Unabhängigkeit 2014 versprochen worden war. Mit der Monarchie, also einem Staatsoberhaupt Charles III., hätte die schottische Regierung keine Probleme, wie der Staatsakt im Parlament in Edinburgh zu Ehren des Todes von Königin Elizabeth II. demonstrierte. Problematisch ist aus schottischer Sicht, dass nach dem Brexit die Rückholung von Kompetenzen aus Brüssel ohne zufriedenstellende Beteiligung der schottischen Regierung und des schottischen Parlaments geschieht, insbesondere wenn es sich um Kompetenzbereiche handelt, die nach den Devolutionsregeln in die Kompetenz Schottlands fallen. Eine gewaltsame Trennung Schottlands vom Vereinigten Königreich steht nicht auf der Tagesordnung. Die Republik Irland errang ihre Unabhängigkeit dadurch, dass 1918 vier Fünftel der irischen Abgeordneten, nämlich die Mitglieder der Unabhängigkeitspartei Sinn Féin, das britische Parlament verließen und sich in Dublin versammelten, um den First Dáil, das erste irische Parlament seit 1801, zu gründen. Die britische Regierung erklärte den Dáil unverzüglich für illegal und intervenierte militärisch. Der folgende irische Unabhängigkeitskrieg führte 1921 zur Anerkennung des irischen Freistaats im Süden der Insel. Diesem Modell wird Schottland nicht folgen, weil es bereits eine parlamentarische Vertretung besitzt, die britische Regierung nie mit Gewalt gedroht hat und die SNP eine Partei des Gradualismus ist, also mit friedlichen Mitteln und durch Beharrlichkeit das Ziel der Unabhängigkeit erreichen möchte. Die von der SNP bevorzugte Lösung ist eine Wiederholung des Unabhängigkeitsreferendums von 2014, ein "Indyref 2". Der Volksabstimmung von 2014 ging eine Vereinbarung von Edinburgh und London über ein Referendum zur Frage der Unabhängigkeit Schottlands voraus. Um dieses zu ermöglichen, war eine Änderung des Scotland Act im Westminster-Parlament erforderlich. Die Veränderung von 2014 war nur auf das damalige Referendum bezogen und keine Generalklausel zum Abhalten auch zukünftiger Volksabstimmungen. Ein neues Referendum bedarf deshalb einer erneuten Londoner Gesetzgebung, de facto also der Zustimmung der über die parlamentarische Mehrheit gebietenden Regierung. Das ist das Kernproblem der Indyref-2-Forderung. Alle britischen Regierungen nach 2016 lehnten bisher ein zweites Referendum mit den Argumenten ab, dass die Schotten ihre Chance 2014 bereits gehabt hätten und die bisherige Dezentralisierungspolitik sie gegenüber den englischen Regionen auch finanziell privilegiere. Während Theresa May in den ersten Wochen als Premierministerin noch nach Schottland gereist war, um dessen Bindung an das Vereinigte Königreich zu bekräftigen, scheuten sich ihre Nachfolger, das Thema offensiv anzugehen. Johnson nannte die Devolutionspolitik ein "Desaster", und extreme Stimmen in der Konservativen Partei fordern einen wehrhaften Zentralismus ("muscular unionism"). Die Covid-19-Pandemie kam den Dezentralisierungsgegnern politisch jedoch entgegen, da durch sie andere Prioritäten gesetzt wurden und die Kooperation des schottischen Gesundheitsdienstes (NHS) mit dem englischen NHS in den Vordergrund rückte. Im Juni 2022 veröffentlichte die schottische Regierung eine erste Studie zu den Rahmenbedingungen der politischen Unabhängigkeit Schottlands: "Independence in the Modern World. Wealthier, Happier, Fairer. Why not Scotland?" In ihr wird anhand einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialindikatoren die Leistung des Vereinigten Königreichs mit zehn anderen europäischen Ländern verglichen, was zu dem Schluss führt, dass die wirtschaftliche Erholung Schottlands länger dauern wird, wenn Schottland Teil des schlecht aufgestellten Vereinigten Königreichs bleibt. Nicola Sturgeon berief sich unter anderem auf diese Studie, als sie am 26. Juni 2022 in einer Rede im schottischen Parlament den 19. Oktober 2023 als Termin für ein neues Unabhängigkeitsreferendum verkündete. Anfang und Ende der Referendumspläne Zwei Tage nach der Ankündigung wurde ein Entwurf für ein Referendumsgesetz in das schottische Parlament eingebracht. Sturgeon rechtfertigte diesen Schritt mit dem Mandat, das ihrer Partei und Regierung durch die Wahlerfolge immer wieder gegeben wurde, sowie mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Wörtlich: "Last May, the people of Scotland said Yes to an independence referendum by electing a clear majority of MSPs committed to that outcome." Sturgeon betonte aber, dass sie einen rechtlich einwandfreien Weg zum Unabhängigkeitsreferendum gehen wolle. Wie beim ersten Unabhängigkeitsreferendum trat sie dafür ein, dass London dem schottischen Parlament zugesteht, eine Kompetenz wahrzunehmen, die eigentlich das Londoner Parlament hat. Diese Möglichkeit besteht im Prinzip seit dem Scotland Act des britischen Parlaments von 1999 ("section 30 order") und wurde für eine Reihe von Politikfeldern bereits angewandt. Es würde sich um ein konsultatives Referendum handeln, dessen Ergebnis noch durch die Gesetzgebung des Westminster-Parlaments und des schottischen Parlaments bestätigt werden müsste. Unmittelbar nach dem Einbringen des Gesetzes in das schottische Parlament wurde es von der unabhängigen leitenden juristischen Instanz in Schottland (Lord Advocate of Scotland) dem britischen Supreme Court vorgelegt, um prüfen zu lassen, ob die Gesetzgebung in die Kompetenz des schottischen Parlaments falle. Die britische Regierung argumentierte, diese Vorlage sei voreilig, solange das schottische Parlament das Gesetz nicht verabschiedet habe. Sie bat den Supreme Court lediglich zu der Frage Stellung zu nehmen, ob er überhaupt zuständig sei. Der Gerichtshof wies die Bitte der Londoner Regierung zurück und kündigte eine Anhörung zu beiden Aspekten der Zulässigkeit an. Ende November 2022 anerkannte der Supreme Court, dass das Thema "Unabhängigkeit" eine Angelegenheit in seiner Zuständigkeit sei. Er entschied aber, dass das schottische Parlament nicht das Recht habe, über ein Gesetz für ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum abzustimmen. In ihrer Parlamentsrede im Juni 2022 hatte Sturgeon angekündigt, dass sie – falls der Supreme Court feststelle, dass das schottische Parlament kein Referendum initiieren könne, und sofern die britische Regierung sich weigere, ein Referendum mit einer "section 30 order" zu ermöglichen – die nächste Parlamentswahl zum britischen Parlament allein mit dem Thema "Unabhängigkeit" bestreiten und sie zu einer Abstimmung über die Frage "Should Scotland be an independent country?" machen werde. Damit würde die nächste Parlamentswahl, die regulär spätestens Anfang 2025 stattfinden wird, zu einem De-facto-Referendum. Es sei schon erstaunlich, so Sturgeon, dass die britische Politik behaupte, Schottland sei in einer freiwilligen Union mit dem Rest des Vereinigten Königreichs, aber nicht erlaube, dass Schottland sein Recht auf nationale Selbstbestimmung wahrnehme. Im Dezember 2022 legte der frühere Labour-Premierminister Gordon Brown einen Bericht zur Verfassungsreform vor, der bei einem Wahlsieg Labours als Leitlinie dienen soll. Er empfiehlt, die Autonomie Schottlands weiter zu stärken und das Oberhaus zu einer Kammer der Regionen und Nationen umzubauen. Eine aus deutscher Sicht naheliegende föderale Lösung der Schottlandfrage scheiterte bisher jedoch vor allem an drei Aspekten der britischen Tradition: Erstens sprechen die Größenverhältnisse dagegen. England ist nach der Bevölkerungszahl weit größer als Schottland, Wales und Nordirland zusammen. Die Rede von einer Augenhöhe der vier Nationen findet nach dem Brexit noch weniger Anklang in England als zuvor. Eine Dezentralisierung Englands könnte Abhilfe schaffen, erzeugt aber, trotz symbolischer Gesten und der ökonomischen Notwendigkeit regionaler Entwicklung, wenig Begeisterung. Zweitens ist der Begriff "föderal" aus britischer Sicht mit gescheiterten Visionen wie den Vereinigten Staaten von Europa verbunden. Am wichtigsten aber ist, drittens, dass die Balance von Autonomie und Konsens im Föderalismus in einer geschriebenen Verfassung festgehalten werden müsste – eine Lösung, die die britische politische Elite scheut. Eine geschriebene Verfassung wäre mit weit mehr verbunden als einer "Lösung" in der Dezentralisierungspolitik. Wie geht es weiter? Nach dem Urteil des Supreme Court fühlt sich die britische Regierung in ihrer Haltung, dass die Angelegenheit "Unabhängigkeit Schottlands" erledigt sei, bestätigt. Das von Sturgeon für Oktober 2023 angekündigte Referendum wird nicht stattfinden – erst recht nicht nach ihrem überraschenden Rückzug, der ein herber Rückschlag für die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen ist. Ob die nächste Parlamentswahl tatsächlich zum Forum einer neuen Unabhängigkeitsabstimmung wird, ist auch von der Nachfolge Sturgeons abhängig. Sie lässt eine Partei im Selbstzweifel zurück, hat sie doch weder eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger aufgebaut, noch eine glaubhafte Strategie für die Trennung vom Vereinigten Königreich verankert. Eines jedoch ist klar: Schottlands Bevölkerung bleibt in der Unabhängigkeitsfrage in der Mitte gespalten. Das alles erinnert an den Konflikt in Katalonien. Während die katalanische Regierung einen Rechtsbruch zur Durchsetzung eines Referendums in Kauf nahm und auf die Unterstützung der EU hoffte, ist eine solche Strategie in Schottland nicht zu erwarten. Ein Sieg der Labour Party bei den nächsten Parlamentswahlen könnte indes Bewegung in die Dezentralisierungspolitik bringen. In der Symbolsprache des Stone of Scone ausgedrückt: Die britische Regierung fordert das schottische Parlament (den Stein) nicht zurück, aber die Freiheit, eigene Wege zu gehen, wie sie die SNP versteht, hat Grenzen, wenn es um Fragen der (geliehenen) Souveränität geht. Vgl. Obituary Ian Hamilton. To Steal a Stone, in: The Economist, 29.10.2022, S. 86. Vgl. Roland Sturm, Nationalismus in Schottland und Wales, Bochum 1981. Tony Blair, Mein Weg, München, 20102, S. 268f. Vgl. Ailsa Henderson/Roger Awan-Scully/Jonathan Tonge, The Devolved Nations, in: Robert Ford et al. (Hrsg.), The British General Election of 2019, Cham 2021, S. 421–459, hier S. 423. Ebd. Vgl. Seán McGill, What Has Rishi Sunak Said about Scottish Independence and Nicola Sturgeon?, 24.10.2022, Externer Link: http://www.edinburghlive.co.uk/news/uk-world-news/what-rishi-sunak-said-scottish-25345331. Vgl. Roland Sturm, Das Schottland-Referendum, Wiesbaden 2015. Vgl. Edward Fieldhouse et al., Electoral Shocks. The Volatile Voter in a Turbulent World, Oxford 2021, S. 141. Vgl. Tim Shipman, All Out War. The Full Story of How Brexit Sank Britain’s Political Class, London 2016, S. 456. Vgl. Fieldhouse et al. (Anm. 8), S. 155ff. Zu Irland siehe auch den Beitrag von Kevin Kenny in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vgl. Henry Hill, Putting Muscle Behind the Union, in: The Critic, November 2021, Externer Link: https://thecritic.co.uk/issues/november-2021/putting-muscle-behind-the-union. Vgl. Independence in the Modern World. Wealthier, Happier, Fairer: Why not Scotland?, 14.6.2022, Externer Link: http://www.gov.scot/publications/independence-modern-world-wealthier-happier-fairer-not-scotland. Vgl. Nicola Sturgeon’s Full Statement Announcing the 2023 Independence Referendum, 28.6.2022, Externer Link: http://www.snp.org/nicola-sturgeons-full-statement-announcing-the-2023-independence-referendum. Ebd. The Supreme Court, Reference by the Lord Advocate of Devolution Issues under Paragraph 34 of Schedule 6 to the Scotland Act 1998, Press Summary, 23.11.2022, Externer Link: http://www.supremecourt.uk/press-summary/uksc-2022-0098.html. Vgl. A New Britain: Renewing Our Democracy and Rebuilding Our Economy. Report of the Commission on the UK‘s Future, 5.12.2022, Externer Link: https://labour.org.uk/page/a-new-britain. Vgl. James Cook, Scotland’s Future Remains in the Balance, 24.11.2022, Externer Link: http://www.bbc.com/news/uk-scotland-63738280.
Article
Sturm, Roland
2023-07-07T00:00:00
2023-03-15T00:00:00
2023-07-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/vereinigtes-koenigreich-2023/519170/schottlands-umstrittene-zukunft/
Ist die Unabhängigkeit Schottlands eine Option der Vergangenheit, nachdem eine Mehrheit diese beim Referendum 2014 ablehnte? Oder hat der Brexit die Weichen neu pro Unabhängigkeit gestellt?
[ "Vereinigtes Königreich", "Großbritannien", "Brexit", "Schottland", "England" ]
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Die Franzosen und die Globalisierung – eine neue "exception française"? | Frankreich | bpb.de
Nicht grundlos wurde die Anti-Globalisierungsorganisation in Frankreich gegründet. (Philippe Leroyer) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Die Franzosen haben ein Problem mit der Globalisierung. Die Erscheinungsformen der Skepsis sind inzwischen wohlbekannt. In internationalen und europäischen Meinungsumfragen zählen die Franzosen in der Regel zu den Bevölkerungen mit den größten Vorbehalten gegenüber der Globalisierung. Auch bildet Frankreich eine der Speerspitzen im Kampf gegen ihre wirtschaftlichen Aspekte und spielt eine Pionierrolle in der Antiglobalisierungsbewegung. Die globalisierungskritische Bewegung "Attac" wurde 1998 in Frankreich gegründet, bevor sie sich in zahlreiche andere Länder ausbreitete. Auch erlebte Frankreich im Jahr 1984 als erstes europäisches Land mit dem Wahlerfolg des "Front national" bei den Europawahlen den politischen Durchbruch einer extrem rechten, globalisierungsfeindlichen Partei. Auch das Konzept der "Deglobalisierung" ist in Frankreich besonders erfolgreich; einer seiner wichtigsten Verfechter, Arnaud Montebourg, ist seit 2012 sogar Mitglied der französischen Regierung und im Kabinett mit Fragen der Reindustrialisierung betraut. Selten war die Idee des Protektionismus in Frankreich so verbreitet wie derzeit in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Auch liberalismus- und wachstumskritische Strömungen haben im Nachbarland einen großen Einfluss auf die Debatten. Und nicht zuletzt sind die politischen Entscheidungsträger Frankreichs bekannt für ihre oft globalisierungskritische Haltung und ihren Willen zur Reform des internationalen Finanzsystems und zur Einführung eines internationalen Steuerwesens (mit einer Besteuerung von Finanztransaktionen). Hinzu kommt die Unterstützung der französischen Politiker für eine Weltumweltorganisation und die Verteidigung einer französischen "exception culturelle" (kulturelle Ausnahmestellung), der Sonderstellung des öffentlichen Dienstes in Frankreich, des französischen und europäischen Sozialmodells und der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union. Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung Und dennoch ist Frankreich nicht nur einer der Förderer der Globalisierung, sondern auch einer ihrer größten Gewinner. Es zählt zu den Ländern, die weltweit am meisten ausländische Direktinvestitionen, Touristen und internationale Studierende anziehen. Auch wenn die französische Industrie in den vergangenen Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat, zählen einige französische Unternehmen doch zu den Marktführern in ihrer Branche. 2011 erschienen 32 französische Unternehmen auf der Liste der 500 nach Umsatz größten Unternehmen weltweit (Fortune Global 500). Frankreich liegt damit gleichauf mit Deutschland und vor Großbritannien. Zudem ist Frankreich ein wichtiges Exportland, in dem sieben Millionen Arbeitsplätze unmittelbar von der Exportwirtschaft abhängen. WTO-Generaldirektor Pascal Lamy. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de So ist dem Direktor der Welthandelsorganisation Pascal Lamy zuzustimmen, der 2007 sagte: "Frankreich hat von der Globalisierung in starkem Maße profitiert. Zwar ist der ökonomische "Körper" globalisiert, nicht jedoch der "Kopf". Es gibt eine Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung." (Le Nouvel Observateur, 29. März 2007). Zu Beginn der 2000er Jahre wählten die beiden Autoren Philip Gordon und Sophie Meunier den Begriff der "verstohlenen Globalisierung" zur Beschreibung eines Landes, das sich zwar in starkem Maße globalisiert hat, dessen Entscheidungsträger diese Entwicklung jedoch nicht eingestehen und dessen Bevölkerung sie ablehnt. Und Sarah Waters erhob im Jahr 2012 den Vorwurf der Doppelzüngigkeit im Hinblick auf die Kluft zwischen dem globalisierungskritischen Diskurs der politischen Entscheidungsträger und ihrem deutlich globalisierungsfreundlicheren Handeln. Die Globalisierung als Spiegel eines vielfachen Unbehagens Doch wie lässt sich dieses Unbehagen der Franzosen erklären? Das französische Misstrauen gegenüber der Globalisierung offenbart vor allem eine Identitätskrise, in der sich Frankreich seit einigen Jahrzehnten befindet. Dabei weisen die Franzosen der Globalisierung die Schuld für die meisten Probleme des Landes zu und entwickeln einen nostalgischen Blick auf eine oft verklärte Vergangenheit. In der Globalisierung hingegen sehen sie eine der Ursachen für Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, wachsende Ungleichheit, Deindustrialisierung, gesellschaftlichen Abstieg und einen massiven Transfer von Arbeitsplätzen und Wohlstand in Richtung der Schwellenländer. Mit Nostalgie hingegen erinnern sich die Franzosen an die "dreißig goldenen Jahre" (1945-1975) und das, wofür sie stehen: die Idee eines steten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, eine Wohlstandsgesellschaft mit einer ausgeglichenen Vermögensverteilung, ein harmonisches Zusammenspiel von wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit sowie einen Gesellschaftsvertrag, der auf Solidarität und Sicherheit aufbaut und die Führungselite eng an den Rest der Bevölkerung bindet. In den Augen einiger Franzosen der Hauptgrund für eine starke Zuwanderung: die Globalisierung. (© AP) Für einen beträchtlichen Teil der Franzosen steht die Globalisierung zudem für eine wachsende Durchlässigkeit der Grenzen, massive Migration und eine Schwächung nationaler Bindungen. Etliche unter ihnen scheinen dem Frankreich der Dörfer und Kirchtürme nachzutrauern. In einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft hingegen, die sich zerrissener und aggressiver zeigt, gelingt es vielen von ihnen nicht mehr, ihren Platz zu finden. Die Globalisierung scheint republikanischen Werten zu widersprechen, indem sie wachsenden Ungleichgewichten in der Wohlstandsverteilung den Boden bereitet und ein System der Finanz- und Privatinteressen sowie eine Beschränkung der Rolle des Staates und seiner Handlungsspielräume begünstigt. Die republikanischen Werte bauen auf den Grundsätzen der Gleichheit, des Verdienstes und des Vorrangs des Allgemeinwohls vor Einzelinteressen auf. Auch scheint die Globalisierung im Widerspruch zur französischen politischen Kultur zu stehen, die auf einem starken Staat und seiner Schutzfunktion sowie einer kulthaften Wertschätzung politischer Willenskraft beruht. Und nicht zuletzt könnte die Globalisierung den Platz des Landes im internationalen Gefüge in Frage stellen und in Zeiten einer kulturellen Vorherrschaft der USA Kultur, Rang und Einfluss Frankreichs in der Welt gefährden. Aus diesem Grund geht in Frankreich die Kritik an der Globalisierung häufig mit einer kritischen Haltung gegenüber den USA und Skepsis gegenüber dem angelsächsischen Modell eines eingeschränkten Sozialstaates einher. Wie das Beispiel der französischen Position zur europäischen Integration illustriert, ist das Land zwar zu einer Öffnung bereit – doch nur unter der Bedingung, dass das eigene Modell auf die europäische Ebene übertragen wird und Europa zu einer Art "großem Frankreich" heranwächst. Dass diese Haltung in einem klaren Widerspruch zur heutigen Entwicklung der Globalisierung steht, erklärt auch die tiefgehende Spaltung, die seit über zwanzig Jahren die wirtschaftliche und politische Debatte in Frankreich prägt. In ihrem Zentrum steht die Auseinandersetzung um eine französische Sonderrolle, die vieldiskutierte "exception française". Die endlose Debatte um eine "Sonderrolle" Frankreichs Die Debatte entzweit jene, die unter Verweis auf eine notwendige Anpassung des Landes an die Globalisierung eine französische Sonderrolle ablehnen, und jene, welche diese voller Entschlossenheit verteidigen, indem sie die Globalisierung entweder rundweg ablehnen oder diese zu "französisieren" versuchen. Zur ersten Gruppe zählen die Unternehmer und Liberalen sowie diejenigen, die häufig als "Abstiegsbeschwörer" (déclinologues) bezeichnet werden. Seit den 1980er Jahren kämpfen sie für eine "Normalisierung" Frankreichs im Vergleich zu anderen europäischen Staaten und beklagen die Reformunfähigkeit des Landes und die Zögerlichkeit der Franzosen. Aus ihrer Sicht muss Frankreich endlich die von der OECD seit langem geforderten und von der Wirtschaftszeitung "The Economist" beschriebenen Maßnahmen umsetzen: Strukturreformen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Sozialreformen, Senkung der öffentlichen Ausgaben usw. Bis zu Beginn der Krise in den Jahren 2008-2009 erschien ihnen das angelsächsische Modell als Modell der Wahl und Margaret Thatcher als Vorbild des Reformwillens. Inzwischen wurde dieses angelsächsische vom deutschen Modell und Margaret Thatcher von Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010 abgelöst. Die zweite Gruppe hingegen verweigert eine Anpassung und verteidigt das französische Modell. Ihr gehören beispielsweise die Gewerkschaften und ein Teil der Linken an, die für das französische Sozialmodell eintreten, das auf einem weit entwickelten System sozialer Sicherungen und hohen öffentlichen Ausgaben beruht. Doch auch Nationalisten zählen zu dieser Gruppe, die Einflüsse aus dem Ausland auf das französische Modell ablehnen. Vertreter der zweiten Gruppe gelten als Anhänger dessen, was in Frankreich eine "andere Politik" als diejenige genannt wird, die linke wie rechte Regierungen seit den 80er Jahren verfolgt haben. Während die zweite Gruppe die Anhänger der ersten als "ultraliberal" und "unpatriotisch" schmäht, verurteilen Vertreter der ersten Gruppe ihre Gegner als populistisch und weltfremd. Die Kluft zwischen beiden Haltungen durchzieht die französische Gesellschaft seit den 1980er Jahren. Umfragen belegen, dass Führungskräfte, Hochschulabsolventen und höhere gesellschaftliche Schichten einer Anpassung Frankreichs an die Entwicklung der Globalisierung tendenziell eher aufgeschlossen gegenüberstehen, während Vertreter der unteren Mittelschicht (Arbeiter, Angestellte), Arbeitslose, Geringqualifizierte und Menschen ohne Bildungsabschluss einen solchen Prozess eher ablehnen. Auch die sozialistische Partei und die gaullistische Bewegung Frankreichs zeigen sich seit den 1980er Jahren gespalten in ihrer Haltung gegenüber der Globalisierung, der europäischen Integration und dem wirtschaftlichen Liberalismus. Einige Politiker sahen sich gar veranlasst, ihren jeweiligen Parteien den Rücken zu kehren und neue politische Gruppierungen zu gründen. Und nicht zuletzt hat diese Spaltung wichtige Abstimmungen in Frankreich beeinflusst, darunter den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002, als Jean-Marie Le Pen die Stichwahl erreichte, oder das Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005, den die französischen Wähler ablehnten. Die Franzosen führen weiter eine scheinbar unlösbare Debatte in der eine Anpassung an die Globalisierung, die ein beträchtlicher Teil der Franzosen als Verzicht auf ihre Interessen und Werte empfindet, einer Ablehnung der Globalisierung gegenübergestellt wird. Für welchen Weg Frankreich sich letztlich entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist jedoch, dass Globalisierung und eine "exception française" gar nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen. Nicht grundlos wurde die Anti-Globalisierungsorganisation in Frankreich gegründet. (Philippe Leroyer) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de WTO-Generaldirektor Pascal Lamy. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de In den Augen einiger Franzosen der Hauptgrund für eine starke Zuwanderung: die Globalisierung. (© AP)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-14T00:00:00
2013-01-16T00:00:00
2021-12-14T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/153268/die-franzosen-und-die-globalisierung-eine-neue-exception-francaise/
In Frankreich herrscht ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Globalisierung, das sich mit der aktuellen Krise tendenziell weiter verstärkt hat. Zugleich ist die französische Wirtschaft in starkem Maße global vernetzt. Die französische Position zu
[ "Globalisierung", "exception française", "französische Unternehmen", "globalisierungskritischen Diskurs", "Sonderrolle Frankreich", "Frankreich" ]
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Die. Wir. Ossi. Wessi? | Deutschland Archiv | bpb.de
Rückerinnerung: „Wie halten Sie es mit Ihrer ostdeutschen Identität?“, will der Herr wissen, der sich in einer der vorderen Stuhlreihen erhoben hat. Er spricht krachendes Bayerisch. Es ist Herbst 2019. Die Süddeutsche Zeitung hat zur jährlichen Veranstaltungsreihe geladen, bei der SZ-Journalistinnen aus ihrem Alltag berichten sollen. Es ist Wahl- und Jubiläumsjahr: Die Landtagswahl in Sachsen ist vorüber, die Feierlichkeiten zu 30 Jahre Friedliche Revolution stehen bevor. Eine gute Gelegenheit also für mich und meine Kollegin zu berichten. Wir leben beide in Leipzig, die letzten Wochen verbrachten wir bei Wahlkampfveranstaltungen. Auf Marktplätzen, in Dorfgasthöfen. Wir begleiteten den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer beim Grillen von Bratwürsten. Jetzt sitzen wir im Felix-Joseph-Saal des Münchner Residenzschlosses vor 150 Menschen. Vor Damen in weißen Blusen und Herren mit Krawatte und Pullunder. Vor einem Publikum, das mit Befremden auf die Erfolge der AfD im Osten Deutschlands schaut und Antworten erwartet. Identitätsfragen „Wie halten Sie es mit Ihrer ostdeutschen Identität?“ Das ist derzeit die die Gretchenfrage für Menschen, die aus den neuen Bundesländern kommen. Egal, ob in Dresden oder München. Ich war drei Jahre alt, als die Mauer fiel. Meine Eltern machten sich direkt nach der Deutschen Einheit selbstständig, mein Vater als Bauingenieur, meine Mutter eröffnete einen kleinen Laden. Ost-West spielte bei uns keine Rolle. Zehn Jahre habe ich woanders gelebt. In Bremen, in München, in Berlin, in Kasachstan und in Russland. „Die/.Wir. – Ossi/.Wessi“ – das sind Kategorien, die ich mir niemals selbst gegeben habe. Sie wurden mir aufgezwungen. Zu dem, was andere Heimat nennen, habe ich schon immer ein schwieriges Verhältnis. Heimat? Ich liebe sie, ich hasse sie. Ich bin in einem kleinen Dorf zwischen Heidenau und Pirna groß geworden. Der Rietzschelhof steht dort seit mehr als 150 Jahren. Meine Eltern wohnen immer noch darin. Ich wuchs inmitten einer ziemlich aktiven Dorfgemeinschaft auf. Mit einem rührigen Heimatverein. Ich spielte auf unserer Naturbühne Theater, mein Vater hat in unserem Dorf ein kleines Museum eingerichtet, direkt neben der großen Linde, die schon immer 1000 Jahre alt ist. Die Komponistin Clara Schumann soll schon unter ihrem Blätterdach spazieren gegangen sein. Ich bin mit Weite groß geworden. Vom Haus meiner Eltern kann ich wahlweise bis in die Sächsische Schweiz hineinschauen oder auf das Erzgebirge. Aufgewachsen mit der NPD Aber ich lernte auch früh, was es heißt, mit Rechtsextremen zu leben und mit Ohnmacht: In meiner Jugend hing zur Landtagswahl an jedem Laternenmast ein NPD-Plakat. Und dann jedes Jahr zum 13. Februar die rechtsextremen Aufmärsche in Dresden. Tausende Neonazis liefen durch die Straßen, vorbei an der Semperoper, dem Zwinger und der Synagoge. Die Politik, allen voran die CDU, schaute einfach weg. Gab es Stress, waren die Gegendemonstranten verantwortlich. „Die provozieren unnötig." Das sagten sogar meine Eltern. Eine Freundin aus Hamburg forderte einmal in der S-Bahn zwei Nazis auf, ihre laute Musik auszumachen. Sie warfen eine Bierflasche nach ihr. „Bist du verrückt?“, fragte ich sie und bewunderte gleichzeitig ihren Mut. Weil er mir fehlte. Bis heute verfolgt mich diese Szene aus meiner Jugend: Ich steige in den Zug nach Pirna. Nur wenige Meter von mir entfernt sitzt ein junges Pärchen mit Migrationshintergrund. Zwei Typen reden auf sie ein, beschimpfen sie. Ich hätte nicht mal was sagen müssen. Es hätte vielleicht schon gereicht, mich zu dem Paar zu setzen – oder den Schaffner zu suchen. Doch ich tue nichts. 2007 ging ich weg. Ostdeutsch werden „Ui, du bist ja ein kleiner Ossi!" Diesen Satz brüllt mir der Typ auf der Party im Suff entgegen. Ich nippe stumm an meinem Bier. Er sagt: „War doch nur Spaß.“ Ein zweiter Typ fordert: „Schwätz mal ein bissel Sächsisch.“ Als ich stumm bleibe, versucht er es selbst. Ich habe mich auf Bremen gefreut, auf das Politikwissenschaftsstudium, auf neue Leute. Habe den Kopf geschüttelt, als mir ein Freund aus Dresden erklärte, ich werde es doppelt schwer haben: „Norddeutsche, Wessis – komplizierte Leute.“ Ich finde nichts kompliziert in Bremen. Ich wohne in einer tollen WG, die Uni ist klein, hässlich, und rebellisch: „Reiche Eltern für alle“, steht an einem der Gebäude. Ich finde schnell Freunde, wir tanzen im Schlachthof auf Ersti-Parties, zu den Black-Eyed-Peas: „I got a feeling, woohoo. That tonight`s gonna be a good night.” Doch in Bremen werde ich auch zu etwas, was ich nie in mir gesehen habe: eine Ostdeutsche. Während einer Vorlesung spricht der Professor vom Osten als entwicklungsschwache Region. „Die wählen dort ja auch alle die NPD“, ruft jemand von hinten. Gelächter im Saal. Ich verdrehe genervt die Augen. „Wir sind ja auch alle Nazis“, murmele ich. Als eine Dresdner Band in Bremen auftritt, werden deren Mitglieder gleich als meine „Genossen“ bezeichnet. Ein Typ in der Mensa fragt mich, woher ich komme. „Dresden“, sage ich. „Ah Dunkeldeutschland“, antwortet er. „Zone“ sagt ein anderer. In einem Seminar muss ich nach Aufforderung der Professorin erklären, wie das mit der Kindererziehung zu DDR-Zeiten lief, ob meine Mutter mich sechs Monate nach meiner Geburt in die Krippe gegeben hat, um arbeiten zu gehen. Die anderen Studentinnen starren mich an, ihre Blicke verraten Neugier aber auch Skepsis. Als sei es ein Wunder, dass ich keine psychischen Schäden davongetragen habe. Viele meiner Kommilitonen waren noch nie im Osten. Sie kennen Trabbi, Pioniere, Stasi und Nazis. Wie es tatsächlich war, dort aufzuwachsen, wissen sie nicht. Ich erzähle es ihnen, versuche, meine Heimat so gut es geht zu erklären, verteidige sie sogar –- vor allem gegen das Vorurteil, im Osten seien alle Nazis. Ich berichte, dass meine Mutter mich einmal fragte, ob wir nicht nachts gemeinsam NPD-Plakate von den Laternenpfählen schneiden sollen. Leider hingen sie zu hoch. Während meiner Studienzeit fahre ich oft nach Hause, um meine Eltern zu besuchen. Ihr Hof wird mein Rückzugsort. Im Sommer sitze ich im Garten unter dem Kirschbaum im Garten, lese ein Buch oder schaue vor mich hin. Einfach so, stundenlang. Manchmal treffe ich alte Schulfreundinnen. „Du sächselst gar nicht mehr – willst wohl nicht mehr zu uns gehören“, bemerkt eine von ihnen irgendwann. Wir kennen uns seit der ersten Klasse. Ich weiß noch wie wir als kleine Mädchen bei uns im Pool schwammen. Als ihre Eltern kurz vor der Trennung standen, fragte ich meine Eltern, ob meine Freundin mit ihrer Mutter nicht bei uns einziehen könnte. Als wir uns wiedersehen, macht sie eine Ausbildung in Dresden, ich studiere in Bremen. Sie ist dageblieben, ich weg gegangen. „Die, Wir. Ossi. Wessi“ – damals hielt ich das noch für eine harmlose Diskussion. Dass darauf Unverständnis – aber auch Hass und Gewalt folgen würden, hätte ich nie gedacht. Dann kommt Pegida, die Angst vor Geflüchteten. „Schrei mich nicht an!“ Im Dezember 2014 stehe ich in München auf einer Straßenkreuzung und schreie ins Telefon: „Wovor habt ihr Angst?“ Damals versuchen täglich hunderte Geflüchtete die deutsch-österreichische Grenze zu überqueren. Doch noch redet keiner von einer „Flut“, „Welle“ oder „Lawine“. Ich arbeite zu diesem Zeitpunkt seit zweieinhalb Jahren bei der Süddeutschen Zeitung, habe gerade zwei syrische Brüder ein Stück auf ihrer Flucht begleitet, teilte ihre Ängste und Sorgen. Als sie kurz vor der Grenze von der Polizei aus dem Zug gezogen werden, verstört mich ihre Verzweiflung. Ich rufe meine Mutter an, um ihr davon zu erzählen. Ihre Reaktion: „Ich war gerade bei einer Freundin zum Kekse backen – die wollen da in der Nähe ein Flüchtlingsheim bauen, die machen sich schon Sorg...“ Ich lasse sie nicht ausreden, werde laut. „Schrei mich nicht an", sagt meine Mutter. Ich sollte den Satz in den darauffolgenden Jahren unzählige Male hören. Der richtige Umgang mit Geflüchteten spaltet Deutschland in zwei Lager – und die Grenze verläuft auch zwischen meiner Mutter und mir. Busfahrer in Altenberg hätten Angst zu arbeiten, weil sie angeblich von Asylbewerbern bedroht würden. Das hat meine Mutter zumindest von einer Kundin gehört. Dann wurde im Laden nebenan geklaut, die Diebe kamen wohl aus einem Flüchtlingsheim. „Ich verstehe das nicht. Die tun doch anderen Asylbewerbern keinen Gefallen, das wirft doch ein schlechtes Licht auf die“, sagt meine Mutter. Ich versuche ihr zu erklären, dass es genau wie bei Deutschen auch schwarze Schafe unter Asylbewerbern gebe. Das sei aber noch längst kein Grund, alles zu verallgemeinern. Immer wieder fällt auch dieser Satz: „Wir können doch nicht alle aufnehmen.“ Nicht mehr dazu gehören „Wir können doch nicht alle aufnehmen“ – das höre ich auch in Heidenau. Im Sommer 2015 randalieren Neonazis dort vor einer Asylunterkunft. Ich sitze an meinem Schreibtisch in der Redaktion und sehe mir verwackelte Youtube-Videos aus den Krawallnächten an. Sie sind heute noch online. Wer will, kann sich das „Wir sind das Volk“-Gebrüll anhören, das Splittern geworfener Flaschen, die krachenden Explosionen von Böllern. Veröffentlichungsdatum 21. August. Ich bin zwei Tage später vor Ort. Mit dem Notizblock in der Hand stehe ich am Rand der Bundesstraße 172. Hinter mir, der alte Baumarkt, in den ich früher meinen Vater zur Shoppingtour begleitet habe. Jetzt leben Geflüchtete darin. Vor mir, auf der anderen Seite der Straße, steht brüllender Mob. „Volksverräter“, „Lügenpresse.“ Sie meinen das Kamerateam, das neben mir steht. Sie meinen mich. Noch schlimmer sind aber die Alten, die direkt vor der Flüchtlingsunterkunft stehen und im breitesten Sächsisch vor sich hin geifern. Der Prozentsatz an Männern, die sich angeblich in dem Flüchtlingsheim befinden, wird mit jeder Minute höher: „Die sin scharf of unsre Frauen“, brüllte einer. „Uns hat damals niemand geholfen – und die bekommen alles in den Arsch geschoben“, sagt ein anderer. Als ich mit einem Bewohner diskutiere, brüllt der mich an: Er lasse sich von mir, einem „Wessi“, gar nix sagen. Sieben Jahre bin ich in Heidenau zur Schule gegangen. Trotzdem gehöre ich nicht dazu, weil ich hochdeutsch spreche – und will es schließlich auch nicht mehr. Tage später schreibe ich einen Text, der mit „Ich will kein Ossi mehr sein“ überschrieben ist. Eine wütende Deklaration, in der ich, entgegen früherer Pläne, erkläre, nie wieder nach Sachsen ziehen zu wollen. Nicht nach Dresden, nicht auf den Rietzschelhof. Meine Mutter ruft mich weinend an. Ein alter Bekannter aus Pirna meint: „Vielleicht wollen wir dich auch gar nicht zurück.“ Aus ganz Deutschland erhalte ich E-Mails von Menschen, die genau wie ich weggezogen und nun ratlos sind. Ich kehre Sachsen also den Rücken, gebe es auf, mein Zuhause zu verteidigen. Vielleicht, weil ich hoffe, die Menschen kommen zur Vernunft. Wie ungezogene Kinder, nach einer deftigen Schelte. Doch ich werde immer wieder enttäuscht. Beispielsweise als auch in Clausnitz ein wütender Mob Geflüchtete anschreit, als unter dem Jubel Schaulustiger ein geplantes Asylbewerberheim in Bautzen niederbrennt und es zu Krawallen zwischen Rechtsextremen und jungen Geflüchteten kommt. Zerrissenheit Ende September 2016 explodiert dann vor einer Moschee in Dresden ein Sprengsatz. Einen Tag später soll ich in Dresden aus meinem Buch vorlesen, in dem es um die beiden Syrer geht, die ich begleitet habe. Der Schock sitzt immer noch tief –- bei mir, aber auch im Publikum. In einer der hinteren Reihen sitzt eine Frau, die in ihrer Freizeit Geflüchtete betreut. Die würden sie immer wieder fragen, ob sie aus Sachsen wegziehen sollen, die Frage käme immer häufiger auf. Und am liebsten, so die Helferin, würde sie mit „Ja"“ antworten. „Was denken Sie?“, fragt mich die Frau. Ihre Stimme zittert. Meine Antwort:, „Ich habe das Bundesland aufgegeben“, hat einen erstaunlichen Effekt. Das Publikum fängt an zu diskutieren. Was solle denn werden, wenn einfach alle weg gingen? Das wäre eine absolute Katastrophe. Es gebe doch durchaus auch positive Entwicklungen. Zwar könne man sich nicht auf die Landesregierung verlassen, aber es habe sich doch zivilgesellschaftlich so viel getan. Die Diskutierenden stemmen sich so leidenschaftlich gegen das Aufgeben, dass mir eines klar wird: Wenn ich mich einfach abwende, dann auch von den Menschen, die versuchen, etwas zu ändern. Die zwischen dem „Wir“ und dem „Die“ hängen. Es ist der Moment, in dem ich mich frage, ob ich nicht doch wieder zurück will. Zurück muss. Schließlich verliert aber auch das Dorf meiner Eltern seine Unschuld. Bei der Bundestagswahl 2017 wird die AfD stärkste Kraft in Sachsen, noch vor der CDU. In unserer Gemeinde holt sie 40 Prozent. Ich muss nach Hause, um zu berichten. Es ist ein beschissenes Gefühl, wenn man für die Recherche nicht mehr im Hotel übernachten muss, sondern im eigenen Kinderzimmer. Das Haus meiner Eltern, die 1000-tausendjährige Linde, die Felder, die Wälder –- das ist jetzt auch „Kaltland“. Für eine Reportage besuche ich kurz nach der Wahl eine langjährige Freundin in Pirna. Sie sitzt an dem schweren Holztisch in der Küche. Geheult habe sie angesichts der Wahlergebnisse, erzählt sie. Vor ihr liegt die Sächsische Zeitung. Die erste Seite des Lokalteils zeigt eine lächelnde Frauke Petry, die im Wahlkreis ein Direktmandat für die AfD gewonnen hat. Ein paar Seiten weiter, das Foto meiner Bekannten. Für ihr Engagement für Flüchtlinge ist sie als „Botschafterin der Wärme“ ausgezeichnet worden. Wir legen die beiden Zeitungsseiten nebeneinander. Besser kann man die Zerrissenheit dieses Ortes nicht darstellen. Früher hat sich meine Freundin nie Gedanken gemacht, ob sie das Opfer eines Angriffs werden könnte. Jetzt habe sie durchaus Angst davor. Ich frage, ob, sie jemals darüber nachgedacht hat, weg zu ziehen. „Nein, das ist doch meine Heimat hier, die gebe ich nicht auf.“ „Den Osten“ gibt es nicht Auch ich wollte nicht aufgeben und bin zurückgekehrt. Ich hatte die Schnauze voll von den Stempeln. Das Nachrichtenmagazin Stern nannte Sachsen mal „das dunkelste Bundesland Deutschlands“. Als käme ich aus einem Schattenreich. Ich hatte genug von der Krisenberichterstattung, immer nur vor Ort zu sein, wenn es knallt. Ich wollte verstehen, warum und wie sich „besorgte“ Bürger radikalisieren, Menschen zeigen, die sich gegen den raumgreifenden Rechtsextremismus stemmen. Und die ein oder andere Alltagsgeschichte erzählen. Im Herbst 2018 sitze ich mit meiner Kollegin im Auto auf dem Weg nach Chemnitz. Ein Tag, nachdem in der Stadt Daniel H. durch Geflüchtete getötet wurde und rechtsextreme Hooligans in der Stadt randalierten. Für den Montag danach war eine Demonstration angekündigt. Wir fahren hin, im Glauben, dass der Abend eher ruhig verläuft, die Polizei vorbereitet ist. Wir parken das Auto im Zentrum. Unser erstes Ziel ist der Ort, an dem Daniel H. mit mehreren Messerstichen niedergestochenverletzt wurde. Grablichter flackern in einem Meer aus Blumen. Jemand hat eine Packung Skat-Karten dazugelegt und eine Flasche Sternburger. Eine Art Gedenkstätte, die an diesem Abend zum Pilgerort wird. Für Menschen, die Daniel H. kannten, sich weinend in den Armen liegen und ihren Schmerz herausschreien. Aber auch für Neonazis und Hooligans. Nicht jeder darf hier stehen, dafür sorgt ein Mann mit Glatze und schwarzem Hemd. „Geh weiter“, brüllt er einen Passanten an, den er als Journalisten erkannt haben will, stößt ihn weg. Dann schaut er auf den Berg Blumen vor sich. „Beim Adi wäre das nicht passiert.“ Stoßgebet eines Neonazis. Die eigentliche Kundgebung der Rechtsextremen findet am Karl-Marx-Monument statt. „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, steht auf der Hauswand. Unten vereinigen sich rechtsextreme Parteien wie der Dritte Weg oder die NPD mit Hooligans, mit Pegida –- und scheinbar auch mit ganz normalen Chemnitzer Bürgern. Eine Mutter hat ihre Kinder mitgebracht. Rosa Ballerinas zwischen Thor-Steinar-Pullovern. Ein kleines Mädchen läuft neben ihrem Vater her. Der trinkt ein Bier. Seine Tochter blickt zu ihm auf: „Du, die haben gerade gesagt, wir müssen jetzt alle zusammenhalten.“ 5.000 Menschen versammeln sich an diesem Abend vor dem Karl-Marx-Denkmal. Auf der Gegenseite sind es etwa 1.500, für eine Stadt wie Chemnitz ziemlich viel. Aber es sind nicht genug. Kurz vor 20 Uhr finde ich mich mitten auf der Straße wieder, die Rechtsextreme und Gegendemonstranten trennt. Erstere wollen mit ihrem Marsch durch die Innenstadt beginnen. Es fliegen Flaschen und Böller. Hooligans zünden Bengalos, Rauchschwaden steigen auf, Schwefelgeruch hängt über der Szenerie. Vor mir steht plötzlich ein Neonazi, zum Glück läuft er an mir vorbei. Es ist chaotisch. Wasserwerfer fahren vor, doch es tropft nur kurz aus den Düsen. Bis spät in die Nacht liefert sich die Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel mit Neonazis, die durch die Stadt ziehen. Meine Kollegin und ich beobachten das Schauspiel aus dem Fenster der Redaktionsräume der Freien Presse, wo wir Unterschlupf finden. Am nächsten Tag wird der sächsische Innenminister erklären, dass gerade mal 600 Polizeibeamte in Chemnitz waren. Mir wird klar: Wenn sie gewollt hätten, dann hätten Rechtsextreme und Hooligans Polizeikette und Gegendemonstranten ohne Weiteres überrennen können. Aber Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer betont: „Der Einsatz war erfolgreich.“ Es folgen weitere Proteste, eine Dialog-Veranstaltung, bei der das sächsische Kabinett nieder getrillert wird, Pegida, AfD und Neonazis marschieren schließlich geneinsam auf. Auf Chemnitz folgt Köthen in Sachsen-Anhalt, wo nach dem Tod eines Einwohners ebenfalls Rechtsextreme zum „Schweigemarsch“ aufrufen. Ich bin dabei, als eine Kollegin aus der Menge heraus angegriffen wird. Ich gehe auf die Beerdigung eines Neonazis mit 1000 „Trauernden“, ich verfolgesitze in Terrorprozessen, begleite die Bürgermeisterwahl in Görlitz, wo die AfD den ersten Oberbürgermeister stellen will – und es nicht schafft. Es folgt die Landtagswahl in Sachsen, das Zittern, ob der der CDU-Politiker und Ministerpräsident den Erfolg der AfD abbremsen kann. Der Ausnahmezustand ist zum Alltag geworden – das hat zuletzt auch die politische Krise in Thüringen gezeigt, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich Dank der Stimmen der AfD temporär ins Amt des Ministerpräsidenten gehievt wurde. AfD-Plakat im Bundestagswahlkampf 2021. (© bpb / Kulick) Warum bin ich also trotzdem hier? Als Journalistin würde ich sagen, dass es derzeit keinen spannenderen Ort gibt. Als Antonie Rietzschel, die aus einem kleinen sächsischen Dorf stammt und jetzt in Leipzig lebt, würde ich sagen, dass ich diesem „Die. Wir. Ossi. Wessi“ etwas entgegensetzen möchte. Ich gehöre genauso hierher, wie der Pegida-Demonstrant und, der Neonazi. „Den Osten“ gibt es für mich nicht. Es gibt für mich politische Besonderheiten, die im Rest der Republik zu wenig wahrgenommen werden und aufgearbeitet werden müssen. Gleichzeitig ist der Hinweis auf die Massenarbeitslosigkeit in den 1990er Jahren für mich keine ausreichende Erklärung für den grassierenden Rechtsextremismus und Rassismus in einigen Teilen der neuen Bundesländer. Genauso wenig wie es für mich „den Osten“ gibt, gibt es für mich eine ostdeutsche Identität. Ich habe auch kein Interesse, sie mir anzueignen, nur um der AfD und ihrer Identitätsdebatte etwas entgegen zu setzen. Es würde mich viel zu sehr einengen. „Ich bin ich“, habe ich im Herbst 2019 in München gesagt und sage ich auch jetzt: „Ich habe in den vergangenen Jahren viele Heimaten gefunden. In Bremen. In Berlin. In München, in Kasachstan und Russland – und jetzt in Sachsen. Kommen Sie uns besuchen.“ AfD-Plakat im Bundestagswahlkampf 2021. (© bpb / Kulick) Zitierweise: Antonie Rietzschel, „Die. Wir. Ossi. Wessi", in: Deutschland Archiv, 2.10.2020, Link: www.bpb.de/316540. Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb. Weitere Beiträge im Rahmen dieser Reihe "Denkanstöße zur Deutschen Einheit" folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Ergänzend zum Thema: - Christian Bangel - "Interner Link: Es gibt keine wirkliche Ostdebatte", Deutschland Archiv 28.9.2020 - Johannes Nichelmann, Externer Link: "Wir man zum Ossi wird", Deutschland Archiv 3.10.2020 - Serie: Interner Link: 30 Jahre Volkskammer - 30 "Ungehaltene Reden", Deutschland Archiv 24.9.2020 - Werdegänge: Interner Link: Ingo Hasselbach über Wege in die ostdeutsche Neonaziszene nach dem Mauerfall , Deutschland Archiv 24.4.2020 - Wendekorpus. Interner Link: Audiofiles zur Deutschen Einheit - Interner Link: 31 Jahre später. Texte aus Schüler*innenzeitungen zur Deutschen Einheit. - Interner Link: D wie Dialog. Die Geschichte des Kennzeichen D - Interner Link: Ostdeutsche Frakturen für immer? Eine Analyse von Steffen Mau - Interner Link: Populismus in Ost-und West. Eine Datenanalyse von Philip Manow. - Interner Link: Zusammenwachsen in Feindseligkeit? Eine Analyse von Andreas Zick und Beate Küpper.
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Antonie Rietzschel
2022-02-14T00:00:00
2020-10-01T00:00:00
2022-02-14T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/316540/die-wir-ossi-wessi/
"Ich hatte die Nase voll von den Stempeln. Und bin zurückgekehrt", sagt Antonie Rietzschel, weil sie dem „Die. Wir. Ossi. Wessi“ etwas entgegensetzen möchte. "Ich gehöre genauso hierher, wie der Pegida-Demonstrant und, der Neonazi", sagt die Journali
[ "Ossi", "Wessi", "Wiedervereinigung", "Deutsche Einheit", "Leipzig", "Bayern München", "DDR", "Ostdeutschland", "Westdeutschland" ]
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Frankreich | bpb.de
Der 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags am 22. Januar 2013 war für die Bundeszentrale für politische Bildung Anlass, Frankreich ein facettenreiches Dossier zu widmen. Es wurde erstmalig 2017 anlässlich der Präsidentschaftswahl erweitert und wurde anlässlich der Präsidentschaftswahl im April 2022 erneut aktualisiert und erweitert.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-06-14T00:00:00
2013-01-04T00:00:00
2022-06-14T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/
Und was macht die deutsch-französische Beziehung so besonders in Europa? Hintergrundtexte, Interviews und Infotexte beleuchten diese und viele andere Fragen zu Frankreich.
[ "Frankreich", "deutsch-französische Verständigung", "Grande Nation", "Französisch" ]
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Außen- und Sicherheitspolitik | China | bpb.de
An die glorreichen Zeiten des "Reichs der Mitte" möchte die chinesische Außenpolitik anknüpfen. Diese koreanische Karte aus dem 18. Jahrhundert zeigt die zeitgenössische Sicht Chinas als Mittelpunkt der Welt. (© picture-alliance, CPA Media) Zeittafel zur Außenpolitik seit 1949 1950 Bündnisvertrag und enge Kooperation mit der Sowjetunion 1950–53 Koreakrieg; militärische Konfrontation mit den USA 1954, 1958 Erfolglose militärische Vorstöße gegen Taiwan 1964 Erster Atombombentest; die VR China wird Nuklearmacht 1971/72 Annäherung an die USA 1971 Aufnahme der VR China in die UNO als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrats 1972 Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland 1975 Aufnahme offizieller Beziehungen zur EG seit 1979 Einleitung der Politik der außenwirtschaftlichen Öffnung 1979 Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA 1980 Mitgliedschaft in Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) 1985 Abschluss eines Handelsabkommens mit der EG 1989 Internationale Sanktionen gegen China wegen gewaltsamer Unterdrückung der städtischen Protestbewegung 1991 China wird Mitglied der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) März 1996 Chinesische Militärmanöver und Raketentests in der Taiwan-Straße Dezember 2001 Die VR China wird in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen Mai 2003 Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO, 2001 gegründet) errichtet ständiges Sekretariat in Beijing 2003–2009 Führende Rolle der VR China bei den Sechs-Parteien-Gesprächen zur nuklearen Abrüstung Nordkoreas Oktober 2003 Erste bemannte Raumfahrt-Mission Chinas Seit November 2008 Einbeziehung der VR China in Gipfeltreffen der G 20 Seit 2009 Chinesische Beteiligung an internationaler Piraten-Bekämpfung im Golf von Aden Februar und März 2011 China evakuiert 35.000 Staatsbürger aus dem Krisengebiet in Libyen September 2013 Chinas Präsident verkündet in Kasachstan die "Seidenstraßeninitiative" November 2014 Zentrale Arbeitskonferenz zur Außenpolitik legt außenpolitische Leitlinien fest Juli 2016 Schiedsgerichtshof in Den Haag verwirft chinesische Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer Grundlagen der Außenpolitik Aus chinesischer Sicht werden die internationalen Beziehungen im Wesentlichen durch Machtpolitik und Konkurrenz zwischen Nationalstaaten bestimmt. Für die Ausgestaltung seines Verhältnisses zur Außenwelt propagiert China seit den 1950er-Jahren den Slogan der "Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz": gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität (1), wechselseitiger Verzicht auf Angriffe (2), wechselseitiger Verzicht auf Einmischung in innere Angelegenheiten (3), Gleichberechtigung und wechselseitiger Nutzen (4) und friedliche Koexistenz (5). Offizielle Dokumente der chinesischen Außenpolitik und Reden führender Politiker zeichnen ein überwiegend freundliches Bild der gegenwärtigen internationalen Beziehungen. Frieden, Entwicklung und wirtschaftliche Globalisierung seien positive "Trends der Zeit". Gefahren gingen dagegen aus von Entwicklungsunterschieden zwischen armen und reichen Ländern, regionalen Konflikten und unkonventionellen Bedrohungen wie Terrorismus, Cyberkriminalität und Klimawandel. Als eine unausgesprochene Grundannahme der chinesischen Außenpolitik gilt, dass das historische "Reich der Mitte" es verdiene, eine zentrale Position in der internationalen Ordnung einzunehmen. Im Einzelnen liegen der chinesischen Außenpolitik drei von der chinesischen Führung selbst so beschriebene "Kerninteressen" zugrunde: 1.die Stabilität des politischen Systems, also die Aufrechterhaltung der Führungsrolle der Kommunistischen Partei; 2.die Verteidigung nationaler Souveränität und Sicherheit sowie der territorialen Integrität und nationalen Einheit (also inklusive Taiwans, Tibets und Xinjiangs); 3.die Sicherung der Voraussetzungen für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung Chinas, vor allem des Zugangs zu Rohstoffen. Um dies zu gewährleisten, greift Peking auf verschiedene längerfristige Strategien und folgende diplomatische Taktiken zurück: Zunächst ist die Parteiführung bestrebt, den Aufstieg Chinas nicht als Bedrohung für andere wirken zu lassen und versichert, den bisherigen "friedlichen Entwicklungsweg" niemals verlassen zu wollen. Als Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats mit Vetorecht verlangt China stets die Zuständigkeit der UNO, wenn es um globale Fragen geht, vor allem im Bereich der Menschenrechts- oder Sicherheitspolitik. Ausgehend vom eigenen, selbst so beschriebenen Status als "größtes Entwicklungsland der Welt" tritt die Volksrepublik seit Jahrzehnten als Fürsprecher der Entwicklungs- und Schwellenländer auf. Mithilfe einer umfangreichen Besuchs- und Gipfeldiplomatie baut die chinesische Führung seit den 1990er-Jahren zudem die Beziehungen zu Staaten in Afrika, Lateinamerika oder Zentralasien aus, die von westlichen Staaten entweder vernachlässigt oder wegen Menschenrechtsverletzungen gemieden wurden. QuellentextBeteiligung an multilateralen Gruppierungen [...] [G]ut ein Dutzend Staats- und Regierungschefs haben sich in der ostchinesischen Hafenstadt [Qingdao 2018] zeitgleich zum G-7-Gipfel eingefunden. Russlands Präsident Wladimir Putin ist gekommen [...], Indiens Präsident Narendra Modi, sein Rivale Mamnoon Hussain aus Pakistan, genauso wie der iranische Präsident Hassan Rohani, der seine erste Auslandsreise angetreten hat, seitdem die Vereinigten Staaten den Abrüstungsdeal gekündigt haben. Dazu fünf Staatsoberhäupter aus Zentralasien, der mongolische Präsident und Europas letzter Diktator: Alexander Lukaschenko aus Weißrussland. Zusammen sind sie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Die Gegenveranstaltung zu den G 7. Gegründet wurde die Vereinigung 2001 in Shanghai, um Terrorismus, Extremismus und Separatismus in Zentralasien zu bekämpfen. "Die drei bösen Kräfte", nennt die Propaganda das in China. Besonders um die westchinesische Uiguren-Provinz Xinjiang geht es der Führung in Peking. Am Anfang waren es sechs Mitgliedstaaten, und gemeinsam hielten sie Militärmanöver ab. Spätestens seitdem Indien und Pakistan zu Vollmitgliedern der Organisation geworden sind, hat sich der Fokus jedoch geweitet. [...] Mit der Shanghai Organisation hat China eine Allianz geschaffen, bei deren Runden sich Staatschefs treffen, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren und bei denen Europa und die USA außen vor sind. Allein Indien und China sind für 50 Prozent des Weltwirtschaftswachstums verantwortlich. Und die Shanghai-Gruppe ist beileibe nicht der einzige Versuch Pekings, eine Konkurrenz zu den etablierten internationalen Organisationen aufzubauen. In Europa hat man den Mechanismus "16 + 1" geschaffen. Elf osteuropäische EU-Mitglieder nehmen daran teil, genauso wie fünf Balkanstaaten. Das siebzehnte Mitglied ist China. Einmal im Jahr wird ein [...] Gipfel ausgerichtet, und Peking verspricht billige Kredite für Infrastrukturprojekte. Ein weiteres von China vorangetriebenes Format ist der Austausch der Brics-Staaten [Brasilien, Russland, Indien und China]. [...] [I]n New York trafen sich [2006] [...] die Außenminister der vier Länder. 2009 tagte [...] die [...] Staatengemeinschaft zum ersten Mal offiziell in Jekaterinenburg. Seitdem kommen die Staats- und Regierungschefs jedes Jahr zusammen. Insgesamt sind es nun fünf Teilnehmer, 2010 trat, auf Initiative Chinas, Südafrika dem Klub bei. Geht es nach China, so soll das Bündnis erweitert werden. Thailand oder Mexiko, so heißen die Wunschpartner. Den größten Einfluss hat China zweifelsohne aber bei der Shanghai Organisation. Offiziell gibt es ein Generalsekretariat in Peking. Aktuell ist der Mann an der Spitze ein Tadschike. Wirklich viel zu sagen hat er allerdings nicht. Die Agenda bestimmen im Wesentlichen China und mit Abstrichen Russland. Die Arbeitssprachen der Organisation sind Chinesisch und Russisch. [...] Am [...] [10.06.2018] dann unterzeichn[et]en die acht Vollmitglieder mehrere Vereinbarungen. Sie wollen den Terrorismus noch stärker bekämpfen, kleine und mittlere Unternehmen fördern und künftig gemeinsam gegen Seuchen vorgehen. Herzstück aber ist die sogenannte Qingdao-Deklaration, in der sich alle Teilnehmer zu den angesprochenen Werten von Shanghai bekennen. Ursprünglich sollte auch die Seidenstraßeninitiative von Präsident Xi in das Dokument aufgenommen werden. [...] Doch [...] [i]n mehreren Ländern formiert sich Protest gegen die Initiative, nachdem Häfen und Flugplätze dem chinesischen Staat gehören. In der Deklaration fehlt der Verweis auf die Seidenstraße, Indiens Unterhändler haben sich dagegen gestemmt. Offenbar haben doch nicht alle Mitglieder dieselben Interessen. Christoph Giesen, "Allianz der Mehrheit", in: Süddeutsche Zeitung vom 11. Juni 2018 Chinas Image in der Welt soll durch den bewussten Einsatz von Soft Power kultiviert werden. Dieser Begriff umschreibt die Fähigkeit einer Nation, den eigenen Leitvorstellungen und Interessen nicht nur durch militärische Macht oder materielle Anreize, sondern durch die ideelle Attraktivität des eigenen nationalen Gesellschafts- und Kultursystems Geltung zu verschaffen. Die USA mit ihren weltweit begehrten Marken und ihrer dominierenden Unterhaltungsindustrie gelten dafür als Paradebeispiel. Dem amerikanischen Lebensstil mit den darin zum Ausdruck kommenden Werten wie Freiheit oder individuelle Selbstverwirklichung setzt die Volksrepublik nun seit einigen Jahren bewusst eine eigene Soft Power-Strategie entgegen: So soll unter anderem über die Konfuzius-Institute in anderen Ländern – gestützt auf die Attraktivität der traditionellen chinesischen Kultur – für die Erfolge der chinesischen Modernisierung in den vergangenen Jahrzehnten geworben werden. Und ihre Führungsrolle in Regionalorganisationen wie der Shanghai Cooperation Organization nutzt die VRC auch, um ihre Grenzen gegen islamistischen Terrorismus zu sichern und ihren Rohstoffbedarf zu decken. QuellentextEngagement in Afrika [...] In kürzester Zeit ist China mit Abstand zum wichtigsten Handelspartner Afrikas geworden. Der Wert der gehandelten Güter belief sich 2015 auf 188 Milliarden US-Dollar, das ist mehr als das Dreifache des Handelsvolumens mit Indien, Afrikas zweitstärkstem Partner. Lange folgten die Beziehungen einem recht einfachen Skript: Die chinesische Regierung sucht Ressourcen und politische Partner, ihre Staatsbetriebe bauen dafür Straßen und Regierungsgebäude. Sie umarmt alle, auch die schlimmsten Autokraten, Transparenz und gute Regierungsführung sind dabei egal. Nicht wenige werfen China darum Neokolonialismus vor. [...] Die großen Geschäfte in Afrika machen zwar immer noch der chinesische Staat und seine Betriebe. Daneben aber gibt es jetzt unzählige private Glücksritter. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt ihre Zahl bereits auf 10.000. Da gibt es solche, die Raubbau betreiben, illegal abholzen oder fischen. Aber auch solche, die ausbilden und Arbeitsplätze schaffen, neue Produkte anbieten und die Wirtschaft beleben. So sagten 1000 der befragten Unternehmer gegenüber McKinsey, dass 89 Prozent ihrer Angestellten Afrikaner seien. Das wären 300.000 neue Jobs. [...] Wenn nötig, dann passen sich die Unternehmer ein in die nationalen Strategien des Staates, in dem sie operieren. Zum Beispiel in Äthiopien. Addis Abeba. [...] Die Trambahn ist ein Prestigeprojekt, gebaut von den Chinesen. Die einzige auf dem ganzen Kontinent außerhalb Südafrikas. Addis ist als Sitz der Afrikanischen Union (AU) ein Schaufenster, so etwas wie die heimliche Hauptstadt Afrikas. Alle afrikanischen Staaten haben hier ihre Vertretung. Man kann hier zeigen, was geht – mit und durch China. In der Nähe des neuen AU-Hauptquartiers, von China gebaut, haben sich die Büros der staatseigenen chinesischen Betriebe angesiedelt. Chinesische Baufirmen sind in der ganzen Stadt zu finden. China ist nicht nur der größte Infrastrukturfinanzier auf dem Kontinent, 50 Prozent der dort international ausgeschriebenen Projekte werden auch von chinesischen Firmen gebaut. Diplomaten im Umfeld der AU erzählen, dass nur zwei Staaten nie Termine machen müssten, sondern überall vorgelassen werden. Das seien die Äthiopier, die Hausherren. Und die Chinesen. [...] "Afrika ist der letzte Kontinent, den es zu entwickeln gibt. The last frontier of development", sagt Alexander Demissie, ein Äthiopier, der in Deutschland aufwuchs und die Beratungsfirma The China Africa Advisory mit aufgebaut hat. [...] Die Telekommunikationsgiganten Huawei und ZTE haben einen Großteil der digitalen Netze in Afrika errichtet. China baut in der ganzen Welt im Rahmen seiner "Neuen Seidenstraße" Häfen, Pipelines, Eisenbahnnetze. Auch in Ostafrika: "Wenn man die chinesischen Infrastrukturprojekte betrachtet", sagt Demissie, "sieht man, was sie vorhaben: Einfluss auf die ganze Region zu nehmen." Dschibuti, Äthiopiens kleiner Nachbar am Horn von Afrika, ist durch die erste chinesische Militärbasis schon zum strategischen Zentrum geworden. Nun soll es auch zum Finanz- und Logistikzentrum Ostafrikas werden – "eine Art Singapur, große chinesische Banken haben dort bereits ihre Claims abgesteckt", so Demissie. [...] Komplementiert wird die Infrastruktur durch verschiedene Eisenbahnlinien. Die Strecke Mombasa – Nairobi wurde gerade fertiggestellt, die zwischen Dschibuti und Addis soll in Kürze eröffnet werden. Beide Strecken sollen eines Tages verbunden und erweitert werden, nach Uganda, Burundi, Ruanda, Kongo, Sudan. Das große Fernziel: eines Tages Ost- und Westafrika zu verbinden. Habe China mit all diesen Großaufträgen erst mal seine Standards gesetzt, erklärt Demissie, würden zahlreiche weitere Aufträge folgen: Dienstleistungen, Ersatzteile. [...] Dazu gehört auch, dass chinesische Unternehmen südafrikanische Medienhäuser, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, aufkaufen, um Öffentlichkeit im Sinne der Partei zu schaffen. Demissie weiß das und sieht das chinesische Engagement trotzdem sehr positiv. Die Infrastruktur werde dringend benötigt – und kein anderes Land hätte geleistet, was China derzeit schafft. [...] Alemayehu Geda, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Addis Abeba, ist skeptischer. [...] Man müsse, sagt er, nicht auf die Direktinvestitionen, sondern auf die Kredite achten. "Die chinesischen Direktinvestitionen nach Äthiopien machten in den vergangenen zehn Jahren gerade mal 600 Millionen US-Dollar aus, die Kredite aber 70 Milliarden." [...] Tatsächlich brauche sein Land all die Infrastruktur, sagt Geda. Was aber, wenn die Abhängigkeit eines Tages übergroß werden sollte, wenn die Äthiopier ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen können? "Dann könnte die chinesische Regierung zum Beispiel darauf bestehen, dass Ethiopian Airlines statt Boeing oder Airbus chinesische Maschinen kauft." Geda nennt das "strategische Verletzlichkeit", und es gibt für ihn nur einen Weg, ihr zu entkommen. [...] "Wir brauchen", sagt Geda, "Expertise. In jeder Hinsicht. Aber vor allem am Verhandlungstisch." Angela Köckritz, "Fingerspitzengefühl in Afrika", in: DIE ZEIT Nr. 2 vom 4. Januar 2018 Kontinuität und Wandel Änderungen der ideologischen Prioritäten sowie globale Machtverschiebungen haben immer wieder zu Neuausrichtungen der chinesischen Außenpolitik geführt. So stand die Volksrepublik von 1949 bis zu Beginn der 1960er-Jahre im Bündnis mit den sozialistischen Staaten. Nach dem Bruch mit der Sowjetunion geriet China während der Kulturrevolution in eine Phase außenpolitischer Isolation. Mit der Reform- und Öffnungspolitik 1978 begann dann die nach offiziellen chinesischen Angaben bis heute andauernde "unabhängige Außenpolitik des Friedens". Kontinuitäten zeigen sich vor allem in der fortschreitenden Integration Chinas in transnationale Handels- und Kapitalströme und in einer extremen Empfindlichkeit, sobald die eigenen Kerninteressen bedroht erscheinen. Unter Xi Jinping weist die Außenpolitik Chinas seit 2013 markante Neuerungen auf: So hat Peking im Jahr 2017 mehrfach die Bereitschaft erklärt, einen aktiven Beitrag zur Gestaltung der internationalen Ordnung – etwa in den Bereichen Klimaschutz oder Cybersicherheit – zu leisten. Die Führung preist nun auch selbstbewusst den eigenen Modernisierungsweg als Vorbild für andere Länder, ja sogar als bewusste Alternative zum Westen an. Chinas Außenpolitik ist ferner darauf ausgerichtet, durch neue Finanzierungsinstrumente und großangelegte Infrastrukturprojekte chinazentrierte Strukturen zu verwirklichen. Ein Beispiel dafür ist die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB). Die multilaterale Entwicklungsbank wurde am 16. Januar 2016 gegründet und hat ihren Sitz in Peking. Sie umfasste bei ihrer Gründung 57 Mitglieder, mit Stand März 2018 gehörten ihr 84 zugelassene Mitglieder, darunter 16 EU-Mitgliedstaaten, an. Die AIIB soll (insbesondere grenzüberschreitende) Infrastrukturinvestitionen in den Bereichen ländliche Entwicklung, Energieerzeugung, Umweltschutz, Transport und Telekommunikation, Wasserversorgung, städtische Entwicklung und Logistik in Asien finanzieren. Dazu ist sie mit einem Kapitalstock von 100 Milliarden US-Dollar ausgestattet. Die größten Anteilseigener sind China (32 %), Indien (9 %), Russland (7 %) und Deutschland (5 %). Grundsätzlich sollen alle Projekte zusammen mit anderen multilateralen Gebern wie der Weltbank, der Asiatischen Entwicklungsbank oder der Europäischen Investitionsbank gemeinsam finanziert und durchgeführt werden. Bis zum Frühjahr 2018 wurden 25 Entwicklungsprojekte im Umfang von insgesamt mehr als vier Milliarden US-Dollar unter anderem in Pakistan, Indien, Bangladesch und Indonesien genehmigt. Die neue Seidenstraße (© Mercator Institute for China Studies (MERICS) / F.A.Z.-Bearbeitung Walter) In diesem Kontext steht auch die sogenannte Seidenstraßeninitiative, die Vision eines transkontinentalen Wirtschaftsraums Eurasien: Ethnischem Separatismus und religiösem Fundamentalismus soll durch ökonomische Entwicklung, etwa durch den Bau von Eisenbahntrassen oder Kraftwerken, der Boden entzogen werden. Mit einer ideologischen Verhärtung in den vergangenen Jahren hat sich China aber zunehmend von seiner Politik der Öffnung zum Westen abgewendet. Unverkennbar wächst bei der chinesischen Führung das Misstrauen gegenüber internationaler zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit. QuellentextDie "Neue Seidenstraße" Die "Neue Seidenstraße" [oder "One belt, one road", OBOR] ist ein chinesisches Projekt aus dem Jahr 2013. Ziel ist es, wie einst mit der historischen Seidenstraße den eurasischen Handel anzukurbeln – allerdings unter chinesischer Kontrolle und Dominanz. Geplant oder im Bau sind mehrere Handelsrouten: Im Süden führen sie über den Indischen Ozean und den Suezkanal zu europäischen Häfen wie Piräus, Venedig und Marseille, auf dem Landweg via Pakistan, Iran und Türkei bis in Städte wie Duisburg oder Berlin. Peking hat bereits 40 Milliarden Dollar in das Mammutvorhaben [...] gesteckt. [...] Mit chinesisch dirigierten Krediten und Ausschreibungsverfahren entstehen derzeit Autobahnen, Eisenbahnlinien, Viadukte, Lager, Rastplätze, Containerterminals, Flughäfen und sogar Kraftwerke und Raffinerien. [...] Die neue Seidenstraße ist das große Prestigeprojekt von Präsident Xi Jinping. Inzwischen sind 65 Länder dabei – von Südasien über Afrika bis nach Europa und Amerika. Auch die Arktis und Südamerika sollen dazugehören. Mit dem jahrtausendealten Handelsweg hat das nichts mehr zu tun: Es ist eher eine Metapher für ein von China dominiertes Handelssystem. Der Kitt, der es zusammenhält, sind chinesische Investitionen in Milliardenhöhe. [...] Das Gebilde aus Diplomatie und Investitionen entwickelt sich jedoch nicht ganz so glatt wie erhofft. Die [...] Kritik betrifft etwa die Intransparenz, mit der Peking seine Kredite vergibt. Ein Rückschlag lässt sich in Malaysia beobachten. Dort waren im Mai [2018] Wahlen – und der 92-jährige China-Kritiker Mahathir Mohamad hat gewonnen. Das chinesische Geld hätte die Schulden des Landes in die Höhe getrieben, ohne angemessene Vorteile für die Bürger zu bringen. Beim Kassensturz für ein Pipeline-Projekt kam zutage, dass erst 13 Prozent der Arbeit erledigt, aber schon 90 Prozent des Geldes ausgegeben ist. Es ist vor allem die Führungsklasse, die von den Überweisungen aus Peking profitiert. Das Geld fließt als zinsgünstiges Darlehen, das an bestimmte Bauvorhaben gebunden ist. Doch wo gebaut wird, fließt auch Schmiergeld. [...] China bestraft Korruption im Ausland nicht. Also profitieren oft die Politiker, Beamte und Staatsfirmen – also genau die Leute, die darüber entscheiden, ob ihr Land die Chinesen hineinlassen soll oder nicht. US-amerikanische und europäische Firmen können oft nicht mitbieten: Wegen der Antikorruptionsgesetze in ihren Heimatländern würden sie sich hochgradig angreifbar machen. Am Ende müssen die Steuerzahler die Rechnung begleichen – auch günstige Kredite sind einmal zurückzuzahlen. Das kleine Land Laos beispielsweise hat seine Schulden durch ein sechs Milliarden Euro teures Eisenbahnprojekt mit den Chinesen verdoppelt. China hat den Laoten nun angeboten, einen Teil der Schulden durch die Übertragung von Ackerland zu begleichen. So macht China die Partnerländer abhängig, um nebenbei noch andere Ziele zu erreichen, etwa die eigene Lebensmittelversorgung oder die Besetzung von geostrategischen Schlüsselstandorten. Als Sri Lanka einen Kredit nicht zurückzahlen konnte, hat China die Kontrolle über den Hafen Hambantota im Süden der Insel übernommen. Beobachter fürchten nun, dort könne zudem eine Marinebasis entstehen. Das alles heißt jedoch nicht, dass die Seidenstraßeninitiative kein Erfolg ist. China bewegt hier eine erstaunliche Menge an Geld und Material – und verschiebt dabei die politischen Verhältnisse. Es stößt dabei in Räume vor, die sich bisher vernachlässigt sehen – etwa die Weiten Zentralasiens, für die sich weder die EU noch die USA interessiert haben. Auch die Entwicklung Afrikas ist mit zunehmendem Interesse Chinas zumindest wieder Gegenstand internationaler Konkurrenz. [...] Chinas unkomplizierte Investitionen in Osteuropa können da etwas bewegen, wo die EU etwas schwerfällig agiert. Finn Mayer-Kuckuk, "Erkauftes Wohlwollen", in: Frankfurter Rundschau vom 9. Juli 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt Ausgewählte bilaterale Beziehungen Verhältnis zu den USA Im Zentrum der chinesischen Außenpolitik stehen die bilateralen Beziehungen zu Groß- und Regionalmächten. Der Hauptbezugspunkt sind dabei die USA. Beide Länder sind wirtschaftlich durch Handels-, Investitions- und Währungsströme miteinander verschränkt. Der Zugang zu Rohstoffen und Energieträgern, die Bekämpfung des grenzüberschreitenden Terrorismus oder der Piraterie – all dies ist ohne effektive Abstimmung der beiden Großmächte nicht erfolgreich zu leisten. Zwar stimmen ihre allgemeinen Zielsetzungen bei diesen Themen durchaus überein, doch bei der Frage, mit welchen Mitteln diese Ziele erreicht werden sollen, gehen die Positionen der beiden Regierungen zum Teil weit auseinander. Auch politisch-normative Gegensätze, vor allem das Thema Menschenrechte, trugen bislang zu einer Vielzahl von Konflikten bei: So forderte Washington in der Vergangenheit wiederholt die chinesische Regierung auf, die politische Situation von Dissidenten, religiösen Gruppen oder ethnischen Minderheiten zu verbessern. Im Zuge der intensivierten Austauschbeziehungen hat ferner das außenwirtschaftliche Spannungspotenzial stark zugenommen: So machen die USA unter Donald Trump Peking wesentlich für das US-Handelsbilanzdefizit und den Verlust an Industriearbeitsplätzen verantwortlich und kritisieren immer wieder chinesische Urheberrechtsverletzungen und Produktpiraterie. Des Weiteren belasten militärisch-strategische Interessenkonflikte in der asiatisch-pazifischen Region das bilaterale Verhältnis. China lehnt die dominierende sicherheitspolitische Rolle der USA, vor allem deren Allianzen mit Japan und Südkorea, strikt ab. Letztlich aber steht bei den meisten Kontroversen ein weitaus größeres Thema im Hintergrund: China ist nicht bereit, dauerhaft der Rolle eines Juniorpartners zu entsprechen, der auf US-amerikanische Führungsansprüche Rücksicht nimmt. Beziehungen zu Japan Chinas Beziehungen zu Japan werden in besonderer Weise durch die gemeinsame Geschichte belastet. Die Kommunistische Partei Chinas feiert den "Sieg im antijapanischen Widerstandskrieg" (1937–45) bis heute als ein Fundament ihrer Herrschaftsberechtigung. Nach chinesischer Auffassung hat kein anderes Land China größeres Leid zugefügt als der pazifische Nachbarstaat, der sich bis zum heutigen Tag nicht angemessen für seine Kriegsverbrechen entschuldigt habe. Im Kern wird das bilaterale Verhältnis aber geprägt durch eine offene machtpolitische Rivalität zwischen Japan und China um die Führungsrolle in Asien. Durch die jüngsten Verschiebungen von ökonomischen und militärischen Kräfteverhältnissen zu Chinas Gunsten ist diese Rivalität in eine neue Phase eingetreten. Verschärfend kommt seit 2010 noch der Konflikt um die Diaoyu-/Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer hinzu. Zum einen geht es in diesem symbolisch aufgeladenen Streit mittels historisch-völkerrechtlicher Kontroversen um Ansprüche auf die Ausbeutung umfangreicher Ressourcen. Zum anderen hat das Seegebiet eine wichtige strategische Bedeutung für Handels- oder Kriegsschiffe auf dem Weg in den Pazifik. Aufgrund dessen ist die Inselgruppe immer wieder zum Schauplatz des direkten Aufeinandertreffens von Schiffen oder Flugzeugen beider Seiten geworden. China und Korea Chinas Verwicklung in die Geschehnisse auf der koreanischen Halbinsel reicht zurück bis in den Koreakrieg (1950–53). Nordkorea ist das einzige Land, mit dem Peking formell in einem Bündnisverhältnis steht. Für das international isolierte Regime in Pjöngjang ist China der wichtigste Handelspartner und die Hauptquelle für Nahrungsmittel- und Energielieferungen. Angesichts der Spannungen, die nordkoreanische Nuklear- und Raketentests in den vergangenen Jahren auslösten, ist Peking jedoch schrittweise von seinem Partner abgerückt. Selbst UN-Sanktionen gegen Nordkorea hat die chinesische Regierung zuletzt mitgetragen und nicht durch ihr Veto verhindert. Wie viel Einfluss China auf Nordkorea hat, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Die wechselseitigen Kontakte verlaufen in erster Linie über die beiden kommunistischen Parteien und das Militär. Chinas Hauptinteresse besteht in der Aufrechterhaltung des Status quo auf der koreanischen Halbinsel, denn Nordkorea dient als Pufferzone zwischen China und Südkorea, das rund 30.000 US-amerikanische Truppen beherbergt. Für den Fall eines Regimekollapses in Nordkorea könnten sich große Flüchtlingsströme in die angrenzenden chinesischen Gebiete ergießen. Daher entzieht sich Peking bislang allen Aufforderungen der USA, mehr Druck auf Nordkorea auszuüben. Ein aufsehenerregendes Treffen des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un mit US-Präsident Donald Trump im Frühjahr 2018 war begleitet von chinesisch-nordkoreanischen Konsultationen, die das beiderseitige Interesse unterstrichen, China bei dieser Annäherung ehemaliger Kontrahenten nicht außen vor zu lassen. Verhältnis zur EU und zu Deutschland Im Unterschied zu den Beziehungen Chinas mit den USA oder Japan spielen sicherheitspolitische Konflikte für die Beziehungen zwischen China und der EU bislang kaum eine Rolle. Beide Seiten verbindet – in bewusster Abgrenzung zu den USA unter Präsident Trump – das Interesse, die globalen Regelwerke in der Handels- und Klimapolitik weiterzuentwickeln. Die VRC und die EU sind durch Handel und Investitionen eng verflochten, das Spannungspotenzial in diesen Politikfeldern hat jedoch zuletzt deutlich zugenommen. So beklagen die Europäische Kommission oder einzelne EU-Mitgliedstaaten immer wieder Hürden beim Marktzugang in China, einen unzureichenden Schutz geistigen Eigentums oder unfaire Handelspraktiken wie etwa das Preisdumping bei chinesischem Stahl. Dem Verhältnis zu Deutschland kommt für China dabei besondere Bedeutung zu. Dies liegt zum einen am wirtschaftlichen Status der Bundesrepublik als größter Volkswirtschaft in der EU und zum anderen an der Tatsache, dass Berlin innerhalb der EU Chinas wichtigster Handelspartner ist. Besonders nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 gewann der wirtschaftliche Austausch an neuer Dynamik: Deutsche mittelständische Unternehmen, aber auch die großen Konzerne in den Sektoren Automobil-/Fahrzeugbau, Maschinenbau oder Spezialchemie lieferten genau den Mix an Produkten, die von der chinesischen Wirtschaft besonders dringend gebraucht wurden. Darüber hinaus gibt es im Rahmen der offiziell so bezeichneten "Umfassenden strategischen Partnerschaft" beider Seiten vielfältige Kontakte auf allen Ebenen wie etwa die seit 2011 regelmäßig stattfindenden Regierungskonsultationen. Das Auswärtige Amt in Berlin zählt insgesamt mehr als 80 Dialogmechanismen in den Bereichen Wirtschaft/Finanzen, Rechtsstaatsfragen, Umwelt/Klima/Energie, Entwicklungszusammenarbeit, Wissenschaft/Technologie bis hin zu Kultur und Bildung. Dieses breite Fundament an institutionalisierten Kontakten und auch die persönlich guten Beziehungen zwischen der chinesischen und der deutschen Regierungsspitze stützen das beiderseitige Verhältnis. Andererseits haben seit etwa dem Jahr 2016 die Konflikte zugenommen, China wird in Politik, Wirtschaft und Verwaltung heute nicht mehr nur als Partner Deutschlands betrachtet sondern zunehmend auch als Wettbewerber und Gegner. Gründe und Anlässe dafür bieten unter anderem die deutliche Zunahme chinesischer Direktinvestitionen in Deutschland, die die Sorge vor einem Abfluss deutschen Know-hows nach China befeuert;die chinesische staatlich gelenkte Industriepolitik, die gerade in die bisher von Deutschen dominierten Hightechsektoren eindringen will;Chinas Weigerung, sich im Falle des Südchinesischen Meeres internationalem Recht zu unterwerfen (siehe auch unten S. 40 f.);zunehmende Beschränkungen für die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in China, die auch deutsche Stiftungen treffen sowiedie wachsende offene Kritik der Volksrepublik am westlichen liberalen Politik- bzw. Gesellschaftsmodell. Militär- und Sicherheitspolitik Die Volksbefreiungsarmee (VBA) ist keine politisch neutrale Armee im Sinne demokratischer Verfassungsstaaten. Sie wurde vielmehr 1927 als bewaffneter Arm der KPC gegründet. Ihre Loyalität gilt bis heute ausschließlich der Partei, deren "absoluter Führung" sie untersteht. Demgemäß ist die Aufrechterhaltung des Herrschaftsmonopols der KPC ihre Hauptaufgabe. Unter dem Eindruck neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen haben die Streitkräfte ein umfassendes Modernisierungsprogramm begonnen. Reorganisation der Volksbefreiungsarmee (VBA) seit 2016 (© bpb) Die bisher vorwiegend zur Landesverteidigung bestimmte Armee soll nun neue Einsatzfelder abdecken können: die Kriegführung im Welt- und Cyberraum, die Sicherung chinesischer Handelswege zur See, den Schutz chinesischer Firmen und Staatsbürger im Ausland in Krisenfällen. Zu diesem Zweck sind der Aufbau der VBA, ihre Ausrüstung und Militärdoktrin den neuen Erfordernissen angepasst worden. Die Volksbefreiungsarmee soll nicht nur neueste Waffensysteme besitzen, sondern auch moderne Kriegsführung beherrschen. Die Teilstreitkräfte müssen künftig gemeinsam operieren (© MERICS) Die wachsende Beteiligung an internationalen Friedensmissionen, der Aufbau eines ersten Übersee-Versorgungsstützpunkts in Dschibuti oder Evakuierungsmissionen chinesischer Staatsbürger, wie 2011 aus Libyen, dokumentieren die größere globale Präsenz der VBA. Zwar hat diese in ihren Modernisierungsbemühungen, insbesondere in Nischenbereichen wie der Cyber-Kriegführung, erhebliche Fortschritte gemacht, insgesamt bleiben die militärischen Fähigkeiten Chinas im Vergleich zu denen der USA jedoch vorerst weiterhin begrenzt. Die Taiwan-Frage Brisanz erfährt die Modernisierung des chinesischen Militärs vor dem Hintergrund mehrerer Konflikte Chinas mit seinen Nachbarstaaten. Die gilt zunächst für die Taiwan-Frage, die womöglich sogar eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen China und den USA auslösen könnte und ein aus dem chinesischen Bürgerkrieg (1927 bis 1949) entstandenes zentrales Symbol des chinesischen Nationalismus ist. Die Rückgewinnung und Reintegration der Insel in das "Mutterland" sieht die Volksrepublik als Voraussetzung dafür, das "Jahrhundert der Erniedrigungen" von 1842–1949 als historische Episode zu beenden und den Wiederaufstieg Chinas in den Rang einer Weltmacht zum krönenden Abschluss zu bringen. Der Kern der Auseinandersetzung zwischen beiden Seiten besteht dabei im gegenwärtigen politischen bzw. völkerrechtlichen Status Taiwans und der zukünftigen Lösung des Konflikts. Für Peking ist Taiwan ein Bestandteil der Volksrepublik, während Taiwan unter dem Namen "Republik China" unverändert an seinem Status als alternative Staatsordnung festhält. Mit der Formel "Ein Land, zwei Systeme" gibt Peking weiterhin die seiner Meinung nach einzig mögliche Lösung der Taiwan-Frage vor und stellt Taiwan im Falle eines Anschlusses noch weitergehende Autonomierechte als Hongkong in Aussicht. Die taiwanische Bevölkerung sieht dieses Angebot, Taiwan den Status einer Sonderverwaltungszone unter kommunistischer Herrschaft zuzugestehen, aber als eine Unterwerfungsstrategie an und lehnt sie kategorisch ab. Um die Wiedervereinigung zu erreichen und Unabhängigkeitsbestrebungen auf Taiwan einzudämmen, verstärkt Peking die ökonomische Abhängigkeit der Insel vom Festland, grenzt Taiwan diplomatisch ein und schafft eine militärische Drohkulisse. Da beide Seiten in den Kernfragen der nationalen Einheit weiterhin unüberbrückbare Differenzen aufweisen, kann der Taiwankonflikt trotz einer gewissen Entspannung in den vergangenen Jahren jederzeit aufs Neue eskalieren. Quellentext"Ein Land, zwei Systeme?" [...] Seit dem Sieg 1949 über die Nationalchinesen Chiang Kai-sheks, die sich nach Taiwan zurückziehen mussten, bezeichnet die Volksrepublik die Insel als eine "abtrünnige Provinz" und rechtmäßigen Teil ihres Territoriums, obwohl sie hier nie auch nur einen Tag lang regierte. An die Taiwaner gerichtet sagte [Ministerpräsident] Li Keqiang [auf dem Nationalen Volkskongress in Peking im März 2018]: "Wenn wir uns nicht gegen den Strom der Geschichte stellen, können wir gemeinsam eine wunderschöne Zukunft der nationalen Wiedererstarkung erschaffen." Zugleich drohte er, China werde niemals "Separatismus" dulden. Das alles sind in Taiwan längst bekannte Töne, die sich vor allem an Chinas Öffentlichkeit richten und mit der Stimmung auf der demokratisch regierten Insel wenig zu tun haben. Mehr als die Hälfte der 23 Millionen Taiwaner definiert sich nach einer jüngsten Umfrage selbst nicht einmal mehr ansatzweise als "chinesisch". Und weniger als 15 Prozent wünschen sich jetzt oder irgendwann eine "Wiedervereinigung" mit dem Festland, die angesichts der ungleichen Machtverhältnisse eher ein Anschluss wäre. Seit Jahren liefert Chinas Sonderverwaltungszone Hongkong mit den schrittweisen Einschränkungen ihrer ursprünglich zugesicherten Autonomie ein abschreckendes Anschauungsbeispiel. [...] Die USA sind Taiwans inoffizielle Schutzmacht. Der US-Senat verabschiedete [...] [am 28. Februar 2018] einstimmig den "Taiwan Travel Act". Dieses Gesetz [...] soll zu mehr direkten Treffen zwischen hochrangigen amerikanischen und taiwanischen Regierungsmitgliedern führen. Bislang scheute Washington davor meist zurück. Pekings Behörde für Taiwan-Angelegenheiten reagierte wie zu erwarten harsch: "Wir warnen Taiwan, sich nicht auf die Unterstützung durch Ausländer zu verlassen. Es wird nur Feuer auf sich ziehen." Chinas kaum noch verhohlenes Vormachtstreben führt auch bei anderen Ländern der Region dazu, sich unterhalb der Regierungsebene Taiwan anzunähern. Abgeordnete aus Japan, Südkorea und den Philippinen trafen sich [am 3./4. März 2018] mit Kollegen in Taipeh. Auf der Tagesordnung standen bessere Zusammenarbeit und mehr Informationsaustausch, um Chinas wachsenden Einfluss zu kontern. [...] Dass Xi Jinping sich vom Nationalen Volkskongress per Verfassungsänderung die Präsidentschaft auf Lebenszeit ermöglichen lässt, sieht Taiwan mit Sorgen. Zwar hat Xi bislang keinen klaren Zeitrahmen genannt. Seine Worte und Taten lassen aber erkennen, dass es zu seinem Versprechen vom "Chinesischen Traum" gehört, Taiwan unter Kontrolle zu bringen. Vergangene Woche verkündete Peking "31 Anreize" für taiwanische Kulturschaffende und Geschäftsleute. Sie sollen in vielen Bereichen in den Genuss der gleichen Vorteile kommen wie chinesische Bürger. Dazu gehören Steuererleichterungen, Joint Ventures mit staatseigenen Betrieben, Bürgschaften durch Regierung und Fördermaßnahmen. Indem China all dies einseitig verkündet, umgeht es ein seit Jahren auf Eis liegendes Freihandelsabkommen mit Taiwan. Das Ziel ist offenbar, Geld und Talente aus Taiwan abzuwerben. [...] Taiwans Regierung warnt ihre Landsleute davor, allzu optimistisch auf solche Angebote einzugehen, und wittert das Motto "Teile und herrsche". Taiwans Premierminister William Lai mahnte im Parlament: "Egal, welche Taiwanpolitik Peking betreibt, das Ziel bleibt immer, Taiwan zu annektieren." Klaus Bardenhagen, "China umgarnt und bedroht Taiwan", in: Deutsche Welle vom 7. März 2018 Externer Link: www.dw.com/de/china-umgarnt-und-bedroht-taiwan/a-42868494, zuletzt abgerufen: 18.7.2018 Territorialkonflikte mit den Nachbarstaaten Territoriale Konflikte Chinas mit seinen Nachbarn, vor allem mit Russland und Indien, um Landesgrenzen haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich entspannt. Zwar sind die sich gegenseitig ausschließenden Besitzansprüche keineswegs ausgeräumt. Die umstrittenen Gebiete wurden aber wenigstens mittels Demarkationslinien klar identifiziert und vertrauensbildende Maßnahmen, zum Beispiel in Gestalt beiderseitiger Truppenreduzierungen in Grenznähe, wurden umgesetzt. Vorfälle wie zwischen China und Indien auf dem Doklam-Plateau im Himalaya 2017 bleiben daher die Ausnahme. Ein chinesisches Straßenbauprojekt auf dem Plateau, das von China beansprucht wird, aber zum Königreich Bhutan gehört, hatte Indien zur Verteidigung der Interessen Bhutans auf den Plan gerufen. Nach wechselseitigen Machtdemonstrationen einigten sich die Parteien auf die Rückkehr zum Status quo. Ganz anders stellt sich Chinas Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer dar. Dieser besteht in einer Kontroverse zwischen den Anrainerstaaten um die Verfügungsrechte über Ressourcen und in der strategischen Bedeutung freier Schifffahrtswege in der Region. Vor allem aber sind Souveränität und Hoheitsrechte über die Inseln zu einer symbolischen Frage der nationalen Ehre auf allen Seiten geworden. Ein Hauptproblem bei der Bearbeitung des Konflikts liegt in dessen schwieriger Verrechtlichung: So herrscht bereits Verwirrung über Zahl und Bezeichnungen der Archipele, die teilweise bei Flut unter Wasser liegen. Die UNO-Seerechtskonvention von 1982 bestimmt zwar den rechtlichen Status der Landerhebungen im Meer, die sich daraus ergebenden Details, wie beispielsweise Rechte in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, bleiben aber strittig. Ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichtshofs in Den Haag im Juli 2016 verwarf Chinas Ansprüche auf fast das gesamte Südchinesische Meer, die Peking mit Verweis auf seine Geschichte stellt, als unvereinbar mit dem Völkerrecht. Der rechtlich bindende Beschluss ist aber nicht durchsetzbar, da Peking das Urteil nicht akzeptiert und auf seinen Positionen beharrt. Die Maßnahmen Chinas zur Durchsetzung seiner Ansprüche lassen sich als "kontrollierte Aggression" charakterisieren: Die Volksrepublik zielt darauf ab, schrittweise den Status quo zu ihren Gunsten zu verändern, das heißt, vollendete Tatsachen zu schaffen. So lässt sie seit Ende 2013 vor allem künstliche Inseln aufschütten, um darauf Landebahnen, Hafen- und Radaranlagen zu errichten. Zwar haben auch andere Staaten ähnliche Schritte unternommen. Intensität, Ausmaß und Geschwindigkeit der Militarisierung durch China sind aber einzigartig. QuellentextHistorisch belastete Nachbarschaften [...] Wer [...] die Ursprünge von Chinas gegenwärtiger Platzsuche in der Weltgemeinschaft verstehen will, tut gut daran, sich der geografischen Peripherie des Landes beziehungsweise seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu widmen. Oft vergessen geht nämlich, dass Chinas Grenzräume ursprünglich in ihrer Mehrzahl nicht von Han-Chinesen, sondern von Minderheitenvölkern besiedelt waren, eine denkbare Erleichterung einerseits, eine zusätzliche Belastung andererseits. Überdies grenzt China an vierzehn souveräne Staaten – mehr als jedes andere Land, abgesehen von Russland. Chinas rund 22.000 Kilometer lange Landgrenze ist die längste der Welt, dazu kommen noch einmal 15.000 Kilometer Küstenlinie und weitere zu Pekings Ansprüchen nicht immer Ja und Amen sagende Anrainerstaaten. Seit einigen Jahren ist es bekanntlich der Rest der Welt, der Pekings Aufstieg mit Argusaugen beobachtet, allen voran Chinas Nachbarländer. Während große Teile der Bevölkerung in Russlands fernem Osten immer einmal wieder Ängste vor territorialen Aspirationen des südlichen Nachbarn heraufbeschwören, ist die Stimmung in der Mongolei nicht viel anders: Auch viele Mongolen sind aus historischen Gründen nicht gut auf China zu sprechen. Zwar anerkannte Peking 1949 die mongolische Unabhängigkeit. Doch es ist nicht vergessen, dass die Kommunistische Partei Chinas bis zum Beginn der achtziger Jahre versuchte, Ulaanbaatar dem Einflussbereich der ehemaligen Sowjetunion zu entziehen. [...] Zwar beteuern die meisten Staatschefs von Chinas Nachbarländern in offiziellen Worten ihr freundschaftliches Verhältnis zu Peking. Doch braucht es wenig, um zu registrieren, dass die Beziehungen Chinas zu Vietnam oder Burma, um zwei andere Staaten zu nennen, nicht so sind wie beispielsweise diejenigen zwischen Deutschland und Frankreich. Während man in Europa versucht, Hypotheken der Geschichte mittels Vergangenheitsaufarbeitung wenigstens in Raten abzuzahlen, schlummern in Asien die Geister der Vergangenheit weiter vor sich hin. Mal mehr, mal weniger friedlich. Zwischen China und Indien gibt es alle paar Jahre Grenzkonflikte, und die Lage im Südchinesischen Meer dürfte sich in den kommenden Jahren eher verschärfen als entspannen. [...] Heute proklamiert China eine Politik der Zusammenarbeit mit seinen Nachbarstaaten und anderen Ländern, die die Basis für gegenseitiges Vertrauen, gemeinsamen Nutzen und weltweiten Frieden bilden soll. [...] Der "chinesische Traum" kommt nach dem Wunsch der Führung in Peking nicht nur der eigenen Bevölkerung zugute, sondern soll die ganze Welt mit den daraus entstehenden Früchten von Harmonie, Wohlstand und ewigem Frieden beglücken. [...] Steigende Handelsströme, schnellere Verbindungswege oder kontinuierliches Wachstum hin oder her: Zahlen sind das eine, Befindlichkeiten das andere. Bei Reisen in Chinas Grenzregionen wird einem bewusst, dass das Konzept der "Euregio" beispielsweise oder generell offene Grenzen, wie wir es hier im Westen kennen, in jenen Gegenden noch für Jahrzehnte lang ein Traum bleiben werden. Trotz Chinas enormen Investitionen in die Zukunft der Weltpolitik werden historische Ereignisse als Echo widerhallen und diese asiatische Region weiter wie einen langen Schatten verfolgen. Ob man es nun will oder nicht: Das Unbehagen vor einer unbestimmten Zukunft keimt auf dem Boden einer Vergangenheit, die sich tatsächlich ereignet hat. Matthias Messmer ist Publizist mit Spezialgebiet Asien, insbesondere China. Im Frühjahr 2019 erscheint sein Buch (zusammen mit Hsin-Mei Chuang) "China an seinen Grenzen. Erkundungen am Rand eines Weltreichs". Es ist die deutsche Übersetzung des Text-Bild-Bandes "China at its Limits. An Empire’s Rise Beyond its Borders". Matthias Messmer, "Schlaflos die Welt, wenn China träumt", in: Neue Zürcher Zeitung vom 16. Juni 2018 QuellentextInselstreitigkeiten im Südchinesischen Meer Das Südchinesische Meer und seine Bedeutung: Das Südchinesische Meer umfasst eine Meeresoberfläche von mehr als 3,5 Millionen Quadratkilometern. Zu ihm gehören vier Inselgruppen, die Paracel-, Pratas- und Spratly-Inseln sowie das Scarborough-Riff. Es ist eine der wichtigsten globalen Schifffahrtsstraßen, durch die etwa ein Drittel der weltweit gehandelten Güter transportiert wird und über die die ostasiatischen Staaten China, Japan und Korea mit Energie und Rohstoffen versorgt werden. Das Seegebiet verfügt außerdem über wichtige Fischbestände und gilt als reich an Öl- und Gasvorkommen. Die Kontrolle darüber hat also eine enorme strategische und ökonomische Bedeutung. Die Konfliktparteien: Die Ansprüche Chinas und Taiwans gehen zurück bis in die 1940er-Jahre. Sie sind identisch und beziehen sich auf alle Teile des Südchinesischen Meeres. China kontrolliert zurzeit die Paracel-Inseln, die auch von Vietnam beansprucht werden, sowie das Scarborough-Riff, das die Philippinen für sich reklamieren. Taiwan besitzt die Pratas-Inseln und die größte natürliche Insel der Spratlys, Itu Aba. Die zu der Spratly-Inselgruppe gehörenden Riffe, Felsen und Atolle werden ansonsten von Vietnam, den Philippinen und Malaysia besetzt, Brunei stellt zwar Gebietsansprüche, ist aber physisch nicht vor Ort präsent. Zwar verwarf der Schiedsgerichtshof in Den Haag im Juli 2016 chinesische Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer, doch China akzeptiert weder die Zuständigkeit des Gerichtshofes noch diesen Schiedsspruch. Die Positionen des Westens: Die USA und Europa mahnen alle Seiten zu friedlicher Konfliktlösung, zu Dialog und Zusammenarbeit und befürworten eine maritime Ordnung auf Grundlage des Seevölkerrechts. Dirk Schmidt Fazit: Außenpolitische Rolle mit zweierlei Gesicht Die chinesische Außenpolitik hat in den vergangenen Jahren entgegengesetzte Signale ausgesendet. Einerseits tritt die VRC als Partnerin in der Weiterentwicklung multilateraler Vertragswerke in den Bereichen Handel oder Umweltschutz auf. Auch leistet sie gemeinsame Beiträge zur Bekämpfung nicht traditioneller Sicherheitsbedrohungen und in UNO-Friedensmissionen. Andererseits nehmen die Konflikte der VRC mit dem Westen und einigen Nachbarstaaten aber zu. China vertritt seine Interessen in den Territorialkonflikten immer unnachgiebiger und wendet sich mit seiner ideologischen Rückbesinnung offensiv gegen westliche Werte. An die glorreichen Zeiten des "Reichs der Mitte" möchte die chinesische Außenpolitik anknüpfen. Diese koreanische Karte aus dem 18. Jahrhundert zeigt die zeitgenössische Sicht Chinas als Mittelpunkt der Welt. (© picture-alliance, CPA Media) [...] [G]ut ein Dutzend Staats- und Regierungschefs haben sich in der ostchinesischen Hafenstadt [Qingdao 2018] zeitgleich zum G-7-Gipfel eingefunden. Russlands Präsident Wladimir Putin ist gekommen [...], Indiens Präsident Narendra Modi, sein Rivale Mamnoon Hussain aus Pakistan, genauso wie der iranische Präsident Hassan Rohani, der seine erste Auslandsreise angetreten hat, seitdem die Vereinigten Staaten den Abrüstungsdeal gekündigt haben. Dazu fünf Staatsoberhäupter aus Zentralasien, der mongolische Präsident und Europas letzter Diktator: Alexander Lukaschenko aus Weißrussland. Zusammen sind sie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Die Gegenveranstaltung zu den G 7. Gegründet wurde die Vereinigung 2001 in Shanghai, um Terrorismus, Extremismus und Separatismus in Zentralasien zu bekämpfen. "Die drei bösen Kräfte", nennt die Propaganda das in China. Besonders um die westchinesische Uiguren-Provinz Xinjiang geht es der Führung in Peking. Am Anfang waren es sechs Mitgliedstaaten, und gemeinsam hielten sie Militärmanöver ab. Spätestens seitdem Indien und Pakistan zu Vollmitgliedern der Organisation geworden sind, hat sich der Fokus jedoch geweitet. [...] Mit der Shanghai Organisation hat China eine Allianz geschaffen, bei deren Runden sich Staatschefs treffen, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren und bei denen Europa und die USA außen vor sind. Allein Indien und China sind für 50 Prozent des Weltwirtschaftswachstums verantwortlich. Und die Shanghai-Gruppe ist beileibe nicht der einzige Versuch Pekings, eine Konkurrenz zu den etablierten internationalen Organisationen aufzubauen. In Europa hat man den Mechanismus "16 + 1" geschaffen. Elf osteuropäische EU-Mitglieder nehmen daran teil, genauso wie fünf Balkanstaaten. Das siebzehnte Mitglied ist China. Einmal im Jahr wird ein [...] Gipfel ausgerichtet, und Peking verspricht billige Kredite für Infrastrukturprojekte. Ein weiteres von China vorangetriebenes Format ist der Austausch der Brics-Staaten [Brasilien, Russland, Indien und China]. [...] [I]n New York trafen sich [2006] [...] die Außenminister der vier Länder. 2009 tagte [...] die [...] Staatengemeinschaft zum ersten Mal offiziell in Jekaterinenburg. Seitdem kommen die Staats- und Regierungschefs jedes Jahr zusammen. Insgesamt sind es nun fünf Teilnehmer, 2010 trat, auf Initiative Chinas, Südafrika dem Klub bei. Geht es nach China, so soll das Bündnis erweitert werden. Thailand oder Mexiko, so heißen die Wunschpartner. Den größten Einfluss hat China zweifelsohne aber bei der Shanghai Organisation. Offiziell gibt es ein Generalsekretariat in Peking. Aktuell ist der Mann an der Spitze ein Tadschike. Wirklich viel zu sagen hat er allerdings nicht. Die Agenda bestimmen im Wesentlichen China und mit Abstrichen Russland. Die Arbeitssprachen der Organisation sind Chinesisch und Russisch. [...] Am [...] [10.06.2018] dann unterzeichn[et]en die acht Vollmitglieder mehrere Vereinbarungen. Sie wollen den Terrorismus noch stärker bekämpfen, kleine und mittlere Unternehmen fördern und künftig gemeinsam gegen Seuchen vorgehen. Herzstück aber ist die sogenannte Qingdao-Deklaration, in der sich alle Teilnehmer zu den angesprochenen Werten von Shanghai bekennen. Ursprünglich sollte auch die Seidenstraßeninitiative von Präsident Xi in das Dokument aufgenommen werden. [...] Doch [...] [i]n mehreren Ländern formiert sich Protest gegen die Initiative, nachdem Häfen und Flugplätze dem chinesischen Staat gehören. In der Deklaration fehlt der Verweis auf die Seidenstraße, Indiens Unterhändler haben sich dagegen gestemmt. Offenbar haben doch nicht alle Mitglieder dieselben Interessen. Christoph Giesen, "Allianz der Mehrheit", in: Süddeutsche Zeitung vom 11. Juni 2018 [...] In kürzester Zeit ist China mit Abstand zum wichtigsten Handelspartner Afrikas geworden. Der Wert der gehandelten Güter belief sich 2015 auf 188 Milliarden US-Dollar, das ist mehr als das Dreifache des Handelsvolumens mit Indien, Afrikas zweitstärkstem Partner. Lange folgten die Beziehungen einem recht einfachen Skript: Die chinesische Regierung sucht Ressourcen und politische Partner, ihre Staatsbetriebe bauen dafür Straßen und Regierungsgebäude. Sie umarmt alle, auch die schlimmsten Autokraten, Transparenz und gute Regierungsführung sind dabei egal. Nicht wenige werfen China darum Neokolonialismus vor. [...] Die großen Geschäfte in Afrika machen zwar immer noch der chinesische Staat und seine Betriebe. Daneben aber gibt es jetzt unzählige private Glücksritter. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt ihre Zahl bereits auf 10.000. Da gibt es solche, die Raubbau betreiben, illegal abholzen oder fischen. Aber auch solche, die ausbilden und Arbeitsplätze schaffen, neue Produkte anbieten und die Wirtschaft beleben. So sagten 1000 der befragten Unternehmer gegenüber McKinsey, dass 89 Prozent ihrer Angestellten Afrikaner seien. Das wären 300.000 neue Jobs. [...] Wenn nötig, dann passen sich die Unternehmer ein in die nationalen Strategien des Staates, in dem sie operieren. Zum Beispiel in Äthiopien. Addis Abeba. [...] Die Trambahn ist ein Prestigeprojekt, gebaut von den Chinesen. Die einzige auf dem ganzen Kontinent außerhalb Südafrikas. Addis ist als Sitz der Afrikanischen Union (AU) ein Schaufenster, so etwas wie die heimliche Hauptstadt Afrikas. Alle afrikanischen Staaten haben hier ihre Vertretung. Man kann hier zeigen, was geht – mit und durch China. In der Nähe des neuen AU-Hauptquartiers, von China gebaut, haben sich die Büros der staatseigenen chinesischen Betriebe angesiedelt. Chinesische Baufirmen sind in der ganzen Stadt zu finden. China ist nicht nur der größte Infrastrukturfinanzier auf dem Kontinent, 50 Prozent der dort international ausgeschriebenen Projekte werden auch von chinesischen Firmen gebaut. Diplomaten im Umfeld der AU erzählen, dass nur zwei Staaten nie Termine machen müssten, sondern überall vorgelassen werden. Das seien die Äthiopier, die Hausherren. Und die Chinesen. [...] "Afrika ist der letzte Kontinent, den es zu entwickeln gibt. The last frontier of development", sagt Alexander Demissie, ein Äthiopier, der in Deutschland aufwuchs und die Beratungsfirma The China Africa Advisory mit aufgebaut hat. [...] Die Telekommunikationsgiganten Huawei und ZTE haben einen Großteil der digitalen Netze in Afrika errichtet. China baut in der ganzen Welt im Rahmen seiner "Neuen Seidenstraße" Häfen, Pipelines, Eisenbahnnetze. Auch in Ostafrika: "Wenn man die chinesischen Infrastrukturprojekte betrachtet", sagt Demissie, "sieht man, was sie vorhaben: Einfluss auf die ganze Region zu nehmen." Dschibuti, Äthiopiens kleiner Nachbar am Horn von Afrika, ist durch die erste chinesische Militärbasis schon zum strategischen Zentrum geworden. Nun soll es auch zum Finanz- und Logistikzentrum Ostafrikas werden – "eine Art Singapur, große chinesische Banken haben dort bereits ihre Claims abgesteckt", so Demissie. [...] Komplementiert wird die Infrastruktur durch verschiedene Eisenbahnlinien. Die Strecke Mombasa – Nairobi wurde gerade fertiggestellt, die zwischen Dschibuti und Addis soll in Kürze eröffnet werden. Beide Strecken sollen eines Tages verbunden und erweitert werden, nach Uganda, Burundi, Ruanda, Kongo, Sudan. Das große Fernziel: eines Tages Ost- und Westafrika zu verbinden. Habe China mit all diesen Großaufträgen erst mal seine Standards gesetzt, erklärt Demissie, würden zahlreiche weitere Aufträge folgen: Dienstleistungen, Ersatzteile. [...] Dazu gehört auch, dass chinesische Unternehmen südafrikanische Medienhäuser, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, aufkaufen, um Öffentlichkeit im Sinne der Partei zu schaffen. Demissie weiß das und sieht das chinesische Engagement trotzdem sehr positiv. Die Infrastruktur werde dringend benötigt – und kein anderes Land hätte geleistet, was China derzeit schafft. [...] Alemayehu Geda, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Addis Abeba, ist skeptischer. [...] Man müsse, sagt er, nicht auf die Direktinvestitionen, sondern auf die Kredite achten. "Die chinesischen Direktinvestitionen nach Äthiopien machten in den vergangenen zehn Jahren gerade mal 600 Millionen US-Dollar aus, die Kredite aber 70 Milliarden." [...] Tatsächlich brauche sein Land all die Infrastruktur, sagt Geda. Was aber, wenn die Abhängigkeit eines Tages übergroß werden sollte, wenn die Äthiopier ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen können? "Dann könnte die chinesische Regierung zum Beispiel darauf bestehen, dass Ethiopian Airlines statt Boeing oder Airbus chinesische Maschinen kauft." Geda nennt das "strategische Verletzlichkeit", und es gibt für ihn nur einen Weg, ihr zu entkommen. [...] "Wir brauchen", sagt Geda, "Expertise. In jeder Hinsicht. Aber vor allem am Verhandlungstisch." Angela Köckritz, "Fingerspitzengefühl in Afrika", in: DIE ZEIT Nr. 2 vom 4. Januar 2018 Die neue Seidenstraße (© Mercator Institute for China Studies (MERICS) / F.A.Z.-Bearbeitung Walter) Die "Neue Seidenstraße" [oder "One belt, one road", OBOR] ist ein chinesisches Projekt aus dem Jahr 2013. Ziel ist es, wie einst mit der historischen Seidenstraße den eurasischen Handel anzukurbeln – allerdings unter chinesischer Kontrolle und Dominanz. Geplant oder im Bau sind mehrere Handelsrouten: Im Süden führen sie über den Indischen Ozean und den Suezkanal zu europäischen Häfen wie Piräus, Venedig und Marseille, auf dem Landweg via Pakistan, Iran und Türkei bis in Städte wie Duisburg oder Berlin. Peking hat bereits 40 Milliarden Dollar in das Mammutvorhaben [...] gesteckt. [...] Mit chinesisch dirigierten Krediten und Ausschreibungsverfahren entstehen derzeit Autobahnen, Eisenbahnlinien, Viadukte, Lager, Rastplätze, Containerterminals, Flughäfen und sogar Kraftwerke und Raffinerien. [...] Die neue Seidenstraße ist das große Prestigeprojekt von Präsident Xi Jinping. Inzwischen sind 65 Länder dabei – von Südasien über Afrika bis nach Europa und Amerika. Auch die Arktis und Südamerika sollen dazugehören. Mit dem jahrtausendealten Handelsweg hat das nichts mehr zu tun: Es ist eher eine Metapher für ein von China dominiertes Handelssystem. Der Kitt, der es zusammenhält, sind chinesische Investitionen in Milliardenhöhe. [...] Das Gebilde aus Diplomatie und Investitionen entwickelt sich jedoch nicht ganz so glatt wie erhofft. Die [...] Kritik betrifft etwa die Intransparenz, mit der Peking seine Kredite vergibt. Ein Rückschlag lässt sich in Malaysia beobachten. Dort waren im Mai [2018] Wahlen – und der 92-jährige China-Kritiker Mahathir Mohamad hat gewonnen. Das chinesische Geld hätte die Schulden des Landes in die Höhe getrieben, ohne angemessene Vorteile für die Bürger zu bringen. Beim Kassensturz für ein Pipeline-Projekt kam zutage, dass erst 13 Prozent der Arbeit erledigt, aber schon 90 Prozent des Geldes ausgegeben ist. Es ist vor allem die Führungsklasse, die von den Überweisungen aus Peking profitiert. Das Geld fließt als zinsgünstiges Darlehen, das an bestimmte Bauvorhaben gebunden ist. Doch wo gebaut wird, fließt auch Schmiergeld. [...] China bestraft Korruption im Ausland nicht. Also profitieren oft die Politiker, Beamte und Staatsfirmen – also genau die Leute, die darüber entscheiden, ob ihr Land die Chinesen hineinlassen soll oder nicht. US-amerikanische und europäische Firmen können oft nicht mitbieten: Wegen der Antikorruptionsgesetze in ihren Heimatländern würden sie sich hochgradig angreifbar machen. Am Ende müssen die Steuerzahler die Rechnung begleichen – auch günstige Kredite sind einmal zurückzuzahlen. Das kleine Land Laos beispielsweise hat seine Schulden durch ein sechs Milliarden Euro teures Eisenbahnprojekt mit den Chinesen verdoppelt. China hat den Laoten nun angeboten, einen Teil der Schulden durch die Übertragung von Ackerland zu begleichen. So macht China die Partnerländer abhängig, um nebenbei noch andere Ziele zu erreichen, etwa die eigene Lebensmittelversorgung oder die Besetzung von geostrategischen Schlüsselstandorten. Als Sri Lanka einen Kredit nicht zurückzahlen konnte, hat China die Kontrolle über den Hafen Hambantota im Süden der Insel übernommen. Beobachter fürchten nun, dort könne zudem eine Marinebasis entstehen. Das alles heißt jedoch nicht, dass die Seidenstraßeninitiative kein Erfolg ist. China bewegt hier eine erstaunliche Menge an Geld und Material – und verschiebt dabei die politischen Verhältnisse. Es stößt dabei in Räume vor, die sich bisher vernachlässigt sehen – etwa die Weiten Zentralasiens, für die sich weder die EU noch die USA interessiert haben. Auch die Entwicklung Afrikas ist mit zunehmendem Interesse Chinas zumindest wieder Gegenstand internationaler Konkurrenz. [...] Chinas unkomplizierte Investitionen in Osteuropa können da etwas bewegen, wo die EU etwas schwerfällig agiert. Finn Mayer-Kuckuk, "Erkauftes Wohlwollen", in: Frankfurter Rundschau vom 9. Juli 2018 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt Reorganisation der Volksbefreiungsarmee (VBA) seit 2016 (© bpb) Die Volksbefreiungsarmee soll nicht nur neueste Waffensysteme besitzen, sondern auch moderne Kriegsführung beherrschen. Die Teilstreitkräfte müssen künftig gemeinsam operieren (© MERICS) [...] Seit dem Sieg 1949 über die Nationalchinesen Chiang Kai-sheks, die sich nach Taiwan zurückziehen mussten, bezeichnet die Volksrepublik die Insel als eine "abtrünnige Provinz" und rechtmäßigen Teil ihres Territoriums, obwohl sie hier nie auch nur einen Tag lang regierte. An die Taiwaner gerichtet sagte [Ministerpräsident] Li Keqiang [auf dem Nationalen Volkskongress in Peking im März 2018]: "Wenn wir uns nicht gegen den Strom der Geschichte stellen, können wir gemeinsam eine wunderschöne Zukunft der nationalen Wiedererstarkung erschaffen." Zugleich drohte er, China werde niemals "Separatismus" dulden. Das alles sind in Taiwan längst bekannte Töne, die sich vor allem an Chinas Öffentlichkeit richten und mit der Stimmung auf der demokratisch regierten Insel wenig zu tun haben. Mehr als die Hälfte der 23 Millionen Taiwaner definiert sich nach einer jüngsten Umfrage selbst nicht einmal mehr ansatzweise als "chinesisch". Und weniger als 15 Prozent wünschen sich jetzt oder irgendwann eine "Wiedervereinigung" mit dem Festland, die angesichts der ungleichen Machtverhältnisse eher ein Anschluss wäre. Seit Jahren liefert Chinas Sonderverwaltungszone Hongkong mit den schrittweisen Einschränkungen ihrer ursprünglich zugesicherten Autonomie ein abschreckendes Anschauungsbeispiel. [...] Die USA sind Taiwans inoffizielle Schutzmacht. Der US-Senat verabschiedete [...] [am 28. Februar 2018] einstimmig den "Taiwan Travel Act". Dieses Gesetz [...] soll zu mehr direkten Treffen zwischen hochrangigen amerikanischen und taiwanischen Regierungsmitgliedern führen. Bislang scheute Washington davor meist zurück. Pekings Behörde für Taiwan-Angelegenheiten reagierte wie zu erwarten harsch: "Wir warnen Taiwan, sich nicht auf die Unterstützung durch Ausländer zu verlassen. Es wird nur Feuer auf sich ziehen." Chinas kaum noch verhohlenes Vormachtstreben führt auch bei anderen Ländern der Region dazu, sich unterhalb der Regierungsebene Taiwan anzunähern. Abgeordnete aus Japan, Südkorea und den Philippinen trafen sich [am 3./4. März 2018] mit Kollegen in Taipeh. Auf der Tagesordnung standen bessere Zusammenarbeit und mehr Informationsaustausch, um Chinas wachsenden Einfluss zu kontern. [...] Dass Xi Jinping sich vom Nationalen Volkskongress per Verfassungsänderung die Präsidentschaft auf Lebenszeit ermöglichen lässt, sieht Taiwan mit Sorgen. Zwar hat Xi bislang keinen klaren Zeitrahmen genannt. Seine Worte und Taten lassen aber erkennen, dass es zu seinem Versprechen vom "Chinesischen Traum" gehört, Taiwan unter Kontrolle zu bringen. Vergangene Woche verkündete Peking "31 Anreize" für taiwanische Kulturschaffende und Geschäftsleute. Sie sollen in vielen Bereichen in den Genuss der gleichen Vorteile kommen wie chinesische Bürger. Dazu gehören Steuererleichterungen, Joint Ventures mit staatseigenen Betrieben, Bürgschaften durch Regierung und Fördermaßnahmen. Indem China all dies einseitig verkündet, umgeht es ein seit Jahren auf Eis liegendes Freihandelsabkommen mit Taiwan. Das Ziel ist offenbar, Geld und Talente aus Taiwan abzuwerben. [...] Taiwans Regierung warnt ihre Landsleute davor, allzu optimistisch auf solche Angebote einzugehen, und wittert das Motto "Teile und herrsche". Taiwans Premierminister William Lai mahnte im Parlament: "Egal, welche Taiwanpolitik Peking betreibt, das Ziel bleibt immer, Taiwan zu annektieren." Klaus Bardenhagen, "China umgarnt und bedroht Taiwan", in: Deutsche Welle vom 7. März 2018 Externer Link: www.dw.com/de/china-umgarnt-und-bedroht-taiwan/a-42868494, zuletzt abgerufen: 18.7.2018 [...] Wer [...] die Ursprünge von Chinas gegenwärtiger Platzsuche in der Weltgemeinschaft verstehen will, tut gut daran, sich der geografischen Peripherie des Landes beziehungsweise seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu widmen. Oft vergessen geht nämlich, dass Chinas Grenzräume ursprünglich in ihrer Mehrzahl nicht von Han-Chinesen, sondern von Minderheitenvölkern besiedelt waren, eine denkbare Erleichterung einerseits, eine zusätzliche Belastung andererseits. Überdies grenzt China an vierzehn souveräne Staaten – mehr als jedes andere Land, abgesehen von Russland. Chinas rund 22.000 Kilometer lange Landgrenze ist die längste der Welt, dazu kommen noch einmal 15.000 Kilometer Küstenlinie und weitere zu Pekings Ansprüchen nicht immer Ja und Amen sagende Anrainerstaaten. Seit einigen Jahren ist es bekanntlich der Rest der Welt, der Pekings Aufstieg mit Argusaugen beobachtet, allen voran Chinas Nachbarländer. Während große Teile der Bevölkerung in Russlands fernem Osten immer einmal wieder Ängste vor territorialen Aspirationen des südlichen Nachbarn heraufbeschwören, ist die Stimmung in der Mongolei nicht viel anders: Auch viele Mongolen sind aus historischen Gründen nicht gut auf China zu sprechen. Zwar anerkannte Peking 1949 die mongolische Unabhängigkeit. Doch es ist nicht vergessen, dass die Kommunistische Partei Chinas bis zum Beginn der achtziger Jahre versuchte, Ulaanbaatar dem Einflussbereich der ehemaligen Sowjetunion zu entziehen. [...] Zwar beteuern die meisten Staatschefs von Chinas Nachbarländern in offiziellen Worten ihr freundschaftliches Verhältnis zu Peking. Doch braucht es wenig, um zu registrieren, dass die Beziehungen Chinas zu Vietnam oder Burma, um zwei andere Staaten zu nennen, nicht so sind wie beispielsweise diejenigen zwischen Deutschland und Frankreich. Während man in Europa versucht, Hypotheken der Geschichte mittels Vergangenheitsaufarbeitung wenigstens in Raten abzuzahlen, schlummern in Asien die Geister der Vergangenheit weiter vor sich hin. Mal mehr, mal weniger friedlich. Zwischen China und Indien gibt es alle paar Jahre Grenzkonflikte, und die Lage im Südchinesischen Meer dürfte sich in den kommenden Jahren eher verschärfen als entspannen. [...] Heute proklamiert China eine Politik der Zusammenarbeit mit seinen Nachbarstaaten und anderen Ländern, die die Basis für gegenseitiges Vertrauen, gemeinsamen Nutzen und weltweiten Frieden bilden soll. [...] Der "chinesische Traum" kommt nach dem Wunsch der Führung in Peking nicht nur der eigenen Bevölkerung zugute, sondern soll die ganze Welt mit den daraus entstehenden Früchten von Harmonie, Wohlstand und ewigem Frieden beglücken. [...] Steigende Handelsströme, schnellere Verbindungswege oder kontinuierliches Wachstum hin oder her: Zahlen sind das eine, Befindlichkeiten das andere. Bei Reisen in Chinas Grenzregionen wird einem bewusst, dass das Konzept der "Euregio" beispielsweise oder generell offene Grenzen, wie wir es hier im Westen kennen, in jenen Gegenden noch für Jahrzehnte lang ein Traum bleiben werden. Trotz Chinas enormen Investitionen in die Zukunft der Weltpolitik werden historische Ereignisse als Echo widerhallen und diese asiatische Region weiter wie einen langen Schatten verfolgen. Ob man es nun will oder nicht: Das Unbehagen vor einer unbestimmten Zukunft keimt auf dem Boden einer Vergangenheit, die sich tatsächlich ereignet hat. Matthias Messmer ist Publizist mit Spezialgebiet Asien, insbesondere China. Im Frühjahr 2019 erscheint sein Buch (zusammen mit Hsin-Mei Chuang) "China an seinen Grenzen. Erkundungen am Rand eines Weltreichs". Es ist die deutsche Übersetzung des Text-Bild-Bandes "China at its Limits. An Empire’s Rise Beyond its Borders". Matthias Messmer, "Schlaflos die Welt, wenn China träumt", in: Neue Zürcher Zeitung vom 16. Juni 2018 Das Südchinesische Meer und seine Bedeutung: Das Südchinesische Meer umfasst eine Meeresoberfläche von mehr als 3,5 Millionen Quadratkilometern. Zu ihm gehören vier Inselgruppen, die Paracel-, Pratas- und Spratly-Inseln sowie das Scarborough-Riff. Es ist eine der wichtigsten globalen Schifffahrtsstraßen, durch die etwa ein Drittel der weltweit gehandelten Güter transportiert wird und über die die ostasiatischen Staaten China, Japan und Korea mit Energie und Rohstoffen versorgt werden. Das Seegebiet verfügt außerdem über wichtige Fischbestände und gilt als reich an Öl- und Gasvorkommen. Die Kontrolle darüber hat also eine enorme strategische und ökonomische Bedeutung. Die Konfliktparteien: Die Ansprüche Chinas und Taiwans gehen zurück bis in die 1940er-Jahre. Sie sind identisch und beziehen sich auf alle Teile des Südchinesischen Meeres. China kontrolliert zurzeit die Paracel-Inseln, die auch von Vietnam beansprucht werden, sowie das Scarborough-Riff, das die Philippinen für sich reklamieren. Taiwan besitzt die Pratas-Inseln und die größte natürliche Insel der Spratlys, Itu Aba. Die zu der Spratly-Inselgruppe gehörenden Riffe, Felsen und Atolle werden ansonsten von Vietnam, den Philippinen und Malaysia besetzt, Brunei stellt zwar Gebietsansprüche, ist aber physisch nicht vor Ort präsent. Zwar verwarf der Schiedsgerichtshof in Den Haag im Juli 2016 chinesische Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer, doch China akzeptiert weder die Zuständigkeit des Gerichtshofes noch diesen Schiedsspruch. Die Positionen des Westens: Die USA und Europa mahnen alle Seiten zu friedlicher Konfliktlösung, zu Dialog und Zusammenarbeit und befürworten eine maritime Ordnung auf Grundlage des Seevölkerrechts. Dirk Schmidt
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-17T00:00:00
2018-09-07T00:00:00
2022-01-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/china-337/275541/aussen-und-sicherheitspolitik/
Außenpolitisch beansprucht das "Reich der Mitte" eine weltpolitische Rolle, die es nach eigenem Selbstverständnis historisch verdient. Der Rückgriff auf die wachsende wirtschaftliche Bedeutung, der Ausbau militärischer Stärke und der Einsatz von Soft
[ "Außenpolitik", "Weltpolitik", "China", "Soft Power" ]
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Ideenwettbewerb im Bereich TV/Streaming | Presse | bpb.de
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb startet einen Ideenwettbewerb für die Konzeption und Produktion von Fernseh- und Video-on-Demand-Formaten zum Thema „Desinformation“. Einsendeschluss für kreative Projektideen ist der 14. Mai 2023. Die eingereichten Formate sollen sich an unterschiedliche Zielgruppen zwischen 24 und 59 Jahren richten. Primäre Zielgruppe sind berufsaktive Erwachsene, die politische Informationen spaß- und erlebnisorientiert über Unterhaltungsmedien beziehen und klassische Angebote der politischen Bildung nur begrenzt wahrnehmen. Im Rahmen des Ideenwettbewerbs sind den Formaten bzw. Genres der Projekte keine Grenzen gesetzt, solange sie den inhaltlichen Zielsetzungen und anvisierten Zielgruppen entsprechen. Denkbar sind z. B. fiktionale oder nicht-fiktionale Fernsehangebote, Informations-/Newsformate, Empowerment-Formate, Comedy- oder animierte Formate, die allesamt auch kanalübergreifende bzw. crossmediale Ausspielkanäle berücksichtigen können. Bis Mitte Mai können sich Produktionsfirmen und Medienschaffende mit einer Projektidee (Grobkonzept sowie vollständig ausgefülltes Bewerbungsformular) bewerben. Weitere Informationen und das Bewerbungsformular unter: Externer Link: www.bpb.de/bewegtbild Diese Pressemitteilung als PDF finden Sie Interner Link: hier. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel. +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-06-19T00:00:00
2023-04-19T00:00:00
2023-06-19T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/520170/ideenwettbewerb-im-bereich-tv-streaming/
Gesucht werden innovative Unterhaltungsformate zum Thema Desinformation // Bewerben können sich Produktionsfirmen, Medienschaffende, Sender und VoD-Anbieter // Jetzt bis zum 14. Mai 2023 unter www.bpb.de/bewegtbild bewerben
[ "Ideenwettbewerb", "Förderung", "TV" ]
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Die Staaten Afrikas zwischen demokratischer Konsolidierung und Staatszerfall | Afrika | bpb.de
Einleitung Afrika verändert sich rasch. Es oszilliert zwischen Demokratisierungsfortschritten und Staatsverfallsprozessen, zwischen mutigen zivilgesellschaftlichen Aufbrüchen und Abstürzen in diverse Formen politisierter Gewalt. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass in kurzer Zeit überraschend viele Länder in Reformprozesse der demokratischen Transition eingetreten sind. In den Bevölkerungen haben sich positive Einstellungen zur Mehrparteiendemokratie entwickeln können - vor allem im südlichen Afrika sowie in Benin, Ghana und Mali. Die institutionelle Reifung und schließlich Konsolidierung der pluralen Demokratie ist auch unter Armutsbedingungen in Afrika möglich - sie braucht aber den entschlossenen Einsatz von konfliktfähigen und handlungsbereiten Gruppen, für Menschenrechte und für ihre Eigeninteressen zu kämpfen, und sie braucht Zeit. Interner Link: PDF-Version: 35 KB Neben solchen Erfolgen mit der demokratischen Transition gibt es in Afrika allerdings auch vier große Problembereiche, die Anlass zu tiefer Sorge geben: - lang anhaltende Bürgerkriege und zunehmende politische Gewalt, vor allem auch zwischen ethnischen und religiösen Gruppen in dicht besiedelten Regionen - Phänomene, die Migration fördern und Entwicklung blockieren; - stagnierendes oder langsames wirtschaftliches Wachstum, geringe Investitionen, hohe Auslandsverschuldung, steigende Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen, und insgesamt persistente Armut; - rasche Ausbreitung der Pandemie Aids (und anderer Krankheiten) und dadurch zunehmende Verluste an "Human capital", was regional zur Zerstörung von Familien, Dörfern und Wirtschaftsräumen führt; - und schließlich zunehmende Tendenzen von Staatsverfall, Staatskollaps und Staatssubstitution durch neue und alte Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation, um so Phänomenen von Autoritätsverlust und sozialer Anomie begegnen zu können. Während sich oftmals diese vier Krisenphänomene - Krieg, Wachstumsschwäche, Aids und Staatsverfall - wechselseitig stärken, kommt der ungebändigten kollektiven politischen Gewalt ein besonderes Gewicht im Prozess der blockierten Entwicklung zu. Nur zwischenstaatliche Kriege sind bisher selten. Der kürzlich zwischen Äthiopien und Eritrea geführte Bruderkrieg war allerdings ein Ereignis von schwer nachvollziehbarer Zerstörungswut. Mit 13 Bürgerkriegen (von 35 weltweit geführten Kriegen) und weiteren zwölf bewaffneten Konflikten ist Afrika noch immer der am häufigsten von politisierter Gewalt betroffene Kontinent. Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge ("Displaced persons" innerhalb des jeweiligen Landes) geht in die Millionen. Besondere Besorgnis erregt seit dem präzedenzlosen Genozid in Ruanda aus dem Jahr 1994, der schätzungsweise 800 000 Menschen (überwiegend vom Volk der Tutsi) das Leben gekostet hat, der erste afrikanische zwischenstaatliche Regionalkrieg um den zerfallenen Staat Zaire/Kongo und seine lukrativen Bodenschätze. In diesen Flächenbrand im Gebiet der Großen Seen waren bis zu acht afrikanische Nachbarstaaten involviert, und die einstige extraktive Rolle europäischer Staaten, vor allem Belgiens, scheint nun von den vier Nachbarstaaten Ruanda und Uganda sowie Simbabwe und Angola eingenommen zu werden: Jede regional operierende Kriegspartei bereichert sich illegal an den Rohstoffreichtümern des Kongo und zeigt wenig Interesse an einer friedlichen Konfliktlösung. Bislang sind hier weitere zwei Millionen Kongolesen ums Leben gekommen - hauptsächlich in den (östlichen) Kivu-Provinzen des Kongo. Zu allem Kriegsunglück kommt noch hinzu, dass Afrika zum Kontinent mit der größten Zahl von HIV-Infizierten geworden ist. Gegen Ende des Jahres 2000 lebten ca. 70 Prozent aller HIV-Infizierten (36,1 Millionen Menschen) im subsaharischen Afrika (25,3 Millionen) - Tendenz steigend. Jährlich sterben etwa drei Millionen Menschen an der Aids-Krankheit. Am schlimmsten ist Botswana betroffen - der demokratische Musterstaat mit hohem Einkommensniveau. Bisher sind etwa 17 Millionen Afrikaner an Aids gestorben; sie hinterließen 13,2 Millionen Waisenkinder. HIV/Aids trifft den aktivsten Teil der Bevölkerung und hinterlässt tiefe Wunden. Keine andere Krankheit ist in ihrer Kombination aus sozialen und ökonomischen Folgen so verheerend wie Aids. UNAIDS in Genf befürchtet, dass Aids zu einem demographischen Erdrutsch führen wird: In zwanzig Jahren werden Teenager den Hauptteil der Bevölkerung bilden, und die allgemeine Lebenserwartung wird von heute 59 auf 45 Jahre absinken. Gleichzeitig wird sich die Zahl der Aidswaisen mehr als verdreifacht haben. Diese Kinder werden kaum zur Schule gehen können. Weil die Erwerbstätigen aussterben, müssen Schulen, Krankenhäuser und Polizeiwachen schließen - staatliche Einrichtungen werden implodieren. Obwohl sich täglich 16 000 Menschen neu mit dem Virus infizieren, wird die Suche nach einem Aids-Impfstoff immer noch vernachlässigt. Und die schon vorhandenen Medikamente, so genannte "hochaktive Therapien", sind teuer - etwa 15 000 US-Dollar pro Patient und Jahr. Daher sollte die Initiative von UN-Generalsekretär Kofi Annan unterstützt werden, der ein AIDS-Sonderprogramm von zehn Milliarden US-Dollar jährlich fordert, denn Afrika kann mit diesem Problem allein nicht fertig werden. Zu Recht beginnt fast jede seriöse wissenschaftliche Abhandlung über Staat und Gesellschaft im gegenwärtigen Afrika mit dem Hinweis auf dessen natürlichen Reichtum an Völkern, Kulturen und Sprachen, gleichwohl auch auf dessen enorme politische, wirtschaftliche und ethnisch-kulturelle Heterogenität, die es eigentlich verbietet, den geographischen Sammelnamen Afrika für die Vielzahl strukturell unterschiedlicher Gesellschaften zu verwenden, die wenig mehr als das kolonialherrschaftliche Erbe (mit Ausnahme Äthiopiens und Liberias) und strukturelle Unterentwicklung (koloniale Monokulturen, hohe Außenabhängigkeit, geringe Industrialisierung) gemeinsam haben. Daher ist es sinnvoll, die 53 Staaten bzw. Länder des afrikanischen Kontinents in wenigstens drei Gruppen einzuteilen, differenziert nach einem ökonomischen Kriterium (wirtschaftliches Wachstum) in Kombination mit einem politischen (Bürgerkrieg oder politische Stabilität als Folge von demokratischen Reformen oder von autoritärer Herrschaft). Damit ergibt sich folgende Typologie, die sowohl die großen politischen Leistungen in Sachen Demokratie und Entwicklung als auch die unübersehbaren Defizite afrikanischer Politik - Bürgerkriege, ethnische Gewalt, Korruption, Unterdrückung der Zivilgesellschaft, Politisierung entlang ethnischer und religiöser Identitäten etc. - widerzuspiegeln versucht: - Am weitesten hat es eine kleine Gruppe von ca. neun bis zehn demokratischen Ländern gebracht, in denen das Gewaltmonopol des Staates weitgehend gesichert, politische Partizipation mittels freier und fairer Wahlen gewährleistet und auf dem langen Weg zum verfassten Rechtsstaat (Unabhängigkeit der Justiz) bereits einige spürbare Fortschritte erzielt worden sind. Nach dem US-amerikanischen Freedom House Index, der die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte taxiert, gelten diese Staaten als "frei". Zu dieser Gruppe der erfolgreichen demokratischen Transitionsstaaten gehören Benin, Mali, Ghana und Senegal in Westafrika; denn hier ist ein auf Wahlen gegründeter Regierungswechsel möglich geworden. Ferner zählen dazu die beiden ökonomischen und politischen Erfolgsmodelle Mauritius und Botswana mit den höchsten durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen (PKE: 3540 bzw. 3240 US-Dollar), neben Südafrika mit 42 Millionen Einwohnern (3170 US-Dollar). Mit Einschränkungen sind auch die drei Armutsländer Tansania (260 US-Dollar), Malawi (180 US-Dollar) und Namibia (1890 US-Dollar) zu dieser Gruppe zu rechnen. - Am anderen Ende der Freiheitsskala steht die Gruppe der Länder, die von diversen Stadien des Staatsverfalls (Staatsimplosion) und des Staatszerfalls heimgesucht sind und in denen freie und rechtsstaatliche Verhältnisse durch Militärdiktaturen bis auf weiteres blockiert werden. In diese Gruppe gehören zum einen die Länder, in denen der Staatszerfall durch (Bürger-)Kriege bis zum Staatskollaps fortgeschritten ist: Somalia, Sierra Leone und Liberia, ferner Angola und Kongo/Zaire, zum anderen die Staaten, in denen kriegerische Ereignisse und militante Konflikte (häufig in Form "ethnischer Säuberungen") eine demokratische Entwicklung in den vergangenen Jahren blockierten und teilweise noch verhindern: Burundi und Ruanda, Uganda und Guinea, Äthiopien, Eritrea und Sudan, die Zentralafrikanische Republik und Tschad. Für 2001 rechnete der Freedom House Index insgesamt 15 Staaten Afrikas südlich der Sahara zu den "unfreien" Ländern. - Eine dritte Gruppe von Staaten, positioniert zwischen demokratischen Transitionsländern und gewaltträchtigen Staatszerfalls- und Bürgerkriegsländern, bilden die "teilweise freien" Staaten des Freedom House Index, die gegenwärtig etwa die Hälfte der 48 Staaten südlich der Sahara ausmachen. Hier ist zwar das Gewaltmonopol des Staates im Großen und Ganzen gesichert, aber demokratische Reformen, der Schutz der Menschenrechte und die Unabhängigkeit der Justiz sind erst ansatzweise realisiert und angelaufene Reformmaßnahmen erfahrungsgemäß reversibel. Die politische Stabilität dieser neopatrimonialen Staaten (bzw. ihrer politischen Regime) beruht auf dem effektiven Erfolg eines repressiven Herrschaftsmodells, das sich auf den antipluralistischen Präsidentialismus stützen kann. Fragt man nach einer Erklärung für diese unterschiedliche Entwicklung, so lassen sich wenigstens drei Bündel von Ursachen feststellen, die hier nur angedeutet werden können: endogene, exogene und strukturelle Faktoren. Während Handelsprotektionismus der Industriestaaten, die meist ungünstigen "Terms of trade" (Austauschrelationen von Export- und Importgütern über einen bestimmten Zeitraum) und andere weltmarktabhängige Faktoren zu den wichtigsten exogenen Faktoren gehören, auf welche die Regierungen der Entwicklungsländer keinen Einfluss haben, sind endogene Faktoren die hausgemachten Leistungen bzw. Fehlleistungen der Regierungen, Verwaltungen und gesellschaftlich dominanten Kräfte eines Landes. Mit strukturellen Faktoren sind Klima, Größe, natürliche Beschaffenheit und geopolitische Lage eines Staates, die Zahl und Heterogenität seiner Bevölkerung und andere schwer beeinflussbare Faktoren aus der Geschichte (z. B. Traumata als frühere Sklaven, Epedemien wie Aids und Malaria) gemeint. Die Zwergstaaten Ruanda und Burundi beispielsweise sind Opfer struktureller Faktoren geworden. Während strukturelle und exogene Faktoren von den Entwicklungsgesellschaften kaum oder gar nicht beeinflusst werden können, sind es meistens die endogenen Faktoren, in Kombination mit der Ausstattung des Landes mit begehrten Rohstoffen, die zu sehr unterschiedlichen Entwicklungsresultaten geführt haben. Unter dem atlantischen Sklavenhandel sowie dem europäischen Kolonialismus beispielsweise haben mehr oder weniger alle afrikanischen Ex-Kolonien gelitten, aber nur dort, wo "good governance" auf Staatsebene über einen längeren Zeitraum Wirtschaft und soziale Entwicklung prägen konnte, hat es gesamtgesellschaftlichen Fortschritt gegeben. Dies gilt für die Länder der Kategorie eins. Zaire/Kongo ist der wohl bekannteste Fall eines postkolonialen Staates, der durch ein bizarres System von "bad governance" zugrunde gerichtet wurde. Unter dem neopatrimonial regierenden Präsidenten Joseph Mobutu (1965 bis 1997) ist Zaire trotz seines Ressourcenreichtums in eine ökonomisch-finanzielle Krise manövriert worden. Unter der vom Staatspräsidenten an seine loyale Klientel selbst ausgegebenen Parole der Selbstbereicherung hat sich eine bürokratisch-parasitäre Staatsklasse von Generälen, Parteifunktionären, Verwaltungsbeamten und Zwischenhändlern gebildet, die den überwiegenden Teil der hohen Staatseinnahmen (aus dem Verkauf von Kupfer, Kobalt, Coltrin etc.) korporativ für sich reklamierte und so der politisch entmündigten Bevölkerung stahl. Diese Form von staatlich organisierter Räuberei ist mit dem Begriff Kleptokratie treffend umschrieben worden. Nach diesem unschönen Muster illegaler, ja krimineller Herrschaft - volkswirtschaftliche Selbstzerstörung als Folge ungehinderter Gier einer martialischen Staatsklasse - sind mehrere der großen Flächenstaaten Afrikas in den Ruin manövriert worden: - der an Erdgas und Erdöl reiche Staat Algerien unter Herrschaft der Generäle der FLN (aus dem 1962 beendeten Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialherrschaft), die sogar einen Bürgerkrieg (mit bislang mehr als 70 000 toten Zivilisten) in Kauf nahmen und weiter anheizen, um illegal an der Macht bleiben zu können; - das über hohe Erdöleinnahmen verfügende Nigeria unter der Herrschaft der Putschgeneräle Babangida, Abacha und Co. (1983-2000), die illegal Milliardenbeträge auf ausländische Privatkonten transferierten und das Ergebnis demokratischer Wahlen schlichtweg annullierten; - das ebenfalls über große Erdölquellen sowie über Diamantenfelder verfügende Angola, in dem zwei konkurrierende Bewegungen: die MPLA von Staatspräsident dos Santos und die UNITA des kürzlich getöteten Rebellenführers Savimbi um politische Macht und unkontrollierte Verfügungsgewalt der staatlichen Renteneinkommen kämpfen. - Infolge der großen Erdölfunde der letzten Jahre am mittleren Nil durch internationale Rohstofffirmen ist die Lage im seit 1955 in einen Bürgerkrieg (muslimisch-arabischer Norden gegen afrikanisch-christlichen Süden) verstrickten Sudan durch jüngst entfachte Gier nach Reichtum und Macht weiter eskaliert. Frieden ist in dem multi-religiösen Vielvölkerstaat weiterhin in die Ferne gerückt, zumal die Ölfelder im umkämpften Grenzgebiet liegen und zusätzliche Staatsrevenuen zum Kauf neuer und effektiver Waffen verleiten. Auch in anderen rohstoffreichen Staaten Afrikas (z. B. in Liberia, Sierra Leone und Guinea) spielen lukrative Rohstoffvorkommen, konkurrierende "Warlords", die im Namen einer diskriminierten Ethnie oder Region gegen den Herrscher des lokalen Staates rebellieren und letzteren zu erobern suchen, und - drittens - markthungrige "Global players" in Form von Rohstoffkonzernen und ausländischen Waffenhändlern eine ähnliche Rolle im Prozess der wirtschaftlichen und politischen Selbstzerstörung. Aus den hier skizzierten Fällen geht hervor, dass überwiegend hausgemachte, d. h. politisch veränderbare Ursachen den Niedergang einiger Staaten bedingen. Ungerechte staatliche Herrschaft, die sich demokratischen Wahlen (und somit auch möglicher Abwahl) entzieht, provoziert Gegengewalt von den Rändern der Gesellschaft her, die den schwachen Zentralstaat weiter schwächt. An die Stelle des staatlichen Gewaltmonopols treten soziale Anomie oder gar politische Anarchie. Wo staatliche Autorität erodiert oder staatliche Institutionen kollabieren, entstehen gewaltoffene Hohlräume staatlicher Macht, in die sich alternative oder parastaatliche Autoritäten einnisten können - politische Abenteurer, rebellische Einheiten der Armee, "Warlords" sowie "ethnische Milizen" -, die zuweilen jegliche Tötungshemmung verlieren und durch Magie, Zauber und Aussicht auf Beute zusammengehalten werden. Auf Grund der weitgehend repressiven Rekrutierung von Kämpfern - darunter immer wieder auch "Kindersoldaten" - sind solche Gruppen äußerst instabil und politisch schwer einzubinden. Die Ökonomie solcher Kriegsherren-Banden beruht vornehmlich auf Plünderung und Handel mit geraubten oder illegal geförderten Gütern (wie "Blutdiamanten"). Dass heute vereinzelt Staatspräsidenten (und ihre politischen Klientelen, einschließlich ihrer Generäle) in die kriminelle Kriegsökonomie verstrickt sind, ist ein neues Phänomen: Zumindest in Simbabwe und Uganda wächst intern die Kritik an der Beteiligung von Regierungsmitgliedern an der gesetzwidrigen Ausbeutung von kongolesischen Bodenschätzen. Somit kommt der Frage der moralischen Qualität der "politischen Führung" eine besondere Bedeutung zu: "Not programs and political parties matter, but presidents." Zur Zeit müssen wir allerdings mit ansehen, wie in Simbabwe ein machtgieriger Präsident nach 22 Jahren Alleinherrschaft alles daransetzt, gegen die Bestimmung der Verfassung eine dritte Amtszeit mit allen Mitteln (einschließlich der Verfolgung und Ermordung oppositioneller Wähler) durchzusetzen - ebenso wie auch Präsident Nujoma in Namibia die Verfassung ändern ließ, um ein drittes Mal kandidieren zu können (in Tunesien versucht es der Präsident gerade ein viertes Mal). Dies sind Anzeichen dafür, dass rechtliche, rationale Spielregeln des politischen Wettbewerbs und der Kontrolle von Macht noch nicht so verinnerlicht sind, dass sich Politiker daran gebunden fühlen. Hier ist die langsam mündig werdende Zivilgesellschaft in Afrika gefordert, Maßstäbe für "good governance" zu setzen bzw. Zuwiderhandlungen seitens der Machtpolitiker mit entsprechenden Protesten entgegenzutreten. Die Verhinderung solcher Zustände muss das primäre Gebot westlicher Entwicklungszusammenarbeit sein. Für die in der Republik Südafriks anstehende Phase der ökonomischen Konsolidierung von pluralistischer Demokratie - d. h. der Beschleunigung von industriellem Wachstum und der Intensivierung von wissenschaftlicher Forschung unter sich verschärfendem Globalisierungsdruck - sind breitenwirksame Strukturreformen gefragt, die einer kollektiven Anstrengung einer ganzen Gesellschaft - und ausländischer Direktinvestitionen in Milliardenhöhe - bedürfen. Das vom ANC geführte Land leidet an diversen inneren Schwächen, die größtenteils noch auf das Konto des Apartheidsystems mit seinem staatlich regulierten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftssystem zurückgeführt werden können und eine schwere Erblast von einiger Dauer darstellen: Erstens hat die bedrohlich hohe Kriminalität in den Städten, in denen frustrierte schwarze Jugendliche ohne Ausbildungsplatz und ohne Erwerbsarbeit ihre Aggressivität entladen, nicht tolerierbare Ausmaße erreicht und schreckt ausländische Investoren ab. Zweitens sind die Auswirkungen der Aids-Krise auf die Wirtschafts- und Sozialentwicklung, mit 150 000 Aids-Toten im Jahr 2000, verheerend. Drittens ist die ansteigende, hohe Zahl von abgewanderten Führungskräften Anlass zur Sorge: Zwischen 1989 und 1997 sollen 233 000 Personen - meist mit guter Ausbildung und ohne die Behörden zu informieren - das Land vor allem in Richtung Kanada, USA, Großbritannien oder Australien verlassen haben. Die Arbeitslosenrate ist mit ca. 23 Prozent äußerst hoch. Damit hängt viertens zusammen, dass auch die Höhe der ausländischen Direktinvestitionen mit weniger als einem Prozent des Bruttosozialprodukts des Landes viel zu niedrig ausfällt, um einen positiven Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben zu können. Auch die Privatisierung der staatlichen und halbstaatlichen Versorgungsbetriebe geht nur zögerlich voran. Insgesamt lässt sich also für Südafrika sagen, dass einem großen, ausbaufähigen Industriepotenzial mit erfahrenen Arbeitern und Managern eine Fülle von institutionellen Schwächen und Problemen gegenübersteht, welche die soziale Kohäsion der an sich schon sehr fragmentierten Gesellschaft weiter strapazieren werden. Für diese längerfristige Übergangszeit ist daher mit ansteigender politischer Gewalt zu rechnen - als Waffe der Verzweifelten, welche die Hoffnung verloren haben, auf rechtsstaatliche Weise ihre Lebensverhältnisse verbessern zu können. Umso mehr ist die internationale Staatengemeinschaft gefordert, in ihren Beziehungen zu afrikanischen Gesellschaften mit viel Empathie, Geduld und Geld die schwierigen Umbruch- und Reformprozesse zu begleiten, die hier noch jahrzehntelang andauern werden.
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Tetzlaff, Rainer
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26995/die-staaten-afrikas-zwischen-demokratischer-konsolidierung-und-staatszerfall/
Die Staaten Afrikas stehen vor vier großen Herausforderungen: grassierende politische Gewalt, zu langsames wirtschaftliches Wachstum und dauerhafte Armut, Ausbreitung von Aids und Tendenzen des Staatszerfalls.
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Arbeit von Frauen in Zeiten der Globalisierung | Frauen in Deutschland | bpb.de
Der Begriff Globalisierung wird in verschiedenen Kontexten unterschiedlich definiert. Gemeinhin umfasst Globalisierung eine Vielzahl wirtschaftlicher Prozesse, die sich im späten 20. Jahrhundert massiv verstärkt haben (vgl. Hofmeister/Blossfeld/Mills 2006). Dazu gehören die Internationalisierung von Märkten durch den verstärkten Strom von Gütern, Arbeitskraft und Kapital über nationale Grenzen hinweg, Wettbewerbsverschärfungen aufgrund von Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung, die weltweite Ausbreitung von Wissen und Kommunikationsnetzwerken durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und die wachsende weltweite Verflechtung von Märkten und deren Abhängigkeit von globalen Schocks, wie beispielsweise der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Im Zuge dieser Veränderungen hat sich die von Frauen geleistete Arbeit massiv vom unbezahlten, häuslichen Bereich in den bezahlten Bereich des Arbeitsmarktes ausgedehnt. Die wohl auffälligste Veränderung in Deutschland seit den 1950er Jahren ist dabei die steigende Erwerbsbeteiligung von verheirateten Frauen und Müttern. Damit verbunden ist die Abkehr vom Modell der "Hausfrauen- und männlichen Versorger-Ehe", das speziell in Westdeutschland lange Zeit institutionell und normativ prägend war und ist. Frauen verbringen heutzutage mehr Zeit ihres Erwachsenenlebens auf dem Arbeitsmarkt als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. So hat sich die Erwerbsquote verheirateter Frauen allein in Westdeutschland zwischen 1950 (26 Prozent) und 1980 (48 Prozent) fast verdoppelt (Müller et al. 1983). In der ehemaligen DDR verlief diese Entwicklung noch rasanter, da Frauen hier, auch aus politischen Gründen, systematisch als bezahlte Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt eingebunden wurden. Insgesamt stieg die Frauenerwerbsquote von 44 Prozent im Jahre 1950 auf 66 Prozent in 2005 an, trotz massiver konjunkturell und strukturell bedingter Nachfrageschwankungen auf dem Arbeitsmarkt (Ibid. & Statistisches Bundesamt). Veränderungen im Globalisierungsprozess Die Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialstaat stattgefunden haben, lassen sich selten eindeutig als Ergebnis des Globalisierungsprozesses zurechnen (vgl. Leitner/Ostner 2000; Blossfeld 2001). Vielmehr handelt es sich dabei um Entwicklungen, die in ihren Grundzügen den meisten modernen Gesellschaften gemein sind und sich mit der wachsenden Dominanz des Weltmarktes durchgesetzt haben (Ibid.). Insbesondere die folgenden Entwicklungen, die das Arbeitskräfteangebot sowie die Nachfrage nach Arbeitskräften nachhaltig verändert haben, werden in der einschlägigen Literatur mit Globalisierung in Verbindung gebracht (Ibid.): Die wachsende Bedeutung des Wissens und der Information, die sich auch in der Bildungsexpansion zeigt - d.h. seit den 1960er Jahren erwerben immer mehr junge Menschen mittlere oder höhere Bildungsabschlüsse (Geißler 2004); die immense Steigerung der Produktivität in der industriellen Produktion, die eine Abnahme von niedrig qualifizierten Produktionsberufen und eine Zunahme von Dienstleistungsberufen sowie einen Anstieg der Arbeitslosigkeit nach sich gezogen hat; die zunehmende Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen durch Teilzeitarbeit, Minijobs und befristete Beschäftigungsverhältnisse; die zunehmende Unsicherheit und Instabilität sozialer Beziehungen, die in einem Anstieg der Scheidungszahlen, gesunkener Kinderzahlen, und generell, in einer Pluralisierung familiärer Lebensformen zum Ausdruck kommt; sowie schließlich der wachsende internationale Wettbewerb zwischen Nationalstaaten, in dessen Zuge ein Großteil der gering- und mittelqualifizierten Arbeitsplätze in Niedriglohnländer verlagert worden ist. Wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland Durch das Wirtschaftswachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie durch die Zunahme von Dienstleistungsberufen und flexiblen Beschäftigungsformen, wie zum Beispiel Teilzeitarbeit, ist die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften deutlich angestiegen. Ein Indikator hierfür ist der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, der zwischen 1970 und 2006 von ca. 45 Prozent auf 72 Prozent massiv angestiegen ist Externer Link: (Statistisches Bundesamt: Strukturwandel in Deutschland 2009). Den Hintergrund dieser Entwicklungen bildeten unter anderem die Produkt- und Prozessinnovationen in der Produktion und Organisation der industriellen Fertigung, wo Frauen zunächst als flexible Arbeitskräfte in der Produktion und schließlich zunehmend in den unteren und mittleren Hierarchien im Büro- und kaufmännischen Bereich eingesetzt wurden. Zeitweise, speziell in Zeiten des Wirtschaftswunders, war die generelle Nachfrage nach Arbeitskräften schlichtweg größer als das Angebot an männlicher Arbeitskraft. Gleichzeitig entstanden durch den wirtschaftlichen Wandel aber auch neue Berufe und Beschäftigungsformen, wie z.B. Teilzeitarbeit, die Männer in dieser Form zur damaligen Zeit nicht ergriffen hätten, da sie zu gering entlohnt waren, um davon eine Familie zu ernähren. Für verheiratete Frauen boten die neuen Jobs die Möglichkeit, etwas zum Familieneinkommen dazu zu verdienen und ein Stück Eigenständigkeit zu erlangen. Die weibliche Erwerbstätigkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Seit den 1970er Jahren ist die Erwerbstätigenquote kontinuierlich gestiegen. Wie sehen die Entwicklungen hinsichtlich Verträgen, Zeitmodellen und Berufsgruppen aus? Als PDF herunterladen (0.9MB) In dieser Zeit erwarben junge Frauen auch immer bessere Schul- und Berufsausbildungsabschlüsse, sodass sie inzwischen bei den qualifizierenden Berufs- und Universitätsabschlüssen mit den Männern gleichziehen und entsprechend in mehreren qualifizierten Berufsfeldern, z.B. als Bürokaufleute, Ärzte, Lehrer, mit ihnen konkurrieren. Durch den Ausbau des Sozialstaats in den 1960er Jahren waren auch Arbeiten, die Frauen bis dahin unbezahlt in der Familie verrichtet hatten, wie die Versorgung und Pflege von Alten, Kranken und Kindern, ein Stück weit in bezahlte Arbeit im öffentlichen Sektor umgewandelt worden. So weiteten sich auch sogenannte klassische Frauenberufe wie Erzieherin, Krankenpflegerin oder Verwaltungsangestellte aus. Ein Indikator des sozialstaatlichen Ausbaus ist der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Die Gesamtzahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst stieg von 3,2 Millionen im Jahr 1960 auf 4,6 Millionen Beschäftigte im Jahre 1982 und betrug 2009 4,5 Millionen. Externer Link: (Statistisches Bundesamt, Strukturwandel in Deutschland, Personalanstieg im öffentlichen Dienst Pressemitteilung Nr. 258, 2010 und Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik). Im gleichen Zeitraum stieg die Frauenquote im öffentlichen Dienst von 27 Prozent 1960 auf 52 Prozent im Jahre 2005 Externer Link: (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 093, 2005). Globalisierung spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle, da der sozialstaatliche Ausbau eher der konservativ-wohlfahrtsstaatlichen Tradition Westdeutschlands folgte. In Ostdeutschland war bezahlte Beschäftigung ein staatlich garantiertes Recht und eine Verpflichtung zugleich (Drobnic 1997). Es herrschte Vollbeschäftigung und die Arbeitsnachfrage war weitgehend abgekoppelt von Konsum oder Produktivität (Ibid.). In beiden Teilen Deutschlands gingen die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt Hand in Hand mit Produktinnovationen und Neuerungen im häuslich-privaten Bereich. Frauen verbrachten durch Veränderungen bei der Produktion und im Konsum von Haushaltsgütern, wie zum Beispiel Konfektionskleidung oder Fertigprodukte zunehmend mehr Zeit in Erwerbsarbeit und weniger Zeit mit unbezahlter Haus- und Familienarbeit. Anstieg der Arbeitslosigkeit Nach dem Ende des rasanten Wirtschaftswachstums der 1960er und frühen 1970er Jahre, das die Ölkrise in den späten 1970er Jahren abrupt einleitete Externer Link: (Borowsky 1998) wurde die Lage auf dem Arbeitsmarkt Westdeutschlands immer prekärer, wie der Anstieg der Arbeitslosenzahlen in diesem Zeitraum – von unter ein Prozent 1965 auf über zehn Prozent 1983 – verdeutlicht. Gut ausgebildete, erwerbstätige Frauen sahen sich in den 1980er Jahren im westdeutschen Wohlfahrtsstaat zunehmend beruflich und politisch ausgegrenzt (Lenz 2008). Diese historische Situation wird als eine der Triebfedern der neuen Frauenbewegung gesehen, in deren Zuge Frauen für ihre rechtliche Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt kämpften und schrittweise Berufsverbote und andere Einschränkungen ihrer Arbeitsleistung abschafften (Ibid). Neben den Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt sind im Zuge der Globalisierung auch die Risiken und Probleme der Erwerbstätigkeit angestiegen. Das deutlichste Beispiel hierfür ist der massive Anstieg der Arbeitslosenquote von unter zwei Prozent in den 60er Jahren als niedrigster Stand auf 13 Prozent in 2005 als höchsten Stand in der Bundesrepublik (Bundesagentur für Arbeit 2010). Im Globalisierungsprozess ist Arbeitslosigkeit zum einen eine Folge des Verschwindens un- beziehungsweise gering qualifizierter Produktionsberufe, die der Automation und anderen Innovationen in der Produktion geschuldet sind. Zum anderen sind in den letzten Jahren selbst qualifizierte Bereiche des deutschen Arbeitsmarktes, beispielsweise in der Automobilindustrie, dem globalen Wettbewerb erlegen. Global operierende Konzerne verlagerten ihre Produktionsstandorte in andere Länder oder reduzierten ihre Belegschaft im Zuge von Reorganisationsmaßnahmen radikal, um Arbeitskosten zu senken. Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit für (Ehe-)Männer seit den 1970er Jahren, stagnierenden beziehungsweise sinkenden Reallöhnen sowie steigenden Scheidungszahlen, ist auch der Druck auf verheiratete Frauen gestiegen, kontinuierlich erwerbstätig zu sein und eigenes Geld zu verdienen. Diese Tendenz zeigt sich auch im reformierten Unterhaltsrecht, das von Frauen nach einer Ehescheidung sehr viel schneller und in deutlich größerem Umfang als bisher die berufliche Eigenständigkeit verlangt. Hinzu kommt, dass im Zuge der Pluralisierung von Lebens- und Familienformen die Zahl Alleinerziehender, davon 90 Prozent Frauen, deutlich angestiegen ist. Im Jahre 2007 waren laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 57 Prozent der Alleinerziehenden erwerbstätig. Aber auch die Zwei-Eltern-Haushalte sind heutzutage häufiger als früher auf zwei Einkommen angewiesen. Normativ ist damit die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen vom Zuverdienst zur Notwendigkeit und von der Ausnahme zur Regel geworden. Zunahme der weiblichen Arbeitsmigration Durch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland hat jüngst sowohl in den Familien als auch im öffentlichen Sektor der Bedarf an Arbeitskräften in den traditionell gering entlohnten Frauenberufen deutlich zugenommen (Butterwegge/Hentkes 2009). Dies betrifft unter anderem den Bereich der Hausarbeit in Privathaushalten, die private Krankenpflege sowie die arbeitsintensive Produktion. Die geringen Löhne, die in diesen Bereichen gezahlt werden sowie die geringe gesellschaftliche Anerkennung von unbezahlt geleisteter Sorgearbeit, machen diese Tätigkeiten für hochqualifizierte deutsche Frauen unattraktiv. Sie werden zunehmend durch – ebenfalls gut ausgebildete – Migrantinnen aus Ländern in Osteuropa, Lateinamerika, Afrika und Asien mit geringerem Wohlstands- und Einkommensniveau ausgeführt (Lutz 2007a, 2007b). Diese Entwicklungen werden erst seit Kurzem systematisch erforscht und sind bislang nur schwer verlässlich quantifizierbar. Jedoch finden sich Hinweise auf das Entstehen neuer sozialer Ungleichheiten zwischen Frauen: den gut ausgebildeten, qualifiziert beschäftigten Deutschen und den niedrig entlohnten, teils in der Schattenwirtschaft tätigen Migrantinnen (Ibid.). Obwohl in Deutschland aufgewachsene Frauen in den letzten Jahrzehnten in Bildung und Arbeit aufgeholt haben, bekleiden sie im Vergleich mit den Männern nach wie vor die schlechter bezahlten und unsichereren Jobs. Die durch die Globalisierung bedingten Unsicherheiten am Arbeitsmarkt, wie Arbeitslosigkeit und berufliche Abstiege, treffen ganz besonders Frauen (Grunow 2006). Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Traditionelle Männerberufe im Verkehrs- und Baugewerbe beispielsweise sind sehr viel besser durch Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern geschützt als das in den neu entstehenden Berufszweigen und Industrien in den personenbezogenen Dienstleistungen (z.B. Kinderpflegerin, Krankenschwester) der Fall ist, in denen verstärkt Frauen arbeiten. Dies betrifft sowohl Fragen der Entlohnung als auch den Schutz vor Arbeitsplatzabbau. Zum Beispiel sind durch den gewerkschaftlich festgelegten Sozialplan bei Entlassungen eher die weiblichen Halbtagskräfte als die vollverdienenden Männer betroffen. Gleiche Arbeit weniger Geld Klassische Frauenberufe sehen weniger Aufstiegsmöglichkeiten vor als das bei Männerberufen auf gleichem Qualifikationsniveau der Fall ist (Krüger/Born 2001). Insofern ist es für Frauen in typischen Frauenberufen strukturell schwerer "Karriere zu machen". Da die berufliche Bildung und der Arbeitsmarkt in Deutschland eng verzahnt sind, gibt es nur sehr begrenzte Möglichkeiten für Frauen, im Laufe ihres Lebens von einem qualifizierten Beruf in den anderen zu wechseln (Ibid.). Deshalb sind Berufswechsel für Frauen häufig mit beruflichen Abstiegen verbunden. Neuere Untersuchungen der Einkommensentwicklung hochqualifizierter Arbeitskräfte weisen aber auch deutlich auf Lohndiskriminierung von Frauen hin (Leuze/Strauß 2009); das heißt Frauen bekommen für gleiche Arbeit und gleiche Leistungen weniger Geld. So geht aus einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeit und Beruf (IAB) hervor, dass Frauen selbst innerhalb des gleichen Berufs ca. 21 Prozent weniger verdienen als Männer (IAB 2009). Ein statistischer Vergleich von Frauen und Männern gleichen Alters mit gleicher Ausbildung und demselben Beruf im gleichen Betrieb ergab immer noch eine Lohndifferenz von 12 Prozent (Ibid.). Diese Art der Ungleichbehandlung kann nicht durch Qualifikationsmerkmale, Berufserfahrung oder geschlechtsspezifische Berufswahl erklärt werden. Babypause ohne Rückkehr in den Job? Diese geschlechtsspezifischen Strukturen auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen auch Familienentscheidungen. So sind es nach wie vor ganz überwiegend die Mütter – nicht die Väter – die ihren Beruf unterbrechen, um ihr Kind zu betreuen. Durch den wachsenden ökonomischen Druck in Zeiten der Globalisierung werden Mütter zudem verstärkt aus dem Arbeitsmarkt gedrängt (Grunow 2006): Mütter haben ein signifikant höheres Risiko arbeitslos zu werden als kinderlose Frauen oder Männer. Während der Schwangerschaft liegt das Risiko etwa 70 Prozent höher als bei kinderlosen Frauen. Nach der Geburt eines Kindes sind Erwerbsunterbrechungen zunächst durch Mutterschutz- und Elternzeitregelungen abgesichert. Für viele Mütter wird diese Unterbrechung jedoch zum dauerhaften Arbeitsmarktausstieg: In Deutschland sind selbst acht Jahre nach der Geburt des ersten Kindes weniger als dreiviertel der Frauen auf den Arbeitsmarkt zurückgekehrt. Zum Vergleich: In den USA sind bereits nach sechs Monaten dreiviertel aller Mütter wieder am Arbeitsplatz; in Schweden nach fünf Jahren (Aisenbrey, Evertsson, Grunow 2009). Während Mütter in den 1960er Jahren in Zeiten des Wirtschaftswachstums nach mehrjähriger Erwerbsunterbrechung also gleichsam in den Arbeitsmarkt hineingezogen wurden, fällt es jungen Müttern heute nach einer Auszeit zunehmend schwer, ins Berufsleben zurückzukehren. Dies gilt vor allem dann, wenn die Bindung zum vorherigen Arbeitgeber nicht mehr besteht und die gesetzlichen Elternzeitfristen überschritten wurden (Ibid). Die Entwicklung der beruflichen Chancen und Risiken von Frauen im Zuge der Globalisierung ist in Folge all dieser Prozesse durch eine Reihe von Widersprüchen gekennzeichnet. Einerseits sind jüngere Generationen von Frauen immer besser ausgebildet, was ihre Arbeitsmarktchancen und Karriereaussichten im Vergleich zu älteren Generationen erhöht. Auch haben junge Frauen heutzutage eine viel stärkere Arbeitsmarktbindung; das heißt, dass sie in viel größerem Umfang und längere Zeit erwerbstätig sind, als das bei ihren Müttern und Großmüttern der Fall war (Buchholz/Grunow 2006). Andererseits wirken sich die negativen Folgen der Globalisierung, wie gestiegene Arbeitslosigkeitsrisiken und schlechtere Berufsrückkehrchancen, für Frauen heute deutlich stärker aus als für Männer gleichen Alters und gleicher Bildung (Grunow 2006). Die weibliche Erwerbstätigkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Seit den 1970er Jahren ist die Erwerbstätigenquote kontinuierlich gestiegen. Wie sehen die Entwicklungen hinsichtlich Verträgen, Zeitmodellen und Berufsgruppen aus? Als PDF herunterladen (0.9MB) Quellen / Literatur Aisenbrey, Silke/Evertsson, Marie/Grunow, Daniela (2009): Is there a career penalty for mothers´ time out? A comparison between the U.S., Germany and Sweden, in: Social Forces 88/2. Borowsky, Peter (1998): Tendenzwende Anfang der siebziger Jahre, in: Interner Link: Informationen zur politischen Bildung, Heft 258. Buchholz, Sandra/Grunow, Daniela (2006): Women´s employment in West Germany, in: Blossfeld, Hans-Peter/Hofmeister, Heather (Hg.): Globalization, Uncertainty and Women's Careers. An International Comparison, Cheltenham/Northhampton, S. 61 - 83. Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (2009): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Wiesbaden. Drobnic, Sonja (1997): Part-Time Work in Central and Eastern European Countries, in: Hans-Peter Blossfeld and Catherine Hakim (Hg.): Between equalization and marginalization: women working part-time in Europe and the United States of America, Oxford, S. 71-90. Geißler, Rainer (2004): Bildungsexpansion und Bildungschancen, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 269. Grunow, Daniela (2006): Convergence, Persistence and Diversity in Male and Female Careers: Does Context Matter in an Era of Globalization? A Comparison of Gendered Employment Mobility Patterns in West Germany and Denmark, Opladen/Farmington Hills. Hofmeister, Heather/Blossfeld, Hans-Peter/Mills, Melinda (2006): Globalization, uncertainty and women's mid-career life courses: a theoretical framework, in: Blossfeld, Hans-Peter/Hofmeister, Heather (Hg.): Globalization, Uncertainty and Women's Careers. An International Comparison, Cheltenham/Northhampton, S. 3 - 31. Krüger, Helga (1995): Prozessuale Ungleichheit. Geschlecht und Institutionenverknüpfung im Lebenslauf, in: Peter A. Berger/Peter Sopp (Hg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen, S. 133 - 153. Krüger, Helga/Born, Claudia (2001): Individualisierung und Verflechtung. Geschlecht und Generation im Lebenslaufregime, Weinheim/München. Leuze, Kathrin/Strauß, Susanne (2009): Mit zweierlei Maß – Studium zahlt sich für Frauen weniger aus, Externer Link: WZBrief Arbeit (2/2009). Leitner, Sigrid/Ostner, Ilona (2000): Frauen und Globalisierung. Vernachlässigte Seiten der neuen Arbeitsteilung, in: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (B48/2000). Lenz, Ilse (2008): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden. Lutz, Helma (2007): Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen. Müller, Walter/Willms, Angelika/Handl, Johann (1983): Strukturwandel der Frauenarbeit 1880 - 1980, Frankfurt/Main. Aisenbrey, Silke/Evertsson, Marie/Grunow, Daniela (2009): Is there a career penalty for mothers´ time out? A comparison between the U.S., Germany and Sweden, in: Social Forces 88/2. Borowsky, Peter (1998): Tendenzwende Anfang der siebziger Jahre, in: Interner Link: Informationen zur politischen Bildung, Heft 258. Buchholz, Sandra/Grunow, Daniela (2006): Women´s employment in West Germany, in: Blossfeld, Hans-Peter/Hofmeister, Heather (Hg.): Globalization, Uncertainty and Women's Careers. An International Comparison, Cheltenham/Northhampton, S. 61 - 83. Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (2009): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Wiesbaden. Drobnic, Sonja (1997): Part-Time Work in Central and Eastern European Countries, in: Hans-Peter Blossfeld and Catherine Hakim (Hg.): Between equalization and marginalization: women working part-time in Europe and the United States of America, Oxford, S. 71-90. Geißler, Rainer (2004): Bildungsexpansion und Bildungschancen, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 269. Grunow, Daniela (2006): Convergence, Persistence and Diversity in Male and Female Careers: Does Context Matter in an Era of Globalization? A Comparison of Gendered Employment Mobility Patterns in West Germany and Denmark, Opladen/Farmington Hills. Hofmeister, Heather/Blossfeld, Hans-Peter/Mills, Melinda (2006): Globalization, uncertainty and women's mid-career life courses: a theoretical framework, in: Blossfeld, Hans-Peter/Hofmeister, Heather (Hg.): Globalization, Uncertainty and Women's Careers. An International Comparison, Cheltenham/Northhampton, S. 3 - 31. Krüger, Helga (1995): Prozessuale Ungleichheit. Geschlecht und Institutionenverknüpfung im Lebenslauf, in: Peter A. Berger/Peter Sopp (Hg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen, S. 133 - 153. Krüger, Helga/Born, Claudia (2001): Individualisierung und Verflechtung. Geschlecht und Generation im Lebenslaufregime, Weinheim/München. Leuze, Kathrin/Strauß, Susanne (2009): Mit zweierlei Maß – Studium zahlt sich für Frauen weniger aus, Externer Link: WZBrief Arbeit (2/2009). Leitner, Sigrid/Ostner, Ilona (2000): Frauen und Globalisierung. Vernachlässigte Seiten der neuen Arbeitsteilung, in: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (B48/2000). Lenz, Ilse (2008): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden. Lutz, Helma (2007): Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen. Müller, Walter/Willms, Angelika/Handl, Johann (1983): Strukturwandel der Frauenarbeit 1880 - 1980, Frankfurt/Main.
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Daniela Grunow
2021-12-23T00:00:00
2011-12-21T00:00:00
2021-12-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/frauen-in-deutschland/49397/arbeit-von-frauen-in-zeiten-der-globalisierung/
Hohe Erwerbsquote, Dienstleistungsberufe und Minijobs: Die weibliche Erwerbstätigkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland stark verändert. In welchem Zusammenhang stehen diese Prozesse mit der Globalisierung von Wirtschaft und Arbeit?
[ "Frauen", "Arbeit", "Globalisierung", "Erwerbstätigkeit", "Wirtschaft", "Arbeitslosigkeit", "Kindererziehung" ]
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Die neuen Ziele der Vereinten Nationen | Hintergrund aktuell | bpb.de
In unserer Bildergalerie erfahren Sie mehr über die neuen Ziele der Vereinten Nationen. UN Sustainable Development Goals Mehr zum Thema: Interner Link: Hintergrund aktuell (08.09.2015): Weltalphabetisierungstag Interner Link: Maull, Hanns W.: Von den Schwierigkeiten des Regierens in Zeiten der Globalisierung Interner Link: Schneider, Rafaël: Hunger in der Welt
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-04T00:00:00
2015-09-25T00:00:00
2021-09-04T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/212544/die-neuen-ziele-der-vereinten-nationen/
Ende September trifft sich die UN-Vollversammlung in New York, um einen Fahrplan für die Zeit nach den Millenniums-Entwicklungszielen ("Millennium Development Goals") festzulegen. 17 Punkte umfasst die neue Agenda der Vereinten Nationen, mit der die
[ "Vereinte Nationen", "UN", "Vollversammlung", "Millenium", "Entwicklungsziele", "Millenium Development Goals", "Agenda", "Gipfel", "New York", "USA", "Vereinigte Staaten von Amerika", "New York" ]
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Balanceakt zwischen Ernährung und Naturschutz - die Landwirtschaft | Umweltpolitik | bpb.de
Einleitung Die Landwirtschaft stellt - zusammen mit dem Gartenbau, der Fisch- und der Forstwirtschaft - einen der sensibelsten Wirtschaftszweige dar, weil sie die Ernährung der Menschen sichert. Allerdings bleibt dieses Ziel für viele Menschen unerfüllt. Nach Schätzungen der für Ernährung und Landwirtschaft zuständigen Organisation der Vereinten Nationen, der FAO, leiden circa 840 Millionen Menschen unter Hunger; dies sind rund 20 Prozent der Weltbevölkerung. Immerhin 160 Millionen Kinder gehören zu den Hungernden, ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren ist unterernährt und circa 20 Millionen Kinder werden in den Entwicklungsländern wegen unzureichender Ernährung der Mutter bereits mit einem zu niedrigen Geburtsgewicht geboren. Zahlreiche Gesundheitsprobleme in der Dritten Welt, zum Beispiel eine hohe Anfälligkeit gegen Infektionen, sind auf Unterernährung zurückzuführen. Rückgang natürlicher Ressourcen Hunger in der Welt Der Zusammenhang zwischen Hunger und Unterernährung und der allgegenwärtigen Schädigung der natürlichen Umwelt sowie der fortschreitenden Zerstörung natürlicher Ressourcen liegt auf der Hand: Dies zeigt sich bereits an dem "Lebensmittel Nr. 1", sauberem Trinkwasser, und den mit dessen Verschmutzung eng zusammenhängenden Abwasserproblemen. Nach dem Human Development Report 2006 des United Nations Development Programme (UNDP) "Beyond Scarcity: Power, Poverty and the Global Water Crisis" haben 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser; 2,6 Milliardender Bevölkerung in Entwicklungsländern fehlen die notwendigen sanitären Einrichtungen. Die natürlichen Quellen des Süßwassers schrumpfen: Im Jahre 2025 werden voraussichtlich 1,8 Milliarden Menschen in Ländern oder Regionen mit absoluter Wasserknappheit leben müssen. Hierbei ist zu bedenken, dass Wasser nicht nur direkt als Trinkwasser der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse dient, sondern auch für die Nahrungsmittelproduktion unverzichtbar ist. Gerade in manchen Entwicklungsländern ist Landwirtschaft, zum Beispiel der Nassreisanbau, nicht ohne Bewässerung möglich. Eine weitere unverzichtbare Ressource der Nahrungsmittelproduktion, fruchtbarer Boden, ist ebenfalls immer mehr bedroht. Bodendegradierung und Bodenerosion haben derart um sich gegriffen, dass beispielsweise zwischen 1945 und 1990 17 Prozent der Biomasse produzierenden Fläche der Welt verloren gegangen sind. Besonders dramatisch zeigt sich dies am Fortschreiten der Wüstenbildung: Sie bedroht 34,75 Millionen Quadratkilometer Nutzfläche auf der Erde; betroffen sind weltweit 80 Prozent der Weidefläche, sechs Prozent der Regenfeldbaufläche und 20 Prozent der Bewässerungsfeldbaufläche. Dabei geht es nicht nur um die verfügbare Menge an Boden, sondern auch um dessen produktive Nutzbarkeit. Sie leidet durch die Abnahme der Bodenfruchtbarkeit, wie sich sehr drastisch in Afrika zeigt. Dort ist ein jährlicher Nährstoffverlust von 30 Kilogramm NPK/Hektar (NPK = Stickstoff, Phosphat und Kalium) auf 86 Prozent der Fläche zu beobachten, dessen Ausgleich durch Nährstoffzufuhr allein aufdiesem Kontinent jährlich 1,5 Milliarden US-Dollar erfordern würde. Eine auch nur halbwegs vollständige Liste der Beeinträchtigung agrarisch genutzter und für die Welternährung wichtiger natürlicher Ressourcen wäre sehr lang. Hier mögen einige wenige Hinweise genügen. So führt die globale Erwärmung durch den Treibhauseffekt nicht nur zu einem geminderten Produktionspotenzial der Landwirtschaft, unter anderem durch die Ausbreitung der Wüsten. Sie bewirkt auch eine Verschiebung der Produktionszonen und zwingt die regionalen Agrarstrukturen, sich dem anzupassen, was nicht ohne entsprechende Probleme und Kosten vonstatten gehen wird. Zudem können die Produktionsgrundlagen und -abläufe der Landwirtschaft in manchen Regionen zunehmend durch katastrophenartige Ereignisse gefährdet sein. So sagen Klimaforscher für 37 Inselstaaten eine erhöhte Überschwemmungsgefahr voraus. Die Arten- und Sortenvielfalt bei Kulturpflanzen ist nach vorliegenden Schätzungen seit 1920 um 75 Prozent gesunken. Dabei werden Wildpflanzen für die Züchtung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen dringend benötigt und haben hier erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für deren dauerhafte Ertragsfähigkeit. Der Verlust genetischer Ressourcen lässt sich am Beispiel einer Nutzpflanze mit weltweiter Bedeutung illustrieren: In den 1950er Jahren gab es in Indien noch circa 30 000 Reissorten, von denen nur wenige überlebten. Heute basieren rund 50 Prozent der Welternährung auf fünf Getreidearten; 95 Prozent der Welternährung werden durch circa 30 Pflanzenarten gewährleistet. In der Genbank des Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben in Sachsen-Anhalt wird beispielsweise versucht, einen Teil der genetischen Vielfalt für die künftige Nutzung zu erhalten; dies ist mit einem hohen Aufwand für die Aufbewahrung und Konservierung von Saatgut und Pflanzen verbunden. Nicht zu vergessen sind wichtige Bereiche außerhalb der Landwirtschaft, in denen es ebenfalls um die Nutzung natürlicher Ressourcen für die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse geht. So führt die Überfischung der Meere - trotz existierender Fangquoten - zu verringerten Fischressourcen. Weltweit wird sich der Fischbestand 2025 voraussichtlich auf ein Viertel des Bestandes von 1990 reduziert haben. Weithin bekannt ist das Ausmaß der Abholzung natürlicher tropischer Wälder, die allein von 1990 bis 2000 um 14,2 Prozent an Fläche abgenommen haben. Ursachen und Lösungsansätze Die Ursachen für die landwirtschaftlichen Umweltprobleme sind sehr komplex und hängen von den jeweiligen natürlichen, produktionstechnischen und organisatorischen Gegebenheiten ab. Eine Haupttriebkraft ist zunächst das Bevölkerungswachstum, das insbesondere in vielen Entwicklungsländern einen erheblichen Druck auf die Ressourcennutzung ausübt. Weil die zurückbleibenden organischen Substanzen auf den Feldern (wie Schalen, Stroh, getrockneter Tierkot) zur Viehfütterung bzw. Energiegewinnung verwendet werden, bildet sich weniger Humus - die Bodenfruchtbarkeit nimmt ab. In manchen Entwicklungsländern reichen aber auch schlicht die verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzflächen als Ernährungsbasis nicht aus, und an eine Kompensation dieses Defizits durch Lebensmittelimporte ist mangels Kaufkraft (und Infrastruktur für den Zugang der Armen zu solchen Nahrungsmitteln) nicht zu denken. Das Beispiel Äthiopien verdeutlicht dies. Nur 0,38 Hektar Nutzfläche stehen pro Person in diesem von Hungerkatastrophen gequälten Land zur Verfügung. Die Folgen sind eine Übernutzung und schwindende Fruchtbarkeit der Böden und auch der Weideflächen. Wissenschaftliche Analysen haben gezeigt, dass im Landesdurchschnitt die Bodenerosion zu Bodenverlusten von jährlich 42 Tonnen pro Hektar führt, auf Untersuchungsflächen in Nord-äthiopien sind es sogar 200 Tonnen. Die natürliche Ressourcenbasis für 80 Prozent der Bevölkerung - dieser Anteil lebt in Äthiopien noch direkt von der Landwirtschaft - verliert dadurch an Produktionspotenzial. Ressourcenschutzprogramme sind bei am Existenzminimum lebenden Menschen aber nur begrenzt realisierbar. Innovationen als Teil und Lösung von Problemen Eine zweite Ursache von Ressourcenschädigungen und Umweltproblemen in der Landwirtschaft mit teils ganz anderen, aber nicht minder bedenklichen Auswirkungen bilden Innovationen auf technischen, chemischen und biologischen Gebieten. Hierzu gehören beispielsweise die Entwicklung von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, Fortschritte in der Agrartechnik oder Ertragssteigerungen durch die Tierzucht und die Pflanzenzüchtung, insbesondere die Bereitstellung neuer Getreidesorten. Die immensen Wirkungen dieser Entwicklung haben ihr weltweit die Bezeichnung "Grüne Revolution" eingetragen. Zahlreiche nationale Regierungen und internationale Organisationen, nicht zuletzt die Entwicklungszusammenarbeit, förderten sie in der Hoffnung auf einen Beitrag zur Milderung des Welthungerproblems. Nur wie fast alle Innovationen wirkt auch diese nicht nur als Problemlöser, sondern zugleich als Problemschaffer. Sie verlangt folglich wiederum neue Konzepte, um mit den Nebenwirkungen fertig zu werden. Eine problematische Nebenwirkung bei der Anwendung moderner Betriebsmittel ist die Verschmutzung -von Grund- und Oberflächenwasser. Sie wird verursacht durch Nitratauswaschung, Phosphatanreicherung (zum Beispiel in der Ostsee) sowie durch Rückstände von Pflanzenschutzmitteln und Schwermetallen, die beispielsweise aus der Ausbringung von Klärschlamm auf landwirtschaftlich genutzte Flächen stammen können. So beträgt der Stickstoffbilanzüberschuss - das ist die dem Boden zugeführte, aber durch das Pflanzenwachstum nicht verbrauchte und daher potenziell zur Auswaschung bereitstehende Stickstoffmenge - in Deutschland durchschnittlich circa 120, in den Niederlanden 220 und in Frankreich 50 Kilogramm N/Hektar/Jahr. Die hohen Überschusswerte werden nicht nur durch Mineraldünger verursacht, sondern auch durch die Düngung mit tierischen Exkrementen. Problematisch ist das Düngen mit Gülle vor allem dann, wenn sie in zu hohen Mengen, unsachgemäß oder in Jahreszeiten mit geringem Pflanzenwachstum auf den Boden ausgebracht wird. Ein Hauptinstrument zum Schutz des Trinkwassers vor gesundheitsgefährdenden Rückständen aus der Agrarproduktion ist die Einrichtung von Wasserschutzgebieten. In ihnen unterliegt die Anwendung ertragssteigernder Betriebsmittel und Wirtschaftsweisen konkreten Auflagen. Dies betrifft beispielsweise zahlreiche Pestizide und Düngemittel, die Gülleausbringung und die Umwandlung von Grünland in Ackerland. Das deutsche Wasserhaushaltsgesetz ermöglicht Ausgleichszahlungen an diejenigen Landwirte, deren Produktionsmöglichkeiten durch die Auflagen unzumutbar eingeschränkt werden. Diese Ausgleichszahlungen sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich organisiert. In Baden-Württemberg werden sie vom Staat an die Landwirte gezahlt und aus Abgaben der Wasserkonsumenten ("Wasserpfennig") finanziert, während zum Beispiel die Landwirte in Nordrhein-Westfalen direkt von den Wasserwerken entschädigt werden. Beeinträchtigung und Schutz der Bodenqualität Es gibt verschiedene Erscheinungsformen der Degradierung von Böden: Die bedeutendste ist die Bodenerosion durch Wind und Wasser, die besonders von der Hanglänge, der Hangneigung und der Bodenbedeckung und -bearbeitung abhängig ist. Von erheblicher Bedeutung sind ferner die Bodenkontamination durch eine unsachgemäße Zuführung von Nähr- und Schadstoffen, die Bodenverdichtung durch den Druck schweren Geräts wie Traktoren und Maschinen sowie eine Beeinträchtigung der Bodenstruktur durch unangemessene Bewirtschaftung, zum Beispiel unzureichende Humuspflege. Ungeeignete Bewässerungsmethoden können zur Bodenversalzung und mangelnde Entwässerung (Drainagen) zur Bodenversauerung führen. Die wachsende Inanspruchnahme von Böden durch den Wohnungs- und Straßenbau - circa 120 Hektar täglich in Deutschland - führt zu einer zunehmenden Bodenversiegelung. Um diese Probleme zu bekämpfen, wurden eine EU-Bodenschutzstrategie und in Deutschland ein Bundes-Bodenschutzgesetz geschaffen. Die Grundsätze zur "guten fachlichen Praxis" sehen vor, dass die Bodenbearbeitung unter Berücksichtigung der Witterung und standortangepasst zu erfolgen hat. Die Bodenstruktur ist zu erhalten oder zu verbessern. Bodenverdichtungen ist so weit wie möglich entgegenzuwirken, besonders durch eine Beachtung der Bodenart, Bodenfeuchtigkeit und des Bodendrucks. Einen Sonderbereich des Bodenschutzes stellt die Erhaltung der Moore dar. In den vergangenen Jahrhunderten wurden weite Moorflächen für land- und forstwirtschaftliche Zwecke kultiviert oder zur Gewinnung von Brenn- bzw. Düngetorf abgebaut. Von den ehemals 9000 Quadratkilometern Natur-Mooren in Deutschland sind heute nur noch 600 naturnah erhalten, also weniger als sieben Prozent. Zwar sind auf Länderebene Moorschutzprogramme eingeführt worden; diese sind allerdings häufig nicht unproblematisch: Erstens können die Bewirtschaftungseinschränkungen auf Moorflächen zu erheblichen Einkommenseinbußen der dort ansässigen landwirtschaftlichen Betriebe bis hin zur Existenzgefährdung führen. Zweitens wird offenbar die Minderung des Torfabbaus in Deutschland durch Importe von Torf zum Beispiel aus den baltischen Staaten, Weißrussland und der Ukraine ersetzt. Einwirkungen auf den Treibhauseffekt Ein erheblicher Teil der für die Land- und Forstwirtschaft relevanten Umweltprobleme ist in der Erdatmosphäre angesiedelt. Dies betrifft beispielsweise die Kontaminierung der Luft, etwa durch die Abdrift von Pflanzenschutzmitteln oder den sauren Regen als eine Ursache von Waldschäden. Das bedeutendste Problem in diesem Bereich stellt allerdings die Emission von Treibhausgasen mit der Folge der globalen Erwärmung dar. Der Agrarsektor ist hier sowohl Leidtragender als auch Verursacher. Ihm werden elf Prozent des Treibhauseffekts in Deutschland angelastet. Die Landwirtschaft ist hier zwar am Ausstoß von Kohlendioxid (CO2), das 88 Prozent der anthropogen freigesetzten Treibhausgase ausmacht, mit nur sechs Prozent beteiligt, verursacht aber zu 45 Prozent die Emissionen von Methan (CH4), die fünf Prozent der anthropogen freigesetzten Treibhausgase repräsentieren. Etwa zwei Drittel dieser Methanemissionen stammen aus dem Abbau organischer Verbindungen durch Mikroben im Pansen von Wiederkäuern, der Rest weitgehend aus der Lagerung von Exkrementen aller Tierarten. Knapp sieben Prozent der anthropogenen Treibhausgase bestehen aus Lachgas (N2O), das zu 82 Prozent auf landwirtschaftliche Produktionsprozesse zurückzuführen ist. Auch ein Blick auf den weltweiten Klimagasausstoß offenbart die Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft als Mitverursacher des Treibhauseffekts. So hat der Internationale Klimarat (IPCC) 2007 festgestellt, dass die Landwirtschaft global 13,5 Prozent, die Forstwirtschaft 17,4 Prozent zum Klimawandel beiträgt. Beide sind in dieser Hinsicht also nicht viel weniger bedeutend als die Industrie (19,4 Prozent) und der Energiesektor (25,9 Prozent). Auf die primär durch die Agrarproduktion emittierten Treibhausgase N2O (Lachgas) und CH4 (Methan) gehen 7,9 bzw. 14,3 Prozent des Treibhauseffekts zurück. Methan entsteht besonders durch den Anbau von Nassreis und die Rinderhaltung. Eine Verminderung des Methanausstoßes aus Nassreis ist schwer zu realisieren, weil dieser häufig von Kleinbauern angebaut wird, die hierauf zur Ernährung ihrer Familien angewiesen sind, und eine Umstellung auf andere Anbaumethoden, zum Beispiel Trockenreis, mit Ertragseinbußen verbunden wäre. Zur Reduzierung des Methanausstoßes aus den Pansen von Kühen kann deren Leistungssteigerung beitragen. Je höher die Milchmenge je Kuh, desto weniger Kühe werden benötigt, um eine gegebene Nachfrage nach Milch zu befriedigen, so dass weniger Methan emittiert wird. Klimaforscher fürchten als Folgen der Klimaänderung eine weltweite Verschiebung der Produktionszonen. Mit höheren Temperaturen werde weniger Wasser verfügbar sein, die Wüsten würden sich ausdehnen. Durch den Anstieg des Meeresspiegels erwarten sie den Verlust fruchtbarer Gebiete. Neben der Zunahme von Pflanzenkrankheiten und Pflanzenschädlingen sagen sie Schäden durch extreme Wetterereignisse wie Orkane voraus. Ertragssteigerungen werden dagegen durch die Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre erwartet, da diese den Photosyntheseprozess und damit das Pflanzenwachstum stimuliert. In den gemäßigten Zonen mögen einige Regionen zu den Gewinnern gehören, wenn diese sich den klimatischen Änderungen produktionstechnisch rasch anpassen und zudem günstigere Produktionsbedingungen zum Beispiel für den Umstieg auf ertragreichere Getreidearten erhalten wie auf Weizen statt Roggen in Norwegen. Verlierer wird insbesondere die Landwirtschaft in den Tropen und Subtropen sein, da die Ökosysteme hier empfindlicher getroffen werden und die Produktionssysteme in der Regel weniger anpassungsfähig sind. Die Land- und Forstwirtschaft kann durch eine Verminderung ihrer Emissionen zur Reduktion der Treibhausgase beitragen. Eine weitere Möglichkeit ist die Bindung von Kohlendioxid in Wäldern (durch Aufforstung), in Böden (durch eine entsprechende Bewirtschaftung, zum Beispiel pfluglose Bodenbearbeitung) und in Mooren (durch Verhinderung des Torfabbaus oder ggf. Renaturierung). Einen eigenen Bereich der Klimaschutzpolitik für die Land- und Forstwirtschaft gibt es in Deutschland bislang nicht. Auch ist hier ungeklärt, ob und wie die Land- und Forstwirtschaft am geplanten Emissionshandel teilnehmen kann. Allerdings gibt es eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die die Emission von Treibhausgasen verringern oder binden. So trägt beispielsweise die Förderung des ökologischen Landbaus (etwa im Rahmen der Agrar-umweltprogramme, siehe unten) zum Klimaschutz bei, weil er auf chemisch-synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel verzichtet und daher die Treibhausgasemission vermindert. Besonders seit durch Al Gores Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit" (2006) die Klimaproblematik stärker ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, wird vermehrt die Bereitstellung von "Agro-Bioenergie" als ein Mittel gegen die Erderwärmung propagiert, häufig ohne den damit verbunden Problemen gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken. Bioenergie und nachwachsende Rohstoffe Bioenergie aus nachwachsenden Rohstoffen als Ersatz für fossile Energieträger leistet insofern einen Beitrag zum Klimaschutz, als bei ihrer Nutzung zwar Treibhausgase freigesetzt werden, diese vorher aber durch das Pflanzenwachstum der Atmosphäre entzogen wurden. Gefördert werden daher zum Beispiel die Herstellung von Alkohol aus Rüben oder Getreide, der Einsatz von Rapsöl als Biodiesel, die Investition in (zum Beispiel Gülle und Mais verarbeitende) Biogasanlagen und die Verwertung von Holzschnitzeln oder -pellets zu Heizzwecken. Das Potenzial nachwachsender Rohstoffe zur Vermeidung von Treibhausgas wird als sehr hoch eingeschätzt; manche Autoren sprechen sogar von 200 Millionen Tonnen CO2 in der EU, was 60 Prozent des Kyoto-Reduktionsziels der EU entspräche. Durch die Förderung von Biogasanlagen soll nach Plänen der Bundesregierung zugleich ein Drittel der Methanemissionen vermieden werden, die bei der Lagerung tierischer Exkremente freigesetzt werden. Die Errichtung großer Tierhaltungsanlagen unterliegt seit 2001 einem Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Eine Minderung der Lachgasemissionen um 30 Prozent wird durch den Abbau des Stickstoffbilanzüberschusses angestrebt. Das Einspeisungsgesetz, das die Betreiber von Elektrizitätsnetzen verpflichtet, "Bio-Strom" zu einem Festpreis aufzunehmen, hat die Erzeugung von Bioenergie insofern beflügelt, als sich landwirtschaftliche Rohstoffe, insbesondere mittels Biogas, leicht in Elektrizität umwandeln lassen. Ein Beimischungszwang für Biokraftstoffe hat einen ähnlichen Effekt. Die sprunghafte Verteuerung von Agrarrohstoffen wie Getreide und Mais hat allerdings die Rohstoffkosten steigen lassen und die Investitionsfreudigkeit in diesen Bereichen gehemmt. Aber es gibt weitere, auch grundsätzliche Fragen, die durch den "Bioenergie-Boom" aufgeworfen werden. Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit hat die "Entdeckung" erfahren, dass Konkurrenzbeziehungen zwischen Nahrungsmittel- und Energieproduktion bestehen. Wenn Getreide für Biokraftstoff, Mais für Biogas und Raps für Biodiesel verwendet wird, können weder diese Produkte selbst noch die zu ihrer Produktion verwendeten Produktionsfaktoren (wie Boden, Wasser, Kapital, Arbeitskraft und Wissen) gleichzeitig zur Nahrungsmittelproduktion eingesetzt werden. Dies ist grundsätzlich nicht neu, sondern im Prinzip eine tagtägliche Wahlhandlung. Seit jeher gewinnen Bauern von ihrem Land nicht nur Brotgetreide, sondern auch Brennmaterial, und in Entwicklungsländern ist dies mancherorts nach wie vor der Fall. Moderner anmutend, aber im Grundsatz ähnlich ist die alternative Verwendung von Erdöl und Erdgas zur Produktion von ertragssteigernden Stickstoffdüngemitteln oder für Autofahren und Heizung. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass die zunehmende Nachfrage nach Agrarrohstoffen zur Bioenergieerzeugung in reichen Ländern die Probleme der Nahrungsmittelversorgung in ärmeren Ländern verschärfen kann. Ein bekanntes Beispiel ist der Import von Palmöl aus Indonesien nach Europa, wodurch dort die Knappheit und der Preis für dieses Grundnahrungsmittel steigen. Die durch die zunehmende Erzeugung von Agro-Bioenergie ausgelösten Nutzungskonkurrenzen sind vielfältig, insbesondere im Bereich der nicht beliebig vermehrbaren Ressourcen Land und Wasser. Eine wachsende Nachfrage nach Pachtland für die Erzeugung von Mais (für Biogas), Raps (für Biodiesel) oder Getreide (für Alkoholkraftstoffe) wird voraussichtlich die Pachtpreise steigen lassen und einen neuen Strukturwandel in der Landwirtschaft auslösen. In manchen Entwicklungsländern bildet Wasser den begrenzenden Produktionsfaktor, zum Beispiel in semi-ariden Gebieten wie Südindien. Hier kann der hohe Wasserverbrauch von Pflanzen zur Energieproduktion dem Anbau von Nahrungspflanzen die Wasserversorgung entziehen. Weniger relevant sind Nutzungskonkurrenzen dieser Art, wenn die Bioenergieerzeugung auf der Basis von Abfall- oder Reststoffen wie Gülle, Stroh oder Restholz erfolgt. In anderer Form können Sie dagegen in Bezug auf Naturschutz und Biodiversität auftreten. So kann ein großflächiger und die Landschaft dominierender Anbau von Pflanzen wie Mais zur Bioenergieproduktion zu einer monotonen Anbaustruktur mit entsprechenden Verlusten an Agrar-Biodiversität führen. Die Bereitstellung von Agrar-Bioenergie mindert zwar die CO2-Emission, weil die durch ihre Nutzung freiwerdende CO2-Menge - anders als im Falle fossiler Brennstoffe wie Kohle, Torf, Erdgas und Erdöl - vorher durch das Pflanzenwachstum gebunden wurde. Trotzdem ist es denkbar, dass diese Treibhausgaseinsparung durch daran gekoppelte Substitutionseffekte an anderer Stelle wieder teilweise zunichte gemacht wird. Eine Umstellung auf Bioenergieerzeugung ändert nicht automatisch auch die Konsumgewohnheiten der Nachfrager nach den dadurch aus der Produktion verdrängten Nahrungsmitteln. Wenn beispielsweise ein Landwirt in Deutschland von Milch auf Biogas umstellt, wird die von ihm nicht mehr gelieferte Milchmenge weiterhin nachgefragt und folglich von einem anderen Landwirt erzeugt werden. Kommt dieses Ersatzangebot an Milch von einem Betrieb oder aus einem anderen Land mit einer geringeren Milchleistung pro Kuh, so werden mehr Kühe benötigt werden als vorher und der Ausstoß des hoch wirksamen Treibhausgases Methan steigt hierdurch. Gefährdung und Schutz natürlicher Lebensräume Der Übergang der Landwirtschaft zu modernen Produktionsmethoden sowie der damit verbundene Strukturwandel durch Vergrößerung und Spezialisierung der Betriebe sind nicht ohne Konsequenzen für die Artenvielfalt und die Landschaft geblieben. In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden in großem Umfang landschaftsprägende und ökologisch wertvolle Elemente wie Hecken, Bäume, Streuobstbestände und Feldraine mit dem Ziel beseitigt, jede geeignete Fläche ackerbaulich zu nutzen. Außerdem erleichtern große Flächen den Einsatz leistungsstarker Landmaschinen. Häufig gaben die Landwirte die Viehhaltung auf und wandelten Grünland in Ackerland um. Darüber hinaus engten die Trockenlegung von Feuchtwiesen und die Begradigung von Bachläufen die Lebensräume für wildlebende Tiere und Pflanzen in erheblichem Umfang ein oder zerstörten sie teilweise völlig. In Ostdeutschland entstanden durch Kollektivierung und Verstaatlichung zur DDR-Zeit sehr große land- und forstwirtschaftliche Flächen mit einer wenig abwechslungsreichen Anbaustruktur. Zahlreiche Maßnahmen der Naturschutzpolitik - auch der Agrarumweltpolitik - zielen auf die Erhaltung der biologischen Vielfalt und der Landschaft, zum Beispiel die FFH-Richtlinie der EU von 1992 (FFH steht für Flora = Pflanzenwelt, Fauna = Tierwelt, Habitat = Lebensraum bestimmter Pflanzen- und Tierarten). Die FFH-Richtlinie wurde in Deutschland durch das Bundesnaturschutzgesetz in nationales Recht umgewandelt. Europaweit soll ein System von geschützten Gebieten errichtet werden (NATURA 2000). Zu diesem ökologischen Netz gehören auch die Gebiete, die aufgrund der EU-Vogelschutzrichtlinie geschützt sind. Derzeit erfolgt in den Mitgliedstaaten die Ausweisung der FFH-Gebiete. Dabei ist es den einzelnen Ländern überlassen, wie sie die Schutzziele erreichen wollen. Dies kann zum Beispiel durch Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiete oder durch vertragliche Vereinbarungen mit den Eigentümern oder Nutzern von Flächen geschehen. Für alle Planungen, die die Artenvielfalt in einem Gebiet nachhaltig beeinträchtigen können, ist eine besondere Verträglichkeitsprüfung vorgesehen. Eingriffe in Gebiete mit besonders schutzwürdigen (prioritären) Arten und Lebensräumen können nur in Ausnahmefällen genehmigt werden. In Deutschland verzögerte sich die Ausweisung der FFH-Gebiete, weil sich die Beteiligten vor Ort nicht einigen konnten. Nach einer Klage der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof musste der Prozess beschleunigt werden. Dies führte in manchen Regionen zu großen Konflikten zwischen den Behörden und den durch diese Aktion überraschten Landwirten, die wirtschaftliche Einbußen befürchteten. Daraufhin wurde nach der "EU-Verordnung zur Förderung und Entwicklung des Ländlichen Raums" eine Möglichkeit geschaffen, die betroffenen Landwirte für die Nutzungseinschränkungen finanziell zu entschädigen. Inzwischen sind in Deutschland 4 588 FFH-Gebiete mit einer Gesamtfläche von 3 309 487 Hektar ausgewiesen, die 9,3 Prozent der gesamten Landfläche ausmachen. Umweltpolitische Folgen der Agrarpolitik Der Prozess des Wirtschaftswachstums, der in Europa und in Deutschland besonders nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, führte in der Landwirtschaft zu schwierigen Einkommensproblemen und einem Abwanderungsdruck auf die Landwirte. Als Folge technischer, chemischer, biologischer, züchterischer und organisatorischer Fortschritte konnten die Landwirte auf der gleichen Fläche und mit weniger Arbeitseinsatz immer mehr produzieren. Diesem zunehmenden Angebot stand eine kaum noch wachsende Nachfrage gegenüber, die vor allem die natürliche Folge der quantitativen Sättigung der Verbraucher mit Nahrungsmitteln war. Um die Einkommen der Landwirte zu stützen und zu stabilisieren und sie vor der Aufgabe ihrer Betriebe zu bewahren, griffen die Agrarpolitiker zu Instrumenten der Markt- und Preispolitik. Sie legten die inländischen Agrarpreise oberhalb der sich auf freien Märkten herausbildenden Gleichgewichtspreise fest. Hierzu nahmen sie Ernteüberschüsse durch Lagerung aus dem Markt und hoben die Preise billiger Importe mit Hilfe von "Gleitzöllen" auf das inländische Preisniveau, das heißt durch eine variable "Abschöpfung" der Differenz zwischen den niedrigen Weltmarktpreisen und den höheren EU-Preisen. Beide Strategien, sowohl die Preisstützung als auch die Preisstabilisierung, vermittelten der Landwirtschaft ein hohes Maß an Absatzsicherheit und motivierten sie zur Intensivierung und Steigerung der Produktion. Dies erschien vergleichsweise unproblematisch, solange durch den Produktionszuwachs der Selbstversorgungsgrad bei dem jeweiligen Agrarprodukt in der EU noch nicht die 100-Prozent-Grenze erreicht hatte; denn bis zu diesem Punkt waren immer noch Importe zu tätigen, von denen der EU-Haushalt durch die oben genannten Abschöpfungseinnahmen profitierte. Oberhalb dieses Selbstversorgungsgrades war jedoch das umgekehrte Instrument anzuwenden, das heißt Exportsubventionen an die Exporteure zu zahlen, um die Überschüsse auf dem Weltmarkt absetzen zu können. Dies führte zu sehr hohen Belastungen des EU-Budgets und Handelskonflikten mit anderen Agrarexportländern (wie die USA), die schließlich in den WTO-Verhandlungen am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre eine Abkehrder EU von ihrer bisherigen Agrarmarkt- und -preispolitik forderten. Auch aus umweltpolitischer Sicht war diese Politik bedenklich. Motiviert durch die Preisstützung und die Absatzsicherheit, setzten die Landwirte immer mehr ertragssteigernde Produktionsmittel ein und verschärften so die Umweltprobleme. Dazu trug auch die Agrarstrukturpolitik bei. Das so genannte Einzelbetriebliche Investitionsförderungsprogramm erleichterte beispielsweise durch öffentliche Darlehen und Zinsverbilligungen unter anderem den Bau von Ställen. Dies führte zu einer Ausdehnung des Viehbesatzes pro Hektar und der bodenunabhängigen Veredlungsproduktion (Schweine- und Geflügelhaltung mit Futtermitteln, die nicht auf eigener Fläche erzeugt, sondern zugekauft werden). Die Folge war ein erhöhtes und häufig regional konzentriertes Gülleaufkommen. Die unvermeidbare Reform der Agrarpolitik begann 1984 mit der Einführung der Milchquotenregelung. Sie begrenzte die zulässige Milchmenge jedes einzelnen Betriebes, um die Milchüberschüsse abzubauen. In der Zuckerrübenproduktion war dies bereits vorher üblich. Es folgten bald weitere angebotsbeschränkende Schritte. 1987 wurden - zunächst auf freiwilliger, später obligatorischer Basis - Flächen stillgelegt, um Getreideüberschüsse abzubauen. Die betroffenen Landwirte wurden finanziell entschädigt. Im Jahre 1992 kam es, insbesondere als Reaktion auf den zunehmenden Druck der internationalen Handelspartner im Rahmen der WTO-Verhandlungen, zu der so genannten McSharry-Reform. Sie schränkte die Preisstützung ein und räumte den Landwirten zum Ausgleich produktionsspezifische Direktzahlungen aus dem Budget der EU ein. Dies waren feste Transferbeträge pro Hektar Weizen, Gerste, Raps oder anderer Früchte. Seit 2005 dient nicht mehr das Produkt, sondern die landwirtschaftliche Nutzfläche als Bemessungsgrundlage für die Zahlungen (decoupling). Die Prämienzahlung ist an die Einhaltung von Umwelt-, Verbraucher- und Tierschutzauflagen gebunden (cross compliance). Agrarumweltprogramme Inhalt und Struktur der Agrarumweltprogramme, die im Rahmen der McSharry-Reform 1992 eingeführt worden sind, werden durch eine entsprechende EU-Verordnung vorgegeben. Die Mitgliedstaaten, im Falle Deutschlands die Bundesländer, setzen sie anschließend um. Die Ausgleichszahlungen, die den Landwirten für die Einschränkungen bei der Bewirtschaftung gewährt werden, finanzieren je zur Hälfte das jeweilige Bundesland und die EU. Da den Bundesländern ein gewisses Maß an Gestaltungsfreiheit zugestanden wird, sind ihre Agrarumweltprogramme einander zwar ähnlich, setzen aber unterschiedliche Prioritäten. Das Agrarumweltprogramm des Landes Baden-Württemberg oder das Kulturlandschaftsprogramm in Brandenburg beispielsweise enthalten folgende Komponenten: Umweltbewusstes Betriebsmanagement, zum Beispiel durch regelmäßige Bodenanalysen als Basis für die Grundnährstoffdüngung und für die Stickstoffdüngung; Erhaltung und Pflege der Kulturlandschaft, beispielsweise durch die extensive Nutzung von Grünland; Sicherung landschaftspflegender, besonders gefährdeter Nutzungen (etwa Streuobstbestände und Weinbausteillagen); Erhaltung gefährdeter regionaltypischer Nutztierrassen; Verzicht auf chemisch-synthetische Produktions-mittel, entweder unter Beibehaltung konventio-neller Landbewirtschaftung oder im Rahmen des Ökologischen Landbaus; extensive und umweltschonende Pflanzenerzeugung, zum Beispiel durch Begrünungsmaßnahmen im Acker- und Gartenbau und den Verzicht auf Herbizide; Anlage von Gewässerrandstreifen zum Schutz gegen Nährstoffeinträge in das Wasser; Vertragsnaturschutz, das heißt vertragliche Vereinbarungen mit Landwirten, die Naturschutzleistungen gegen Entgelt erbringen. Obwohl die Agrarumweltprogramme recht beliebt sind - fünf der 17 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche in Deutschland werden durch ihre Verbreitung inzwischen umweltfreundlich bewirtschaftet, - sind sie dennoch kritisch zu betrachten. Ihre "ökologische Treffsicherheit" ist unzureichend und die eingesetzten Instrumente sind nicht effektiv genug. Dies hat verschiedene Gründe: So bevorzugen beispielsweise die Landwirte, die durch ihre Interessenvertretung die Programmgestaltung beeinflussen, in der Regel solche Maßnahmen, die keine oder geringe Änderungen ihrer Wirtschaftsweise verlangen. Die Verwaltungen räumen gewöhnlich Maßnahmen Priorität ein, die sich mit geringerem Verwaltungs- und Organisationsaufwand durchführen lassen (wie im Falle der Grünlandextensivierung). Solche Maßnahmen sind aber nur unzureichend auf die vielfältigen und komplexen Eigenschaften ökologischer Systeme abgestimmt. Zugleich attestieren Kritiker den Agrarumweltprogrammen mangelnde Effizienz. Die Ausgleichszahlungen sind in der Regel gleich hoch, unabhängig von den Ertragsmöglichkeiten des jeweiligen Standorts. Damit können die Programme die ihnen zugedachte Anreizfunktion, den Landwirten eine wirtschaftlich attraktive Alternative zur bisherigen Wirtschaftsweise zu bieten, nicht überall gleichermaßen erfüllen. Wenig effizient ist auch, dass die Gestaltung der Maßnahmen auf zentralen politischen Ebenen angesiedelt ist wie der EU-, Bundes- und Landesebene, der Umgang mit der Natur und den Ökosystemen aber gewöhnlich dezentrale Informationen und lokales Wissen erfordert (Kreis- und Dorfebene). Zukunft der Landwirtschaft Die Landwirtschaft wird sich auch in Zukunft verändern und durch sich verändernde Politikenund Institutionen beeinflusst werden. Deutlich wird dies am Beispiel der Einführung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO), zum Beispiel von gentechnisch verändertem Mais oder Weizen. Die ungewollten Übertragungen von Pollen dieser GVO auf Flächen von konventionell oder ökologisch produzierenden Betrieben, die dort zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen können, zeigen ein bisher unbekanntes Problem. Auf diese Weise "verunreinigte" Produkte können beispielsweise nicht mehr als "ökologisch erzeugt" vermarktet werden. Angesichts dieser Konfliktsituation wurden rechtsverbindliche Haftungsregeln und Festlegungen zur "guten fachlichen Praxis" beim Umgang mit GVO eingeführt. Hierdurch soll der Anbau von GVO grundsätzlich ermöglicht, die damit verbundenen negativen Effekte aber vermieden werden. Die Frage nach der technischen Realisierbarkeit einer solchen "Koexistenz" gentechnisch veränderter und gentechnikfreier Agrarproduktion - zum Beispiel mittels Abschirmung des Pollenflugs durch Gehölzstreifen - ist in der Wissenschaft und der Politik umstritten. Daher haben vielerorts Landwirte ihre Produktionsflächen freiwillig zu "gentechnikfreien Zonen" zusammengeschlossen. Allein in Deutschland gibt es 50 solcher Zonen mit über 11 000 landwirtschaftlichen Betrieben, die mehr als 430 000 Hektar Nutzfläche bewirtschaften. Der auf mehr Umweltschutz und Ressourcenschonung ausgerichtete Reformwille der europäischen Agrarpolitik hat seinen Ausdruck in einem neuen politischen Leitbild zur Gestaltung der Landwirtschaft und Entwicklung der ländlichen Räume gefunden, das mit dem Begriff der "Multifunktionalität" gekennzeichnet wird. Gemeint ist damit, dass Landwirte nicht mehr allein private Güter wie Milch oder Getreide produzieren, sondern auch zur Bereitstellung öffentlicher Güter beitragen. Dazu gehören unter anderem: gesunde Umwelt, die Erhaltung der Boden-, Wasser- und Luftqualität, biotische und genetische Vielfalt, Schönheit und Funktionsfähigkeit der Landschaft, Arbeitsmöglichkeiten in ländlichen Räumen und deren Entwicklungsfähigkeit, Ernährungssicherheit sowie Erhaltung der ländlichen Kultur. Inwieweit ein solcher Wandel der Landwirtschaft tatsächlich durch geeignete institutionelle und politische Änderungen nachhaltig erreicht werden wird, bleibt gewiss abzuwarten. Deutlicher denn je signalisieren jedoch die geschilderten brisanten Probleme und die intensive politische Diskussion darüber die Dringlichkeit, Landwirtschaft und Gartenbau, der Fisch- und Forstwirtschaft die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Die in Gesellschaft und Politik und hin und wieder auch in der Wissenschaft anzutreffende Auffassung, diese Bereiche seien wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch unwichtig geworden (offenbar weil sie - in entwickelten Ländern wie Deutschland - nur einen geringen Teil der Erwerbsbevölkerung beanspruchen und preiswerte Nahrungsmittel im Überfluss bereitstellen), spiegelt eine wenig wissensbasierte Fehleinschätzung wider. Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau und Fischerei stellen im Gegenteil ökologisch und ökonomisch einen Sektor von weltweit fundamentaler Bedeutung dar. Hierfür das Bewusstsein neu zu schärfen, ist besonders eine Aufgabe von Schulen und Universitäten. Hunger in der Welt
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Hagedorn, Konrad
2021-12-07T00:00:00
2011-09-13T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/umweltpolitik-287/9002/balanceakt-zwischen-ernaehrung-und-naturschutz-die-landwirtschaft/
Landwirtschaft sichert die Ernährung und damit ein menschliches Grundbedürfnis. Doch manche ihrer Produktionsmethoden tragen weltweit zu Schadstoffbelastung, Artenschwund und Treibhauseffekt bei. Agrarumweltprogramme versuchen, die schädlichen Auswir
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Wahlen in Bosnien-Herzegowina | Hintergrund aktuell | bpb.de
In Interner Link: Bosnien-Herzegowina sind am 12. Oktober rund 3,3 Millionen Wahlberechtigte zu landesweiten Wahlen aufgerufen. Sie können dabei nicht nur direkt über das dreiköpfige Staatspräsidium und die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses, die größere der beiden Kammern des Parlaments auf gesamtstaatlicher Ebene, entscheiden. Sondern auch über die Parlamente der beiden weitgehend autonomen Teilrepubliken, die Bosnien-Herzegowina bilden: die überwiegend von bosnischen Serben bewohnte Republika Srpska (49 Prozent des Territoriums) und die Föderation Bosnien-Herzegowina (51 Prozent des Territoriums). Diese beiden Parlamente wiederum ernennen die Mitglieder des Hauses der Völker, der zweiten, kleineren Kammer des gesamtstaatlichen Parlaments. In der Republika Srpska stehen am 12. Oktober außerdem die Wahlen zum Präsidenten und den Vize-Präsidenten dieser Teilrepublik an. Die Wahlen gelten als Richtungsentscheidung über den künftigen Kurs Bosnien-Herzegowinas, das der Europäischen Union beitreten möchte, dessen Politik aber von ethnischen Gräben, nationalistischen Forderungen und Autonomiebestrebungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geprägt ist. Eine heterogene Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas Bevölkerung besteht aus den drei großen Gruppen: der Bosniaken (48 Prozent, Stand 2000), Serben (37 Prozent) und Kroaten (14 Prozent) sowie Minderheiten wie Roma, Juden und Ukrainer. Die mit dem Zerfall Jugoslawiens 1991 begonnenen Interner Link: Kriege auf dem Balkan, die besonders von ethnischen Auseinandersetzungen geprägt waren, dehnten sich 1992 auf das Gebiet der neu gegründeten Republik Bosnien-Herzegowina aus. Das Leid der Bevölkerung und die blutigen Kämpfe während des Bosnien-Krieges (1992-1995), die Belagerung von Sarajevo, das Eingreifen der NATO und Gräueltaten wie das Interner Link: Massaker von Srebrenica, das in der Republika Srpska nahe der Grenze zu Serbien liegt, sind bis heute in Politik und Gesellschaft präsent. Das in der US-Stadt Dayton 1995 geschlossene Friedensabkommen, mit dem der Bosnien-Krieg beendet wurde, war die Grundlage für den Aufbau des Staates Bosnien-Herzegowina. Die darin enthaltene Verfassung, die das komplizierte föderale und politische System Bosnien-Herzegowinas begründet, soll das ethnopolitische Gleichgewicht wahren. So muss beispielsweise das dreiköpfige Staatspräsidium stets aus je einem Bosniaken, einem Serben und einem Kroaten bestehen. Auch das Wahlsystem in Bosnien-Herzegowina ist durch ethnische begründete Einschränkungen geprägt, Externer Link: kritisiert die OSZE in einem Bericht. Demnach entscheidet die Zugehörigkeit zu einer der drei großen Bevölkerungsgruppen, ob und wen man wählen kann und für welches Amt man kandidieren darf. 2009 hat der Interner Link: Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einer Klage gegen diese Regelung stattgegeben, weil sie all jene Staatsbürger diskriminiert, die sich keiner der drei Gruppen zugehörig fühlen. Das Urteil wurde jedoch noch nicht von Bosnien-Herzegowina umgesetzt. Bosnien-Herzegowina und die EU Noch immer sind Soldaten der EUFOR in Bosnien-Herzegowina stationiert, um das Land zu stabilisieren. (© ddp/AP) Interner Link: Viele Beobachter kritisieren einen grundsätzlichen Stillstand der Politik, was Reformen der politischen und ökonomischen Strukturen sowie eine tiefgreifende Versöhnungs- und Integrationspolitik der Bevölkerungsgruppen und Territorien Bosnien-Herzegowinas angeht. So kokettierte etwa der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der Regierungspartei SNSD in der Republika Srpska, Milorad Dodik, im Wahlkampf mit einer Abspaltung der Republik von Bosnien-Herzegowina. Die oppositionelle "Allianz für den Wandel" wirft ihm dagegen völliges Versagen vor allem in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht vor. All das zählt aber zu den Bedingungen der EU, um das Land als Beitrittskandidaten zu akzeptieren. Bisher ist Bosnien-Herzegowina nur ein potentieller Bewerber, die Beziehungen zur EU beschränken sich auf die Visafreiheit für den Schengen-Raum und gegenseitige Handelsvereinbarungen. Zudem ist die EU seit 2004 Interner Link: mit Soldaten im Rahmen einer Stabilisierungsmission (EUFOR Althea), an der sich auch Deutschland beteiligte, in dem Land vertreten. Mehr als zwei Drittel der Jugendlichen sind arbeitslos In ganz Bosnien-Herzegowina stehen die soziale Sicherheit und die wirtschaftliche Entwicklung im Mittelpunkt der meisten Wahlkampagnen. Die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt offiziellen Zahlen aus dem März 2014 zufolge mehr als 70 Prozent. Vergangenen Februar war es deswegen zu großen, landesweiten Protesten gekommen. Zudem hatte Bosnien-Herzegowina im Mai eine verheerende Hochwasserkatastrophe und im September ein schweres Grubenunglück zu bewältigen. Bürger wie ausländische Beobachter beklagen zudem, dass weite Teile der politischen Elite korrupt seien, ihre eigene Klientel vorzögen und verschwenderisch mit finanziellen Mitteln umgingen, etwa mit den Hilfsgeldern für die Opfer der Flutkatastrophe. Wegen des komplizierten Staatsgebildes und der ethnischen Proporzregeln wird eine zähe Regierungsbildung erwartet. Nach den letzten Wahlen 2010 hatte es 14 Monate gedauert, bis sich eine Sechs-Parteien-Koalition unter dem Regierungschef Vjekoslav Bevanda von der kroatisch-bosnischen Partei HDZ BiH auf eine Zusammenarbeit geeinigt hatte. Bosnien-Herzegowina Lage: Bosnien und Herzegowina liegt in Südosteuropa und verfügt über einen nur 28 Kilometer langen Küstenstreifen an der Adria. Das Land grenzt im Westen, Norden und Süden an Kroatien; außerdem bestehen Grenzen zu Serbien im Osten und Montenegro im Südosten. Größe: Auf einer Gesamtfläche von rund 52.000 Quadratkilometern leben in Bosnien und Herzegowina etwa 3,8 Millionen Menschen, rund 304.000 davon in der Hauptstadt Sarajewo. Sprachen und Religionen: Bosnisch, Serbisch und Kroatisch sind die Landessprachen Bosnien und Herzegowinas. Die größte Religionsgruppe stellen Muslime (45 Prozent, Stand 2006) vor Orthodoxen (36 Prozent) und Katholiken (15 Prozent). Dabei entspricht die Religionszugehörigkeit meist der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe: Muslime sind überwiegend Bosniaken, Orthodoxe größtenteils Serben und Katholiken überwiegend Kroaten. Weitere Informationen finden Sie hier: Interner Link: Bosnien-Herzegowina – Das Land in Daten Mehr zum Thema: Interner Link: Holm Sundhausen: Der Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen Interner Link: Stefan Troebst: Das andere 1989: Balkanische Antithesen Noch immer sind Soldaten der EUFOR in Bosnien-Herzegowina stationiert, um das Land zu stabilisieren. (© ddp/AP) Lage: Bosnien und Herzegowina liegt in Südosteuropa und verfügt über einen nur 28 Kilometer langen Küstenstreifen an der Adria. Das Land grenzt im Westen, Norden und Süden an Kroatien; außerdem bestehen Grenzen zu Serbien im Osten und Montenegro im Südosten. Größe: Auf einer Gesamtfläche von rund 52.000 Quadratkilometern leben in Bosnien und Herzegowina etwa 3,8 Millionen Menschen, rund 304.000 davon in der Hauptstadt Sarajewo. Sprachen und Religionen: Bosnisch, Serbisch und Kroatisch sind die Landessprachen Bosnien und Herzegowinas. Die größte Religionsgruppe stellen Muslime (45 Prozent, Stand 2006) vor Orthodoxen (36 Prozent) und Katholiken (15 Prozent). Dabei entspricht die Religionszugehörigkeit meist der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe: Muslime sind überwiegend Bosniaken, Orthodoxe größtenteils Serben und Katholiken überwiegend Kroaten. Weitere Informationen finden Sie hier: Interner Link: Bosnien-Herzegowina – Das Land in Daten
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-11-01T00:00:00
2014-10-09T00:00:00
2021-11-01T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/192750/wahlen-in-bosnien-herzegowina/
Das komplexe politische System Bosnien-Herzegowinas spiegelt die heterogene Zusammensetzung seiner Bevölkerung wider. Nun steht das südosteuropäische Land vor Wahlen, die entscheidend für seinen künftigen Kurs sein werden.
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VI. Die Bundesregierung | Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland | bpb.de
Artikel 62[Zusammensetzung] Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern. Artikel 63[Wahl des Bundeskanzlers] (1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. (2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. (3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen. (4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Artikel 64[Ernennung und Entlassung der Bundesminister – Amtseid] (1) Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. (2) Der Bundeskanzler und die Bundesminister leisten bei der Amtsübernahme vor dem Bundestage den in Artikel 56 vorgesehenen Eid. Artikel 65[Richtlinienkompetenz, Ressort- und Kollegialprinzip] Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung. Artikel 65a[Befehls- und Kommandogewalt] (1) Der Bundesminister für Verteidigung hat die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte. (2) (weggefallen) Artikel 66[Unvereinbarkeiten] Der Bundeskanzler und die Bundesminister dürfen kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben und weder der Leitung noch ohne Zustimmung des Bundestages dem Aufsichtsrate eines auf Erwerb gerichteten Unternehmens angehören. Artikel 67[Mißtrauensvotum] (1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen. Artikel 68[Vertrauensfrage] (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. (2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen. Artikel 69[Stellvertreter des Bundeskanzlers – Amtsdauer] (1) Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter. (2) Das Amt des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers endigt in jedem Falle mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages, das Amt eines Bundesministers auch mit jeder anderen Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers. (3) Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen. Quelle: Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz, juris GmbH, www.gesetze-im-internet.de, 2020.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-02-04T00:00:00
2011-11-30T00:00:00
2022-02-04T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/menschenrechte/grundgesetz/44193/vi-die-bundesregierung/
Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.
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Das Normalarbeitsverhältnis | Arbeitsmarktpolitik | bpb.de
Merkmale eines Normalarbeitsverhältnisses Die definitorischen Abgrenzungen, die hierzu in der Wissenschaft vorgenommen werden, variieren zwischen den verschiedenen Autoren leicht. Auch haben sich im Zeitverlauf die vorgenommenen Abgrenzungen verändert. So hat beispielsweise das Statistische Bundesamt bis vor wenigen Jahren eine Vollzeitbeschäftigung als wesentliches Kriterium für ein Normalarbeitsverhältnis angesehen, mittlerweile gilt bereits eine Beschäftigung mit einem Umfang ab 21 Wochenstunden als Normalarbeitsverhältnis. Insgesamt kennzeichnen folgende Merkmale ein Normalarbeitsverhältnis: eine regelmäßige und subsistenzsichernde Vergütung, ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis, eine Vollzeit- oder vollzeitnahe Beschäftigung, eine unselbständiges sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, keine Leiharbeit, die Möglichkeit zur kollektiven Interessenvertretung sowie eine räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung des Arbeitnehmers. Für die statistische Berichterstattung und zur trennscharfen Abgrenzung definiert auch das Statistische Bundesamt das Normalarbeitsverhältnis: Normalarbeitsverhältnis Unter einem Normalarbeitsverhältnis wird ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis verstanden, das in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird. Ein Normalarbeitnehmer arbeitet zudem direkt in dem Unternehmen, mit dem er einen Arbeitsvertrag hat. Bei Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern, die von ihrem Arbeitgeber – der Zeitarbeitsfirma – an andere Unternehmen verliehen werden, ist das nicht der Fall. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis sind weiterhin voll in die sozialen Sicherungssysteme wie Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Krankenversicherung integriert. Das heißt, sie erwerben über die von ihrem Erwerbseinkommen abgeführten Beiträge Ansprüche auf Leistungen aus den Versicherungen (oder haben entsprechende Ansprüche als Beamter). Quelle: Statistisches Bundesamt Externer Link: www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Glossar/normalarbeitsverhaeltnis.html Das Normalarbeitsverhältnis ist von individueller sowie gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Auf individueller Ebene verknüpft sich mit dem Normalarbeitsverhältnis eine Reihe von gesetzlichen und tariflichen Schutzbestimmungen. Ulrich Mückenberger hat es deswegen auch als dasjenige Arbeitsverhältnis bezeichnet, das optimal die Kriterien erfüllt, an die die geltende Rechtsordnung vorteilhafte Regelungen knüpft. So orientiert sich die Regulierung der Arbeitsbeziehungen am Normalarbeitsverhältnis. Die Sozialversicherungen und das Steuersystem finanzieren sich über Erwerbsbeteiligung und sind auf Beiträge und Steuern der Beschäftigten angewiesen. Beispielweise geht das Rentensystem von einer kontinuierlichen Vollzeiterwerbstätigkeit aus und Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung sind an die Dauer der vorherigen Erwerbstätigkeit geknüpft. Normalität kann es auch deshalb erlangen, weil es auf individueller Ebene die vorherrschende Form der Erwerbsarbeit ist und für die Mehrheit der Bevölkerung Gültigkeit besitzt. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hat das Normalarbeitsverhältnis eine Ordnungs- und Orientierungsfunktion und die dauerhafte und kontinuierliche Erwerbsbiografie wird zur handlungsleitenden Maxime. Hinter dem Begriff des Normalarbeitsverhältnisses verbergen sich deswegen zwei unterschiedliche Bedeutungen: Normalarbeitsverhältnis Einerseits kann das Normalarbeitsverhältnis einen rein deskriptiven Bedeutungsgehalt aufweisen, indem es sich empirisch auf das tatsächlich typische (im Sinne des mehrheitlich vorherrschenden) Beschäftigungsmuster bezieht. Andererseits lässt sich das Normalarbeitsverhältnis als normatives Konzept verstehen, das als Orientierungsgrundlage rechtlicher Vorschriften im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts fungiert und somit wesentlich zur Verteilung von Lebenschancen beiträgt. Giesecke, Johannes (2006): Arbeitsmarktflexibilisierung und Soziale Ungleichheit. Wiesbaden: VS-Verlag. S. 56 Normalarbeit, atypisch, prekär Der Begriff des Normalarbeitsverhältnisses wurde in den 1980er Jahren auch genutzt, um die zunehmende Verbreitung atypischer Erwerbsformen und Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu beschreiben. Zu den atypischen Beschäftigungsformen werden – in Abgrenzung vom Normalarbeitsverhältnis – Teilzeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger Arbeitsstunden pro Woche, geringfügige Beschäftigungen, befristete Beschäftigungen sowie Zeitarbeitsverhältnisse gezählt. Atypische Erwerbsformen weichen zwar von vielen Standards des Normalarbeitsverhältnisses ab, müssen jedoch nicht mit einer problematischen Lage auf dem Arbeitsmarkt einhergehen oder mit individuellen Risiken verbunden sein. Trotz des zunächst negativ klingenden Worts "atypisch" können sie bewusst gewählt werden, um beispielweise Familie und Beruf besser miteinander zu vereinbaren und sind damit aus Sicht der Beschäftigten positiv. Zur Beschreibung von Problemlagen am Arbeitsmarkt sind daher in den letzten Jahren die Begriffe Prekariat und prekäre Beschäftigungsverhältnisse in die wissenschaftliche und politische Debatte eingeführt worden. Prekariat Prekarität beinhaltet die Unterschreitung von materiellen Standards,von durch Arbeits- und Sozialrecht, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung festgelegten rechtlichen Standards sowievon "normalen" betrieblichen Integrationsstandards, die vor allem in der geringen Einbindung in kollegiale Strukturen und der eingeschränkten Repräsentanz durch betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretungen zum Ausdruck kommt." Mayer-Ahuja, Nicole (2003). Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen "Normalarbeitsverhältnis" zu prekärer Beschäftigung seit 1973; Berlin, S. 15. Atypische Beschäftigung kann häufig mit prekärer Beschäftigung einhergehen, ist mit dieser aber nicht gleichzusetzen. Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind nicht durchweg als prekär anzusehen, da ihre Auswirkungen neben dem Individualeinkommen von Kontextfaktoren sowie von ihrer rechtlich-institutionellen Ausgestaltung abhängen. Bei der Einstufung als prekär sind auch persönliche Lebensumstände des Arbeitnehmers, wie die bisherige Erwerbsbiografie und der Haushaltskontext, zu beachten. Prekäre Beschäftigung beinhaltet im Gegensatz zur atypischen Beschäftigung immer auch eine subjektive Komponente. Definition Prekäre Beschäftigung Als prekär kann ein Arbeitsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das gesellschaftlich als Standard definiert ist. Prekär ist eine Erwerbsarbeit auch, wenn sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten unterläuft. Atypische Beschäftigungsverhältnisse müssen nicht prekär sein. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Bonn. S. 17 Die Verbreitung bzw, Eindämmung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse gehen in der Regel auf Veränderungen rechtlicher Regelungen zurück. Dabei zeigt ein kurzer Blick in die jüngste Vergangenheit, dass die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen einer Achterbahnfahrt gleicht. Kurzer historischer Rückblick Das Normalarbeitsverhältnis beschrieb bereits in seiner „Blütezeit“ nie eine empirische Realität für alle Beschäftigtengruppen, sondern orientierte sich am Ideal des männlichen Interner Link: Ernährermodells , also an einem Familienbild, in dem der Mann als Allein- bzw. zumindest Hauptversorger seiner Familie auftritt. Dadurch festigten sich traditionelle Geschlechterbeziehungen. Vor allem Frauen, aber auch Migranten, profitierten als Beschäftigte während des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er und 1960er Jahre kaum von den sozialen Errungenschaften, die sich mit dem Normalarbeitsverhältnis verbanden. Das dichte Netz an Regulierungen, welches man während der 1960er Jahre schuf und sich für die männliche Erwerbsbevölkerung im Normalarbeitsverhältnis ausdrückte, wurde mit dem Einsetzen wirtschaftlicher Rezessionen 1973/74 und 1981/82 (siehe hierzu den Text: Interner Link: Angebot und Nachfrage: Entwicklungstrends des Arbeitskräfteangebotes bis 1990) in der neoliberal geprägten Volkswirtschaftslehre und den Anfang der 1980er Jahre in den meisten großen Volkswirtschaften regierenden konservativen Parteien als Erschwernis bei der Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen interpretiert. In den 1980er Jahre wurde in der Bundesrepublik durch die CDU/CSU/FDP Koalition eine erste Phase der Deregulierung eingeleitet. Diese führte zu einer Reduktion der sozialen Sicherungsleistungen, die mit dem Normalarbeitsverhältnis verknüpft waren. Es kam nicht zu einem umfassenden Abbau der Privilegien des Normalarbeitsverhältnisses, sondern das Ziel war die Erhöhung der externen Flexibilität durch Ausdehnung alternativer Erwerbsformen, um bessere Eintrittschancen für Arbeitslose zu schaffen. Diese Phase der Deregulierung und Flexibilisierung kumulierte im Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 und im Einsetzen einer „unabhängigen Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen“ („Deregulierungskommission“) im Jahr 1987. Ziel des Beschäftigungsförderungsgesetzes war der Abbau von Hemmschwellen gegenüber Neueinstellungen. Kernbestimmung war die erleichterte Zulassung befristeter Arbeitsverträge. Flankierende Instrumente des Gesetzes waren zum einen die erstmalige gesetzliche Regelung von zwei Formen der Teilzeitarbeit, nämlich der "Anpassung der Arbeitszeit an den Arbeitsanfall" ("Arbeit auf Abruf") hinsichtlich Dauer, Lage und Abruffrist sowie der Arbeitsplatzteilung zwischen zwei oder mehreren Arbeitnehmern ("Job Sharing"). Zum anderen die Verlängerung der zulässigen Überlassungsdauer eines Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher; die Empfehlung an Betriebe, Überstunden der bereits Beschäftigten durch befristete Neueinstellungen abzulösen sowie die Erhöhung der Schwellenwerte beim Abschluss von Sozialplanregelungen im Kündigungsschutzgesetz. Weitere zentrale Deregulierungsgesetze waren unter anderem die Ausweitung des Ladenschlusses 1989 und 1996 (sowie 2003 unter der damaligen Bundesregierung von SPD und Grünen), das Arbeitszeitrechtsgesetz 1994 (u.a. erweiterte Ausnahmen für zulässige Sonn- und Feiertagsarbeit), die Aufhebung des Alleinvermittlungsrechts der Bundesagentur für Arbeit (damals noch Bundesanstalt für Arbeit) und die Zulassung gewerbsmäßiger Arbeitsvermittlung sowie die Verlängerung der Überlassungshöchstdauer in der Leiharbeit von sechs auf neun Monate 1994 und insbesondere das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996. Hier wurde u.a. der Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes auf Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten (vorher mehr als fünf) eingeschränkt. Die soziale Auswahl bei betriebsbedingten Kündigungen wurde auf bestimmte Kriterien beschränkt und die Möglichkeit eröffnet, mit dem Betriebsrat eine verbindliche Namensliste der zu Kündigenden auszuhandeln. Auch wurden Befristungsmöglichkeiten ohne Sachgrund erweitert, die Höchstdauer befristeter Beschäftigung von 18 auf 24 Monate verlängert und die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall von 100 auf 80 Prozent abgesenkt. Das Arbeitsförderungs-Reformgesetz von 1997 schließlich ermöglichte die Verlängerung der Überlassungshöchstdauer bei Leiharbeit von sechs auf zwölf Monate und die Befristung des Vertrages. Allerdings gab es auch eine Vielzahl neuer Regelungen, die nicht in das Etikett der Deregulierung passten, z.B. das Bundeserziehungsgeldgesetz 1985, das Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung 1994, das Gesetz über den Nachweis der für ein Arbeitsverhältnis geltenden wesentlichen Bedingungen 1995, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz 1996, das Gesetz über Europäische Betriebsräte 1996 und das Arbeitsschutzgesetz 1996. Wesentlich verändert wurden das Recht der Kündigungsfristen im BGB 1993, das Recht der Entgeltfortzahlung 1994 und die Bestimmungen zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen im BGB 1994 und 1998. Allerdings waren diese Regulierungsmaßnahmen auf Grund von EU-Recht oder Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes überwiegend nötig geworden. Nach dem Wahlerfolg von Rot-Grün 1998 wurden durch das so genannte "Korrekturgesetz" viele der durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 eingeführten Deregulierungen wieder rückgängig gemacht, so die Regelungen zur sozialen Auswahl im Rahmen der betriebsbedingten Kündigung, die Reduzierung des Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes und die Absenkung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Allerdings werden seither bei der Bemessung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts Überstundenvergütungen nicht mehr berücksichtigt. Das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (ab Januar 2001 in Kraft) setzte einige EU-Richtlinien zu Mindeststandards für befristete Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit um. Eingeführt hat das Teilzeit- und Befristungsgesetz den Anspruch eines Arbeitnehmers auf Teilzeitarbeit und es regelte auch die befristete Beschäftigung neu. Danach konnte ein auf bestimmte Zeit geschlossener Arbeitsvertrag entweder kalendermäßig befristet oder zweckbefristet sein. Mit den "Hartz-Gesetzen" kam es in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zu einer deutlichen Kehrtwende zurück zur Deregulierungspolitik. Erklärtes Ziel war der Ausbau des Niedriglohnsektors durch atypische Beschäftigungsverhältnisse, um somit Eintrittshürden auf dem Arbeitsmarkt zu senken und auf diesem Wege die zu diesem Zeitpunkt hohe Arbeitslosigkeit zur reduzieren. Beispiele sind die Deregulierung der Leiharbeit (durch die Abschaffung der Begrenzung der Höchstdauer und den Wegfall des Synchronisationsverbots), eine Lockerung des Kündigungsschutzes und die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung durch „Hartz II“. Zudem verstärkte man durch strenge Zumutbarkeitskriterien im Rahmen der öffentlichen Arbeitsvermittlung den Druck auf die Beschäftigten, fast jede Arbeit anzunehmen. Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe wurde durch Absenkung der maximalen Bezugsdauer zugunsten einer weiteren Flexibilisierung aufgegeben. Das Leistungsniveau der neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende lag unter der Arbeitslosenhilfe und orientierte sich an der Sozialhilfe und sollte nur noch zur Existenzsicherung dienen. Aus dem Normalarbeitsverhältnis abgeleitete soziale Sicherheitsversprechen, wie die dauerhafte Versorgung bei Arbeitslosigkeit, zunächst durch das Arbeitslosengeld und dann durch die Arbeitslosenhilfe, auf einem Niveau, das sich am vorherigen Erwerbseinkommen orientierte, wurden damit aufgeben. ZitatBundeskanzler Gerhard Schröder "Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt." Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005. Die letzten Jahre waren dagegen wieder geprägt von einer Phase der Re-Regulierung, wobei allerdings nicht alle getroffenen Maßnahmen zu einer Stärkung des Normalarbeitsverhältnisses führten. Mit verschiedenen gesetzlichen Regelungen wurde der Ausbau der Kinderbetreuung vorangetrieben. Mit dem Mindestlohngesetz (MiLoG) wurde zum 1.1.2015 in Deutschland ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Das am 1. April 2017 in Kraft getretene neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz beschränkt die gesetzliche Überlassungshöchstdauer auf 18 Monate. Equal Pay ist nach neun Monaten verpflichtend und der Einsatz von Leiharbeitskräften als Streikbrecher wurde verboten. Für diejenigen, die ihre Arbeitszeit zeitlich begrenzt verringern möchten, wurde mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts – Einführung einer Brückenteilzeit im Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) zum 1. Januar 2019 ein allgemeiner gesetzlicher Anspruch auf zeitlich begrenzte Teilzeitarbeit (Brückenteilzeit) eingeführt. Erwerbstätige nach Erwerbsformen Wie stellen sich die beschriebenen Entwicklungen in Zahlen dar? Die Tabelle gibt einen Gesamtüberblick über die Entwicklung der Erwerbstätigkeit nach Beschäftigungsformen in Deutschland. Die einzelnen atypischen Beschäftigungsformen werden an anderer Stelle ausführlich betrachtet. Unter einem Normalarbeitsverhältnis wird ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis verstanden, das in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird. Ein Normalarbeitnehmer arbeitet zudem direkt in dem Unternehmen, mit dem er einen Arbeitsvertrag hat. Bei Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern, die von ihrem Arbeitgeber – der Zeitarbeitsfirma – an andere Unternehmen verliehen werden, ist das nicht der Fall. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis sind weiterhin voll in die sozialen Sicherungssysteme wie Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Krankenversicherung integriert. Das heißt, sie erwerben über die von ihrem Erwerbseinkommen abgeführten Beiträge Ansprüche auf Leistungen aus den Versicherungen (oder haben entsprechende Ansprüche als Beamter). Quelle: Statistisches Bundesamt Externer Link: www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Glossar/normalarbeitsverhaeltnis.html Einerseits kann das Normalarbeitsverhältnis einen rein deskriptiven Bedeutungsgehalt aufweisen, indem es sich empirisch auf das tatsächlich typische (im Sinne des mehrheitlich vorherrschenden) Beschäftigungsmuster bezieht. Andererseits lässt sich das Normalarbeitsverhältnis als normatives Konzept verstehen, das als Orientierungsgrundlage rechtlicher Vorschriften im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts fungiert und somit wesentlich zur Verteilung von Lebenschancen beiträgt. Giesecke, Johannes (2006): Arbeitsmarktflexibilisierung und Soziale Ungleichheit. Wiesbaden: VS-Verlag. S. 56 Prekarität beinhaltet die Unterschreitung von materiellen Standards,von durch Arbeits- und Sozialrecht, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung festgelegten rechtlichen Standards sowievon "normalen" betrieblichen Integrationsstandards, die vor allem in der geringen Einbindung in kollegiale Strukturen und der eingeschränkten Repräsentanz durch betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretungen zum Ausdruck kommt." Mayer-Ahuja, Nicole (2003). Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen "Normalarbeitsverhältnis" zu prekärer Beschäftigung seit 1973; Berlin, S. 15. Als prekär kann ein Arbeitsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das gesellschaftlich als Standard definiert ist. Prekär ist eine Erwerbsarbeit auch, wenn sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten unterläuft. Atypische Beschäftigungsverhältnisse müssen nicht prekär sein. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Bonn. S. 17 "Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt." Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005. Im Jahr 2018 gab es in Deutschland 37,3 Millionen Erwerbstätige, die sich nicht in Bildung oder Ausbildung befanden. Gegenüber 1991 entspricht das einem Anstieg um sieben Prozent oder 2,6 Millionen Erwerbstätigen. 26,2 Millionen der Erwerbstätigen waren in der Definition des Statistischen Bundesamtes (inkl. Teilzeitbeschäftigter über 20 Wochenstunden) in einem Normalarbeitsverhältnis. Die Gesamtzahl der Normalarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer war bis 2006 kontinuierlich sinkend, steigt seither aber wiederum kontinuierlich an. Der Anteil der Normalarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer an den Kernerwerbstätigen insgesamt betrug 1991 fast 78 Prozent, sank auf nur noch knapp über 65 Prozent in den Jahren 2006 bis 2010 und ist bis zum Jahr 2018 wieder auf knapp über 70 Prozent angestiegen. Besonders eklatant sind die Steigerungen im Bereich der Teilzeitbeschäftigten über 20 Wochenstunden (gesamt um mehr als das Doppelte und anteilig von fünf auf über zehn Prozent). Auch die Zahl der atypisch Beschäftigten ist mit über drei Millionen insgesamt stark angestiegen. Der Anteil atypisch Beschäftigter stieg von 12,8 auf über 20 Prozent. Anteilig am stärksten ist hierbei der Zuwachs geringfügiger Beschäftigung. Ihr Anteil steigt von 1,9 auf 5,5 Prozent, wobei er auf dem Höhepunkt 2007 bereits acht Prozent betragen hatte. Die Gründe für den Wandel der Erwerbsformen sind vielfältig. Neben den beschriebenen Entwicklungen der rechtlichen Rahmenbedingungen, der konjunkturellen Entwicklung, dem Produktivitätsfortschritt und dem gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel haben auch die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen und veränderte Arbeitnehmer- und Arbeitgeberpräferenzen den Wandel der Erwerbsformen befördert. Die steigende Erwerbsneigung der Frauen manifestierte sich beispielweise vor allem im Zuwachs der Teilzeitbeschäftigung und bei den Minijobs. Diese atypischen Beschäftigungsverhältnisse werden von Frauen häufig gewählt, da auf Frauen in der Regel die Hauptlast bei der Vereinbarung von Familie und Beruf liegt. Quellen / Literatur Zu den einzelnen Erwerbsformen verweisen wir auch auf die dortigen Literaturempfehlungen. Zu atypischer Beschäftigung insgesamt sowie zu prekärer Beschäftigung verweisen auf entsprechende Literaturübersichten des IAB, die laufend aktualisiert werden: Externer Link: Infoplattform atypische Beschäftigung Externer Link: Infoplattform prekäre Beschäftigung Wichtige Informationen zum Thema finden sich auch in den Externer Link: Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung. Bosch, Gerhard (2013): Normalarbeitsverhältnis. In: Hirsch-Kreinsen, Hartmut; Minssen, Heiner (Hrsg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. Berlin. S. 376-382. Brehmer, Wolfram; Seifert, Hartmut (2008): Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär? Eine empirische Analyse sozialer Risiken. In: Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung 41 (4), S. 501-531. Brinkmann, Ulrich; Dörre, Klaus; Röbenack, Silke; Kraemer, Klaus; Speidel, Frederic (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Gutachten für die Friedrich – Ebert - Stiftung. Bonn. Deutscher Bundestag (2019): Aktuelle Daten zum Normalarbeitsverhältnis. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 19/12558. Deutscher Juristentag (2010): Beschlüsse des 68. Deutschen Juristentages Berlin 2010. Berlin. Dietz, Martin; Walwei, Ulrich (2006): Beschäftigungswirkungen des Wandels der Erwerbsformen. In: WSI-Mitteilungen 56 (5): 278-286. Dombois, Rainer (1999): Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis. Aus Politik und Zeitgeschichte 37/1999: 13-20. Gensicke, Miriam; Herzog-Stein, Alexander; Seifert, Hartmut; Tschersich Nikolai (2010): Einmal atypisch, immer atypisch beschäftigt? Mobilitätsprozesse atypischer und normaler Arbeitsverhältnisse im Vergleich. WSI-Mitteilungen 4: 179-187. Hoffmann, Edeltraut; Walwei, Ulrich (1998): Normalarbeitsverhältnis: ein Auslaufmodell? Überlegungen zu einem Erklärungsmodell für den Wandel der Beschäftigungsformen. MittAB 31 (3): 409–425. Kress, Ulrike (1998): Vom Normalarbeitsverhältnis zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Ein Literaturbericht. MittAB 31 (3): 488–505. Mayer-Ahuja, Nicole (2003): Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen "Normalarbeitsverhältnis" zu prekärer Beschäftigung seit 1973. Berlin: Sigma. Mückenberger, Ulrich (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Zeitschrift für Sozialreform 31 (7): 415-435 und 457-475. Mückenberger, Ulrich (2010): Krise des Normalarbeitsverhältnisses - ein Umbauprogramm. Zeitschrift für Sozialreform 56 (4): 403-420. Oschmiansky, Heidi (2007). Der Wandel der Erwerbsformen und der Beitrag der Hartz-Reformen: Berlin und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. WZB Discussion Paper 2007-104. Pierenkemper, Toni (2013): Quo vadis Normalarbeitsverhältnis? Bestandsaufnahme und Zukunftsüberlegungen aus wirtschaftshistorischer Perspektive. In Hinte; Holger; Zimmermann Klaus F. (Hrsg.): Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt. Wie der demografische Wandel die Erwerbsgesellschaft verändert. bpb Schriftenreihe Band 1292. Bonn. S, 383-405. Schmeißer, Claudia; Stuth, Stefan; Behrend, Clara; Budras, Robert; Hipp, Lena; Leuze, Kathrin; Giesecke, Johannes (2012): Atypische Beschäftigung in Europa 1996-2009. WZB Discussion papers P 2012-001. Berlin. Vogel, Berthold (2008): Prekarität und Prekariat – Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten. Aus Politik und Zeitgeschichte 33-34: 12-18 . Zu den einzelnen Erwerbsformen verweisen wir auch auf die dortigen Literaturempfehlungen. Zu atypischer Beschäftigung insgesamt sowie zu prekärer Beschäftigung verweisen auf entsprechende Literaturübersichten des IAB, die laufend aktualisiert werden: Externer Link: Infoplattform atypische Beschäftigung Externer Link: Infoplattform prekäre Beschäftigung Wichtige Informationen zum Thema finden sich auch in den Externer Link: Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung. Bosch, Gerhard (2013): Normalarbeitsverhältnis. In: Hirsch-Kreinsen, Hartmut; Minssen, Heiner (Hrsg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. Berlin. S. 376-382. Brehmer, Wolfram; Seifert, Hartmut (2008): Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär? Eine empirische Analyse sozialer Risiken. In: Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung 41 (4), S. 501-531. Brinkmann, Ulrich; Dörre, Klaus; Röbenack, Silke; Kraemer, Klaus; Speidel, Frederic (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Gutachten für die Friedrich – Ebert - Stiftung. Bonn. Deutscher Bundestag (2019): Aktuelle Daten zum Normalarbeitsverhältnis. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 19/12558. Deutscher Juristentag (2010): Beschlüsse des 68. Deutschen Juristentages Berlin 2010. Berlin. Dietz, Martin; Walwei, Ulrich (2006): Beschäftigungswirkungen des Wandels der Erwerbsformen. In: WSI-Mitteilungen 56 (5): 278-286. Dombois, Rainer (1999): Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis. Aus Politik und Zeitgeschichte 37/1999: 13-20. Gensicke, Miriam; Herzog-Stein, Alexander; Seifert, Hartmut; Tschersich Nikolai (2010): Einmal atypisch, immer atypisch beschäftigt? Mobilitätsprozesse atypischer und normaler Arbeitsverhältnisse im Vergleich. WSI-Mitteilungen 4: 179-187. Hoffmann, Edeltraut; Walwei, Ulrich (1998): Normalarbeitsverhältnis: ein Auslaufmodell? Überlegungen zu einem Erklärungsmodell für den Wandel der Beschäftigungsformen. MittAB 31 (3): 409–425. Kress, Ulrike (1998): Vom Normalarbeitsverhältnis zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Ein Literaturbericht. MittAB 31 (3): 488–505. Mayer-Ahuja, Nicole (2003): Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen "Normalarbeitsverhältnis" zu prekärer Beschäftigung seit 1973. Berlin: Sigma. Mückenberger, Ulrich (1985): Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Zeitschrift für Sozialreform 31 (7): 415-435 und 457-475. Mückenberger, Ulrich (2010): Krise des Normalarbeitsverhältnisses - ein Umbauprogramm. Zeitschrift für Sozialreform 56 (4): 403-420. Oschmiansky, Heidi (2007). Der Wandel der Erwerbsformen und der Beitrag der Hartz-Reformen: Berlin und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. WZB Discussion Paper 2007-104. Pierenkemper, Toni (2013): Quo vadis Normalarbeitsverhältnis? Bestandsaufnahme und Zukunftsüberlegungen aus wirtschaftshistorischer Perspektive. In Hinte; Holger; Zimmermann Klaus F. (Hrsg.): Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt. Wie der demografische Wandel die Erwerbsgesellschaft verändert. bpb Schriftenreihe Band 1292. Bonn. S, 383-405. Schmeißer, Claudia; Stuth, Stefan; Behrend, Clara; Budras, Robert; Hipp, Lena; Leuze, Kathrin; Giesecke, Johannes (2012): Atypische Beschäftigung in Europa 1996-2009. WZB Discussion papers P 2012-001. Berlin. Vogel, Berthold (2008): Prekarität und Prekariat – Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten. Aus Politik und Zeitgeschichte 33-34: 12-18 .
Article
Frank Oschmiansky
2022-01-12T00:00:00
2020-10-14T00:00:00
2022-01-12T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/317174/das-normalarbeitsverhaeltnis/
Das Normalarbeitsverhältnis ist das vorherrschende Leitbild in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Der Begriff beschreibt eine unbefristete, sozial abgesicherte, tariflich entlohnte Vollzeit- bzw. vollzeitnahe Tätigkeit.
[ "Normalarbeitsverhältnis", "Vollzeittätigkeit" ]
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Brasilien in Zahlen | Brasilien | bpb.de
Das Land in Daten Fläche 8.547.404 km2 (Weltrang: 5) Einwohner 196.655.000 = 23 je km2 (Stand 2011, Weltrang: 5) Hauptstadt Brasília (Brasilia) Amtssprachen Portugiesisch Bruttoinlandsprodukt 2493 Mrd. US-$; realer Zuwachs: 2,7% Bruttosozialprodukt (BSP, pro Einwohner und Jahr) 10.720 US-$ Währung 1 Real (R$) = 100 Centavos Botschaft Wallstr. 57, 10179 Berlin Telefon 030 726280, Fax 030 72628320 Externer Link: http://berlim.itamaraty.gov.br Regierung Staats- u. Regierungschef: Dilma Rousseff, Äußeres: Antonio Patriota Nationalfeiertag 7.9. Verwaltungsgliederung 26 Bundesstaaten und Hauptstadt-Bundesdistrikt Staats- und Regierungsform Verfassung von 1988Präsidiale BundesrepublikParlament (Congresso Nacional): Abgeordnetenhaus (Câmara dos Deputados) mit 513 Mitgliedern, Wahl alle 4 J.; Senat (Senado Federal) mit 81 für 8 J. gew. Mitglieder, Teilwahl alle 4 J.Direktwahl des Staatsoberhaupts alle 4 J. (einmalige Wiederwahl)Wahlrecht ab 16 J.; Wahlpflicht von 18-69 J. Bevölkerung Brasilianerletzte Zählung 2010: 190.755.799 Einw.50% europäischer, 43% afrikanisch-europäischer, 6% afrikanischer Abstammung, 0,7% Indigene (rd. 225 Ethnien) Städte (mit Einwohnerzahl) (Stand 2010) São Paulo 11.125.243 Einw. (A 20 Mio.), Rio de Janeiro 6.323.037 (A 12 Mio.), Salvador 2.675.875, Brasília 2.476.249, Fortaleza 2.447.409, Belo Horizonte 2.375.444, Manaus 1.793.416, Curitiba 1.746.896, Recife 1.536.934, Pôrto Alegre 1.409.939, Belém 1.380.836, Goiânia 1.296.969, Guarulhos 1.222.357, Campinas 1.062.453, São Gonçalo 999.161, São Luís 955.600, Maceió 931.984, Duque de Caxias 852.131, Natal 803.811, Nova Iguaçu 786.536, Campo Grande 776.654, Teresina 767.777, São Bernardo do Campo 752.414, João Pessoa 720.789, Santo André 673.914, Osasco 666.469, Jaboatão dos Guararapes 630.683 Religionen 74% Katholiken, 15% Protestanten (v.a. Pfingstler u. Evangelikale), 7% religionslos; Minderheiten von Buddhisten, Bahai, Muslimen, Juden u. Anhängern indigener u. afrobrasilianischer Religionen (Candomblé, Umbanda) (Stand: 2006) Sprachen Portugiesisch; rd. 180 indigene Sprachen (Tupi, Guarani, Gê, Arwak u.a.) Erwerbstätige nach Wirtschaftssektor Landwirtsch. 17%, Industrie 22%, Dienstl. 61% (2009) Arbeitslosigkeit (in % aller Erwerbspersonen) Ø 2011: 6,0% Inflationsrate (in %) Ø 2011: 6,6% Wichtigste Importgüter (Anteil am Gesamtimport in %) 15% chem. Erzeugnisse (ohne Arzneimittel), 12% Maschinen, 11% Kfz u. -Teile, 9% Erdol- und Raffinerieprodukte, 7% Kommunikationstechnik, 7% Metallprodukte, 4% Elektrotechnik, 4% Arzneimittel Wichtigste Exportgüter (Anteil am Gesamtexport in %) 40% Primärgüter (v.a. Eisenerz, Erdol, Fleisch, Zucker), 18% Lebensmittel, Getränke u. Tabak, 6% Kfz und -Teile, 4% Maschinen, 4% chem. Erzeugnisse (ohne Arzneimittel) Quelle: Interner Link: Fischer Weltalmanach 2012
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-31T00:00:00
2014-06-03T00:00:00
2022-01-31T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/brasilien/185652/brasilien-in-zahlen/
Brasilien kurz und knapp mit den wichtigsten Kennzahlen zu Wirtschaft, Demografie und Gesellschaft.
[ "Brasilien in Zahlen", "Brasilien" ]
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Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik | Deutsche Geschichte | bpb.de
Einleitung Deutsche Geschichte ist anstößig - vor allem dann, wenn es um den Nationalsozialismus geht. Diese Zeit gehört, anders als das Kaiserreich oder die Weimarer Republik, nicht allein den Historikern, die sich berufsmäßig damit beschäftigen. Sie gehört der Öffentlichkeit: Journalisten und Politikern, Verbandsvertretern und Schriftstellern, den Zeitzeugen und ihren Nachkommen. Um sie wird gestritten, und eben dieser Streit sichert der NS-Zeit einen privilegierten Dauerplatz auf der Bühne des öffentlichen Interesses. Worüber indes gestritten wird, verändert sich je nach den aktuellen Bedürfnissen und Standpunkten der Zeitgenossen. Abstrakt und hintergründig geht es dabei immer wieder um den Platz des "Dritten Reiches" in der nationalen Geschichtserzählung. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität, nach Herkünften und Nachwirkungen ist, wie die Debatten der vergangenen zwei Jahrzehnte deutlich zeigen, eine eminent politische Frage, auf die es verschiedene Antworten gibt. Konkret und vordergründig tobt ein Kampf der Erinnerungen, in den die noch lebenden Zeitzeugen ebenso verwickelt sind wie ihre Kinder und Enkel. Hier geht es um die öffentliche Anerkennung eines Opferstatus, den fast alle für sich reklamieren, erlaubt er es doch, die politische Perhorreszierung des Nationalsozialismus mit einer persönlichen Erfahrung zu verbinden, die sich davon abspalten möchte, ohne den Grundkonsens zu missachten. Dieser Grundkonsens hat sich in den historischen Debatten der vergangenen dreißig Jahre herausgebildet und umfasst alle politischen Lager - vom rechtsextremen Rand abgesehen. Er besagt, dass während des "Dritten Reiches" Verbrechen unerhörten Ausmaßes in staatlichem Auftrag und "im Namen des deutschen Volkes" begangen worden sind. Deshalb verbietet es sich gleichsam von selbst, sich dieser Epoche positiv zu erinnern. Wie weit und tief allerdings die negative Erinnerung reichen soll, was sie umfasst und was sie ausschließt, daran scheiden sich die Geister. Das private und das Familiengedächtnis verfahren dabei oft milder und großzügiger, in jedem Fall aber unkontrollierter als der öffentliche Umgang mit dem Nationalsozialismus. Letzterer steht dauerhaft auf dem Prüfstand von Kritik und Antikritik. Vor allem in den achtziger und neunziger Jahren, als in Bonn und Berlin liberal-konservative Regierungen eine normalisierende Geschichtspolitik betrieben, schlug der Dissens hohe Wellen. Das spiegelte sich in den Planungen für ein Deutsches Historisches Museum ebenso wider wie in der öffentlichen Erregung, die1985 der deutsch-amerikanische Staatsbesuch auf dem Bitburger Soldatenfriedhof provozierte. Besonderes Misstrauen riefen die Ereignisse nach der deutsch-deutschen "Wende" 1989 hervor. Dort, wo sich wie bei der Gestaltung der Berliner "Neuen Wache" unverhohlene Zeichen einer Schlussstrichmentalität zu erkennen gaben, wurden sie von heftigen Gegenreaktionen begleitet. Dabei waren nicht nur regierungsferne Intellektuelle, Historiker, Schriftsteller und Publizisten am Werk. Wie der Nationalsozialismus erinnert werden sollte, bewegte ein sehr viel größeres und breiteres Publikum - im Westen wie im Osten. Erinnerungen: Opfer, Täter, Mittäter Sich zu erinnern - das war spätestens seit Richard von Weizsäckers Gedenkrede zum 8. Mai 1985 ein Sesam-Öffne-Dich. Dazu trugen die in rascher Folge abgefeierten Jubiläumsjahre (Kriegsbeginn, Kriegsende, Novemberpogrom, Stalingrad, Auschwitz-Befreiung) ebenso bei wie das In-die-Jahre-Kommen der verbliebenen Zeitzeugen. Ihnen blieb nur noch eine begrenzte Spanne, um über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, und das öffentliche Interesse an diesen Erzählungen war groß. Zugleich aber war das Interesse nicht neutral, sondern es konfrontierte die Erzählenden mit neuen, aufwühlenden Fragen nach individueller Schuld und Verantwortung. In diesen Fragen lag der explosive Zündstoff, der die Vergangenheitsdebatten jenseits politischer Instrumentalisierung und demographischer Bedrängnis kurz vor der Jahrhundertwende noch einmal kräftig anfachte. Fragen nach persönlicher Teilhabe und Mitwirkung der Vielen waren bislang weder in der DDR noch in der alten Bundesrepublik gestellt worden. Die SBZ/DDR hatte, nach anfänglichen radikalen Entnazifizierungsaktionen in Verwaltung, Justiz, Bildung und Militär, ihre Bevölkerung kollektiv entschuldet und die Verantwortung für den Nationalsozialismus den "usual suspects" aufgebürdet: Monopolkapitalisten und Militaristen, also jenen, die im neuen sozialistischen Staat ohnehin zu Personae non gratae erklärt worden waren. In der Bundesrepublik hingegen hatte man sich daran gewöhnt, das "Dritte Reich" als "Gewaltherrschaft" zu etikettieren und so ebenfalls die eigene Bevölkerung gewissermaßen zu entlasten. Denn selbst Schergen des Regimes konnten sich lange darauf berufen, nur Befehle ausgeführt, im "Befehlsnotstand" gehandelt zu haben. Die Masse der "kleinen Leute" nahm sich als Opfer wahr, die unter dem Nationalsozialismus und seinen Kriegsfolgen schwer gelitten hätten und deshalb für nichts verantwortlich seien. An jener Lesart änderten auch die heftigen Attacken der antiautoritären 68er-Bewegung nicht viel. Ihre kritischen Fragen nach personellen und strukturellen Kontinuitäten mündeten rasch in eine globale Verurteilung der Vätergeneration, welche eine echte Auseinandersetzung dauerhaft blockierte. Mindestens ebenso steril und dogmatisch verlief die in der marxistischen Linken geführte Faschismus-Debatte, die schnell ins DDR-Fahrwasser abdriftete und gebetsmühlenartig den Zusammenhang ökonomischer Entwicklungen und politischer Strukturen beschwor. Einen gänzlich neuen, bis dahin ungewohnten Ton schlug Ende der siebziger Jahre die vierteilige amerikanische TV-Serie "Holocaust" an. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, dass sie Geschichte intimisierte und emotionalisierte. Indem sie die Judenverfolgung und -vernichtung in Deutschland und den von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas als Familiendrama inszenierte, konnten Zuschauer Empathie mit den Opfern empfinden und sich mit deren Leid identifizieren. Das bis dahin namenlose, lediglich in abstrakten Todeszahlen präsente Schicksal der jüdischen Bevölkerung bekam ein Gesicht; es wurde persönlich nachvollziehbar und damit erst "wirklich". Viele Menschen begannen damals, Kontakte zu jüdischen Überlebenden zu knüpfen und die lokale Geschichte auf jüdische Spuren hin zu durchforsten. Einladungen an Überlebende in den ehemaligen Heimatort folgten und führten zu vorsichtigen, oft herzlichen Annäherungen. Denkmalsprojekte, in welcher Form auch immer, begleiteten diesen Prozess der Wiederaneignung. Der Holocaust rückte auf diese Weise, verstärkt durch starke mediale Unterstützung, in den Mittelpunkt der individuellen und kollektiven Auseinandersetzung. Die Geschichte des Nationalsozialismus war seit den achtziger Jahren über weite Strecken identisch mit der Geschichte der Judenvernichtung. Annäherung an die und Empathie mit den jüdischen Opfern führten aber mittelfristig auch dazu, dass die Rolle der "normalen" Deutschen bei diesem Jahrhundertverbrechen zunehmend in den Blick geriet. Inwiefern hatte die nichtjüdische Bevölkerung mitgewirkt - durch Wegschauen, Denunziationen, Solidaritätsverweigerung? Und was war für diese kollektive Gleichgültigkeit verantwortlich gewesen? Solche Fragen tauchten etwa bei der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer auf, die 1996 erschienen und sich wider Erwarten blendend verkauften. Der jüdische Autor, der die NS-Zeit in Dresden mit knapper Not überlebt hatte, zeichnete ein bedrückendes Bild seines Überlebenskampfes. Er hatte es nicht nur mit brutalen Gestapo-Beamten zu tun, sondern auch mit gewissenlosen, bestenfalls lethargischen, oft offen feindseligen und grausamen Mitbürgern. Noch radikaler stellte der amerikanische Historiker Daniel J. Goldhagen die Frage nach Schuld und Verantwortung. Sein zeitgleich mit Klemperers Tagebüchern veröffentlichtes Buch über "Hitlers willige Vollstrecker" nahm dezidiert von der Legende Abschied, es seien nur einige wenige gewesen, welche die Mordaktionen des NS-Regimes durchgeführt hätten. Goldhagen wies demgegenüber nach, dass die Zahl der Beteiligten ungleich größer war und, wie bereits Christopher Browning vor ihm festgestellt hatte, "ganz normale" Deutsche umfasste. Er argumentierte darüber hinaus, dass diese Männer ihre Mordtaten nicht unter Zwang, sondern zuweilen geradezu lustvoll begangen hätten, angetrieben von einem seit jeher in der deutschen Kultur verwurzelten "eliminatorischen Antisemitismus". So sehr Goldhagens Buch von Fachhistorikern gerade wegen dieser eindimensionalen Beweisführung kritisiert wurde, so großer Zustimmung erfreute es sich bei seiner Leserschaft. Seine eingängige Botschaft - alle Deutschen waren 1933 Antisemiten und deshalb auch potentielle Täter - kam an: Sie lieferte nicht nur eine einfache Erklärung für den Holocaust, sie entlastete auch die Nachgeborenen. Denn nach 1945 war jener Antisemitismus, der sich mindestens zwei Jahrhunderte lang in der deutschen Mentalität eingenistet hatte, laut Goldhagen abrupt von der Bildfläche verschwunden. Diese These nahm, überspitzt gesagt, den Charakter eines Heilswissens an, das seinen Konsumenten - sofern sie nach 1945 geboren waren oder die NS-Zeit nur als Kinder durchlebt hatten - Absolution und Erlösung versprach. Selbstverantwortung als zivilgesellschaftliche Forderung Die einfachen Erklärungen Goldhagens trafen den Nerv einer Gesellschaft, die es zunehmend für nötig erachtete, in Kategorien sozialer Mündigkeit zu denken. Aus dieser Sicht hatte die Weigerung der NS-Generationen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, etwas Infantiles, Unerwachsenes, Unreifes an sich. Das Bild des Opfers und Getriebenen, das die meisten Deutschen nach 1945 von sich entworfen hatten, passte nicht mehr in eine Zeit, in der sich auch die Bundesrepublik selbstbewusst als Zivilgesellschaft definierte. In einer solchen Gesellschaft rangierten Selbstorganisation und Selbsttätigkeit der Bürger an oberster Stelle. Man delegierte Verantwortung nicht an übergeordnete Stellen, sondern übte sie selber aus. Man zeigte Zivilcourage und trat für Bürger- und Menschenrechte ein. Mit einem derart anspruchsvollen Selbstbild ausgestattet, befragten Bundesbürger der mittleren und jüngeren Jahrgänge nach 1989 nicht nur die DDR-Bürger kritisch auf ihre Mitwirkung an der "Zweiten Diktatur". Mindestens ebenso fragwürdig schien ihnen das Verhalten jener, die das "Dritte Reich" aktiv erlebt hatten und sich gleichwohl auf ihre Rolle als bloße Beobachter oder passiv Erleidende zurückzogen. Indem sie diese Lesart nicht mehr gelten ließen, sondern auf individuellen Handlungsoptionen und spielräumen beharrten, nahmen sie die ältere Generation gewissermaßen in die Pflicht, sich zumindest in der Erinnerung Rechenschaft abzulegen über eigenes Mittun und persönliche Verantwortung. Besonders dramatisch kam diese Forderung in der Ausstellung über "Verbrechen der Wehrmacht" zum Ausdruck. Sie räumte mit einem der letzten Tabus der NS-Erinnerung auf, der Legende von der sauberen Wehrmacht. Diese Legende war zwar von der Geschichtswissenschaft längst als solche enttarnt; in der Bevölkerung jedoch und vor allem unter den ehemaligen Kriegsteilnehmern und ihren Angehörigen hielt sie sich weitgehend unangefochten. Millionen von Soldaten waren nach wie vor der Meinung, einen "normalen" Krieg geführt zu haben; wenn es Auswüchse und Grausamkeiten gegeben hatte, dann nur auf sowjetischer Seite oder als legitime Reaktion auf feindliche Übergriffe. Fünfzig Jahre nach Kriegsende machte die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung publik, dass dem nicht so gewesen war: Neben Dokumenten über den von Anfang an verbrecherischen Charakter des Ostkrieges zeigte sie Fotomaterial aus dem Besitz einfacher Soldaten, das diese als aktive Teilnehmer oder selbstzufriedene Chronisten der Verbrechen abbildete. Diese These löste landauf, landab große Bestürzung und ebenso große Empörung aus. Viele Kriegsteilnehmer wiesen sie mit Verve von sich; manche reagierten nachdenklich und selbstkritisch. Wer an einer der überaus zahlreichen lokalen und zentralen Diskussionsveranstaltungen im Begleitprogramm der Wehrmachtsausstellung teilgenommen hat, wird die tiefe Erschütterung gespürt haben, welche die Ausstellung provozierte - in ihrer alten, angreifbaren ebenso wie in ihrer neuen, methodisch abgesicherten, aber in der Sache identischen Aussage. Auch diejenigen Soldaten, deren Einheiten nicht oder nicht unmittelbar an dem Vernichtungswerk beteiligt gewesen waren, mussten sich fragen lassen, wie sie unter anderen Umständen gehandelt hätten. Und niemand konnte mehr daran zweifeln, dass Menschen selbst dort, wo sie in einen Zwangsapparat wie das Militär eingespannt waren, über Handlungsspielräume verfügten, die sie je nach Zivilcourage und moralischer Ausstattung so oder so nutzen konnten. In dieser ethisch-moralischen, zivilgesellschaftlichen Dimension lag die neue, aufrüttelnde Erkenntnis, welche die Wehrmachtsausstellung vermittelte und die sie zu einem zentralen geschichtspolitischen Ereignis erhob. Wie mit jener Erkenntnis umzugehen sei, war gleichwohl umstritten. In den öffentlichen, stark nachgefragten Gesprächen mit Zeitzeugen machte sich nicht selten eine moralisierende Tendenz breit, die bereits frühere Auseinandersetzungen polarisiert und gelähmt hatte. Wichtiger und ergiebiger war es demgegenüber, nicht nur "schlechtes" Verhalten zu rügen, sondern jene Institutionen zu überprüfen, die "gutes" Verhalten hätten einüben, stützen und honorieren können. Moralisch versagt, das wurde in den Debatten sehr deutlich, haben in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die Individuen, die sich bereitwillig oder gleichgültig, jedenfalls ohne Gewissensbisse in die Terrormaschinerie einbinden ließen; versagt haben auch ihre Familien, ihre Lehrer, Pfarrer, Richter, ihre Freundeskreise, ihr soziales und konfessionelles Milieu. Diese Einsicht lässt sich auch aus der Entschädigungsdebatte gewinnen, die 1999 begann. Hier ging es um die millionenstarke Gruppe der Zwangsarbeiter, die in der Kriegszeit in der deutschen (Land)- wirtschaft eingesetzt waren. Sie hatten bislang, sofern sie aus Polen oder der Sowjetunion stammten, keinerlei Genugtuung für ihre meist miserabel entlohnte Arbeit und die demütigende Behandlung erhalten, die ihnen in Deutschland widerfahren war. In ihren Herkunftsländern oft verfemt und als "fünfte Kolonne" der Deutschen verdächtigt, waren sie auch von der deutsch-deutschen Nachkriegsöffentlichkeit kaum wahrgenommen worden, sieht man von einzelnen lokalen Initiativen einmal ab. Gerade sie aber erlebten durch den politischen Streit um die Entschädigung einen großen Aufwind. Die Zurückhaltung und Abwehr vieler Unternehmen, sich an der Finanzierung zu beteiligen, kontrastierte mit einer auffälligen Bereitschaft breiter Kreise, die noch lebenden Zwangsarbeiter materiell zu unterstützen und sich mit ihren leidvollen Erfahrungen auseinander zu setzen. Letztere aber verweisen erneut auf das Problem der Mitwirkung und Mitverantwortung der Vielen. Wenn Briefe ehemaliger "Fremdarbeiter" fast zwanghaft von den wenigen Deutschen berichten, die ihnen freundlich gegenübertraten und ihnen das schwere Los durch kleine Gesten menschlicher Solidarität erleichterten, taucht sofort die Frage auf, warum sich denn die übergroße Mehrheit solchen Gesten verweigerte. Die Rückkehr der Opfererinnerung: Flucht, Vertreibung, Bombenkrieg Eine simple und simplifizierende Antwort ließ nicht auf sich warten: In einer Zeit, in der alle litten, fiel das Leid der anderen nicht besonders auf. Und außerdem habe man ja auch die Deutschen nach 1945 nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Man denke nur an das Leid der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und an das Schicksal deutscher Zwangsarbeiter, die 1945 für mehrere Jahre nach Sibirien, in den Ural oder ins Donezk-Becken verschleppt worden waren. Solche Entlastungsargumente, die man aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Genüge kannte, tauchen vermehrt in den jüngsten Erinnerungsdebatten auf. Wenn man sich die Initiativen und Diskussionen der vergangenen Jahre anschaut, kann man geradezu von einer Rückkehr, javon einem Rückschlag der deutschen Opfererinnerung sprechen. Den Anfang machte Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang". Der über alle politischen Zweifel erhabene Autor und Literaturnobelpreisträger setzte der Schiffskatastrophe um die "Wilhelm Gustloff" Ende Januar 1945 - das mit Flüchtlingen aus den Ostgebieten überfüllte ehemalige "Kraft-durch-Freude"-Kreuzfahrtschiff wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt - ein literarisches Denkmal, verbunden mit einer scharfen Selbstanklage, das Thema des deutschen Leides bislang ausgespart und "rechtsgestrickten" Kreisen überantwortet zu haben. Kurz darauf folgte Jörg Friedrichs Buch "Der Brand", das sich mit dem Luftkrieg gegen Deutschland beschäftigte und ein eindringliches Bild der hunderttausendfachen Bombenopfer zeichnete. Das umfängliche Opus erlebte einen immensen Verkaufserfolg; Lesereisen führten seinen Autor in viele Städte, und ein mitfühlendes Publikum war ihm gewiss. Das dritte Beispiel ist die gerade anlaufende Debatte um ein Berliner Zentrum gegen Vertreibungen. Hier geht es darum, der deutschen Vertreibungsopfer bzw. Flüchtlinge zu gedenken und an ihre Leidensgeschichte nach 1945 zu erinnern. Die erwähnten Bücher und Initiativen argumentieren explizit oder implizit damit, dass die von ihnen thematisierten Leidenserfahrungen in der bisherigen Diskussion um den Nationalsozialismus und seine Folgen unterbelichtet oder gar gänzlich ausgespart worden seien. Deshalb sei es höchste Zeit, auch sie zur Sprache zu bringen, um ein komplexes Panorama jener Jahre zu entwerfen und den Opfern Gerechtigkeit, sprich Empathie, Erinnerung und Anerkennung, widerfahren zu lassen. Doch diese Argumentation ist nicht stimmig. Das beginnt mit der Behauptung, es gebe eine Erinnerungslücke, die zu füllen sei. Dass Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung bis dato keine Rolle in der deutsch-deutschen Erinnerungsgeschichte gespielt hätten, ist eine Legende, die dadurch nicht wahrer wird, dass sie ständig wiederholt und nachgebetet wird. In der DDR prangten an vielen Gebäuden mit Bombenschäden Gedenktafeln, welche die "angloamerikanischen Terrorbomber" namhaft machten und ihr kulturelles Zerstörungswerk anprangerten. Noch in den letzten Jahren des sozialistischen Staates schrieb der DDR-Historiker Olaf Groehler ein umfangreiches Buch über den "Bombenkrieg gegen Deutschland", das 1991 im angesehenen Akademie-Verlag erschien. In der Bundesrepublik gab es eine Fülle lokal- und regionalgeschichtlicher Dokumentationen, Bildbände und Forschungsarbeiten, die sich mit den Flächenbombardements der Alliierten und den angerichteten Schäden beschäftigten. Freiburg, Hannover, Bremen, München, Münster, Aachen, Darmstadt, Celle, Bonn, Braunschweig und viele andere Städte samt Talsperren und Eisenbahnviadukte wurden als Angriffsziele der Bomberflotten ausführlich gewürdigt - nicht zu vergessen Berlin und selbstverständlich Dresden, das "deutsche Hiroshima". Auch in den zahlreichen Oralhistory-Texten, die über die Kriegs- und Nachkriegszeit veröffentlicht wurden, spielte die Erfahrung des Bombenkrieges eine immense Rolle. Selbst die Belletristik hat sie, anders als es W. G. Sebald noch 1997 beklagte, nicht ausgeblendet, sondern ihr einige beeindruckende Werke gewidmet. Ähnlich steht es mit dem Thema Flucht und Vertreibung. Bereits unmittelbar nach der Staatsgründung gab die Bundesregierung eine Forschungsarbeit in Auftrag, die das Leid der aus Ostmitteleuropa vertriebenen Deutschen dokumentieren und festhalten sollte. Als Weißbuch und Argumentationshilfe für zukünftige Friedensverhandlungen gedacht, erschien das fast ausschließlich auf Zeitzeugenberichten fußende mehrbändige Kompendium in den fünfziger und frühen sechziger Jahren; 1984 legte der Deutsche Taschenbuchverlag einen Nachdruck vor. Darüber hinaus hielt die wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Vertriebenenverbände und ihrer politischen, vorwiegend konservativen Freunde das Problem wach. In den bisweilen mit Gift und Galle geführten Kontroversen um die Neue Ostpolitik der späten sechziger und der siebziger Jahre besetzte es einen ebenso prominenten Platz wie in Familienerzählungen, Literatur und Film. Nicht zuletzt die Versenkung des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff" erlebte mehrfach mediale Bearbeitungen, lange bevor Guido Knopp das Thema für das ZDF entdeckte und quotenstark unters Fernsehvolk brachte. Allerdings führte die außergewöhnlich rasche gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge dazu, dass ihre leidvollen Erfahrungen zunehmend in den Hintergrund rückten und von den Erfolgsstories der Gegenwart überdeckt wurden. Das traf nicht nur auf diejenigen zu, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene ihre Heimat hatten verlassen müssen, sondern schloss die ältere Generation mit ein. Von den politischen Schaukämpfen der Vertriebenenfunktionäre und ihren revisionistischen Neigungen fühlten sich nur noch wenige vertreten. Selbst wenn sie die "alte Heimat" nicht vergaßen und die Reiseerleichterungen seit den siebziger Jahren zu Besuchen nutzten, waren sie doch längst in der "neuen Heimat" angekommen. Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs nach 1989 schien dieses Kapitel der eigenen Biographie auf wundersam versöhnliche Weise abgeschlossen: Die Reisen nach Osten wurden noch häufiger und intensiver, zugleich gestalteten sich die Begegnungen vor Ort offener, reflexiver und respektvoller. Nichts bezeugt die wechselseitige mentale Abrüstung deutlicher als die Tatsache, dass man zu Wroclaw wieder Breslau sagen kann, ohne automatisch als Revanchist beschimpft zu werden und ohne dass Einheimische den Verdacht hegen, hier sei eine neue Landnahme am Werk. In der Stadt gibt es Platz für viele Erinnerungen - auch für die der Deutschen und an die Deutschen. Wider die Skandalisierung Diesen Platz gilt es zu füllen - und die neueste Erinnerungsoffensive trägt dem Rechnung. Sie ist im eigentlichen Sinn keine Spätfolge von Verdrängung und Respektlosigkeit, sondern Teil und vorläufiges Endprodukt jenes Gedächtnisbooms, der seit den achtziger Jahren zu beobachten ist. Sie folgt den spezifischen politischen Konjunkturen dieses Gedächtnisses, das sich zunächst mit den jüdischen Opfern beschäftigte, bevor es sich folgerichtig den Tätern und Mittätern zuwandte. Man muss nicht wie Wolf Jobst Siedler von einem "Exzess des Schuldbewusstseins" sprechen, um in den Erinnerungen an Bombentote, Flüchtlinge und Vertriebene einen neuen Pendelschlag zu erkennen. Dennoch schießt die These von einer "Verschiebung der geschichtspolitischen Fundamente der Bundesrepublik" weit übers Ziel hinaus. Anstatt die Revitalisierung der deutschen Opfererinnerung zu skandalisieren, sollte man sie gleichermaßen kritisch wie unverkrampft betrachten. Dabei wären sieben Punkte zu bedenken. Erstens: An das Leid zu erinnern, das der Krieg im eigenen Land und seine Folgen über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben, ist legitim und wichtig. Dass das Thema Vertreibung durch die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien eine in Europa unerwartete und deshalb besonders bedrückende Aktualität gewonnen hat, verleiht den Erfahrungen deutscher Vertriebener und Flüchtlinge zudem eine neue Dignität. Ebenso weckt die Bombardierung irakischer Städte durch amerikanische und britische Flugzeuge fast zwangsläufig Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Zweitens: Solche Erinnerungen politisch stillstellen oder unterdrücken zu wollen, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch kontraproduktiv. Gleichwohl müssen sie kritisch kommentiert werden. Erinnerungen sind vor allem dann, wenn sie öffentlich kommuniziert werden, keine bloß subjektiven Äußerungen mehr. Sie beziehen sich auch nicht nur auf Vergangenes, sondern haben ihren Ort in der Gegenwart und reflektieren auf zukünftige Ordnungen. Gerade das macht sie so bedeutungsvoll und kontrovers. Hinzu kommt, dass die Erinnerungen, um die es in der derzeitigen Debatte geht, in der Regel keine Primärerinnerungen mehr sind. Die meisten Menschen, die Bombenkrieg, Flucht oder Vertreibung bewusst erlebt und überlebt haben, leben heute nicht mehr. Erinnerungsträger wie Medien (Bücher, Film, Fernsehen) oder Institutionen (Vertriebenenverbände) treten an ihre Stelle. Gerade sie aber müssen sich fragen lassen, welche aktuellen und in die Zukunft projizierten Interessen sie verfolgen. Aufrechnungen, Analogien, Vergleiche Drittens: Die derzeitige Opferdiskussion steht unter dem Generalverdacht, dass Leid mit Leid, Schuld mit Schuld verrechnet werden soll. Ein solcher Aufrechnungsmodus hat eine lange, unrühmliche Tradition, in allen politischen Lagern. Ging es in der Nachkriegszeit darum, das den Deutschen im Osten angetane Unrecht gegen mögliche Reparations- und Entschädigungsforderungen aus diesen Ländern zu wenden, neigte man auf der Linken dazu, die Leiderfahrungen der Deutschen als logische Folge des vom Nationalsozialismus verursachten Unrechts zu betrachten und damit gleichsam zu rechtfertigen. Beide Positionen instrumentalisierten die "Vertriebenen" bzw. "Umgesiedelten" für politische Zwecke; umso schlimmer, dass manche Vertriebenenfunktionäre dieses Spiel bedenkenlos mitspielten und die Polarisierung weiter anheizten. Damit aber muss nun endlich Schluss sein. Die politische Großwetterlage hat sich gravierend geändert und macht die Fortsetzung der alten Grabenkämpfe ebenso überflüssig wie lächerlich. Der psychologische Reflex, auf einen massiven Schuldvorwurf mit Entlastungsargumenten zu antworten und den eigenen Opferstatus hervorzukehren, sollte sich jedenfalls nicht noch einmal dauerhaft einschleifen und erinnerungspolitisch verfestigen. Viertens: An dieser Stelle sind Historiker gefordert, die jeweilige Gruppenerinnerung in ihren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Ohne die Leidenserfahrungen der Opfer zu schmälern oder abzuwerten, muss die Dynamik von Unrecht und Leid angemessen gewichtet werden. Immerhin war es das nationalsozialistische Deutschland, das mit der Vertreibung und Vernichtung ganzer Bevölkerungen begann. Ob jene Handlungskette in dem für Berlin projektierten Zentrum gegen Vertreibungen tatsächlich berücksichtigt wird, bleibt abzuwarten. Derzeit sehen die Pläne eher nach einer nationalen Nabelschau aus, die ihren Gegenstand isoliert, anstatt ihn zeitlich, räumlich und sachlich zu kontextualisieren. Dieser Kontext ist auch für eine Geschichte des Bombenkrieges notwendig, wie Jörg Friedrich sehr wohl weiß. Coventry und Rotterdam werden in seiner Darstellung nicht unterschlagen. Dennoch gleitet sie in historischen Relativismus ab. Viele Rezensenten haben darauf hingewiesen, wie suggestiv der Autor die Erfahrungen des Flächenbombardements an diejenigen der Gaskammern heranrückt. Indem er sich derselben Begrifflichkeit bedient (Holocaust, wörtlich "Brandopfer" vs. "Der Brand"), stellt er den alliierten Bombenkrieg auf die gleiche Stufe wie die Vernichtungsorgien der Nationalsozialisten. Damit aber hat er dem Gespann Hitler/Himmler nicht nur britische Verbrechenspartner (Churchill/Harris) beigesellt und den Deutschen die Einsamkeit der Schuld genommen. Er hat im gleichen Atemzug auch die NS-Verbrechen, speziell den Völkermord an den Juden, in ihrer Dimension eingeebnet und entdramatisiert. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ liegen jedoch Welten zwischen den alliierten Kriegszerstörungen deutscher Städte und der gezielten Vernichtung ganzer Völker aus "rassischen" Gründen. Fünftens: Spätestens seit dem "Historikerstreit" Mitte der achtziger Jahre sind die Gefahren des Analogisierens sattsam bekannt. Geendet hat er nicht mit einem Verbot des analytischen Vergleichs, der nach wie vor zu den wichtigsten methodischen Instrumenten der Geschichtsforschung gehört und vor dem Nationalsozialismus keineswegs Halt macht. Warnschilder allerdings stellte er dort auf, wo es um implizite oder explizite Gleichsetzungen geht. In der politischen Debatte verfolgen sie gemeinhin den Zweck, ein Phänomen zu dramatisieren. Das trifft auf Friedrichs Buch ebenso zu wie auf die Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der Ende 2002 in der Vermögenssteuerdebatte davon sprach, hier solle Menschen "eine neue Form von Stern" an die Brust geheftet werden. Auch der politisch folgenreiche Vergleich des amtierenden amerikanischen Präsidenten mit Hitler, den die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin im gleichen Jahr bemühte, verschrieb sich dieser Logik der Dramatisierung. Dass damit zugleich die Politik des Nationalsozialismus verharmlost wird, scheint vielen Politikern und Publizisten immer noch nicht klar geworden zu sein. Auch hier müssen Historiker stets von neuem Aufklärungsarbeit leisten. Historisierung versus Moralisierung: auf der Suche nach europäischen Erinnerungsorten Sechstens: Andererseits spricht die Tatsache, dass sich die Analogiebildung nach wie vor großer Beliebtheit erfreut und in der politischen Rhetorik ihren festen Platz behauptet, entschieden gegen die These, wonach der Nationalsozialismus in den vergangenen Jahren historisiert worden sei und für die Berliner Republik keine Rolle mehr spiele. Diese These lässt nicht nur außer Acht, dass das Thema nach wie vor einen hohen Streit- und Aufmerksamkeitswert verbucht. Sie verkennt darüber hinaus, dass Historisierung nicht zwangsläufig Entaktualisierung bedeutet und schon gar nicht identisch ist mit Entproblematisierung. Den Aufstieg und die Erfolgsbedingungen des Nationalsozialismus aus der Zeit heraus zu erklären, ihn dabei mit anderen Regimen zu vergleichen, um seine Spezifik genauer ermessen zu können - all das ist keine Verharmlosung, Entschuldigung oder Relativierung. Begreift man Historisierung als Gegenstrategie zur Moralisierung, springen ihre Vorzüge rasch ins Auge. Gehen moralisierende Argumentationen in der Regel von der a priori behaupteten Singularität des Nationalsozialismus aus und verleihen ihm einen dämonischen, der rationalen Analyse letztlich nicht zugänglichen Charakter, beharrt der historisierende Zugriff auf der prinzipiellen Erkennbarkeit seines Gegenstandes. Große Fragen - Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen so etwas? - werden kleingearbeitet, das Monströse in Handlungsketten zerlegt und damit nachvollziehbar. Es wird dadurch keineswegs weniger verwerflich und "abgründig" (Reinhart Koselleck), aber es verliert die Aura des Undurchdringlichen - eine Aura, die dem distanzierenden, kritischen Begreifen alles andere als zuträglich ist und den Nationalsozialismus als das ganz Andere, Fremde mumifiziert und abspaltet. Genau genommen läuft gerade die moralisierende Ausgrenzung darauf hinaus, die Gegenwart zu entlasten und in der vorgeblichen Sicherheit des Korrekten, Guten und Richtigen einzulullen. Siebtens: Insofern tut Historisierung auch der politischen Debatte gut und stattet sie mit selbstkritischen Obertönen aus. Indem sie auf Kontextualisierungen beharrt, könnte sie auch den aktuellen Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen in sachlichere und zukunftsfähigere Bahnen leiten. Dazu gehört zum einen, die Dynamik von Ursache und Wirkung, die Kausalität, zu betonen und Täter- und Opfererinnerungen zu synchronisieren. Zum anderen fordert die historische Perspektive dezidiert dazu auf, die Vertreibungserfahrung zu europäisieren. Gerade die Erkenntnis, dass "ethnische Säuberungen", wie wir Vertreibung seit den Jugoslawien-Kriegen in den neunziger Jahren nennen, keine exklusive Leidenserfahrung der Deutschen nach 1945 gewesen sind, sondern die gesamte europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts durchziehen, ließe sich dafür nutzen, über gemeinsame europäische Erinnerungsorte nachzudenken. Das könnte Breslau/Wroc|law sein, aber auch Straßburg und Lemberg und andere Städte, die im Zentrum aufgezwungener Migrationen standen. Das Projekt gemeinsamer europäischer Erinnerungsorte ist kompliziert und überaus voraussetzungsvoll, wie die scharfen Gegenreaktionen in den betroffenen Ländern zeigen. Vielleicht muss noch mehr Zeit vergehen, bis man solche Gemeinsamkeiten annehmen kann. Der beeindruckendste transnationale Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs, das Historial de la Grande Guerre in Péronne, ist erst siebzig Jahre nach dem Kriegsende entstanden. Dennoch sollte man daran arbeiten - und damit zugleich ein Stück gelebtes Europa realisieren, anstatt sich in der eigenen Nationalgeschichte einzuigeln und die Schlachten von gestern und vorgestern immer wieder neu zu schlagen. Vgl. Aleida Assmann/ Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999. Dies zeigen Familiengespräche und Oral-history-Interviews: vgl. Harald Welzer u.a., "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002; Lutz Niethammer (Hrsg.), "Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll". Faschismus-Erfahrungen im Ruhrgebiet, Bonn 1983. Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung, München 1995. Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945, 2 Bde., Berlin 1995. Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek 1993. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 1996; Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 2002. Vgl. Susanne-Sophia Spiliotis, Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Frankfurt/M. 2003. Vgl. "(...) ein Teil meiner Seele ist in Brackwede". Briefe ehemaliger Zwangsarbeiterinnen in Bielefeld und Brackwede, hrsg. von Gegen Vergessen - Für Demokratie e. V., Sektion Bielefeld, Bielefeld 2003. Vgl. Günter Grass, Im Krebsgang, Göttingen 2002; Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945, München 2002. So der reißerische Untertitel eines Buches von Alexander McKee (Dresden 1945, Wien 1983). Vgl. Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998), S. 345 - 389; ders., "Ein der wissenschaftlichen Forschung sich aufdrängender historischer Zusammenhang", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51 (2003) 1, S. 59 - 64. Vgl. Wolf Jobst Siedler, Die Hoffahrt der Bußfertigen, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.4. 2001, S. 16. Vgl. Lorenz Jäger, Das Böse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11. 2002.
Article
Frevert, Ute
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27381/der-juengste-erinnerungsboom-in-der-kritik/
Die revitalisierte deutsche Opfererinnerung will ernstgenommen, muss aber in ihren historischen Zusammenhang gerückt werden. Nur so kann sie Brücken schlagen, anstatt alte Gräben wieder aufzuwerfen.
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Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union | Europäische Union | bpb.de
I. Der undemokratische Oktroi der Grundrechtscharta Die Staats- und Regierungschefs hatten in Köln am 3. und 4. Juni 1999 und in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 beschlossen, dass ein Konvent eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union erarbeiten solle. In weniger als einem Jahr hat dieser den Entwurf im Auftrag der führenden Politiker Europas erarbeitet. Mitglieder des Konvents waren je ein persönlich Beauftragter der fünfzehn Staats- und Regierungschefs, je zwei Mitglieder der Parlamente der fünfzehn Mitgliedstaaten, fünfzehn Mitglieder des Europäischen Parlaments und je ein Mitglied der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs. Roman Herzog wurde mit dem Vorsitz des Konvents betraut. Kein Mitglied des Konvents ist für die Erarbeitung einer Grundrechtscharta vom Volk gewählt worden. Ohne Rücksicht auf die Anforderungen eines demokratischen Verfassungsgebungsverfahrens sind die Terminierungen wieder einmal die entscheidenden Vorgaben für das Verfahren. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Notwendigkeiten, die sich aus der für die große Sache unabdingbaren Beteiligung der Menschen und Völker Europas ergeben. Eine (vermeintliche) Avantgarde von Integrationisten meint das Recht zu haben, den Menschen und Völkern Europas ihren Text oktroyieren zu dürfen, obwohl dieser Text das gemeinsame Leben in Europa langfristig bestimmen, ja Europa schweren Schaden zufügen wird. Der Entwurf ist in keiner Weise ausgereift. Ihm fehlt nicht nur der philosophische Zuschnitt, sondern auch die rechtsdogmatische Durchdringung. Er verbirgt kleine Politik, die dem Zeitgeist verpflichtet ist. Handwerklich ist die Charta nicht gerade das Werk von Meistern, sondern macht eher den Eindruck von Hilflosigkeit. Die Proklamation der Charta durch den Europäischen Rat verschafft dieser keine Rechtsgeltung, aber eine politische Verbindlichkeit. Falls es zur völkervertraglichen Verbindlichkeit der Charta kommt, um diese in das Primärrecht der Europäischen Union einzufügen, werden die Legislativorgane der Mitgliedstaaten, vor allem die Parlamente, zwar eine rechtliche, aber kaum eine politische Möglichkeit haben, die Charta zu ändern. Der Erfahrung nach sind die Volksvertretungen auf die Integrationsentwicklung ohne wirklichen Einfluss. Sie können nur akklamieren und damit den Verträgen eine demokratische Legitimation geben, die über die Form nicht hinausgeht, also keine demokratische Substanz hat. Die Integrationspolitik ist Regierungssache. So werden den Europäern auch die Grundrechte von ihren Staats- und Regierungschefs verordnet. Dementsprechend ist der Entwurf auch gegen die Bürgerlichkeit der Bürger gerichtet. Vor allem gesteht er den Menschen die Freiheit nicht wirklich zu. Die Obrigkeit gewährt ihren Untertanen Freiheiten und Rechte und verpflichtet sich Grundsätzen. Dass diese der Menschheit des Menschen gemäß sind, obwohl die Menschen, die es angeht, bei der Erarbeitung des Textes übergangen wurden, ist kaum zu erwarten, aber anhand der Texte zu prüfen. Allein schon das Verfahren, in dem die Charta der Grundrechte für die Europäische Union vorbereitet worden ist und durchgesetzt wird, nimmt ihr die freiheitliche, also demokratische, Legitimation. Ein völkerrechtliches Vertragsverfahren, welches die Zustimmung der Legislative zu dem Grundrechtsvertrag voraussetzt (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), wird diesen Mangel nicht (mehr) heilen, vor allem weil die repräsentativen Legislativorgane wegen der Parteienoligarchie nicht mehr demokratisch zu legitimieren vermögen, jedenfalls nicht in Deutschland . Die Abgeordneten folgen meist, ohne sich mit der Sache zu befassen, den Vorlagen ihrer Parteiobrigkeit, zumal in europäischen und sonstigen internationalen Angelegenheiten. Noch immer wird entgegen dem Recht eine eigenständige auswärtige Gewalt, die allenfalls in äußersten Grenzen judiziabel sei, reklamiert , obwohl seit langem Innenpolitik durch Außenpolitik gemacht wird. Ein legitimer Prozess europäischer Verfassungsgesetzgebung setzt voraus, dass die politische Ordnung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zunächst material demokratisiert wird, dass also die Parteienstaaten republikanisiert, d. h. zur Rechtlichkeit befreit werden. Diese Charta wird ein Oktroi, nicht die gemeinsame Erkenntnis freier Menschen von ihrem Recht. II. Die Grundrechtslage in der Europäischen Union Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG darf Deutschland nur an der "Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung eines vereinten Europas" mitwirken, welches u. a. "einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen gleichen Grundrechtsschutz gewährleistet". Sowohl das Bundesverfassungsgericht in den Solange-I- und Solange-II-Entscheidungen und vor allem im Maastrichturteil als auch der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung haben entschieden, dass die europäischen Rechtsakte an den Grundrechten der europäischen Mitgliedstaaten, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, überprüft werden und dass der Wesensgehalt der Grundrechte geachtet wird . Der Gerichtshof hat erklärt, dass er Gemeinschaftsrecht nicht als rechtens anerkennen werde, das mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten unvereinbar sei . Zur Achtung der Grundrechte ist die Europäische Union durch Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet. Der Grundrechtsschutz gegenüber der integrierten Ausübung der Staatsgewalten der Völker ist somit durch den "kooperativen Grundrechtsschutz" zwischen den mitgliedstaatlichen Grundrechtsgerichten, vor allem den Verfassungsgerichten, und dem Europäischen Gerichtshof der Rechtslage nach gewährleistet . Es bedarf darum keiner eigenständigen Grundrechtscharta der Europäischen Union. Die Praxis der Grundrechte ist eine andere Frage. Der grundrechtliche Stand soll denn auch nach Art. 53 des Entwurfs nicht eingeschränkt werden. Vielmehr wird er durch Punkt fünf der Präambel bekräftigt und es soll der Schutz der Grundrechte nach Punkt vier der Präambel dadurch gestärkt werden, dass die Grundrechte "in einer Charta sichtbarer gemacht werden". Der europarechtliche Menschenrechtsgehalt der Grundrechte wird durch Punkt fünf der Präambel und durch Art. 53 akzeptiert. Das deutsche Volk bekennt sich jedoch in Art. 1 Abs. 2 GG zu "den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Dieses Bekenntnis ist nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. Die Grundrechtsformulierungen des Entwurfs bleiben aber hinter internationalen Menschenrechtserklärungen, insbesondere hinter Menschenrechten der zweiten und dritten Generation, den sozialen und den ökologischen Rechten, zurück. Beispielsweise wird im Gegensatz zu Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) kein Recht auf Eigentum, das richtigerweise auch aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt , anerkannt. Im Widerspruch zu Art. 23 AEMR ist im Entwurf ein Recht auf Arbeit nicht enthalten. Demgegenüber ist erstmals in der Grundrechtsgeschichte ein Recht auf unternehmerische Freiheit anerkannt. Auch der Grundrechtsstandard des Grundgesetzes wird unterschritten. Angesichts dessen, dass die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bisher keine verbindliche Textgrundlage hat, wird die Charta sich zum maßgeblichen Text zunächst der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dann auch der Gerichte der Mitgliedstaaten entwickeln; denn die Charta soll nach Art. 51 Entwurf für "die Organe und Entscheidungen der Union", aber auch für die Mitgliedstaaten "bei der Durchführung des Rechts der Union" gelten. Das "Recht der Union", die vielen Richtlinien und Verordnungen, vor allem aber das primäre Vertragsrecht, etwa die wirtschaftlichen Grundfreiheiten , sind derart in das Recht der Mitgliedstaaten verwoben, dass es nur wenige Lebensbereiche gibt, deren Regelungen nicht vom "Recht der Union" weitgehend bestimmt wären. Insbesondere alles wirtschaftliche Handeln ist unionsgeregelt. Es ist aber ausgeschlossen, Handlungen des Staates nach unterschiedlichen Grundrechtsstandards zu bewerten. Dem steht das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung entgegen. Letztlich kommt es für die grundrechtliche Bewährung der Rechtsakte auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs an - zum einen, weil alle Rechtsfragen, die gemeinschaftsrechtliche Probleme aufwerfen, vom Europäischen Gerichtshof in Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV geklärt werden, also zunehmend alle Rechtsfragen, jedenfalls im Bereich der Wirtschaft, zum andern, weil der Europäische Gerichtshof auf die unterschiedlichen Grundrechtsverhältnisse der Mitgliedstaaten keine Rücksicht nehmen kann. Das Prinzip der unionsweiten Einheit des Gemeinschaftsrechts verbietet auch eine grundrechtsbedingte Unterschiedlichkeit der Handhabung der Rechtsakte der Union. Diese aber materialisieren die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten schon jetzt und zunehmend weitreichend und tiefgreifend. Die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird die Grundrechtspraxis in der Union insgesamt leiten und sich an dem Text der Charta ausrichten. Schon jetzt bewirkt das so genannte Kooperationsverhältnis in der Grundrechtsrechtsprechung zwischen dem Bundesverfassungsgericht in Deutschland und dem Europäischen Gerichtshof , dass der Europäische Gerichtshof die Grundrechtspraxis bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht will generell den Wesensgehalt der Grundrechte gegenüber Rechtsakten der Gemeinschaften schützen. Dieser Vorbehalt ist praktisch bedeutungslos, weil er den Vorwurf gegenüber dem Europäischen Gerichtshof voraussetzt, dass dieser generell den Wesensgehalt der Grundrechte missachte . Die Integration des Grundrechtsschutzes hat bereits, auch ohne die Charta, dem Grundrechtsschutz geschadet, weil der Europäische Gerichtshof lediglich ein einziges Mal einen Rechtsakt der Union für grundrechtswidrig erklärt, also ein laues Grundrechtsklima geschaffen hat. Letztlich ist der Grundrechtsschutz doch wie im 19. Jahrhundert Sache der Gesetzgebung und damit abhängig vom demokratischen Niveau des Gemeinwesens. Die Union ist aber demokratisch defizitär . Der Internationalismus schwächt die Menschen- und Grundrechte, vor allem weil er ökonomisch dereguliert und liberalisiert. Grundrechtskultur ist von der Homogenität der Rechtsgemeinschaft abhängig, zumal eine soziale Grundrechtsgemeinschaft . Die Charta wird somit den Verfall der Grundrechte beschleunigen. Die Charta stärkt nicht das Recht, sondern schwächt es. Der Verfall des Rechts ist das Charakteristikum des Integrationismus. III. Die Grundrechte als Erkenntnisse der praktischen Vernunft Die Menschenrechte sind gewissermaßen wie die Freiheit mit dem Menschen geboren. Die Grundrechte sind die gesetzliche Form der Menschenrechte, jedenfalls der Wesensgehalt der Grundrechte . Kein Politiker kann den Menschen die Grundrechte gewähren. Diese sind vielmehr menschheitliche Erkenntnisse, die auf Erfahrungen der Menschheit beruhen. Als philosophische Erkenntnisse der für die Menschen richtigen Grundsätze des gemeinsamen Lebens stehen die Menschenrechte nicht zur Disposition des Staates. Es ist Sache der praktischen Philosophie, die Menschen- und Grundrechte zu materialisieren, und Sache der Völker, deren Erkenntnisse verbindlich zu machen. Die Repräsentanten der Parteienoligarchien sind denkbar ungeeignet, die Grundrechte der Menschen zu formulieren, zumal jene dem Gesetz der Negativauslese in den Parteien unterliegen. Die Grundrechte können nur die Vertreter der Völker ausarbeiten. Diese müssen die Besten der praktischen Philosophen sein, die in geeigneten Verfahren von den Völkern ausgewählt werden. Die praktische Philosophie ist Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne. In der Sache ist Politik, wenn sie menschheitlich ist, durchgehend "ausübende Rechtslehre" . Rechtslehre aber ist Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit . Dem Entwurf jedoch fehlt die philosophische Fundierung, welche die Aufklärung auf der Grundlage des Christentums geleistet hat und die bestens in der Rechtslehre Kants zu studieren ist. Die entworfene Charta meint, mit ihrem ökonomistischen Liberalismus Europa das Recht für das 21. Jahrhundert geben zu können. Im 19. Jahrhundert war der konstitutionalistische Liberalismus ein großer Schritt zur Freiheit. Heute ist diese Unzeitigkeit nicht zukunftsweisend, denn das monarchische Prinzip ist Vergangenheit. Heute nutzt der Liberalismus den Interessen der Unternehmen. Er macht den Bürgern die Bürgerlichkeit streitig, deren Sache der Staat ist. Res publica res populi. Den Untertanen gesteht er freilich eine erträgliche Obrigkeit zu. Die Rechtslehre ist schon aus Gründen der philosophischen Erkenntnis der Tradition der Menschenrechte verpflichtet, welche die Erkenntnisse der Menschheit des Menschen zur Sprache bringen; es ist Hybris, Grundrechtstexte schreiben zu wollen, wenn diese nicht auf langer Erfahrung oder zumindest auf ausgiebiger Erörterung beruhen. Der Grundrechtsdiskurs muss alle Menschen, deren Leben von den Grundrechten bestimmt werden soll, und alles Wissen, welches über das gemeinsame Leben der Menschen besteht, einbeziehen. Praktische Vernunft setzt theoretische Vernunft voraus. Republikanische Politiker hätten ihre Texte bestmöglich der Öffentlichkeit zur Kritik unterbreitet, um Hilfe zu erbitten, nicht aber die Auseinandersetzung um die große Politik allein schon durch den Terminplan so gut wie unmöglich gemacht. Ein demokratisches Verfahren ist ein Verfahren bestmöglicher Rechtserkenntnis. Die Öffentlichkeitsarbeit des Konvents hatte allenfalls Alibifunktion - abgesehen davon, dass es eine europäische Öffentlichkeit, eine wesentliche Voraussetzung eines europäischen Verfassungsstaates, nicht gibt. Wie wenig der Entwurf bedacht war, zeigen die schnellen, zum Teil bedeutsamen Änderungen, welche der Entwurf vom 28. Juli in den Texten vom 21. und vom 28. September gefunden hat. Die Menschen und Völker werden durch die Charta, deren Verabschiedung ihr, wie die Grundrechtsgeschichte erweist, langdauernden und schwer abänderbaren Bestand geben wird, eingeengt. Das Procedere zeigt erneut, dass die Politiker Europas in ihrem Integrationseifer keinerlei demokratisches Ethos wahren. Ein menschenrechtlicher Grundrechtstext muss ein Text großer Worte sein, welche den großen Erkenntnissen der Menschheit des Menschen genügen. Praktizistischer Minimalismus ruiniert eine Charta von Grundrechten. Die Alltagspraxis hat viel Übung darin, die großen Texte auf die Alltagsfragen herunterzubrechen. Aber ein Grundrechtstext darf kein Verwaltungsgesetz sein. Vielmehr soll er, gerade wenn er identitätstiftende Symbolik entfalten will, ein Manifest der großen Werte sein, die angemessen zur Sprache zu bringen sind. Dem widerspricht schon die Menge der Sätze, die der Entwurf benötigt hat, um die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta zu formulieren. So viele Grundsätze gemeinsamen Lebens hält die Rechtsordnung nicht bereit. Wer die Praxis der Verfassungsgerichte kennt, weiß, dass nur wenige Grundsätze die Rechtsordnung bestimmen. Vorbildlich ist wiederum die Erklärung von 1789. Die Verfassung besteht aus den Rechtsprinzipien, welche die Menschheit des Menschen ausmachen, welche mit dem Menschen geboren sind, vor allem die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber auch aus dem in einem freiheitlichen Gemeinwesen apriorischen Prinzip des Eigentums. Wer außerdem das Leben und die Gesundheit, das elementare Eigentum des Menschen, und das Recht der freien Rede schützt, hat schon alles Wesentliche getan. IV. Liberalistische statt republikanischer Konzeption Im Punkt 2 Satz 1 der Präambel kennt der Entwurf der Charta auch die "Freiheit", welche neben den Grundsätzen der "Würde des Menschen", "der Gleichheit und der Solidarität", die zu Recht als "unteilbar und universell" bezeichnet werden, neben den "Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit" genannt wird. In Satz 2 dieses Punktes stellt die Charta "die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet". "Anerkannt" werden nach Punkt sieben der Präambel jedoch "die nachstehend angeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze". Nach dem Kapitel I über die "Würde des Menschen" folgt demgemäß das Kapitel II zu den "Freiheiten". Im Kapitel III wird die "Gleichheit", im Kapitel IV die "Solidarität" und schließlich im Kapitel V und Kapitel VI werden die "Bürgerrechte" und die "Justiziellen Rechte" geschützt. Auch die so genannten Freiheiten des Kapitel II sind meist als "Rechte" bezeichnet. Es sind im Großen und Ganzen die klassischen liberalen Grundrechte der ersten Generation, nicht aber die politische Freiheit, nicht die Freiheit als Autonomie des Willens , nicht die Bürgerlichkeit des Bürgers, nicht die Freiheit als Gesetzgeber. Art. 6 formuliert: "Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit." Mit der Freiheit in dieser Vorschrift dürfte lediglich die Bewegungsfreiheit, die im Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 S. 2 steht, gemeint sein, nicht aber die Freiheit an sich, die große Freiheit. Nach Art. 11 Abs. 2 werden jedoch "die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet". Nach Art. 13 sind auch die Kunst und Forschung frei und wird die "akademische Freiheit geachtet". Auch die (neue) unternehmerische Freiheit hat das Wort Freiheit für sich. Sie wird nach der neuesten Fassung des Entwurfs aber nur noch "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt". Die Freiheiten sind nach dem Entwurfstext der Sache nach Rechte. Die so genannten Bürgerrechte des Kapitels V sind das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen (Art. 39 und 40), das "Recht auf eine gute Verwaltung" des Art. 41, und neben dem Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42) und dem Recht, einen Bürgerbeauftragten mit Missständen in der Verwaltung der Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft zu befassen (Art. 43), dem Petitionsrecht (Art. 44) und dem Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 46) ist als Bürgerrecht in Art. 45 auch die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geregelt, also eine klassische liberale Freiheit. Die "Bürgerrechte" gehören nicht anders als einige der "Freiheiten", insbesondere "das Recht auf freie Meinungsäußerung" des Art. 11, das Recht des Art. 12, "sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen (im Erstentwurf: "staatsbürgerlichen") Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen" (einschließlich einer Gewerkschaftsfreiheit, die nicht die die Arbeitgebervereinigungen umfassende Koalitionsfreiheit ist), aber auch "das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit" des Art. 10, zur politischen Freiheit, die in den Grundrechtserklärungen der ersten Generation geschützt ist. Der Entwurf der Charta anerkennt die politische Freiheit in dem Begriff der Willensautonomie, der allein einer Republik entspricht, allenfalls in Punkt 2 der Präambel und verwehrt dieser damit den Grundrechtsschutz. Freilich ist die politische Freiheit durch das Menschenwürdeprinzip geschützt. In den Gundrechtsformulierungen vermag der Entwurf die "Freiheiten" und "Rechte" nicht zu unterscheiden. Die Freiheit ist mit dem Menschen geboren. Sie ist das Urrecht des Menschen, zu handeln, wenn er anderen nicht schadet, wenn er also die Freiheit aller anderen Menschen achtet. Die äußere Freiheit ist eine Einheit mit der inneren Freiheit. Die äußere Freiheit ist die "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" . Die innere Freiheit ist die Sittlichkeit, die ihr Gesetz im Kategorischen Imperativ hat. Das Sittengesetz, der Schlüsselbegriff des Grundgesetzes in Art. 2 Abs. 1 GG, von den meisten Interpreten des Grundgesetzes allerdings vernachlässigt, taucht in dem Entwurf der Charta nicht auf, obwohl das Sittengesetz das Prinzip der allgemeinen Freiheit ist. Anstelle dessen verbindet Punkt 6 der Präambel "die Inanspruchnahme dieser Rechte mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen". Das ist der Sache nach der Kategorische Imperativ, in andere Worte gefasst - immerhin! Die Freiheit findet ihre Wirklichkeit in der allgemeinen, dem Recht gemäßen Gesetzlichkeit . Sie ist die politische Freiheit, die Freiheit des Menschen unter Menschen also. Um der Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit willen geben sich die Menschen, zum Staat vereint, Gesetze und sichern die Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens. Diese republikanische Freiheit ist mit dem Begriff der liberté der Erklärung von 1789 gemeint, und diese Freiheit wird durch die verschiedenen Grundrechte, welche man als Freiheitsrechte oder als Freiheiten bezeichnen kann, geschützt. Es ist immer dieselbe Freiheit des Menschen, deren Schutz unterschiedlich gegen Gefährdungen, die sich im Laufe der Geschichte gezeigt haben, geschützt wird. Unterschiedliche Freiheiten eignen dem Menschen nicht, aber es gibt unterschiedliche Rechte und damit auch unterschiedliche Grundrechte. Abgesehen von dem Urrecht der Freiheit und den mit in diesem Urrecht verbundenen Rechten auf freie Rede sowie auf und am Eigentum gibt es nur Rechte, welche ihre Grundlage in der allgemeinen Freiheit haben, weil diese sich in der allgemeinen Gesetzlichkeit verwirklicht, wenn die Gesetze dem Recht genügen. Diese politische Freiheit ist die Würde des Menschen . Sie ist aber in der Charta nicht hinreichend zur Sprache gebracht. Diese politische Freiheit, diese Freiheit des Menschen als Bürger, der mit anderen Bürgern in gleicher Freiheit lebt, nicht individualistisch, sondern sozial, in Brüderlichkeit, meint Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Dort heißt es: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Art. 2 Abs. 1 GG hat das gut formuliert: "Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." "Freiheiten" und "Rechte" identifiziert ein Liberalismus, welcher die politische Freiheit des Menschen nicht zur Wirkung kommen lassen will, sondern den Staat als Einrichtung der Herrschaft missversteht, der Freiheiten vornehmlich als "Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat" (BVerfGE 7, 198 (204)) entgegengestellt werden. Dementsprechend unterscheidet der Entwurf auch "Freiheiten" und "Bürgerrechte", die er als politische Rechte des Unionsbürgers vorstellt, den er der Sache nach zum Unionsuntertanen degradiert. Wer Freiheiten sagt, rechtfertigt Herrschaft und moderiert diese durch liberale, soziale und politische Rechte. Ein Gemeinwesen, das sich auf die Grundsätze der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit, der Solidarität, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit gründet, ist eine Republik. Eine solche legitimiert keinerlei Herrschaft , sondern verwirklicht Freiheit durch Recht. Konzeptionell verbleibt der Konventsentwurf jedoch bei der Formulierung der einzelnen "Rechte, Freiheiten und Grundsätze", sei es aus dogmatischer Inkompetenz, sei es aus interessierter Inkonsistenz, weitgehend im Konstitutionalismus, der durch das monarchische Prinzip geprägt war. An die Stelle des monarchischen Prinzips ist das Prinzip der Parteienherrschaft getreten. Demgemäß festigt Art. 12 Abs. 2 des Entwurfs erneut (vgl. schon Art. 191 EGV) die politischen Parteien auf der Ebene der Union - ein Artikel, der im Übrigen systematisch zu den "Bürgerrechten" gehört, wenn man schon Freiheiten von Bürgerrechten meint unterscheiden zu müssen. Freiheit, Grundrechte, Menschenrechte, Grundfreiheiten, Freiheiten, Rechte, Ansprüche sind in einer inkonsistenten Begrifflichkeit nebeneinander gestellt, welche Verwirrung bei den Interpreten und in der Praxis stiften wird. Schwer zu durchschauen, aber sicher folgenreich stuft der Entwurf mit den Verben "garantieren", "schützen", "einhalten", "gewährleisten", "anerkennen und achten", "das Recht auf Achtung haben", "achten", "gewähren können", "niemand darf . . . werden", "verboten sein", "das Recht haben", "frei sein", "die Freiheit haben", "Freiheit anerkennen", "Anspruch haben", "Anspruch auf Schutz haben", "das Recht auf Zugang haben", "sicherstellen", "besitzen" (das Wahlrecht) die Schutzintensität der Freiheiten, Rechte und Grundsätze ab. Ganz unklar bleibt, aus welchen "Grundrechten" überhaupt subjektive Rechte, also Klagemöglichkeiten der Unionsbürger folgen sollen. Die Grundsätze, mit denen etwa der Umweltschutz (Art. 37) und der Verbraucherschutz (Art. 38) sichergestellt werden, gehören wohl nicht dazu. Elementare Prinzipien wie "die akademische Freiheit" (Art. 13) und die "Freiheit der Medien" (Art. 11 Abs. 2) werden lediglich "geachtet", nicht etwa gewährleistet oder gar garantiert oder wenigstens als Recht anerkannt. Ob differenzierte Gesetzesvorbehalte der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten bestehen oder ob in Art. 52 Abs. 1 ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt gemacht ist, ist zweifelhaft. Die häufigen grundrechtsimmanenten Gesetzesvorbehalte sprechen dafür, dass die vorbehaltlosen Grundrechte wie die Rechte auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit uneinschränkbar sein sollen. Freiheiten, die nur gedacht werden, sind ohnehin, auch ohne Gesetzesvorbehalt, nicht wirkungsstark. Nach der in Deutschland praktizierten allgemeinen Grundrechtslehre kann ein vorbehaltloses Grundrecht (nur) zugunsten anderer Gemeinwohlbelange eingeschränkt werden, welche ihrerseits den Schutz des Verfassungsgesetzes genießen . V. Soziale Rechte Während die liberalen Rechte in den Kapitel I, II und V eine weitgehende, der Grundrechtstradition verpflichtete Aufnahme in den Entwurf gefunden haben - freilich mit beunruhigenden Einschränkungen wie in Art. 13, der die Freiheit der Lehre, die keinesfalls durch die in der neuen Fassung aufgenommenen Achtung der "akademischen Freiheit" hinreichend geschützt ist, nicht nennt -, hat der Entwurf der Charta die sozialen Grundrechte der zweiten Generation weitgehend verschwiegen, obwohl das Kapitel IV die Überschrift "Solidarität" trägt. Das Sozialprinzip als das Prinzip der Brüderlichkeit , jetzt als Prinzip der "Solidarität" gehandelt, wird entgegen der menschheitlichen Verfassung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, zu der sich die Präambel bekennt, in kleinen Arbeitnehmerschutzrechten und in herkömmlichen Einrichtungen (schon fragwürdig gewordener) sozialstaatlicher Versicherungssysteme abgetan. Kapitel IV vermeidet die großen sozialen Postulate, welche sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als auch in der Europäischen Sozialcharta von 1961, insbesondere aber in dem Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1966 enthalten sind. Wenn die Lebensverhältnisse in Europa nach dem neokapitalistischen Entwurf der Grundrechtscharta gestaltet werden, wird die soziale Frage erneut Europa erschüttern. Aber das Sozialprinzip will gar nicht zum Kapitalprinzip passen, dem die Währungsunion (Euro) als geradezu logischer Baustein der Kapitalunion verpflichtet ist. Weil eine echte europäische Sozialunion weder mittel- noch langfristig eine Chance hat, wird das freiheitliche Sozialprinzip schlicht aufgegeben - entgegen den Fundamenten der ebenso christlichen wie humanistischen (Aufklärung!) Kultur Europas, die mit dem (fragwürdigen) Hinweis in Punkt zwei der Präambel auf das "Bewusstsein ihres (sc. der Union) geistig-religiösen und sittlichen Erbes" angesprochen ist. Gegen diese Politik werden Barrikaden errichtet werden. Vor allem fehlt das Recht auf Arbeit, welches in dreizehn Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (außer Deutschland und Österreich) genannt ist, das die meisten Landesverfassungen Deutschlands kennen und das bei richtiger Lesweise sowohl aus dem Sozialprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG als auch der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG folgt . Aufgrund des Rechts auf Arbeit kann eine bestmögliche Beschäftigungspolitik eingefordert werden, wenn auch nicht ein Arbeitsplatz eigener Wahl. Ein Recht auf Arbeit setzt wegen des diesem Recht verpflichteten Beschäftigungszieles eine allein an der Preisstabilität orientierte Politik, welche die Unternehmensinteressen fördern mag, aber die Arbeitnehmerinteressen vernachlässigt, ins Unrecht. Eine Grundrechtscharta, welche die unternehmerische Freiheit anerkennt (Art. 16), aber das Recht auf Arbeit ausspart, verändert die Wirtschaftsverfassung grundlegend. Sie wandelt die marktliche Sozialwirtschaft in eine Markt- und Wettbewerbswirtschaft, die der "globalen Revolution des Kapitals" keine Steine in den Weg legen will. Zur Anerkennung der Arbeitnehmer als Miteigentümer der Unternehmen schreitet die Charta nicht fort, obwohl die Unternehmen genauso das Eigentum der Arbeitnehmer sind wie das der Anteilseigner . Allemal das Arbeitsverhältnis ist ein Eigentum des Arbeitnehmers. Das Arbeitsverhältnis gibt dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, aus eigener Kraft zu leben. Es ist sein Eigenes, das in Deutschland etwa im Kündigungsschutz- und im Mitbestimmungs-, aber auch im Betriebsverfassungsrecht rechtlich anerkannt ist und anerkannt werden muss. Nach Art. 27 muss für die "Arbeitnehmer oder ihre Vertreter" "auf allen Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind". Die unternehmerischen Entscheidungen betreffen das Eigentum der Arbeitnehmer am Unternehmen, nämlich ihren Arbeitsplatz. Die unternehmerische oder auch nur die betriebliche Mitbestimmung ist nicht gewährleistet, obwohl sie in Deutschland zu den Arbeitnehmerrechten gehört, für welche die Gewerkschaften jahrzehntelang gekämpft haben. Dafür gibt es das Recht auf Zugang zu einem "unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst" (Art. 29), gegenüber dem Menschenrecht auf Arbeit ein Hohn für das Millionenheer von Arbeitslosen. Ein Aufschrei der Gewerkschaften war nicht zu hören. Die Arbeitnehmer werden in dem Kapitel IV, das "Solidarität" verspricht, nur in kleinen Rechten geschützt. Sie sollen human behandelt werden, nämlich Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, freilich nur "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" (Art. 30), Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, auf Begrenzung der Höchstarbeitszeiten, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31) und auf Mutterschafts- und Elternschutz, um das Familien- und das Berufsleben in Einklang bringen zu können (Art. 33 Abs. 1), haben. Art. 32 verbietet die Kinderarbeit und schützt die Jugendlichen vor allem vor "wirtschaftlicher Ausbeutung". Dem entspricht es, dass auch das "Eigentumsrecht" des Art. 17 auf den Bestands- und Gebrauchsschutz des Eigentums reduziert wird, während die Menschenrechtstexte (Art. 17 AEMR) und, wiederum bei richtiger Lesweise, auch das Grundgesetz ein Recht auf Eigentum gewährleisten . Frei sind die Menschen nur, wenn sie selbständig sind; denn nur wer selbständig ist, ist der Autonomie des Willens, also der politischen Freiheit, fähig (Kant). Dementsprechend hat jeder ein Recht darauf, dass die Eigentumsordnung allen das erforderliche Eigentum gewährleistet. Die Eigentumsordnung muss dem Sozialprinzip genügen, also, wenn man so will, solidarisch sein. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, welche Art. 14 Abs. 2 GG ("Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen") klar formuliert, nennt der Entwurf der Charta nicht, obwohl der Europäische Gerichtshof eine soziale Grundrechtslehre der Gemeinschaftsverpflichtetheit praktiziert . Eine liberalistische Stärkung des Privatheitsprinzips würde die funktionale Staatlichkeit der Mitgliedstaaten entgegen deren Verfassungsgesetzen relativieren, etwa die Verwirklichung des Sozialprinzips, zumindest in Deutschland ein Fundamentalprinzip , das nicht zur Disposition der Integrationspolitik steht. Eine europäische Grundrechtscharta kann rechtens nicht vom Freiheits- zum Herrschaftsprinzip und auch nicht vom Sozial- zum Individualprinzip wechseln. Jedes Verfassungsgesetz muss die Verfassung der Menschheit des Menschen wahren. VI. Auf dem Weg zum Verfassungsstaat Europäische Union Ein Grundrechtstext ist klassischer Bestandteil eines Verfassungsgesetzes, welches ein Volk zum Staat verfasst. Außerdem regelt ein Verfassungsgesetz die Ziele, Aufgaben und Befugnisse eines Staates und die Organisation des Staates, welche gewaltenteilig sein muss, um einer Verfassung der Freiheit und des Rechts zu genügen. Die organisationsrechtliche Verfassung (im funktionalen Sinne) enthalten die primärrechtlichen Verträge der Union, vor allem der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft. Dennoch sind diese Verträge im Gegensatz zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und einer früheren, inzwischen nicht wiederholten Äußerung des Bundesverfassungsgerichts keine Verfassungsgesetze, eben weil sie die Europäische Union nicht zu einem Staat, einem Bundesstaat , und die Unionsbürger nicht zu einem Volk im staatsrechtlichen Sinne integrieren . Es hat niemals eine Staatsgründung der Europäischen Union gegeben. Insbesondere sind die Politiken der Europäischen Union nicht eigenständig demokratisch legitimiert . Das aber wäre eine unabdingbare Voraussetzung eines freiheitlichen Gemeinwesens, einer Republik der Europäer. Die demokratische Legitimation der Rechtsakte der Unionsorgane beruht auf den demokratisch legitimierten Zustimmungsgesetzen der mitgliedstaatlichen Legislativorgane zu den Gemeinschaftsverträgen. Spezifisch daraus erwächst das Prinzip der begrenzten Ermächtigung der Unionsorgane durch die Übertragung von Hoheitsrechten zur gemeinschaftlichen Ausübung . Mit der entworfenen Charta der Grundrechte (letzter Entwurf vom 28. September 2000) wird die Europäische Union ihre existentielle Staatlichkeit vertiefen. Im Laufe der Zeit sind die Europäischen Gemeinschaften zum Staat im existenziellen Sinne entwickelt worden . Der letzte geradezu diktatorische Schritt war die Währungsunion. Unbeirrt gehen die Integrationisten den Weg zum Großstaat Europa weiter. Die existenzielle Staatlichkeit der Völker Europas (der Mitgliedstaaten) lässt nur eine gemeinschaftliche Ausübung der Staatlichkeit der Völker, also eine funktionale Staatlichkeit der Europäischen Union, zu. Zu diesem Zweck ist letzterer die gemeinschaftliche Ausübung von bestimmten und begrenzten Hoheitsrechten übertragen (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG). Diese Hoheitsrechte dürfen nur nach Maßgabe der Grundrechte der Mitgliedstaaten ausgeübt werden; denn kein Staat hat Hoheit entgegen den Grundrechten der Menschen und der Bürger. Vielmehr sind die Grundrechte als solche negative Kompetenzen . Grundrechte sind zwar einschränkbar, so dass auch die Rechtsakte der Europäischen Union, der funktionale Staatlichkeit delegiert ist, Grundrechte einzuschränken vermögen, aber doch nicht zu Lasten des Wesensgehalts der Grundrechte. Nach Art. 19 Abs. 2 GG darf "in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden". Dementsprechend hat sich das Bundesverfassungsgericht vorbehalten, den Grundrechtsstandard, der zumindest den generellen Wesensgehalt der Grundrechte ausmacht, auch gegenüber Rechtsakten der Europäischen Union zur Geltung zu bringen . Die Charta der Grundrechte verfolgt scheinbar nur den Zweck, der Existenz eines europäischen Staates ein weiteres Symbol zu verleihen. In Wahrheit will man aber einen weiteren Schritt auf dem Wege zu einer existenziellen Staatlichkeit der Europäischen Union gehen, der seit Jahrzehnten mit den Mitteln des Völkerrechts, aber weitestgehend ohne die Völker selbst zu fragen, beschritten wird. Durch ein Verfassungsgesetz soll die existenzielle Staatlichkeit der Union weiterentwickelt werden, indem in einer Regierungskonferenz nach Nizza die Gemeinschaftsverträge einschließlich des letztlich angestrebten Grundrechtsvertrages zum Verfassungsvertrag zusammengefasst, jedenfalls als ein einen Verfassungsstaat begründendes Verfassungswerk ausgegeben werden. Die existenzielle Staatlichkeit der Europäischen Union können jedoch nur die Völker der Mitgliedstaaten ermöglichen, weil sie, jedes Volk für sich, die eigene existenzielle Staatlichkeit (seine Souveränität) aufgeben müssen. Das setzt Verfassungsreferenden der Völker voraus. Ein Verfassungsgesetz für Europa bedarf einer Vorbereitung durch eine eigens für diese Aufgabe von allen Unionsbürgern gewählte europäische Nationalversammlung. Durch diese Wahl würden sich die Europäer zu einem Staatsvolk konstituieren. Über das Verfassungsgesetz müsste schließlich das europäische Volk abstimmen. Die gegenwärtigen Vertreter der mitgliedstaatlichen Völker in den Regierungen und Parlamenten haben weder die Aufgabe noch gar die Befugnis, die Union zu einem existenziellen Staat zu entwickeln. Das "vereinte Europa" im Sinne des deutschen Integrationsprinzips (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) ist eine Union als Staatenverbund . Dieser setzt die existenzielle Staatlichkeit der Völker der Mitgliedstaaten voraus. Das Ziel eines existenziellen Verfassungsstaates Europa ist verfassungswidrig; denn es gefährdet den "Bestand der Bundesrepublik Deutschland" als existenziellen Staat, also die Souveränität Deutschlands, die es trotz aller Gemeinschaftlichkeit der Ausübung der Staatlichkeit (auf Grund der übertragenen Hoheitsrechte, Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) Deutschland wie jedem anderen Mitgliedstaat erlaubt, aus der Union auszuscheiden, indem das Integrationsprinzip aus dem Grundgesetz gestrichen wird (Voraussetzung: Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat) und die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen aufgehoben werden . Die Organe der Europäischen Gemeinschaften haben keinesfalls die Aufgabe und Befugnis, den existenziellen Verfassungsstaat Europa zu schaffen. Sie haben im Rahmen der begrenzten Ermächtigungen (Aufgaben und Befugnisse) die Ziele der Gemeinschaften zu verwirklichen . Vgl. K. A. Schachtschneider, Der republikwidrige Parteienstaat. Festschrift für H. Quaritsch, Berlin 2000, S. 141 ff.; ders., Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, Berlin 1994, S. 1060 ff., 1086 ff., 1113 ff. Vgl. etwa Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 4, 157 (168 ff.); 97, 350 (370 ff.); dazu W. G. Grewe, Auswärtige Gewalt. Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Heidelberg 1988, § 77, Rdn. 89 ff. Vgl. BVerfGE 37, 271 (280 f.); 73, 339 (374 ff., 386 f.); 89, 155 (174 f.); etwa Europäischer Gerichtshof (EuGH) - Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (508); Rs. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727 (3747); A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, Berlin 2000, S. 348 ff.; vgl. auch K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, in: Datenverarbeitung/Steuer/Wirtschaft/Recht, (1999), S. 82 ff., 116 ff. Vgl. EuGH - Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (507, Rdn. 13); Rs. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727 (3745); Rs. 265/87 (Schräder/Hauptzollamt Gronau), Slg. 1989, 2237 (2267 f.); A. Emmerich-Fritsche (Anm. 3), S. 125 ff. Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.). Vgl. K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum. Aspekte freiheitlicher Eigentumsgewährleistung, Festschrift für W. Leisner, Berlin 1999, S. 743 ff., insb. S. 755 ff. Vgl. dazu ders., Recht auf Arbeit - Pflicht zur Arbeit, Festschrift für J. G. Helm (i. E.). Vgl. Art. 28 ff. EGV (Warenverkehrsfreiheit), Art. 30 ff. EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 43 ff. EGV (Niederlassungsfreiheit), Art. 49 ff. EGV (Dienstleistungsfreiheit), Art. 56 ff. EGV (Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit). Vgl. EuGH - Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1994, 1251 (1269 f.); Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- u. Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 329 (331); K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche (Anm. 3), S. 81 ff. Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.). Vgl. BVerfG v. 7. Juni 2000, Akz: 2BvL 1/97, mit Anmerkung von A. Emmerich-Fritsche, in: Bayerische Verwaltungsblätter, (2000), S. 755 ff. Vgl. K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, Festschrift für W. Hankel, Stuttgart 1999, S. 119 ff. Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (186); zum Homogenitätsprinzip K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 1177 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, (1997), Beiheft 71, S. 168 ff. Vgl. G. Dürig, Der Grundrechtsschutz der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81 (1956), S. 1 ff., 46 ff.; vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 819 ff., insb. S. 827; BVerfGE 80, 367 (373 f.). Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von H. Winkelmann, Tübingen 19725, S. 838 ff.; R. Michels, Zur Soziologie des Parteienwesens in der Demokratie, 19252, S. 349; R. Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, München 1986/89, S. 112 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 1064 ff. I. Kant, Zum ewigen Frieden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1983, S. 228 ff. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 350ff.; ders., Freiheit in der Republik (i. E.), S. 47, 72, 113, 158. Zur kantianischen Freiheitslehre vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 275 ff., 325 ff., 427 ff; ders., Freiheit (Anm. 17), S. 14 ff., 79 ff., 200 ff.. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 35 ff., 275 ff., 303 ff., 325 ff., 494 ff., 519 ff. Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. W. Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1983, S. 67 f. Vgl. dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 441 ff.; ders., Freiheit (Anm. 17), S. 129 ff. Vgl. ebd., S. 71 ff. Vgl. etwa BVerfGE 50, 290 (369); 84, 212 (228); 92, 26 (41); 100, 271 (283). Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 234 ff. Vgl. dazu J. Ringler, Die europäische Sozialunion, Berlin 1997. Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm 7), S. 4 ff., 13 ff. Vgl. W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muss, Reinbek 1998, S. 200 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit (Anm. 17), S. 270 ff. Vgl. K. A. Schachtschneider, Eigentümer globaler Unternehmen, Festschrift für H. Steinmann, Stuttgart 1999, S. 412 ff. Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm. 6), S. 755 ff. Vgl. EuGH - Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (507); A. Emmerich-Fritsche (Anm. 3), S. 333 ff. Zum Privatheitsprinzip K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 370 ff. Vgl. BVerfGE 84, 90 (121); 100, 271 (284). Vgl. BVerfGE 22, 293 (296); 89, 155 (188). Vgl. BVerfGE 89, 155 (188) Vgl. K. A. Schachtschneider (Anm. 12), S. 119 ff. Vgl. BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.). Vgl. K. A. Schachtschneider, Die existenzielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: K. A. Schachtschneider/W. Blomeyer (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Berlin 1995, S. 111 ff., ders., Die Republik der Völker Europas (Anm. 13), S. 170 ff., 174 ff. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi (Anm. 1), S. 353 f., 476, 821 f., 1030 Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.). Vgl. BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.), Maastricht-Urteil. Vgl. BVerfGE 89, 155 (190). Zum Prinzip der begrenzten (Einzel-)Ermächtigung BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.); K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: Juristenzeitung, (1993), S. 751 f.
Article
Schachtschneider, Karl Albrecht
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25262/eine-charta-der-grundrechte-fuer-die-europaeische-union/
Die EU-Charta verfolgt das Ziel, die existenzielle Staatlichkeit der Europäischen Union voranzutreiben. Dabei wird jedoch vergessen, die Meinung der Völker Europas einzuholen.
[ "europäische Union", "Charta der Grundrechte für die Europäische Union", "Grundrechtscharta", "Europa" ]
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Kommentar: Mögliche Rassendiskriminierung auf der Krim – Ukraine vs. Russland vor dem Internationalen Gerichtshof | Russland-Analysen | bpb.de
Einführung Im Fall Ukraine gegen Russland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) geht es um die mutmaßliche Verletzung zweier völkerrechtlicher Verträge durch die Russische Föderation. Eines dieser Abkommen ist das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (internationale Abkürzung: ICERD). Der IGH überprüft, inwiefern es seit 2014 auf der Krim zur Rassendiskriminierung gekommen ist. Die Anhörung hat gerade erst begonnen. Mit der Klage gegen Russland vor dem IGH will die Ukraine erreichen, dass die auf der Krim lebenden Tataren und Ukrainer Zugang zu Bildung in ihrer Muttersprache haben. Außerdem soll ihnen Vereinigungsfreiheit garantiert werden, ebenso der Schutz vor diskriminierenden Maßnahmen Russlands wie Verschwindenlassen oder Inhaftieren von Menschen. Eine (zumindest teilweise) positive Entscheidung des IGH würde die Position der Ukraine in Verhandlungen mit ausländischen Partnern über Sanktionen gegen Russland stärken. Sie wäre auch eine solide Basis für den möglichen Beginn von Verhandlungen mit Russland über eine Konfliktlösung und die Rückgabe der Kontrolle über die ukrainischen Gebiete. Obwohl Russland das Verfahren vor dem IGH nicht angestrebt hat, hat es ebenfalls Erwartungen an den Prozess. Falls der Gerichtshof den ukrainischen Vorwurf der Rassendiskriminierung nicht bestätigen würde, könnte Russland seine Krim-Politik beibehalten. Außerdem würde das die Aufhebung der nach der Krim-Besetzung verhängten Sanktionen wahrscheinlich erleichtern. Die russische Führung könnte dies der eigenen Bevölkerung als Bestätigung ihrer Version der Ereignisse durch die internationale Gemeinschaft präsentieren und so ihr Image verbessern. Vorteilhaft wäre für Russland auch, wenn der IGH aufgrund unzureichender Zuständigkeit oder einer engen Auslegung der Kernbegriffe des Abkommens den Fall nicht annehmen würde. Stillstand oder eine Entscheidung über die Nichtanwendbarkeit des Abkommens wären für Russland positiv. Eine solche Entscheidung würde wahrscheinlich medial genutzt werden. Ähnlich war es nach der Entscheidung des IGH im Fall Georgien vs. Russland. Damals entschied der IGH, dass es unmöglich sei, den Fall zu prüfen, da Georgien die obligatorische Pflicht zur Vorverhandlung von Verstößen gegen das ICERD vor der Anrufung des Gerichtshofs nicht eingehalten habe. Diese Entscheidung interpretierte Russland als eindeutigen Sieg. Die ukrainische Argumentation Die Position der Ukraine in Bezug auf das ICERD stellt sich folgendermaßen dar: Nach Durchführung des nicht anerkannten Referendums auf der Krim am 16. März 2014 habe Russland auf der Halbinsel zu einer Atmosphäre der Intoleranz, die gegen Ukrainer und Tataren auf der Halbinsel gerichtet sei, beigetragen.In dieser Atmosphäre komme es laut Ukraine zu Verfolgungen aus politischen und kulturellen Gründen: Kulturelle Zusammenkünfte würden verboten. Deren Teilnehmer verschwänden und würden körperlich misshandelt. Willkürliche Durchsuchungen und Verhaftungen fänden statt. Die Arbeit der tatarisch- oder ukrainischsprachigen Medien und Bildungseinrichtungen werde eingeschränkt.Die Einschränkungen im Einzelnen: Der Medschlis des Krimtatarischen Volks [das repräsentative Organ der Krimtataren – Anm. d. Red.] sei verboten worden, seiner Führung werde die Einreise verwehrt. Der Unterricht auf Ukrainisch und auf Krimtatarisch werde eingeschränkt. Von mehr als 12.500 Schülern, die im Jahr 2013 Ukrainisch gelernt hätten, seien im Jahr 2016 nur etwa 1.000 übrig geblieben. Vom ukrainischen Bildungsministerium genehmigte Lehrbücher auf Krimtatarisch seien ohne Alternative verboten worden. An tatarischen religiösen Schulen fänden unter dem Vorwand, extremistische Literatur müsse beschlagnahmt werden, Durchsuchungen statt. Krimtataren und Ukrainer seien entführt oder inhaftiert worden, darunter krimtatarische und ukrainische Meinungsführer. Es sei zu Repressionen gegen Medien der ukrainischen und krimtatarischen Community gekommen (zum Beispiel gegen die Zeitung "Krymska switlyzja", das "Zentrum für journalistische Recherchen" und den Fernsehsender "ATR"). Großveranstaltungen an für Ukrainer und Krimtataren wichtigen Tagen seien verboten worden, so am 201. Geburtstag von Taras Schewtschenko, am 70. Jahrestag der Deportation der Krimtataren ("Sürgün") und am Internationalen Tag der Menschenrechte. Ukrainer und Krimtataren seien außerdem von der Krim auf das ukrainische Festland vertrieben worden. Während 2001 noch 243.400 Krimtataren auf der Halbinsel gelebt hätten, seien es 2015 laut Zensus der Russischen Föderation nur noch 42.254 gewesen.Die Klageschrift verweist auf Berichte und Resolutionen regionaler und internationaler Organisationen, um die Objektivität der ukrainischen Vorwürfe zu untermauern. Diese Berichte dokumentieren im Grunde die Fakten, die die Ukraine in ihrer Klageschrift nennt.Die Ukraine sieht in der Einschränkung der Rechte von Ukrainern und Krimtataren einen Verstoß gegen Artikel 2 bis 5 des ICERD. Diese Artikel verpflichten Staaten dazu, Rassendiskriminierung zu verurteilen und zu verhindern, die Anstiftung zu Rassendiskriminierung durch Staatsvertreter zu verbieten und grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten. Die russische Sicht Auf die in der Klageschrift der Ukraine angeführten Argumente reagierte Russland mit einer eigenen Darstellung. Die russische Seite versuchte zu zeigen, dass sich die Situation auf der Halbinsel seit dem von der Ukraine als "Beginn der Okkupation" bezeichneten Zeitpunkt kaum verändert habe und dass es keine Diskriminierung von Ukrainern und Krimtataren gebe. Außerdem warf Russland der Ukraine Verfahrensverstöße bei der Initiierung des Prozesses vor und stellte damit die Zulässigkeit des Verfahrens in Frage. Die russische Seite argumentierte, die Ukraine wolle durch die Anrufung des IGH Russlands Souveränität über die Krim in Frage stellen – statt Russland für Verstöße gegen das ICERD zur Verantwortung zu ziehen. Fälle, die die territoriale Zugehörigkeit der Krim betreffen, können ohne das beidseitige Einverständnis Russlands und der Ukraine vor dem IGH nicht verhandelt werden. So sollte das Gericht zu einer skeptischen Haltung gegenüber der ukrainischen Position gebracht werden. Das Team von Rechtsanwälten, das Russlands vertritt, brachte dazu folgende Argumentation vor: Die Ukraine habe vor 2014 die krimtatarische Bevölkerung auf der Halbinsel jahrzehntelang diskriminiert. Entgegen den ukrainischen Angaben würden nach 2014 mehr als 277.000 Krimtataren und 345.000 Ukrainer auf der Krim leben. Dass sich die Zahlen so deutlich unterscheiden, liege daran, dass die Ukraine die Daten aus dem russischen Zensus falsch zitiert habe: Während sich Russland auf die Gesamtzahl der Krimtataren beziehe, habe die Ukraine die Zahl derjenigen Tataren genannt, deren Muttersprache nicht Krimtatarisch sei. Ergänzt wurden diese Ausführungen durch Informationen über die im Innenministerium der Krim, der Staatsanwaltschaft und in den Schulen tätigen Ukrainer und Krimtataren.Der Gerichtshof könne Resolutionen und Berichte internationaler Organisationen nicht als unparteiische Stellungnahmen werten, denn diese Organisationen würden die Krim nicht als Teil Russlands anerkennen.Der Medschlis des Krimtatarischen Volkes sei nicht das einzige repräsentative Organ der Krimtataren. Es gebe andere Organe, die die "Änderung des Status der Krim" unterstützen würden, wie etwa das Taurische Muftiat. Der Medschlis hingegen sei eine reaktionäre, nicht registrierte Organisation und eine Gefahr für den Staat.Trotz der Behauptung der Ukraine, die Rechte ihrer Bürger auf der Krim vor Rassendiskriminierung schützen zu wollen, habe die Ukraine nach dem dritten bilateralen Treffen weitere Verhandlungen abgelehnt. Für die Sitzungen selbst habe die Ukraine jeweils nur einige Stunden Zeit eingeräumt. Die Ukraine habe sich auch nicht an den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung gewandt, was darauf hindeute, dass sie kein Interesse habe, die Streitigkeit außergerichtlich beizulegen.Ein Diskriminierungsmotiv, welches für die Feststellung von Rassendiskriminierung notwendig ist, sei nicht vorhanden. Die Haltung gegenüber der ukrainischen und krimtatarischen Bevölkerung unterscheide sich nicht von der Haltung gegenüber der russischen. Erste Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes Der IGH folgte im Wesentlichen bisher der Argumentation der Ukraine in Bezug auf das ICERD. Das Gericht ordnete im April 2017 einstweilige Maßnahmen an. Russland wurde verpflichtet, die Einschränkung gegenüber den krimtatarischen Organisationen (einschließlich gegenüber dem Medschlis), einzustellen und den Zugang zu Unterricht auf Ukrainisch zu gewährleisten. Im Falle eines Verstoßes gegen die einstweiligen Maßnahmen hat die Ukraine ein Recht auf Reparationen. (Außerdem würde in der finalen Entscheidung des IGH auf Verstöße Russlands gegen die Anordnung einstweiliger Maßnahmen hingewiesen werden, was der Ukraine eine Art Genugtuung verschaffen würde.) Es gibt jedoch weder für den IGH noch für die Ukraine ein probates Mittel zur Durchsetzung der einstweiligen Maßnahmen. Bisher hat Russland der ukrainischen Regierung und Nichtregierungsorganisationen zufolge die beiden ihr vom IGH auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt. Die Ukraine hat deshalb fristgerecht eine Klageschrift eingereicht. Darin werden dem IGH die den Fall betreffenden Beweise und deren juristische Auslegung dargelegt. Russland brachte Einwände gegen die Zuständigkeit des IGH und die Zulässigkeit des Verfahrens vor. Am 14. Januar 2019 legte die Ukraine gegen die Infragestellung der Zulässigkeit Einspruch ein. Das weitere Verfahren für die Anhörung sollte in naher Zukunft vom Gerichtshof festgelegt werden. Sicher kann man zurzeit nur sagen, dass der Prozess eine Sache von Jahren, nicht von Monaten sein wird. Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-04-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-369/289703/kommentar-moegliche-rassendiskriminierung-auf-der-krim-ukraine-vs-russland-vor-dem-internationalen-gerichtshof/
Der ukrainische Vorwurf der Rassendiskriminierung auf der Krim wird derzeit vom Internationalen Gerichtshof geprüft. Welche Positionen vertreten die ukrainische und russische Seite im Prozess? Und welche Erwartungen haben die beiden Länder an den Aus
[ "Rassen", "Diskriminierung", "Krim", "Russland", "Internationaler Gerichtshof" ]
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Bericht/ Fazit: Barrieren im Kopf und anderswo | 12. Bundeskongress Politische Bildung | bpb.de
Mitwirkung für alle? Um Inklusion und Exklusion bei der Beteiligung an politischen Prozessen und Diskussionen ging es in Sektion 7 am Dienstagnachmittag (22. Mai 2012) im Auditorium Friedrichstraße. Welche Gruppen partizipieren unterdurchschnittlich? Warum? Wie können Menschen ermutigt und befähigt werden, sich einzumischen? Externer Link: Brigitte Geißel, Professorin für Politikwissenschaft und politische Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lieferte den demokratietheoretischen Aufschlag zum Thema. Gleichheit ist ein zentrales Versprechen der Demokratie. Jeder und jede sollte prinzipiell gleich politischen Einfluss nehmen können. Das dies nicht so ist und höhere politische Beteiligung mit bestimmten Merkmalen korreliert, machte Geißel an drei Charakteristika exemplarisch deutlich: Geschlecht, Bildung und Einkommen. Bei der Beteiligung und Repräsentanz von Frauen habe sich einiges getan (wenn auch noch nicht genug). Dagegen ist frappierend, dass Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad oder geringeren Einkommen in keiner möglichen politischen Partizipationsform das Beteiligungsniveau von Menschen mit höherem Bildungsabschluss oder Einkommen erreichen – und dies deutlich nicht. Das geringere Beteiligungsniveau einiger Gruppen sei schlecht für die Demokratie, ein Teufelskreis entstehe: Die Interessen dieser Menschen werden unsichtbar, die Politik vertritt diese kaum oder gar nicht mehr. Die Gruppe sei letztlich verdrossen von Parteien und Politiker/innen – und partizipiert wiederum weniger. Folgen können Abkopplung, Radikalisierung, erhöhte Kriminalität und Einbußen in der sozialen Mobilität sein. Für die mangelnde Partizipationsbereitschaft sei ein Geflecht aus gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen wie individuellen Voraussetzungen verantwortlich: Individualisierung, sozioökonomische Ungleichheiten, politische Sozialisation und Orientierung. Was zu tun ist, kann daher ebenso wenig nur an einem Punkt ansetzen. Bei den Vorschlägen zu einer partizipatorischeren Demokratie (Bürgerentscheide, diskursive Formen, Selbstvertretung, Stimmrecht abhängig vom Wohnort, nicht vom Pass, Quotenregelungen) müsse genau geschaut werden, welche zum Ziel der Demokratie, die gleichen Mitbestimmungsmöglichkeiten zu bieten, beitragen können. Allerdings auch bei welchen die Gefahr bestehe, dass sich ressourcenstarke Gruppen durchsetzen und Ungleichheiten verschärfen. Ein Arbeitsplatz – Voraussetzung für ehrenamtliches Engagement? Das Podium in Sektion 7 (© Christian Plähn) Die nächsten drei Podiumsgäste warfen einen genaueren Blick auf drei auch untereinander sehr heterogene Gruppen, die bei der politischen Partizipation unterrepräsentiert sind: Arbeitslose bzw. Erwerbslose, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Menschen mit Behinderungen. Externer Link: Britta Baumgarten, zur Zeit Postdoc am CIES-ISCTE-IUL in Lissabon, zeigte Gründe auf, warum sich (bestimmte) arbeitslose Menschen wenig engagieren und oft ein Ehrenamt aufgeben, wenn sie ihren Job verloren haben: neben Bildungs- und Einkommensniveau und damit verbundenen verminderten Ressourcen spielen fehlende soziale Netzwerke und das Gefühl, sich ein Ehrenamt erst leisten zu können, wenn Arbeit gefunden ist, eine Rolle. Und nicht zuletzt sei es der stigmatisierende und diffamierende Diskurs in Politik, Medien und Gesellschaft: Thilo Sarrazins Äußerung von 2007 "Wer als Hartz-IV-Empfänger genug Kraft für ein Ehrenamt findet, der sollte die Kraft darin legen, Arbeit zu finden" (Quelle: T. Sarrazin in: Die Welt, 27.09.2007) sei eindrückliches Beispiel für den Ton dieses Diskurses. Barrierefreie Partizipation in Deutschland? Externer Link: Martin Zierold, Bezirksverordneter der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte und von Geburt an taub, führte vor Augen, wie weit Deutschland bei der Umsetzung der UN-Behindertenkonvention ist beziehungsweise nicht ist. Barrierefreiheit ist das Stichwort, das nicht nur im täglichen Leben, sondern auch bei der politischen Beteiligung essentiell ist. Angefangen mit so einfachen Dingen wie dem Zugang zum Wahllokal oder zu Wahlprogrammen, bis hin zu einer Diskussion über eine Quote für Behinderte. Michael Wahl, Volontär im Fachbereich "Politikferne Zielgruppen" bei der bpb, ergänzte aus Sicht der Blinden und anhand seiner eigenen Biografie, wie es um die Inklusion in Deutschland steht. Im Bildungssektor sei noch einiges zu tun: Der Regelschulbesuch ist noch lange nicht die Regel. Aber auch Berührungsängste der Gesellschaft müssen thematisiert und überwunden werden, denn es seien vor allem, so Wahl, die Barrieren im Kopf, die einen selbstverständlichen Umgang miteinander erschweren. Externer Link: Andreas Wojcik, umtriebiger "Brückenbauer" aus Troisdorf, nahm schließlich die Beteiligung und Repräsentanz von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den Blick. Im "Externer Link: Forum der Brückenbauer", unterstützt von der Bertelsmann-Stiftung, hat man sich auf diesen Terminus verständigt, um den sperrigen und oft pejorativ gebrauchten "Hintergrund" zu vermeiden. Selbstorganisation, Vernetzung und Engagement in politischen Parteien – im Falle Wojciks der CDU, in der er eine regionale Arbeitsgruppe von Migranten in der Union ins Leben gerufen hat – sind für ihn Wege, um Sichtbarkeit und Partizipation zu steigern. Später auf die Quote angesprochen, lehnte Wojick diese für sich persönlich ab. Er möchte kein "Quotenmigrant" sein, hält sie aber für ein probates politisches Mittel für eine angemessene Repräsentation. Nicht aufgeben ist die Devise Die Sektionspause wurde zum regen Austausch genutzt (© Christian Plähn) In der anschließenden regen Diskussion, die Moderatorin Externer Link: Claudia Lohrenscheit vom Externer Link: Deutschen Institut für Menschenrechte mit zusammenfassenden, aber auch eigenen fachlichen Impulsen zu befördern wusste, ging es vor allem um die Fragen: Und nun? Was tun? Was hilft, Partizipation zu befördern, Inklusion durchzusetzen und Diversität zu leben? Ein Patentrezept hat auch diese Sektion nicht gefunden. Nicht aufgeben und ein langer Atem seien genau so Faktoren wie politische Instrumente wie Quoten oder andere Inklusionsformen. Daneben stünden rechtliche Absicherungen und gemeinsames Handeln (wobei Solidarisierung von unterschiedlichen Minderheiten zwar wünschenswert, aber aufgrund disparater Interessenlagen oft nicht realisierbar ist), finanzielle und personelle Ressourcen und aufsuchende politische Bildung. Auch die Hilfe zur Vernetzung von Mitgliedern der benachteiligten Gruppen sowie von Multiplikator/innen – wie etwa im Netzwerk "Verstärker" der bpb (Interner Link: www.bpb.de/veranstaltungen/netzwerke/verstaerker) – sei ein wichtiger Punkt. Trotzdem braucht es noch einiges, damit aus dem Fragezeichen im Titel der Diskussion ein Ausrufezeichen wird: Mitwirkung für alle! Das Podium in Sektion 7 (© Christian Plähn) Die Sektionspause wurde zum regen Austausch genutzt (© Christian Plähn)
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Anne Seibring
2021-06-23T00:00:00
2014-11-14T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/195105/bericht-fazit-barrieren-im-kopf-und-anderswo/
Mitwirkung für alle? Um Inklusion und Exklusion bei der Beteiligung an politischen Prozessen und Diskussionen ging es in Sektion 7 am Dienstagnachmittag (22. Mai 2012) im Auditorium Friedrichstraße. Welche Gruppen partizipieren unterdurchschnittlich?
[ "Bundeskongress politische Bildung", "Arbeitsplatz", "Ehrenamt", "Engagement", "Partizipation", "Beteiligung" ]
31,239
Identifikation und (ethnische) Selbstzuschreibungen | bpb.de
Die Erfahrung zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher Bezugshorizonte wirft auch die Frage nach der Definition der eigenen Identität und "ethnisch-kulturellen" Selbstzuschreibungen auf. Sowohl die Ergebnisse der quantitativen TASD-Studie von Sezer/Dağlar (2009) als auch die qualitativen Untersuchungen von Pusch/Aydın (2011), Hanewinkel (2010) und Sievers et al. (2010) verweisen auf individuell sehr unterschiedliche, facettenreiche Identifikationsmuster, die aber den Schluss tendenziell "hybrider" Identitäten nahelegen. So bezeichnen sich befragte Abwanderer etwa als »Deutsch-Türken«, »Deutsche mit türkischen Wurzeln«, »Deutsche mit Türkischkenntnissen« , »Türkin mit deutschem Pass« oder – nationalstaatliche Rahmungen hinter sich lassend – auch als »Europäer« . Diese Selbstzuschreibungen sind nicht statisch, sondern wechseln situativ. Den durchaus spielerischen Umgang mit Identität führt eine Befragte Hanewinkels eindrücklich vor: "Wenn ich mich jetzt über irgendwas Türkisches aufrege, bin ich auf einmal die absolut Deutsche, spreche dann auch nur Deutsch und reg mich auf Deutsch auf und genauso in Deutschland […], dann bin ich auf einmal die Türkin: "Also ihr wollt uns gar nicht!" […] ich bin auch wirklich froh drum, dass ich so, wie ich will, und wenn ich will die Fronten wechseln kann. […] Also dieses Hin und Her gefällt mir eigentlich." Deutlich wird, dass Identität immer wieder aktiv und (z.T. auch zweckrational und gezielt) hergestellt wird. Gemeinsam ist vielen Befragten, dass sie ihr "Deutschsein" erst durch ihren Aufenthalt in der Türkei entdeckt haben. Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Die Abwanderung hochqualifizierter türkeistämmiger deutscher Staatsangehöriger in die Türkei". Pusch/Aydın (2011). Hanewinkel (2010). Sievers et al. (2010). Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010). Pusch/Aydın (2011), Hanewinkel (2010), Tirier (2010).
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-04-20T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/132842/identifikation-und-ethnische-selbstzuschreibungen/
Die Erfahrung zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher Bezugshorizonte wirft auch die Frage nach der Definition der eigenen Identität und "ethnisch-kulturellen" Selbstzuschreibungen auf.
[ "Hochqualifizierte Kräfte", "Hochqualifizierte", "Fachkräfteabwanderung", "Identität", "Deutschland", "Türkei" ]
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Checkpoint bpb – die Montagsgespräche: Jenseits der Dystopie. | Checkpoint bpb – Die Montagsgespräche | bpb.de
Seit jeher beschäftigen sich die Menschen mit der Zukunft – von der orakelnden Vorausschau anhand von tierischen Innereien, über literarische Utopien als gesellschaftliche Gegenentwürfe, bis zu komplexen Foresight-Analysen der aktuellen Forschung. Zukünftige Ereignisse und Entwicklungen vorauszusehen, um sich auf diese vorbereiten, Einfluss nehmen oder Alternativen entwickeln zu können, war schon immer eines der zentralen menschlichen Anliegen. Mit Blick auf die mit dem Klimawandel, der Globalisierung und Digitalisierung verbundenen gravierenden Herausforderungen der Gegenwart erscheint die Frage, wie wir unsere Zukunft aktiv beeinflussen und gestalten können, drängender denn je. In der Literatur und im Film wird derzeit ein vermehrt dystopisches Bild zukünftiger Gesellschaften gezeichnet, welches sich im echten Leben in den Nachrichten aus aller Welt zunehmend widerzuspiegeln scheint. Positive Entwürfe unserer Zukunft bleiben dabei eher rar. Verstellt eine solche pessimistische Perspektive den Blick auf transformatorisches Handlungspotential oder ist er vielmehr notwendiger Bestandteil einer Auseinandersetzung mit den Gefahren und Risiken unserer Gesellschaft? Das erste Checkpoint-Montagsgespräch im Jahr 2020 nutzten wir, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Auf welche Weise wird diese heute antizipiert? Was braucht es, um tragfähige Visionen positiver Zukünfte zu entwerfen? Und welche Handlungsmöglichkeiten haben wir, diese zu gestalten? Über diese und weitere Fragen diskutierten wir mit Olga Grjasnowa (Autorin), Gemina Picht (FuturZwei), Petra Schaper-Rinkel (Universität Graz) und Jörg Reisig (The Fermi Paradox) Moderiert wurde die Veranstaltung von Politikberater Dr. Cornelius Adebahr. Mit einer Lesung aus Neu-Berlin von Olga Grjasnowa (2029 Geschichten von morgen, Suhrkamp 2019). Hier finden Sie den Verantstaltungsmitschnitt als Audiodatei
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-18T00:00:00
2020-02-26T00:00:00
2022-01-18T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/checkpoint-bpb-die-montagsgespraeche/305788/checkpoint-bpb-die-montagsgespraeche-jenseits-der-dystopie/
Seit jeher beschäftigen sich die Menschen mit der Zukunft, wobei positive Entwürfe unserer Zukunft eher rar bleiben. Ist eine dystopische Perspektive unabdingbar für die Auseinandersetzung mit Gefahren und Risiken, und welche positiven Visionen und H
[ "Gesellschaft", "Zukunft", "Dystopie", "Umwelt" ]
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Ersparnis, Investitionen und Finanzierungssalden in der offenen Volkswirtschaft | Europäische Wirtschaftspolitik | bpb.de
Interner Link: Download "Ersparnis, Investitionen und Finanzierungssalden in der offenen Volkswirtschaft (Deutschland 2015)" als pdf-DateiInterner Link: Download "Ersparnis, Investitionen und Finanzierungssalden in der offenen Volkswirtschaft (Deutschland 2015)" als odt-Datei Die Konsumausgaben der privaten Haushalte waren im Jahr 2015 mit etwa 1,633 Billionen Euro deutlich niedriger als die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte mit 1,969 Billionen Euro, so dass die Ersparnis der privaten Haushalte etwa 335 Milliarden Euro ausmachte. Weil die privaten Haushalte deutlich weniger investierten (188 Milliarden Euro, vor allem in Wohnungen und Häuser) als sie sparten, erzielten sie einen Finanzierungsüberschuss von etwa 147 (335-188) Milliarden Euro. Die privaten Unternehmen gaben mit etwa 316 Milliarden Euro ebenfalls weniger für Investitionen aus, als sie sparten. (Die Ersparnis der Unternehmen entspricht exakt ihren verfügbaren Einkommen von 413 Milliarden Euro. Das liegt daran, dass Interner Link: Unternehmen per Definition nicht konsumieren, sondern nur investieren (in neue Maschinen, Gebäude, Software usw.). Der Finanzierungsüberschuss der privaten Unternehmen betrug daher etwa 97 (413-316) Milliarden Euro. Der Staat verfügte über Einkommen (insbesondere aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen) von etwa 674 Milliarden Euro. Gleichzeitig gab er für Konsum (insbesondere für die Beschäftigung im öffentlichen Dienst) etwa 587 Milliarden Euro aus, für Investitionen etwa 66 Milliarden. Damit erzielte der Staat insgesamt einen Finanzierungsüberschuss von etwa 21 (587-66) Milliarden Euro. Da alle inländischen Sektoren in Deutschland Finanzierungsüberschüsse erzielten (private Haushalte: 147 Milliarden Euro, private Unternehmen: 97 Milliarden Euro, Staat: 21 Milliarden Euro), betrug der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands mit etwa 265 (147+97+21) Milliarden Euro etwa 8,8 Prozent des BIP. Mit anderen Worten, in Deutschland wurde weniger investiert, als gespart wurde. Die inländischen Sektoren in Deutschland vergaben also Kredite ans Ausland, erwarben andere Vermögenswerte (z.B. Aktienanteile) oder reduzierten ihre eigenen Verbindlichkeiten. Dies bedeutet automatisch, dass im Rest der Welt mehr investiert wurde, als gespart wurde, und dass die ausländischen privaten Haushalte, privaten Unternehmen und Staaten in der Summe mehr für Konsum und Investitionen ausgegeben haben, als ihnen an Einkommen zur Verfügung stand. Hierfür mussten sie sich zusätzlich verschulden oder Vermögenswerte verkaufen. Siehe auch Interner Link: Außenbeitrag, Leistungsbilanzsaldo und Staatshaushalt am Beispiel Spaniens.
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Till van Treeck
2022-01-25T00:00:00
2017-01-30T00:00:00
2022-01-25T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/europa-wirtschaft/241592/ersparnis-investitionen-und-finanzierungssalden-in-der-offenen-volkswirtschaft/
Anhand der Daten für Deutschland im Jahr 2015 wird der Zusammenhang zwischen Sparen und Investieren illustriert. Wenn ein Land mehr spart, als es investiert, müssen andere mehr investieren, als sie sparen. In diesem Fall heißt das: Dem deutschen Leis
[ "Schuldenkrise", "Ersparnis", "Investitionen", "Finanzierungssalden", "offene Volkswirtschaft", "Deutschland" ]
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Kommentar: Die Situation der Krimtataren nach 2014 | Russland-Analysen | bpb.de
Das Schicksal der Krimtataren ist mit der Geschichte Russlands, der Ukraine und der Türkei verbunden. Während die Halbinsel aus Sicht der internationalen Staatengemeinschaft de jure ukrainisches Staatsgebiet bleibt und de facto seit 2014 von Russland kontrolliert und verwaltet wird, lebt die größte Diaspora der Krimtataren in der Republik Türkei. Die türkischen Krimtataren sind gut integriert und organisiert, politisch aktiv und wirtschaftlich gut situiert. Ankara wird im russisch-ukrainischen Streit um die Krim jedoch ein zwar interessierter, aber inaktiver Beobachter bleiben. Die Türkei bekannte sich mehrfach zur territorialen Integrität der Ukraine, hat sich aus geopolitischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gründen aber dem von den meisten westlichen Staaten lancierten Sanktionsregime gegen Moskau nicht angeschlossen. In diesem Sommer rechnet Ankara mit der Lieferung des russischen Raketenabwehrsystems S-400 und mit Fortschritten beim größtenteils von russischer Seite finanzierten Bau des Atomkraftwerks Akkuyu in Anatolien. Nach einem kurzen Intermezzo durch den "Flugunfall" – das türkische Militär hatte 2015 einen russischen Militärflieger über dem türkischen Staatsgebiet nahe der türkisch-syrischen Grenze abgeschossen; die türkisch-russischen Beziehungen erreichten daraufhin einen Tiefpunkt – arbeiten Moskau und Ankara nun wieder sehr eng zusammen. Die russisch-türkischen Beziehungen waren noch nie so gut wie heute. Das ist für krimtatarische Aktivisten wie die Galionsfigur der sowjetischen Dissidentenbewegung Mustafa Cemilev (Dschemiljew), geboren 1943, und seine Mitstreiter, die die Einverleibung der Halbinsel in die Russländische Föderation ablehnten und nun im Kiewer Exil leben, enttäuschend. Nicht mehr "Krimtataren", sondern "Muslime" Wenn man das Geschehen auf der Krim nach 2014 mit Blick auf die Situation der Krimtataren bewertet, kommt man zur Schlussfolgerung, dass sich das gegenwärtige russische Vorgehen gegenüber der krimtatarischen Gemeinschaft auf der Halbinsel in einem wichtigen Punkt diametral von der sowjetischen Praxis unterscheidet. Die ethnische Zugehörigkeit, die in der atheistisch geprägten Sowjetunion so wichtig war, wird nun allmählich obsolet. Sergej Aksjonow, der Chef der neuen Verwaltung der Halbinsel, gratulierte 2018 den "Muslimen der Krim" zum Opferfest und zum Fastenmonat Ramadan. Beide Festlichkeiten sind gesamtmuslimischen Ursprungs, und in den Festreden wurden Begriffe wie "Krimtataren" bzw. "krimtatarisch" vermieden. Die Rede war von "Muslimen". Als Beitrag zum Leben der Muslime auf der Halbinsel ist wohl auch der Bau der neuen großen Moschee in Simferopol zu verstehen, der kurz nach der Einverleibung der Krim geplant wurde. Diese Gesten werden in Moskau als wichtige Signale für die anderen muslimisch geprägten Teilrepubliken Russlands, wie zum Beispiel Tschetschenien, sowie für die Partner Russlands im Nahen Osten, die die Welt ebenfalls durch die sunnitisch-muslimische Perspektive betrachten, vor allem für die Türkei, gesehen. Krimtatarische politische Aktivitäten In den letzten fünf Jahren verlagerte sich das krimtatarische politische Leben teilweise von der Halbinsel auf das ukrainische Festland. Cemilev und Aktivisten aus seinem Umfeld wird nicht nur die Einreise auf die Krim verwehrt, sie wurden von der russischen Justiz verurteilt. Die Anhänger Cemilevs, die sich mit der neuen Lage auf der Krim nicht abfinden können und dagegen politisch oder publizistisch vorgehen, werden auf der Halbinsel verfolgt. In Kiew, der Stadt, die das neue politische Zentrum der krimtatarischen politischen Aktivitäten ist, wurden alternative Organisationen geschaffen, die für sich beanspruchen, die wahre Repräsentation der Krimtataren darzustellen. So wurde 2016 in Kiew unter der Leitung des krimtatarischen Theologen Ajder Rüstemov eine neue Geistliche Islamische Verwaltung der Krim aufgebaut. Das von Emirali Ablajev, Ajder Ismailov und Esadullah Bairov geleitete Krim-Muftiat – die geistliche Verwaltung der Muslime auf der Krim, die dort weiterhin drei religiöse Schulen und mehrere Moscheen betreibt und offensichtlich mit den russischen Behörden zusammenarbeitet – wird von den im Kiewer Exil lebenden krimtatarischen Aktivisten nicht anerkannt. Die Gründung von alternativen Organisationen nahm in den letzten fünf Jahren – bedingt durch die politische Situation, Auswanderung und durch wirtschaftliche Not – rasant zu, ebenso verstärkte sich der Kampf um die Repräsentation der Krimtataren. Für das ukrainische Establishment und die Intellektuellen in Kiew bedeutete der Verlust der Krim die Neuentdeckung der Krimtataren und ihrer Kultur. Cemilev erhielt einen hohen Posten in der Administration des ukrainischen Staatspräsidenten Poroschenko, mehrere ethnische Krimtataren bekleiden hohe Ämter in den Ministerien. Im Eurovision Song Contest 2016 wurde die Ukraine von der krimtatarischen Sängerin Jamala vertreten, die ein Lied zur tragischen Geschichte der Krim-Tataren ("1944") singen durfte: All das wäre vor 2014 eher nicht vorstellbar gewesen. Ausblick Zahlreiche Akteure der pro-russischen und pro-ukrainischen krimtatarischen Intelligenzija und Mitglieder der Diaspora in der Türkei fragen sich seit mehreren Jahren, wie ein normaler Alltag auf der Halbinsel, ein Aufrechterhalten der Kommunikation sowie der Post- und Flugverkehr zur Krim und zu seinen Bewohnern trotz der Entwicklungen nach 2014 gewährleistet werden können. Die Frage, wer über die Krim de jure herrscht, wird aus Sicht vieler krimtatarischer Intellektueller allmählich zweitrangig. Sollte keine politische Lösung gefunden werden, wird dieser Trend zum Mainstream werden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-04-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-369/289701/kommentar-die-situation-der-krimtataren-nach-2014/
Seit der Annexion im März 2014 leben viele Krimtataren in der Türkei. Auf der Halbinsel wird unterdessen anstelle von Krimtataren generalisierend von Muslimen gesprochen und krimtatarischen Aktivisten die Einreise verwehrt.
[ "Krimtataren", "Krim", "Russland-Analysen" ]
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Mitten durch Deutschland - mitten durch Europa | AV-Medienkatalog | bpb.de
Produktion: F. J. Schreiber, Bundesrepublik Deutschland 1983 Format: 29 Min. - VHS-Video - farbig u. s/w Stichworte: DDR - Deutschland nach 1945 - Kommunismus - Marxismus - Menschenrechte - Politische Systeme FSK: 6 Jahre Kategorie: Dokumentarfilm Inhalt: Die Geschichte der Grenzsperren von 1952 bis Oktober 1983. Fotografien und Filmausschnitte zeichnen den stufenweisen Ausbau der innerdeutschen Grenze nach, vom Stadium der sog. "grünen Grenze", die Übertritte noch ermöglichte, hin zu einem immer perfekteren und undurchlässigeren Sicherungssystem. Der Film endet mit der Versicherung Honeckers vom Oktober 1983, die Selbstschußanlagen abzubauen. Er vermittelt Kenntnisse zu Geschichte und Gestaltung der Grenze und gewinnt zusätzlichen Wert als authentischer Beleg für ein Phänomen, das heute so nicht mehr existiert.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-10-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/146440/mitten-durch-deutschland-mitten-durch-europa/
Fotografien und Filmausschnitte zeichnen den stufenweisen Ausbau der innerdeutschen Grenze nach, vom Stadium der sog. "grünen Grenze", die Übertritte noch ermöglichte, hin zu einem immer perfekteren und undurchlässigeren Sicherungssystem.
[ "Deutschland nach 1945", "Geschichte", "Kommunismus", "Marxismus", "Menschenrechte", "politische Systeme", "DDR" ]
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Das Bundesverfassungs-Gericht zwischen Recht und Politik | Bundesverfassungs-Gericht | bpb.de
Einleitung Hier führt in Deutschland kein Weg weiter: Wer in Karlsruhe angekommen ist, hat den fernen Westen des Landes erreicht. Ein Katzensprung über den Rhein und man befindet sich in Frankreich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist das westlichste der fünf obersten Staatsorgane der Bundesrepublik. Seit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin ist es das Einzige, das seinen Sitz noch am Rhein hat. Interner Link: PDF-Version: 22 KB Einige der Karlsruher Richterinnen und Richter wären der Politik gerne in die neue Hauptstadt gefolgt. Nach Bonn waren es einst knappe drei Bahnstunden rheinabwärts. Nach einer Senatssitzung am Vormittag in Karlsruhe ließ sich da leicht noch ein Nachmittagstermin mit einem Bundesminister oder Abgeordneten in Bonn einplanen. Heute geht für ein Gespräch in Berlin ein ganzer Richtertag in Eisenbahn und Flugzeug verloren. Dennoch gab es viele gute Gründe für die Entscheidung, den Sitz des Gerichtes in der Stadt zu belassen, in der es vor 50 Jahren gegründet wurde. Dazu zählt nicht nur die Unabhängigkeit von der Politik, die ihren symbolischen Ausdruck in der geographischen Distanz zwischen dem politischen und dem juristischen Machtzentrum des Landes findet. Es ist auch nicht allein die Sorge, die Richterinnen und Richter könnten in Berlin in dem hektischen Frontgeschehen zwischen Politik und Medien aufgerieben werden. Beide Argumente haben großes praktisches Gewicht. Der wichtigste Grund aber, das Bundesverfassungsgericht an seinem Entstehungsort zu behalten, ist historischer Art. Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof hat das Grundgesetz "das Gedächtnis der Demokratie" genannt. In diesem Sinne sind die mittlerweile mehr als hundert Bände der Karlsruher Verfassungsrechtsprechung ein Archiv demokratischen Bewusstseins in der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz hat darin Wurzeln gefunden, aus denen es zugleich neue Triebe schlägt. Für eine Verfassung, die vor noch nicht allzu langer Zeit auf den Trümmern einer mörderischen Diktatur errichtet werden musste, ist diese Verwurzelung heute von existentieller Bedeutung. Wenn die Bundesbürger heute selbstbewusst drohen, im Ernstfall "nach Karlsruhe" zu gehen, drückt das nicht nur das Mindestmaß an querulatorischer Energie aus, die nötig ist, um einen langen Rechtsweg bis zu seinem Ende zu gehen. Der Ort als Synonym für die Institution steht für das Vertrauen, das im Laufe der vergangenen 50 Jahre in die Verfassung gewachsen ist. So verkörpert das Bundesverfassungsgericht die rheinische Kontinuität der Republik, die von den Enthusiasten des Aufbruchs schnell zu einer "Berliner Republik" stilisiert wurde. Dieser - das ist ohne Ironie gesagt - gute Geist der "Bonner Republik" ist in Karlsruhe sinnlich fassbar: In den Parkanlagen des Karlsruher Schlosses hat das Gericht seinen Sitz in einem Gebäude, dessen bauliche Gestaltung sich nahtlos in die ästhetische Programmatik der Bonner Parlaments- und Regierungsbauten einreiht - zwischen Sepp Rufs Kanzlerbungalow, Egon Eiermanns Abgeordnetenhochhaus und Günter Behnischs neuem Plenarsaal. 1969 zog das Bundesverfassungsgericht aus dem ehemaligen Palais des Prinzen Max von Baden in die pavillonartige Gebäudeanlage, die der Berliner Architekt Paul Baumgarten entworfen hatte. Fünf Baukörper sind in lockerer Ordnung in die Parkanlagen eingebettet. Im zentralen und höchsten Gebäudeteil ist der Verhandlungssaal untergebracht. Daneben, im Richterbau, arbeiten die Mitglieder des ersten Senats auf der ersten, die des zweiten Senats auf der zweiten Etage. Große Fensterfronten geben überall Ein- und Durchblicke frei. In seiner schlichten Eleganz ist dieses Gebäude ein Gegenentwurf zur repräsentativen Pracht des benachbarten Barockschlosses. Transparenz, abgeflachte Hierarchien, der weitestmögliche Verzicht auf Fassade sollten einer neuen republikanischen Kultur eine Gestalt geben. In Karlsruhe begaben sich die Richter damit in ein Glashaus, in einen Anti-Justizpalast. Was sich aus der zurückhaltend eleganten Architektur des Karlsruher Gerichtsgebäudes nicht ablesen lässt, ist, dass dieses Gericht staatsrechtlich betrachtet auf einem geradezu abenteuerlich schmalen Grat zwischen Recht und Politik konstruiert wurde. Der französische Politologe Alfred Grosser bezeichnete das Bundesverfassungsgericht zu Recht als die "ohne Frage originellste Institution des deutschen Verfassungsgefüges". Welcher Wagemut vor 50 Jahren in der Entstehungsphase der Bundesrepublik mit der Erfindung dieses Gerichts verbunden war, erschließt sich nur aus dem historischen Rückblick. Er fällt zunächst auf die prägende Erfahrung der nationalsozialistischen Rechts- und Verfassungszerstörung und sodann auf die Weimarer Reichsverfassung. Das Grundgesetz muss dabei zugleich als Parallelverfassung wie auch als Gegenentwurf zu dem Text des Jahres 1919 gelesen werden. In der Gestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird beides deutlich. In der Weimarer Reichsverfassung wurde mit dem Staatsgerichtshof zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine richterliche Entscheidungsbefugnis im Bereich von Auseinandersetzungen definiert, die bis dahin ausschliesslich der politischen Sphäre zugeordnet war. Hieran knüpften das Grundgesetz und das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht von 1951 an. In unterschiedlichen Zusammensetzungen hatte der Staatgerichtshof der Weimarer Reichsverfassung unter anderem über Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, zwischen einzelnen Ländern sowie über Anklagen gegen Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder Minister zu entscheiden. Noch zehn Jahre nach dem Inkrafttreten der Verfassung aber drückte der Präsident des Reichsgerichts Simons, der Kraft dieses Amtes zugleich Präsident des Staatsgerichtshofs war, das Unbehagen aus, dass den Richter angesichts seines ungewohnt breiten Aufgabenspektrums befiel. Die Anrufung des Richters in hochpolitischen Fragen sei "nicht weniger eine Bankrotterklärung des Staatsmannes als die Anrufung des Feldherren", erklärte Simons. Die daraus resultierende Selbstbeschränkung des Richters fand ihren Ausdruck vor allem in der Normenkontrolle, die zwar gewohnheitsrechtlich anerkannt, aber auf eine zufällige Überprüfung von verfahrensrechtlichen Fragen beschränkt war. Konsequenterweise versäumte es der Staatsgerichtshof in dem politisch brisantesten Fall seiner kurzen Geschichte, dem sich anbahnenden Verfall der Weimarer Demokratie Einhalt zu gebieten. 1932 billigten die Richter, die Entmachtung der preußischen Regierung durch den Reichspräsidenten. Maßnahmen nach Artikel 48 Absatz 2 der Reichsverfassung, den Hitler später als diktatorischen Hebel an die gesamte Verfassungsordnung ansetzte, unterlägen allein dem pflichtgemäßen Ermessen des Reichspräsidenten und seien nicht justitiabel, hieß es in der Entscheidung über den Streit Preußens gegen das Reich. Der Verfassungshistoriker Ernst Forsthoff befand 1972 rückblickend, das Problem der Staatsgerichtsbarkeit sei eine "im Jahr 1919 unlösbare Aufgabe" gewesen. Welche gedankliche Strapaze die Errichtung einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit selbst nach dem Krieg noch vielen, tief im positivistischen Rechtsverständnis verhafteten Staatsdenkern abverlangte, wurde während der Beratungen des Parlamentarischen Rates deutlich. Im Streit über Reichweite und Wirkung einer richterlichen Kontrolle der Gesetzgebung stand nicht weniger als das bis dahin vorherrschende Grundverständnis über das Verhältnis von Recht und Politik zur Disposition. Das "Problem der Verfügungsgewalt von Gerichten gegenüber staatlichen Organen" führe "in die Tiefe der Staatsauffassung, nämlich die Unterscheidung von Machtstaat und Rechtsstaat hinein", hatte Carlo Schmid bereits im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vorhergesagt und skeptisch hinzugefügt, es handele sich dabei wohl um "ein außerordentlich schwieriges, ja unlösbares Problem". Das nachhaltige Misstrauen gegen die Vermischung rechtlicher und politischer Wesenselemente in einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit fand seinen Ausdruck vor allem in einer Denkschrift, die der Christdemokrat Walther Strauss wenig später für den Parlamentarischen Rat verfasste. Strauss ging es in seinem Plädoyer um den Schutz und die Bewahrung einer "reinen Rechtssphäre", die er insbesondere durch nichtrichterliche Mitglieder eines Verfassungsgerichts sowie durch die Gesetzeskraft ihrer Entscheidungen in Normenkontrollverfahren bedroht sah. Es gehört zu den großen Modernisierungsleistungen der Väter und Mütter des Grundgesetzes, diese Ängste zumindest im Grundsatz überwunden zu haben. Das Grundgesetz schrieb den besonderen, gegenüber allen anderen Gerichten herausgehobenen Status des Bundesverfassungsgerichts fest und weitete seine Rechtsprechungsgewalt auf Streitigkeiten zwischen allen obersten Staatsorganen aus. Vor allem aber erstreckte es die richterliche Kontrolle der Gesetzgebung auf den materiellen Normgehalt. In dieser Befreiung der Verfassungsgerichtsbarkeit aus den Beschränkungen der rein formellen Normenkontrolle manifestierte sich 1949 die Überwindung des Rechtspositivismus, die im Bundesverfassungsgericht ihren Ausgang nahm. Es gab von dort aus keinen Weg mehr zurück in eine von Werten und Menschenrechten entleerte Sphäre rechtlicher Reinheit. Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit bis zum Ende zu lösen, hatte indes auch die Kräfte des Parlamentarischen Rates überfordert. Die Gestaltung der obersten Gerichtsbarkeit des Bundes war im Grundgesetz fragmentarisch und lückenhaft geblieben. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu dem 1949 noch vorgesehen Obersten Bundesgericht blieb ungeklärt, ebenso die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts und die Auswahl seiner Richter. Die Entstehung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wurde vor diesem Hintergrund zu einem der langwierigsten und kompliziertesten Gesetzgebungsverfahren in der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. In dem Gesetz wurde unter anderem die bis dahin strittige Frage der Zusammensetzung der beiden Senate und das Wahlverfahren für ihre Mitglieder geregelt. Vor allem aber legte erst der Bundestag die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden fest. Das Gericht wuchs dadurch noch einmal weit über die traditionelle Rolle eines klassischen Staatsgerichtshofs hinaus. Mit der Öffnung seiner Pforten für jedermann konnte das Bundesverfassungsgericht zu dem werden, was es heute ist: ein Gericht der Bürger, die in Karlsruhe selbst zu Akteuren der Verfassungsentwicklung wurden.
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Detjen, Stephan
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26026/das-bundesverfassungs-gericht-zwischen-recht-und-politik/
Was repräsentiert das Bundesverfassungsgericht? Eine rheinische Kontinuität in einem politischen System, das nach dem Umzug von Parlament und Regierung schnell als "Berliner Republik" bezeichnet wurde.
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Breslau. Oder. Wrocław | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Hinwendung zum Fluss Versucht man, dem neuen Verhältnis von Stadt und Fluss in Wrocław/Breslau auf die Spur zu kommen, lässt sich in den letzten Jahren sicherlich ein Wandel feststellen. Markante Gebäude an der Oder werden wieder zur Geltung gebracht, in dem sie in der Nacht illuminiert oder neu genutzt werden, so wie der alte Wasserturm gegenüber der Technischen Universität. Der Neubau der Universitätsbibliothek an der Oder ist sogar eine Trotzreaktion auf das Hochwasser 1997. Damals hatten die Fluten die Altbestände der Bibliothek bedroht. Zuletzt entstand mitten im Stadtzentrum, zwischen beiden Oderufern, eine privat betriebene Marina mit Klub und Restaurant; hier hofft man auf die Entwicklung des Wassertourismus. In Planung befindet sich ein ambitioniertes Projekt für den zentral gelegenen Bürgerwerder, einst Industrie- und Kasernenstandort. Dort sollen höherwertige Mehrfamilienhäuser, Gewerbe- und Bürobauten und Hotels entstehen. In anderen Stadtteilen entstehen moderne Wohnsiedlungen, deren Namen sich mit dem Bezug zum Fluss schmücken, etwa der Odra Tower. So groß die Symbolkraft dieser Projekte sein mag, sind sie doch Teil einer übergeordneten Entwicklung. Da ist einmal der Immobilienboom, den der polnische EU-Beitritt ausgelöst hat. Neben den üblichen Wohnparks im Umland entstanden auch zahlreiche Mehrfamilienhäuser auf ehemaligen Brachen innerhalb der Stadtgrenzen. Weitere Lücken werden nach und nach geschlossen, wobei die zur Verfügung stehenden Grundstücke in der Innenstadt immer kleiner, und die Preise immer höher werden. Die Wiederentdeckung der Oder wie auch der Neuaufbau der Breslauer Innenstadt hängen also stark mit der polnischen Systemtransformation und einem gesteigerten Bedarf an modernen Wohn- und Bürobauten zusammen. Dass sich einzelne Projekte namentlich auf die Oder beziehen, ist eher beiläufig. Lediglich die genannte Marina deutet auf ein tatsächliches Wasserthema hin: die Nutzung des Flusses als Erholungsgebiet in der Stadt. Schon seit dem 19. Jahrhundert war die Oder als Ausflugsgebiet der Breslauer Bevölkerung genutzt worden. Seit der Schleifung der Festungsmauern hatte der Stadtumbau neben dem Hochwasserschutz stets die attraktive Umgestaltung der flussnahen Gebiete für Promenaden, Boulevards (auf dem deutschen "Bollwerk" entstanden) und Uferterrassen zum Ziel. Da "bürgerliches Freizeitverhalten" im kommunistischen Polen verpönt war und sich – nach einem kurzen Wirtschaftsaufschwung – die Lage seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend verschlechterte, fehlte es aber an den nötigen Geldern, um Uferwege, Anlegestellen oder Freizeitanlagen zu gestalten. Erst mit der Verwaltungsreform von 1999, die mehr Befugnisse in die Hände der Stadtoberen übergab, und dem Breslauer Wirtschaftsboom der letzten zehn Jahre, wird dem Erscheinungsbild der Stadt, und dabei vor allem ihrer "Schokoladenseite" am Oderufer, mehr Zeit und Geld gewidmet. Investitionen in die Infrastruktur Eine wichtige Rolle bei dieser neuerlichen Hinwendung zur Oder spielt neben der Gestaltung der Flussufer auch die Passagierschifffahrt. Parallel zum Ausbau der Oder zur Wasserstraße im 19. und 20. Jahrhundert wurde die innerstädtische Oder in Breslau von Fahrgastschiffen befahren. Damit war aber in den Nachkriegsjahrzehnten Schluss, was nicht nur mit der wirtschaftlichen Lage, sondern auch mit dem Zustand der Oder als Wasserstraße zusammen hing. Seit dem Umbruch von 1989 werden allerdings wieder neue Initiativen gestartet, um den Fluss als Ort der Erholung neu zu erfinden. Auch die Stadtverwaltung hat sich aktiv in die Suche nach privaten Betreibern einer Passagierflotte mit Flussdampfern, Gondeln und Ausflugsschiffen eingeschaltet. Mittlerweile stellt die "Weiße Flotte" einen festen Bestandteil des Freizeitangebots der Stadt dar, die sich 2012 zur Fußball-Europameisterschaft und den erwarteten Touristenansturm rüstete. Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt sollte ein Teil des Verkehrs von den chronisch verstopften Straßen aufs Wasser gebracht werden. Selbst der Hochwasserschutz blieb Flickwerk. Auch nach dem Hochwasser 1997 ist die Regierung in Warschau mit der Instandsetzung des Breslauer Wasserwegs, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Oderverlauf neu regelte und neue Kanäle und Umfluter schuf, nicht weitergekommen. Da die Verantwortung für den Umbau der Wasserstraßen weiter in der Hand staatlicher Stellen bleibt, können die Verantwortlichen vor Ort lediglich an die Regierung appellieren. Der Handlungsbedarf ist da: Aufgrund kaputter Wehre und Schleusen stellt die Oder im Stadtzentrum eine "Sackgasse" dar. Das hat auch Auswirkungen auf die Fahrgastschifffahrt. Ausflugsschiffe verkehren nur punktuell, reguläre Verbindungen zwischen den Städten sind nicht möglich, ganz abgesehen von Oder-Kreuzfahrten. Die Infrastruktur der Oder gleicht einem "technischen Freiluftmuseum", wie es der Breslauer Professor Stanisław Januszewski formuliert – nur dass die Anlagen weiter genutzt werden. Geschichte im Fluss Dass Aktivisten wie Januszewski auf die Technik- und Kulturgeschichte der Oder hinweisen, wenn sie für die Erhaltung und Instandsetzung der Infrastruktur plädieren, scheint selbstverständlich. Dass dabei unterschwellig der Vorwurf formuliert wird, die polnische Verwaltung habe die Infrastruktur, die zu deutschen Zeiten vorbildlich ausgebaut wurde, dramatisch vernachlässigt, verweist auf ein übergeordnetes Phänomen: die Auseinandersetzung mit der Ortsgeschichte in Breslau und Niederschlesien nach 1989. Seit dem politischen Umbruch in Polen und Mitteleuropa werde die deutsche Vergangenheit der Region wieder entdeckt und offen diskutiert. So zumindest lautet die verbreitete Überzeugung. Tatsächlich erforschen die polnischen Bewohner der ehemaligen deutschen Ostgebiete immer häufiger ihre Lokalgeschichte, suchen Kontakt zu früheren, deutschen Einwohnern, und entwickeln dabei eine offene, moderne, ja "europäische" Version ihrer Geschichte. Nicht zuletzt war die Oderflut von 1997 ein wichtiger Auslöser dieser Entwicklung. Als die historischen Schätze Breslaus akut bedroht waren, wurden sie von den polnischen Bewohnern gerettet, die sich damit die fremde Vergangenheit aneigneten. Kein Zweifel: Das Verhältnis der Breslauer zu ihrer Stadtgeschichte hat sich gewandelt. Breslau wird in Wrocław nicht nur offen thematisiert. Die deutsche Vergangenheit wird auch als die eigene akzeptiert, ja sogar zur Zierde hochgehalten. Dabei verweist man auf herausragende Baudenkmäler wie die Jahrhunderthalle von Max Berg, bedeutende Persönlichkeiten, darunter zahlreiche Nobelpreisträger, oder auf die historische Stellung der Stadt in Mitteleuropa. Nicht nur die vermeintlich "polnischen" Kapitel der Geschichte im Mittelalter und die böhmisch-habsburgische Epoche vom 14. bis zum 18. Jahrhundert gelten heutzutage als wichtige historische Referenz im Selbstverständnis Breslaus, sondern auch die Entwicklung der Stadt in Preußen. Feierlich beging man in den letzten Jahren das tausendjährige Bestehen des Bistums und somit die historische Ersterwähnung Breslaus im Jahre 1000 sowie das 300. Jubiläum der jesuitischen Akademie "Leopoldina", einer habsburgischen Gründung von 1702. Auch wurde an bedeutende Ereignisse der preußischen Geschichte wie etwa die Befreiungskriege erinnert. Anschaulich dargestellt wurde diese vielschichtige Geschichte zuletzt in der Dauerausstellung des neuen Stadtmuseums, die 2009 in der sanierten ehemaligen Hohenzollernresidenz eröffnet wurde. Allerdings wurde in der polnischen Presse die Bezeichnung "Königsschloss" für die neue Einrichtung kritisiert, habe es doch Königsresidenzen in Polen lediglich in Krakau und Warschau gegeben. Die Breslauer Namensgebung aber sei preußisch und übertrieben. War das ein Rückschritt in die Zeiten der lokalen Suche nach einer historischen Identität unmittelbar nach der Wende von 1989? Wrocław zwischen 1945 und 1989 Blick auf die Oder und die 1702 gegründete Universität. (© Inka Schwand) Ganz so einfach sollte man es sich jedoch nicht machen. Zum einen dauert das Breslauer Selbstgespräch mit der Geschichte viel länger und lässt sich nur schwerlich auf politische Zäsuren festlegen. Im Grunde begann die Suche nach historischen Bezügen für die Nachkriegsbevölkerung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Verschiebung der polnischen Grenzen nach Westen. Die offizielle Propaganda betonte die historischen Rechte Polens auf Schlesien und nahm Bezug auf die mittelalterliche Herrschaft der Piasten-Dynastie. Schon früh aber suchten lokale Eliten, darunter häufig Historiker, nach regionalen Spezifika, die den Bewohnern einen kulturellen Bezug zur neuen Heimat geben sollten. Dieser Regionalismus war von den kommunistischen Machthaber in Warschau nicht immer erwünscht. Zwar förderte er den Zusammenhalt der bunt zusammengewürfelten Bevölkerung und die Abgrenzung gegenüber der deutschen Geschichte. Aber er brachte eben auch ein Sonderbewusstsein hervor, das sich nicht ohne Weiteres in ideologische Vorgaben pressen ließ. So gehörte die Geschichte Breslaus in Wrocław bereits in den 1960er und 1970er Jahren unter Geschichtskennern zum Allgemeingut – und spätestens mit der Herausbildung einer politischen Opposition im kommunistischen Polen in den späten Siebzigern entstand eine konkurrierende Darstellung zur offiziellen Geschichtspolitik. Ein Merkmal dieses Gegendiskurses war die offene Auseinandersetzung mit schwierigen Kapiteln der Geschichte, den so genannten "weißen Flecken", zu denen die deutsch-polnische und polnisch-russische Nachbarschaft im 20. Jahrhundert gehörte. Die Neubewertung der deutschen Vergangenheit Breslaus nach 1989 hatte also wichtige Vorläufer seit den 1950er Jahren und entwickelte nach dem Systemumbruch eine neue Dynamik. Den Wandel der lokalen Geschichtskultur prägte zunächst Stadtpräsident Bogdan Zdrojewski, ein studierter Kulturwissenschaftler und ehemaliger Aktivist eines unabhängigen Studentenverbands. In seinen Regierungsjahren (1990-2001) wurde auch der Grundstein für den aktuellen Umgang mit der Lokalgeschichte gelegt. Nicht zufällig war der erste Schritt des neu, demokratisch gewählten Stadtrats 1990 die Wiedereinführung des historischen Stadtwappens, das zuerst die Nazis 1938 und dann die Kommunisten 1948 geändert hatten. Mit der Öffnung Polens nach 1990 und dem Prozess der deutsch-polnischen Verständigung begann auch der Wandel der Geschichtskultur. Die deutschen Kapitel der Stadtgeschichte wurden ausführlicher und positiver behandelt, die Verwendung der Bezeichnung "Breslau" nicht mehr so stark geächtet, das bis dahin politisch forcierte positive Bild der Nachkriegsepoche immer differenzierter betrachtet. Das Bewusstsein, dass die "eigene" und nicht die "fremde" Geschichte im Sommer 1997 aus den Fluten gerettet wurde, war somit kein unerwartetes Interner Link: "Wunder an der Oder". Es war das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung, die von der Zivilgesellschaft getragen und von der lokalen Politik aufgegriffen wurde. Geschichte und Marketing Seit Beginn der 2000er Jahre wurde die ausgeprägte lokale Identität zur Marke Breslaus – und somit auch zum Bestandteil des Stadtmarketings. Breslau wirbt seit einigen Jahren mit dem Slogan "Stadt der Begegnung" und verweist damit auf den "interkulturellen" Charakter der Stadt, vor allem in seiner Geschichte. Kurz nach der Jahrtausendwende beauftragte man den in Polen sehr populären britischen Historiker Norman Davies, eine Monographie Breslaus zu schreiben, die 2002 gleichzeitig in Deutsch, Polnisch und Englisch erschien. Der deutsche Titel lautete Die Blume Europas, der polnische Mikrokosmos. Ziel war es, die Geschichte der Stadt auf dem neuestem Stand der Forschung einem breiten Publikum zugänglich zu machen und sich damit auch international zu präsentieren. Dass Geschichte fürs Stadtmarketing instrumentalisiert wird, ist nichts Neues. Das Besondere am Breslauer Fall ist der Annäherungsprozess an die "fremde" Vergangenheit, bis hin zu einer allmählichen Überwindung alter Hemmschwellen wie der erwähnte Umgang mit der Preußenzeit. Diese Prozesse sind Teil eines weiteren übergreifenden Phänomens im Nachwendepolen: Die Dezentralisierung im bis dahin zentralistisch von Warschau regierten Staates brachte auch eine Regionalisierung der Erinnerung hervor. All das wurde von einer Identitätssuche der neuen lokalen Eliten begleitet. Während sich die zentral- und ostpolnischen Regionen dabei auf eine relativ ungebrochene Geschichtsnarration stützen konnten, die hie und da von kommunistischen Elementen gereinigt werden musste, nahm der Prozess im Westen Polens die Form einer kritischen Auseinandersetzung mit nationalistisch-sozialistischen Interpretationen der Lokalgeschichte an und führte zur Annäherung an die deutsche Geschichte. Diese so genannte "Bewegung der kleinen Vaterländer" war in den Neunzigern ein wichtiges gesellschaftliches Phänomen, das zur Herausbildung einer anderen Perspektive auf die bis dato verordnete Interpretation beitrug. Zugleich ermöglichte dieser offene Zugang zur eigenen Geschichte einen guten Übergang zum europäischen Diskurs, der seit der Jahrtausendwende immer dominanter wurde. Alle Regionen wollen demnach schon immer Teil Europas beziehungsweise der europäischen Geschichte gewesen sein, bewerben sich als "interkulturell", "multikonfessionell" und "grenzüberschreitend kooperierend". Diese neue Masternarration wird durch EU-Fördermittel für kulturelle und infrastrukturelle Projekte begünstigt, stößt aber in der Realität der polnischen Provinz auf ihre Grenzen. Auch im weltoffenen Breslau wird "Multikulti" nur im Stadtmarketing, nicht aber im Stadtbild geschätzt. Selbsttäuschung an der Oder Von Warschau, für das die neuen Westgebiete ohnehin immer Peripherie waren, in die Freiheit aber auch in die Ungewissheit entlassen, versucht Breslau seit gut zwanzig Jahren, seine Lage neu zu bestimmen. Die starke Anbindung an Berlin und das Deutsche Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat bis heute Auswirkungen auf die Verkehrs- und Wirtschaftsinfrastruktur. Allein deshalb war eine Hinwendung zum Westen, in diesem Falle zu den östlichen Bundesländern, naheliegend. Das zur selben Zeit neu entfachte Interesse für die bis 1989 teils verschwiegene, teils manipulierte deutsche Geschichte der Region, beförderte diese Wiederentdeckung. Schon nach wenigen Jahren stellte sich aber heraus, dass weder die Unabhängigkeit von der "Warschauer Zentrale", noch das Interesse Ostdeutschlands an einer engen Kooperation, geschweige denn die wirtschaftliche Potenz der Grenzregion, stark genug waren, um diesen Paradigmenwechsel zu ermöglichen. Es folgte eine Übergangszeit mit teils dramatischem Niedergang der traditionellen Industrie und Landwirtschaft sowie eine mühevolle Anpassung an globale Konkurrenz und europäische (Förder-)Strukturen. Fehlende Kompetenzen vor Ort, fehlende Investitionsmittel und fehlende Zukunftsvisionen jenseits punktueller Infrastrukturausbesserung führten dazu, dass grenzüberschreitende Kooperation und abgestimmte Strategien vor allem EU-"Antragsprosa" blieben. Hierbei bleibt die Oder ein punktuell wahrgenommenes Identitätsmerkmal, aber kein Synonym für wirklich europäisch begriffene Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Das Verhältnis Breslaus zu seinem Fluss ist daher am ehesten als Mischung von pragmatischem Interesse, symbolischem Wert und struktureller Überforderung zu bezeichnen. Die Beschäftigung mit der Kultur- und Technikgeschichte der Oder hat weniger zur Ausarbeitung kluger Nutzungsstrategien, als eher zur Ernüchterung bezüglich der Umsetzbarkeit von umfassenden Plänen und Visionen beigetragen. Die Rolle der Oder für die Stadtidentität wird bewusster als noch Anfang der 1990er gesehen. Die größte Veränderung betrifft in diesem Bereich aber die Narration: Wurde die Oder bis in die 1980er Jahre hinein gleich gesetzt mit einer historischen und politisch hochbrisanten Grenze, wird sie vor dem Hintergrund der beschriebenen politischen und kulturellen Entwicklungen nun vor allem als Bindeglied nach Europa gesehen. Chronologie 1000: Auf der Dominsel wird die erste herzogliche Burg der Piasten errichtet. 1241: Zerstörung der Stadt durch die Mongolen und Wiederaufbau. Breslau bekommt das Magdeburger Stadtrecht. 1335 Breslau wird böhmisch. 1526: Zusammen mit Böhmen wird Schlesien österreichisch. 1740-1763: Nach den schlesischen Kriegen wird Schlesien preußisch. Später wird Breslau zur Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien. 1813: Breslau ist eines der Zentren der Befreiungskriege gegen Napoleon. König Friedrich-Wilhelm III. formuliert hier seinen Aufruf "An mein Volk". 19. Jahrhundert: Mit der Industrialisierung werden Schlesien und Breslau zu den wichtigsten Regionen des 1871 gegründeten Deutschen Reichs. Ende des 19. Jahrhunderts hat die Stadt 500.000 Einwohner. 1918: Nach dem Ersten Weltkrieg wird Polen zum souveränen Staat. Der östliche Teil Oberschlesiens geht an Polen. 1938: In der Reichspogromnacht wird die Neue Synagoge aus dem Jahre 1872 zerstört. 1945: Kapitulation der Festung Breslau am 6. Mai. 1945-1945: Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung und Neubesiedlung durch Polen aus Zentral- und Ostpolen. Viele kommen aus Lemberg, das nach 1945 sowjetisch wurde. Aus Breslau wird Wrocław. 1989: Wende in Polen. Breslau bekommt wieder sein altes Wappen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus. Breslau wirbt mit dem Slogan "Stadt der Begegnungen". 2012: Breslau ist Austragungsort der Euro 2012. Blick auf die Oder und die 1702 gegründete Universität. (© Inka Schwand)
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Mateusz Hartwich
2021-12-13T00:00:00
2012-05-14T00:00:00
2021-12-13T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135940/breslau-oder-wroclaw/
Als "Stadt der Begegnung" lockt Breslau heute Touristen. Die Bewohner selbst haben schon vor der Wende das deutsche Erbe entdeckt. Städtebaulich wendet sich Breslau wieder der Oder zu. Was daran ist regionale Identität, und was ist Stadtmarketing?
[ "Oder", "Fluss", "Stadt", "Stadtplanung", "Kultur", "Regionale Identität", "Polen", "Breslau" ]
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Die Folgen des 11. September 2001 für die internationalen Beziehungen | Globaler Terrorismus und seine Folgen für Politik und Wirtschaft | bpb.de
Einleitung Die dramatischen und emotionalisierenden Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 wurden in den Wochen und Monaten danach als Beginn einer neuen Epoche, als Einschnitt mit historischen Dimensionen wahrgenommen. Eine solche Einschätzung war aufgrund der Eindringlichkeit der Bilder verständlich, erfolgte aber distanzlos aus dem Augenblick heraus. Mehr als zwei Jahre später und aufgrund der ersten Erfahrungen des "Anti-Terror-Krieges", des Sturzes der afghanischen Taliban und der Eroberung und Besetzung des Irak lässt sich eine erste Zwischenbilanz ihrer internationalen Bedeutung ziehen. Der 11. September ereignete sich in einer Zeit politischer Umbrüche im internationalen System. Die Zeit des Kalten Krieges war von einer doppelten Struktur gekennzeichnet: einerseits einer offensichtlichen Bipolarität, die das politische Denken bestimmte und auch die Begriffe ("Ost-West-Konflikt") prägte. Hinter dieser Grundstruktur allerdings vollzog sich in den fünfziger bis neunziger Jahren ein schrittweiser und behutsamer Wandel zu einer verdeckten Multipolarität: Waren die USA noch in den fünfziger Jahren die im Westen allein dominierende Macht, differenzierte sich durch den Wiederaufstieg Japans und der Bundesrepublik Deutschland, durch die Entwicklung der EWG/EG/EU und die Stärkung anderer Akteure (etwa in Südostasien) die internationale Machtstruktur. Im Verlaufe des Kalten Kriegs war die bipolare Grundstruktur im Begriff, sich multipolar aufzufächern, wenn die USA auch noch der mit Abstand wichtigste Akteur blieben. Das Ende des Kalten Krieges führte in diesem Kontext zu den folgenden Ergebnissen: erstens der plötzlichen Beseitigung der bipolaren Grundstruktur durch Wegfall eines der beiden Pole: der Sowjetunion und ihres "Lagers", zweitens aber auch zur Schwächung der multipolaren Tendenz in der Weltpolitik, indem die USA als primärer Sieger imKalten Krieg für einen historischen "unipolarenAugenblick" (der durchaus eine oder zwei Generationen dauern kann) zur letzten und einzigen Supermacht wurden. Der Weg von der Bi- zurMultipolarität führt über eine historische Phase der Unipolarität, in der die USA als letzte und einzige Supermacht das internationale System dominieren. Washington selbst reagierte auf diese neue Situation zuerst mit einer unsicheren Mischung aus unilateraler und multilateraler Politik und vagen Vorstellungen von einer "Neuen Weltordnung" (unter Präsident Bush sen.), in der ersten Hälfte der ersten Amtszeit Präsident Clintons mit verstärktem Multilateralismus, um dann - und verstärkt unter George W. Bush - zu einer Politik der robusten Interessensdurchsetzung und eines hemdsärmeligen Unilateralismus überzugehen. Die US-Agenda wurde mit beispielhafter Klarheit vom ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater Brzezinski formuliert: Es gehe darum, die aktuelle US-Dominanz noch möglichst lange in die Zukunft zu verlängern, bevor sie von einem unvermeidlichen multilateralen System abgelöst werde. Auch in diesem Kontext entwickelte sich seit Mitte der neunziger Jahre die Vorstellung von "Schurkenstaaten", denen die USA entgegentreten müssten - weiße Flecken auf der Landkarte globaler US-Dominanz, die es zu verkleinern oder zu beseitigen gelte. Die häufigen Luftangriffe Washingtons gegen den Irak in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und die gegen Afghanistan sowie den Sudan (1998) gehören in diesen Zusammenhang. Der Terrorismus des 11. September erfolgte zu einem historischen Zeitpunkt, an dem sich diese Situation verfestigte, er war vor allem ein Angriff auf die Symbole US-amerikanischer Weltmacht: auf das Pentagon (als Symbol der militärischen Macht der USA), das World Trade Center (als Symbol ökonomischer Macht) und das Weiße Haus (als Symbol der politischen Macht, als Ziel des vorher abgestürzten Flugzeugs). Washington reagierte darauf mit einem globalen "Krieg gegen den Terrorismus", der mehrere Funktionen zugleich erfüllte: die tatsächliche Jagd auf Terroristen und ihre Hintermänner, diese diente aber auch als Vorwand, sowohl die eigene Position im Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentralasien als auch die eigene, globale Führungsrolle auszubauen. Das Paradoxon des "Krieges gegen den Terrorismus" bestand und besteht allerdings darin, dass seine unterschiedlichen Zielrichtungen zur gegenseitigen Blockade neigen: Seine imperiale Dimension droht seine kriminalistische zum Scheitern zu bringen. Dies geschieht einerseits dadurch, dass die US-amerikanische Nah- und Mittelostpolitik (vor allem bezogen auf Palästina, den Irak und Afghanistan) die Ursachen politischer Gewalt verschärft und so Öl ins Feuer gießt, zum anderen dadurch, dass der rücksichtslose Unilateralismus Washingtons (etwa bezüglich des Irak) auch die diplomatische "Koalition gegen den Terror" brüchig werden lässt. Die Bush-Administration neigt zu einer Militarisierung ihrer Terrorbekämpfung, was die Gewaltursachen nicht nur ignoriert, sondern oft noch vertieft. Verteidigungsminister Rumsfeld warf in seinem internen Memorandum vom Oktober 2003 selbst die Frage auf, ob die Politik gegen den Terrorismus dabei sei, zu scheitern. Tatsächlich wurden zentrale konkrete Ziele des "Anti-Terror-Krieges" auch über zwei Jahre nach seinem Beginn nicht erreicht: Al-Qaida ist nicht zerschlagen, sondern hat durch neue Anschläge ihre Operationsfähigkeit unterstrichen, die Lage in Afghanistan verschlechtert sich, die Taliban begannen eine relativ erfolgreiche Reorganisation, und die Sicherheitslage im Irak ist nach wie vor prekär. Darüber hinaus hat die einseitige Irakpolitik Washingtons die nach dem 11. September bestehende breite Solidarisierung eines großen Teils der internationalen Akteure mit den USA beendet. Eine der zentralen Bedeutungen des 11. September für die internationalen Beziehungen lag darin, eine expansivere Politik der Bush-Administration im Nahen Osten und Zentralasien politisch zu rechtfertigen und so zu erleichtern, ohne dass diese Terroranschläge dafür ursächlich verantwortlich gewesen wären: Schließlich hatten die zentralen Akteure der Bush-Administration schon lange vor ihrem Amtsantritt - und lange vor dem 11. September - auf einen Krieg gegen den Irak und eine "Neuordnung" des Nahen Ostens gedrängt. Innen- und außenpolitisch allerdings wurde eine solche Politik durch die Terroranschläge wesentlich erleichtert. Deshalb wurde der Krieg gegen den Irak mit Nachdruck als Bestandteil des "Krieges gegen den Terror" dargestellt, wodurch die internationale Anti-Terror-Koalition nach dem 11.September überdehnt und in Frage gestellt wurde, da viele ihrer Mitglieder dem nicht folgen konnten. Der Irakkrieg beseitigte ein widerliches Regime in Bagdad, unter dem die irakische Bevölkerung lange und schwer gelitten hatte. Allerdings stellte die Baath-Diktatur seit dem Golfkrieg von 1991 keine ernsthafte Bedrohung für die Region mehr dar: Nach innen von großer Brutalität war sie politisch und militärisch nach außen kein ernsthafter Machtfaktor mehr. Der Irak war für die Region - im Gegensatz zur Zeit vor 1990/91 - keine regionale Bedrohung, kein Faktor der Instabilität mehr. Versuche Washingtons, durch die Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, oder andere Erfindungen (etwa die vorgebliche Zusammenarbeit Saddam Husseins mit Al-Qaida) den Irak als globale Bedrohung darzustellen, waren Propaganda zur Rechtfertigung der eigenen Politik. Der Krieg und die ersten Monate der Besatzungspolitik transformierten den Irak von einem intern übermächtigen und repressiven Staatsapparat in einen "failed state" - innerhalb weniger Wochen löste sich der irakische Staat auf, seine Reste wurden von der Besatzung liquidiert. Das überzentralisierte politische System machte einer politischen Lähmung und einem politischen Vakuum Platz, die durch Elemente der Fragmentierung ergänzt wurden. Die katastrophale Verschlechterung der Lebensumstände - die schon unter dem Saddam-Regime und wegen der Wirtschaftssanktionen verzweifelt gewesen waren -, der Zusammenbruch wichtiger Infrastrukturbereiche (vor allem der Strom- und Wasserversorgung) und der völlige Kollaps der öffentlichen Sicherheit ließen den politischen Kredit der Besatzungsbehörden schnell schwinden, das politische Symbol der US-Besatzung lud säkulare (etwa Reste des früheren Regimes) und religiös inspirierte Kader zum Widerstand und zur Gewalt ein, die in Teilen der Bevölkerung zunehmend Sympathie fanden. Hinweise auf aus dem Ausland einsickernde Terror- und Widerstandsgruppen unterstrichen die prekäre Sicherheitslage. Insgesamt hatte der Krieg den Irak von einem brutalen Stabilitätsfaktor zur Quelle regionaler Instabilität werden lassen. Bei einer weiteren Eskalation der Gewalt und des Widerstandes sowie der Verknüpfung innerer und externer Widerstandsgruppen kann mittelfristig der Gewaltexport in Nachbarländer oder weiter entfernte Regionen nicht ausgeschlossen werden - so, wie die arabischen Kämpfer gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan später zu den wichtigsten terroristischen Kadern in ihren Heimatländern oder anderswo wurden. In diesem Sinn hat der US-Präsident durchaus Recht, wenn er den Irak heute zum zentralen Schlachtfeld gegen den internationalen Terrorismus erklärt. Allerdings: Erst der Irakkrieg und die Besatzungspolitik haben ihn dazu gemacht, unter der Diktatur Saddams war eine Verbindung zu al-Qaida ebenso fiktiv wie die irakischen Atomprogramme. Der Irakkrieg und die Terroranschläge des 11. September haben den ohnehin schwierigen westlich-muslimischen Beziehungen einen schweren Schlag versetzt. Das wechselseitige Misstrauen nahm noch zu: Im Westen verstärkte der Terrorismus trotz der eigenen ungeheuren Überlegenheit die Bedrohungsgefühle, während in der muslimischen Welt der Irakkrieg und die militärische Besetzung dieses Landes zu einer Zunahme der Gefühle der Demütigung und Hilflosigkeit führten. Beide vertieften auch die Kluft zwischen vielen Regierungen der Region und ihrer Bevölkerung, da diese Stimmung der notwendigen Kooperation mit Washington massiv widersprach und so zur weiteren Delegitimierung vieler pro-westlicher Regierungen beitrug. Die innerwestlichen Beziehungen gerieten nach der kurzen Phase der Solidarisierung mit Washington aufgrund des 11. September durch den Irakkrieg in eine krisenhafte Lage: Washington begann eine scharfe Kampagne gegen "Old Europe", mit zum Teil absurden Vorwürfen, indem beispielsweise Deutschland mit Nordkorea und Libyen verglichen wurde. Die Bush-Administration war zutiefst verärgert, dass Frankreich, Deutschland und andere Länder sich nicht nur dem Krieg gegen den Irak verweigerten, sondern darüber hinaus eine entsprechende UNO-Resolution verhinderten. Letztlich drehte sich der Konflikt allerdings darum, dass sich zahlreiche Länder der globalen Führung der einzigen Supermacht nicht unterordnen wollten, während umgekehrt einige US-Verbündete den Krieg nicht ablehnten, weil sie am Irak oder dem Völkerrecht besonderes Interesse hatten, sondern sich von den USA mit Geringschätzung behandelt und nicht ernst genommen fühlten. Die dabei entstandenen Schäden wurden trotz diplomatischer Bemühungen bis zum Jahresende 2003 nicht überwunden, wie die Entscheidung Präsident Bushs demonstrierte, beim Wiederaufbau des Irak nur Firmen aus Ländern zu beteiligen, die am Krieg teilgenommen oder die USA unterstützt hatten. Zusätzlich zu den transatlantischen Beziehungen beschädigte der Streit um den Irakkrieg aber auch die innerhalb Europas. Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg als Kriegsgegner, Großbritannien, Spanien, Italien, Polen und eine Reihe andere Länder Ost- und Ostmitteleuropas als Unterstützer der USA standen einander diametral gegenüber. Wenn die dortigen Verstimmungen auch nicht so tief gingen wie bei den transatlantischen Auseinandersetzungen, so blieben sie doch nicht folgenlos und gestalteten die Lösung einiger europäischer Fragen (etwa bezüglich der französisch-deutschen Initiative zur größeren militärischen Handlungsfähigkeit der EU) schwierig. Schließlich haben der 11. September und seine Folgen auch die Vereinten Nationen und das Völkerrecht als Systeme friedlicher Konfliktregelung schwer beschädigt. Die UNO beugte sich zwar vor dem Krieg nicht den Manipulations- und Erpressungsversuchen der Bush-Administration, die dem Irak eine Missachtung von UNO-Resolutionen vorwarf, um sodann selbst die UNO als "irrelevant" zu erklären, wenn sie den US-Vorstellungen nicht folge - was das worst-case-Szenario gewesen wäre und sie in vielen Ländern diskreditiert hätte. Aber es war nicht zu übersehen, dass die UNO von der US-Regierung in der Irak-Frage marginalisiert worden war. Sie konnte den Völkerrechtsbruch des Irakkrieges nicht verhindern, und auch bei der Gestaltung des Wiederaufbaus spielte sie nur eine sehr untergeordnete Rolle. Schließlich fand sich die UNO nach dem Krieg in den Sicherheitsratsresolutionen 1483 und 1511 auch mit den neuen Verhältnissen ab und akzeptierte die US-Zivilverwaltung in Bagdad als Partner. UNO und Völkerrecht gehörten sicher zu den Verlierern des Krieges, und es wird in Zukunft vieles davon abhängen, ob es gelingt, die Weltmacht USA wieder einzubinden, ohne sich ihren Diktaten zu unterwerfen. Der Krieg der USA gegen den Irak und seine Folgen als Teil des US-amerikanischen "Krieges gegen den Terrorismus" haben die internationalen Beziehungen dramatisch beeinflusst: Beide haben massive Auswirkungen auf die Regionen des Persisch-Arabischen Golfs und auf den Nahen und Mittleren Osten. Die Auswirkungen hängen darüber hinaus auch von der weiteren Entwicklung der Sicherheitslage und dem Erfolg einer zukünftigen irakischen Regierung (und der weiteren Entwicklung in Palästina) ab. Das Verhältnis "des Westens" (beziehungsweise seiner Führungsmacht) zu den muslimisch geprägten Ländern und Gesellschaften und zur Dritten Welt ist weiter erschwert, das Misstrauen ist noch gewachsen. Der Krieg und die Besetzung des Irak haben aber auch die transatlantischen Beziehungen schwer beschädigt und von einem schwierigen zu einem krisenhaften Verhältnis entwickelt, und sie haben innerhalb Europas neue Gräben aufgeworfen. Dies hat zu einer Belastung des Integrationsprozesses und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit geführt. Und schließlich hat der Irakkrieg auch den gemeinsamen Rahmen der internationalen Beziehungen schwer geschädigt: Das Völkerrecht und die Vereinten Nationen sind nicht ohne Blessuren aus dem Konflikt hervorgegangen. Bei dieser negativen Bilanz darf man allerdings nicht den Fehler machen, die Ursachen beim Irakkrieg allein zu suchen. Viele seiner destruktiven Folgen entsprangen nicht ihm selbst, sondern waren das Ergebnis grundlegenderer Veränderungen, die ihn in dieser Form erst ermöglichten, etwa der unipolaren Struktur des internationalen Systems nach dem Ende des Kalten Krieges und der Politik des neuen Unilateralismus Washingtons. Als zentrales Ergebnis der Reaktion auf den 11. September, des "Anti-Terror-Krieges" und der Kriege in Afghanistan und dem Irak bleibt festzuhalten, dass die USA ihre Machtposition im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien massiv ausbauen konnten, dass die Region inzwischen mit einem Netz US-amerikanischer Militärstützpunkte überzogen ist, das von der Türkei und Ägypten über den Persisch-Arabischen Golf bis zu Ländern wie Usbekistan, Kirgistan und Pakistan reicht. Für diese massive Machtausdehnung mussten die USA allerdings einen hohen Preis bezahlen: mit einer verstärkt unsicheren Situation in der Region, einer Verschlechterung der Beziehung zu einigen Schlüsselverbündeten, der Schwächung von UNO und Völkerrecht und einem weltweit gewachsenen Misstrauen gegenüber den Absichten und Mitteln einer verstärkt unilateralen Politik der USA. Vgl. Jochen Hippler, US-Dominanz und Unilateralismus im internationalen System - Strategische Probleme und Grenzen von Global Governance, in: ders./Jeanette Schade, US-Unilateralismus als Problem von internationaler Politik und Global Governance, INEF-Report 70, Duisburg 2003. Vgl. Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt/M. 1999, S. 306. Text in: Defense memo: A grim outlook, Rumsfeld spells out doubts on Iraq, terror (FINAL Edition), in: USA TODAY, 22. 10. 2003, S. A.01. Vgl. Jochen Hippler, Der Weg in den Krieg - Washingtons Außenpolitik und der Irak, in: Friedensgutachten 2003, hrsg. von Reinhard Mutz/Bruno Schoch/Ulrich Rasch/Christoph Weller, Frankfurt/M. 2003, S. 89 - 98, hier S, 91f. Vgl. ders., Militärische Besatzung als Schöpfungsakt - Nation-Building im Irak, in: ders. (Hrsg.), Nation-Building - ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?, Bonn 2004, S. 121ff. Zu einer muslimischen Sicht des Verhältnisses zum Westen vgl. Salwa Bakr/Bassem Ezbidi/Dato'Mohammed Jawhar Hassan/Fikret Karcic/Hanan Kassab-Hassan/Mazhar Zaidi, Die muslimische Welt und der Westen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37/2003, S. 6 - 14.
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Hippler, Jochen
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28552/die-folgen-des-11-september-2001-fuer-die-internationalen-beziehungen/
Für den Autor liegt die zentrale Bedeutung des 11. September darin, eine expansivere Politik der US-Administration in Zentralasien und im Nahen Osten politisch zu rechtfertigen und zu erleichtern.
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Islamismusprävention auf Bundesebene | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Islamismusprävention in Deutschland". 1. Gibt es eine bundesweite Präventionsstrategie im Bereich Islamismus? 1.1 Die Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung Das damalige Bundeskabinett hat im Juli 2016 die Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung beschlossen. Sie ist die ressortübergreifende Strategie in diesem Bereich und wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie vom Bundesministerium des Innern gemeinsam vorgelegt. Die Strategie verfolgt einen phänomenübergreifenden Ansatz und richtet sich gegen jegliche Formen menschenfeindlicher Ideologien. Als Schwerpunkte werden unterschiedliche Formen des Extremismus genannt, unter anderem Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus sowie Islamfeindlichkeit. Unter anderem soll die Strategie dazu beitragen, die Aktivitäten des Bundes in der Extremismusprävention zu bündeln und zu optimieren. Sie sieht vor, die verschiedenen Ansätze und Programme zu verzahnen, Synergien zu schaffen sowie Lücken zu schließen. Extremismusprävention umfasst demnach alle Maßnahmen, die der Ablehnung der Werteordnung des Grundgesetzes und des demokratischen Verfassungsstaates vorbeugen und entgegenwirken sollen. Als Handlungsfelder nennt die Bundesregierung: Politische Bildung, interkulturelles Lernen und Demokratiearbeit Zivilgesellschaftliches Engagement Beratung, Monitoring und Intervention Medien und Internet Forschung Internationale Zusammenarbeit Die Bundesregierung ist bereits seit Langem in der Extremismusprävention aktiv. Seit 1992 werden Programme und Maßnahmen der Prävention gefördert, ab 2001 wurde auch die Demokratieförderung verstärkt. Auf EU-Ebene verabschiedeten die Mitgliedstaaten bereits 2005 eine Strategie der Terrorismusbekämpfung, die unter anderem Präventionsmaßnahmen vorsah. 1.2 Nationales Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus (NPP) Ergänzend zur Präventionsstrategie hat der Koalitionsausschuss der Bundesregierung im Jahr 2017 das Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus (NPP) beschlossen, an dem mehrere Bundesressorts mit eigenen Projektvorhaben beteiligt sind, zum Beispiel die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Es wird auch in der aktuellen Legislaturperiode fortgesetzt, das sieht der Koalitionsvertrag vom März 2018 vor. Das Programm baut auf der Präventionsstrategie und den bereits bestehenden Präventionsmaßnahmen auf und benennt weitere Schwerpunkte. Die Schwerpunkte des NPP sehen vor, vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an den relevanten Orten der Prävention besser zu erreichen, die Prävention im Netz zu verstärken, mit Integrationsmaßnahmen der Radikalisierung den Nährboden zu entziehen, die Prävention und Deradikalisierung im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe zu fördern sowie die Wirksamkeit der Extremismusprävention zu erhöhen. Neben diesen Schwerpunkten hat sich das NPP zum Ziel gesetzt, die bestehende enge Kooperation und Koor­dinierung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft weiter voranzubringen. Weiterhin ermöglicht das NPP die flexible und situationsangepasste Umsetzung von Modellprojekten und praxisrelevanten Forschungsprojekten, die die zielgerichtete Optimierung von Maßnahmen der Prävention und Deradikalisierung sowie ihre möglichst passgenaue Ausrichtung auf spezifische Zielgruppen unterstützen. Ausgehend von diesen inhaltlichen Vorgaben bildet das NPP einen Rahmen, in dem mehrere Bundesressorts in enger Abstimmung, aber jeweils eigener Zuständigkeit eine Vielzahl von Maßnahmen unterschiedlicher Ausge­staltung und Zielrichtung umsetzen. 1.3 Zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit auf Bundesebene Verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure sind bundesweit ­beziehungsweise überregional aktiv. Sie betreiben – überwiegend gefördert durch die Bundesländer beziehungsweise durch Landesbehörden und den Bund – jeweils mehrere Beratungsstellen in verschiedenen Ländern. Diese richten sich beispielsweise an das soziale Umfeld (mutmaßlich) radikalisierter Personen. Hinzu kommen zwei zentrale Verbände, die jeweils mehrere zivilgesellschaftliche Akteure vertreten: die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) sowie das Präventionsnetzwerk gegen religiös begründeten Extremismus. Seit 2020 gibt es zudem das Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX), das zwei überregional aktive Träger und die BAG RelEx verbindet. Die meisten Initiativen der Islamismusprävention arbeiten allerdings auf der kommunalen oder regionalen Ebene beziehungsweise sind in bestimmten Bundesländern landesweit aktiv. Auch viele dieser regionalen Akteure sind in der BAG RelEx oder im Präventionsnetzwerk gegen religiös begründeten Extremismus vertreten. Darüber hinaus gehören viele der regionalen Beratungsstellen der Länder zum Netzwerk der im BAMF angesiedelten Beratungsstelle Radikalisierung. Ein regelmäßiger Austausch und eine Zusammenarbeit etwa bei neuen Entwicklungen und Herausforderungen finden hier statt. Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) wurde Ende 2016 gegründet, arbeitet phänomenübergreifend und engagiert sich gegen jede Form von religiös begründetem Extremismus. Sie will zivilgesellschaftliche Akteure bundesweit vernetzen und als Interessenvertretung gegenüber staatlichen Einrichtungen, Politik und Gesellschaft fungieren. Sie vertritt knapp 30 zivilgesellschaftliche Träger aus dem Arbeitsfeld der Präventions- und Ausstiegsarbeit im Bereich des religiös begründeten Extremismus. Die BAG RelEx wird gefördert durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des BMFSFJ, durch die Bundeszentrale für politische Bildung und das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus. Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" Das Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) umfasst die BAG RelEx sowie die beiden überregional aktiven Träger Violence Prevention Network e. V. und Ufuq e. V. Mit dem KN:IX und insbesondere durch die BAG RelEx soll die Repräsentanz, Unterstützung und fachliche Weiterentwicklung des breiten Spektrums an Ansätzen, die bundesweit bestehen, gewährleistet werden. Durch ihre Zusammenarbeit und die Zusammenführung der Expertise sollen sich Synergien ergeben, die die Entwicklung des Arbeitsfelds weiter fördern. Innerhalb des KN:IX finden Abstimmungen über die Inhalte und Veranstaltungen der Träger statt, um die Angebote an den Bedarfen der Zielgruppen auszurichten. Die Gesamtkoordination des Kompetenznetzwerks liegt bei der BAG RelEx. Die Ziele des KN:IX sind in drei Säulen gegliedert: Bedarfs- und Trendmonitoring, Analyse, Auswertung und Rahmen für Weiterentwicklung sowie Wissens- und Praxistransfer. Ein Beirat begleitet das Netzwerk zur Qualitätssicherung und unterstützt beratend. Es soll jährlich ein Gutachten erstellt und auf einer Jahreskonferenz der Fachöffentlichkeit vorgestellt werden. Das KN:IX wird gefördert durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des BMFSFJ und durch das BMI kofinanziert. Präventionsnetzwerk gegen religiös begründeten Extremismus Das Projekt zielt darauf ab, die Jugendstrukturen der islamischen Dachverbände als eigenständige Träger der Präventionsarbeit zu stärken. In der ersten Projektphase von 2015 – 2019 richtete das Netzwerk sich insbesondere an die islamischen Verbände der Deutschen Islam Konferenz (DIK). Es fanden regelmäßige Treffen zur Erarbeitung von Positionierungen und zum Austausch statt. Koordiniert wurde das Netzwerk von der Türkischen Gemeinde in Deutschland in Kooperation mit dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. Das Auslaufen der Projektfinanzierung bringt Änderungen mit sich, was die zukünftigen Arbeitsschwerpunkte sowie die Zusammensetzung der teilnehmenden Verbände betrifft. Das Präventionsnetzwerk gegen religiös begründeten Extremismus bleibt jedoch weiter bestehen.  Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Die Infografik als Interner Link: PDF zum Herunterladen. Interner Link: > Zum Anfang der Seite 2. Wie ist die Präventionsarbeit organisiert? 2.1 Abstimmung zwischen den Ressorts auf Bundesebene Die staatlich geförderte Präventionsarbeit auf Bundesebene wird nicht von einer zentralen Stelle gesteuert, sondern zwischen den beteiligten Akteuren in verschiedenen Gremien koordiniert. Dabei sind verschiedene Ressorts und verschiedene staatliche Ebenen beteiligt. Interministerielle Arbeitsgruppe zur Demokratieförderung und Extremismusprävention Zur Abstimmung innerhalb der Bundesregierung zwischen den beteiligten Bundesministerien und den jeweiligen nachgeordneten Behörden dient die Interministerielle Arbeitsgruppe zur Demokratieförderung und Extremismusprävention (IMA), die in der 18. Legislaturperiode (2013 – 2017) eingerichtet wurde und in der 19. Legislaturperiode fortgesetzt wird. GTAZ: Arbeitsgruppe Deradikalisierung Darüber hinaus existiert die Arbeitsgruppe Deradikalisierung innerhalb des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ). Sie ist eine Kommunikations- und Kooperationsplattform für die Expertinnen und Experten der im Bereich der Deradikalisierung zuständigen Bundes- und Landesbehörden. Die Federführung der Arbeitsgruppe wechselte 2019 vom Bundesamt für Verfassungsschutz zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. An der Arbeitsgruppe und ihren themenspezifischen Unterarbeitsgruppen nehmen regelmäßig ausgewählte Vertreterinnen und Vertreter der GTAZ-Behörden sowie weitere Akteure teil. Die Mitglieder der AG Derad sind in der Überblicksgrafik auf S. 8 aufgeführt. (Die GTAZ-Behörden sind: Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst, Bundespolizei, Zollkriminalamt, Militärischer Abschirmdienst, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Vertreter des Generalbundesanwaltes, 16 Landeskriminalämter sowie 16 Landesämter für Verfassungsschutz). Ziel ist der Erfahrungs- und Informationsaustausch über Maßnahmen und Handlungsansätze zur Bekämpfung von islamistischer Radikalisierung sowie deren Weiterentwicklung. In verschiedenen Formaten gibt es auch einen Austausch mit Akteuren, die nicht beziehungsweise nicht regelmäßig in der AG Deradikalisierung vertreten sind (z. B. BMFSFJ, Bundeszentrale für politische Bildung, zivilgesellschaftliche Akteure). Beteiligte Ministerien Die wichtigsten Akteure der Präventionsarbeit auf Bundesebene sind das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI). Sie sind für die Präventionsprogramme Demokratie leben! und Zusammenhalt durch Teilhabe zuständig, aus denen zahlreiche Projekte der Prävention im gesamten Bundesgebiet finanziert werden, und sie koordinieren die Finanzierung von Projekten mit Mitteln des NPP (Interner Link: siehe Abschnitt 2.2). Die Bundesregierung nennt in ihrer Strategie weitere Bundesministerien, die mittelbar eine Rolle für die Prävention spielen, weil sie mit verschiedenen Maßnahmen präventiv wirken. Dazu gehören das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit Qualifizierungsmaßnahmen und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit einem Förderprogramm in der Ausbildung. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt im ländlichen Raum. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bietet Fördermaßnahmen zur Demokratiebildung und fördert in seinem Programm Forschung für die zivile Sicherheit die Forschung im Bereich Extremismus (Interner Link: siehe Abschnitt 2.5). 2.2 Bundesprogramme im Präventionsbereich Zentrale "Bausteine" der Präventionsstrategie der Bundesregierung sind die Bundesprogramme Demokratie leben! und Zusammenhalt durch Teilhabe . BMFSFJ: Demokratie leben! Das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wurde 2015 initiiert. Es ist der Nachfolger der früheren Programme Toleranz fördern – Kompetenz stärken sowie Initiative Demokratie stärken. Die erste Förderperiode endete 2019, Anfang 2020 hat die zweite Förderperiode begonnen. Es stehen für das Jahr 2020 mehr als 115 Millionen Euro zur Umsetzung des Programms zur Verfügung. Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) ist vom BMFSFJ mit der administrativen Umsetzung von Demokratie leben! beauftragt worden. Das BMFSFJ will mit dem Programm das zivilgesellschaftliche Engagement für Demokratie und gegen jede Form von Extremismus vor Ort unterstützen. Es ist phänomenübergreifend angelegt – neben gewaltorientiertem Islamismus geht es dabei unter anderem auch um Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Gefördert werden Projekte in ganz Deutschland, die sich "für ein vielfältiges, respektvolles und gewaltfreies Miteinander einsetzen" . Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend setzt Demokratie leben! auf der Grundlage seiner Zuständigkeit für den Kinder- und Jugendschutz um. Im Bundesprogramm Demokratie leben! werden in der zweiten Förderperiode ab 2020 zunächst insgesamt etwa 120 Modellprojekte in folgenden Handlungsfeldern gefördert: Demokratieförderung Vielfaltgestaltung Extremismusprävention Die Handlungsfelder gliedern sich jeweils in einzelne Themenfelder auf. Das Handlungsfeld Extremismusprävention umfasst die folgenden Themenfelder: Rechtsextremismus Islamistischer Extremismus Linker Extremismus Phänomenübergreifende Prävention: Wechselwirkungen einzelner Phänomene, Deeskalationsarbeit Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe Projekte zur Prävention von islamistischem Extremismus werden vor allem im gleichnamigen Themenfeld aufgeführt; in einigen der phänomenübergreifenden Themenfelder und Handlungsbereichen wie etwa "Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe" oder den Landes-Demokratiezentren spielt Islamismusprävention jedoch ebenfalls eine Rolle. Die geförderten Projekte werden im Einzelnen bei den jeweiligen Bundesländern aufgeführt. Im Rahmen von Demokratie leben! werden vor allem zivilgesellschaftliche Strukturen und Modellprojekte gefördert (siehe Informationen zur Programmstruktur auf der Externer Link: Website von Demokratie leben!). Einige werden durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration im Rahmen einer Kofinanzierung unterstützt. Das Bundesprogramm benennt vier Handlungsbereiche: "Kommune", "Land", "Bund" und "Modellprojekte". Zum Handlungsbereich "Kommune" gehört die Förderung lokaler Partnerschaften für Demokratie. Der Handlungsbereich "Land" umfasst die Förderung von Landes-Demokratiezentren in allen 16 Bundesländern zur landesweiten Koordinierung und Vernetzung sowie von Mobiler Beratung, Opferberatung, Distanzierungs- und Ausstiegsberatung. Der Handlungsbereich "Bund" umfasst die Förderung von 14 Kompetenzzentren und -netzwerken auf Bundes- ebene. Im Bereich "Islamistischer Extremismus" wird ab 2020 das Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) gefördert. Es wird gebildet von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) und den überregional tätigen Trägern Ufuq und Violence Prevention Network (VPN) (Interner Link: siehe auch Abschnitt 1.3). Rückblick Förderperiode 2015 – 2019 In der Förderperiode 2015 – 2019 wurden die Mittel für das Bundesprogramm im Laufe der Jahre deutlich erhöht: von 40,5 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 115,5 Millionen Euro im Jahr 2019. Es wurden zum einen Strukturen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene gefördert, zum anderen eine Vielzahl von Modellprojekten; ein wichtiges Themenfeld war dabei die Radikalisierungsprävention (bezogen auf Rechtsextremismus, islamistische Orientierungen und Handlungen sowie linke Militanz). Mindestens 42 Modellprojekte beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit islamistischer Radikalisierung, hinzu kamen phänomenübergreifende Projekte und Projekte in Strafvollzug und Bewährungshilfe. BMI: Zusammenhalt durch Teilhabe Das Bundesprogramm Zusammenhalt durch Teilhabe wurde vom damaligen Bundesministerium des Innern (BMI) 2010 als Ergänzung zu den bestehenden Aktivitäten des BMFSFJ aufgelegt. Das Bundesprogramm ist verstetigt und mit dem Start der neuen Förderperiode 2020 als Aufgabe dauerhaft bei der Bundeszentrale für politische Bildung verankert. Das Programm fördert Projekte für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus. Gestartet ist es in den ostdeutschen Bundesländern, nun bezieht sich die Förderung auf ländliche und strukturschwache Gegenden bundesweit. Im Mittelpunkt stehen regional verankerte Vereine, Verbände und Multiplikatoren. Es werden ehrenamtliche Demokratieberaterinnen und -berater ausgebildet, die in der Lage sind, Konflikte mit Bezug zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu identifizieren und zu bearbeiten. Außerdem werden Modellprojekte im Themenfeld „Digitale Stärkung und Entwicklung von Verbänden“ gefördert, die Partizipation und demokratisches Lernen voranbringen wollen. Das Fördervolumen für die aktuelle Förderperiode 2020 – 2024 umfasst jährlich insgesamt 12 Millionen Euro. BMFSFJ: Respekt Coaches Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziert auch das Programm Respekt Coaches. Es wird von den Jugendmigrationsdiensten (JMD) an rund 190 Standorten in allen Bundesländern umgesetzt. Die JMD kooperieren dafür mit Schulen und weiteren Partnern. Das Programm soll in Gruppenangeboten demokratische Werte für junge Menschen erlebbar machen und sie in ihrer Persönlichkeit stärken. Schülerinnen und Schüler sollen den Wert einer vielfältigen Gesellschaft erfahren und lernen, unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensweisen besser zu verstehen. Dies soll auch der Extremismusprävention dienen. 2.3 Präventionsarbeit der Bundesbehörden Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat sind zwei Bundesbehörden angesiedelt, die in der Präventionsarbeit auf Bundesebene eine wichtige Rolle spielen: die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Bundeszentrale für politische Bildung Die Aufgabe der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ist es unter anderem, das demokratische Bewusstsein zu fördern. Sie zielt mit ihrer Arbeit darauf, der Entstehung und Verfestigung extremistischer Einstellungen durch Bildungsarbeit entgegenzuwirken. Sie bietet bundesweit ein umfangreiches Informationsangebot sowie verschiedene Bildungsformate wie Print- und Online-Publikationen sowie Veranstaltungen an. Die Angebote richten sich teilweise an die Allgemeinheit und sollen zum Beispiel über Extremismus informieren; teilweise richten sie sich speziell an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie Akteure aus der Radikalisierungsprävention und sollen diese mit Fachinformationen versorgen und qualifizieren. Außerdem arbeitet die bpb im Netzwerk gemeinsam mit den Landeszentralen für politische Bildung sowie zahlreichen weiteren Bildungseinrichtungen und -trägern zusammen. Dazu gehört auch, dass die bpb Fördermittel vergibt, zum einen für innovative Modellprojekte, zum anderen für anerkannte Bildungsträger. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Beratungsstelle Radikalisierung Die Beratungsstelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bietet Unterstützung für Angehörige und andere Personen aus dem sozialen Umfeld von Menschen, die sich (mutmaßlich) islamistisch radikalisieren. Die Beratungsstelle besteht seit 2012. Im Erstgespräch klären erfahrene und speziell ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Anliegen der Ratsuchenden, bereiten den Sachverhalt bei Bedarf auf und übermitteln diesen zur weiteren Bearbeitung an das Netzwerk vor Ort. Das BAMF arbeitet derzeit mit zivilgesellschaftlichen und staatlichen Kooperationspartnern in verschiedenen Bundesländern zusammen, die langjährige Erfahrungen in den Bereichen Extremismusprävention und Deradikalisierung aufweisen. Bei sicherheitsrelevanten Konstellationen arbeiten das BAMF und das gesamte Netzwerk mit den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder zusammen. Darüber hinaus arbeitet das BAMF mit den staatlichen Distanzierungs- und Ausstiegsprogrammen der Länder zusammen. Das Forschungszentrum des BAMF führt die wissenschaftliche Begleitung der Beratungsstelle Radikalisierung des BAMF und der bundesfinanzierten Träger durch. Ziele sind dabei unter anderem die Konzipierung und Umsetzung eines Qualifizierungslehrgangs für Beratende, die Ausdifferenzierung von Standards, Forschung zu einschlägigen Themen- und Handlungsfeldern sowie die Evaluierung von Beratungsarbeit und Netzwerkprozessen. Finanziert wird die wissenschaftliche Begleitforschung in weiten Teilen durch das Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus (NPP) der Bundesregierung. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Rückkehrkoordination Kehren "IS"-Anhängerinnen und -Anhänger aus den ehemaligen Gebieten des selbst ernannten Islamischen Staates nach Deutschland zurück, sind verschiedene staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure involviert. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat seit 2019 in sieben Bundesländern Koordinationsstellen geschaffen, deren Aufgabe es ist, den gesamten Prozess im Blick zu behalten, die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten behördlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren abzustimmen und die Initiierung von möglichen Deradikalisierungsmaßnahmen zu prüfen. Das Programm wird im Jahr 2020 weiter finanziert, über eine Fortführung im Jahr 2021 wird noch entschieden. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Kooperationsnetzwerk: Sicher zusammenleben Das Kooperationsnetzwerk: Sicher zusammenleben (vormals Clearingstelle Präventionskooperation) wurde im März 2008 durch einen Beschluss der Deutschen Islam Konferenz ins Leben gerufen und ist beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angesiedelt. Das Kooperationsnetzwerk: Sicher zusammenleben setzt sich für eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Sicherheitsbehörden und muslimischen Organisationen ein und fördert bundesweit koordinierend den Dialog und Austausch zwischen beiden Seiten. Neben "Extremismusprävention" bilden auch Themen wie "Antimuslimischer Rassismus" und "Sicherheit von Moscheen" die Inhalte verschiedener Dialog- und Kooperationsformate. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Weitere Maßnahmen Weiterhin fördert das BAMF Projekte in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft, die sich der Präventions- und / oder Deradikalisierungsarbeit im Phänomenbereich widmen. So werden neben Angeboten der Angehörigen- und Umfeldberatung eine Vielzahl an Modellprojekten finanziert, beispielsweise in der wissenschaftlichen Erforschung von Radikalisierungsprozessen oder im Themenfeld "Aufwachsen von Kindern in extremistisch geprägten Familien". 2.4 Rolle der Sicherheitsbehörden Auch die Sicherheitsbehörden auf Bundesebene sind über ihre Aufgaben im repressiven Bereich hinaus teilweise in der Präventionsarbeit aktiv – indem sie Analysen durchführen, Informationen für die breite Öffentlichkeit sowie für Fachkräfte bereitstellen und Sensibilisierungsmaßnahmen durchführen. So hat die polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes Lehr- und Lernmaterialien entwickelt, die Jugendliche für islamistische Propaganda sensibilisieren sollen. Sie informiert zudem auf ihrer Website über das Thema. Im Bundeskriminalamt (BKA) existiert seit 2003 die Forschungs- und Beratungsstelle Terrorismus / Extremismus (FTE). Zu ihren Aufgaben gehört, die Präventionsarbeit mit wissenschaftlicher Expertise zu fördern. Sie veröffentlicht unter anderem Studien zu den Themen Radikalisierung, Extremismus und Prävention. Gleichfalls gibt sie das phänomenübergreifende "Handbuch Extremismusprävention" heraus. Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung Die FTE des BKA verantwortet das Projekt Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung (MOTRA). MOTRA ist ein über das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderter Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung, der durch das BMI kofinanziert wird. Ziel des Projekts ist das Monitoring des Radikalisierungsgeschehens in Deutschland. MOTRA möchte außerdem als Transferplattform Wissenschaft, Praxis und Politik miteinander vernetzen. 2.5 Forschungsprojekte im Präventionsbereich Verbundvorhaben MAPEX und Programm Forschung für die zivile Sicherheit Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt MAPEX (Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung). Mit dem Verbundvorhaben soll ein Überblick über sämtliche öffentlich zugänglichen Maßnahmen zur Deradikalisierung und Distanzierung im Bereich des islamistischen Extremismus geschaffen werden. Die umfangreichen Daten werden durch ein Mapping auf einer interaktiven Landkarte der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und dienen zur allgemeinen Information, zur Unterstützung und Vernetzung der Präventions- und Interventionslandschaft sowie zu weiterführenden wissenschaftlichen Analysen. Grundlage ist eine bundesweite Vollerhebung von Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen im Umgang mit islamistischer Radikalisierung. Dabei sollen erfolgreiche Ansätze und Best-Practice-Beispiele erschlossen werden. Zudem erfolgen qualitative Fallanalysen von Maßnahmen der primären und sekundären Prävention. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert zudem im Programm Forschung für die zivile Sicherheit die Forschung im Bereich Extremismus. Dabei geht es um Projekte, die beispielsweise Extremismus im Internet analysieren und Präventionsstrategien und -methoden entwickeln. Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention In der Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in Halle findet eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Phänomenen des Rechtsextremismus und Islamismus im Jugendalter und mit der pädagogischen Bearbeitung dieser Konflikte statt. Aktuell erforscht die AFS Prozesse der politischen Sozialisation, Hinwendungs- sowie Radikalisierungsverläufe junger Menschen sowie Maßnahmen und Ansätze der (sozial-)pädagogischen Präventions- und Förderpraxis. Für diese Arbeit erhält das DJI Fördermittel vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Jugend und Frauen (BMFSFJ). Das BMFSFJ fördert Forschungsprojekte zur Analyse von Fällen gelungener Distanzierung und Unterbrechung religiös begründeter Radikalisierung in einem frühen Stadium, zur Identifizierung von Faktoren der Resilienz junger Menschen, die unter Rahmenbedingungen sozialisiert werden, die ihre Vulnerabilität für extremistische Ideologien erhöhen, und zu Wechselwirkungen von Partizipations- und Ausgrenzungserfahrungen mit religiös begründeter Radikalisierung. Forschungs- und Transferverbund PrEval Mit Mitteln des NPP wird 2020 / 21 der Forschungs- und Transferverbund PrEval gefördert. Der Verbund verfolgt das Ziel, Fragen der Qualitätssicherung und Evaluation stärker als bisher in der Extremismusprävention, der Kriminalprävention und der politischen Bildung zu verankern. PrEval nutzt Analyse, Monitoring- und Mapping-Formate zur Erhebung der Evaluationsbedarfe und -kapazitäten in der Extremismusprävention in Deutschland und entwickelt multimethodische Evaluationsdesigns auf der Basis ausgewählter Pilotstudien. Ein zentraler Mehrwert des Vorhabens besteht in der Entwicklung eines gemeinsam geteilten Problemverständnisses der verschiedenen Präventionsakteure aus den Bereichen Wissenschaft, Praxis und Verwaltung sowie in umfangreichen Maßnahmen zum Transfer der Erkenntnisse in die Präventionsfachpraxis. Interner Link: > Zum Anfang der Seite 3. Wie arbeiten Bund, Länder und Kommunen zusammen? Die Abstimmung zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern findet unter anderem bei Fachministerkonferenzen statt. Die Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist für die Präventionsstrategie der Bundesebene von Bedeutung, weil die Länder zuständig sind für polizeiliche Prävention, Strafvollzug, Jugend- und Sozialarbeit sowie Bildung. Im Bereich der politischen Bildung sind Länder und Bund gemeinsam aktiv. Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern stimmen sich bereits seit 2009 in der Arbeitsgruppe Deradikalisierung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) über islamistischen Extremismus ab. Außerdem existieren verschiedene Bund-Länder-Arbeitsgruppen im Rahmen der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK). Seit dem Jahr 2015 findet auf Einladung des BMI ein Bund-Länder-Austausch zu Maßnahmen gegen islamistische Radikalisierung statt. Bei diesem Austausch sind in der Regel neben den Ländern auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Bundeszentrale für politische Bildung, das Nationale Zentrum für Kriminalprävention, die Kultusministerkonferenz, der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie die Europäische Kommission vertreten. Auch verschiedene Foren der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dienen als Plattform für den Austausch. Das Bundesamt stimmt sich kontinuierlich mit den koordinierenden Stellen der Länder sowie ihren Partner-Beratungsstellen vor Ort ab. Ferner werden quartalsweise Runde Tische mit den Partner-Beratungsstellen vor Ort ausgerichtet. Halbjährlich kommen diese auf Einladung des BAMF mit den Landeskoordinierungsstellen zu einem Austausch zusammen. Über die Bundesprogramme Zusammenhalt durch Teilhabe und Demokratie leben! finanziert der Bund zudem einen bedeutenden Teil der Präventionsarbeit auf den Ebenen der Länder und Kommunen (Interner Link: siehe Abschnitt 2.2).   Interner Link: > Zum Anfang der Seite 4. Wie arbeitet der Bund mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen? Die Bundesregierung arbeitet im Bereich der Prävention und Demokratieförderung mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Trägern zusammen. Über die von BMFSFJ und BMI verantworteten Bundesprogramme Demokratie leben!, Respekt Coaches und Zusammenhalt durch Teilhabe sowie aus Mitteln des NPP werden eine Vielzahl von Projekten der Extremismusprävention sowie Kooperationsstrukturen finanziert. Im Rahmen der Programme finden regelmäßige Austausche statt, die dem Dialog zwischen Regierung und Zivilgesellschaft dienen sollen. Interner Link: > Zum Anfang der Seite 5. Welche Besonderheiten gibt es auf der Bundesebene beziehungsweise in Deutschland hinsichtlich der Präventionsarbeit im Vergleich zu anderen Ländern? Die Präventionsarbeit ist durch die föderale Aufgabenteilung geprägt. Dadurch unterscheiden sich die Strukturen in Deutschland zum Beispiel stark von denen in Frankreich, wo die Präventionsarbeit zentral gesteuert und organisiert wird. Die Bundesländer sind für Sicherheit und Bildung zuständig und somit für zentrale Bereiche der Prävention. Sie organisieren weite Bereiche der Präventionsarbeit eigenständig. Die Maßnahmen der Länder sind durch die jeweils unterschiedlichen Herausforderungen geprägt. Dementsprechend unterscheiden sich die Maßnahmen und Programme der Länder in Art und Umfang. Zivilgesellschaftliche Akteure haben für die Präventionsarbeit eine große Bedeutung. Sie sind nicht nur Träger der meisten Maßnahmen, sondern fungieren auch als Ideengeber. So geben zum Beispiel die Bundesprogramme Ziele vor; zivilgesellschaftliche Träger bewerben sich mit eigenen Konzepten und Projektideen um entsprechende Fördermittel. Sowohl das Bundesprogramm Demokratie leben! als auch die Bundeszentrale für politische Bildung, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das NPP fördern sogenannte Modellprojekte. Sie dienen dazu, innovative Ansätze zu entwickeln und zu erproben, um die präventiv-pädagogische Fachpraxis weiterzuentwickeln. Bewährte Methoden sollen anschließend von den Ländern auch in anderen Projekten angewendet und in andere Bereiche übertragen werden. Interner Link: > Zum Anfang der Seite 6. Findet eine Evaluation der Präventionsarbeit auf Bundesebene statt? Im November 2013 verständigten sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag darauf, die Bemühungen des Bundes bei der Extremismusprävention und der Demokratieförderung zu bündeln und ihre Wirksamkeit zu verbessern. Hintergrund waren unter anderem die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Bericht der Bundesregierung über Arbeit und Wirksamkeit der Bundesprogramme zur Extremismusprävention Eine Aufforderung an die Bundesregierung, einen Bericht über die Wirkung der entsprechenden Bundesprogramme vorzulegen, wurde 2013 vom Bundestag beschlossen. Im Juni 2017 legte die Bundesregierung den "Bericht der Bundesregierung über Arbeit und Wirksamkeit der Bundesprogramme zur Extremismusprävention" dem Parlament vor. Für den Bericht hatte die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) die verschiedenen Aktivitäten der Ressorts erfasst. Als Handlungsempfehlungen nennt der Bericht unter anderem eine umfassende wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Präventionsarbeit in Deutschland, den Ausbau der Forschung und die Bündelung von Maßnahmen. Die Bundesregierung will zudem alle vom Bund geförderten Maßnahmen wissenschaftlich begleiten und evaluieren lassen. Evaluation der Bundesprogramme Die Bundesprogramme Demokratie leben! und Zusammenhalt durch Teilhabe werden wissenschaftlich begleitet. Verschiedene Evaluationsberichte liegen auf den Internetseiten von Zusammenhalt durch Teilhabe sowie Demokratie leben! vor. Evaluation der Beratungsstelle Radikalisierung des BAMF Auch die Beratungsstelle Radikalisierung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lässt ihre eigene Arbeit und die Arbeit der durch sie finanzierten zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen seit dem Jahr 2016 evaluieren und wissenschaftlich begleiten. Die Ergebnisse sind im Internet zugänglich. Evaluationen durch das Nationale Zentrum für Kriminalprävention Darüber hinaus führt auch das Nationale Zentrum für Kriminalprävention (NZK) Evaluationsprojekte im Bereich "Islamistische Radikalisierung" durch. Interner Link: > Zum Anfang der Seite 7. Quellen, Akteure und Anlaufstellen 7.1 Wichtige Quellen und Websites Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2017): Externer Link: Evaluation der Beratungsstelle "Radikalisierung" Abschlussbericht Bundesministerium für Bildung und Forschung, Extremismusforschung: Externer Link: Ursachen für Radikalisierung früh erkennen Deutscher Bundestag (2014): Externer Link: Arbeitsgruppe Deradikalisierung Deutscher Bundestag (2017): Externer Link: Bericht der Bundesregierung über Arbeit und Wirksamkeit der Bundesprogramme zur Extremismusprävention Deutscher Bundestag (2009): Externer Link: Maßnahmen der EU zur Terrorismusbekämpfung Die Bundesregierung (2017): Externer Link: Nationales Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus Die Bundesregierung (2016): Externer Link: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung Infodienst Radikalisierungsprävention (2018): Externer Link: Nationales Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus (NPP) Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung: Externer Link: Gesellschaft Extrem Stiftung Wissenschaft und Politik (2006): Externer Link: Die Terrorismusbekämpfung der EU 7.2 Akteure und Anlaufstellen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Externer Link: Beratungsstelle Radikalisierung Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Externer Link: Forschungszentrum Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Externer Link: kurz.bpb.de/nqj Bundeskriminalamt: Externer Link: Forschungs- und Beratungsstelle Extremismus /Terrorismus (FTE) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Externer Link: Bundesprogramm Demokratie leben! Bundesministerium des Innern: Externer Link: Bundesprogramm Zusammenhalt durch Teilhabe Bundeszentrale für politische Bildung: Externer Link: Infodienst Radikalisierungsprävention Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Externer Link: kurz.bpb.de/om1 IDA e. V.: Externer Link: Vielfalt-Mediathek Infodienst Radikalisierungsprävention: Externer Link: Bundesweite Übersicht der Anlaufstellen KN:IX – Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" Externer Link: kurz.bpb.de/om2 Präventionsnetzwerk gegen religiös begründeten Extremismus Externer Link: kurz.bpb.de/nqo Fachstelle JMD Respekt Coaches Externer Link: kurz.bpb.de/nqp Die Infografik als Interner Link: PDF zum Herunterladen. Stand: Februar 2020 Präventionsarbeit ist ein dynamischer Bereich mit vielen aktuellen Entwicklungen. Die Redaktion freut sich daher über Ihre Hinweise auf Akteure, Aktivitäten oder Zusammenhänge, die in diesem Beitrag bislang nicht berücksichtigt worden sind. Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an: E-Mail Link: radikalisierungspraevention@redaktion-kauer.de Interner Link: > Zum Anfang der Seite Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Islamismusprävention in Deutschland". Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite BAG RelEx: Externer Link: Die BAG RelEx im KN:IX. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Externer Link: Über "Demokratie leben!". Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Externer Link: Überblick Förderperiode 2015–2019. Bundeszentrale für politische Bildung: Externer Link: Interview: Wie das BAMF den Umgang mit Rückkehrenden koordiniert.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-11-02T00:00:00
2018-12-03T00:00:00
2022-11-02T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/infodienst/281811/islamismuspraevention-auf-bundesebene/
Bundesministerien und -behörden sind bereits seit Langem in der Islamismusprävention aktiv. Innen- und Familienministerium zählen mit ihren Förderprogrammen bundesweit zu den wichtigsten Akteuren.
[ "Präventionsstrukturen", "Radikalisierungsprävention", "Radikalisierung", "Deradikalisierung", "Förderprogramme", "Länder", "Kommunen", "Strategie", "Aktivitäten bündeln" ]
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NECE Conference 2015: "'Us' and 'Them': Citizenship Education in an Interdependent World" | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de
Conference Blog & Documentation, Interviews, etc. Externer Link: http://blog2015.nece.eu/ The 2015 NECE Conference in Thessaloniki built on the 2014 NECE Conference in Vienna, which focused on the conflicts in and around Europe. Starting point of the 2015 conference was the question of how to reimagine and define the role of citizenship education in increasingly divided and polarized societies. Fundamentalist religious, ethnic and cultural perceptions of ‘Us’ and ‘Them’ play an ever more important role in the ongoing crises and upheavals in today’s world. The NECE Conference 2015 was looking into the causes and the implications of this phenomenon in four areas relevant for citizenship educators: Europe’s economic, social and political divisions, which have triggered discourses of fear and dissociation in core countries of the EU and have helped nationalistic and populist movements gain ground.The perception of an open confrontation between proclaimed values of the 'West' and the 'Islamic World' which has led to dangerous developments in societies on both sides of the Mediterranean.The impact of the refugee crisis on European societies in the short, medium and long term.The repercussions of the war in Ukraine and relations between Russia, Ukraine and the EU that have led to ideological and nationalist regression and hatred. The second largest city in Greece, Thessaloniki, has been the perfect location for NECE 2015 because it was always a historic centre of diversity and multiculturalism in Southeast Europe. You can read more about Thessaloniki’s role and potential Externer Link: here. The Externer Link: Goethe-Institut Thessaloniki, which can look back on sixty years of history in the city, has been acting as a partner for the event. Video impressions from the conference Picture gallery Photo gallery Picture gallery NECE Conference 2015: "'Us' and 'Them': Citizenship Education in an Interdependent World" Conference programme and report Interner Link: Conference programme Interner Link: Conference programme (short version) Interner Link: Overview Open Format, 22 October 2015 (2.30-4.00pm) Interner Link: Dossier of biographies Interner Link: Conference report by Ivo Pertijs Conference venue 22-24 October 2015 Makedonia Palace Hotel 2, Megalou Alexandrou Avenue 54640 Thessaloniki Externer Link: www.makedoniapalacehotel.com #NECE2015 Goethe-Institut Thessaloniki Vas. Olgas 66 P.O.B. 508 23 GR-540 14 Thessaloniki Externer Link: www.goethe.de/thessaloniki Hosts
 Interner Link: Federal Agency for Civic Education (Germany) Externer Link: ProDemos (the Netherlands) Externer Link: Federal Ministry of Education and Women’s Affairs (Austria) In co-operation with 
 Externer Link: Civic Education Centre (Czech Republic) Externer Link: Citizenship Education Centre (Poland) Externer Link: DARE Network (Democracy and Human Rights Education in Europe) Externer Link: University of Ljubljana – Faculty of Social Sciences 
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 Externer Link: Robert Bosch Stiftung (Germany) Partner of the NECE conference 2015 Externer Link: Goethe-Institut Thessaloniki (Germany) Externer Link: HAiE (Greece) Media partner Externer Link: eurotopics Contact 
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-04-23T00:00:00
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https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/205543/nece-conference-2015-us-and-them-citizenship-education-in-an-interdependent-world/
The focus of the NECE Conference 2015 will be to build on the outcomes of its predecessor event in Vienna, which looked in-depth at conflicts in and around Europe. The jumping-off point for this year’s conference is the proposition that religious, et
[ "NECE" ]
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Geschichtsvermittlung in virtuellen Räumen: Eine kleine Geschichte technologischer Möglichkeiten und eine Prognose zur Zukunft historischen Lernens | Kulturelle Bildung | bpb.de
Geschichte ist Teil der Gegenwart, in der sie erfahren, angeeignet, durchdacht und erzählt wird. Dass Technologie hierbei eine Rolle spielt, galt lange Zeit als Selbstverständlichkeit, die weitestgehend unhinterfragt blieb. Geschichtswissenschaft und -didaktik schenken erst in jüngster Zeit dem Zusammenhang von Technologie, Medien und Bildung stärkere Aufmerksamkeit. Dies belegen Veröffentlichungen von Lehrerinnen und Lehrern zu Fragen einer digitalen Geschichtsdidaktik im Netz sowie akademisch-wissenschaftlich ausgerichtete Tagungen und Publikationen. Sie alle kreisen um ähnliche Fragestellungen: Wie sind die Wirkungen des sich beschleunigenden medialen und digitalen Wandels im Allgemeinen sowie im Besonderen für die historisch-politische Bildung einzuschätzen?Verändert digitale Technologie historisch-politisches Denken, Lernen und Handeln?Bedarf es des Trainings und der Förderung besonderer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften, wie z.B. der vom Schweizer Geschichtsdidaktiker Jan Hodel eingeführten "Historischen Online-Kompetenzen"?Sind andere Techniken des medial vermittelten und technologiebasierten Arbeitens und Lernens nötig, die eine eigene didaktisch-methodische Reflexion erfordern?Oder können hergebrachte Formen und Methoden historisch-politischer Bildung an veränderte Bedingungen angepasst werden? Der vorliegende Text versucht diesen Fragen nachzuspüren, indem technologische Möglichkeiten exemplarisch beschrieben und in Beziehung zum historisch-politischem Lernen gesetzt werden. Dabei wird keinem technologischen Determinismus das Wort geredet; vielmehr ist der Ausgangspunkt, dass Apparate und Geräte als Werkzeuge zur Aneignung von Welt zu verstehen sind. Der Einsatz von digitaler Technologie beeinflusste und beeinflusst insofern unser Arbeiten, Denken und Lernen. Er wurde und ist deshalb zu reflektieren. Im Folgenden werden drei Phasen historisch orientierten E-Learnings aufrissartig identifiziert und in ihren Hauptlinien beschrieben. Ab 1994/1995 spricht der Text von der Entgrenzung traditioneller Lehr-Lernräume sowie der Entschriftlichung und Entlinearisierung von Lerninhalten. Die zweite Phase ab 2004/2005 ist gekennzeichnet durch die Enthierarchisierung von Lehr-Lernbeziehungen und die (Ent-) Individualisierung von Lernprodukten. Seit 2010/11 kann man von der Entkoppelung des räumlich an einen Klassenraum gebundenen und in bestimmten Sozialformen arrangierten Lernens und der individuellen Entdeckung von Lernsituationen im Alltag sprechen. Die Begrifflichkeiten zeigen dabei den prozessualen Charakter des technologisch-medialen Wandels an. Zugleich deuten sie darauf hin, dass sich die Entwicklungen im Fluss befinden und aktuell auch zusammenfallen. Oftmals sind sie ineinander verschränkt. Historisches E-Learning 1.0: Entgrenzung, Entschriftlichung, Entlinearisierung Mit der Einführung des Home- und Personalcomputers sowie der Ausstattung der Betriebssysteme mit leicht zugänglichen Benutzeroberflächen hielten seit Mitte der 1980er-Jahre digitale Medien Einzug in eine breite Öffentlichkeit. Es dauerte allerdings eine Weile, bis der Rechner auch für das Geschichtslernen entdeckt wurde. Zwar existierten schon früh Computerspiele in Form von Abenteuer-, Rollen-, Arcarde-, Strategie- und Aufbauspielen zu historisch-politischen Inhalten (Kaiser, SimCity etc.). Ihr Anspruch war allerdings kaum ein echt didaktischer. Sie zielten auf Unterhaltung und Zeitvertreib. Der Computer galt vielen – gerade auch im akademischen Bereich – als elektronische Schreibmaschine, welche die Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe schriftlicher Texte erheblich vereinfachte und ökonomisierte. Texte durchliefen immer seltener unterschiedliche Phasen der Vor- und Reinschrift, da sie zu jedem Zeitpunkt noch korrigiert werden konnten. Erst das World Wide Web sowie die Entwicklung grafischer Webbrowser verhalfen Mitte der 1990er-Jahre Computern und Internet im Bildungsbereich zum Durchbruch. Groß aufgelegte Kampagnen, wie die Gründung des Vereins "Schulen ans Netz"1996, plädierten für die Vernetzung der Schulen und die Entgrenzung der Klassenräume ins World Wide Web. Während Rechnerleistungen, Speicherkapazitäten und Bandbreite zunahmen, setzte eine erste Welle des E-Learning auch im historisch-politischen Bereich auf das Lernen mit "neuen" Medien. In diese Zeit fällt die insbesondere von der Mediendidaktik vorangetriebene Reflexion digitaler Lernumgebungen. Sie versuchte die veränderten technologischen Möglichkeiten in entsprechende Unterrichtsarrangements zu integrieren. Auf der einen Seite reflektierte ein Ansatz die Nutzung des Computers als nicht vernetztes Einzelmedium. Hierbei gerieten sowohl der Computer als auch die zur Anwendung kommende Software in den Blick. Office-Programme wurden hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur Aufbereitung historischer Informationen diskutiert, da sie die Erstellung und Formatierung umfangreicher Texte, die Gestaltung von Schaubildern, Schemata und Präsentationen erleichterten. Der Computer galt auch aufgrund der grafischen Möglichkeiten als Visualisierungs- und Simulationsmedium – ein erster und noch kaum wahrnehmbarer Hinweis auf die Entschriftlichung historischen Lernens. Zudem galt die Hoffnung spezieller Lernsoftware in sogenannten Computer-based-Trainings (CBT). Sie sollte selbstgesteuertes historisches Lernen fördern. Selbstlernprogramme mit didaktischem Anspruch kamen, insbesondere als CD-ROM, für die historisch-politische Bildung auf den Markt (z.B. Stadt im Mittelalter). Sie machten sich die technologischen Vorteile der enormen Speicherkapazität zunutze. Text, Bild, Ton und Bewegtbilder (Animationen und Videosequenzen) konnten nun von CD, also gleichsam aus dem virtuellen Raum, auf den Bildschirm geholt werden. Obwohl hier oft ein riesiger Materialfundus an Quellen und Darstellungen zur Verfügung gestellt wurde, hielt sich die Qualität dieser Programme für historisches Lernen meist in Grenzen. Lernaufgaben beschränkten sich auf einfache Testformate, wie z.B. Zuordnungsübungen und Multiple-Choice-Abfragen. Die CD-ROM setzte letztlich mit ihren Potenzialen den Trend zu multimedialen Repräsentationen und zur Entschriftlichung historischer Information fort. Auf der anderen Seite rückten Überlegungen zum sogenannten Web-based-Training die kommunikativen Möglichkeiten und Vernetzungspotenziale von Rechnern und Dokumenten in den Mittelpunkt. Sie fragten danach, wie E-Mail, Foren und Newsgroups – also Ansätze des computervermittelten kooperativen Lernens in Gruppen – für historische Lehr-Lernsettings sinnvoll eingesetzt werden könnten. Geschichte kam auf diese Weise als Aushandlungsgeschäft in den Blick, in dem unterschiedliche Annahmen, Interpretationen und Urteile konkurrierten. Das Netz entgrenzte nicht nur den Klassenraum in bis dahin unbekannter Weise. Es brach auch mit hergebrachten Konventionen und Qualitätsstandards bei der Bereitstellung historischer Information. Die Tatsache, dass bereits im sogenannten Web 1.0 praktisch jede/-r eine Seite publizieren und über das World Wide Web zugänglich machen konnte, irritierte Fachdidaktiker und Lehrkräfte. Historische Informationen aller Art waren plötzlich in Sekundenschnelle über Suchmaschinen, Kataloge und Portale für alle mit Internetanschluss zugänglich. Dies erforderte besondere Kompetenzen des Auffindens und Bewertens der Funde. Zugleich öffnete das World Wide Web die Kontaktaufnahme zu Expertinnen und Experten und den Austausch mit Peers im globalen bzw. transnationalen Klassenzimmer. Aber auch die besondere Struktur des Netzes, die es ermöglichte, Inhalte miteinander zu verknüpfen, wurde reflektiert und systematisiert. Das World Wide Web mit seinen Inhalten zeichnete sich durch seinen hypertextuellen Charakter aus. Einzelne Dokumente können mit Hilfe von Links miteinander verbunden werden. Das "Surfen" oder "Browsen" war demnach ein individuelles Navigieren entlang non-linearer Lesepfade. Historische Sinnbildung und der Aufbau einer eigenen Erzählung konnte auf Lernerseite als konstruktiver Akt der Wissensgenerierung gesehen werden. Die Lektüre im Web 1.0 beschränkte sich jedoch weitestgehend auf die Rezeption vorgefertigter und bereits im Netz publizierter Inhalte, für die sich in der Regel klar identifizierbare Autoren und Autorinnen verantwortlich zeigten. Aufgabenformate versuchten, die darin angelegte Passivität der Nutzer/-innen zu kompensieren. Bekannt wurde das – bis heute aktuelle – didaktische Modell der WebQuests der beiden Amerikaner Bernie Dodge und Tom March. Es fordert die Situierung einer problemorientierten und ergebnisorientierten Netzaufgabe in einem authentischen Kontext. In den meisten Fällen sind WebQuests kooperativ in Kleingruppen zu lösen. Das Modell steht dem projektorientierten oder forschend-entdeckenden Lernen nahe. Dies kann z.B. bedeuten, dass die Lernenden in die fiktive Rolle eines bestimmten Zeitungsreporters – ggf. mit Nähe zu einer bestimmten politischen Orientierung – schlüpfen, um aus dessen Perspektive ein Radiofeature über die Vorgänge in West- und Ostberlin 1989/90 zu erarbeiten. Präzise Lernaufgaben erläutern jeweils die Vorgehensweise. WebQuests geben sowohl Hinweise zur Durchführung als auch zur Anfertigung des Lernprodukts. Netzressourcen werden vorab von der Lehrkraft ausgewählt, Arbeitsaufträge formuliert. Die Lernumgebung wird als Internetseite aufbereitet und bereitgestellt. Historisches E-Learning 2.0: (Ent-)Individualisierung und Enthierachisierung Mit der Veröffentlichung des Aufsatzes "What is Web 2.0?" markierte Tim O'Reilly 2004 eine Zäsur. Er wies das Web weniger als Distributionsmedium, sondern vielmehr als Arbeits- und Lernplattform aus. O'Reilly sah die entscheidende Veränderung darin, dass Anwendungen, die vormals auf einem Rechner installiert werden mussten, sich in zunehmendem Maße ins Netz verlagerten. Das Aufkommen von Weblogs, Wikis und sozialen Netzwerken veränderte das Web derart, dass die Nutzer/-innen nicht mehr nur vorgefertigte Inhalte konsumieren konnten, sondern nun auch in der Lage waren, einfach und unkompliziert eigene Inhalte, also Texte, Bilder, Fotos und Videos, zu veröffentlichen. Aus Nutzern/-innen wurden nun auch Produzenten/-innen. Das Mitmachnetz Web 2.0 war geboren. Obwohl sich mit Plattformen wie YouTube die im E-Learning 1.0 sich zeigende Tendenz zur Entschriftlichung historischer Information weiter fortsetzte, rückte die didaktische Reflexion im deutschsprachigen Raum das schriftgebundene historische Lernen in sozialen Netzmedien in den Vordergrund. Jan Hodel und Peter Haber untersuchten die Auswirkungen der Wiki-Technologie auf die Technik des Schreibens. Wikis ermöglichten die Bearbeitung von Internetseiten durch mehrere Autorinnen und Autoren sowie die Vernetzung der Inhalte durch die Setzung von Links. Mit Hilfe von Erweiterungen der zugrundeliegenden Software konnten auch multimediale Inhalte eingebunden werden. Während im Web 1.0 die Autorenschaft und die Verantwortung für den Inhalt recht eindeutig an einer Person festgemacht werden konnte, verflüssigte sich im Web 2.0 diese Eindeutigkeit so sehr, dass von einer Entindividualisierung der Lernergebnisse gesprochen werden kann. Wikiseiten zu historischen Themen sind deshalb als kooperativ-kollaborativ, also gemeinschaftlich entstandene Gruppenprodukte und Geschichtserzählungen anzusehen. Als ethischer Kodex etablierte sich die Ansicht, dass Veränderungen nur nach ausgiebiger Online-Diskussion eingefügt werden durften. Dies zeigt, dass formale akademische Qualifikationen bei dieser Art des Geschichtslernens eine untergeordnete Rolle spielen. Geschichte erscheint als Diskurs, der ohne Rangordnungen auskommen sollte. Der Durchbruch dieser sozialen Dienste folgt insofern strukturell einem grundsätzlich partizipativen und basisdemokratischen Ansatz, der eine Enthierarchisierung des Lernens nach sich zieht. Dementgegen deutet eine andere Entwicklung darauf hin, dass sich Geschichtslernen im 21. Jahrhundert sehr stark individualisiert. Nicht nur soziale Netzwerke wie Facebook, die dazu auffordern, Alltäglichkeiten in der eigenen Chronik zu dokumentieren, sondern auch Angebote wie "deinegeschichte.de" oder "zeitzeugengeschichte.de" , geben Hinweise darauf, dass die technologischen Entwicklungen die Publikation individueller Geschichtserzählungen anregen und individuelle historische Lernprozesse herausfordern. Ins Zentrum des Unterrichts und des historischen Lernens treten die Weitergabe und Analyse eigener oder fremder Erfahrungen in Form von Zeitzeugenberichten, die auch (z.B. in Form von Interviews) selbst erstellt werden. Historisches E-Learning 3.0: Entkopplung und Entdeckung Die neuesten technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen deuten darauf hin, dass in Zukunft das Netz noch allgegenwärtiger und auch selbstverständlicher sein wird. Virtualität wird zum Bestandteil der Realität. Alle Bereiche unseres Alltags werden zunehmend von digitaler Technologie durchdrungen. Dieser Trend lässt sich bereits an der Geräteausstattung ablesen. Fast jede/-r Jugendliche besitzt heute ein Handy, immer mehr haben ein eigenes – oft sehr leistungsfähiges – Smartphone oder einen tragbaren Tablet-PC mit vielfältig nutzbarer Technik. Diese Geräte vereinen ganz verschiedene Funktionen in sich. Neben Telefon mit der Möglichkeit Textnachrichten zu verschicken (SMS), sind sie u.a. Notizblock, Kamera und Audiorecorder zugleich. Viele mobile Geräte lassen zudem die Ortung des eigenen Standorts über Satellit per GPS zu. Dies hat Konsequenzen für die didaktisch-methodische Reflexion. Sie wird zukünftig auch in der historisch-politischen Bildung darum kreisen, welche Veränderungen die neu gewonnene Mobilität und die Möglichkeiten des mobilen Geschichtslernens mit sich bringen werden. Althergebrachte Lernräume wie das Klassenzimmer werden letztlich vom Lernen entkoppelt. Historisch-politisches Lernen findet entweder informell außerhalb der Schule oder an ausgewählten Orten statt. Es sind verschiedene Spielarten denkbar. Die Tour kann bereits vorbereitet sein oder die Lerner gehen ganz eigenständig auf Erkundung nach Zeugnissen der Vergangenheit. Die Methode des Geocaching als Variante moderner Schnitzeljagd fordert die Lernenden zum Beispiel auf, bestimmte Orte aufzusuchen und sogenannte Caches, das sind gut versteckte Behältnisse mit z.B. Lernaufgaben oder Hintergrundinformationen, zu suchen. Mobile Trägermedien helfen dann dabei, die unmittelbare und situativ wahrnehmbare Umwelt in den Lernprozess einzubinden und zu entdecken. Dies kann über die bereits genannten Basisfunktionen oder durch kleine Erweiterungsprogramme sogenannter Apps geschehen, die entweder die Lokalisierung eines historischen Lernorts ermöglichen und diesen auf einer eingebundenen Karte verorten. Zusatzprogramme, wie z.B. Wikitude, zielen auf eine Erweiterung der Realität (Augmented Reality) ab. Wird die integrierte Kamera eines Smartphones oder Tablets in eine bestimmte Richtung gehalten, zeigt das Display den anvisierten Ort und reichert ihn um Zusatzinformationen aus dem Netz, z.B. aus Wikipedia, an. Insgesamt scheint diese Entwicklung im Bereich der historisch-politischen Bildung auf einen Bedeutungsgewinn der Regional- und Lokalgeschichte hinzudeuten. Geschichtslernen im 21. Jahrhundert ist somit auch zunehmend Lernen vor Ort. Fazit und Ausblick Wenn auch die jüngsten Tendenzen sowie ihre Potenziale für historisches Lernen bei weitem noch nicht allen Lehrkräften bekannt sein werden, so ist doch davon auszugehen, dass Historisches E-Learning in den nächsten Jahren ins Methodenrepertoire des Fachs aufgenommen werden wird. Darauf weisen folgende Entwicklungen hin: An den Universitäten steigt die Zahl didaktischer Veranstaltungen, die sich in der ersten Phase der Lehrerausbildung mit dem Lernen und Lehren mit „neuen“ Medien sowie der Gestaltung entsprechender Lernumgebungen beschäftigen.Der Umgang mit Technologie und digitalen Materialien findet Eingang in die zweite Phase der Lehrerausbildung.Jüngere Lehrkräfte sind selbst bereits gut mit Technologien (Laptop, Smartphone usw.) ausgestattet und mit ihnen vertraut.Die Vernetzung und Digitalisierung der Klassenräume ist noch nicht beendet, sondern wird faktisch noch ausgebaut. So halten seit dem Konjunkturpaket II digitale Wandtafeln Einzug in die Schule.Lehrerfortbildungen setzen genau an diesen Entwicklungslinien an. Sie zeigen unterrichtliche Integrationsmöglichkeiten und versuchen fachspezifische Mehrwerte zu akzentuieren. Grundsätzlich haben die ausschnitthaft beschriebenen Phasen der technologischen Entwicklung das Nachdenken über die Didaktik historischen Lernens angeregt. Digitale Technologie funktioniert im Lernprozess nur mit eigenen – je spezifischen – Aufgabenformaten, die ein (ent-) individualisiertes Lernen im aufgezeigten Sinne ermöglichen. Technik bietet insbesondere neue Gestaltungsmöglichkeiten für historisch-politisches Lernen. Dabei zeichnet sich ab, dass entweder Geschichte in digitale Erzählungen eingebunden wird oder sich in multimedialen Artikulations- und Repräsentationsformen als "digital storytelling" zeigt. Geschichtslernen im 21. Jahrhundert lebt von der Kreativität, dem Mixen und Sampeln – und zwar sowohl auf Seiten der Lehrkräfte als auch auf Seiten der Lernenden. Vgl. die beiden Blogs „Historisch denken | Geschichte machen“ von Christoph Pallaske (Online verfügbar unter http://historischdenken.hypotheses.org/, zuletzt besucht am 24.08.2011) und „Medien im Geschichtsunterricht“ von Daniel Bernsen (Online verfügbar unter http://geschichtsunterricht.wordpress.com/, zuletzt besucht am 24.08.2011). Vgl. Hodel, Jan (2007): Historische Online-Kompetenz. Informations- und Kommunikationstechnologie in den Geschichtswissenschaften. In: Rainer Pöppinghege (Hg.): Geschichte lehren an der Hochschule. Bestandsaufnahme, methodische Ansätze, Perspektiven. Schwalbach, Ts.: Wochenschau Verlag, S. 194–210. Online verfügbar unter http://histnet.ch/hodel/person/docs/JanHodel_HOK2006_PrePrint.pdf, zuletzt besucht am 16.10.2009; Hodel, Jan (2008): Digital lesen, digital schreiben, digital denken? Über den kompetenten Umgang mit Geschichte im Zeitalter des digitalen Medienwandels. In: Marco Jorio und Cindy Eggs (Hg.): Am Anfang ist das Wort. Lexika in der Schweiz. Baden, S. 113-125. Vgl. Wagner, Wolf-Rüdiger (2004): Medienkompetenz revisited. Medien als Werkzeuge der Weltaneignung: ein pädagogisches Programm. München: Kopaed, S. 9. In Anlehnung an Heinen, Armin (2011): Mediaspektion der Historiographie. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft aus medien- und technikgeschichtlicher Perspektive. In: Zeitenblicke 10 (1), S. 1–43. Online verfügbar unter http://www.zeitenblicke.de/2011/1/Heinen/index.html, zuletzt besucht am 24.08.2011. Siehe die Hefte Praxis Geschichte „Internet und Geschichtsunterricht“ aus dem Jahr 2001, 14 (1), und Geschichte lernen zum Thema „Neue Medien“ aus dem Jahr 2002, 15 (89). Vgl. z.B. Moser, Heinz; Holzwarth, Peter (2011): Mit Medien arbeiten. Lernen - Präsentieren - Kommunizieren. 1. Aufl. Konstanz, München: UVK Verlagsgesellschaft (Studieren aber richtig; UTB, 3509), S. 33-45. Mit den klassischen auf den Strukturvorgaben der Software aufsetzenden Präsentationstechniken setzen sich kritisch auseinander: Tufte, Edward R. (2006): The Cognitive Style of PowerPoint: Pitching Out Corrupts Within. 2nd edition. Cheshire, Conn: Graphics Press; Maxwell, Alexander (2007): Ban the Bullet-Point! Content-Based PowerPoint for Historians. In: The History Teacher 41 (1). Online verfügbar unter http://www.historycooperative.org/journals/ht/41.1/maxwell.html, zuletzt besucht am 26.08.2012. Vgl. die noch 1998 als bedeutsam eingeschätzten Lehr-Lerntätigkeiten. Rave, Josef (2005): Computereinsatz. In: Hans-Jürgen Pandel und Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. 3. Auflage. Schwalbach, Ts.: Wochenschau Verlag (Forum Historisches Lernen), S. 591–618, hier: S. 593. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich das historische Lernen mit CD- bzw. DVD-ROM stark in traditionellen Bahnen bewegt. So greifen die Lerner gerne auf die klassischen Recherche- und Referenzmittel zurück, die sich auch in Printmedien finden (z.B. Inhaltverzeichnis, Glossar). Vgl. Barricelli, Michele; Benrath, Ruth (2003): "Cyberhistory" - Studierende, Schüler und Neue Medien im Blick empirischer Forschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (5/6), S. 337–353. Ausführlich Oswalt, Vadim (2002): Multimedial Programme im Geschichtsunterricht. Schwalbach Ts.: Wochenschau Verlag (Geschichte am Computer, 1). Vgl. Alavi, Bettina (2007): Wie lernen Schüler/innen mit "historischer" Selbstlernsoftware? In: Judith Martin und Christoph Hamann (Hg.): Geschichte, Friedensgeschichte, Lebensgeschichte. [Festschrift für Peter Schulz-Hageleit]. Herbolzheim: Centaurus, S. 205–217. Sie stellt allerdings auch heraus, dass die multimediale Aufbereitung sich offensichtlich positiv auf die historische Sach- und Begriffskompetenz auswirkt. Im angloamerikanischen Sprachraum existieren bereits fachdidaktisch ausgerichtete Fallstudien zum Einsatz von Foren im Geschichtsunterricht. Vgl. Martin, Dave; Coffin, Carolin; North, Sarah (2007): What´s your claim? Developing pupils´ historical argument skills using asynchronous text based computer conferencing. In: Teaching History (126), S. 32–37. Vgl. zuletzt Grosch, Waldemar (2008): Das Internet als Raum historischen Lernens - eine Bestandsaufnahme. In: Uwe Danker und Astrid Schwabe (Hg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und Neue Medien. Schwalbach, Ts.: Wochenschau Verlag (Forum Historisches Lernen), S. 13–35. Vgl. Hodel, Jan (2002): Geschichte und Internet: "Raumlose Orte - geschichtslose Zeit", Zürich: Chronos 2002, S. 35-48. In: Peter Haber (Hg.): Geschichte und Internet: "Raumlose Orte - geschichtslose Zeit". Zürich: Chronos Verlag, S. 35–48. Online verfügbar unter http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=gui-003:2001:12::37, zuletzt besucht am 26.08.2012. Vgl. Krameritsch, Jakob; Gasteiner, Martin (2006): Schreiben für das WWW: Bloggen und Hypertexten. In: Wolfgang Schmale (Hg.): Schreib-Guide Geschichte. Schritt für Schritt wissenschaftliches Schreiben lernen. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag (UTB, 2854), S. 231–271. Vgl. Dodge, Bernie (1995): Some Thoughts About WebQuests. San Diego. Online verfügbar unter http://webquest.sdsu.edu/about_webquests.html, zuletzt aktualisiert am 05.05.1997, zuletzt besucht am 24.10.2009. O´Reilly, Tim: What Is Web 2.0. Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software. Online verfügbar unter http://oreilly.com/web2/archive/what-is-web-20.html, zuletzt besucht am 16.10.2009. Vgl. Haber, Peter; Hodel, Jan (2009): Wikipedia und die Geschichtswissenschaft. Eine Forschungsskizze. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 49 (4), S. 455–461. Vgl. http://www.deinegeschichte.de/, zuletzt besucht am 24.08.2012; http://www.zeitzeugengeschichte.de/, zuletzt besucht am 24.08.2012. Die beiden Seiten halten auch Beispiele von Schülerinnen und Schülern vor. Vgl. König, Alexander; Bernsen, Daniel: “Historisches Lernen goes mobile” – Überlegungen zu einer Didaktik mobilen Geschichtslernen (Teil 1) Online verfügbar unter http://www.brennpunkt-geschichte.de/2012/08/29/lernen-goes-mobile/, zuletzt besucht am 03.19.2012 Bernsen, Daniel: Geocaching: historisches Lernen vor Ort und unterwegs. Online verfügbar unter http://geschichte.bildung-rp.de/entwicklung/geocaching.html, zuletzt besucht am 03.09.2012 Vgl. die mobilen Angebote der Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter http://www.bpb.de/shop/multimedia/mobil/, zuletzt besucht am 16.08.2012.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-09-05T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/143889/geschichtsvermittlung-in-virtuellen-raeumen-eine-kleine-geschichte-technologischer-moeglichkeiten-und-eine-prognose-zur-zukunft-historischen-lernens/
Welche Rolle spielen die technischen Mittel in der historisch-politischen Bildungsarbeit? Das Lernen hat sich durch die Entwicklung digitaler Medien in den letzten Jahrzehnten stark verändert, dies hat auch Auswirkungen auf die Auseinandersetzung mit
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Editorial | Familiengründung und Beruf | bpb.de
Umfragen besagen, dass sich die allermeisten Deutschen ein Leben mit Kindern wünschen. 90 Prozent der jungen Frauen und Männer haben vor, eine Familie zu gründen. Dessen ungeachtet ist in Deutschland ein Geburtenrückgang zu verzeichnen. Warum das so ist - dazu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Kinderlosigkeit ist ein Phänomen, dessen Ursachen vielfältig und enorm komplex sind. Dass Männer und Frauen häufig vor dem Problem stehen, Beruf und Familiengründung nicht oder nur schwer miteinander vereinbaren zu können, ist ein ganz wesentlicher Grund für den Geburtenrückgang. Denn Elternschaft und Erwerbstätigkeit gehen mit höchst widersprüchlichen und häufig inkompatiblen Anforderungen einher. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür, beide Lebensbereiche miteinander in Einklang zu bringen, sind in Deutschland nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer ausgesprochen schlecht. Die männlich geprägte Arbeitskultur macht es Männern nicht leicht, sich aktiv an der Elternschaft zu beteiligen, und für Frauen ist es immer noch sehr schwer, ihren Beruf auszuüben und eine Familie zu haben. Diese Rollenkonflikte führen dazu, dass Paare ihren Kinderwunsch erst sehr spät oder überhaupt nicht realisieren. Mit dem Elterngeld, das Mütter oder Väter seit dem 1. Januar 2007 zwölf bis vierzehn Monate lang erhalten können, fördert die Bundesregierung ein Familienmodell, das es Männern und Frauen ermöglichen soll, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Diesem Schritt müssen weitere folgen. Es gilt, die Bedürfnisse von Familien politikübergreifend in den Blick zu nehmen und beispielsweise auch bei der Ökonomisierung der Arbeitszeit zu berücksichtigen.
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Belwe, Katharina
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30648/editorial/
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Analyse: Das Bild des Westens. Russische Ansichten zu Polen und Deutschland | Polen-Analysen | bpb.de
Polen - wie das Land so die Leute? Die primären Assoziationen der Russen zu Polen (siehe Tabelle 1 auf S. 13-14) haben nicht mit Politik (14 %) oder Geschichte (9 %) zu tun, sondern allgemein mit dem Land und seiner Bevölkerung (32 %). Erst danach denkt man beim polnischen Nachbarn an seine Wirtschaft (9 %) und Kultur (5 %). Knapp ein Viertel (24 %) der Befragten vermag auf die Frage nach Assoziationen keine Antwort zu geben, während 8 % eingestehen, überhaupt keine Vorstellungen zu Polen zu haben. Die meisten Assoziationen deuten darauf hin, dass in der russischen Gesellschaft ein positives Erscheinungsbild Polens und seiner Einwohner herrscht. Bezüglich der Kategorie "Land und Bevölkerung"findet man folgende Charakterisierungen: Polen ist ein direkter europäischer Nachbar sowie ein Land mit schönen Landschaften, Städten und Naturräumen, die man zu Erholungs- und Tourismuszwecken besucht. Außerdem leben in Polen schöne Frauen. Die Polen selbst gelten unter den befragten Russen als Brudervolk, die "Unseren", "slawische Brüder"sowie als verwandte, sprachlich und mental nahestehende "befreundete Nation". Unter den erwähnten Merkmalen finden sich zahlreiche positive Einschätzungen: gutmütige, wohlwollende Einwohner, gutes und offenherziges bzw. kultiviertes und intelligentes Volk. Abgesehen von ausgesprochen positiven Bewertungen tauchen auch neutrale Meinungen auf, wie z. B. gewöhnliches Land, Volk, Nation, einfache Menschen - sowie einige negative Konnotationen, denen zufolge die Polen ein undankbares, hochmütiges Volk sind, das sich durch Hinterlist und Boshaftigkeit auszeichnet. Unter den polnischen Städten werden vor allem Warschau und Krakau genannt, während man Polen als Nation auch mit Katholizismus und Verwandtschaftsverhältnissen assoziiert. Die Assoziationskategorie "Politik"liegt an zweiter Stelle (14 %), ist aber nicht sehr ausdifferenziert. Es dominieren die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und der Tod des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński und die Person Lech Kaczyński selbst. Andere Assoziationen werden selten genannt. Unter diesen gibt es sowohl positive Äußerungen, denen zufolge Polen der ehemalige Verbündete Russlands ist, als auch negative Einschätzungen, laut derer sich Polen gegenüber Russland aggressiv und unfreundlich verhält, wobei die beiderseitigen Beziehungen angespannt seien. Weniger, aber zumeist positive Assoziationen haben russische Bürger in Bezug auf die polnische Volkswirtschaft, die man für gut entwickelt hält (9 %). Polen gilt als wohlhabendes Land mit hohem Lebensstandard - mit Waren und Dienstleistungen hoher Qualität. Besonders gerne weisen die Befragten dabei auf Dinge hin, die mit dem äußeren Erscheinungsbild der Menschen zusammenhängen, wie z. B. Kleidung, Mode oder gute Kosmetikartikel. Polnische Erzeugnisse werden als günstig bezeichnet, wobei man auf den alltäglichen Schmuggel derartiger Waren durch "Ameisen"(mrówki) hinweist. Entgegen der Befürchtung, im Erscheinungsbild Polens würden historische Aspekte vorherrschen, stammen lediglich 9 % der Assoziationen russischer Bürger zum polnischen Nachbarland aus dem Bereich Geschichte. Dabei knüpft man sowohl an weit zurückliegende Jahrhunderte (russisch-polnischer Krieg, Militärintervention im 17. Jahrhundert, Iwan Susanin, Pseudo-Dimitri I., Schlacht bei Poltawa), aber auch an die jüngere Vergangenheit - Zweiter Weltkrieg - an. Dabei sind die Assoziationen sowohl positiv (gemeinsamer Kampf/Krieg 1941-1945, "Befreiung"Polens im Jahre 1945), als auch negativ (Katyn - Massenerschießungen polnischer Offiziere). Ferner wird auch daran erinnert, dass beide Staaten in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte miteinander ausgetragen haben und verfeindet gewesen sind - wobei ein Teil des polnischen Staates einst vom Zarenreich annektiert wurde (1772-1918). Relativ wenig verbinden russische Bürger mit der polnischen Kultur (5 %). Denn abgesehen vom "Polka«-Tanz nennen sie lediglich die Filme Czterej pancerni i pies [Vier Panzersoldaten und ein Hund] und Tawerna "13 krzeseł"[Die Taverne "13 Stühle"] - und unter den bekannteren Kulturschaffenden Polens Anna German, Barbara Brylska und Fryderyk Chopin. Diese Assoziationen offenbaren, dass Polen bzw. die polnische Nation für die heutigen Russen vor allem als recht sympathisches Nachbarland erscheint. Politische und historische Aspekte stehen eher im Hintergrund. Auch mit der polnischen Kultur weiß man oftmals - trotz der von einigen Befragten deklarierten Kenntnis polnischer Bücher oder Filme - nicht viel anzufangen. Deutschland - das Musterland der Russen? Die Assoziationen der Russen zu Deutschland unterscheiden sich von der Wahrnehmung Polens recht deutlich (siehe Grafik 1 auf S. 12). Denn in Bezug auf Deutschland (siehe Tabelle 2 auf S. 15-16) dominieren vor allem historische Reminiszenzen (36 %), die im Falle Polens weitaus seltener sind (9 %). Erst an zweiter Stelle denkt man bei der Bundesrepublik an Land und Bevölkerung (29 %) - übrigens ebenso häufig wie in Hinblick auf Polen. Die Befragten äußerten sich ferner erheblich öfter zur deutschen (20 %) als zur polnischen (9 %) Wirtschaft, während politische Konnotationen eher die Ausnahme bildeten (3 %). Wenn man jedoch die Flugzeugkatastrophe von Smolensk aus der Assoziationskategorie der polnischen Politik herausnimmt, bringen die russischen Respondenten auch Polen weitaus seltener mit politischen Aspekten in Verbindung. Im Gegensatz zum Stichwort "Polen"war bei der Frage nach Deutschland auch die Zahl derjenigen russischen Bürger geringer, die keine Antwort zu geben vermochten oder eingestand, keine Assoziationen zu diesem Thema zu haben (12 %). Die am häufigsten auftauchende Kategorie von Assoziationen, die russische Bürger zu Deutschland haben, betrifft die gemeinsame Geschichte (36 %). Dabei werden vorrangig bestimmte Aspekte des Zweiten Weltkrieges genannt: "Großer Vaterländischer Krieg"/Angriff auf die UdSSR, Faschisten (Faschismus, Nationalismus), Adolf Hitler, Sieg im Jahre 1945, nahestehende Menschen, die im Krieg kämpften oder ums Leben kamen, Konzentrationslager und Kriegsfilme. Dennoch geben die Befragten aber auch Hinweise auf die jüngste deutsche Geschichte in Zusammenhang mit dem Prozess der Wiedervereinigung. Die zweithäufigste Kategorie betrifft Assoziationen zu Deutschland als Land und Bevölkerung (29 %). Die befragten Russen nennen dabei die nach ihrer Ansicht positiven Eigenschaften der Deutschen, wie z. B. Pünktlichkeit, Präzision, Pedanterie (nicht unbedingt positiv bewertet), Ordnungsliebe, Gründlichkeit, Fleiß, Sauberkeit, Disziplin oder Ehrlichkeit. Das deutsche Volk wird als weise, groß und gebildet bezeichnet. Positive Konnotationen zeigen sich in der Einschätzung Deutschlands als politisch stabiles Land mit guter medizinischer Versorgung, hoch entwickelter Demokratie und schönen Städten. Darüber hinaus tauchen neutrale Assoziationen auf, denen zufolge die Bundesrepublik ein großer europäischer Staat ist. Ferner wird Deutschland mit der Wurst, bayerischem Bier und Fußball, aber auch mit Berlin und dem Reichstag in direkte Verbindung gebracht. Positive Assoziationen haben russische Bürger in Bezug auf die deutsche Wirtschaft (20 %), der eine starke Dynamik zugeschrieben wird. Daher hält man Deutschland für ein wohlhabendes Land mit hohem Lebensstandard. Die Befragten nennen in diesem Zusammenhang auch deutsche Automarken, die gut bewertet werden. Deutschland wird ferner mit Technik und Hightech in Verbindung gebracht. Sehr wenig weiß man indessen über die deutsche Politik zu sagen (3 %). Dabei fielen die Schlagworte "freundschaftliche Beziehungen", "Feinde"und der Name von Angela Merkel. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass die Russen im Allgemeinen Deutschland und seine Kultur kennen, weckt dieses Stichwort bei den Befragten nur sehr wenige Assoziationen. Genannt werden lediglich Johann Wolfgang von Goethe, Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven sowie die Kunstgalerie Dresden. Im Westen ist es besser als in Russland Die befragten Russen haben eine bessere Meinung über Deutschland und Polen als über ihr eigenes Land. Besonders gut wird dabei die Bundesrepublik eingeschätzt. Die Bundesrepublik ist nach Ansicht der Russen ein sehr bürgerfreundlicher Staat, der sich laut 92 % der Befragten um das Wohl seiner Bürger kümmert (siehe Grafik 2 auf S. 17). Gegenteilige Meinungen äußern lediglich 2 % der Befragten. In den Augen der Russen ist Deutschland in ökonomischer Hinsicht ein dynamisches Land (siehe Grafik 3 auf S. 17) - 85 % der russischen Bürger meinen, dass sich die deutsche Wirtschaft gut weiterentwickelt (eine andere Auffassung vertreten knapp 4 %). Das positive Erscheinungsbild Deutschlands wird von der Einschätzung der Russen hinsichtlich des niedrigen Korruptionsniveaus unter deutschen Staatsbeamten zusätzlich gefestigt (siehe Grafik 4 auf S. 18). Denn mehr als die Hälfte der Befragten (51 %) geht davon aus, dass Beamtenbestechung in der Bundesrepublik kein weitverbreitetes Problem darstellt. Anderer Auffassung ist ein geringerer Anteil der Befragten (21 %). Diese Ansichten sind seit etlichen Jahren unverändert - in einer einschlägigen Meinungsumfrage von 2008 hielten Deutschland lediglich 2 % der Russen für ein korruptes Land. Besonders positiv wird die Bundesrepublik von den Einwohnern Moskaus und der größten russischen Städte beurteilt. In der Hauptstadt Russlands ist man öfters als in anderen Regionen des Landes der Meinung, dass sich der deutsche Staat um seine Bürger kümmert. Größer ist auch die Zahl der befragten Moskauer, die den Entwicklungsstand der deutschen Wirtschaft für gut halten (93 % im Vergleich zu 85 % der Gesamtbevölkerung). Die Deutschen verkörpern also für die Russen - insbesondere für die Einwohner der größten Städte - ein Musterland an staatlicher Organisationfähigkeit und ökonomischer Funktionstüchtigkeit. Die Ansichten der Russen zu Polen fallen im Vergleich zur Einschätzung Deutschlands weniger schmeichelhaft aus. Dennoch ist das Erscheinungsbild, das sich aus den Antworten der Befragten ergibt, insgesamt positiv. Polen wird ähnlich wie Deutschland als ein Staat wahrgenommen, der sich um seine Bürger kümmert. Diese Auffassung vertreten 67 % der Befragten, 28 % geben eine neutrale Antwort, während negative Meinungen sehr selten sind (5 %). Ähnlich ist die Bewertung der Volkswirtschaft Polens. Knapp die Hälfte der Befragten (46 %) ist der Ansicht, dass sich diese gut weiterentwickelt - eine gegenteilige Meinung vertreten lediglich 15 % der russischen Bürger. Auch in diesem Fall geben die Befragten oftmals die ausweichende Antwort "weder ja noch nein"(39 %). Vieldeutig bleibt indessen die Haltung der Russen zum Thema Korruption unter polnischen Beamten. Knapp die Hälfte der Befragten (41 %) nimmt dabei eine neutrale Position ein, während 15 % der Meinung sind, dass polnische Staatsbedienstete für Bestechungsgelder immun sind. 44 % der russischen Bürger sind hingegen mehr oder weniger davon überzeugt (12 % von ihnen sind sich ganz sicher!), dass unter polnischen Beamten im Allgemeinen Korruption herrscht. Die Frage nach der Bestechlichkeit erwies sich übrigens von allen vier Fragen über Polen als die schwierigste Thematik. Denn 47 % der Russen wählten dabei die Antwort "schwer zu sagen«. Die meisten russischen Bürger schätzen die Situation im eigenen Land sehr negativ ein. Nach Ansicht vieler Befragter kümmert sich der russische Staat nicht um das Wohl seiner Bürger. Darüber hinaus herrsche weithin Korruption, wobei die Zukunftsperspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands stark beschränkt seien. Die Hälfte der Russen (46 %) meint, dass die staatlichen Machthaber für das Schicksal der Menschen im Lande keine Sorge tragen. Allenfalls jeder vierte Befragte (23 %) vertritt eine andere Auffassung. Als außerordentlich wesentliches Problem gilt hingegen die Korruption. Im Blick auf die russischen Staatsbeamten geben die Befragten eine eindeutige Antwort: Vier von fünf Russen (83 %) behaupten, dass russische Beamte bestechlich sind, während lediglich 5 % der Ansicht bestreiten, dass Korruption in ihrem Staat ein Problem darstellt. Trotz den von der gegenwärtigen russischen Regierung in Gang gesetzten "Aufklärungskampagnen"mit dem Ziel, die eigenen Bürger davon überzeugen, dass Russland von der aktuellen Wirtschaftskrise weniger stark betroffen ist wie die nationalen Volkswirtschaften der Europäischen Union, betrachten viele Russen derartige offizielle Mitteilungen eher skeptisch. Über ein Drittel der Befragten (39 %) widerspricht der These, dass die russische Wirtschaft auf einem guten Weg in die Zukunft ist. An deren Wachstumspotential glaubt jedoch weiterhin ein Viertel der Russen (26 %). 35 % der Befragten erklären hingegen, dass sich die einheimische Volkswirtschaft weder gut noch schlecht weiterentwickelt. Interessanterweise rekrutiert sich der größere Anteil derjenigen, die meinen, dass sich ihre Wirtschaft gut weiterentwickelt, aus den jüngsten Altersgruppen (35 % im Vergleich zum Mittelwert von 26 %). Dabei offenbaren die Bürger Moskaus die kritischste Einstellung: Nur 18 % von ihnen glauben an eine positive Weiterentwicklung der einheimischen Wirtschaft (26 % im landesweiten Durchschnitt). Zweifel hegt indessen die Hälfte aller Moskauer (39 % im landesweiten Durchschnitt). Die Einwohner Moskaus stufen auch das Korruptionsniveau der russischen Beamten besonders hoch ein (91 % - landesweiter Durchschnitt 83 %). Diese Umfrageergebnisse stehen sicherlich in Zusammenhang mit den jüngsten öffentlichen Protesten vieler Moskauer Bürger gegen die derzeitigen Machthaber im Kreml. Russland - Polen - Deutschland Beim vergleichenden Blick auf die Lage in den drei Staaten stellt sich heraus, dass Polen in den Augen der russischen Befragten den politisch-ökonomischen Standards in Deutschland näher steht als den gegenwärtigen Verhältnissen in Russland. Dies bestätigen die Antworten bezüglich der staatlichen Sorge um das Wohl der Bürger, aber auch die Einschätzung des Wachstumspotentials der polnischen Volkswirtschaft. Auch das Verhältnis der Russen zu Waren polnischer Herkunft weist sicherlich darauf hin, dass Polen in der russischen Gesellschaft zunehmend als Teil der westlichen Welt wahrgenommen wird. Denn ein Fünftel der Befragten fühlt sich durch den Hinweis, dass eine bestimmte Ware in Polen erzeugt wurde, zu deren Kauf ermuntert. Lediglich 8 % der russischen Bürger stößt eine derartige Information eher ab, während es für weit über die Hälfte der Befragten (61 %) keine Rolle spielt, ob ein im Angebot befindliches Produkt aus dem polnischen Nachbarland stammt. Das sich aus der Umfrage ergebende Erscheinungsbild Polens in der russischen Öffentlichkeit weist trotz generell positiver Grundzüge auch einzelne Bereiche auf, in denen Warschau näher an Moskau liegt als an Berlin. Ein bezeichnendes Beispiel bildet dabei die Frage der Bestechlichkeit von Staatsbeamten. Denn nach Ansicht vieler Russen weicht die Situation in Polen von den in Deutschland herrschenden Standards deutlich ab. Die Einschätzung des Korruptionsproblems in Polen mag vielleicht mit der Wahrnehmung Polens als ehemaliges kommunistisches Land zusammenhängen, da dieses Problem in den ehemaligen Ostblockstaaten für gewöhnlich von wesentlicher Bedeutung ist. Andererseits kann Polen hinsichtlich der Lauterkeit der Staatsbeamten nur schwer mit Deutschland konkurrieren, das in den Augen der Russen ein Musterbeispiel für Beamtenethik ist und eher mit Eigenschaften wie Ordnungsliebe in Verbindung gebracht wird. Die Auffassungen der russischen Bürger über das derzeit in Polen herrschende Korruptionsniveau bleiben also recht vage. Nichtsdestotrotz schätzt man die russischen Staatsbeamten noch negativer ein. Obwohl die russischen Bürger ihren Staat zwar überwiegend negativ bewerten, herrschen in Bezug auf die Freiheit der einheimischen Medien positivere Ansichten (siehe Grafik 5 auf S. 18). Knapp die Hälfte der Befragten (42 %) ist der Meinung, dass die Medien in Russland frei sind und die Regierung ungehindert kritisieren dürfen. Ein Drittel der Russen (32 %) hält sich in dieser Frage bedeckt, während jeder Vierte (26 %) der Auffassung ist, dass es keine freien Medien gibt. Diese Umfrageergebnisse mögen vielleicht überraschen, da in Westeuropa oftmals die Überzeugung vorherrscht, dass die russischen Medien überwiegend die Auffassungen der Regierungseliten repräsentieren. Die positiven Einschätzungen hinsichtlich der Medienfreiheit betreffen alle drei Länder der vorliegenden Untersuchung. Im Falle Deutschlands überwiegt der prozentuale Anteil derartiger Ansichten jedoch bei weitem, während sich die Antworten in Bezug auf Polen in etwa die Waage halten: 43 % der Russen meinen, dass die Medien in diesem Land frei sind - und 46 % der Befragten reagieren auf diese Frage mit der Formel "weder ja noch nein«. Erklären lassen sich die divergierenden Ansichten der russischen Bürger in Bezug auf den eigenen Staat und die Medienfreiheit wohl durch die unterschiedlich definierte Medienlandschaft. Denn wenn man unter dem Stichwort "Medien"nicht nur die traditionellen Massenkommunikationsmittel - also Fernsehen oder Rundfunk - versteht, sondern auch die durch das Internet zugänglichen "Neuen Medien"hinzuzählt (Nachrichtenportale, Blogs, Gesellschaftsportale, YouTube usw.), so deckt sich die Wahrnehmung der russischen Medien als unabhängige Quellen der öffentlichen Meinungsbildung mit der tatsächlichen Wirklichkeit in hohem Maße. Die Benutzung des Internets in Russland bleibt von der staatlichen Zensur nämlich weitgehend unbehelligt, so dass auf diesem Wege zahlreiche Materialien und Beiträge publik werden, die Kritik an den derzeitigen Machthabern im Kreml enthalten. Um das Verhältnis der Russen zur Lage der Medien im eigenen Lande besser zu verstehen, muss man näher auf die Antworten der einzelnen Altersgruppen eingehen. Denn an die Unabhängigkeit der Massenmedien in Russland glaubt etwa die Hälfte der jüngsten Befragten (51 %) im Alter von 18 bis 24 Jahren. Beeinflusst wird die Meinungsbildung junger russischer Bürger in erster Linie von modernen, digitalen Informationsquellen. Diese Altersgruppe unterrichtet sich über Polen fünf Mal so häufig wie Landsleute über 54 Jahre mit Hilfe des Internets. Das Internet gilt derzeit in Russland als Kommunikationsmittel, das gegenüber staatlichen Steuerungsbestrebungen oder etwaigen Kontrollen der Regierung weiterhin die größte Immunität aufweist. Weniger Vertrauen zum Internet zeigen hingegen ältere russische Bürger (über 40 Jahre), die beinahe ausschließlich auf traditionelle Medien zurückgreifen. Die kritische Haltung dieser mittleren Altersgruppe liegt wahrscheinlich auch darin begründet, dass man die 1990er Jahre noch gut in Erinnerung hat, als noch ein gewisser Pluralismus in der traditionellen Medienlandschaft herrschte. Auf dem Weg zu einem Trialog? Die Aufbruchsstimmung in Teilen der russischen Gesellschaft hält an. Sie steht in direktem Zusammenhang mit der Reisefreiheit und den Erfahrungen der entstehenden Mittelschicht und der jungen Generation. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hat ein großer Teil der städtischen Gesellschaft direkte Erfahrungen im Westen sammeln können. Dies führte zu Veränderungen in der Wahrnehmung des Westens aber vor allem zu einem kritischen Blick auf das eigene Land. Zugleich sieht die russische Gesellschaft in Deutschland und Polen keine Bedrohung für das eigene Land. Vielmehr betrachtet sie die Aktivitäten der westlichen Nachbarn im postsowjetischen Raum neutral. Es gibt allerdings eine Reihe von offenen Fragen, die das russisch-polnische Verhältnis belasten. Dazu gehören historische Themen, die aber in Fachkreisen diskutiert werden sollten. Hier bietet sich eine Fortsetzung des Historiker-Dialoges an, der in den letzten Jahren gute Arbeit gute Arbeit geleistet und eine Grundlage für die polnisch-russische Annäherung geschaffen hat. Die Flugzeugkatastrophe von Smolensk und deren Folgen haben jedoch negative Auswirkungen gehabt. Der anfänglichen Trauer und gegenseitigen Sympathiebekundungen folgte eine Welle von Verdächtigungen und Anschuldigungen seitens konservativer Kreise in Polen, die bis heute einen polnisch-russischen Dialog sehr erschwert. Die Distanzierung der katholischen Kirche von der Anschlagtheorie, die erst im Vorfeld des Patriarchenbesuches in Polen erfolgte, hegt neue Hoffnungen hinsichtlich der polnisch-russischen Kooperation. In politischer Hinsicht stellt sich die Frage, ob eine deutsch-polnische Kooperation bei der Gestaltung einer Russland-Politik einen Nukleus europäischer Ost-Politik sein kann. Entscheidend ist hier die künftige Haltung der Bundesregierung, die Polen als zunehmend wichtiger Akteur in der EU bei der Gestaltung der Russland-Politik einbeziehen sollte. Vieles deutet darauf hin, aber eine Institutionalisierung des Prozesses steht nicht auf der Tagesordnung. Eine Analyse der deutsch-polnischen Kooperation zeigt, dass dies bisher ansatzweise in der Kooperation der Außenminister geschehen ist. Langsam entstehen auch andere, kleine trilaterale Projekte. Ihre Ergebnisse kann man aber noch nicht beurteilen. Oft ist auch das Engagement der russischen Seite eher gering. Eine Chance stellt eine Zusammenarbeit an der zivilgesellschaftlichen Ebene dar. In diesem Bereich könnte auch ein deutsch-polnisch-russischer Trialog eine symbolische Bedeutung für die weitere Entwicklung in Russland erhalten. Lesetipp Grzegorz Gromadzki, Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada, Cornelius Ochmann, Yuriy Taran, Łukasz Wenerski: Menschen - Geschichte - Politik. Russische Ansichten zu Polen und Deutschland, Warschau: Institute of Public Affairs 2012. Über das Projekt Der vorliegende Artikel entstand im Rahmen des Projektes: "Wahrnehmung Polens und Deutschlands in Russland", realisiert in Zusammenarbeit mit der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dank der finanziellen Unterstützung des polnischen Außenministeriums. Die Ergebnisse des Projekts wurden in dem unter "Lesetipps"zitierten Band publiziert. Diesem Band sind Teile des vorliegenden Textes entnommen. Die Ausführungen stützen sich auf eine Repräsentativumfrage, die das Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau beim Lewada-Zentrum in Moskau in Auftrag gegeben hat. Die Erhebung wurde im Zeitraum vom 11. bis 21. November 2011 durchgeführt und erfasste einer repräsentative Auswahl von 1.591 volljährigen russischen Bürgern.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-11-07T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/148334/analyse-das-bild-des-westens-russische-ansichten-zu-polen-und-deutschland/
Das Bild des Westens in Russland verändert sich. Das in Deutschland weit verbreitete Klischee, dass die Russen deutschlandfreundlich und polenkritisch sind, trägt nicht mehr. Die Russen sind vor allem russlandkritisch geworden und sehen die westliche
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Baustein 1: Wünsche – Bedürfnisse – Interessen | VorBild – Politische Bildung für Förderschulen und inklusive Schulen | bpb.de
Ziele Diese erste Unterrichtseinheit dient als Vorbereitung für die weiteren Unterrichtseinheiten des Moduls. Die Schüler/-innen setzen sich in einem ersten Schritt spielerisch damit auseinander, was sie gerne haben, was sie möchten, was sie brauchen oder benötigen. Die Schüler/-innen bekommen ein Gespür für ihre Wünsche und Bedürfnisse und setzen sich bewusst damit auseinander. Sie nehmen sich die Zeit, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern und zu reflektieren. Dabei sollen sie einen ersten Eindruck davon bekommen, dass sie viele Wünsche und Bedürfnisse haben, die sie mit anderen in ihrer Klasse teilen. Dies bereitet sie auch auf die weiteren Unterrichtseinheiten vor. Sie lernen außerdem, dass es Dinge gibt, die jedes einzelne Kind für sich mag, sich wünscht oder braucht. Achtsamkeiten Sie als Lehrkraft und die anderen Schüler/innen sollten bei der Äußerung von Wünschen in dieser Phase noch keine Wertungen vornehmen. Einzelne Dinge oder Gegenstände können eine große subjektive Bedeutung für die Schüler/innen haben. Sie können in dieser Form für ein Grundbedürfnis stehen, auch wenn es von außen eher unwichtig aussieht: Der Wunsch, Markenkleidung oder ein Markenhandy zu besitzen, kann z. B. für den Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit stehen. Der Wunsch wäre damit ein Ausdruck sozialer Rechte. Ähnlich verhält es sich mit symbolischen Gegenständen, die etwa für Geborgenheit stehen können (z. B. ein Teddy). Bei religiös erzogenen Kindern können u. a. die Bibel oder der Koran eine wichtige spirituelle (geistliche) Bedeutung haben. Sie stehen z. B. für Halt, Geborgenheit und Sicherheit. Achten Sie darauf, dass kein Mobbing stattfindet, wenn bestimmte Wünsche geäußert werden. Seien Sie sich der Sensibilität des Themas bezüglich des Umgangs mit den Schüler/innen bewusst: Das Äußern von Wünschen und Bedürfnissen erfordert die emotionale Öffnung jedes Einzelnen innerhalb der Klasse.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-07-20T00:00:00
2022-03-22T00:00:00
2022-07-20T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/vorbild/506452/baustein-1-wuensche-beduerfnisse-interessen/
In einer Phase der Vorbereitung setzen sich die Schüler/-innen spielerisch mit ihren Wünschen und Bedürfnissen auseinander. Dies ist ein erster Schritt zu ihrem Bewusstsein darüber, dass sie und auch andere oftmals ähnliche Interessen haben.
[ "VorBild", "Politische Bildung", "Förderschule", "Wünsche", "Bedürfnisse", "Interessen" ]
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Armin Pfahl-Traughber: Abstract | Entgrenzter Rechtsextremismus? | bpb.de
The NSU (Nationalsozialistischer Untergrund – National Socialist Underground), a group of three neo-Nazis, committed several serious crimes with a mostly xenophobic background between 1998 and 2011: at least ten murders and two bomb attacks. The NSU remained undetected by the security agencies, i.e. police and domestic intelligence services, for a long time, which is due to a combination of several factors: In this context, mistakes in analysis outweigh the lack of co-operation.The NSU has a few things in common with terrorism in general as known before or former right-wing terrorism in Germany, but there are a lot of differences. Its distinguishing features can be seen from a comparing perspective.The NSU terrorists moved in circles affiliated with the neo-Nazi Skinhead scene and were likewise in contact with adherents of the international "Blood & Honour" network. So it makes sense to adopt a transnational point of view.The following statements describe the distinguishing features of NSU right-wing terrorism in a German and an international context. The reference to common features, however, does not necessarily claim that crimes were taken as examples and/or imitated.Also former German right-wing terrorist groups such as the "Deutsche Aktionsgruppen" ("German Action Groups") had carried out attacks with xenophobic motives in 1980, but had not intended (in spite of two deaths as a result of arson) to systematically and purposefully kill people.The killing of an individual in a face to face situation is a particularity in the history of German right-wing terrorism (exception: in 1980, murder of a Jewish publisher and his partner).No exception, but the rule is the absence of a claim of responsibility for the crimes. Whereas left-wing terrorists used to issue statements claiming responsibility, right-wing terrorists thought that the selection of their victims or of the scenes of their crimes would speak for itself.A fact distinctive of the NSU, however, was that they did not correct the mistaken perception of their murders by media and security agencies as non-political crimes by giving hints (e.g. slogans or symbols) at the scenes of their crimes.So the NSU terror can be referred to as "terrorism without communication", thus failing to comply with a major characteristic of terrorism. However, it was supposedly planned to claim responsibility for the murders at a later time, which is suggested by the existence of the "Pink Panther" DVD.So, against a German background, there are certain particularities distinctive of the NSU, which had made its detection difficult, but would not have rendered it impossible. If the international context had been taken into account, it would have been possible to gain more intelligence giving new leads and allowing further hypotheses.In Germany, media, political circles, and security agencies repeatedly referred to the NSU as a "Braune Armee Fraktion" (Brown Army Faction), a term conveying their wrong idea of right-wing terrorism as a particularly well-staffed and well-structured group.Strategic statements of violence-oriented right-wing extremism in the UK (Blood and Honour) and the US (Louis Bean), however, had long since argued for "leaderless resistance" by autonomously acting and small (in terms of personnel) "cells".That is exactly the organisational form the NSU had chosen, however as a single cell without a major network of cells throughout the country. In documents found by the authorities, one of the perpetrators (Uwe Mundlos), however, expressed his hope that similar cells might follow.As for shots on people in series with a xenophobic background, there had also been a similar case abroad: In 1990/1991, the "Laser Man" (John Ausonius) in Sweden shot at eleven people from migrant backgrounds in the Stockholm and Uppsala area with the intention of killing them.Even with regard to the NSU attack in Cologne in 2004, there had been a similar case abroad: The "London Nail Bomber" (David Copeland) in the UK carried out three attacks aimed at London's gay, migrant and black communities by placing nail bombs in streets and public spaces in 1999.In an international context, the NSU murders must still be viewed as a particularity considering their dimension. But there are not only the examples mentioned above which have made such a form of right-wing terrorism appear as a real possibility.This impression is also supported by the intensity of violence which characterises the neo-Nazi scene in terms of ideology and in the media: In statements, song texts and videos, they do not subscribe to violence in the category of a fair struggle any more, but in that of existential destruction.Right-wing terrorism and terrorism in general will probably hardly ever appear in the form of large well-staffed and structured organisations in future. The forms of the lone actor, also known as lone wolf, and of the "leaderless resistance" cell will rather dominate. Up to now, many details and also motives in connection with the NSU murders are still undiscovered or unexplained (e.g. the sometimes large or short time intervals between the crimes). So many questions, also for analysis, remain to be answered. Interner Link: Thesenpapier auf Deutsch Interner Link: Back to the panel
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-03-12T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/entgrenzter-rechtsextremismus-2015/202685/armin-pfahl-traughber-abstract/
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Audio-Interviews im Überblick | Ravensbrück – Überlebende erzählen | bpb.de
Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück Verhaftung Verhaftung Inhalt Aufnahme Aufnahme Inhalt Lagerkleidung Lagerkleidung Inhalt Arbeitsformierung / Strafappelle Arbeitsformierung / Strafappelle Inhalt Essen Essen Inhalt Appell Appell Inhalt Arbeitskommando Arbeitskommando Inhalt Zelt Zelt Inhalt Block 20 Block 20 Inhalt Sonntag Sonntag Inhalt Widerstandsaktionen Widerstandsaktionen Inhalt Kinder in Ravensbrück Kinder in Ravensbrück Inhalt Industriehof Industriehof Inhalt Siemenswerk Siemenswerk Inhalt Bücherei / Sozialstation / Paketzensur Bücherei / Sozialstation / Paketzensur Inhalt Krankenrevier Krankenrevier Inhalt Medizinische Versuche Medizinische Versuche Inhalt Selektionen Selektionen Inhalt Kommandantur Kommandantur Inhalt Entlassungen Entlassungen Inhalt Effektenkammer Effektenkammer Inhalt SS-Wohnsiedlung SS-Wohnsiedlung Inhalt Straßenbau Straßenbau Inhalt SS-Frisierstube SS-Frisierstube Inhalt Erschießungsgang Erschießungsgang Inhalt Walze Walze Inhalt Zellenbau Zellenbau Inhalt Krematorium Krematorium Inhalt Frühjahr '45 Frühjahr '45 Inhalt Todesmarsch Todesmarsch Inhalt Jugend-Konzentrationslager Uckermark Aufnahme Uckermark Aufnahme Uckermark Inhalt Siemens Uckermark Siemens Uckermark Inhalt Strafen Strafen Inhalt Zellenbau Uckermark Zellenbau Uckermark Inhalt Auflösung Uckermark Auflösung Uckermark Inhalt Verhaftung Verhaftung Inhalt Aufnahme Aufnahme Inhalt Lagerkleidung Lagerkleidung Inhalt Arbeitsformierung / Strafappelle Arbeitsformierung / Strafappelle Inhalt Essen Essen Inhalt Appell Appell Inhalt Arbeitskommando Arbeitskommando Inhalt Zelt Zelt Inhalt Block 20 Block 20 Inhalt Sonntag Sonntag Inhalt Widerstandsaktionen Widerstandsaktionen Inhalt Kinder in Ravensbrück Kinder in Ravensbrück Inhalt Industriehof Industriehof Inhalt Siemenswerk Siemenswerk Inhalt Bücherei / Sozialstation / Paketzensur Bücherei / Sozialstation / Paketzensur Inhalt Krankenrevier Krankenrevier Inhalt Medizinische Versuche Medizinische Versuche Inhalt Selektionen Selektionen Inhalt Kommandantur Kommandantur Inhalt Entlassungen Entlassungen Inhalt Effektenkammer Effektenkammer Inhalt SS-Wohnsiedlung SS-Wohnsiedlung Inhalt Straßenbau Straßenbau Inhalt SS-Frisierstube SS-Frisierstube Inhalt Erschießungsgang Erschießungsgang Inhalt Walze Walze Inhalt Zellenbau Zellenbau Inhalt Krematorium Krematorium Inhalt Frühjahr '45 Frühjahr '45 Inhalt Todesmarsch Todesmarsch Inhalt Aufnahme Uckermark Aufnahme Uckermark Inhalt Siemens Uckermark Siemens Uckermark Inhalt Strafen Strafen Inhalt Zellenbau Uckermark Zellenbau Uckermark Inhalt Auflösung Uckermark Auflösung Uckermark Inhalt
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-02-09T00:00:00
2012-01-29T00:00:00
2022-02-09T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/holocaust/ravensbrueck/60739/audio-interviews-im-ueberblick/
Hier finden Sie die Audio-Interviews mit den Zeitzeuginnen. Zum einen berichten die Überlebenden über Orte des Frauen-KZ Ravensbrück sowie des Jugend-KZ Uckermarks, zum anderen wird der "Lageralltag" geschildert.
[ "Überlebende", "KZ", "Konzentrationslager", "Nationalsozialismus", "Interview", "Audio", "Deutschland", "Ravensbrück" ]
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Machteroberung | Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg | bpb.de
Einleitung Hitler wird Reichskanzler "Es ist fast ein Traum", notierte Joseph Goebbels am 30. Januar 1933 in seinem Tagebuch. "Die Wilhelmstraße [Sitz der Reichskanzlei und verschiedener Ministerien in Berlin – Anm. d. Red.] gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei." Nachdem Hindenburg für Papens Plan eines vereinigten rechten Kabinetts unter Hitler gewonnen war, vereidigte der Reichspräsident am Mittag des 30. Januar die neue Regierung und ernannte Hitler zum Reichskanzler. Formal war die Ernennung Hitlers durchaus legal, aber der Verfassung der ersten deutschen Republik entsprach sie keineswegs. Schon in den Jahren zuvor war die Verfassung durch die Praxis der Präsidialkabinette, die nur mit der Notverordnungsautorität des Reichspräsidenten regierten, unterhöhlt und de facto außer Kraft gesetzt. Das gewählte Parlament war seither von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen; die Weimarer Republik hatte sich schon vor der Regierungsübernahme Hitlers von einer parlamentarischen Demokratie immer mehr entfernt. Auf den ersten Blick sah es in der Tat so aus, als hätte sich gegenüber der bisherigen Politik nicht viel geändert. Der ehemalige Reichskanzler und Vertraute Hindenburgs, Franz von Papen, war Vizekanzler; Reichsaußenminister Konstantin von Neurath, Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und der Reichsjustizminister Franz Gürtner blieben im Amt. Als starker Mann im Kabinett galt Alfred Hugenberg, der sowohl das Wirtschafts- als auch das Landwirtschaftsministerium übernahm. Hinzu kam der Führer des "Stahlhelms", Franz Seldte, als Reichsarbeitsminister und Generalleutnant Werner von Blomberg als neuer Reichswehrminister. Nur wenige Nationalsozialisten gehörten dem neuen Kabinett an. Neben Hitler als Reichskanzler wurden Wilhelm Frick Reichsinnenminister und Hermann Göring kommissarischer preußischer Innenminister und Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Doch zeigten die Fackelzüge in Berlin und überall im Reich am Abend des 30. Januar, dass die Nationalsozialisten ernst machen wollten mit der angekündigten "nationalen Erhebung". Nicht die Einbindung der NS-Führung in die Kabinettsdisziplin, sondern die Zurückdrängung der Deutschnationalen in der Reichsregierung und die nationalsozialistische Machteroberung zeichnete die nächsten Monate aus. Einig waren sich Deutschnationale und Nationalsozialisten darin, dass die kommenden Wahlen die letzten sein sollten. Danach sollte unabhängig von der Verfassung mit Hilfe eines Ermächtigungsgesetzes diktatorisch regiert werden. Insofern markiert der 30. Januar 1933 tatsächlich das Ende der Weimarer Republik. QuellentextReaktionen auf Hitlers Machtantritt Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann und selbst Schriftsteller, Tagebucheintrag vom 30. Januar 1933: „Die Nachricht, dass Hitler Reichskanzler. Schreck. Es nie für möglich gehalten. (Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten).“ Klaus Mann, Tagebücher 1931-1933. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle, Wilfried Schoeller, rororo, Reinbek bei Hamburg (Dt. Erstausgabe München 1989) 1995, S. 113 Sebastian Haffner, demokratischer Publizist: „Ich weiß nicht genau, wie die allgemeine erste Reaktion war. Die meine war etwa eine Minute lang richtig: Eisiger Schreck. [...] Dann schüttelte ich das ab, versuchte zu lächeln, versuchte nachzudenken, und fand in der Tat viel Grund zur Beruhigung. Am Abend diskutierte ich die Aussichten der neuen Regierung mit meinem Vater, und wir waren uns einig darüber, daß sie zwar eine Chance hatte, eine ganze hübsche Menge Unheil anzurichten, aber kaum eine Chance, lange zu regieren.“ Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Deutsche Verlags-Anstalt in der Gruppe Random House, München 2003, S. 104 f. Luise Solmitz, deutschnationale Lehrerin in Hamburg: „Was für ein Kabinett!!! Wie wir es im Juli nicht zu erträumen wagten. Hitler, Hugenberg, Seldte, Papen!!! An jedem hängt ein großes Stück meiner deutschen Hoffnung. Nationalsozialistischer Schwung, deutschnationale Vernunft, der unpolitische Stahlhelm und der von uns unvergessene Papen. [...] Riesiger Fackelzug vor Hindenburg und Hitler durch Nationalsozialisten und Stahlhelm, die endlich, endlich wieder miteinandergehen. Das ist ein denkwürdiger 30. Januar!“ Tagebuch Luise Solmitz, Eintrag unter dem 30.1.1933, abgedruckt in: Werner Jochmann, Nationalsozialismus und Revolution. Ursprung und Geschichte der NSDAP in Hamburg 1922-1933. Dokumente, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1963, S. 421 Victor Klemperer, jüdischer Hochschullehrer in Dresden, Tagebucheintrag vom 21. Februar 1933: "Seit etwa drei Wochen die Depression des reaktionären Regiments. Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber meine Erbitterung, stärker, als ich mir zugetraut hätte, sie noch empfinden zu können, will ich doch vermerken. Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse. - Eine Woche nach Hitlers Ernennung waren wir (am 5.2.) bei Blumenfelds mit Raab zusammen. Raab, Gschaftlhuber, Nationalökonom, Vorsitzender des Humboldtclubs, hielt eine große Rede und erklärte, man müsse die Deutschnationalen wählen, um den rechten Flügel der Koalition zu stärken. Ich trat ihm erbittert entgegen. Interessanter seine Meinung, daß Hitler im religiösen Irrsinn enden werde... Am meisten berührt, wie man den Ereignissen so ganz blind gegenübersteht, wie niemand eine Ahnung von der wahren Machtverteilung hat. Wer wird am 5.3. die Majorität haben? Wird der Terror hingenommen werden, und wie lange? Niemand kann prophezeien." Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Verlag, Berlin 1995, Bd. 1, S. 6 f. André François-Ponçet, französischer Botschafter in Berlin, in einem Bericht nach Paris im April 1933: „Als am 30. Januar das Kabinett Hitler/Papen an die Macht kam, versicherte man, dass die Regierung der Deutschnationalen […] Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli bieten würden, dass die Nationalsozialisten mit der Feindschaft der Arbeiterklasse zu rechnen haben und dass schließlich die Katholiken der Zentrumspartei die Legalität verteidigen würden. Sechs Wochen später muss man feststellen, dass all diese Dämme, die die Flut der Hitler-Regierung zurückhalten sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden.“ Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 217 QuellentextHitler vor den Befehlshabern der Wehrmacht am 3. Februar 1933 Wiedergabe des Stichwortprotokolls, das ein anwesender General für sich anfertigte. Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht. Hierauf muß gesamte Staatsführung eingestellt werden (alle Ressorts!). 1. Im Innern. Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände in Deutschland. Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. Einstellung der Jugend und des ganzen Volkes auf den Gedanken, daß nur der Kampf uns retten kann und diesem Gedanken alles zurückzutreten hat. […] Ertüchtigung der Jugend und Stärkung des Wehrwillens mit allen Mitteln. Todesstrafe für Landes- und Volksverrat. Straffste autoritäre Staatsführung. Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie! 2. Nach außen. Kampf gegen Versailles. Gleichberechtigung in Genf; aber zwecklos, wenn Volk nicht auf Wehrwillen eingestellt. Sorge für Bundesgenossen. 3. Wirtschaft! Der Bauer muß gerettet werden! Siedlungspolitik! Künftig Steigerung der Ausfuhr zwecklos. Aufnahmefähigkeit der Welt ist begrenzt und Produktion ist überall übersteigert. Im Siedeln liegt einzige Möglichkeit, Arbeitslosenheer zum Teil wieder einzuspannen. […] 4. Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedererringung der politischen Macht. Allgemeine Wehrpflicht muß wieder kommen. Zuvor aber muß Staatsführung dafür sorgen, daß die Wehrpflichtigen vor Eintritt nicht schon durch Pazifismus, Marxismus, Bolschewismus vergiftet werden oder nach Dienstzeit diesem Gift verfallen. Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Möglichkeiten, vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Sicher, daß erst mit politischer Macht und Kampf jetzige wirtschaftliche Zustände geändert werden können. Alles, was jetzt geschehen kann – Siedlung – Aushilfsmittel. Wehrmacht wichtigste und sozialistischste Einrichtung des Staates. Sie soll unpolitisch und überparteilich bleiben. Der Kampf im Innern nicht ihre Sache, sondern der Nazi -Organisationen. […] Aus: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 23 f. Terror im Wahlkampf Was in den Wochen nach dem 30. Januar folgte, war die klare Willensbekundung, die errungene Macht niemals mehr aufzugeben und Deutschland radikal umzugestalten. Drei Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler erklärte Hitler vor den Befehlshabern des Heeres und der Marine: "Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht. [...] Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände in Deutschland. Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. […] Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie!" Am 1. Februar löste Reichspräsident Hindenburg den Reichstag auf und beraumte Neuwahlen für den 5. März an. Sie sollten mit einem demonstrativen Sieg für die Nationalsozialisten enden, dafür wurde alle staatliche Macht eingesetzt. Unter der Wahlparole "Kampf gegen den Marxismus" richtete die NSDAP ihre ganze Kraft gegen die Linksparteien. Am 2. Februar wurden in Preußen, Thüringen und anderen Ländern kommunistische Demonstrationen verboten. Zwei Tage später erging eine Notverordnung des Reichspräsidenten, mit der die Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt wurde. Dennoch versammelten sich in Berlin am 7. Februar rund 200.000 Menschen im Lustgarten, um gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte zu demonstrieren. Aber auch in anderen Städten wie Frankfurt am Main kam es zu großen Kundgebungen. Zwar gelang aufgrund der festgefahrenen Feindschaft zwischen SPD und KPD kein Bündnis auf der Führungsebene, aber vor Ort kam es durchaus zu gemeinsamen Demonstrationen, Kundgebungen und im württembergischen Mössingen und sächsischen Staßfurt sogar zu lokalen Generalstreiks. Rund tausend Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammelten sich am 19. Februar in der Berliner Kroll-Oper, um gegen die Knebelung von Kunst, Wissenschaft und Presse zu protestieren; und noch am 24. Februar hielt die KPD in Berlin eine letzte große Kundgebung ab. Aber die Kräfte waren ungleich verteilt. Gleich nach seinem Amtsantritt entließ der kommissarische preußische Innenminister Hermann Göring neben politischen Spitzenbeamten auch 14 Polizeipräsidenten und besetzte die Posten mit politisch genehmen Kandidaten. Zugleich löste er die politische Polizeiabteilung aus ihrer bisherigen Verankerung in der preußischen Innen- und Polizeiverwaltung und verselbstständigte sie als Geheime Staatspolizei. Auch in den übrigen deutschen Ländern wurde die politische Polizei als Terrorinstrument ausgebaut. In einer Rede vom 3. März 1933 sagte Göring klar: "Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts! […] Einen solchen Kampf führe ich nicht mit polizeilichen Mitteln. Das mag ein bürgerlicher Staat getan haben. Gewiß, ich werde die staatlichen und polizeilichen Machtmittel bis zum äußersten auch dazu benutzen, meine Herren Kommunisten, damit Sie hier nicht falsche Schlüsse ziehen, aber den Todeskampf, in dem ich Euch die Faust in den Nacken setze, führe ich mit denen da unten, das sind die Braunhemden. In Zukunft […] kommt in diesen Staat nur mehr hinein, wer aus den nationalen Kräften stammt […]." Am 17. Februar wurde die Parteizentrale der KPD in Berlin von der Polizei besetzt und nach angeblichen Umsturzplänen durchsucht. Am selben Tag wies Göring die Polizei an, die nationale Propaganda mit allen Kräften zu unterstützen, dagegen "dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten" und, "wenn nötig, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen". Wenige Tage zuvor hatten mehrere hundert SA-Leute eine Veranstaltung der kommunistischen Roten Hilfe im sächsischen Eisleben angegriffen und ein Blutbad angerichtet. Insgesamt wurden offiziell 69 Tote und Hunderte von Verletzten in diesem Wahlkampf gezählt. Sozialdemokratische und kommunistische Zeitungen, die über diese Geschehnisse kritisch berichteten, wurden über mehrere Tage hinweg verboten. Am 23. Februar ordnete Göring zur angeblichen Bekämpfung "zunehmender Ausschreitungen von linksradikaler, insbesondere kommunistischer Seite" die Aufstellung von 50.000 "Hilfspolizisten" an, die ausschließlich aus SA, SS und Stahlhelm rekrutiert werden sollten und mit Knüppeln und Pistolen bewaffnet wurden. Nun konnten zehntausende von SA-Schlägern ihren gewalttätigen Terror gegen die Linke als staatliche Polizisten ausüben. Vor allem ein Ereignis kam den Nationalsozialisten zu Hilfe: der Brand des Reichstages am Abend des 27. Februar. Im brennenden Gebäude wurde ein junger Niederländer, Marinus van der Lubbe, gefunden, der den Brand aus Protest gegen den Nationalsozialismus gelegt hatte. Sowohl in der zeitgenössischen Bewertung als auch lange Zeit in der Geschichtsschreibung war die Alleintäterschaft van der Lubbes umstritten. Lag es nicht näher, dass die Nationalsozialisten, die einwandfrei aus dem Reichstagsbrand politischen Nutzen ziehen konnten, selbst den Reichstag angezündet hatten? Neuere feuerwehrtechnische Erkenntnisse jedoch belegen die Annahme, dass van der Lubbe die Brandstiftung allein begangen hat. Für die NS-Führung stand von vornherein fest, dass der Brandanschlag das Fanal eines kommunistischen Aufstandsversuchs sei. Noch in der Nacht entschieden Hitler, Göring, Goebbels und von Papen in kleiner Runde, eine Notverordnung ausarbeiten zu lassen, die tags darauf dem Reichskabinett als Entwurf vorlag. Am späten Nachmittag unterschrieb Reichspräsident Hindenburg die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933, mit der wesentliche Grundrechte der Verfassung wie Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht sowie die Gewährleistung des Eigentums außer Kraft gesetzt wurden. Statt wie bisher mit lebenslangem Zuchthaus konnten nun Hochverrat, Brandstiftung, Sprengstoffanschläge, Attentate und selbst die Beschädigung von Eisenbahnanlagen mit dem Tod bestraft werden. Im Unterschied zu früheren Notstandsverordnungen, die die Exekutivgewalt entweder einem militärischen Befehlshaber oder zivilen Reichskommissar übertragen hatten, ließ die Reichstagsbrandverordnung diese Frage offen und bestärkte damit wiederum die Machtbefugnis der Reichsregierung, die über die "nötigen Maßnahmen" entscheiden konnte. Die Reichstagsbrandverordnung stärkte besonders die Macht der Polizei im NS-Regime und ließ erkennen, wie wenig die nationalsozialistische Führung in den traditionellen Kategorien eines vorübergehenden Staatsnotstands oder Belagerungszustandes dachte. Vielmehr wollte sie ein Instrument zur dauerhaften Festschreibung nationalsozialistischer Herrschaft mittels Polizei und Konzentrationslager schaffen. Bis zum Ende des NS-Regimes stellte die Reichstagsbrandverordnung die formale Legitimation der Geheimen Staatspolizei für deren Verhaftungen und Verfolgungen von deutschen Staatsbürgern dar. Zugleich verstärkte die antikommunistische Hysterie die Selbstlähmung der Konservativen und Deutschnationalen, die die brutale und außergesetzliche Unterdrückung der Opposition widerstandslos hinnahmen. Schon in den Morgenstunden des 28. Februar begannen die Verhaftungen nach vorbereiteten Listen; in den folgenden Tagen wurden allein in Preußen rund 5.000 Menschen, in erster Linie Kommunisten und Sozialdemokraten, festgenommen und interniert. Die SA verfolgte ihrerseits die "Roten" und verschleppte Angehörige der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in Schulen, Kasernen, Keller und Parteilokale, wo sie geschlagen, gefoltert und ermordet wurden. Trotz des Terrors gelang der NSDAP bei den Wahlen am 5. März 1933 nicht der erwartete Erfolg, sondern sie blieb auf die Stimmen der Deutschnationalen angewiesen. Zwar steigerten die Nationalsozialisten ihren Anteil noch einmal beachtlich und erhielten 43,9 Prozent der Stimmen, aber die erhoffte absolute Mehrheit errangen sie nicht, wohingegen das katholische Zentrum und die Sozialdemokraten trotz Unterdrückung ihren Stimmenanteil halten konnten und selbst die KPD noch 12,3 Prozent der Stimmen bekam. Dennoch waren die Wahlerfolge der NSDAP in Nord- und Ostdeutschland, wo sie deutlich über 50 Prozent der Stimmen holte, nicht zu übersehen. Und auch im katholischen Bayern war es der NSDAP gelungen, starke Stimmenzuwächse zu erzielen, was bedeutete, dass die katholische Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus eingebrochen war. Die NS-Führung feierte das Wahlergebnis als Sieg und glaubte nun alle Legitimation zu besitzen, die "nationalsozialistische Revolution" voranzutreiben. QuellentextUnterdrückung demokratischer Parteien SPD Mir sind mehrere Versammlungen gesprengt worden, und ein erheblicher Teil der Versammlungsbesucher mußte schwer verletzt weggeschafft werden. Im Einverständnis mit dem Parteivorstand bitte ich daher, von den mit mir als Redner vorgesehenen Versammlungen abzusehen. Nach Lage der Dinge gibt es offenbar auch keinen polizeilichen Schutz mehr, der ausreichen würde, dem aggressiven Vorgehen der SA und SS in meinen Versammlungen zu begegnen. In Hindenburg ist Genosse Nölting mit knapper Not dem Totschlag entronnen. Bei mir war es in Langenbielau ähnlich. Einer meiner Begleiter wurde niedergeschlagen. In Breslau ist gestern abend nur durch eine zufällige Verzögerung eingesetzter SA-Formationen namenloses Unglück verhindert worden. Eine große Anzahl von Verwundeten hat es trotzdem gegeben, in einer Stadt, die bisher stets Versammlungssprengungen von Andersgesinnten hat vorbeugend verhindern können. Ich bedauere selbst am tiefsten, Euch diese Mitteilung machen und diesen Entschluß fassen zu müssen. Es ist auch erst nach reiflicher Überlegung mit Mitgliedern des Parteivorstandes geschehen, und nachdem auch in bezug auf andere Genossen ähnlich entschieden worden ist. Aus einem Schreiben des ehemaligen preußischen Innenministers und Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski (SPD) an die SPD-Parteisekretäre in Dortmund, Frankfurt/M., Altona und Kiel vom 24. Februar 1933 BVP Diese Regierungserklärung hat in Deutschland eine Kluft aufgerissen und hat alles zerschlagen, was in den 14 Jahren geleistet wurde. Wir hatten die Straßen dem Verkehr zurückerobert, die Parteifahnen von den Amtsgebäuden heruntergeholt, der Presse die Freiheit in Deutschland wieder gegeben, die Sicherheit im Staat wieder hergestellt. Und heute ist das alles wieder gefährdet. Wir erleben heute wieder den Bürgerkrieg auf den Straßen, der Terror ist in den Versammlungen wieder eingerissen, Leute wie Stegerwald [Adam Stegerwald, 1874-1945, Zentrumspolitiker, Reichsarbeitsminister 1930-32 – Anm. d. Red.] werden niedergeschlagen, es werden Feuerüberfälle auf die Bayern- und Pfalzwacht unternommen, die Presse wird wieder geknebelt, die freie Meinung versklavt, es regnet täglich Presseverbote. Die Regierungspresse darf aber schreiben, was sie will, ohne verboten zu werden. So durften die Hamburger Nachrichten kürzlich schreiben: Schmeißt die katholischen Bayern aus dem Reichsverbande hinaus, mit den anderen werden wir schon fertig. Die gleiche Zeitung durfte auch Hindenburg zum Verfassungsbruch auffordern. Die Zeitung wurde nicht verboten, wohl aber die katholische „Germania“, die nichts weiter getan hat, als einen Aufruf der katholischen Verbände abzudrucken, die voller Sorge über die kritische Entwicklung Deutschlands waren. […] Rede des Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei, Fritz Schäffer, in Würzburg am 23. Februar 1933, in: Becker, S. 96 DDP Die NSDAP, deren Führer Sie zum höchsten Beamten des Reichs ernannt haben, macht durch ein System von Gesetzwidrigkeiten einem anders denkenden bürgerlichen Politiker den Vortrag seiner politischen Anschauungen unmöglich, schüchtert die ruhige Bürgerschaft ein und leitet den Wahlkampf in einen offenen Bürgerkrieg über. Die ortspolizeilichen Organe leisten das Menschenmögliche. Sie können zwar die Person des Redners schützen, nicht aber die verfassungsmäßig gewährleistete Versammlungs- und Redefreiheit. Durch die Dezemberamnestie ist jede nachhaltige Achtung vor dem Gesetz geschwunden. Das besonnene Bürgertum in Württemberg blickt auf Sie, hochverehrter Herr Reichspräsident, als den letzten Hort für Recht und Ordnung in Deutschland. Wir geben Ihnen davon Kenntnis, wie eine große Regierungspartei vor der Entscheidungswahl des deutschen Volkes das Gesetz mit Füßen tritt, und bitten Sie, darauf einzuwirken, daß die NSDAP die Wahlfreiheit nicht weiter durch Mittel der Gewalt beeinträchtigt. Beschwerde-Telegramm der württembergischen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an Reichspräsident Hindenburg vom 22. Februar 1933 Alle in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 91 ff. QuellentextZur Debatte um den Reichstagsbrand Ein Dreivierteljahrhundert schon wird über den 27. Februar 1933 gestritten. […] Und trotzdem ist die Lage heute kaum klarer als bald nach der Brandstiftung – als einerseits Wolfgang Stresemann und Harry Graf Kessler wie selbstverständlich davon ausgingen, dass die Nazis die Brandstiftung zu verantworten hätten, andererseits die ermittelnden Kriminalbeamten Helmut Heisig und Walter Zirpins bereits den Eindruck gewonnen hatten, dass sie das Geständnis von Marinus van der Lubbe glauben sollten [...]. Entgegen häufig wiederholter Behauptungen konnte bislang niemand einen Beleg für die Täterschaft der NSDAP an dieser Brandstiftung vorlegen. [...] Neue echte Beweise sind nicht mehr zu erwarten; es gibt keine nennenswerten Quellen, die noch verschollen sind. Auch lebt längst niemand mehr, der 1933 in irgendeiner Form etwas bislang Unbekanntes hätte erfahren können und heute sein Schweigen brechen würde. [...] Dagegen steht eine in sich schlüssige Darstellung der Brandstiftung durch Marinus van der Lubbe: Der holländische Anarchokommunist hatte mit seiner Tat ein Zeichen setzen wollen – gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten und gegen die Lähmung der radikalen Arbeiterbewegung; für eine Revolution von unten, ja eigentlich für Aufruhr als Selbstzweck. In mehr als 30 Verhören über Monate hinweg blieb van der Lubbe im Kern stets bei seiner Darstellung; wesentliche Widersprüche gibt es in den entsprechenden Akten gerade nicht. [...] [A]lle Ende Februar und Anfang März 1933 im Reichstag gesicherten objektiven Beweise [stützten] van der Lubbes Version [...] oder [widersprachen] ihr jedenfalls nicht [...]. Dagegen gibt es in den Voruntersuchungsakten keinerlei Hinweise auf unterdrückte oder verfälschte Spuren, die für mehrere Beteiligte gesprochen hätten. Das wäre auch seltsam gewesen, denn an der Unterdrückung mutmaßlicher Beweise für weitere Täter hätten die Nazis ja keinerlei Interesse haben können; sie behaupteten ja stets, van der Lubbe hätte Komplizen gehabt. Obwohl auf die Polizisten offensichtlich Druck ausgeübt wurde, Belege zu „finden“, wurden keinerlei Indizien für andere Täter dokumentiert, weder irgendwelche Brandbeschleuniger noch Zündmechanismen, die der „Strohmer“ van der Lubbe nicht hätte haben können. 99 Positionen lang war die Liste der „sichergestellten Beweismittel“ aus dem Reichstag – kein einziges davon wies auf etwas anderes hin als den vom Brandstifter geschilderten Tatverlauf. [...] Hinzu kommt: Wenn hinter der Brandstiftung tatsächlich ein perfider Plan der SA oder der NSDAP gesteckt hätte, dann wären die offensichtlich skrupellosen Täter wohl schlau genug gewesen, ausreichend „Spuren“ zu legen, um ihr Ziel auch sicher zu erreichen. Eine tatsächliche NS-Provokation sechseinhalb Jahre später, der fingierte Überfall von SS-Leuten in polnischen Uniformen auf den deutschen Sender Gleiwitz am 31. August 1939, zeigt, dass der Einsatz gefälschter Indizien Hitlers Schergen keineswegs fremd war. [...] [...] Warum wird noch immer über die Täterschaft gestritten? Der wichtigste Grund dürfte sein, dass den Nazis angesichts ihrer zahlreichen anderen und bei weitem schlimmeren Verbrechen auch die Brandstiftung im Parlament ohne weiteres zuzutrauen gewesen wäre. […] Zweitens haben Hitler und Göring ja den Brand tatsächlich geradezu virtuos für ihre Zwecke eingesetzt; die vorsätzlich in Szene gesetzte Explosion der innenpolitischen Gewalt im März 1933 leitete die Eroberung der totalen Macht über Deutschland ein. [...] Ein dritter Grund ist die Feststellung im Urteil des Reichsgerichts, van der Lubbe habe Mittäter haben müssen. Doch dies war wahrscheinlich ein Zugeständnis der Richter an die Reichsregierung, die sie nicht völlig bloßstellen wollten, nachdem sie bereits die vier mitangeklagten Kommunisten aus Mangel an Beweisen freigesprochen hatten. Alles spricht dafür, die zahlreichen Geständnisse Marinus van der Lubbes ernst zu nehmen. Aber warum ist die Frage der Täterschaft überhaupt seit 75 Jahren derartig umkämpft? [...] Woher rührte die Bedeutung für die deutsche Zeitgeschichte? [...] Die Antwort liegt in der grundsätzlichen Einschätzung des Dritten Reichs: Gehörte die Brandstiftung zu einem bis ins Detail vorbereiteten Plan der NSDAP? Oder reagierten der „Führer“ und seine Paladine spontan auf den Reichstagsbrand, setzten sie sich also wegen ihrer Rücksichtslosigkeit gegen die zögernden politischen Gegner durch, die Sozialdemokratie und das Zentrum? Wer schon den Reichstagsbrand für ein inszeniertes Schurkenstück der Hitler-Partei hält, muss zwangsläufig die NS-Herrschaft insgesamt zu präzise durchgeplanter Machtpolitik erklären – einschließlich Auschwitz. Allerdings hat diese Annahme eine unvermeidliche Folge: Automatisch wird damit die Verantwortung der deutschen Gesellschaft insgesamt, hunderttausender, ja Millionen Deutscher an all diesen Verbrechen stark reduziert. [...] Aus der Annahme der NS-Verantwortung folgt letztlich eine Exkulpierung der damaligen deutschen Gesellschaft. [...] Es bleibt eine letzte Frage: Wie kam es zu dem verheerenden Brand im Plenarsaal, wenn wirklich nur Marinus van der Lubbe mit seinen auf den ersten Blick ungenügenden Mitteln wie Kohlenanzündern, Kleidungsstücken und Tischdecken als Täter in Frage kommt? [...] […] Es dürfte am 27. Februar 1933 gegen 21.27 Uhr zu einem heute als „Backdraft“ bekannten und gefürchteten Phänomen gekommen sein, das bei Bränden in geschlossenen Räumen auftritt. Dabei verbraucht zunächst ein offen brennendes Feuer einen Großteil des verfügbaren Sauerstoffs. Verlöschen die Flammen, führen die stark gestiegenen Temperaturen zum chemischen Phänomen der Pyrolyse: Organische Moleküle spalten sich; unoxidierte, das heißt brennbare Gase steigen auf und sammeln sich unter der Decke. Gleichzeitig sinkt durch die nunmehr nur noch schwelenden Brandstellen die Temperatur etwas. Dadurch entsteht ein Unterdruck, der Luft ansaugt, sobald das möglich ist. Kommt in dieser Situation Sauerstoff in den bis dahin abgeschlossenen Raum, lässt sich eine Katastrophe kaum mehr abwenden: Nach dem Öffnen einer Tür scheint die gestaute Hitze zunächst wie ein Schlag hinauszudrängen, doch unmittelbar darauf bildet sich ein starker Luftzug ins Innere des nun geöffneten Brandraums. Der Sauerstoff vermischt sich, je nach Größe des Raums in wenigen Sekunden bis mehr als einer Minute, mit den heißen Rauchgasen. Sobald die Mischung zündfähig ist, kommt es zu einer Rauchgasexplosion, die Temperatur von bis zu 10 00 Grad entwickeln kann und nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. Sven Felix Kellerhoff, Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls, be.bra verlag, Berlin-Brandenburg, S. 131 ff. "Gleichschaltung" der Länder Gleich nach der Wahl vom 5. März wurden Länder und Kommunen "gleichgeschaltet". Handhabe dazu bot Paragraph 2 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, der den Reichsinnenminister ermächtigte, in die Souveränität der Länder einzugreifen, falls diese nicht selbst geeignete Schutzvorkehrungen trafen. Innerhalb von nur wenigen Tagen setzte die Hitler-Regierung nationalsozialistische Reichskommissare in Hamburg, Bremen, Hessen, Baden, Württemberg, Sachsen und Bayern ein. Die Machtübernahme erfolgte nach stets gleichem Muster. Die jeweils örtliche SA marschierte vor den Rathäusern und Regierungsgebäuden auf, verlangte, dass die Hakenkreuzfahne gehisst werde, und drohte damit, die Gebäude zu stürmen. Das bot dem nationalsozialistischen Reichsinnenminister Frick den Vorwand, unter Berufung auf Artikel 2 der Reichstagsbrandverordnung einzugreifen und die gewählten Landesregierungen abzusetzen. Die neuen nationalsozialistischen Machthaber ernannten in der Regel gleich jeweils neue Polizeipräsidenten und bauten den Polizeiapparat massiv aus. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler und der Chef des Sicherheitsdienstes der SS (SD) Reinhard Heydrich verstanden es erfolgreich, insbesondere die politische Polizei ihrer Kontrolle zu unterstellen. Dass diese Machtübernahme so reibungslos funktionierte, ohne auf nennenswerten Widerstand der abgesetzten Landesregierungen zu stoßen, zeigt, wie resigniert mittlerweile viele Demokraten waren. Zudem hatte die NS-Führung gezielt jene Länder ausgewählt, in denen die jeweiligen Landesregierungen keine parlamentarischen Mehrheiten mehr besaßen und nur noch geschäftsführend im Amt waren. Mit dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März wurden die Landtage (bis auf Preußen), Bürgerschaften und kommunalen Parlamente sämtlich aufgelöst und nach den regionalen bzw. lokalen Stimmenverhältnissen der Reichstagswahl vom 5. März neu zusammengesetzt. Die kommunistischen Stimmen durften nicht gezählt werden, die sozialdemokratischen Sitze wurden einbehalten, so dass bald nur noch nationalsozialistisch dominierte Einheitsorgane übrig blieben. Diese Gebilde galten auf vier Jahre gewählt, es fanden keine Wahlen mehr zu Repräsentativorganen der Bürger statt. Anfang April wurden in allen deutschen Ländern, bis auf Preußen, Reichsstatthalter eingesetzt, die meist identisch mit den jeweiligen Gauleitern der NSDAP waren und die Landesgewalt übernahmen. Terror und Zustimmung Mit rasanter Dynamik und einem geschickten Spiel mit Gemeinschaftsversprechen und Inklusionsangeboten auf der einen sowie radikaler Exklusion, Terror und Verfolgung auf der anderen Seite gelang es den Nationalsozialisten, die republikanische Verfassungsordnung, auch wenn sie formal erhalten blieb, auszusetzen und eine auf Volk, Rasse und Führer gegründete Diktatur zu errichten, die sich der Zustimmung einer großen Mehrheit der Deutschen sicher sein konnte. Ohne die Rücksichtslosigkeit, mit der nicht bloß die Nationalsozialisten, sondern auch die Deutschnationalen die Weimarer Verfassungsordnung zu Grabe tragen wollten, aber auch ohne den Terror durch Gestapo und Konzentrationslager hätte dieser Prozess der Auflösung der verfassungsmäßigen politischen Ordnung nicht diesen Verlauf nehmen können. Aber ebenso unerlässlich war die aktive Mithilfe etlicher gesellschaftlicher Organisationen. Es gab, kommentierte Sebastian Haffner im Rückblick, "ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie. Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?" Hatte die NSDAP im Januar 1933 noch rund 850000 Mitglieder besessen, beantragten nach dem 30. Januar und vor allem nach dem 5. März, also nach den Wahlen, Hunderttausende die Aufnahme in die Partei, so dass schließlich die Parteiführung zum 1. Mai bei einem Stand von 2,5 Millionen Mitgliedern einen Aufnahmestopp verfügte, um der zuströmenden Massen Herr zu werden. Sozialstruktur der NSDAP und ihrer Führung 1933 und 1935 (© Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949. C. H. Beck, München 2008, S. 778) Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig. Tag von Potsdam So bemühte sich das Regime unter der Regie von Joseph Goebbels, der zehn Tage zuvor Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda geworden war, die Eröffnung des neuen Reichstages – ohne die sozialdemokratischen und kommunistischen Abgeordneten – am 21. März in der Potsdamer Garnisonskirche als Tag der nationalen Einigung mit Festgottesdienst, Salutschüssen und Aufmarsch von Reichswehr, SA und SS zu zelebrieren. Das Bild des Kanzlers, der sich ehrerbietig vor dem greisen Reichspräsidenten verbeugte, der Handschlag zwischen dem Gefreiten und dem Feldmarschall, sollte den Höhepunkt der Inszenierung bilden – und konnte doch nicht die unterschiedlichen Erwartungen, die an die neue Regierung gerichtet waren, kaschieren. Gerade in der anscheinend demutsvollen, zahmen Art, wie sich Hitler an diesem Tag gab, zeigte sich die Absicht der NS-Führung, die nationalkonservativen Anhänger nicht zu verprellen, sondern weiterhin an sich zu binden. Aber die terroristische Dimension verschwand deshalb nicht. Noch am selben Tag verkündete die Regierung sowohl eine Amnestie für Straftaten, die "im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes" begangen worden waren und unter anderem den Mördern im schlesischen Potempa zugute kam (Sie wurden im März 1933 freigelassen), als auch eine Verordnung zur "Abwehr heimtückischer Angriffe", mit der jedwede Kritik an der Regierung mit Gefängnis bestraft werden konnte. Ermächtigungsgesetz Zwei Tage später, am 23. März, verabschiedete der Reichstag – gegen die Stimmen der SPD – das "Ermächtigungsgesetz", das der Regierung zunächst für vier Jahre das Recht verlieh, eigenmächtig Gesetze, sogar verfassungsändernde, zu erlassen, soweit sie nicht die Stellung des Parlaments, der Ländervertretung oder des Reichspräsidenten betrafen. Damit wurde die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive zerstört und das alleinige Recht des Parlaments, als gewählte Volksvertretung Gesetze zu erlassen, aufgehoben. Die notwendige Zweidrittelmehrheit konnte nur durch die Zustimmung der katholischen Parteien, des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei, erreicht werden. Die Verhandlungen mit den Nationalsozialisten hatten die Zentrumspartei vor eine schwere Zerreißprobe gestellt. Doch schließlich siegte die Furcht, bei einer Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes wieder wie unter Bismarck als "innerer Reichsfeind" dazustehen, und Hitler versprach ausdrücklich, die Rechte der katholischen Kirche auf ungestörte Religionsausübung und eigenständige Schulen nicht anzutasten. Zudem schien der Reichstagsbrand die angebliche kommunistische Bedrohung und damit die Forderung nach einem starken Staat zu bestätigen, der hart gegen linke Umsturzabsichten durchgreifen müsse. Außerdem enthielt das Ermächtigungsgesetz die Klausel, dass die Stellung des Reichstages und des Reichspräsidenten nicht angetastet werden dürften. Zusätzlich galt die Laufzeit des Gesetzes vorerst für vier Jahre und musste dann vom Reichstag neu beschlossen werden. Dass der Reichstag 1937 kein frei gewähltes Parlament mehr war, sondern ein ausschließlich mit Nationalsozialisten besetztes willfähriges Instrument der Diktatur, konnten sich die republikanischen Abgeordneten, darunter auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, kaum vorstellen. Mit 444 Ja-Stimmen gegen 94 Nein-Stimmen beschloss der Reichstag seine eigene Entmachtung. Allein die SPD, deren Fraktion aufgrund von Verhaftungen, Verfolgung und Flucht nicht mehr vollzählig anwesend sein konnte, stimmte gegen das Gesetz. Der Fraktionsvorsitzende Otto Wels begründete in einer mutigen Rede, die immer wieder hasserfüllt von den nationalsozialistischen Abgeordneten unterbrochen wurde, und angesichts im Saal aufmarschierter SA- und SS-Milizen die Stellung seiner Partei. Und Wels schloss mit einem Gruß an die "Verfolgten und Bedrängten", deren Standhaftigkeit Bewunderung verdiene. QuellentextErmächtigungsgesetz vom 24. März 1933 Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird, nachdem festgestellt ist, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind: Art. 1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. […] Art. 2. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt. Art. 3. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nicht anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft. […] Art. 4. Verträge des Reichs mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen nicht der Zustimmung der an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften. Die Reichsregierung erläßt die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Vorschriften. Art. 5. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer Kraft; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird. Reichsgesetzblatt T. I. (1933), Nr. 25, S. 141. Online abrufbar unter: Externer Link: www.servat.unibe.ch (Universität Bern) (Redaktioneller Hinweis: Quelle und Link aktualisiert, 23.03.2023) QuellentextAus der Reichstagsdiskussion am 23. März 1933 in der Berliner Krolloper Rede von Otto Wels (SPD) [...] Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. [...] Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. [...] Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt. [...] Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offen steht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. [...] Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. [...] Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft. Bayerische Staatsbibliothek: Externer Link: www.reichstagsprotokolle.de Erwiderung Adolf Hitlers [...] Sie sind wehleidig, meine Herren, und nicht für die heutige Zeit bestimmt, wenn Sie jetzt schon von Verfolgungen sprechen. [...] Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur, weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeit des nationalen Lebens, appellieren wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir auch ohnedem hätten nehmen können. [...] Ich glaube, daß Sie (zu den Sozialdemokraten) für dieses Gesetz nicht stimmen, weil Ihnen Ihrer innersten Mentalität nach die Absicht unbegreiflich ist, die uns dabei beseelt. [...] Und ich kann Ihnen nur sagen: Ich will auch gar nicht, daß Sie dafür stimmen! Deutschland soll frei werden, aber nicht durch Sie! Bayerische Staatsbibliothek: Externer Link: www.reichstagsprotokolle.de QuellentextMisshandlung einer demokratischen Stadträtin In der Nacht vom 20. zum 21. März dieses Jahres gegen halb 2 Uhr wurde an meiner Wohnungstür heftig geklingelt und geklopft. Im Glauben, daß meine Kinder nach Hause gekommen waren, stand ich sofort auf und fragte „Wer ist da?“ Mit einer barschen Stimme wurde mir darauf geantwortet: „Machen Sie sofort auf, hier ist die Polizei, sonst wird gewaltsam geöffnet.“ […] Mein Mann schloß die Tür auf. Es traten 6 – 8 Mann herein. Verschiedene waren mit Karabinern bewaffnet. Bis auf einen Mann, der ein blaues Jackett und eine blaue Mütze trug, waren alle in SA-Uniform. Die Leute, die in meine Wohnung eintraten, kenne ich vom Sehen alle. Es sind alles junge Leute, die mit meinen Kindern zusammen in die Schule gegangen sind. […] Einer von denen, der sicher der Führer war, forderte mich mit den Worten „Bitte ziehen Sie sich an. Sie kommen mit.“ auf. Ich forderte von diesem Mann einen Ausweis. Er antwortete mir mit flotter Armbewegung: „Ach Quatsch, machen Sie keinen Heckmeck. Sie kommen mit!“. […] Ich mußte nun das Auto (ein Wäscheauto), das vor dem Hause bereit stand, mit den Leuten, die bei mir in der Wohnung waren, besteigen und mitfahren. […] Die Fahrt ging weiter nach der Elisabethstraße in die SA-Kaserne. […] Dort auf dem Hof mußte ich aussteigen und mit in das Hintergebäude des Hofes (unten Stall, oben sicher Heuboden) mitgehen. Erwähnen will ich noch, daß sich außer mir noch ein gewisser Herr Heber und Herr Flieger im Wagen befanden. Diese Leute mußten ebenfalls mit mir in das Gebäude gehen. […] Der Führer, der auch in meiner Wohnung mit war, meldete uns dem dort befindlichen Führer. Als der Führer, der mich aus der Wohnung holte, dem dort befindlichen Führer meinen Namen Jankowski nannte, antwortete der dort anwesende Führer „Ach Jankowski, die alte, fette Sau!“ Wir wurden aufgefordert, uns in eine Ecke zu stellen. Jetzt mußte der junge Mann, Heber […], vortreten, und es wurden ihm die Haare geschnitten. Es wurden jetzt von uns dreien die Personalien aufgenommen. Bei der Aufnahme der Personalien fielen allerlei Bemerkungen, zum Beispiel „Aas, dreckiges Luder“ usw. […] Der Führer richtete nun an mich die Frage, wieviel Gehalt ich von der Stadt beziehe. Ich gab ihm zur Antwort, daß ich nur eine Aufwandsentschädigung von 48,75 RM den Monat beziehe. Der Führer antwortete mir „Du verschwindeltes Aas, du kriegst kein Gehalt, dir werden wir schon“ und gab dann den Leuten, die zum Schlagen bereit standen, die Zahl 20 an. […] Nach Verabfolgung der Schläge mußte ich mich zu Flieger wieder in die Ecke stellen. […] Als ich zum zweiten Mal herankam, beschuldigte der Führer mich, daß ich Listen verbreitet hätte, wonach nationalsozialistische Geschäftsleute boykottiert werden sollten. Ich erklärte ihm, daß ich nichts davon weiß. Er antwortet mir: „Du weißt ja überhaupt nichts“, und ich bekam zum zweiten Mal 20 Schläge. […] Nach einer gewissen Zeit wurde ich wieder in Ruhe gelassen, und es kamen jetzt wieder Heber und Flieger und ich heran, sich auf den Tisch zu legen und zum dritten Male Schläge zu bekommen […] Wir mußten uns nachdem in eine Reihe stellen und das Deutschlandlied durchsingen. Nach Absingen des Deutschlandliedes erklärte uns der Führer, daß er uns jetzt eine halbe Stunde in Ruhe lassen würde. Er würde jetzt hinuntergehen, und wenn er wiederkäme, würde er an uns bestimmte Fragen richten. Sollten wir die Fragen nicht beantworten, „so wird uns nochmal so eine Wucht verabfolgt [...] und dann werden wir in den Wagen eingeladen und nach Schmöckwitz gefahren, wo wir unsere Kute (Grube) graben können.“ Während der Abwesenheit des Führers sowie einiger anderer SA-Leute, wurden wir von der zurückbleibenden Wache mit allerlei Schimpfworten bedacht. Was für schmutzige Wörter von den Leuten zu uns gesagt wurden, kann ich heute hier nicht mehr wiedergeben. Nach Rückkehr des Führers bekamen wir der Reihe nach auf dieselbe Art und Weise wie vorher zum 4. Male je 20 Schläge. […] Mir wurde jetzt erklärt, daß ich jetzt entlassen werde, müßte aber vorher noch ein Revers unterschreiben. Das Revers war schon mit der Maschine vorgeschrieben. Es enthielt, daß ich alle Ämter niederzulegen habe, daß ich aus der Partei austrete und mich politisch nicht mehr betätige. Außerdem solle ich mich von Donnerstag, den 23. März 33 ab in der dort befindlichen SA-Kaserne, wo ich geschlagen wurde, abends von 19 – 20 Uhr täglich melden. Am Donnerstag, den 23. März 33, hätte ich auch die Liste sämtlicher Funktionäre der Partei mitzubringen. […] Da ich nun allein auf der Straße stand und nicht laufen konnte, war es mir nicht möglich, meinen Heimweg anzutreten. […] Am 31. März wurde ich auf Grund einer Verfügung des Hauptgesundheitsamts aus dem Krankenhaus entlassen. Ich befinde mich heute noch in ärztlicher Behandlung. […] Aus Furcht, daß mir evtl. nochmals dieses Unglück widerfahren könnte und damit ich nun in Ruhe gelassen werde, stelle ich gegen die Täter keinen Strafantrag. Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 150 ff. Verfolgung der Juden Nach der Ausschaltung der politischen Opposition richtete sich der nächste Schlag des Regimes gegen die deutschen Juden. Bereits zwei Tage nach den Reichstagswahlen begannen im Ruhrgebiet, namentlich in Essen, Bottrop sowie Mülheim, Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Der NS-Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand nutzte die Boykottaktionen, um Juden aus den Mittelstandsvereinigungen zu verdrängen. Rasch breiteten sich die Boykottaktionen, häufig begleitet von gewalttätigen Ausschreitungen, über das gesamte Reich aus, und die nationalsozialistische Provinzpresse berichtete intensiv über die Aktionen, um sie weiter zu forcieren. Die NS-Führung bemühte sich dagegen, die "Einzelaktionen", wie sie in der NS-Terminologie hießen, unter Kontrolle zu bekommen. Doch obwohl Hitler persönlich in einem Aufruf am 10. März im "Völkischen Beobachter" an die Partei- und SA-Mitglieder "höchste Disziplin" beschwor, hielt der Druck von der Parteibasis weiter an. Die Parteiführung entschloss sich daher Ende März, einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren. Als Begründung dienten die internationalen Proteste, vor allem in den USA, gegen die Verfolgung von Juden in Deutschland, die von den Nationalsozialisten als jüdisch gesteuerte Greuelprogaganda hingestellt wurde. Gegen sie sollte der Boykott eine Gegendemonstration darstellen. Überall in Deutschland standen am Samstag, dem 1. April, SA-Posten vor Geschäften mit jüdischen Inhabern, die aber angesichts der Drohungen ihre Läden an diesem Tag sowieso geschlossen hatten. Obwohl die Regimeführung immer wieder betonte, dass die Boykottaktion mit Ruhe und Disziplin vonstatten gegangen sei, brach die Gewalt an etlichen Orten auf. Außenpolitisch war der Boykott ein Fehlschlag, weil er den Eindruck von den Judenverfolgungen in Deutschland bestätigte; und auch innenpolitisch erwies er sich als wenig erfolgreich, weil offenkundig zahlreiche Deutsche die Aktion missbilligten, zumal ja auch nicht-jüdische Angestellte in Mitleidenschaft gezogen wurden. So blieb der Boykott offiziell auf einen Tag beschränkt, aber in der Provinz, außerhalb der Großstädte, wurden die Aktionen vehement fortgeführt. Gerade in den kleinen und mittleren Orten stellten die Boykottaktionen ein entscheidendes Politikfeld dar, um soziale Distanzen zwischen Juden und "Volksgenossen" zu schaffen und die jüdischen Nachbarn zu isolieren. Wenige Tage nach dem Boykott nutzte die Hitler-Regierung die ihr durch das Ermächtigungsgesetz verliehene Kompetenz, um mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April sogenannte Nicht-Arier – es genügte, wenn ein Großelternteil jüdischer Religion war – aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Zugleich wurde die Betätigung jüdischer Rechtsanwälte eingeschränkt und zwei Wochen später ein Numerus clausus für jüdische Studenten eingeführt. Waren viele mit den Boykottmethoden und der antisemitischen Gewalt auch nicht einverstanden, so billigten sie doch die Verdrängung von Juden aus Berufen, in denen sie angeblich überproportional vertreten waren – nicht zuletzt profitierten zahlreiche Jungakademiker von den Entlassungen, da sie jetzt die Stellen der vertriebenen jüdischen Kolleginnen und Kollegen erhielten. Auch wenn die Zahl der Betroffenen durch Ausnahmeregelungen zunächst noch eingeschränkt blieb und diejenigen Juden vorerst von der Entlassung verschonte, die als Soldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, war der Wille des Regimes, von Anfang an eine antisemitische Politik zu verfolgen, unmissverständlich zu erkennen. Rund 37.000 Juden flüchteten im ersten Jahr der NS-Herrschaft aus Deutschland, um der Verfolgung zu entgehen. Doch blieben die meisten jüdischen Deutschen in ihrer Heimat, weil sie annahmen, dass der antisemitische Kurs der NS-Regierung wieder abklingen würde und, wenn auch unter deutlich erschwerten Bedingungen, ein normales Leben in Deutschland auch weiterhin möglich sein würde. QuellentextVerfolgung der Juden – Boykottaufruf der NSDAP Deutsche Volksgenossen! Die Schuldigen an diesem wahnwitzigen Verbrechen, an dieser niederträchtigen Greuel- und Boykotthetze sind die Juden in Deutschland. Sie haben ihre Rassegenossen im Ausland zum Kampf gegen das deutsche Volk aufgerufen. Sie haben die Lügen und Verleumdungen hinausgemeldet. Darum hat die Reichsleitung der deutschen Freiheitsbewegung beschlossen, in Abwehr der verbrecherischen Hetze ab Samstag, den 1. April 1933, vormittags 10 Uhr, über alle jüdischen Geschäfte, Warenhäuser, Kanzleien usw. den Boykott zu verhängen. Dieser Boykottierung Folge zu leisten, dazu rufen wir euch, deutsche Frauen und Männer, auf! Kauft nichts in jüdischen Geschäften und Warenhäusern! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten! Meidet jüdische Ärzte! Zeigt den Juden, daß sie nicht ungestraft Deutschland in seiner Ehre herabwürdigen und beschmutzen können! Wer gegen diese Aufforderung handelt, beweist damit, daß er auf Seite der Feinde Deutschlands steht. Es lebe der ehrwürdige Generalfeldmarschall aus dem großen Kriege, der Reichspräsident Paul von Hindenburg! Es lebe der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler! Es lebe das deutsche Volk und das heilige deutsche Vaterland! Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 200 ff. QuellentextBoykottaktion ...aus Sicht der Betroffenen... „Auch bei uns machten die Nazibanden die Straßen unsicher. So näherte sich der 1. April, der Tag des Judenboykotts. Bereits am frühen Morgen des Freitag sah man die SA mit ihren Transparenten durch die Stadt ziehen. ‚Die Juden sind unser Unglück‘. […] In den Vormittagsstunden begannen sich die Posten der Nazis vor die jüdischen Geschäfte zu stellen, und jeder Käufer wurde darauf aufmerksam gemacht, nicht bei Juden zu kaufen. Auch vor unserem Lokal postierten sich zwei junge Nazis und hinderten die Kunden am Eintritt. […] Und für dieses Volk hatten wir jungen Juden einst im Schützengraben gestanden und haben unser Blut vergossen, um das Land vor dem Feind zu beschützen. Gab es keinen Kameraden mehr aus dieser Zeit, den dieses Treiben anekelte? Da sah man sie auf der Straße vorübergehen, darunter gar viele, denen man Gutes erwiesen hatte. Sie hatten ein Lächeln auf dem Gesicht, das ihre heimtückische Freude verriet. […] Ich schämte mich, daß ich einst zu diesem Volk gehörte. Ich schämte mich über das Vertrauen, das ich so vielen geschenkt hatte, die sich nun als meine Feinde demaskierten. Plötzlich erschien mir auch die Straße fremd, ja die ganze Stadt war mir fremd geworden. […] Trotz alledem kamen auch noch an diesem Tage eine Anzahl Kunden zu mir, besonders Katholiken, und es war so mancher dabei, der mich nur aus Protest gegen das Treiben da draußen besuchte. Auch der Bürodirektor des Landrats kam, um, wie er so schön sagte, mir nur die Hand zu drücken. Als ich ihm dankerfüllt sagte, er möge meinetwegen nicht seine Stellung aufs Spiel setzen und an seine Familie denken, antwortete er voll Stolz: ‚Ich bin Parteimitglied Nr. 20 der Deutschnationalen Volkspartei; was soll mir passieren?‘ Der arme Idealist, er sollte bald gewahr werden, daß auch diese Partei nicht mehr gelten sollte. Aber ich war ihm von Herzen dankbar, denn in mir war es wund. […] Das Personal sah mich traurig an und fragte,ob es am nächsten Tage kommen solle. Ich verneinte […] die Leute gingen weg […]. In der Wohnung rüstete meine Frau zum Sabbat. Ich ging in die Synagoge wie viele andere Juden. Dort sah ich verzweifelte Gesichter […]. Wenig Trost gab mir das Gebet, und ebenso erschüttert ging ich nach Hause zur Frau und zu den Kindern. Und als ich dort, wie stets, im Kreise meiner Familie den Sabbat einweihte, als ich an die Stelle im Gebet kam, ‚der Du uns erwählt hast von allen anderen Völkern‘ und meine Kinder sah, die mich mit ihren unschuldigen und fragenden Augen anblickten, da war es mit meiner Fassung vorbei; da entlud sich in mir die Schwere des erlebten Tages, und ich brach zusammen, die letzten Worte nur noch stammelnd. Die Kinder wußten oder begriffen nicht, warum ich heftig weinte, aber ich wußte: Das war mein Abschied vom Deutschtum, meine innere Trennung vom gewesenen Vaterland – ein Begräbnis. Ich begrub 43 Jahre meines Lebens. Und wäre es nur der eine und einzige Tag solchen Erlebens gewesen, jetzt konnte ich kein Deutscher mehr sein.“ Monika Richarz (Hg.), Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780-1945, C. H. Beck, München 1989, S. 385 ff. ...und aus Sicht Unbeteiligter „[…] Man fragte mich, ob ich wüßte, daß das ein jüdisches Geschäft sei. Ich sagte ja, ich hätte aber etwas bestellt, und das wolle ich abholen. Es passierte mir nichts. Allerdings muß ich sagen, es war eine merkwürdige Atmosphäre, wenn man dann in das Geschäft kam. Man wurde so unglaublich zuvorkommend empfangen. Man fühlte eine Verpflichtung, nun unbedingt etwas zu kaufen, ob man etwas fand oder nicht. Es stellte sich eine gewisse Scheu ein, das muß ich bekennen. Ich ging hin, wenn ich glaubte, ich könnte etwas finden. Aber ich hatte Angst hineinzugehen, wenn ich keine konkreten Wünsche hatte; ich fürchtete mich hinauszugehen, ohne etwas zu kaufen. Herr Gräfenberg war so ungeheuer freundlich. Dahinter stand wohl Dankbarkeit, aber diese Dankbarkeit […] Das empfand man als unangemessen. Man wollte nicht als Held dastehen. Es sollte einfach nur eine natürliche Handlung sein. Das war es dann eben nicht mehr.“ Thomas Berger, Lebenssituationen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Hirschgraben-Verlag, Frankfurt a. M. 1985, S. 92 QuellentextGesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 § 1. Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen […] § 2. Beamte, die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Ausbildung oder sonstige Eignung zu besitzen, sind aus dem Dienst zu entlassen. […] § 3. Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand […] zu versetzen. Soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen. Absatz 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem zuständigen Reichsminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland zulassen. § 4. Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. […] § 14. Gegen die auf Grund dieses Gesetzes in den Ruhestand versetzten oder entlassenen Beamten ist auch nach ihrer Versetzung in den Ruhestand oder nach ihrer Entlassung die Einleitung eines Dienststrafverfahrens wegen der während des Dienstverhältnisses begangenen Verfehlungen mit dem Ziele der Aberkennung des Ruhegeldes, der Hinterbliebenenversorgung, der Amtsbezeichnung, des Titels […] zulässig. […] Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 37 ff. Erklärung über „arische Abstammung“ Ich versichere hiermit pflichtgemäß: Mir sind trotz sorgfältiger Prüfung keine Umstände bekannt, die die Annahme rechtfertigen könnten, daß ich nicht arischer Abstammung sei oder daß einer meiner Eltern- oder Großelternteile zu irgendeiner Zeit der jüdischen Religion angehört habe. Ich bin mir bewußt, daß ich mich dienststrafrechtlicher Verfolgung mit dem Ziele auf Dienstentlassung aussetze, wenn diese Erklärung nicht der Wahrheit entspricht. Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 220 QuellentextWirkungen des Berufsbeamtengesetzes auf die Hochschulen [...] Eine tiefe Zäsur in der Welt der Hochschulen hinterließ das Berufsbeamtengesetz vom April 1933. Denn die unverzüglich anlaufende „Säuberung“ der Professorenschaft von jüdischen und politisch mißliebigen Wissenschaftlern führte bereits bis Ende 1934 dazu, daß 15 Prozent des Lehrkörpers, 11 Prozent aller ordentlichen Professoren, insgesamt 1684 Hochschullehrer entlassen worden waren. Durchweg waren die Universitäten mehr betroffen als die Technischen Hochschulen, die 10,7 Prozent ihres Lehrkörpers verloren. Bis 1939 aber hat diese beispiellose Vertreibungsaktion mehr als ein Drittel, 39 Prozent, aller Professoren erfaßt. Die Zwangsausschaltung vollzog sich in drei Formen: als abrupte Pensionierung oder als Versetzung in den Ruhestand mit gekürzten Bezügen, meist aber in Gestalt der frist- und entschädigungslosen Entlassung. Bis zum Kriegsbeginn haben rd. 3000 Wissenschaftler, darunter 756 Professoren, Deutschland verlassen müssen. Längst ehe 1944 die ersten deutschen Flüchtlinge aus dem Osten vertrieben wurden, erlebte Deutschland seine von der eigenen Regierung initiierte Vertreibung stigmatisierter Spitzenkräfte. [...] Als Ergebnis dieses fatalen Aderlasses und der evidenten Stagnation seither schrumpfte der Lehrkörper aller Hochschulen (Professoren einschließlich der Lektoren und Lehrbeauftragten) von 1932 = 7984 auf 1939 = 7265 Wissenschaftler. Die Anzahl der ordentlichen Professoren (ohne reguläre Emeriti) ging von 2354 auf 2164 zurück. In der Jurisprudenz z.B. fiel ihre Zahl von 200 auf 156, in den Geisteswissenschaften von 402 auf 393, sogar in den Naturwissenschaften von 560 auf 522. Die protestlose Hinnahme aller Ungeheuerlichkeiten an der Alma Mater enthüllte eine bestürzende Gleichgültigkeit gegenüber dem Willkürschicksal enger Fachgenossen. Nicht selten verband sie sich auch noch mit der inhumanen Entschuldigung „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. [...] Zu besichtigen ist daher ein grenzenloses moralisches Debakel der Mehrheit, die nicht nur die Vertreibung ihrer Zunftgenossen hinnahm, sondern auch unverzichtbare wissenschaftliche Normen, ethische Prinzipien und den vielbeschworenen Korporationsgeist schnöde verriet. Ein vernichtenderes Urteil über diese politische Mentalität des Schweigens ist kaum denkbar. Dieselbe Feigheit zeigte sich, wenn es um neue Zumutungen von außen ging. Der bayerische Kultusminister Hans Schemm, ein „alter Kämpfer“, forderte 1933 von den Professoren: „Von jetzt ab kommt es für Sie nicht mehr darauf an, festzustellen, ob etwas wahr ist, sondern ob es im Sinn der nationalsozialistischen Revolution ist.“ Widerspruch wurde nicht laut. [...] In einer Bilanz, die der Heidelberger Statistikdozent Emil Gumbel zog – einst umstrittener Kritiker der politischen Morde in der Weimarer Republik, jetzt ins Exil vertrieben –, fiel das Urteil bitter, aber treffsicher aus: „Gegenüber diesem gewaltsamen Einbruch in ihr geistiges und materielles Leben haben die deutschen Professoren im Ganzen keinen Charakter gezeigt. Kein Wort des Protests gegen die Absetzung so vieler verdienter Lehrer wurde laut. Die Würde der akademischen Korporation zerflatterte. Die Idee der Universität zerging vor der Frage nach der Pensionsberechtigung.“[...] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 824 ff. Zerschlagung der Gewerkschaften Obwohl Teile der Gewerkschaftsführung versuchten, ihre Unabhängigkeit im NS-Regime dadurch zu bewahren, dass sie sich von der SPD distanzierten und eine Zusammenarbeit mit der neuen Regierung anboten, standen die traditionsreichen freien Arbeiterorganisationen im Visier der neuen Regierung und wurden mit Hilfe der SA im Mai zerschlagen. Erneut bildeten Inklusion und Gewalt die beiden Seiten nationalsozialistischer "Volksgemeinschaftspolitik". So wurde einerseits der 1. Mai von der Hitler-Regierung erstmals in der deutschen Geschichte unter der Bezeichnung "Tag der nationalen Arbeit" zum Feiertag erklärt. Unter dem Motto "Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter!" fanden reichsweit große Kundgebungen statt, zu denen auch die Gewerkschaften aufriefen und auf denen Nationalsozialisten Reden hielten. Auf der zentralen Massenversammlung in Berlin verkündete Goebbels: "Am heutigen Abend findet sich über Klassen, Stände und konfessionelle Unterschiede hinweg das ganze deutsche Volk zusammen, um endgültig die Ideologie des Klassenkampfes zu zerstören und der neuen Idee der Verbundenheit und der Volksgemeinschaft die Bahn freizulegen." Die mehrstündige Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin wurde im Rundfunk übertragen. Gleichzeitig fanden in vielen Provinzstädten Aufmärsche, oftmals auch der örtlichen Belegschaften samt Lautsprecherübertragung der Berliner Kundgebung statt, so dass die zentrale nationalsozialistische Propagandaveranstaltung simultan im ganzen Reich erlebt werden konnte. Auf der anderen Seite stürmte tags darauf, am 2. Mai, die SA überall im Reich die Gewerkschaftsbüros, verhaftete die Funktionäre, beschlagnahmte das Eigentum. Die Regierung erklärte die freien Gewerkschaften für aufgelöst und bildete die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley als Zwangsvereinigung für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Mit rund 20 Millionen Mitgliedern (Stand 1939) stellte die DAF nicht nur die mitgliederstärkste, sondern aufgrund des Raubs des Gewerkschaftseigentums und der millionenfachen Mitgliedsbeiträge auch die reichste angegliederte Organisation der NSDAP dar. Die Industrieverbände sahen im neuen Regime eine Chance, die Unternehmerinteressen nachhaltig zu festigen, und passten sich geschickt an. Als am 1. April ein SA-Trupp die Geschäftsstelle des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI) besetzte, nutzte die NSDAP wie so oft die Gewalt "von unten", um die Verbandsspitze zum Rücktritt zu zwingen, darunter Paul Silverberg, der trotz seines Eintretens für ein Bündnis mit der NSDAP wegen seiner jüdischen Herkunft gehen musste. Nach einem Gespräch zwischen Hitler und führenden Industriellen am 29. Mai verwandelte sich der RDI in eine Zentralorganisation mit Führerprinzip, dem Reichsstand der Deutschen Industrie, geleitet von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der eng mit der NS-Führung kooperierte. Die Agrarverbände waren schon seit 1929/30 nationalsozialistisch durchsetzt. Gleich im März 1933 drängte Richard Walther Darré, Vorsitzender des Agrarpolitischen Apparates der NSDAP, erfolgreich alle Bauernverbände zum Zusammenschluss und übernahm selbst den Vorsitz. Ebenfalls schlossen sich die landwirtschaftlichen Genossenschaften und die Landwirtschaftskammern an, so dass Darré sich Ende Mai "Reichsbauernführer" nennen durfte und, nachdem er Ende Juni zusätzlich Landwirtschaftsminister wurde, die gesamte Agrarpolitik kontrollierte. QuellentextAus einem Brief Peter Dürrenmatts, eines Schweizer Journalisten, 20. April 1933: „Eines hätte ich mir ja nie träumen lassen: daß ich noch einmal den ersten Mai feiern würde. Dieser erste Mai ist zum offiziellen Feiertag der deutschen Arbeit erklärt worden, folglich schulfrei! Das ist einer der genialsten Demagogenstreiche von Goebbels, über den sich die Sozialdemokraten schwarz ärgern werden. Denn natürlich wird unter den Nazis eine Maifeier von Stapel gelassen, wie sie während der Herrschaft der Sozialdemokraten nie annähernd zustande kam. Den Deutschnationalen ist diese Maifeier gar nicht recht.“ Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaats 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 249 Auflösung der Parteien Im Juni folgte die Auflösung der Parteien, nachdem die KPD durch die Verfolgungen bereits zerschlagen worden war. Die Mehrheit der SPD-Führung ging nach dem Schlag gegen die Gewerkschaften ins Exil nach Prag und rief von dort zum Sturz des Hitler-Regimes auf. Daraufhin erklärte Reichsinnenminister Frick die SPD am 22. Juni zur "volks- und staatsfeindlichen Organisation". Alle sozialdemokratischen Parlamentsmandate wurden aufgehoben, die noch nicht emigrierten Parteiführer verhaftet. Die bürgerlichen Parteien kamen ihrer absehbaren Abschaffung entgegen und beschlossen eine nach der anderen ihre Selbstauflösung. Die Deutsche Staatspartei, bis 1930 als Deutsche Demokratische Partei der politische Ort des liberalen Bürgertums, löste sich am 27. Juni auf. Die vom langjährigen Außenminister der Weimarer Republik Gustav Stresemann 1919 gegründete rechtsliberale Deutsche Volkspartei folgte einen Tag später. Selbst die Deutschnationalen, die die Regierung mit der NSDAP bildeten, ergriff der Prozess der Aushöhlung der republikanischen Verfassung, den sie selbst forciert hatten. Am 26. Juni musste der DNVP-Chef Hugenberg nach ungeschicktem Taktieren auf internationalem wie nationalem Parkett zurücktreten; einen Tag später legte ein "Freundschaftsabkommen" fest, dass deutschnationale Abgeordnete als "Hospitanten" in die NSDAP aufgenommen würden. Der Stahlhelm wurde am 21. Juni, nachdem sein Führer Seldte bereits Ende April der NSDAP beigetreten war, in die SA überführt. Diejenigen, die noch im Januar die Nationalsozialisten "zähmen" wollten, waren wenige Monate später deren Mitglieder. Den Schluss bildete das katholische Zentrum. Mit dem Konkordat vom 20. Juli schloss der Vatikan als erste ausländische Macht mit dem neuen Regime einen Vertrag, der die Konfessionsrechte der katholischen Kirche, insbesondere der katholischen Schulen, weiterhin gewährleistete. Dafür hatte Rom in den Verhandlungen dem Verbot einer politischen Tätigkeit katholischer Geistlicher zugestimmt und damit dem Zentrum als politischer Partei des Katholizismus die Grundlage entzogen. Die Parteiführung gab Anfang Juli resigniert auf, nachdem in Bayern etliche Parteifunktionäre von der politischen Polizei verhaftet worden waren, und löste das Zentrum auf. Am 14. Juli, nur ein halbes Jahr nach der Machtübernahme, erließ die Reichsregierung das "Gesetz gegen die Neubildung von Parteien", das die NSDAP zur einzigen Partei in Deutschland erklärte. QuellentextGesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 § 1. In Deutschland besteht als einzige politische Partei die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. § 2.Wer es unternimmt, den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden, wird […] mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft […] Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 43 QuellentextGesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 § 1. Nach dem Sieg der Nationalsozialistischen Revolution ist die nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. § 2. Zur Gewährleistung engster Zusammenarbeit der Dienststellen der Partei und der SA. mit den öffentlichen Behörden werden der Stellvertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA. Mitglied der Reichsregierung. § 3. Den Mitgliedern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) als der führenden und bewegenden Kraft des nationalsozialistischen Staates obliegen erhöhte Pflichten gegenüber Führer, Volk und Staat. Sie unterstehen wegen Verletzung dieser Pflichten einer besonderen Partei- und SA.-Gerichtsbarkeit. Der Führer kann diese Bestimmungen auf die Mitglieder anderer Organisationen erstrecken. § 4. Als Pflichtverletzung gilt jede Handlung oder Unterlassung, die den Bestand, die Organisation, die Tätigkeit oder das Ansehen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angreift oder gefährdet, bei Mitgliedern der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) insbesondere jeder Verstoß gegen Zucht und Ordnung. […] § 8. Der Reichskanzler erläßt als Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und als Oberster SA.-Führer die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Vorschriften […] Walther Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1965, S. 61 f. QuellentextManipulierte Wahlen am 12. November 1933 Karl Dürkefälden, geb. 1902, ein Maschinenbautechniker aus Hämelerwald bei Hannover, beschreibt in seinen Tagebuchaufzeichnungen auch die Auswirkungen der politischen Entwicklung von 1932 bis 1945 auf sein unmittelbares Lebensumfeld. Die letzte Reichstagswahl und den gleichzeitigen Volksentscheid gegen den Young-Plan erlebt er folgendermaßen: [...] Am 12. November 1933 war die letzte Reichstagswahl und der Volksentscheid. Die Regierung war aus dem Völkerbund ausgetreten und legte dem Volke die Frage vor, ob es diesen Schritt billige. Eine riesige Reklame machte die Regierung und die Partei. Täglich tausende von Wahlversammlungen, schrieb die Zeitung. Die Leute kriegten Propagandazettel ins Haus gebracht, die sollten sie an die Fenster kleben. „Stimme mit Ja“ stand darauf. Man hatte die Fenster tatsächlich ganz bunt gemacht in den Dörfern und Städten am Wahltage, auch Leute, die mit der Partei nicht auf gutem Fuße stehen. Als ich in Peine einkaufte, kriegte ich dieselben Zettel mit eingepackt. [...] Beim Volksentscheid hieß es: für Ehre, Freiheit und Gleichberechtigung, auch schrieben die Zeitungen: für Freiheit und Brot usw. Es drehte sich um den Austritt aus dem Völkerbund. Einen Krieg zöge das nicht nach, behauptete die Regierung, und die Fragen waren so gestellt, daß nur ein „Ja“ darauf folgen konnte. Trotzdem waren in Hämelerwald zwölf Nein-Stimmen und zwei ungültige. Auf dem Zettel für den Volksentscheid waren zwei Kreise, ja, nein. Auf dem Zettel für die Reichstagswahl war nur ein Kreis für die Ja-Stimme; es war nur eine Partei zugelassen. Als die Wahl vorüber war, hatte man in Hämelerwald nur zwei ungültige Stimmen; die andern sollten für die Partei gestimmt haben. Dann mußten ja meine Frau und ich die einzigen gewesen sein, die nicht für die Partei gestimmt hatten. Ich kannte aber mehr. Gerda machte mehrere Striche quer über den Zettel und ich einen Strich. Auf einem der Zettel hat aber „Nein“ gestanden, wie mir H. Schwenke, der bei dem Zählausschuß war, erklärte. Einige Tage später erzählte mir Willi Greve, daß vor der Wahl im „Hann[overschen] Anzeiger“ eine Notiz gestanden haben soll, wonach man alle Zettel, auf den[en] überhaupt kein Zeichen stände, nicht als ungültig, sondern als „Ja“ zählen wolle, außerdem alle, die irgendwie ein Zeichen hatte[n]. [Anmerkung: Ha (Hannoverscher Anzeiger)] vom 11. November, Stadtbeilage: „Der Wahlzettel vom 12. November“: „Eine einzige Liste wird ihm [dem Wähler] vorgelegt, und die einzige Entscheidung, die er nunmehr noch zu treffen hat, besteht lediglich darin, ob er gewillt ist, ihr sein Kreuz zu geben. Die klare Frage der Reichsregierung nach der Billigung ihrer Politik heischt auch eine klare Antwort. Sie kann nicht anders lauten als: Ja! Die Einheitsliste zur Reichstagswahl stellt an den Wähler eine gleich klare Frage, ob er den auf dieser offiziellen Liste angegebenen Kandidaten seine Stimme geben will. Auch hier ist die Antwort nicht schwer. Das Kreuz gehört in das offene Feld, das auf gleicher Höhe mit dem Namen Adolf Hitlers steht“.] Was sollte man da noch mit dem Zettel machen? Werger sagte mir, er wäre mit seiner Frau des morgens zur Wahl gegangen, da hätte man ihm gesagt: „Mal‘ Dein Kreuz man gleich hier hin, das Ding dahinten ist für Leute, die nicht zeigen mögen, was sie gewählt haben“. Er mußte also wohl oder übel für die Partei stimmen. A. Grebenstein wählte in Hannover. Er behauptet, da sei der Schutz nur so gewesen, daß er hätte sehen können, was die Leute vor ihm gewählt haben. Zu alten Frauen, die nicht kommen konnten [...] oder wollten, ging man zu Zweien und ließ sich die „Ja“ auf die Zettel machen [...]. Das Peiner Wahlverhältnis war etwa wie in Hämelerwald, mehr Stimmen für die Partei als für den Austritt aus dem Völkerbund. 93 % ungefähr stimmten für die Partei. Wenn die Zählung mit rechten Dingen zugegangen wäre, betrügen die Parteistimmen höchstens 80 % trotz aller Reklame. Es haben sich jetzt wohl schon viele mit der neuen Richtung ausgesöhnt. [...] Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), „Schreiben, wie es wirklich war ...“. Die Aufzeichnungen Karl Dürkefäldens aus der Zeit des Nationalsozialismus, Hannover 1985, S. 75 ff. Bücherverbrennung Doch nicht nur die Parteien passten sich der politischen Entwicklung an. Auch innerhalb der Gesellschaft gab es viele Initiativen, die den "nationalen Aufbruch", den sie mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zu erkennen glaubten, nach Kräften unterstützten. Am Abend des 10. Mai 1933 organisierten Studenten in allen Universitätsstädten als "Aktion wider den undeutschen Geist" öffentliche Bücherverbrennungen von Autoren wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Erich Kästner, Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Erich Maria Remarque, Alfred Döblin, Stefan Zweig oder Heinrich Heine, der schon 1821 geschrieben hatte: "Wo man Bücher verbrennt, dort verbrennt man am Ende auch Menschen". Die Ideen der Aufklärung, der Französischen Revolution und des Humanismus galten der völkischen Rechten als "jüdisch-liberal", die aus dem Gedankengut einer "deutschen Volksgemeinschaft" zu löschen seien. Joseph Goebbels, der die Initiative zu den öffentlichen Bücherverbrennungen förderte, hatte bereits am 1. April im Rundfunk über die nationalsozialistische Revolution verkündet: "Damit wird das Jahr 1789 aus der deutschen Geschichte gestrichen." Kritische und jüdische Journalisten wurden im vorauseilenden Gehorsam von vielen Zeitungen entlassen, durch ein sogenanntes Schriftleitergesetz wurde die Presse unter staatliche Aufsicht gestellt. Wer sich künstlerisch oder publizistisch betätigen wollte, musste der von Goebbels kontrollierten Reichskulturkammer angehören. Die Mitglieder der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste ließen gehorsam den Ausschluss von Heinrich Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann und anderen geschehen – mit der rühmlichen Ausnahme von Ricarda Huch, die daraufhin ihren Austritt erklärte. Nicht zuletzt müssen die unzähligen örtlichen Vereine erwähnt werden, ob Sport-, Gesangs-, Schützenverein oder die lokale Feuerwehr, die allesamt im Laufe des Jahres 1933 den "Arierparagraphen" in ihr Vereinsstatut übernahmen, das heißt die jüdischen Mitglieder aus ihren Vereinen ausschlossen. Unter vielen anderen erklärte auch der Vorstand des Deutschen Fußballverbandes am 19. April 1933, dass ein "Angehöriger der jüdischen Rasse ebenso auch Personen, die sich als Mitglieder der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, in führenden Stellungen der Landesverbände nicht für tragbar" gehalten werden könnten und die Vereinsvorstände daher aufgefordert würden, die entsprechenden Maßnahmen zu veranlassen. Der bekannte Nationalspieler Julius Hirsch trat daraufhin aus dem Karlsruher Fußballclub aus; Alfred Meyers legte den Vereinsvorsitz in Frankfurt nieder; der Verbandspionier und Herausgeber des "Kickers", Walther Bensemann, emigrierte noch im April in die Schweiz. Kirchen Die katholische Kirche, die vor 1933 noch ihren Priestern verboten hatte, Mitglied der NSDAP zu werden, war durch das Konkordat, das sie mit der Hitler-Regierung abgeschlossen hatte, mit dem NS-Regime vertraglich verbunden und hoffte, dadurch ihre bisherige Unabhängigkeit bewahren zu können. Das katholische Milieu, das sich vor allem in Bayern lange Zeit als recht resistent gegenüber dem Nationalsozialismus erwiesen hatte, öffnete sich erkennbar in den Reichstagswahlen im März 1933. Auch unter der katholischen Bevölkerung gewann der Nationalsozialismus an Zustimmung, obwohl zum Beispiel in den katholischen Jugendverbänden nach wie vor der Wille zur Selbstbehauptung stark war. Demgegenüber hatten zahlreiche protestantische Wähler der NSDAP schon in der Weimarer Republik ihre Stimmen gegeben, evangelische Pastoren hatten für sie geworben. Der bekannte protestantische Berliner Bischof Otto Dibelius, der später Mitglied der Bekennenden Kirche wurde, schrieb zu Ostern 1933 an die Pastoren seiner Provinz in einem vertraulichen Rundbrief, dass für die Motive, aus denen die völkische Bewegung hervorging, "wir alle nicht nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben. Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als Antisemiten gewusst. Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt." Doch die Zuversicht der NS-Führung auf rasche "Gleichschaltung" auch der protestantischen Kirchen trog. Der Versuch, den Königsberger Pfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof zu ernennen und damit eine politisch konforme zentrale Leitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche zu installieren, stieß auf das innerkirchliche Beharrungsvermögen zugunsten der traditionellen föderalen Struktur. Als die nationalsozialistischen Eiferer unter den Protestanten, die sich "Deutsche Christen" nannten, im November 1933 auf einer Großkundgebung lauthals die Abschaffung des Alten Testaments und der angeblich jüdischen Theologie des Paulus forderten, gründeten evangelische Pastoren einen Notbund. Im Mai 1934 versammelten sich Vertreter aus allen evangelischen Glaubensgemeinschaften in Barmen zu einer Bekenntnissynode, auf der an der Heiligen Schrift als unantastbarem Fundament des Glaubens festgehalten wurde. Insbesondere der Theologe Karl Barth trat mit unmissverständlichen Stellungnahmen gegen jeden Versuch, den protestantischen Glauben nationalsozialistisch zu instrumentalisieren, hervor. Die evangelischen Gemeinden, in denen es zahlreiche Anhänger des Nationalsozialismus gab, wurden damit gespalten, mitunter sogar zerrissen, auch wenn sich die große Mehrheit der Kirchenmitglieder weder den Deutschen Christen noch den Bekenntnischristen anschlossen, sondern ihren christlichen Glauben durchaus mit ihrer Zustimmung zum Regime verbinden konnten. Entmachtung der SA Die einzige tatsächliche Bedrohung des Regimes kam von innen. Die SA, 1933 mit rund zwei Millionen Mitgliedern um etliches größer als die Reichswehr, die laut Versailler Vertrag nicht mehr als 100.000 Soldaten umfassen durfte, stellte einen virulenten Unruheherd dar, zumal zahlreiche SA-Angehörige, die sich mit der Machtübernahme auch persönliche Vorteile, vor allem einen Arbeitsplatz im neuen Staat, erhofft hatten, noch leer ausgegangen waren. Darüber hinaus existierte im SA-Führerkorps, dessen Chef Ernst Röhm zu den frühen Förderern und langjährigen Weggefährten Hitlers zählte, die Vorstellung, die SA könne als braune Volksarmee die Reichswehr ablösen. Zwar kursierte das Wort von der zweiten Revolution, aber an einen Putsch dachte in der SA-Führung niemand. Außerdem kriselte das Regime zu Beginn des Jahres 1934, weil der Schwung der anfänglichen Begeisterung dem nüchternen Alltag wich. Insbesondere im bürgerlich-konservativen Lager kamen, nachdem die Deutschnationalen als Machtfaktor weggebrochen waren, Befürchtungen auf, das NS-Regime könne doch noch zu einer braunen Diktatur der Massen werden. Im Juni 1934 hielt Vizekanzler von Papen eine von Edgar Jung, einem seiner engagiert "jungkonservativen" Mitarbeiter geschriebene Rede, in der er Korruption, Charakterlosigkeit und Anmaßung der neuen NS-Machtelite anprangerte. Mit einem entschlossenen Zugreifen erhoffte sich Hitler, sowohl die SA als Machtzentrum wie auch eine mögliche konservative Opposition zu liquidieren und dabei gleichzeitig das Militär eng an das NS-Regime zu binden. Göring, SS-Chef Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, der mittlerweile zum Chef der preußischen Geheimen Staatspolizei ernannt worden war, betrieben eifrig die Ausschaltung ihrer Machtkonkurrenten. Am 30. Juni 1934 nahmen SS- und Polizeieinheiten in Anwesenheit von Hitler, der persönlich angereist war, die SA-Führung in Bad Wiessee fest und ermordeten sie. Zugleich wurden anhand vorbereiteter Listen in Berlin und in anderen Städten hohe SA-Führer, aber auch Personen wie Edgar Jung, Papens Privatsekretär Herbert von Bose, der Leiter der Katholischen Aktion Erich Klausener, der ehemalige bayerische Generalstaatskommissar und Verbündete beim Putsch im November 1923, Gustav Ritter von Kahr, der ehemalige Reichskanzler und Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher sowie dessen Mitarbeiter Generalmajor Ferdinand von Bredow und der einstige innerparteiliche Gegner Gregor Straßer erschossen. Insgesamt fielen etwa 300 Menschen den Morden zum Opfer. Hitler ließ am 3. Juli im Nachhinein per Gesetz die "vollzogenen Maßnahmen als Staatsnotwehr für rechtens" erklären, nicht zuletzt unterstützt vom Staatsrechtler Carl Schmitt, der unter dem Titel "Der Führer schützt das Recht" die staatlichen Morde nachträglich in einem Artikel juristisch rechtfertigte. Das Bürgertum zeigte sich erleichtert, dass nun anscheinend Ordnung geschaffen wurde, und die Reichswehr war zufrieden, da sie sich in ihrem Anspruch als "einziger Waffenträger der Nation" bestätigt sah. Die Hamburger Lehrerin Luise Solmitz rühmte in ihrem Tagebuch, was Hitler "in München geleistet hat an persönlichem Mut, an Entschluss- und Schlagkraft, das ist einzigartig". Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg verglich die staatlich angeordneten Morde mit dem Platzen einer Eiterbeule, mit dem endlich klare Verhältnisse geschaffen worden seien. Von keiner Seite, auch nicht von den Kirchen, wurden die Morde missbilligt, obwohl sich Offiziere ebenso wie der katholische Politiker Klausener unter den Opfern befanden. Als Reichspräsident Hindenburg wenige Wochen später im Alter von 86 Jahren am 2. August starb, entwarf die Reichswehrführung aus eigener Initiative eine neue Eidesformel, mit der alle Soldaten nicht mehr auf die Verfassung oder das Vaterland, sondern auf den "Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler" vereidigt wurden, dem "unbedingter Gehorsam" zu leisten sei. Am 19. August 1934 stimmten nahezu 90 Prozent in einer Volksabstimmung, die allerdings nicht mehr frei und kaum noch geheim war, zu, dass Hitler nunmehr die Ämter des Staatsoberhauptes, Reichskanzlers, Parteiführers und Obersten Befehlshabers in seiner Person vereinigte. Der "Führerstaat" war konstituiert. Interner Link: Aus: Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012 Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann und selbst Schriftsteller, Tagebucheintrag vom 30. Januar 1933: „Die Nachricht, dass Hitler Reichskanzler. Schreck. Es nie für möglich gehalten. (Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten).“ Klaus Mann, Tagebücher 1931-1933. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle, Wilfried Schoeller, rororo, Reinbek bei Hamburg (Dt. Erstausgabe München 1989) 1995, S. 113 Sebastian Haffner, demokratischer Publizist: „Ich weiß nicht genau, wie die allgemeine erste Reaktion war. Die meine war etwa eine Minute lang richtig: Eisiger Schreck. [...] Dann schüttelte ich das ab, versuchte zu lächeln, versuchte nachzudenken, und fand in der Tat viel Grund zur Beruhigung. Am Abend diskutierte ich die Aussichten der neuen Regierung mit meinem Vater, und wir waren uns einig darüber, daß sie zwar eine Chance hatte, eine ganze hübsche Menge Unheil anzurichten, aber kaum eine Chance, lange zu regieren.“ Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Deutsche Verlags-Anstalt in der Gruppe Random House, München 2003, S. 104 f. Luise Solmitz, deutschnationale Lehrerin in Hamburg: „Was für ein Kabinett!!! Wie wir es im Juli nicht zu erträumen wagten. Hitler, Hugenberg, Seldte, Papen!!! An jedem hängt ein großes Stück meiner deutschen Hoffnung. Nationalsozialistischer Schwung, deutschnationale Vernunft, der unpolitische Stahlhelm und der von uns unvergessene Papen. [...] Riesiger Fackelzug vor Hindenburg und Hitler durch Nationalsozialisten und Stahlhelm, die endlich, endlich wieder miteinandergehen. Das ist ein denkwürdiger 30. Januar!“ Tagebuch Luise Solmitz, Eintrag unter dem 30.1.1933, abgedruckt in: Werner Jochmann, Nationalsozialismus und Revolution. Ursprung und Geschichte der NSDAP in Hamburg 1922-1933. Dokumente, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1963, S. 421 Victor Klemperer, jüdischer Hochschullehrer in Dresden, Tagebucheintrag vom 21. Februar 1933: "Seit etwa drei Wochen die Depression des reaktionären Regiments. Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber meine Erbitterung, stärker, als ich mir zugetraut hätte, sie noch empfinden zu können, will ich doch vermerken. Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse. - Eine Woche nach Hitlers Ernennung waren wir (am 5.2.) bei Blumenfelds mit Raab zusammen. Raab, Gschaftlhuber, Nationalökonom, Vorsitzender des Humboldtclubs, hielt eine große Rede und erklärte, man müsse die Deutschnationalen wählen, um den rechten Flügel der Koalition zu stärken. Ich trat ihm erbittert entgegen. Interessanter seine Meinung, daß Hitler im religiösen Irrsinn enden werde... Am meisten berührt, wie man den Ereignissen so ganz blind gegenübersteht, wie niemand eine Ahnung von der wahren Machtverteilung hat. Wer wird am 5.3. die Majorität haben? Wird der Terror hingenommen werden, und wie lange? Niemand kann prophezeien." Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Verlag, Berlin 1995, Bd. 1, S. 6 f. André François-Ponçet, französischer Botschafter in Berlin, in einem Bericht nach Paris im April 1933: „Als am 30. Januar das Kabinett Hitler/Papen an die Macht kam, versicherte man, dass die Regierung der Deutschnationalen […] Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli bieten würden, dass die Nationalsozialisten mit der Feindschaft der Arbeiterklasse zu rechnen haben und dass schließlich die Katholiken der Zentrumspartei die Legalität verteidigen würden. Sechs Wochen später muss man feststellen, dass all diese Dämme, die die Flut der Hitler-Regierung zurückhalten sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden.“ Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 217 Wiedergabe des Stichwortprotokolls, das ein anwesender General für sich anfertigte. Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht. Hierauf muß gesamte Staatsführung eingestellt werden (alle Ressorts!). 1. Im Innern. Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände in Deutschland. Keine Duldung der Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. Einstellung der Jugend und des ganzen Volkes auf den Gedanken, daß nur der Kampf uns retten kann und diesem Gedanken alles zurückzutreten hat. […] Ertüchtigung der Jugend und Stärkung des Wehrwillens mit allen Mitteln. Todesstrafe für Landes- und Volksverrat. Straffste autoritäre Staatsführung. Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie! 2. Nach außen. Kampf gegen Versailles. Gleichberechtigung in Genf; aber zwecklos, wenn Volk nicht auf Wehrwillen eingestellt. Sorge für Bundesgenossen. 3. Wirtschaft! Der Bauer muß gerettet werden! Siedlungspolitik! Künftig Steigerung der Ausfuhr zwecklos. Aufnahmefähigkeit der Welt ist begrenzt und Produktion ist überall übersteigert. Im Siedeln liegt einzige Möglichkeit, Arbeitslosenheer zum Teil wieder einzuspannen. […] 4. Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedererringung der politischen Macht. Allgemeine Wehrpflicht muß wieder kommen. Zuvor aber muß Staatsführung dafür sorgen, daß die Wehrpflichtigen vor Eintritt nicht schon durch Pazifismus, Marxismus, Bolschewismus vergiftet werden oder nach Dienstzeit diesem Gift verfallen. Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Möglichkeiten, vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Sicher, daß erst mit politischer Macht und Kampf jetzige wirtschaftliche Zustände geändert werden können. Alles, was jetzt geschehen kann – Siedlung – Aushilfsmittel. Wehrmacht wichtigste und sozialistischste Einrichtung des Staates. Sie soll unpolitisch und überparteilich bleiben. Der Kampf im Innern nicht ihre Sache, sondern der Nazi -Organisationen. […] Aus: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 23 f. SPD Mir sind mehrere Versammlungen gesprengt worden, und ein erheblicher Teil der Versammlungsbesucher mußte schwer verletzt weggeschafft werden. Im Einverständnis mit dem Parteivorstand bitte ich daher, von den mit mir als Redner vorgesehenen Versammlungen abzusehen. Nach Lage der Dinge gibt es offenbar auch keinen polizeilichen Schutz mehr, der ausreichen würde, dem aggressiven Vorgehen der SA und SS in meinen Versammlungen zu begegnen. In Hindenburg ist Genosse Nölting mit knapper Not dem Totschlag entronnen. Bei mir war es in Langenbielau ähnlich. Einer meiner Begleiter wurde niedergeschlagen. In Breslau ist gestern abend nur durch eine zufällige Verzögerung eingesetzter SA-Formationen namenloses Unglück verhindert worden. Eine große Anzahl von Verwundeten hat es trotzdem gegeben, in einer Stadt, die bisher stets Versammlungssprengungen von Andersgesinnten hat vorbeugend verhindern können. Ich bedauere selbst am tiefsten, Euch diese Mitteilung machen und diesen Entschluß fassen zu müssen. Es ist auch erst nach reiflicher Überlegung mit Mitgliedern des Parteivorstandes geschehen, und nachdem auch in bezug auf andere Genossen ähnlich entschieden worden ist. Aus einem Schreiben des ehemaligen preußischen Innenministers und Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski (SPD) an die SPD-Parteisekretäre in Dortmund, Frankfurt/M., Altona und Kiel vom 24. Februar 1933 BVP Diese Regierungserklärung hat in Deutschland eine Kluft aufgerissen und hat alles zerschlagen, was in den 14 Jahren geleistet wurde. Wir hatten die Straßen dem Verkehr zurückerobert, die Parteifahnen von den Amtsgebäuden heruntergeholt, der Presse die Freiheit in Deutschland wieder gegeben, die Sicherheit im Staat wieder hergestellt. Und heute ist das alles wieder gefährdet. Wir erleben heute wieder den Bürgerkrieg auf den Straßen, der Terror ist in den Versammlungen wieder eingerissen, Leute wie Stegerwald [Adam Stegerwald, 1874-1945, Zentrumspolitiker, Reichsarbeitsminister 1930-32 – Anm. d. Red.] werden niedergeschlagen, es werden Feuerüberfälle auf die Bayern- und Pfalzwacht unternommen, die Presse wird wieder geknebelt, die freie Meinung versklavt, es regnet täglich Presseverbote. Die Regierungspresse darf aber schreiben, was sie will, ohne verboten zu werden. So durften die Hamburger Nachrichten kürzlich schreiben: Schmeißt die katholischen Bayern aus dem Reichsverbande hinaus, mit den anderen werden wir schon fertig. Die gleiche Zeitung durfte auch Hindenburg zum Verfassungsbruch auffordern. Die Zeitung wurde nicht verboten, wohl aber die katholische „Germania“, die nichts weiter getan hat, als einen Aufruf der katholischen Verbände abzudrucken, die voller Sorge über die kritische Entwicklung Deutschlands waren. […] Rede des Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei, Fritz Schäffer, in Würzburg am 23. Februar 1933, in: Becker, S. 96 DDP Die NSDAP, deren Führer Sie zum höchsten Beamten des Reichs ernannt haben, macht durch ein System von Gesetzwidrigkeiten einem anders denkenden bürgerlichen Politiker den Vortrag seiner politischen Anschauungen unmöglich, schüchtert die ruhige Bürgerschaft ein und leitet den Wahlkampf in einen offenen Bürgerkrieg über. Die ortspolizeilichen Organe leisten das Menschenmögliche. Sie können zwar die Person des Redners schützen, nicht aber die verfassungsmäßig gewährleistete Versammlungs- und Redefreiheit. Durch die Dezemberamnestie ist jede nachhaltige Achtung vor dem Gesetz geschwunden. Das besonnene Bürgertum in Württemberg blickt auf Sie, hochverehrter Herr Reichspräsident, als den letzten Hort für Recht und Ordnung in Deutschland. Wir geben Ihnen davon Kenntnis, wie eine große Regierungspartei vor der Entscheidungswahl des deutschen Volkes das Gesetz mit Füßen tritt, und bitten Sie, darauf einzuwirken, daß die NSDAP die Wahlfreiheit nicht weiter durch Mittel der Gewalt beeinträchtigt. Beschwerde-Telegramm der württembergischen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an Reichspräsident Hindenburg vom 22. Februar 1933 Alle in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 91 ff. Ein Dreivierteljahrhundert schon wird über den 27. Februar 1933 gestritten. […] Und trotzdem ist die Lage heute kaum klarer als bald nach der Brandstiftung – als einerseits Wolfgang Stresemann und Harry Graf Kessler wie selbstverständlich davon ausgingen, dass die Nazis die Brandstiftung zu verantworten hätten, andererseits die ermittelnden Kriminalbeamten Helmut Heisig und Walter Zirpins bereits den Eindruck gewonnen hatten, dass sie das Geständnis von Marinus van der Lubbe glauben sollten [...]. Entgegen häufig wiederholter Behauptungen konnte bislang niemand einen Beleg für die Täterschaft der NSDAP an dieser Brandstiftung vorlegen. [...] Neue echte Beweise sind nicht mehr zu erwarten; es gibt keine nennenswerten Quellen, die noch verschollen sind. Auch lebt längst niemand mehr, der 1933 in irgendeiner Form etwas bislang Unbekanntes hätte erfahren können und heute sein Schweigen brechen würde. [...] Dagegen steht eine in sich schlüssige Darstellung der Brandstiftung durch Marinus van der Lubbe: Der holländische Anarchokommunist hatte mit seiner Tat ein Zeichen setzen wollen – gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten und gegen die Lähmung der radikalen Arbeiterbewegung; für eine Revolution von unten, ja eigentlich für Aufruhr als Selbstzweck. In mehr als 30 Verhören über Monate hinweg blieb van der Lubbe im Kern stets bei seiner Darstellung; wesentliche Widersprüche gibt es in den entsprechenden Akten gerade nicht. [...] [A]lle Ende Februar und Anfang März 1933 im Reichstag gesicherten objektiven Beweise [stützten] van der Lubbes Version [...] oder [widersprachen] ihr jedenfalls nicht [...]. Dagegen gibt es in den Voruntersuchungsakten keinerlei Hinweise auf unterdrückte oder verfälschte Spuren, die für mehrere Beteiligte gesprochen hätten. Das wäre auch seltsam gewesen, denn an der Unterdrückung mutmaßlicher Beweise für weitere Täter hätten die Nazis ja keinerlei Interesse haben können; sie behaupteten ja stets, van der Lubbe hätte Komplizen gehabt. Obwohl auf die Polizisten offensichtlich Druck ausgeübt wurde, Belege zu „finden“, wurden keinerlei Indizien für andere Täter dokumentiert, weder irgendwelche Brandbeschleuniger noch Zündmechanismen, die der „Strohmer“ van der Lubbe nicht hätte haben können. 99 Positionen lang war die Liste der „sichergestellten Beweismittel“ aus dem Reichstag – kein einziges davon wies auf etwas anderes hin als den vom Brandstifter geschilderten Tatverlauf. [...] Hinzu kommt: Wenn hinter der Brandstiftung tatsächlich ein perfider Plan der SA oder der NSDAP gesteckt hätte, dann wären die offensichtlich skrupellosen Täter wohl schlau genug gewesen, ausreichend „Spuren“ zu legen, um ihr Ziel auch sicher zu erreichen. Eine tatsächliche NS-Provokation sechseinhalb Jahre später, der fingierte Überfall von SS-Leuten in polnischen Uniformen auf den deutschen Sender Gleiwitz am 31. August 1939, zeigt, dass der Einsatz gefälschter Indizien Hitlers Schergen keineswegs fremd war. [...] [...] Warum wird noch immer über die Täterschaft gestritten? Der wichtigste Grund dürfte sein, dass den Nazis angesichts ihrer zahlreichen anderen und bei weitem schlimmeren Verbrechen auch die Brandstiftung im Parlament ohne weiteres zuzutrauen gewesen wäre. […] Zweitens haben Hitler und Göring ja den Brand tatsächlich geradezu virtuos für ihre Zwecke eingesetzt; die vorsätzlich in Szene gesetzte Explosion der innenpolitischen Gewalt im März 1933 leitete die Eroberung der totalen Macht über Deutschland ein. [...] Ein dritter Grund ist die Feststellung im Urteil des Reichsgerichts, van der Lubbe habe Mittäter haben müssen. Doch dies war wahrscheinlich ein Zugeständnis der Richter an die Reichsregierung, die sie nicht völlig bloßstellen wollten, nachdem sie bereits die vier mitangeklagten Kommunisten aus Mangel an Beweisen freigesprochen hatten. Alles spricht dafür, die zahlreichen Geständnisse Marinus van der Lubbes ernst zu nehmen. Aber warum ist die Frage der Täterschaft überhaupt seit 75 Jahren derartig umkämpft? [...] Woher rührte die Bedeutung für die deutsche Zeitgeschichte? [...] Die Antwort liegt in der grundsätzlichen Einschätzung des Dritten Reichs: Gehörte die Brandstiftung zu einem bis ins Detail vorbereiteten Plan der NSDAP? Oder reagierten der „Führer“ und seine Paladine spontan auf den Reichstagsbrand, setzten sie sich also wegen ihrer Rücksichtslosigkeit gegen die zögernden politischen Gegner durch, die Sozialdemokratie und das Zentrum? Wer schon den Reichstagsbrand für ein inszeniertes Schurkenstück der Hitler-Partei hält, muss zwangsläufig die NS-Herrschaft insgesamt zu präzise durchgeplanter Machtpolitik erklären – einschließlich Auschwitz. Allerdings hat diese Annahme eine unvermeidliche Folge: Automatisch wird damit die Verantwortung der deutschen Gesellschaft insgesamt, hunderttausender, ja Millionen Deutscher an all diesen Verbrechen stark reduziert. [...] Aus der Annahme der NS-Verantwortung folgt letztlich eine Exkulpierung der damaligen deutschen Gesellschaft. [...] Es bleibt eine letzte Frage: Wie kam es zu dem verheerenden Brand im Plenarsaal, wenn wirklich nur Marinus van der Lubbe mit seinen auf den ersten Blick ungenügenden Mitteln wie Kohlenanzündern, Kleidungsstücken und Tischdecken als Täter in Frage kommt? [...] […] Es dürfte am 27. Februar 1933 gegen 21.27 Uhr zu einem heute als „Backdraft“ bekannten und gefürchteten Phänomen gekommen sein, das bei Bränden in geschlossenen Räumen auftritt. Dabei verbraucht zunächst ein offen brennendes Feuer einen Großteil des verfügbaren Sauerstoffs. Verlöschen die Flammen, führen die stark gestiegenen Temperaturen zum chemischen Phänomen der Pyrolyse: Organische Moleküle spalten sich; unoxidierte, das heißt brennbare Gase steigen auf und sammeln sich unter der Decke. Gleichzeitig sinkt durch die nunmehr nur noch schwelenden Brandstellen die Temperatur etwas. Dadurch entsteht ein Unterdruck, der Luft ansaugt, sobald das möglich ist. Kommt in dieser Situation Sauerstoff in den bis dahin abgeschlossenen Raum, lässt sich eine Katastrophe kaum mehr abwenden: Nach dem Öffnen einer Tür scheint die gestaute Hitze zunächst wie ein Schlag hinauszudrängen, doch unmittelbar darauf bildet sich ein starker Luftzug ins Innere des nun geöffneten Brandraums. Der Sauerstoff vermischt sich, je nach Größe des Raums in wenigen Sekunden bis mehr als einer Minute, mit den heißen Rauchgasen. Sobald die Mischung zündfähig ist, kommt es zu einer Rauchgasexplosion, die Temperatur von bis zu 10 00 Grad entwickeln kann und nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. Sven Felix Kellerhoff, Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls, be.bra verlag, Berlin-Brandenburg, S. 131 ff. Sozialstruktur der NSDAP und ihrer Führung 1933 und 1935 (© Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949. C. H. Beck, München 2008, S. 778) Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird, nachdem festgestellt ist, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind: Art. 1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. […] Art. 2. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt. Art. 3. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nicht anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft. […] Art. 4. Verträge des Reichs mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen nicht der Zustimmung der an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften. Die Reichsregierung erläßt die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Vorschriften. Art. 5. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer Kraft; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird. Reichsgesetzblatt T. I. (1933), Nr. 25, S. 141. Online abrufbar unter: Externer Link: www.servat.unibe.ch (Universität Bern) (Redaktioneller Hinweis: Quelle und Link aktualisiert, 23.03.2023) Rede von Otto Wels (SPD) [...] Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. [...] Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. [...] Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt. [...] Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offen steht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. [...] Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. [...] Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft. Bayerische Staatsbibliothek: Externer Link: www.reichstagsprotokolle.de Erwiderung Adolf Hitlers [...] Sie sind wehleidig, meine Herren, und nicht für die heutige Zeit bestimmt, wenn Sie jetzt schon von Verfolgungen sprechen. [...] Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur, weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeit des nationalen Lebens, appellieren wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir auch ohnedem hätten nehmen können. [...] Ich glaube, daß Sie (zu den Sozialdemokraten) für dieses Gesetz nicht stimmen, weil Ihnen Ihrer innersten Mentalität nach die Absicht unbegreiflich ist, die uns dabei beseelt. [...] Und ich kann Ihnen nur sagen: Ich will auch gar nicht, daß Sie dafür stimmen! Deutschland soll frei werden, aber nicht durch Sie! Bayerische Staatsbibliothek: Externer Link: www.reichstagsprotokolle.de In der Nacht vom 20. zum 21. März dieses Jahres gegen halb 2 Uhr wurde an meiner Wohnungstür heftig geklingelt und geklopft. Im Glauben, daß meine Kinder nach Hause gekommen waren, stand ich sofort auf und fragte „Wer ist da?“ Mit einer barschen Stimme wurde mir darauf geantwortet: „Machen Sie sofort auf, hier ist die Polizei, sonst wird gewaltsam geöffnet.“ […] Mein Mann schloß die Tür auf. Es traten 6 – 8 Mann herein. Verschiedene waren mit Karabinern bewaffnet. Bis auf einen Mann, der ein blaues Jackett und eine blaue Mütze trug, waren alle in SA-Uniform. Die Leute, die in meine Wohnung eintraten, kenne ich vom Sehen alle. Es sind alles junge Leute, die mit meinen Kindern zusammen in die Schule gegangen sind. […] Einer von denen, der sicher der Führer war, forderte mich mit den Worten „Bitte ziehen Sie sich an. Sie kommen mit.“ auf. Ich forderte von diesem Mann einen Ausweis. Er antwortete mir mit flotter Armbewegung: „Ach Quatsch, machen Sie keinen Heckmeck. Sie kommen mit!“. […] Ich mußte nun das Auto (ein Wäscheauto), das vor dem Hause bereit stand, mit den Leuten, die bei mir in der Wohnung waren, besteigen und mitfahren. […] Die Fahrt ging weiter nach der Elisabethstraße in die SA-Kaserne. […] Dort auf dem Hof mußte ich aussteigen und mit in das Hintergebäude des Hofes (unten Stall, oben sicher Heuboden) mitgehen. Erwähnen will ich noch, daß sich außer mir noch ein gewisser Herr Heber und Herr Flieger im Wagen befanden. Diese Leute mußten ebenfalls mit mir in das Gebäude gehen. […] Der Führer, der auch in meiner Wohnung mit war, meldete uns dem dort befindlichen Führer. Als der Führer, der mich aus der Wohnung holte, dem dort befindlichen Führer meinen Namen Jankowski nannte, antwortete der dort anwesende Führer „Ach Jankowski, die alte, fette Sau!“ Wir wurden aufgefordert, uns in eine Ecke zu stellen. Jetzt mußte der junge Mann, Heber […], vortreten, und es wurden ihm die Haare geschnitten. Es wurden jetzt von uns dreien die Personalien aufgenommen. Bei der Aufnahme der Personalien fielen allerlei Bemerkungen, zum Beispiel „Aas, dreckiges Luder“ usw. […] Der Führer richtete nun an mich die Frage, wieviel Gehalt ich von der Stadt beziehe. Ich gab ihm zur Antwort, daß ich nur eine Aufwandsentschädigung von 48,75 RM den Monat beziehe. Der Führer antwortete mir „Du verschwindeltes Aas, du kriegst kein Gehalt, dir werden wir schon“ und gab dann den Leuten, die zum Schlagen bereit standen, die Zahl 20 an. […] Nach Verabfolgung der Schläge mußte ich mich zu Flieger wieder in die Ecke stellen. […] Als ich zum zweiten Mal herankam, beschuldigte der Führer mich, daß ich Listen verbreitet hätte, wonach nationalsozialistische Geschäftsleute boykottiert werden sollten. Ich erklärte ihm, daß ich nichts davon weiß. Er antwortet mir: „Du weißt ja überhaupt nichts“, und ich bekam zum zweiten Mal 20 Schläge. […] Nach einer gewissen Zeit wurde ich wieder in Ruhe gelassen, und es kamen jetzt wieder Heber und Flieger und ich heran, sich auf den Tisch zu legen und zum dritten Male Schläge zu bekommen […] Wir mußten uns nachdem in eine Reihe stellen und das Deutschlandlied durchsingen. Nach Absingen des Deutschlandliedes erklärte uns der Führer, daß er uns jetzt eine halbe Stunde in Ruhe lassen würde. Er würde jetzt hinuntergehen, und wenn er wiederkäme, würde er an uns bestimmte Fragen richten. Sollten wir die Fragen nicht beantworten, „so wird uns nochmal so eine Wucht verabfolgt [...] und dann werden wir in den Wagen eingeladen und nach Schmöckwitz gefahren, wo wir unsere Kute (Grube) graben können.“ Während der Abwesenheit des Führers sowie einiger anderer SA-Leute, wurden wir von der zurückbleibenden Wache mit allerlei Schimpfworten bedacht. Was für schmutzige Wörter von den Leuten zu uns gesagt wurden, kann ich heute hier nicht mehr wiedergeben. Nach Rückkehr des Führers bekamen wir der Reihe nach auf dieselbe Art und Weise wie vorher zum 4. Male je 20 Schläge. […] Mir wurde jetzt erklärt, daß ich jetzt entlassen werde, müßte aber vorher noch ein Revers unterschreiben. Das Revers war schon mit der Maschine vorgeschrieben. Es enthielt, daß ich alle Ämter niederzulegen habe, daß ich aus der Partei austrete und mich politisch nicht mehr betätige. Außerdem solle ich mich von Donnerstag, den 23. März 33 ab in der dort befindlichen SA-Kaserne, wo ich geschlagen wurde, abends von 19 – 20 Uhr täglich melden. Am Donnerstag, den 23. März 33, hätte ich auch die Liste sämtlicher Funktionäre der Partei mitzubringen. […] Da ich nun allein auf der Straße stand und nicht laufen konnte, war es mir nicht möglich, meinen Heimweg anzutreten. […] Am 31. März wurde ich auf Grund einer Verfügung des Hauptgesundheitsamts aus dem Krankenhaus entlassen. Ich befinde mich heute noch in ärztlicher Behandlung. […] Aus Furcht, daß mir evtl. nochmals dieses Unglück widerfahren könnte und damit ich nun in Ruhe gelassen werde, stelle ich gegen die Täter keinen Strafantrag. Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 150 ff. Deutsche Volksgenossen! Die Schuldigen an diesem wahnwitzigen Verbrechen, an dieser niederträchtigen Greuel- und Boykotthetze sind die Juden in Deutschland. Sie haben ihre Rassegenossen im Ausland zum Kampf gegen das deutsche Volk aufgerufen. Sie haben die Lügen und Verleumdungen hinausgemeldet. Darum hat die Reichsleitung der deutschen Freiheitsbewegung beschlossen, in Abwehr der verbrecherischen Hetze ab Samstag, den 1. April 1933, vormittags 10 Uhr, über alle jüdischen Geschäfte, Warenhäuser, Kanzleien usw. den Boykott zu verhängen. Dieser Boykottierung Folge zu leisten, dazu rufen wir euch, deutsche Frauen und Männer, auf! Kauft nichts in jüdischen Geschäften und Warenhäusern! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten! Meidet jüdische Ärzte! Zeigt den Juden, daß sie nicht ungestraft Deutschland in seiner Ehre herabwürdigen und beschmutzen können! Wer gegen diese Aufforderung handelt, beweist damit, daß er auf Seite der Feinde Deutschlands steht. Es lebe der ehrwürdige Generalfeldmarschall aus dem großen Kriege, der Reichspräsident Paul von Hindenburg! Es lebe der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler! Es lebe das deutsche Volk und das heilige deutsche Vaterland! Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 200 ff. ...aus Sicht der Betroffenen... „Auch bei uns machten die Nazibanden die Straßen unsicher. So näherte sich der 1. April, der Tag des Judenboykotts. Bereits am frühen Morgen des Freitag sah man die SA mit ihren Transparenten durch die Stadt ziehen. ‚Die Juden sind unser Unglück‘. […] In den Vormittagsstunden begannen sich die Posten der Nazis vor die jüdischen Geschäfte zu stellen, und jeder Käufer wurde darauf aufmerksam gemacht, nicht bei Juden zu kaufen. Auch vor unserem Lokal postierten sich zwei junge Nazis und hinderten die Kunden am Eintritt. […] Und für dieses Volk hatten wir jungen Juden einst im Schützengraben gestanden und haben unser Blut vergossen, um das Land vor dem Feind zu beschützen. Gab es keinen Kameraden mehr aus dieser Zeit, den dieses Treiben anekelte? Da sah man sie auf der Straße vorübergehen, darunter gar viele, denen man Gutes erwiesen hatte. Sie hatten ein Lächeln auf dem Gesicht, das ihre heimtückische Freude verriet. […] Ich schämte mich, daß ich einst zu diesem Volk gehörte. Ich schämte mich über das Vertrauen, das ich so vielen geschenkt hatte, die sich nun als meine Feinde demaskierten. Plötzlich erschien mir auch die Straße fremd, ja die ganze Stadt war mir fremd geworden. […] Trotz alledem kamen auch noch an diesem Tage eine Anzahl Kunden zu mir, besonders Katholiken, und es war so mancher dabei, der mich nur aus Protest gegen das Treiben da draußen besuchte. Auch der Bürodirektor des Landrats kam, um, wie er so schön sagte, mir nur die Hand zu drücken. Als ich ihm dankerfüllt sagte, er möge meinetwegen nicht seine Stellung aufs Spiel setzen und an seine Familie denken, antwortete er voll Stolz: ‚Ich bin Parteimitglied Nr. 20 der Deutschnationalen Volkspartei; was soll mir passieren?‘ Der arme Idealist, er sollte bald gewahr werden, daß auch diese Partei nicht mehr gelten sollte. Aber ich war ihm von Herzen dankbar, denn in mir war es wund. […] Das Personal sah mich traurig an und fragte,ob es am nächsten Tage kommen solle. Ich verneinte […] die Leute gingen weg […]. In der Wohnung rüstete meine Frau zum Sabbat. Ich ging in die Synagoge wie viele andere Juden. Dort sah ich verzweifelte Gesichter […]. Wenig Trost gab mir das Gebet, und ebenso erschüttert ging ich nach Hause zur Frau und zu den Kindern. Und als ich dort, wie stets, im Kreise meiner Familie den Sabbat einweihte, als ich an die Stelle im Gebet kam, ‚der Du uns erwählt hast von allen anderen Völkern‘ und meine Kinder sah, die mich mit ihren unschuldigen und fragenden Augen anblickten, da war es mit meiner Fassung vorbei; da entlud sich in mir die Schwere des erlebten Tages, und ich brach zusammen, die letzten Worte nur noch stammelnd. Die Kinder wußten oder begriffen nicht, warum ich heftig weinte, aber ich wußte: Das war mein Abschied vom Deutschtum, meine innere Trennung vom gewesenen Vaterland – ein Begräbnis. Ich begrub 43 Jahre meines Lebens. Und wäre es nur der eine und einzige Tag solchen Erlebens gewesen, jetzt konnte ich kein Deutscher mehr sein.“ Monika Richarz (Hg.), Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780-1945, C. H. Beck, München 1989, S. 385 ff. ...und aus Sicht Unbeteiligter „[…] Man fragte mich, ob ich wüßte, daß das ein jüdisches Geschäft sei. Ich sagte ja, ich hätte aber etwas bestellt, und das wolle ich abholen. Es passierte mir nichts. Allerdings muß ich sagen, es war eine merkwürdige Atmosphäre, wenn man dann in das Geschäft kam. Man wurde so unglaublich zuvorkommend empfangen. Man fühlte eine Verpflichtung, nun unbedingt etwas zu kaufen, ob man etwas fand oder nicht. Es stellte sich eine gewisse Scheu ein, das muß ich bekennen. Ich ging hin, wenn ich glaubte, ich könnte etwas finden. Aber ich hatte Angst hineinzugehen, wenn ich keine konkreten Wünsche hatte; ich fürchtete mich hinauszugehen, ohne etwas zu kaufen. Herr Gräfenberg war so ungeheuer freundlich. Dahinter stand wohl Dankbarkeit, aber diese Dankbarkeit […] Das empfand man als unangemessen. Man wollte nicht als Held dastehen. Es sollte einfach nur eine natürliche Handlung sein. Das war es dann eben nicht mehr.“ Thomas Berger, Lebenssituationen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Hirschgraben-Verlag, Frankfurt a. M. 1985, S. 92 vom 7. April 1933 § 1. Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen […] § 2. Beamte, die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Ausbildung oder sonstige Eignung zu besitzen, sind aus dem Dienst zu entlassen. […] § 3. Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand […] zu versetzen. Soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen. Absatz 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem zuständigen Reichsminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland zulassen. § 4. Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. […] § 14. Gegen die auf Grund dieses Gesetzes in den Ruhestand versetzten oder entlassenen Beamten ist auch nach ihrer Versetzung in den Ruhestand oder nach ihrer Entlassung die Einleitung eines Dienststrafverfahrens wegen der während des Dienstverhältnisses begangenen Verfehlungen mit dem Ziele der Aberkennung des Ruhegeldes, der Hinterbliebenenversorgung, der Amtsbezeichnung, des Titels […] zulässig. […] Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 37 ff. Erklärung über „arische Abstammung“ Ich versichere hiermit pflichtgemäß: Mir sind trotz sorgfältiger Prüfung keine Umstände bekannt, die die Annahme rechtfertigen könnten, daß ich nicht arischer Abstammung sei oder daß einer meiner Eltern- oder Großelternteile zu irgendeiner Zeit der jüdischen Religion angehört habe. Ich bin mir bewußt, daß ich mich dienststrafrechtlicher Verfolgung mit dem Ziele auf Dienstentlassung aussetze, wenn diese Erklärung nicht der Wahrheit entspricht. Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 220 [...] Eine tiefe Zäsur in der Welt der Hochschulen hinterließ das Berufsbeamtengesetz vom April 1933. Denn die unverzüglich anlaufende „Säuberung“ der Professorenschaft von jüdischen und politisch mißliebigen Wissenschaftlern führte bereits bis Ende 1934 dazu, daß 15 Prozent des Lehrkörpers, 11 Prozent aller ordentlichen Professoren, insgesamt 1684 Hochschullehrer entlassen worden waren. Durchweg waren die Universitäten mehr betroffen als die Technischen Hochschulen, die 10,7 Prozent ihres Lehrkörpers verloren. Bis 1939 aber hat diese beispiellose Vertreibungsaktion mehr als ein Drittel, 39 Prozent, aller Professoren erfaßt. Die Zwangsausschaltung vollzog sich in drei Formen: als abrupte Pensionierung oder als Versetzung in den Ruhestand mit gekürzten Bezügen, meist aber in Gestalt der frist- und entschädigungslosen Entlassung. Bis zum Kriegsbeginn haben rd. 3000 Wissenschaftler, darunter 756 Professoren, Deutschland verlassen müssen. Längst ehe 1944 die ersten deutschen Flüchtlinge aus dem Osten vertrieben wurden, erlebte Deutschland seine von der eigenen Regierung initiierte Vertreibung stigmatisierter Spitzenkräfte. [...] Als Ergebnis dieses fatalen Aderlasses und der evidenten Stagnation seither schrumpfte der Lehrkörper aller Hochschulen (Professoren einschließlich der Lektoren und Lehrbeauftragten) von 1932 = 7984 auf 1939 = 7265 Wissenschaftler. Die Anzahl der ordentlichen Professoren (ohne reguläre Emeriti) ging von 2354 auf 2164 zurück. In der Jurisprudenz z.B. fiel ihre Zahl von 200 auf 156, in den Geisteswissenschaften von 402 auf 393, sogar in den Naturwissenschaften von 560 auf 522. Die protestlose Hinnahme aller Ungeheuerlichkeiten an der Alma Mater enthüllte eine bestürzende Gleichgültigkeit gegenüber dem Willkürschicksal enger Fachgenossen. Nicht selten verband sie sich auch noch mit der inhumanen Entschuldigung „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. [...] Zu besichtigen ist daher ein grenzenloses moralisches Debakel der Mehrheit, die nicht nur die Vertreibung ihrer Zunftgenossen hinnahm, sondern auch unverzichtbare wissenschaftliche Normen, ethische Prinzipien und den vielbeschworenen Korporationsgeist schnöde verriet. Ein vernichtenderes Urteil über diese politische Mentalität des Schweigens ist kaum denkbar. Dieselbe Feigheit zeigte sich, wenn es um neue Zumutungen von außen ging. Der bayerische Kultusminister Hans Schemm, ein „alter Kämpfer“, forderte 1933 von den Professoren: „Von jetzt ab kommt es für Sie nicht mehr darauf an, festzustellen, ob etwas wahr ist, sondern ob es im Sinn der nationalsozialistischen Revolution ist.“ Widerspruch wurde nicht laut. [...] In einer Bilanz, die der Heidelberger Statistikdozent Emil Gumbel zog – einst umstrittener Kritiker der politischen Morde in der Weimarer Republik, jetzt ins Exil vertrieben –, fiel das Urteil bitter, aber treffsicher aus: „Gegenüber diesem gewaltsamen Einbruch in ihr geistiges und materielles Leben haben die deutschen Professoren im Ganzen keinen Charakter gezeigt. Kein Wort des Protests gegen die Absetzung so vieler verdienter Lehrer wurde laut. Die Würde der akademischen Korporation zerflatterte. Die Idee der Universität zerging vor der Frage nach der Pensionsberechtigung.“[...] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 824 ff. „Eines hätte ich mir ja nie träumen lassen: daß ich noch einmal den ersten Mai feiern würde. Dieser erste Mai ist zum offiziellen Feiertag der deutschen Arbeit erklärt worden, folglich schulfrei! Das ist einer der genialsten Demagogenstreiche von Goebbels, über den sich die Sozialdemokraten schwarz ärgern werden. Denn natürlich wird unter den Nazis eine Maifeier von Stapel gelassen, wie sie während der Herrschaft der Sozialdemokraten nie annähernd zustande kam. Den Deutschnationalen ist diese Maifeier gar nicht recht.“ Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaats 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 249 vom 14. Juli 1933 § 1. In Deutschland besteht als einzige politische Partei die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. § 2.Wer es unternimmt, den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden, wird […] mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft […] Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 43 vom 1. Dezember 1933 § 1. Nach dem Sieg der Nationalsozialistischen Revolution ist die nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. § 2. Zur Gewährleistung engster Zusammenarbeit der Dienststellen der Partei und der SA. mit den öffentlichen Behörden werden der Stellvertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA. Mitglied der Reichsregierung. § 3. Den Mitgliedern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) als der führenden und bewegenden Kraft des nationalsozialistischen Staates obliegen erhöhte Pflichten gegenüber Führer, Volk und Staat. Sie unterstehen wegen Verletzung dieser Pflichten einer besonderen Partei- und SA.-Gerichtsbarkeit. Der Führer kann diese Bestimmungen auf die Mitglieder anderer Organisationen erstrecken. § 4. Als Pflichtverletzung gilt jede Handlung oder Unterlassung, die den Bestand, die Organisation, die Tätigkeit oder das Ansehen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angreift oder gefährdet, bei Mitgliedern der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) insbesondere jeder Verstoß gegen Zucht und Ordnung. […] § 8. Der Reichskanzler erläßt als Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und als Oberster SA.-Führer die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Vorschriften […] Walther Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1965, S. 61 f. am 12. November 1933 Karl Dürkefälden, geb. 1902, ein Maschinenbautechniker aus Hämelerwald bei Hannover, beschreibt in seinen Tagebuchaufzeichnungen auch die Auswirkungen der politischen Entwicklung von 1932 bis 1945 auf sein unmittelbares Lebensumfeld. Die letzte Reichstagswahl und den gleichzeitigen Volksentscheid gegen den Young-Plan erlebt er folgendermaßen: [...] Am 12. November 1933 war die letzte Reichstagswahl und der Volksentscheid. Die Regierung war aus dem Völkerbund ausgetreten und legte dem Volke die Frage vor, ob es diesen Schritt billige. Eine riesige Reklame machte die Regierung und die Partei. Täglich tausende von Wahlversammlungen, schrieb die Zeitung. Die Leute kriegten Propagandazettel ins Haus gebracht, die sollten sie an die Fenster kleben. „Stimme mit Ja“ stand darauf. Man hatte die Fenster tatsächlich ganz bunt gemacht in den Dörfern und Städten am Wahltage, auch Leute, die mit der Partei nicht auf gutem Fuße stehen. Als ich in Peine einkaufte, kriegte ich dieselben Zettel mit eingepackt. [...] Beim Volksentscheid hieß es: für Ehre, Freiheit und Gleichberechtigung, auch schrieben die Zeitungen: für Freiheit und Brot usw. Es drehte sich um den Austritt aus dem Völkerbund. Einen Krieg zöge das nicht nach, behauptete die Regierung, und die Fragen waren so gestellt, daß nur ein „Ja“ darauf folgen konnte. Trotzdem waren in Hämelerwald zwölf Nein-Stimmen und zwei ungültige. Auf dem Zettel für den Volksentscheid waren zwei Kreise, ja, nein. Auf dem Zettel für die Reichstagswahl war nur ein Kreis für die Ja-Stimme; es war nur eine Partei zugelassen. Als die Wahl vorüber war, hatte man in Hämelerwald nur zwei ungültige Stimmen; die andern sollten für die Partei gestimmt haben. Dann mußten ja meine Frau und ich die einzigen gewesen sein, die nicht für die Partei gestimmt hatten. Ich kannte aber mehr. Gerda machte mehrere Striche quer über den Zettel und ich einen Strich. Auf einem der Zettel hat aber „Nein“ gestanden, wie mir H. Schwenke, der bei dem Zählausschuß war, erklärte. Einige Tage später erzählte mir Willi Greve, daß vor der Wahl im „Hann[overschen] Anzeiger“ eine Notiz gestanden haben soll, wonach man alle Zettel, auf den[en] überhaupt kein Zeichen stände, nicht als ungültig, sondern als „Ja“ zählen wolle, außerdem alle, die irgendwie ein Zeichen hatte[n]. [Anmerkung: Ha (Hannoverscher Anzeiger)] vom 11. November, Stadtbeilage: „Der Wahlzettel vom 12. November“: „Eine einzige Liste wird ihm [dem Wähler] vorgelegt, und die einzige Entscheidung, die er nunmehr noch zu treffen hat, besteht lediglich darin, ob er gewillt ist, ihr sein Kreuz zu geben. Die klare Frage der Reichsregierung nach der Billigung ihrer Politik heischt auch eine klare Antwort. Sie kann nicht anders lauten als: Ja! Die Einheitsliste zur Reichstagswahl stellt an den Wähler eine gleich klare Frage, ob er den auf dieser offiziellen Liste angegebenen Kandidaten seine Stimme geben will. Auch hier ist die Antwort nicht schwer. Das Kreuz gehört in das offene Feld, das auf gleicher Höhe mit dem Namen Adolf Hitlers steht“.] Was sollte man da noch mit dem Zettel machen? Werger sagte mir, er wäre mit seiner Frau des morgens zur Wahl gegangen, da hätte man ihm gesagt: „Mal‘ Dein Kreuz man gleich hier hin, das Ding dahinten ist für Leute, die nicht zeigen mögen, was sie gewählt haben“. Er mußte also wohl oder übel für die Partei stimmen. A. Grebenstein wählte in Hannover. Er behauptet, da sei der Schutz nur so gewesen, daß er hätte sehen können, was die Leute vor ihm gewählt haben. Zu alten Frauen, die nicht kommen konnten [...] oder wollten, ging man zu Zweien und ließ sich die „Ja“ auf die Zettel machen [...]. Das Peiner Wahlverhältnis war etwa wie in Hämelerwald, mehr Stimmen für die Partei als für den Austritt aus dem Völkerbund. 93 % ungefähr stimmten für die Partei. Wenn die Zählung mit rechten Dingen zugegangen wäre, betrügen die Parteistimmen höchstens 80 % trotz aller Reklame. Es haben sich jetzt wohl schon viele mit der neuen Richtung ausgesöhnt. [...] Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), „Schreiben, wie es wirklich war ...“. Die Aufzeichnungen Karl Dürkefäldens aus der Zeit des Nationalsozialismus, Hannover 1985, S. 75 ff.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-26T00:00:00
2021-03-17T00:00:00
2022-01-26T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-nationalsozialismus/328591/machteroberung/
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 zeigte sich, dass die Nationalsozialisten das Prinzip der parlamentarischen Regierung generell ablehnten. Den Reichstagsbrand nutzten sie, um sich mit dem Ermächtigungsgesetz vom 2
[ "Nationalsozialimsus", "Machteroberung", "Machtergreifung", "Reichstagsbrand", "Deutschland" ]
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EU Internal Migration before and during the Economic and Financial Crisis – An Overview | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
Introduction: Migration in the EU The principle of freedom of movement for employees belongs to the four basic freedoms of the European Union (EU). According to this, every citizen of an EU member state has the right to live and work in another member state. European Union citizenship , implemented in 1992 by the Treaty of Maastricht, ensures each citizen additional rights as well. For example citizens of the EU must be treated the same as nationals in the filling of job vacancies (nationals take no precedence over other EU-state citizens). Furthermore, they are allowed to participate in municipal elections in the host country and therefore have the right to participate politically. Spotlight: What Do EU Citizens Think of the Freedom of Mobility? According to the Eurobarometer in spring 2012, EU citizens consider the freedom of mobility as the second most important achievement of the EU. Only the conservation of peace between the individual member states was given higher value. Source: European Commission 2012 The provisions easing mobility have not, however, led to a much higher occurrence of mobility within the European Union. Only about two percent of EU citizens live and work in another EU member state. This figure has remained stable for about 30 years, on which even the EU eastward enlargement has had little effect. Abbreviations – What Do they Stand for? EU-15: all states that belonged to the EU before the 2004 expansion: Austria, Belgium, Denmark, Germany, Finland, France, Greece, Italy, Ireland, Luxemburg, the Netherlands, Portugal, Sweden, Spain and the United Kingdom EU-10: all states that acceded into the EU in 2004: Estonia, Latvia, Lithuania, Malta, Poland, Slovakia, Slovenia, the Czech Republic, Hungary and Cyprus EU-8: all EU-10 states except Malta and Cyprus EU-2: Bulgaria and Romania (accession: 2007) EU-12 : EU-10 + EU-2 EU-25: EU-15 + EU-10 EU-27: all current EU member states (as of January 2013) EU Internal Migration after the 2004 and 2007 Expansions In light of the largest expansion in the history of the European Union in 2004, in which eight of the ten countries that acceded into the community were Eastern European states (EU-8), a large wave of immigration into the heart of Europe driven by economic disparities was feared. Therefore most of the EU-15 states established temporary provisions that initially restricted the freedom of mobility for citizens of the EU-8 states. Only Ireland, Sweden, and the United Kingdom granted full freedom of movement. At the end of April 2011 the period of transition in Austria and Germany that were the last countries to hold on to the restrictions on the freedom of movement for EU-8 citizens expired. In the face of Romania and Bulgaria’s accession in 2007 into the EU, many EU states again initially restricted the freedom of movement of citizens of these states. The transition periods for the EU-2 in all of the EU-25 states expire at the latest by the end of 2013. Spotlight: Facts on the Immigrant Population in the EU In 2011, 33.3 million foreigners lived in the EU-27, of which 20.5 million (about 2/3) were third country citizens.More than 75% of foreigners living in the EU are spread over only five countries: Germany, Spain, Italy, the United Kingdom, and France (as of 1 January 2011).In Luxemburg, Cyprus, Latvia, Estonia, Spain, Austria and Belgium the percentage of foreigners in the total population was more than 10% (as of 1 January 2011) (compared to Germany: 8.8%).Romanian and Turkish citizens, with 2.3 million each, make up the largest groups of foreigners in the EU, followed by Moroccans (1.9 m) and the Polish (1.6 m).78% of Romanians that live in other EU member states live in either Italy (42%) or Spain (36%), 75% of Turks living in the EU reside in Germany, and 50% of all Portuguese migrants live in France (as of 1 January 2011). Source: Vasileva 2012 The EU eastward expansion has led to an increase of labor mobility inside the European Union. In 2003, 1.6 million citizens from the EU-8 and the EU-2 lived in fifteen of the “old” member states. In 2009 there were 4.8 million (Fic et al. 2011). However, the migration from these countries is scattered unevenly amongst the EU-15. Ireland and Great Britain received 70% of the immigrants from the EU-8 states (Kahanec et al. 2009), while the majority (ca. 80%) of Romanian and Bulgarian migrants went to Spain and Italy. Spotlight: Internal Migration and Identification with the EU According to results of the PIONEUR project (duration: 2003-2006), EU citizens who are mobile within the EU feel more strongly connected with the EU than those who are not mobile. The so-called EU-Movers consequently contribute to European integration. Source: Externer Link: http://www.obets.ua.es/pioneur/difusion/PioneurExecutiveSummary.pdf (accessed 1-11-2013) In view of the immigration from the eight Eastern European new member states (EU-8), the temporary provisions adopted by a majority of the EU-15 states seem to have had an effect on the direction of migration flows inside the EU. This has become clear in the examples of Germany (restriction on freedom of movement until the end of April 2011) and the United Kingdom (no temporary provisions). In 2003 more than 50% of those EU-8 citizens that had migrated to an EU-15 country lived in the Federal Republic of Germany. By 2009 the figure was just at 30%. In this same time period the percentage in the United Kingdom rose from 15% (2003) to 35% (2009), thereby developing into a leading country of destination in the EU-15 for migrants from the EU-8 (Fic et al. 2011). Polish citizens made up the largest immigrant group (cf. Breford’s contributions). The temporary provisions alone, however, cannot explain the change in the direction of internal European migration after the EU expansion. Take Sweden as a case in point: Although Sweden likewise allowed freedom of movement for the citizens of the new member states from the very beginning, immigration from these states rose only moderately. Spotlight: EU Internal Migrants' Motives to Migrate Sixty percent of migrants from the new member states emigrate for principally economic reasons, while this is only the case for 40% of migrants from the EU-15, whose migration is more strongly motivated by other factors such as love relationships, the desire for autonomy and the search for a fulfilling lifestyle (lifestyle migration). Source: Bonin et al. 2008; European Commission 2010 Effects of the Economic and Debt Crises on EU Internal Migration Brief Outline of the World Economic Crisis The global economic and debt crises began in 2007 with the collapse of the speculative and inflated real estate market in the USA. The bursting of the real estate bubble brought the banking sector into distress because many credit users could not repay their loan debts. The financial and credit crisis spread quickly to other countries. Because the banks restricted the allocation of loans, many businesses hence fell into financial difficulties. Investments had to be deferred, numerous businesses filed bankruptcy, and overall demand and production fell, while simultaneously unemployment rose (Beck/Wienert 2009). In many countries of the world the financial crisis caused a recession. The national debt of many countries rose as they had invested large capital sums to save the banks and to stimulate the economy. From the World Economic Crisis to the European Financial Crisis Each European state was affected by the economic crisis to a different extent. In Spain the real estate sector collapsed. The UK’s economic performance sank due to its high dependency on the financial sector. The Baltic States fell into a deep recession, whereas Poland’s economy continued to grow during the crisis. While some countries, including Germany, recovered quickly from the economic crisis, in the autumn of 2009 serious budget problems began showing themselves in some countries in the euro area which had already partially existed before the onset of the global economic and financial crisis and were then further exacerbated by it. It was thus that Ireland overextended itself when saving its banks and had to be bailed out by the euro rescue package (EFSF) which was enacted in June 2010. Currently the so-called PIGS states (Portugal, Italy, Greece, and Spain) in the south of Europe are being hit by large budget deficits and even to some extent by a threat of national bankruptcy. The most publically visible aspect of the current crisis is the high unemployment, which mainly affects young people and immigrants (primarily from third countries). Unemployment in the EU (September 2012) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Youth Unemployment in the EU (September 2012) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Immigration from the New Member States The global economic crisis and the financial crisis in the euro area have affected migratory movements inside the EU. According to OECD data, internal European migration based on EU freedom of movement between 2007 and 2010 decreased by more than 470,000 people (OECD 2012). Migration from countries that acceded into the EU in 2004 and 2007 into the EU-15 slowed significantly. A strong return migration to countries of origin especially stands out in 2009 (European Commission 2011). The number of immigrants from the EU-8 in the United Kingdom fell slightly, and in Ireland even heavily (cf. Breford’s contributions). Between 2006 and 2010 Spain showed a significant decline in the Bulgarian and Romanian immigrant population. In 2007, 44% of EU-2 citizens that had immigrated into the EU-15 lived in Spain, and in 2010 there were still 37%. Because the total population of the EU-2 population living in the EU-15 has not diminished in this time period, it can be assumed that this decrease is due to secondary migration, meaning migrants left Spain to migrate into other countries. In fact, Italy demonstrated an increase in its EU-2 population in the same time period, from 32% to 37% (European Commission 2011). Other countries like Germany, France and the United Kingdom also registered increases in EU-2 populations. The economic and financial crisis has shown itself to be a contributor to the change in the destination choice of migrants, the large part of EU-2 migrants living in Spain and Italy notwithstanding. Percentage of Female Immigrants Is Growing The economic and financial crisis has also had an effect on the gender makeup of the migrant population in some countries. The share of women in the total foreign workforce rose in Spain, Italy and Ireland. This development came about because sectors in which predominantly men are employed, such as the building industry, were particularly hit by the crisis. However, female-dominated employment areas, like the nursing sector, continue to have a high demand for foreign workers. Source: IOM 2010 Southern European Immigration Several countries in the heart of Europe, including the United Kingdom and Germany (cf. contribution by Engler/Hanewinkel), have shown a current increase in immigration from Southern Europe. In particular, young people from Greece, Spain, and Portugal who cannot find work in their home countries are immigrating (cf. contributions by Engling and González-Martín). In media reports they are already being referred to as the “new guest workers” (Völker 2012). In contrast to the Southern European labor force that were recruited into many Central and Northern European countries from the 1950s to 1970s, however, these “new guest workers” are predominantly highly qualified and already have experience to some extent in inner-European mobility (e.g. through stays abroad within the framework of the EU-sponsored ERASMUS program). Their immigration is perceived positively in states like Germany which struggle with a lack of qualified employees in several regions and branches. Future Prospects EU internal migration offers the chance to balance out the disequilibrium in the labor markets of the individual member states (Bräuninger 2011). Businesses that are searching for specialists profit from immigration. At the same time emigration out of the crisis-shaken PIGS states contributes to the abatement of pressure on the labor markets of these countries. This emigration is observed with concern because it is feared that the flight of young, well qualified people (brain drain) could negatively influence economic development in the long term. How EU internal migration will develop in upcoming years depends on whether the economic disparities inside the EU are balanced out or if they will continue to persist. Translation into English: Jocelyn Storm References Beck, Hanno/Wienert, Helmut (2009), Anatomie der Weltwirtschaftskrise: Ursachen und Schuldige. APuZ, No. 20 (11 May). Bräuninger, Dieter (2011), Arbeitskräftemobilität in der Eurozone. Deutsche Bank Research, Beiträge zur europäischen Integration, EU-Monitor, No. 85, 10 August. European Commission (2012), European Citizenship. Standard Eurobarometer 77, Spring. Externer Link: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb77/eb77_citizen_en.pdf (accessed 1-11-2013) European Commission (2010), Geographical and Labour Market Mobility, Special Eurobarometer 337. Externer Link: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_337_en.pdf (accessed 1-17-2013). European Commission (2011), Report from the Commission to the Council on the Functioning of the Transitional Arrangements on Free Movement of Workers from Bulgaria and Rumania, COM(2011) 729 final, Brussels. Bonin, Holger et al. (2008), Geographic Mobility in the European Union: Optimising its Economic and Social Benefits, IZA Research Reports, No. 19 (July). Fic, Tatiana et al. (2011), Labour Mobility within the EU – The Impact of the Enlargement and Transitional Arrangements, NIESR Discussion Paper, No. 379. Galgóczi, Béla/Leschke, Janine/Watt, Andrew (2011), Intra-EU Labour Migration: Flows, Effects and Policy Responses, Working Paper 2009.03, European Trade Union Institute, Brussels. IOM (2010), Migration and the Economic Crisis in the European Union: Implications for Policy, Brussels. (Authors: Jobst Koehler et al.) Kahanec, Martin/Zaiceva, Anzelika/Zimmermann, Klaus F. (2009), Lessons from Migration after EU Enlargement, IZA Discussion Papers, No. 4230. Koikkalainen, Saara (2011), Free Movement in Europe: Past and Present, Migration Information Source. Externer Link: http://www.migrationinformation.org/Feature/display.cfm?ID=836 (accessed 1-17-2013). OECD (2012), International Migration Outlook 2012. Externer Link: http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/international-migration-outlook-2012_migr_outlook-2012-en (accessed 1-11-2013) Otte, Max (2009), Die Finanzkrise und das Versagen der modernen Ökonomie, APuZ, No. 52 (21 December). Interner Link: http://www.bpb.de/apuz/31506/die-finanzkrise-und-das-versagen-der-modernen-oekonomie (accessed 2-11-2013) Recchi, Ettore (2006), Spatial and Social Mobility in the EU. PIONEUR Final Conference, March. Externer Link: http://www.obets.ua.es/pioneur/bajaarchivo_public.php?iden=358 (accessed 1-11-2013) Vasileva, Katya (2012), Nearly Two-Thirds of the Foreigners Living in EU Member States Are Citizens of Countries outside the EU-27, Eurostat Statistics in focus, No. 31. Völker, Eva (2012), Die neuen Gastarbeiter. Junge Südeuropäer in Niedersachsen, NDR [North German Broadcasting], 10-25-2012. This text is part of the policy brief on Interner Link: "Does the Crisis Make People Move?". According to the Eurobarometer in spring 2012, EU citizens consider the freedom of mobility as the second most important achievement of the EU. Only the conservation of peace between the individual member states was given higher value. Source: European Commission 2012 EU-15: all states that belonged to the EU before the 2004 expansion: Austria, Belgium, Denmark, Germany, Finland, France, Greece, Italy, Ireland, Luxemburg, the Netherlands, Portugal, Sweden, Spain and the United Kingdom EU-10: all states that acceded into the EU in 2004: Estonia, Latvia, Lithuania, Malta, Poland, Slovakia, Slovenia, the Czech Republic, Hungary and Cyprus EU-8: all EU-10 states except Malta and Cyprus EU-2: Bulgaria and Romania (accession: 2007) EU-12 : EU-10 + EU-2 EU-25: EU-15 + EU-10 EU-27: all current EU member states (as of January 2013) In 2011, 33.3 million foreigners lived in the EU-27, of which 20.5 million (about 2/3) were third country citizens.More than 75% of foreigners living in the EU are spread over only five countries: Germany, Spain, Italy, the United Kingdom, and France (as of 1 January 2011).In Luxemburg, Cyprus, Latvia, Estonia, Spain, Austria and Belgium the percentage of foreigners in the total population was more than 10% (as of 1 January 2011) (compared to Germany: 8.8%).Romanian and Turkish citizens, with 2.3 million each, make up the largest groups of foreigners in the EU, followed by Moroccans (1.9 m) and the Polish (1.6 m).78% of Romanians that live in other EU member states live in either Italy (42%) or Spain (36%), 75% of Turks living in the EU reside in Germany, and 50% of all Portuguese migrants live in France (as of 1 January 2011). Source: Vasileva 2012 According to results of the PIONEUR project (duration: 2003-2006), EU citizens who are mobile within the EU feel more strongly connected with the EU than those who are not mobile. The so-called EU-Movers consequently contribute to European integration. Source: Externer Link: http://www.obets.ua.es/pioneur/difusion/PioneurExecutiveSummary.pdf (accessed 1-11-2013) Sixty percent of migrants from the new member states emigrate for principally economic reasons, while this is only the case for 40% of migrants from the EU-15, whose migration is more strongly motivated by other factors such as love relationships, the desire for autonomy and the search for a fulfilling lifestyle (lifestyle migration). Source: Bonin et al. 2008; European Commission 2010 Unemployment in the EU (September 2012) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Youth Unemployment in the EU (September 2012) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ The economic and financial crisis has also had an effect on the gender makeup of the migrant population in some countries. The share of women in the total foreign workforce rose in Spain, Italy and Ireland. This development came about because sectors in which predominantly men are employed, such as the building industry, were particularly hit by the crisis. However, female-dominated employment areas, like the nursing sector, continue to have a high demand for foreign workers. Source: IOM 2010 For a summary of the freedom of movement provisions according to Directive 2004/38/EC see Externer Link: http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/citizenship_of_the_union/l33152_en.htm (accessed 2-24-2013). For more detailed information see Externer Link: http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/citizenship_of_the_union/index_en.htm (accessed 2-24-2013). The euro rescue package EFSF (European Financial Stability Facility) was superseded by the European Stability Mechanism – ESM – in 2012.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-03-22T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/157035/eu-internal-migration-before-and-during-the-economic-and-financial-crisis-an-overview/
The principle of freedom of movement for employees belongs to the four basic freedoms of the European Union (EU). According to this, every citizen of an EU member state has the right to live and work in another member state. European Union citizensh
[ "EU Internal Migration", "Freedom of Mobility", "Southern European Immigration", "EU", "European Union" ]
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Editorial | Bundeswehr | bpb.de
Der Bundeswehr ist seit ihrer Gründung 1955 auf überzeugende Weise die Ablösung vom düsteren Erbe der Wehrmacht gelungen. Eine Ausdehnung des Auftrags zur unmittelbaren Landesverteidigung war indes bis zum Ende der Blockkonfrontation 1989/91 nicht vorstellbar. Bis heute ist die Rolle einer "Armee im Einsatz" in der Öffentlichkeit kein Thema. Es herrscht freundliches Desinteresse; Zustimmung erfahren die Streitkräfte, wenn es zu Hilfseinsätzen in Deutschland kommt, etwa bei der Oderflut im Sommer 2002. Doch welche Aufgaben über die des Technischen Hilfswerks hinaus kann und soll die Bundeswehr erfüllen? Seit Anfang der 1990er Jahre sind deutsche Soldatinnen und Soldaten in verschiedenen NATO-, UNO- oder EU-Missionen auf dem Balkan, am Horn von Afrika, in Kambodscha, im Nahen Osten oder in Afghanistan im Einsatz gewesen. Spätestens die vom dortigen Bundeswehr-Kommando veranlasste Bombardierung zweier offenbar von Taliban entführter Tanklastwagen mit zahlreichen Todesopfern entfachte Anfang September die Debatte über den Afghanistan-Einsatz erneut. Am Hindukusch geht es um Terrorbekämpfung und den Aufbau demokratischer Strukturen - doch wie kann der Militäreinsatz erfolgreich beendet werden? Dem Primat der Politik über das Militär entspricht es, diese Frage öffentlich zu diskutieren. Zur politischen Bildung in den Streitkräften - integraler Bestandteil der "Inneren Führung" - gehört die Begründung des Wehrdienstes und der Auslandseinsätze. Die Auslandsmissionen haben neue Fragen zur Zukunft der Wehrpflicht (und des Zivildienstes) aufgeworfen. Eine Debatte über sicherheitspolitische Strategien und Interessen dürfen vor allem die Soldaten (und ihre Angehörigen) erwarten. Sie riskieren bei den Auslandseinsätzen ihr Leben, und viele kehren traumatisiert zurück.
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Golz, Hans-Georg
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31578/editorial/
Dem Primat der Politik über das Militär entspricht es, Auslandseinsätze der Bundeswehr öffentlich zu diskutieren. Eine solche Debatte dürfen vor allem die Soldaten erwarten.
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Erweiterungen und Vertiefungen der europäischen Integration | Europäische Union | bpb.de
Zollunion und Westerweiterung 1973 kam es zur ersten Vergrößerung der Europäischen Gemeinschaft, der Westerweiterung. Neben Großbritannien traten auch Irland und Dänemark bei. Die norwegische Regierung wollte ihr Land ebenfalls in die europäische Integration führen. Allerdings wurde der ausgehandelte und unterschriebene Beitrittsvertrag von der Bevölkerung abgelehnt - 1994 geschah dieses ein weiteres Mal. Bis zur ersten Erweiterung hatten die Europäischen Gemeinschaftenschon einige Entwicklungsschritte hinter sich gebracht. Als erstes hatte sich die EWG Schaffung einer Zollunion vorgenommen, mit deren Realisierung man 1959 begann. Dieses Ziel, für das man sich zehn Jahre Zeit lassen wollte, wurde 1968, erreicht. Zollunion hieß: Freier Handel im Inneren der Gemeinschaft und gemeinsame Außenzölle. 1967 wurden die drei bis dahin selbstständigen Gemeinschaften zur Europäischen Gemeinschaft (EG) zusammengelegt und mit gemeinsamen Institutionen ausgestattet. Seitdem gibt es die Europäische Kommission, den Rat der Europäischen Union und ein Europäisches Parlament. Der EGKS-Vertrag ("Montanunion") war übrigens der einzige, der zeitlich befristet war. Er hatte eine Laufzeit von 50 Jahren und endete 2002. Seine Regelungen wurden in den EG-Vertrag übernommen, der die Bestimmungen für EWG und EAG zusammenfasste. Seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags 2009 ist das Vertragswerk neu strukturiert und besteht aus dem EU-Vertrag (EUV) sowie dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Als erste gemeinschaftliche Politik wurde die Agrarpolitik entwickelt, was mit den Hungererfahrungen des Krieges und der Nachkriegszeit genauso zu tun hatte wie mit der Bedeutung, die der Landwirtschaft in den EG-Ländern nach wie vor zukam, vor allem in Frankreich. Krise und Süderweiterung Nach der Westerweiterung 1973 kam die EG ein wenig in die Sinnkrise. Man wusste nicht so recht, wie es mit der europäischen Integration weitergehen sollte. Dies erklärt sich daraus, dass es für die EG keine Blaupause gab, die die weiteren Entwicklungsschritte vorzeichnete, sondern dass die Gemeinschaft sich in einer Weise entwickelte und bis heute entwickelt, die "Methode Monnet" genannt wird. Jean Monnet (1888 - 1979) war einer der Gründer und Vordenker der europäischen Integration und stand von 1952 bis 1954 in der Montanunion der Hohen Behörde vor, die später zur Europäischen Kommission wurde. Mit der Monnet-Methode ist gemeint: Die EU entwickelt sich immer dort weiter, wo es gerade möglich ist und wo man auf Herausforderungen reagieren muss. Eine neue Aufgabe stellte sich der Gemeinschaft in den 1970er-Jahren durch die Entwicklungen in Südeuropa. Griechenland, Portugal und Spanien hatten - durch eine Revolution oder schrittweise - ihre Diktaturen überwunden, waren aber von politischer und wirtschaftlicher Stabilität weit entfernt. Die Europäische Gemeinschaft sah eine wichtige Aufgabe darin, sie in das europäische Geflecht einzubinden, was sie durch die Süderweiterung der Jahre 1981 (Beitritt Griechenlands) bzw. 1986 (Beitritt Spaniens und Portugals) tat. Binnenmarkt, Ende des Ost-West-Konfliktes und Norderweiterung Neuen Schwung erhielt die europäische Integration durch die Einheitliche Europäische Akte, eine Revision der Gründungsverträge, die 1987 in Kraft trat. Mit ihr wurde der Europäische Binnenmarkt geschaffen, der seit 1993 offiziell besteht und bis heute schrittweise ausgeweitet wurde. Der Binnenmarkt ist gegenüber einer Zollunion ein wesentlicher Schritt zu mehr Gemeinsamkeit. In ihm werden die vier Freiheiten verwirklicht. Kurz gesagt: Jeder kann innerhalb der Gemeinschaft einkaufen, Dienstleistungen beziehen oder anbieten, arbeiten und investieren, wo er will. Durch das Binnenmarktprojekt, das wesentlich auf den damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, zurückgeht, wurde die Europäische Gemeinschaft enger zusammengeführt. Noch während die Europäische Gemeinschaft damit beschäftigt war, die Voraussetzungen für die Schaffung des Binnenmarkts herzustellen, änderten sich die politischen Verhältnisse in Europa grundlegend. In Polen zwang die Solidarnosc-Bewegung die herrschende kommunistische Partei in die Knie und setztefür den Juni 1989 Wahlen durch, die zwar noch nicht vollständig demokratischen Standards entsprachen, aber zum ersten Mal eine Opposition ins Parlament brachten.Im Mai 1989 zerschnitten österreichische und ungarische Politiker öffentlichkeitswirksam den Eisernen Vorhang, in diesem Fall den Metallzaun an der Grenze der beiden Länder zueinander. Daraufhin setzte eine Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn in den Westen ein. Am 9. November 1989 fiel dann in Berlin die Mauer, die die Stadt und die beiden deutschen Staaten seit 1961 getrennt hatte. Die baltischen Staaten, bislang gegen ihren Willen Teil der Sowjetunion, erklärten 1990 ihre Unabhängigkeit und widerstanden Anfang 1991 einem Versuch der Sowjetunion, das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen. Im Dezember 1991 schließlich löste sich die Sowjetunion auf. Die nunmehr selbstständigen Staaten bildeten die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die jedoch nicht mehr war als ein Auffangbecken, um die unmittelbaren Transformationsfolgen abzufedern. Die baltischen Staaten gehörten der GUS nie an, sie wussten, wohin sie wollten: in die NATO und in die EU. Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts war auch der Weg für die bislang neutralen Staaten - Österreich, Finnland und Schweden - in die Gemeinschaft frei. Ihr Beitritt 1995 wird als Norderweiterung bezeichnet. Währungsunion und Osterweiterung Bereits 1993 war der Maastrichter Vertrag in Kraft getreten. Er war nach der Einheitlichen Europäischen Akte die zweite Reform der Gründungsverträge. Das Wichtigste, was dieser Vertrag regelt, ist sicherlich die Währungsunion, also die Einführung des Euro, die dann 1999 Wirklichkeit wurde. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde auch die Europäische Union geschaffen: als das gemeinsame Dach für die Europäische Gemeinschaft, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die ebenfalls durch Maastricht ins Leben gerufen wurde, sowie die Rechts- und Innenpolitik der Union. 2009 sind diese sogenannten drei Säulen durch den Lissabonner Vertrag genauso wie die Europäischen Gemeinschaften in der Europäischen Union aufgegangen. Mitte der 1990er-Jahre bestand die Europäische Union aus 15 Staaten, bildete einen Binnenmarkt, entwickelte eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und nahm Kurs auf eine Gemeinschaftswährung. Aber die nächste große Herausforderung stand ihr bereits bevor: Viele europäische Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, der Vorherrschaft der Sowjetunion entronnen, strebten die Mitgliedschaft in der EU an. Die Europäische Union, ursprünglich Europäische Gemeinschaft, war immer auf das gesamte Europa angelegt. Deshalb war es für die EU auch keine Frage, mit der neuen Situation entsprechend ihren Grundsätzen umzugehen. Sie signalisierte den mittel- und osteuropäischen Staaten, dass sie willkommen seien, und legte Bewertungsmaßstäbe fest, an denen die Kandidaten sich messen lassen mussten. Da der entsprechende Beschluss des Europäischen Rates 1993 in der dänischen Hauptstadt gefällt wurde, spricht man seitdem von den Kopenhagener Kriterien. Sie legen fest, dass ein Staat nur in die EU aufgenommen werden kann, wenn er rechtsstaatlich und demokratisch verfasst ist, wenn seine Wirtschaftsordnung marktwirtschaftlich und in der Lage ist, dem Druck der EU-Marktkräfte stand zu halten, und wenn darüber hinaus die Bereitschaft und Fähigkeit besteht, das Gemeinschaftsrecht der EU (den sogenannten Acquis Communautaire) zu übernehmen und anzuwenden. Die Voraussetzung, überhaupt Verhandlungen über den Beitritt aufzunehmen, ist die Erfüllung des politischen Kriteriums: Mit einem Land, das nicht eindeutig demokratisch ist, redet die EU nicht über eine eventuelle Mitgliedschaft.In den Verhandlungen geht es ausschließlich um die Frage, wie schnell die Regelungen akzeptiert und implementiert werden. Es wird lediglich über Übergangszeiten verhandelt, nicht über die Substanz der Verträge selbst. 1997 nahm die EU mit sechs Staaten (Polen, Tschechien, Estland, Ungarn, Slowenien und Zypern) Gespräche auf, 1999 mit sechs weiteren Ländern (Slowakei, Lettland, Litauen, Malta, Bulgarien und Rumänien). Im Jahr 2004 kam es dann zur großen Osterweiterung, alle Kandidaten wurden in die EU aufgenommen. Lediglich bei Rumänien und Bulgarien verzögerte sich der Beitritt noch bis 2007. 2013 setzte sich der Erweiterungsprozess durch die Aufnahme Kroatiens fort. Zukünftige Erweiterungen Begonnen hatten die Verhandlungen mit Kroatien im Jahr 2005, genau wie die Gespräche mit der Türkei, die sich allerdings schwierig und zäh gestalten. Island, das der Europäischen Union schon durch den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sowie die Zugehörigkeit zur Schengen-Zone verbunden ist, führte Gespräche über seine Mitgliedschaft, hat diese jedoch nach einem Regierungswechsel 2013 ausgesetzt und will sie 2014 vollständig abbrechen. Die Republik Mazedonien ist offiziell Kandidat auf die Mitgliedschaft, allerdings wird über den Beitritt noch nicht verhandelt. Griechenland, das einen bilateralen Streit mit Mazedonien über dessen Staatsnamen führt, hat die Aufnahme der Gespräche bislang blockiert. Mit Montenegro und Serbien hingegen haben die Verhandlungen begonnen. Auch Albanien hat seine Mitgliedschaft bereits beantragt. Grundsätzlich hat das Land - genau wie Bosnien-Herzegowina - eine Beitrittsperspektive, die EU spricht daher von den "potenziellen Kandidaten". Dies gilt im Prinzip auch für Kosovo, das allerdings bislang von fünf EU-Staaten völkerrechtlich nicht anerkannt worden ist. Darüber hinaus haben weitere Staaten, vor allem die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien, Interesse an einer EU-Mitgliedschaft geäußert - allerdings ohne sich auf Beitrittszusagen der EU berufen zu können.
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Eckart D. Stratenschulte
2021-06-23T00:00:00
2011-11-27T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europaeische-union/dossier-europaeische-union/42992/erweiterungen-und-vertiefungen-der-europaeischen-integration/
Noch Mitte der 1990er-Jahre bestand die EU aus 15 Staaten, heute sind es 28. Nach den Kopenhagener Kriterien sind Rechtsstaatlichkeit, Demokratie sowie eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung Grundvoraussetzungen für Beitrittskandidaten.
[ "europäische Union", "Europa", "Geschichte", "Integration", "Zollunion", "EU-Erweiterung", "Währungsunion" ]
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Die Treuhand und die Privatisierung der DDR-Presse | Das letzte Jahr der DDR | bpb.de
Am 12. Februar 1990 forderte Wolfgang Ullmann, Mitglied des Zentralen Runden Tisches, die Ernennung einer treuhänderischen Anstalt zur Wahrung der Rechte der Bevölkerung bei der Umwandlung des DDR-Volkseigentums in Privateigentum. Das DDR-Volkseigentum sollte "zugunsten der Bürgerinnen und Bürger der DDR" privatisiert werden, damit diese ihren Teil in "den vielfältigen Formen der Kapitalbeteiligung im Sinne der Marktwirtschaft" erhielten. Ein Teil dieses Volkseigentums war das Zeitungsverlagswesen, das im November 1989 in der DDR stark konzentriert war. In diesem Beitrag beleuchte ich die Rolle der Treuhandanstalt (kurz Treuhand) bei der Privatisierung des DDR-Pressewesens vom Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 bis zur Privatisierung der großen ehemaligen SED-Bezirkszeitungen im April 1991 und danach. In dieser Zeit wurden nicht, wie einst als DDR-Reformziel gedacht, ehemalige SED-Zeitungsmonopole aufgespalten, sondern von finanzstarken westdeutschen Verlagen größtenteils weitergeführt. Bereits 1992 schlussfolgerte der Medienwissenschaftler Walter Mahle, die Gliederung des Pressemarkts in den neuen Bundesländern sei "den Grenzziehungen der SED nachgebildet (…) natürlich nicht aus politischen Gründen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen". Monopole bestünden weiter. Die "Leidtragenden waren", so Gottfried Müller, Minister für Medienpolitik der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière, "kleinere Blätter und vor allem auch die Lokalpresse", sie gingen bankrott. Größter Verwaltungsapparat Deutschlands Am 1. März 1990 folgte unter der Regierung Hans Modrow der Beschluss zur Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums. Darüber hinaus sollten Volkseigene Betriebe (VEB) in Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) umgewandelt werden. Modrow zufolge war das Ziel, die vorhandenen DDR-Wirtschaftsgüter in ihrer Substanz zu bewahren, vor kapriziösen Übernahmen zu schützen und Betrieben zu ermöglichen, sich bei Abschluss von Partnerschaftsvereinbarungen auf die neuen Bedingungen der privaten Marktwirtschaft einzustellen. Nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 wurde Lothar de Maizière für das konservative Bündnis Allianz für Deutschland offiziell erster Mann im Staat, und er führte den Kurs weiter. Der Plan: für den Privatisierungsprozess Wettbewerbsrichtlinien mittels eines Gesetzes ausarbeiten und umsetzen. Das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) wurde am 17. Juni beschlossen. Nach diesem fiel das gesamte DDR-Volkseigentum ab dem 1. Juli unter das Treuhandgesetz. Bis zum 1. August sollten alle Betriebe in GmbHs umgewandelt werden, die dann im Eigentum der Treuhand standen. Darunter fielen zunächst 8.500 Betriebe mit rund vier Millionen Beschäftigten. Nach Einschätzung des damaligen Treuhand-Direktors und ehemaligen Leiters des Stahlkonzerns Hoesch, Detlev Rohwedder, war "der ganze Ramsch 600 Milliarden D-Mark wert". Schon im August 1990 wies Günter Nooke, Mitglied im Verwaltungsrat der Treuhand und Vertreter der DDR-Opposition, auf Probleme hin, die sich der Treuhand stellten: Die benötigten Daten, um die Sanierungs- und Marktfähigkeit der Betriebe zu bewerten, lagen nicht vor. Der Treuhand fehlte ferner die Rechtsgrundlage, die eine Bewertung der Vermögenswerte und Schulden ermöglichte. Obwohl die Treuhand die offizielle "Eigentümerin" des ehemaligen DDR-Volkseigentums war, bestand ihr Hauptzweck darin, Eigentumsfragen durch Verkauf zu regeln. Das hieß, so Nooke, "solange die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind, sitzt der potentielle Investor am längeren Hebel und wartet, bis er den Betrieb billig bekommen kann". Obwohl die Treuhand also verschiedene Angebote einholen konnte, war ihr Wirkungsfeld rechtlich und wirtschaftlich begrenzt. Schließlich wurde die Treuhand in Artikel 25 des Einigungsvertrags verankert. Zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 war sie jedoch kaum funktionsfähig – es mangelte an Personal und Einrichtungen. Innerhalb eines Jahres beschäftigte sie dann 3.000 neue Mitarbeiter, 1993 waren es 4600. Die Treuhand wurde zum größten Verwaltungsapparat Deutschlands und für manche zum Symbol dafür, wie "Regierungen privatisieren". Modrow kritisierte bereits 1991, dass ihr ursprünglicher Auftrag fehlgeschlagen war. "Privatisierung statt Sanierung und Erhalt" war jetzt die Agenda. Diese Neudefinition der Aufgaben führte, so Modrow, zu einem Zusammenbruch der gesamten industriellen und landwirtschaftlichen Produktion und zu einem Verkauf von Wirtschaftsgütern zu Dumpingpreisen. Zu diesen Wirtschaftsgütern gehörte auch die ehemalige SED-Presse. Zerschlagung politischer Monopole Die Produktion der Tages- und Wochenpresse war in einigen Konglomeraten organisiert, die als Vereinigung Organisierter Betriebe (VOB) bezeichnet wurden. Der wichtigste, VOB Zentrag, gehörte der SED. 90 Prozent der Druckkapazitäten und der Papierzuteilung entfielen auf Zentrag. 13 von 15 Druckereien in der DDR wurden von ihr kontrolliert. Von der gesamten Produktion von Tageszeitungen in der DDR – 1987 lag die Auflage bei 9,7 Millionen Exemplaren – hielt die SED rund 70 Prozent (6,5 Millionen). Zu den SED-Zeitungen gehörten 14 Bezirkszeitungen mit einer Auflage von jeweils 200.000 bis 700.000 (mit den dazugehörigen Lokalausgaben für über 200 Kreise), das landesweit vertriebene "Neue Deutschland" (1,2 Millionen) und die verschiedenen Titel des Berliner Verlags. Die SED besaß somit 16 von 39 Tageszeitungen in der DDR. Reformziel im Herbst 1989 war, diese Konzentration und Monopolisierung im Pressewesen zu beenden. Am 21. Dezember 1989 ratifizierte der DDR-Ministerrat den "Beschluß zur Neugründung von Zeitungen und Zeitschriften". Er unterstützte damit den im Dezember gegründeten Zentralen Runden Tisch und sicherte allen an ihm vertretenen Gruppen Zugang zu Medien, die Zuteilung von Papier, Druckkapazitäten und Lizenzen sowie von Kommunikations- und Vertriebsressourcen zu. Der Beschluss garantierte Informationsfreiheit, indem er diese weit definierte und die nötigen Infrastrukturen (zum Beispiel Technologieimporte) einbezog. Ziel war es, den neuen politischen Parteien und Oppositionsgruppen Zugang zu Medien und Informationen in "ihrer gesellschaftlichen Arbeit" zu sichern. Kurz darauf, am 5. Februar 1990, verabschiedete die Volkskammer der DDR den Beschluss zur Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit. Damit wurde Neuerscheinungen ein rechtlicher Rahmen bei den großen finanzstarken Verlagen geboten, und alte Monopolstrukturen wurden angegangen. Jegliche Art der Zensur war verboten. Die Presse sollte frei sein von politischen und wirtschaftlichen Monopolen und damit frei sein, um eine Plattform öffentlicher Debatten und freier Meinungsbildungsprozesse mündiger Bürger zu werden. Jede natürliche und juristische Person in der DDR hatte das Recht zur Veröffentlichung von Printmedien. Die Lizenzierung wurde abgeschafft, nur eine Registrierung war nötig. Es folgte eine Flut an Neuerscheinungen auf dem Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, womit sich in Ostdeutschland die Hoffnung auf Pressevielfalt verband. Laut einer Umfrage des DDR-Nachrichtendienstes ADN gab es bereits Anfang Februar 1990 16 Neuerscheinungen in der DDR, von denen vier westdeutsche Investoren hatten. Andere Titel wurden von basisdemokratischen Bürgergruppen oder politischen Parteien herausgegeben. Wieder andere waren lokale Initiativen ostdeutscher Journalisten und Bürger, teilweise in Zusammenarbeit mit Verlagen der Bundesrepublik. Bis Juli wurden so rund 120 neue Zeitungen in der DDR gegründet. Zu diesem Zeitpunkt befassten sich gleich drei verschiedene DDR-Institutionen allein mit der Reform der DDR-Medien: der basisdemokratische Medienkontrollrat (MKR), basierend auf dem Beschluss vom 5. Februar, das nach den März-Wahlen gegründete Ministerium für Medienpolitik sowie der Ausschuss für Presse und Medien der Volkskammer. Marktaufteilung Parallel zu diesen politischen Initiativen wurde der DDR-Pressemarkt früh wirtschaftlich durch westdeutsche Verlage erschlossen. Schon im Februar 1990 problematisierte die "Tageszeitung" das "Einsteigen bundesdeutscher Großverlage über Joint-ventures in [die ostdeutsche] Presselandschaft". Zwei Monate später, im April 1990, gab es keine DDR-Zeitungen mehr, "bei denen nicht bereits Kaufverhandlungen laufen". Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) schlussfolgerte, alle westdeutschen Verlage versuchten, "sich mit Beteiligungen an DDR-Verlagen eine günstige Ausgangsposition für den Wettbewerb zu verschaffen". Diese deutsch-deutschen Kooperationsverhandlungen liefen in einer rechtlichen Grauzone und waren laut dem Medienwissenschaftler Horst Röper "sehr vielgestaltig". Sie reichten von der Gewinnung von Anzeigenkunden und dem Verkauf von Werbung bis hin zum Druck der Zeitungen durch die Partner in der Bundesrepublik. "Überwiegend wurden allerdings auch Kapitalbeteiligungen vollzogen oder in Vorverträgen geregelt." Diese Allianzen waren "im Fluss" – Kooperationen also ständig in Verhandlung. Offiziell lag die Zustimmung über deutsch-deutsche Presse-Joint-Ventures beim MKR. Dieser erlaubte Minderheitsbeteiligungen westdeutscher Verlage. Inoffiziell aber wurden Verträge und Kooperationen an allen staatlichen Einrichtungen vorbei ausgehandelt. Diese Prozesse liefen so schnell, dass nur die Beteiligten wussten, wer mit wem verhandelte. Im Mai 1990 versuchte sich die DDR-Regierung darüber einen Überblick zu verschaffen. Danach hielt der Axel Springer Verlag (inklusive Tochtergesellschaften) mit insgesamt elf Zeitungen Kooperations-, Joint-Venture- oder Kaufgespräche. Die Bauer Verlagsgruppe hatte fünf Joint-Venture-Abkommen geschlossen, und fünf weitere waren in Vorbereitung. Gruner + Jahr plante ein Joint Venture mit der "Sächsischen Zeitung" (Auflage 544.700) und wollte zwei Zeitschriften kaufen. Die WAZ-Gruppe plante Joint Ventures mit vier Zeitungen, darunter die "Leipziger Volkszeitung" (Auflage rund 500.000). Vor allem die 14 großen ehemaligen SED-Bezirkszeitungen, wozu die "Sächsische Zeitung" und die "Leipziger Volkszeitung" gehörten, standen bei den großen finanzstarken Verlagen hoch im Kurs. Mit hohen Auflagenzahlen und den nach wie vor bestehenden strukturellen Privilegien (etwa bei der Papierversorgung und beim Druck) hielten sie in ihren jeweiligen Bezirken eine quasi-Monopolstellung und waren damit die "Filetstücke" unter den DDR-Zeitungen. Hier gaben sich, schrieb der Journalist und Verleger Peter Turi im Mai 1990, "die Großverlage die Klinke in die Hand". Insbesondere die "Großen Vier" – Springer, Burda, Gruner + Jahr und Bauer – waren aktiv damit beschäftigt, ihre Ansprüche in der DDR anzumelden. Laut Andreas Ruppert, Vertreter von Gruner + Jahr, hatten die Großverlage bereits im Mai 1990 die DDR-Zeitungen und -Zeitschriften untereinander aufgeteilt. Es kursierten Listen, auf denen kauffreudige westdeutsche Verlage neben "ihren" hilfsbedürftigen DDR-Partnern positioniert waren. Letztere waren, so Ruppert, auf finanzielle Hilfe angewiesen – sie alle steckten in den roten Zahlen und brauchten Investitionen. Tatsächlich kämpften DDR-Zeitungen mit schlechter Papier- und Druckqualität, Papierknappheit und der Streichung von Subventionen. Vor allem aber massive Importe westdeutscher Presseprodukte und die Dumpingpreise westdeutscher Zeitungen ab März 1990 setzten sie früh unter hohen wirtschaftlichen Druck. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Bau eines exklusiven DDR-Vertriebssystems der "Großen Vier" für westdeutsche Produkte, wovon 70 Prozent aus eigener Produktion stammten. Trotz staatlicher Teilung war der deutsche Pressemarkt im Mai 1990 faktisch vereint, mit der Folge, dass DDR-Verlage, die durch planwirtschaftliche Strukturen weiterhin eingeschränkt waren, frühzeitig in direkter Konkurrenz zu westdeutschen Verlagen standen, die wiederum in einem rechtlichen Vakuum nach privatwirtschaftlicher Logik agierten. Der MKR forderte vergeblich eine "Schonfrist". Auch der Zentrale Runde Tisch und die DDR-Regierung sahen diese Entwicklung kritisch. Medienminister Gottfried Müller schrieb in sein Ministertagebuch, "das alte SED-Monopol bei Bezirkszeitungen" ginge zusammen "mit neuem Monopol aus dem Westen." Beispiel Bauer: Der Verlag hatte sich bis August 1990 ein großes Stück des DDR-Kuchens gesichert. Bis Juni 1990 hielt Bauer 49 Prozent der Eigentumsanteile an den "Brandenburgischen Neuesten Nachrichten", der "Märkischen Oderzeitung", den "Norddeutschen Neusten Nachrichten", dem "Nordkurier", der "Schweriner Volkszeitung" und der "Volksstimme", die eine Gesamtauflage von rund 1,2 Millionen Exemplaren hatten. Der Verlag leistete technologische Unterstützung (etwa Lieferung von Redaktionstechnik und Kopiergeräten) und zielte auf die Modernisierung der veralteten Druckereien seiner Partner. Der Hauptkonkurrent von Bauer war der Axel Springer Verlag. Mit seinen Tochtergesellschaften und Beteiligungen unter anderem an der "Märkischen Volksstimme", der "Norddeutschen Zeitung" und der "Ostsee-Zeitung" hielt er Anteile an 30 Prozent der DDR-Gesamtauflage. Laut dem Vorstandsvorsitzenden Peter Tamm war das Ziel, "die Stellung als führendes Pressehaus und bedeutendes Medienunternehmen in ganz Deutschland durch das starke Engagement in der DDR zu sichern". Das hieß, Joint-Venture-Vereinbarungen wurden auch in rechtlichen Grauzonen eingegangen. Minister Müller betonte zwar, diese Kooperationen seien rechtlich nicht bindend, das letzte Wort hätte die Treuhand, aber Bauer und andere Großverlage erwarteten die baldige "Umwandlung von Absichtserklärungen in endgültige Verträge". Sie sollten Recht behalten. Treuhand übernimmt Bevor die Treuhand ab Oktober 1990 die treuhänderische Verwaltung der SED-Presse übernahm, konsultierte sie im Juli das Amt für Wettbewerbsschutz der DDR und das Ministerium für Medienpolitik, um "offizielle und rechtlich gesicherte Aussagen" zu westlichen Kapitalbeteiligungen und Kooperationsvereinbarungen mit DDR-Verlagen zu erhalten. Nach der vorsichtigen Schätzung beider lag (mit einer Ausnahme) von westdeutscher Seite "kein Antrag auf ausländische Beteiligung an den [nun in GmbHs] gewandelten Unternehmen vor". Zwei DDR-Verlage hatten ausländische Beteiligung beantragt. "Offiziell liegen keine weiteren Anmeldungen vor", so das Amt. Allerdings gebe es Hinweise darauf, dass Axel Springer und andere Verlage weitere Kooperationen anstrebten. Auf dieser Grundlage ging die Treuhand an ihre Arbeit und war für die ehemalige SED-Presse zuständig. Letztlich erhielt die Treuhand rund 80 Kauf-Anfragen für 40 Verlage – die wichtigsten waren die für die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen. Deren Eigentümerschaft mit 8.000 Mitarbeitern und einer Gesamtauflage von 2,7 Millionen Exemplaren wurde offiziell am 13. April 1991 an "ausgewählte Erwerbsinteressenten" übertragen. Der Treuhand-Verwaltungsrat stimmte dem vorläufigen Verkauf von zehn ehemaligen SED-Bezirkszeitungen an zwölf westdeutsche Presseunternehmen zu. Der Preis: 850 Millionen D-Mark und ein Investitionsvolumen von 1,3 Milliarden D-Mark. Zwar stand noch die Prüfung privater Restitutionsansprüche aus, aber das Geschäft war besiegelt. Laut Birgit Breuel, nach der Ermordung Detlev Rohwedders neue Treuhand-Vorsitzende, hatte Vorstandsmitglied Karl Schirner im April 1991 diese "Gesamtlösung" entwickelt. Sie wurde zum Kernelement eines Umstrukturierungsprozesses, bei dem profitable Verlage der ehemaligen DDR systematisch auf westdeutsche Interessengruppen aufgeteilt wurden, die ihre Ansprüche bereits geltend gemacht hatten. Damit folgte die Treuhand ihrem politischen Auftrag: dem wirtschaftlichen Erhalt der DDR-Verlage und ihrer Arbeitsplätze. Ihr Auftrag war nicht, über Eigentümerschaft für Pressevielfalt zu sorgen. Wettbewerb (also im Pressebereich auch der Wettbewerb der Meinungen) sollte allein nach den Kriterien des Kartell- und Wettbewerbsrechts festgelegt werden. Das heißt, jeder finanzstarke westdeutsche Verlag durfte innerhalb einer Region nur eine auflagenstarke DDR-Zeitung kaufen. Breuel unterstrich allerdings, die westdeutschen Verlage selbst hatten im Vorfeld der Entscheidung durch Berichterstattung und/oder finanziellen Druck ihre Macht zu ihren Gunsten ausgespielt. Niemand ist verantwortlich Im Vorfeld der Verkaufsentscheidung vom April 1991 hatte Peter Hoss, Geschäftsführer des Verbandes der Lokalpresse, dem Dachverband der lokalen Zeitungsverleger, "mit größter Sorge" beim Bundesministerium des Innern (BMI), dem Bundeswirtschaftsministerium sowie beim Treuhand-Verwaltungsrat und Vorstand gegen die Übertragung der Zeitungen "an wenige westdeutsche Großverlage" protestiert. Seit November 1990 hatte er wiederholt gefordert, die Entscheidung "so lange zurückzustellen, bis alle noch offenen Möglichkeiten einer Beteiligung mittlerer und kleiner Verlage vorgetragen und geprüft worden sind". Hoss’ Bitten blieben erfolglos. Das BMI antwortete erst ein halbes Jahr später und berief sich auf den "Grundsatz der Staatsferne der Medien". Die Verantwortung läge vollständig bei der Treuhand. Ähnlich argumentierte der Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann. Die Treuhand hätte einstimmig beschlossen, "an bestimmte Verlage aus den alten Bundesländern" zu verkaufen, und dabei "alle relevanten Kriterien" beachtet. Er hätte keinen Einfluss darauf nehmen können. Ein Blick in die interne Kommunikation offenbart jedoch anderes: Es gab keine kohärente Linie oder Vorgehensweise verschiedener Bundesbehörden bezüglich der Privatisierung ehemaliger SED-Bezirkszeitungen. Konflikte zwischen den Behörden, Kompetenzstreitigkeiten und gegenseitiges Zuschieben von Verantwortung bestimmten den Kurs. Eine Initiative des BMI, der Treuhand zu empfehlen, "die bisherigen Bezirkszeitungen in kleinere Einheiten zu entflechten und die Möglichkeit des Erwerbs von Teileinheiten auch für kleinere und mittlere Verlage zu öffnen", scheiterte. Der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Dieter von Würzen, entschied, "der Treuhand bei der Privatisierung der Tageszeitungen keine Vorgaben zu machen". Jegliche Einflussnahme würde nur eine "weitere Verzögerung der Privatisierung" mit sich bringen. So beschloss die Bundesregierung, den politischen Auftrag der Treuhand nicht zu erweitern. Um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten und kleine Verlage zu schützen, nahm der Treuhand-Verwaltungsrat stattdessen eine "Wohlverhaltensklausel" in alle Privatisierungsverträge auf. Käufer wurden verpflichtet, "in wirtschaftlich vertretbarem Umfang" die Entfaltung "von kleinen Lokalzeitungen nicht zu behindern". Eine Prüfung dieser Auflage durch die Treuhand, das BMI oder sonstige staatliche Stellen gab es jedoch nicht. Laut Hoss wurde die Klausel vielerorts ignoriert und damit zur Farce. Aggressiver Wettbewerb bestimmte den Markt, und die Treuhand sah es nicht als ihre Aufgabe an, "das Wohlverhalten der ausgewählten Erwerbsinteressen" zu prüfen. Auch das BMI fühlte sich nicht verantwortlich, fürchtete Konflikte und finanzielle Hürden und verwies zurück auf die Treuhand. Damit schloss sich der Kreis des gegenseitigen Verantwortung-Zuschiebens. Pressemonopole im Osten Regionalmonopole ehemaliger SED-Bezirkszeitungen standen bereits frühzeitig im Visier finanzstarker westdeutscher Verlage, wurden unter diesen aufgeteilt und letztlich von ihnen übernommen. So wurden Monopolstrukturen der DDR nicht, wie ursprünglich gedacht, zerschlagen, sondern mit wirtschaftlichem Kalkül weitergeführt. Laut dem Verband der Lokalpresse haben westdeutsche Verlage einen "nach den Gesetzen des staatlichen Zentralismus als Monopol aufgebauten Markt in unveränderter Struktur übergeben bekommen, sich danach zunehmend konsolidiert und den Markt weiter zementiert." Diese Art der "Übergabe" lag aber nicht allein an der Marktlogik, sondern benötigte politische Rahmenbedingungen. Laut dem Historiker Konrad Dussel war sie der politischen Entscheidung der Bundesregierung "gegen jedes Experiment" geschuldet. Die Treuhand hatte hier nur einen begrenzten Einfluss. Die Folge waren Pressekonzentration und Zeitungssterben: Innerhalb von zwei Jahren ging die Zahl der Zeitungen in Ostdeutschland drastisch zurück. Von den ursprünglich 120 Zeitungen, die bis Mitte 1990 neu gegründet worden waren, waren im Mai 1992 nur noch etwa 65 Zeitungen aus etwa 50 Verlagen übrig. Bis November fiel die Zahl auf 50 Zeitungen aus 35 Verlagen. Bei der Lokalpresse sah es nicht anders aus: Lokalzeitungen waren von 98 auf 24 Zeitungen aus 23 Verlagen zurückgegangen. Bis November 1992 fiel diese Zahl auf 30 Zeitungen von 19 Verlegern. Der Verband der Lokalpresse nannte es ein "trauriges Ergebnis". Letztlich war es eine verpasste Chance, Pressevielfalt im Osten neu zu gestalten. Die "Medienrevolution" der DDR – die Zerschlagung der Monopolstrukturen zugunsten einer basisdemokratischen Pressevielfalt – blieb aus. Ergebnisse der 16. Sitzung des Rundentischgespräches am 12. März 1990, Privatisierung von Volkseigentum, 12.3.1990, S. 4, Archiv Grünes Gedächtnis/B.V.3 – Grüne Partei DDR, Box 7. Walter Mahle (Hrsg.), Pressemarkt Ost, Nationale und internationale Perspektiven, München 1992, S. 13. Gottfried Müller, Kommentare zum Ministertagebuch (18. Mai 1990), E-Mail an die Autorin vom 30.1.2017. Vgl. Hans Modrow, Die Treuhand – Idee und Wirklichkeit, Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR, IPW 7–8/1991, S. 39; Marcus Böick, Die Treuhand, Göttingen 2018. Vgl. Dieter Grosser, Treuhandanstalt, o.D., Externer Link: http://www.bpb.de/202195. Zit. nach Treuhand – Ein Ding der Unmöglichkeit, 11.8.2006, Externer Link: http://www.handelsblatt.com/2691746.html?ticket=ST-200672-A0vxtCf0GuiyBB7Dhlqa-ap1. "Daten reichen nicht aus", Interview mit Günter Nooke, 14.8.1990, Externer Link: https://taz.de/!1756163. Ebd. Vgl. Grosser (Anm. 5). Mark Cassell, How Governments Privatize: The Politics of Divestment in the United States and Germany, Washington, DC 2002. Modrow (Anm. 4), S. 39. Siehe Axel Springer Verlag AG, DDR am Wendepunkt, November 1989, S. 70–74, Verlagsarchiv Axel Springer SE. Ministerrat, "Beschluß zur Unterstützung des Runden Tisches," 21.12.1989, S. 9, Archiv Grünes Gedächtnis, Box 31–38, Akte 38. Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Neue Periodika und Verlage in der DDR, 5.2.1990, Bundesarchiv (BArchiv), DC9/1052. "Der Postminister übte Zensur aus", Interview mit Konrad Weiss, 10.2.1990, Externer Link: https://taz.de/!1780897. Zit. nach Aschenputtel auf dem Ball, 24.4.1990, Externer Link: https://taz.de/!1770939. Deutsche Presse-Agentur, Hintergrund. Pressemarkt der DDR, 10.8.1990, S. 1–17, hier S. 10, BArch, DC9/1050. Horst Röper, Treffer sind Glücksache, in: Journalist 6/1990, S. 32–35, hier S. 34. Ebd. Ebd. Tabelle, Kooperationsbeziehungen im Pressebereich, 15.5.1990, S. 1–4, BArch, DC9/1050. Röper (Anm. 18), S. 35. Peter Turi, Schlechte Karten, in: Journalist 5/1990, S. 40f., hier S. 41. Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Medienexperte: DDR-Medienmarkt ist aufgeteilt – Interesse an regionalen Zeitungen, 29.5.1990, ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte, MKR, Akte 35d. Westdeutsche Presseprodukte wurden nicht zum 1:3-Umtauschkurs verkauft sondern im 1:1-Verhältnis. Vgl. Mandy Tröger, Pressefrühling und Profit: Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten, Köln 2019 (i.E.). Gerhard Bächer, Notizen, März 1990, Archiv Grünes Gedächtnis, Box 27–30, Akte 30. Gottfried Müller, Ministertagebuch (April–Mai 1990), 18. Mai 1990, E-Mail an die Autorin vom 30.1.2017. Genauer 2.177.000 von 7.213.000 Exemplaren. Siehe Röper (Anm. 18). Zit. nach Axel Springer Verlag mir Rekordinvestitionen, in: Die Welt, 14.6.1990. Deutsche Presse-Agentur, Neuorganisation der DDR-Verlage bringt viele Arbeitsplätze, 20.6.1990, IISG/ID-Archiv, MKR, Akte 35e. Report, Zum Presse-Grosso, Amt für Wettbewerbsschutz der DDR, Juli 1990, BArch, DE10/16. Ebd. Ebd. Ebd. Brief, Wolf Klintz, THA, an Ministerialrat Homann, Bundesminister für Wirtschaft, SM 10 – 344 242-2/1, 17.12.1991, BArch, B/106/156193. Brief, Lage der Lokalpresse im Beitrittsgebiet, Merk, Bundesminister des Innern, an Seiters, Bundesminister des Innern, SM 10 – 344 242-2/1, 20.12.1991, BArch, B/106/156193. Hier und im Folgenden Birgit Breuel, Verleger kennen ihre Macht, in: Treuhand intern. Tagebuch, Berlin 1992, S. 232–239. Brief, Treuhandvergabe der ehemaligen DDR-Parteipresse, Hoss, Standortpresse GmbH, Verband der Lokalpresse pro lokalzeitung e.V., an BMI, Bundesminister des Innern, 11.4.1991, S. 1, BArch, B/106/156193. Ebd. Brief, Neusel, Bundesminister des Innern, an Hoss, Standortpresse GmbH, Verband der Lokalpresse pro lokalzeitung e.V., 6.5.1991, BArch, B/106/156193. Brief, Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft, an Hoss, Verband der Lokalpresse pro lokalzeitung e.V., 14.5.1991, BArch, B/106/156193. Brief, Privatisierung von Presseunternehmen durch die Treuhandanstalt, Besprechung am 4. Februar 1991 im BMI, Bundesminister des Innern an Chef des Bundeskanzleramtes et al., SM 10 – 344 242-2/1, 4.2.1991, S. 2, BArch, B/106/156193. Ebd. Brief, Privatisierung von Presseunternehmen durch die Treuhandanstalt, Plessing, Bundesministerium für Wirtschaft, an Bundesminister des Innern et al., SM 10 – 344 242-2/1, 8.2.1991, BArch, B/106/156193. Ebd. Rede von Bundesminister Wolfgang Schäuble vor dem Kongress der deutschen Lokalpresse in Bonn-Bad Godesberg, Der Bundesminister des Innern, Bonn, 12.11.1991, S. 18, BArch, B/106/156193. Brief, Hoss, Standortpresse GmbH, Verband der Lokalpresse pro Lokalzeitung e.V., an BMI, Bundesminister des Innern, 28.11.1991, BArch, B/106/156193. Brief, Wolf Klintz, THA, an Ministerialrat Homann, Bundesminister für Wirtschaft, SM 10 – 344 242-2/1, 17.12.1991, BArch, B/106/156193. Brief, Lage der Lokalpresse im Beitrittsgebiet, Merk, Bundesminister des Innern, an Seiters, Bundesminister des Innern, SM 10 – 344 242-2/1, 20.12.1991, S. 4, Barch, B/106/156193. Ebd. Konrad Dussel, Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 245. Memorandum, "Notwendige Maßnahmen für einen gleichberechtigten Marktzutritt lokaler Zeitungen in einen früher nach den Gesetzen des staatlichen Zentralismus geschaffenen und heute in der Struktur unverändert fortgeführten Pressemarkt in den neuen Bundesländern bis zur Feststellung realer Chancengleichheit," Verband der Lokalpresse, 21.5.1992, S. 2, BArch, B/106/156193. Ebd, S. 3.
Article
, Mandy Tröger
2022-02-16T00:00:00
2019-08-20T00:00:00
2022-02-16T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/295466/die-treuhand-und-die-privatisierung-der-ddr-presse/
Auch das Pressewesen war Teil des Volkseigentums, das von der Treuhand privatisiert werden sollte. Bei der Umwandlung wurden allerdings nicht wie geplant ehemalige SED-Zeitungsmonopole aufgespaltet, sondern von westdeutschen Verlagen größtenteils wei
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Gewalt von Syrienrückkehrern – Wie groß ist die Bedrohung? Welche Rolle spielt die Prävention? | Fachtagung "Politische Gewalt – Phänomene und Prävention" | bpb.de
Der Workshop beschäftigte sich mit der Gewalt von Syrienrückkehrern, ihrem Bedrohungspotenzial und möglicher Prävention. Die Sicherheitsbehörden gehen laut Moderatorin Jana Kärgel von mindestens 840 Personen aus, die von Deutschland nach Syrien ausgereist sind. Ein Drittel ist bislang nach Deutschland zurückgekehrt. Zwei Fachleute aus der Praxis stellten zu dem Problemfeld ihre Erkenntnisse und Erfahrungen vor: Marwan Abou-Taam ist wissenschaftlicher Referent in der Abteilung "Politisch motivierte Kriminalität" des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz. André Taubert leitet die Hamburger Fachstelle "Legato – systemische Ausstiegsberatung – Fachstelle für religiös begründete Radikalisierungen". Eine Typologie der Ausreisenden Marwan Abou-Taam nutzt die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden für seine Forschung. In Gefängnissen befragte er verurteilte Terroristen, unter ihnen den Afghanistan-Rückkehrer und als Mitglied der Sauerland-Gruppe bekannten Daniel Schneider. Insgesamt seien den Behörden die Biografien von 840 nach Syrien Ausgereisten bekannt. Hieraus ließen sich vier verschiedene Motivationsmuster erkennen, wie Abou-Taam berichtete. Da seien erstens die ideologisch angesprochenen "verlorenen Söhne", die es als ihre religiöse Verpflichtung ansehen, Muslimen zu helfen. Die zweite Gruppe seien die "Abenteurer", die sich von einer anderen Form der Propaganda ansprechen ließen: Für sie verheißen Rekrutierungsvideos, ähnlich denen von westlichen Armeen, Männlichkeit, die sie im Kampf ausleben können. Eine dritte, "sehr interessante" Gruppe seien diejenigen, die sich mit dem Motiv der "Wiedererweckung" ansprechen ließen. Dies seien häufig Personen mit kriminellem Hintergrund, die sich eine Reinwaschung oder Wiedergeburt erhoffen. Am gefährlichsten sei gleichwohl die vierte Gruppe der "Besessenen. Dieser Personenkreis habe krankhafte Gewaltphantasien und werde von Gewaltbildern angesprochen. Wo beginnt Prävention? Wenn dieser Personenkreis nach Deutschland zurückkehre, stelle sich für Sicherheitsbehörden die Frage: "Warum schaffen sie es überhaupt zurückzukehren?" Schließlich sei der IS eine "Null-Toleranz-Organisation", die niemanden wieder gehen lasse. Deshalb seien die genannten Motive von Rückkehrern genau zu prüfen, betont Abou-Taam. Reisen sie nach Deutschland, weil sie traumatisiert oder enttäuscht sind, oder weil sie einen Auftrag haben? Für die Sicherheitsbehörden sei die Frage entscheidend, ob die Person kriminell wurde. Nachzuweisen sei ihr in der Regel nur die Ausreise in die Türkei. Zum Gegenstand von Präventionsarbeit werde ein Rückkehrer erst ab seiner Verurteilung, damit er in der Haft nicht andere radikalisieren könne. Auch Nicht-Verurteilte müssten im Auge behalten werden, da ihre Entwicklung ungewiss sei. Abou-Taam sagte zum Bedrohungspotenzial der Syrien-Rückkehrer: "Ihr Terror wird effektiver sein durch ihre militärische Ausbildung." Dies belegten die Anschläge in Frankreich und Belgien. Zudem verfügten sie über Netzwerke in europäischen Ländern und seien über die Sicherheitsapparate der Länder informiert. "Das sind Globalisten", unterstrich Abou-Taam. Wer radikalisiert sich? Im Anschluss stellte André Taubert eine eigene Typisierung aus der Perspektive von Beratungsstellen vor. Er beschrieb "religiös begründete Radikalisierung" als "Opposition zum sozialen Umfeld", die als Isolationsprozess ablaufe. Taubert stellte fünf Typen von Radikalisierten vor: Den "Weltverbesserer" trieben sein Wunsch nach einem Systemwechsel an, die Lust an der politischen Debatte und die Suche nach Spiritualität. Den "Mitläufer" führten persönliche Beziehungen zur Radikalisierung; er sei Spätzünder bei der Partnersuche, auf der Suche nach einer neuen Gruppe und empfänglich für Parolen. Er erhoffe sich Zugehörigkeit, eine romantisierte Männerwelt und die Überwindung von Beziehungsfragen. Der "Puppenspieler" reise seltener aus, sei aber wichtig für die Szene. Er erreiche Zufriedenheit durch Macht, Einfluss und Abwertung anderer, dabei sei sein Selbstbewusstsein nur scheinbar groß. Im Kreis der Radikalisierten biete sich ihm der "Instrumentenkasten des Puppenspiels". Der "Scheiterer" erhalte zu wenig Anerkennung und erreiche seine persönlichen Ziele nicht. Hier habe er erreichbare Ziele vor Augen, erhalte Anerkennung für sein Handeln und dürfe sich zur Gruppe der "Gewinner" zählen. Die letzte Gruppe seien die "Traumatisierten und Verunsicherten". Sie seien häufig Opfer von Übergriffigkeit und Gewalt, in ihrer Kommunikation gehemmt, Diskriminierungsopfer und zudem unsicher im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Im Kreis der Extremisten erhofften sie sich klare Regeln, das Gefühl auf der "sicheren Seite" zu sein sowie ein Heilsversprechen und die Bewältigung ihres Traumas. Taubert unterschied bei den Rückkehrern in junge Frauen mit oder ohne Kind, in Personen, deren Anschluss an die Terrorgruppe gescheitert ist sowie in militärisch oder terroristisch Aktive. Er prognostizierte: "Viele Rückkehrer werden Frauen sein." Schließlich machten Frauen 20 Prozent der sogenannten Foreign Fighters aus. Mit Blick auf Rückkehrer betonte Abou-Taam, diese müssten sich zuerst juristisch verantworten, bevor man mit ihrer Re-Integration beginne. Dies sei wegen der Eigenverantwortung der Ausgereisten eine ethische Frage. "Ich habe ein Problem damit, wenn Täter und Opfer um die Zuneigung der Sozialarbeit wetteifern." Seitens der Muslime in Deutschland gebe es keine professionellen Strukturen für die Re-Integration. Dies hält er auch nicht für zielführend. Die Integration von Muslimen müsse in den bestehenden Strukturen stattfinden. André Taubert erklärte, seine Beratungsstelle ziehe bei Bedarf theologisch gebildete Partner hinzu. Referenten: Dr. Marwan Abou-Taam, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz André Taubert, Legato - Systemische Beratungsstelle, Fachstelle für religiös begründete Radikalisierung Hamburg Moderation: Jana Kärgel, Bundeszentrale für politische Bildung
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-13T00:00:00
2016-08-08T00:00:00
2021-12-13T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/politische-gewalt-2016/232383/gewalt-von-syrienrueckkehrern-wie-gross-ist-die-bedrohung-welche-rolle-spielt-die-praevention/
Den Sicherheitsbehörden sind 840 Personen bekannt, die von Deutschland nach Syrien ausreisten, um sich dort Terrorgruppen anzuschließen. Der Workshop beleuchtete, wer sich aus welchen Gründen zur Ausreise entschloss und skizzierte Ansätze zur Prävent
[ "Syrienrückkehrer", "Prävention" ]
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In einem gänzlich anderen Licht | Unternehmertum | bpb.de
In der Debatte über die sogenannte Flüchtlingskrise wird selten resümiert, was aus all denjenigen geworden ist, die in den vergangenen Jahrzehnten – aus welchen Gründen auch immer – nach Deutschland eingewandert sind. Schließlich gibt es in der Frage der sozialen und beruflichen Integration von Migrantinnen und Migranten nicht nur Probleme, sondern genauso Erfolge zu berichten, die durchaus optimistisch stimmen. Dies betrifft auch eine Erwerbsposition, in der Zugewanderte weit mehr auf Vorurteile als auf Anerkennung treffen: als unternehmerische Selbstständige. Spätestens seit Ende der 1990er Jahre vollzieht sich ein bemerkenswerter Wandel in der Unternehmenslandschaft. Das Gründungsgeschehen in Deutschland wird in wachsender Zahl durch Zugewanderte bestimmt. Im öffentlichen Diskurs wird dieses Phänomen bislang allerdings häufig mit Arbeitsmarktproblemen, Dönerbuden, Gemüseläden, Subunternehmertum, Scheinselbstständigkeit und prekären Einkommen in Verbindung gebracht. Chancen zum sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg werden in diesem Kontext kaum thematisiert. Insofern wird in diesem Beitrag erläutert, welche Bedeutung migrantisches Unternehmertum in Deutschland tatsächlich hat, welche ökonomischen Leistungen damit einhergehen und inwieweit die unternehmerischen Aktivitäten eher als Ausdruck von Marginalisierung und Abschottung, oder aber als Zeichen der Integration zu werten sind. Solche Fragen erhalten fast automatisch aktuellen Bezug: Zwar scheint der Schritt in die Selbstständigkeit gegenwärtig nur für wenige Flüchtlinge eine realistische Option, und dies nicht nur wegen der arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Hürden. Doch kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass alle Schutzsuchenden bald und ausreichend Gelegenheit finden, eine Arbeitnehmertätigkeit aufzunehmen. Daher ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren wieder verstärkt über Auswege aus der Arbeitslosigkeit und die Chancen selbstständiger Erwerbsarbeit diskutiert wird. So könnte die Debatte über den Erfolg und die wirtschaftliche Substanz von Gründungen durch Migranten neuen Auftrieb erhalten. Es wäre aber ein falscher Ansatz, nunmehr alle Fragen der Arbeitsmarktintegration auf die aktuelle Flüchtlingssituation zu projizieren. Zunächst geht es im Folgenden daher um die Berufspassagen und Statuspositionen der hier schon länger Ansässigen. Migrantenunternehmen im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs Die bloße Alltagsbeobachtung in den Straßen migrationsgeprägter Städte mag den Eindruck vermitteln, dass sich die unternehmerischen Aktivitäten von Zugewanderten stark auf das Gastgewerbe, den Einzelhandel, Dienstleistungen wie das Friseurhandwerk und ähnliche Branchen mit niedrigen Zugangshürden, aber hartem Wettbewerb konzentrieren. Insofern ist auch das Bild, das der öffentliche Diskurs über Migrantenunternehmen zeichnet, wesentlich von der Vorstellung geprägt, es handle sich insgesamt um ein wirtschaftlich randständiges Segment mit geringen Qualifikationsanforderungen und Ertragsaussichten. Hinzu kommen Unsicherheiten und letztlich Spekulationen darüber, welche ethnischen Beziehungen und familienwirtschaftlichen Hierarchien sich hinter den Türen der Migrantenbetriebe verbergen. Vielen Beobachtern erscheint die "ethnische Ökonomie" als fremde Unternehmenswelt. Natürlich werden in den Medien vereinzelt auch Erfolgsgeschichten bekannt, soweit Migranten große und international aufgestellte Unternehmen führen. Aber diese haben das mediale Interesse eher deswegen erweckt, weil sie als Ausnahmen erscheinen. Die Forschung hat bislang wenig zur Überprüfung solcher Einschätzungen beigetragen, zumindest in Deutschland. Dies ist erstaunlich. Blickt man weit zurück zu Max Weber, Georg Simmel und Werner Sombart, dann war der Einfluss kultureller Werthaltungen auf wirtschaftliches Handeln von Anfang an ein wichtiges Thema der deutschen Soziologie. Mit partiellem Rückgriff hierauf haben dann insbesondere US-amerikanische, britische und niederländische Wissenschaftler das unternehmerische Verhalten von Zugewanderten in modernen Industriemetropolen untersucht. Von zentraler Bedeutung sind demnach die Blockaden der Aufstiegschancen am Arbeitsmarkt, die dazu führen, dass einige der Benachteiligten ihre ethnischen und sozialen Ressourcen mobilisieren und ihr Glück im Unternehmertum suchen. Inwieweit sie sich damit gesellschaftlich isolieren, ist zwar strittig, aber in vielen Fällen werden eine starke kulturelle Orientierung auf das Herkunftsland, innerethnische Solidarität, Familienarbeit und soziale Kontrolle als charakteristische Merkmale der ethnic economy gesehen. Bei aller Vielschichtigkeit theoretischer Deutungen ist jedoch zu resümieren, dass das Gros der internationalen Forschung über ethnic entrepreneurship die Aufstiegschancen und den wirtschaftlichen Erfolg unternehmerischen Handelns eher betont und selten in Zweifel zieht. Demgegenüber sind die Medien und die Forschung in Deutschland dem Unternehmertum von Migrantinnen und Migranten bisher mehrheitlich mit großen Vorbehalten begegnet. In Bezug auf die wirtschaftlichen Leistungspotenziale kommen einige Autoren sogar zu einem fast vernichtenden Urteil. So ist beispielsweise der Journalist Manfred Neuhöfer der Meinung, dass "die Vorstellung einiger wohlmeinender Migrationsforscher, die das Heil in einer Migrantenökonomie in kleinen Marktnischen suchen, zu kurz greife" und begründet dies wie folgt: "Da die dortigen Kleinbetriebe (…) relativ geringe Umsatzzahlen aufweisen und aufgrund niedriger Erträge (…) nur wenig oder gar keine Einkommenssteuer zahlen, muß aus volkswirtschaftlicher Perspektive mehr von ersparten Sozialtransfers geredet werden denn von der Produktion echten volkswirtschaftlichen Mehrwerts". Und folgt man der Soziologin Ursula Apitzsch, dann scheint ethnic business "der eklatante Widerspruch zum Bild des Unternehmers zu sein, denn was wir heute als ‚ethnische Ökonomie‘ kennen, ist (…) die Nischenwirtschaft, die Besetzung von Bereichen, die im Zuge der globalen kapitalistischen Expansion aufgegeben wurden". Diese skeptische Sicht ist sicher auch dadurch zu erklären, dass die wachsende Zahl an Migrantengründungen zu einer Zeit ins Bewusstsein rückte, in der ganz generell ein Drittel bis zur Hälfte aller Gründungen aus der Arbeitslosigkeit erfolgte. Zwar spielen Notgründungen insbesondere in wirtschaftlich schlechten Zeiten eine Rolle. Aber sie erklären zumindest gegenwärtig und für sich genommen nicht den nachfolgend dargestellten überproportionalen und stetigen Zuwachs an unternehmerisch aktiven Migrantinnen und Migranten. Hinzu kommt, dass deren Gründungsmotive nur unwesentlich stärker als die der autochthonen Bevölkerung von ökonomischen Zwängen getrieben sind. Doch letztlich geriet der Diskurs über die Entstehungsbedingungen migrantischen Unternehmertums in Deutschland in den Blickfang einer nicht ganz unberechtigten Sozialkritik, der es darum ging, die politisch überhöhten Erwartungen an eine (vermeintlich von Zugewanderten vorexerzierte) Kultur der Selbstständigkeit mit der rauen Wirklichkeit zu konfrontieren. Ein Problem ist allerdings, dass viele Studien auf empirisch schwachen Füßen stehen. Mit manchen Fallstudien wird der Topos gefestigt, migrantisches Unternehmertum ginge mehr mit kulturell bedingter Risikofreudigkeit als mit rationalen Strategien einher. Am weitesten hat sich die Sicht verbreitet, die marginalen Erträge würden vor allem in ethnischen Nischen erwirtschaftet – und dabei unter Ausbeutung nicht nur der eigenen Arbeitskraft, sondern auch der Familie. Entwicklung und Umfang von Migrantenselbstständigkeit Welche Entwicklungen und Charakteristika zeigen sich, wenn man den Mikrozensus und damit die bedeutendste amtliche Repräsentativstatistik zugrunde legt? Während ausländische Selbstständige noch in den 1970er und 1980er Jahren eine kaum wahrnehmbare Größe bildeten, ist ihre Zahl zwischen 1991 und 2014 um das Zweieinhalbfache beziehungsweise um 147 Prozent gestiegen, die der deutschen Selbstständigen "nur" um 31 Prozent . Rechnet man diejenigen mit deutschem Pass, aber Zuwanderungsgeschichte hinzu, dann haben 709.000 beziehungsweise 17 Prozent der insgesamt 4,2 Millionen Selbstständigen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das heißt, mittlerweile hat jede sechste unternehmerisch engagierte Person in Deutschland ausländische Wurzeln. So betrachtet sind die von Migrantinnen und Migranten geführten Unternehmen allein schon aufgrund ihrer starken Präsenz von wirtschaftlich hoher Bedeutung. In den genannten Bestandsveränderungen sind nur diejenigen berücksichtigt, die auch ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Ist dies nicht der Fall und fasst man die Gesamtheit der Gründungen also weiter, dann erfolgt – je nach Untersuchungszeitraum und Region – sogar jede zweite bis dritte Gewerbeanmeldung durch Ausländerinnen und Ausländer, wobei hier Zugewanderte aus Polen, Rumänien und Bulgarien dominieren. Vor dem Hintergrund der lange Zeit eingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit beruhen die Gewerbemeldedaten zum Teil auf Formen von Scheinselbstständigkeit, Wanderselbstständigkeit und zirkulärer Migration. Diese Entwicklungen sind jedoch ein rückläufiges sowie separat zu betrachtendes Phänomen und spiegeln sich auch nur in geringem Maße in der zuvor dargestellten Gesamtstruktur des Selbstständigenbestandes beziehungsweise im Mikrozensus wider. Ohnehin wurden drei Viertel aller seit der EU-Erweiterung 2004 "neu hinzugekommenen" Selbstständigen schon vor diesem Zeitpunkt in Deutschland sesshaft. Determinanten und soziale Zusammensetzung beruflicher Selbstständigkeit Mittlerweile liegen die Selbstständigenquoten der deutschen und migrantischen Erwerbsbevölkerung auf fast gleichem Niveau (elf gegenüber zehn Prozent). Allerdings ist unterhalb dieser Oberfläche die Neigung zum Schritt in die Selbstständigkeit gruppenspezifisch äußerst verschieden, da sie je nach Herkunft von unterschiedlichen Ressourcen, Chancen und Restriktionen beeinflusst wird. Welche Faktoren sind für den Schritt in die Selbstständigkeit entscheidend? Entgegen einer weitverbreiteten Meinung werden die unternehmerischen Aktivitäten von Migrantinnen und Migranten nur in geringem Maße von "kulturellen" Faktoren beziehungsweise von sogenanntem ethnischem Kapital, sondern in fast gleichem Maße wie bei den "Einheimischen" von individuellen Ressourcen bestimmt. Bildung und Wissen nehmen hierbei einen vorderen Platz ein. Personen mit hohem Qualifikationslevel sind über fast alle Gruppen hinweg mit fast dreimal so hoher Wahrscheinlichkeit selbstständig wie die Geringqualifizierten. Dies mag überraschen, da im öffentlichen Diskurs teilweise davon ausgegangen wird, dass die Gründung eines Unternehmens vor allem für die geringer Gebildeten eine Erwerbsalternative darstellt. Allerdings liegt das Qualifikationsniveau von Selbstständigen in allen Herkunftsgruppen deutlich höher als das ihrer abhängig beschäftigten Pendants. Dies wiederum ist ein zentrales Merkmal für die Güte migrantischen Unternehmertums. Diese Strukturverschiebungen sind zum Teil auf die Veränderungen in der herkunftsspezifischen Zusammensetzung selbstständiger Migrantinnen und Migranten zurückzuführen. Sie ist durch ein breites Spektrum an länderspezifischen Herkunftsgruppen geprägt, in dem die Angehörigen aus den ehemaligen Anwerbeländern einen zunehmend geringeren Anteil ausmachen, während neue Zuwanderergruppen, vor allem die osteuropäischer Herkunft, verstärkt unternehmerische Aktivitäten entwickeln. Übersehen oder unterschätzt wird aber oftmals auch die Migration der Hochqualifizierten aus westlichen Industrieländern, die zu einem wachsenden Teil das Profil beruflicher Selbstständigkeit mitbestimmen. Betriebliche Charakteristika von Migrantenunternehmen In der Diskussion um die wirtschaftliche Bedeutung von Migrantenunternehmen interessieren vor allem die betrieblichen Charakteristika. Diese ergeben sich unter anderem aus der Branchenzugehörigkeit, der Wissensbezogenheit der Tätigkeiten sowie aus der Beschäftigten- und Kundenstruktur. Letztlich handelt es sich um Eigenschaften, die über den Grad der Modernität von Migrantenunternehmen sowie über Strategien und qualitative Aspekte Auskunft geben. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die noch bis zur Mitte der 1990er Jahre zu beobachtende Dominanz von Gastgewerbe und Handel erheblich nachgelassen hat, während der Anteil "sonstiger", aber auch die Relevanz von wissensintensiven Dienstleistungen seit Längerem wächst. Jedes vierte Migrantenunternehmen leistet wissensbezogene Dienste, was eine erhebliche Modernisierung des Leistungsspektrums erkennen lässt. Die Bedeutung wissensintensiver Dienste liegt dennoch unterhalb derjenigen bei Deutschen, was sich nicht allein mit geringerer Bildung erklären lässt. Vieles deutet darauf hin, dass die sektorale Zusammensetzung von Migrantenselbstständigkeit über lange Zeit und in beachtlichem Maße auch durch die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen in Deutschland, so etwa durch die mangelnde Anerkennung von Qualifikationen, den eingeschränkten Zugang zu Berufen und Kapital und vor allem durch die Ausrichtung der Zuwanderungspolitik geformt wurde. Wenig empirische Evidenz lässt sich für die These finden, Migranten würden sogenannte sweatshops führen und also im Wesentlichen durch hohen Einsatz (unbezahlter) Familienarbeit und Selbstausbeutung überleben. Ein überdurchschnittliches Arbeitsvolumen scheint viel eher ein sektoraler Effekt zu sein, der sich jedoch in wettbewerbs- und arbeitsintensiven Branchen auch bei "einheimischen" Unternehmen ergibt. Auch viele der den ethnic economies zugeschriebenen Charakteristika sind hierzulande nicht zu finden. Kunden der gleichen Herkunft wie die Unternehmerinnen und Unternehmer spielen insgesamt betrachtet eine äußerst geringe Rolle und koethnische Beschäftigung geht zu einem großen Teil mit familienwirtschaftlichen Formen einher, die sich kaum von der sozialen Fürsorge in "einheimischen" Unternehmen unterscheiden. Die insgesamt geringe Orientierung auf sogenannte ethnische Märkte kennt auch Ausnahmefälle, die jedoch weit entfernt von Parallelwelten sind. Der auch in der ausländischen Bevölkerung steigende Bedarf an rechtlicher und wirtschaftlicher Expertise, an Gesundheitsdienstleistungen oder Mediendiensten eröffnet einen Markt für Hochqualifizierte der gleichen Ethnie, die sich durch die Kombination von fachlichem Wissen und interkultureller Kompetenz einen Vertrauensvorsprung und damit einen Nischenmarkt sichern. Gesamtwirtschaftliches Leistungspotenzial von Migrantenunternehmen Die ökonomische Bedeutung von Migrantenunternehmen wird hauptsächlich an ihren einzelwirtschaftlichen Erträgen und an den gesamtwirtschaftlichen Leistungspotenzialen und damit auch an ihrem Nutzen für die Gesellschaft gemessen. An vorderster Stelle interessiert der Beschäftigungsbeitrag. Je nach Schätzmodell liegt die Gesamtzahl der von Migrantenunternehmen geschaffenen Arbeitsplätze zwischen 2,2 und 2,7 Millionen. Der größte Teil der Beschäftigung entfällt auf die Selbstständigen aus den ehemaligen Anwerbeländern. Geht man von einem konservativ geschätzten Beschäftigungsbeitrag aus, so finden sich in Migrantenunternehmen rund fünf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Ihr Beschäftigungsbeitrag kann jedoch nicht mit demjenigen von allen übrigen Unternehmen verglichen werden, da zum Beispiel die nationale Herkunft der Entcheidungsträger in großen Kapitalgesellschaften nicht zu identifizieren ist. Daher macht es Sinn, nur inhabergeführte Unternehmen heranzuziehen. Aus dieser Perspektive berechnet stellen Migrantenunternehmen rund 18 Prozent aller Arbeitsplätze in inhabergeführten mittelständischen Unternehmen in Deutschland. Dies entspricht in etwa ihrem Anteil an allen Unternehmen in diesem Segment. Das heißt, Vermutungen, Migrantenunternehmen wären beschäftigungspolitisch nur von untergeordneter Bedeutung, haben keine Berechtigung. Die Unternehmen von Migrantinnen und Migranten leisten auch einen steigenden Ausbildungsbeitrag. Während in "deutschen" Unternehmen die Ausbildungsbereitschaft in jüngerer Zeit nachgelassen hat und fast nur noch ein Fünftel ausbildet, nähern sich Migrantenunternehmen diesem Anteil langsam "von unten" an. Die Ausbildungsbeteiligung variiert stark zwischen den Gruppen, wobei die Selbstständigen türkischer und russischer Herkunft am häufigsten und die asiatischen und griechischen Unternehmen am seltensten eine Ausbildungsentscheidung treffen. Wird nicht die bloße Beteiligung, sondern als angemessener Vergleichswert die Intensität der Ausbildung zugrunde gelegt, dann sind Migrantenunternehmen noch näher an den "deutschen" Unternehmen. Dies lässt sich nicht für alle, aber wenigstens für einige Herkunftsgruppen sagen: Während beispielsweise in den "einheimischen" Unternehmen rund sechs Azubis auf 100 Beschäftigte kommen, wird diese Ausbildungsquote von den "türkischen" Unternehmen mit fast acht Azubis pro 100 Beschäftigte sogar übertroffen. Ein zentraler Indikator für die wirtschaftliche Substanz der Unternehmen ist das von den Eigentümern erzielte Einkommen. Die durchschnittlichen Nettoeinkommen von selbstständigen Migrantinnen und Migranten liegen zwar tendenziell unterhalb derer von Deutschen, doch ein gutes Stück über denjenigen der abhängig beschäftigten Pendants. Von einer Marginalisierung durch den Schritt in die Selbstständigkeit kann in Anbetracht der Ergebnisse nicht ausgegangen werden. Bei allem ist auch zu beachten, dass die Einkommenswerte unter Selbstständigen generell eine starke Spreizung aufweisen, was wiederum die enorme Heterogenität in deren Performance widerspiegelt. Im Zeitalter von Internet, Globalisierung und transnationalen Netzwerken haben sich auch die Chancen und wirtschaftlichen Profile von Migrantenunternehmen verändert. Ein beachtlicher Teil ist sowohl in der alten als auch in der neuen Heimat in soziale und ökonomische Netzwerke eingebunden, was sie besonders befähigt, auch außenwirtschaftliche Aktivitäten zu entwickeln. Für 14 Prozent aller Migrantenunternehmen sind die Geschäftsbeziehungen ins Herkunftsland für den unternehmerischen Erfolg von großer Bedeutung. Und etwa jedes zehnte Unternehmen pflegt auch intensive Kontakte ins übrige Ausland. Ob und wie sich diese Beziehungen "materialisieren", das zeigt sich anhand der im Ausland erzielten Umsatzanteile. Sie liegen über alle Herkunftsgruppen hinweg deutlich höher als unter den deutschen Unternehmen vergleichbarer Größe. Migrantenunternehmen verdienen mehr Anerkennung Zusammenfassend ist also zu resümieren: Es gibt unter den Erwerbstätigen in Deutschland kaum eine andere Gruppe relevanter Größe, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten in vergleichbarer Stärke entwickelt hat, wie die der Selbstständigen ausländischer Herkunft. Es gibt aber auch kaum eine andere Gruppe unter den Selbstständigen, deren wirtschaftliche und soziale Integrität sowohl in der öffentlichen als auch in der wissenschaftlichen Debatte gleichermaßen in Zweifel gezogen wurde. Demgegenüber weisen die empirischen Befunde darauf hin, dass Migrantinnen und Migranten durch den Schritt in die Selbstständigkeit ihre Chancen sozialer Mobilität und struktureller Integration erheblich verbessern. Zudem leisten sie mit ihrem unternehmerischen Engagement einen beachtlichen Beitrag zur Arbeitsmarktintegration sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt. Nicht nur die Zahl der Migrantenunternehmen, sondern auch das sozioökonomische Profil hat sich, nicht zuletzt durch den Zugang neuer Gruppen, im Zeitverlauf enorm gewandelt. Weite Teile der sogenannten Migrantenökonomie haben mit der zunehmenden Partizipation an Bildung und Wissen einen Modernisierungsschub erfahren, der sie aus vermeintlicher Marginalität in die Mitte der Gesellschaft hebt. Die häufig betonten Differenzen zwischen autochthoner und allochthoner Selbstständigkeit haben sich zumindest verringert. Eine schrittweise Angleichung in der sozialen Platzierung sowie in der wirtschaftlichen Struktur und Leistungserstellung der Unternehmen resultiert zum einen aus dem Aufholprozess auf Seiten der Zuwanderer, ist aber zum anderen auch das Ergebnis einer wachsenden Heterogenität in der Referenzkategorie. Plädoyer für eine selbstständigkeitsorientierte Willkommenskultur In Bezug auf manche Indikatoren zeigen sich jedoch nach wie vor Differenzen zu den herkunftsdeutschen Selbstständigen, die zu einem beachtlichen Teil auch auf unterschiedliche Ausgangslagen zurückzuführen sind. Dazu zählen soziale Ungleichheiten, aber genauso ungleiche Chancen aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen. In der Herstellung von Chancengleichheit bei der Generierung unternehmerischer Ressourcen, vor allem von Bildungsressourcen, sowie in der Erleichterung der Zuwanderungs- und Marktzugangsbedingungen für gründungswillige Selbstständige, insbesondere aus Drittstaaten, liegen denn auch die zentralen politischen Aufgabenfelder. Hierzu bedarf es einer spezifizierten Weiterentwicklung der in jüngerer Zeit spürbar gewordenen Willkommenskultur – umso mehr, als diese infolge der "Flüchtlingskrise" wieder infrage gestellt wird. Eine solche lässt sich nicht nur an offenen Grenzen erkennen, sondern auch daran, welche Rolle unternehmerische Aktivitäten in der Zuwanderungs-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik spielen und ob die Politik den Zusammenhang zwischen Migration, Unternehmertum und wirtschaftlicher Entwicklung verinnerlicht hat. Will man Beispiele hierfür, dann muss man in der Migrationsgeschichte Deutschlands bis weit in das 17. Jahrhundert zurück, in eine Zeit, als Fürstentümer und Landgrafschaften die aus Frankreich flüchtenden Hugenotten und Waldenser mittels besonderer Privilegien anlockten. Diese Anwerbung galt als Mittel zur Anhebung des allgemeinen Wohlstands und vor allem der Steuereinnahmen, denn die Mehrzahl der calvinistisch orientierten Hugenotten waren kleine Gewerbetreibende, selbstständige Handwerker und nicht wenige verstanden sich auf die Gründung von Manufakturen. Spätestens jedoch seit der Industrialisierung wurde der positive Zusammenhang zwischen Migration und Unternehmertum offenbar verkannt. Soweit es in Deutschland Phasen politisch und wirtschaftlich erwünschter Zuwanderung gab, wurden Menschen gesucht, die bereit waren, ihre Arbeitskraft an Unternehmen zu verkaufen, und nicht solche, die ein Unternehmen gründen. Angefangen von der "Arbeitszufuhr" in der Kaiserzeit über die Gastarbeiteranwerbung in der jungen Bundesrepublik bis zum Fachkräftemangel in der heutigen Wissensgesellschaft war die Zuwanderungspolitik fast ausschließlich auf Lohnabhängige zugeschnitten. Vergleichsweise selten spielten hier Personen eine Rolle, die gewillt sind, für sich selbst und gegebenenfalls auch für andere einen Arbeitsplatz zu schaffen. Es hat auch äußerst lange gedauert, bis die Bundesregierung die für Drittstaatsangehörige geltenden Hürden im Paragraph 21 des Aufenthaltsgesetzes (Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit) abgesenkt hatte. Derzeit ist kaum abzuschätzen, inwieweit die jeweiligen Ausländerbehörden die verbliebenen Regelvoraussetzungen eher zulasten oder aber zugunsten von Gründungs- und Einwanderungswilligen auslegen. Folgt man der Prämisse, mehr unternehmerisches Potenzial nach Deutschland zu holen, dann darf sich die Zuwanderungspolitik nicht allein an dem von der Wirtschaft gemeldeten Fachkräftebedarf orientieren. Das heißt, sie kann sich nicht mit der bloßen Deckung der Arbeitskräftenachfrage zufriedengeben, sondern sie muss auf kreative Menschen zielen, vor allem auf solche, die wirtschaftlich gestalten und ihre Ideen umsetzen wollen. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. René Leicht/Marc Langhauser, Ökonomische Bedeutung und Leistungspotenziale von Migrantenunternehmen in Deutschland. WISO Diskurs, Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2014. Zu den in der Presse am häufigsten genannten Beispielen zählen ausschließlich Männer, unter ihnen der Reiseanbieter Vural Öger, der Textilunternehmer Kemal Sahin, der Berliner Dönerfabrikant Remzi Kaplan sowie der Mannheimer Großhändler Mustafa Baklan. Einen Überblick bieten u.a. die Beiträge in: Roger Waldinger/Howard Aldrich/Robin Ward, Ethnic Entrepreneurs. Immigrant Business in Industrial Societies, Newbury Park 1990; Robert Kloosterman/Jan Rath, Immigrant Entrepreneurs. Venturing Abroad in the Age of Globalization, Oxford 2003. Manfred Neuhöfer, Ökonomischer Wandel versus kulturelle Identität. Anmerkungen zum Erfordernis kultureller und ökonomischer Anpassungsleistungen von Migranten in postindustriellen Gesellschaften, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, 20 (2000), S. 224–241, hier: S. 224. Ebd. Ursula Apitzsch, Die Chancen der Zweiten Generation in selbstständigen Migrantenfamilien. Intergenerationelle Aspekte, in: Karl-Siegbert Rehberg, (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede, Frankfurt/M.–New York 2006, S. 737–751, hier: S. 741. Vgl. Udo Brixy/Rolf Sternberg/Arne Vorderwülbecke, Unternehmensgründungen durch Migranten, IAB Kurzbericht, Nürnberg 2013. Personen mit Migrationshintergrund sind nach der Definition des Statistischen Bundesamts "alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil". Es handelt sich um Italien, Spanien, Griechenland, die Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien (Anm. d. Red). Einige der nachfolgend genannten Indikatoren sind nicht dem Mikrozensus, sondern dem Datenpool des Instituts für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim entnommen. Für eine Beschreibung vgl. R. Leicht/M. Langhauser (Anm. 1). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Europäische Sozialfonds fördern ein Programm namens "Integration durch Qualifizierung (IQ)". Dessen Fachstelle Migrantenökonomie betreibt den Internettauftritt Externer Link: http://www.wir-gruenden-in-deutschland.de – eine neue und erfreuliche Initiative, aber derzeit eher noch eine Ausnahme.
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, René Leicht
2022-02-17T00:00:00
2016-04-11T00:00:00
2022-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/224517/in-einem-gaenzlich-anderen-licht/
Die unternehmerischen Aktivitäten von Migranten weichen nach Umfang, Charakteristika und Ergebnis von denen der "einheimischen" Deutschen nur geringfügig ab. Gründungswillige aus Drittstaaten bedürfen jedoch einer politisch gestützten Willkommenskult
[ "Apuz 16-17/2016", "Arbeitsmigration", "Unternehmertum von Migranten", "Willkommenskultur" ]
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Background Information | Canada | bpb.de
Canada (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de During the twentieth century, the country’s immigration policy was transformed from a mechanism for keeping people of non-European origin out into a tool for selecting a mixture of newcomers – regardless of origin – designed to fuel the country’s economic and demographic growth. Despite consistently high levels of immigration and increasing diversity, especially in urban centers, Canada has not experienced the kind of political backlash against immigration and multiculturalism seen in most European countries during the past decade. In Europe and elsewhere, Canada’s immigration policy – at least the component referred to as the "point system" – is often regarded as a model to be emulated. In recent years, however, the system upon which this Canadian success story is based has begun to change fundamentally. Three policy shifts in particular are of concern to migration researchers: (1) the expansion of temporary migration channels, (2) the more restrictive and conditional approach to permanent immigration and (3) the devolution of power over immigrant selection from the federal to the provincial level. All three changes have been introduced in order to address perceived shortcomings, especially the increasing labor market difficulties of highly-skilled immigrants since the 1990s and untenably long processing times for reviewing immigration applications. Whether or not these recent changes will have the economic effect that policy-makers desire is unclear. There are growing concerns that they may have negative consequences for aspects of immigrant integration beyond the economic sphere. Background Information Canada Capital: Ottawa Official languages: English and French Area: 9,984,670 km2 Population (2011): 33,476,688 Population density (2011): 3.7 persons per km2 Population growth (2006-2011): + 5.9% Labor force participation rate (04/2013): 66.7% Foreign-born population as a percentage of total (2011): 20.6% Unemployment rate (04/2013): 7.2% Religions (2011): Roman Catholic (38.7%), Protestant and ‘other Christian’(15.6%), Muslim (3.25%), Christian Orthodox (1.7%), Hindu (1.5%), Sikh (1.4%), Buddhist (1.1%), Jewish (1.0%) no religious affiliation (23.9%) Canada (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de Capital: Ottawa Official languages: English and French Area: 9,984,670 km2 Population (2011): 33,476,688 Population density (2011): 3.7 persons per km2 Population growth (2006-2011): + 5.9% Labor force participation rate (04/2013): 66.7% Foreign-born population as a percentage of total (2011): 20.6% Unemployment rate (04/2013): 7.2% Religions (2011): Roman Catholic (38.7%), Protestant and ‘other Christian’(15.6%), Muslim (3.25%), Christian Orthodox (1.7%), Hindu (1.5%), Sikh (1.4%), Buddhist (1.1%), Jewish (1.0%) no religious affiliation (23.9%)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-18T00:00:00
2013-10-18T00:00:00
2022-01-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/170780/background-information/
Since the 1980s, Canada has accepted more immigrants and refugees for permanent settlement in proportion to its population than any other country in the world.
[ "immigration policy", "Canada", "Kanada", "Einwanderungspolitik" ]
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Rücktritt der Verteidigungsministerin Lambrecht | Deine tägliche Dosis Politik | bpb.de
🌅 Guten Morgen, tagelang war über den bevorstehenden Rücktritt von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) spekuliert worden, gestern dann wurde er offiziell. 🏃‍♀️🏃‍♂️ Warum treten Minister/-innen zurück? Der Rücktritt einer Bundesministerin / eines Bundesministers ist keine Seltenheit. Seit 1990 traten inklusive Lambrecht bereits 39 Minister/-innen zurück. Öffentliche Kritik gab es zuletzt u.a. an Lambrechts Auftreten (z.B. Silvesteransprache), aber auch an den vielen Kurswechseln in Fragen der dt. Unterstützung des ukrainischen Militärs. Nach Familienministerin Anne Spiegel ist Lambrecht die zweite Ministerin der aktuellen Bundesregierung, die zurücktritt. 🤔 Was passiert jetzt? Formell werden die Minister/-innen der Bundesregierung auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen (Art. 64 GG). Um Bundesminister/-in zu werden, gibt es relativ wenige Ausschlusskriterien. Es ist jedoch verboten, Mitglied einer Landesregierung zu sein oder einen anderen Beruf auszuüben. Fachexpertise ist keine zwingende Voraussetzung. In der Praxis spielen vor allem Faktoren wie Parteizugehörigkeit und auch das Geschlecht eine Rolle. ☝️🏢 Was macht eigentlich eine Minister/-in? Minister/-innen sind Teil der Bundesregierung (Kabinett) und führen ihren Geschäftsbereich (in der Regel ein Ministerium) in eigener Verantwortung. Dabei müssen sie die Richtlinien beachten, die der/die Bundeskanzler/-in für die Regierungspolitik vorgibt. Sie müssen Ideen und Konzepte entwickeln, aus denen wiederum Gesetzesvorschläge und Maßnahmen entstehen, um die Ziele der Bundesregierung zu erreichen. Zu ihren Aufgaben gehören dabei u.a. die Verwaltung der Gelder für ihren Fachbereich und die Aufsicht über die Dienststellen in ihrem Bereich. Für uns als bpb ist beispielsweise Nancy Faeser als Innenministerin verantwortlich. ➡️ Mehr Infos zur Bundesregierung und den Ministerien findest du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1859 Viele Grüße Deine bpb Social Media Redaktion
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-01-31T00:00:00
2023-01-17T00:00:00
2023-01-31T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/517288/ruecktritt-der-verteidigungsministerin-lambrecht/
Tagelang war über den bevorstehenden Rücktritt von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) spekuliert worden, gestern dann wurde er offiziell.
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Qualität, Qualitätsmängel und Qualitätssicherung | Gesundheitspolitik | bpb.de
Qualität und Qualitätsmängel in der Arzneimittelversorgung Eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung hat vielfältige strukturelle und subjektive Voraussetzungen: Der Arzt muss in der Lage sein, die richtige Indikation zu stellen. Es muss ein übersichtliches Angebot an wirksamen, sicheren und möglichst auch preisgünstigen Arzneimitteln geben, deren therapeutischer Nutzen nachgewiesen ist. Die ärztlichen Verordnungsentscheidungen müssen der Krankheit und der Person des Kranken angemessen sein. Der Zugang zur Arzneimittelversorgung darf sozial nicht diskriminiert werden. Qualitätsmängel in der Arzneimittelversorgung Das Wissen über die Qualität der Arzneimittelversorgung ist insgesamt sehr lückenhaft. Die kontinuierliche, systematische, patienten- und arztbezogene Beobachtung und Bewertung von erwünschten und unerwünschten Wirkungen in der Arzneimitteltherapie ist verbesserungsbedürftig . Sofern Daten vorliegen, geben sie deutliche Hinweise darauf, dass die Qualität des Arzneimittelangebots und der Arzneimittelversorgung in Deutschland durch gravierende Mängel gekennzeichnet ist, wobei sich in einigen Bereichen allerdings auch deutliche Verbesserungen der Versorgungssituation abzeichnen . Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Mängel bei der Nachmarktkontrolle („Pharmakovigilanz“) vermutlich eine Vielzahl unerwünschter Wirkungen einstweilen im Dunkeln lassen. Ärztliche Qualifikation In Deutschland lassen in Bezug auf alle der oben genannten Aspekte erhebliche Unzulänglichkeiten ausmachen . Bereits bei der Indikationsstellung identifizierte der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bei Ärzten Mängel, Erkrankungen oder Risikofaktoren zu erkennen bzw. angemessen zu deuten, z.B. bei Bluthochdruck, Diabetes sowie psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Intransparenz des Arzneimittelmarktes Das Arzneimittelangebot ist angesichts der hohen Zahl von therapeutisch umstrittenen Arzneimitteln sehr intransparent. Im Jahr 2014 gab es zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) immerhin noch 28,4 Millionen Verordnungen umstrittener Arzneimittel mit einem Umsatzvolumen von 625 Millionen Euro ; dies entsprach einem Anteil von 4,3 Prozent an allen GKV-Arzneimittelverordnungen und von 1,9 Prozent am gesamten GKV-Arzneimittelumsatz. Mängel in der Nachmarktkontrolle erschweren es dem Arzt, sich einen Überblick über das medizinisch jeweils indizierte Medikament zu verschaffen. Es gibt weder für Ärzte und Apotheker noch für Verbraucher eine unabhängige Arzneimittelbewertung. Ärztliche Qualifikationsmängel und die Intransparenz des Arzneimittelmarktes tragen dazu bei, dass ärztliche Verordnungsentscheidungen des Öfteren nicht angemessen sind. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat bereits 2002 Merkmale von Überversorgung als auch von Unter- und Fehlversorgung in der Arzneimitteltherapie ausgemacht: Qualitätsmängel bei der medikamentösen Behandlung einiger besonders weit verbreiteter Erkrankungen (zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten, chronischen, obstruktiven Lungenerkrankungen, zerebrovaskulären Erkrankungen, Diabetes mellitus, Demenz, Hypertonie, Migräne), nicht indizierte Leistungen und Qualitätsprobleme bei der Dauermedikation mit Tranquilizern und bei der Verordnung von nicht sinnvoll zusammengesetzten Kombinationspräparaten, Unterversorgung mit Opioiden bei malignombedingten Schmerzen, Unterversorgung mit Medikamenten bei Depression, Qualitätsdefizite in der Palliativversorgung, u.a. in der Versorgung mit Schmerz- und anderen Arzneimitteln. Besondere Problemgruppen Zu den besonderen Problemgruppen der Arzneimittelversorgung zählen ältere, multimorbide Patienten, die mit einer Vielzahl von Präparaten dauerhaft therapiert werden. Wechselwirkungen sind häufig nicht erforscht oder Ärzten angesichts unzureichender Kenntnisse nicht bekannt. Eine weitere Problemgruppe sind Kinder und Jugendliche. Experten kritisieren, dass sie häufig Arzneimittel erhalten, die nur für Erwachsene geprüft und für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen nicht ausdrücklich zugelassen sind . Darüber hinaus erzeugt die Abschottung von ambulanter und stationärer Versorgung manches Problem in der Arzneimittelversorgung. In der stationären Versorgung werden zuvor verordnete Medikamente wieder abgesetzt und nach der stationären Entlassung erneut geändert. Dieses Wechselspiel dürfte unter gesundheitlichen Aspekten kaum positiv sein. Antwort c) ist richtig: Dem Text ist zu entnehmen, dass jährlich 16.000 bis 25.000 Menschen aufgrund von Fehlmedikationen sterben. Beispielsweise werden die Präparate zu lange und zu hoch dosiert verordnet oder gegebenenfalls Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die die Patientin oder der Patient konsumiert, nicht beachtet. Antwort c) ist richtig: Dem Text ist zu entnehmen, dass jährlich 16.000 bis 25.000 Menschen aufgrund von Fehlmedikationen sterben. Beispielsweise werden die Präparate zu lange und zu hoch dosiert verordnet oder gegebenenfalls Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die die Patientin oder der Patient konsumiert, nicht beachtet. Das Zusammenwirken der genannten Faktoren führt zu gravierenden Gesundheitsgefährdungen. So wird geschätzt, dass 3,25 Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen sind . Ein unerwünschtes Arzneimittelereignis bringt geschätzte Kosten von 2.250 Euro mit sich, die Gesamtkosten der Behandlung unerwünschter Arzneimittelereignisse belaufen sich damit auf rund 434 Millionen Euro pro Jahr. Bei der Annahme, dass jeder fünfte dieser Fälle vermeidbar ist, verbleibt ein Einsparpotential von 87 Millionen Euro pro Jahr . Im Jahr 2015 registrierte das BfArM 2.241 Todesfälle aufgrund unerwünschter Arzneimittelwirkungen sowie weitere 25.160 Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen . Die Zahl der tatsächlichen Todesfälle dürfte noch weit höher liegen: Fröhlich (2001) geht von 16.000 bis 25.000 Arzneimitteltoten pro Jahr aus. Unzureichende Befolgung von Arzneimitteltherapien durch Patientinnen und Patienten Qualitätsmängel in der Arzneimittelversorgung entstehen auch durch eine oft unzureichende Compliance der Patienten . Allerdings verweist auch eine unzureichende Compliance häufig auf Versorgungsmängel, weil Ärzte in solchen Fällen die Ängste, Bedürfnisse und Handlungsressourcen der Patienten bei der Verordnungsentscheidung offenkundig nicht angemessen berücksichtigen . Eine solche Non-Compliance mag unter medizinischen Gesichtspunkten durchaus sinnvoll sein. Aber sie dürfte in vielen Fällen auch gesundheitlich unerwünschte Wirkungen nach sich ziehen. Zudem verursacht sie außerdem vermeidbare Kosten für die GKV, und dies in nicht unerheblichem Umfang . Schließlich müssen auch die bei manchen Arzneimitteln ausgeprägten regionalen Unterschiede in der Arzneimittelverordnung als Hinweise auf Qualitätsmängel gewertet werden . So erhielt im Jahr 2011 in der KV-Region Bayern jeder Versicherte im Durchschnitt Analgetika (Schmerzmittel) im Umfang von 7,24 DDD, in Mecklenburg-Vorpommern aber 11,68 DDD (+ 61,3 %). In Brandenburg wurde jedem Versichertem in Brandenburg 3,5 DDD Antibiotika zur systemischen Anwendung verordnet, in Nordrhein-Westfalen hingegen 6,1 DDD (+ 74,3 %) . Diese und andere Unterschiede in der Arzneimitteltherapie lassen sich nur teilweise auf regionale Unterschiede in der Alterszusammensetzung und Morbidität zurückführen. Vermutlich sind hier auch Unterschiede in den Therapiegewohnheiten von erheblicher Bedeutung. Antwort b) ist richtig: Non-Compliance Antwort b) ist richtig: Non-Compliance Rationalisierungspotenziale Die erwähnten Qualitätsmängel – gleich, ob es sich um eine Über-, Unter- oder Fehlversorgung handelt – kennzeichnen auch Wirtschaftlichkeitsreserven in der Arzneimittelversorgung, denn nur Therapien, die wirksam, ausreichend und zweckmäßig sind und die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten, können auch wirtschaftlich sein. Einsparpotenziale existieren zum einen, wenn verordnete Arzneimittel unwirksam sind weniger wirksam sind als Medikamente mit demselben oder einem niedrigeren Preis oder nicht wirksamer sind als preiswertere Arzneimittel . Der Arzneiverordnungs-Report errechnet für den GKV-Arzneimittelmarkt ein erhebliches Einsparpotenzial. Auf der Grundlage nationaler Preisvergleiche beläuft es sich auf 4,7 Milliarden Euro, bezogen auf die Gesamt-Nettokosten im GKV-Fertigarzneimittelmarkt von 26,3 Milliarden Euro . Im Einzelnen handelt es sich um Einsparungen bei Analogpräparaten von 2,8 Milliarden Euro, Generika von 1,4 Milliarden Euro und umstrittenen Arzneimitteln von 0,5 Milliarden Euro. Hiervon sind die durch Rabattverträge erzielten Einsparungen (1,6 Milliarden Euro) zu subtrahieren, so dass sich ein reales Einsparpotential in Höhe von 3,1 Milliarden Euro ergibt. Auf der Grundlage internationaler Preisvergleiche ergibt sich ein Einsparpotenzial in Höhe von 9,5 Milliarden Euro. Hierzu tragen bei Generika von 4,2 Milliarden Euro, patentgeschützte Arzneimittel von 1,6 Milliarden Euro und Analogpräparate von 3,7 Milliarden Euro. Zieht man von dieser Summe erneut die Einsparungen durch Rabattverträge ab, so verbleibt ein Einsparpotenzial von 7,8 Milliarden Euro (Tab. 7-7). Zugang zu Arzneimitteln Im Hinblick auf den sozial und finanziell undiskriminierten Zugang zu Arzneimitteln stellt sich die GKV insofern positiv dar, als sich der umfassende Leistungsanspruch von GKV-Versicherten auch auf die Versorgung mit Arzneimitteln erstreckt. Allerdings ist das Bild auch nicht frei von Widersprüchen: Die deutliche Anhebung der Zuzahlungen kann in nicht wenigen Fällen eine erhebliche Belastung für die Patienten darstellen. Auch die erwähnten Regelungen zur Zuzahlungsbefreiung ändern daran wenig. Zudem sind diese in der Vergangenheit zulasten der Versicherten verändert worden. Ob und in welcher Zahl Patientinnen und Patienten aus finanziellen Gründen auf die Einnahme notwendiger Medikamente verzichten, lässt sich aber nicht verlässlich sagen. Hinzu kommt, dass Budget- und Richtgrößenregelungen Ärzte verstärkt dazu veranlassen können, ihren GKV-Patienten Medikamente vorzuenthalten beziehungsweise privat zu verordnen. Sie schaffen auch einen Anreiz zur Unterversorgung beziehungsweise zur zeitlichen oder institutionellen Verlagerung von Kosten. Verlässliche Aussagen über die Verbreitung derartiger Verhaltensweisen lassen sich nicht treffen, aber es liegen ernst zu nehmende Hinweise darauf vor, dass sie vorkommen – und zwar in einer nicht zu vernachlässigenden Größenordnung . Dabei fällt es Ärztinnen und Ärzten vergleichsweise leicht, die Vorenthaltung von Leistungen zu begründen, weil sie letztlich den medizinisch notwendigen Behandlungsbedarf definieren. Allerdings ist die häufig verwendete Begründung, eine Überschreitung des Budgets verbiete es der Ärztin oder dem Arzt, weitere Medikamente zu verordnen, durch die Rechtslage nicht gedeckt, denn das Sozialgesetzbuch verpflichtet sie, alle medizinisch notwendigen Leistungen zu erbringen beziehungsweise zu veranlassen, auch wenn Budgets überschritten werden müssen. Fortschritte in der Arzneimittelversorgung Ungeachtet anhaltender Mängel sind auch Tendenzen in Richtung auf eine Verbesserung der Arzneimittelversorgung sichtbar. Dies betrifft zunächst das Arzneimittelangebot. Zwar ist das Gewicht umstrittener Arzneimittel weiterhin zu hoch, jedoch sind die Verordnungs- und Umsatzzahlen in diesem Segment seit Jahren rückläufig. So sank zwischen 1992 und 2014 die Zahl der Verordnungen von rund 399 auf rund 28 Millionen und das Umsatzvolumen von 5,1 Milliarden auf 625 Millionen Euro . Schließlich haben pharmazeutische Unternehmen in den zurückliegenden Jahren eine Reihe innovativer Medikamente auf den Markt gebracht, mit denen für einige chronische Erkrankungen eine Verbesserung von Behandlungsergebnissen erzielt werden kann, etwa für die koronare Herzkrankheit, für Diabetes, chronische Schmerzen und Depressionen. Darüber hinaus sind auch verstärkte Anstrengungen von Krankenkassen, KVen und Vertragsärztinnen und -ärzten zu beobachten, zu mehr Rationalität in der Arzneimittelverordnung zu gelangen. In diesem Zusammenhang haben sich in vielen Fällen ärztliche Qualitätszirkel als geeignete Instrumente erwiesen . Derartige Qualitätszirkel beziehen sich entweder direkt auf die Pharmakotherapie oder besprechen Fragen der Arzneimitteltherapie im Rahmen allgemeiner Bemühungen zur Qualitätssicherung. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben sie auch im Zusammenhang mit den Bemühungen zur Modernisierung der Versorgungsstrukturen durch Modellvorhaben und Strukturverträge sowie in der hausarztzentrierten Versorgung Verbreitung gefunden. Zudem wurde mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 auch eine Pflicht zu einer auch von der Pharmaindustrie unabhängigen Weiterbildung in das SGB V aufgenommen. Auch die explizite Formulierung von Fortbildungspflichten im SGB V durch das GMG (§ 95d SGB V) bietet Möglichkeiten zu einer Verbesserung der Arzneimitteltherapie. Demzufolge ist der Vertragsarzt „verpflichtet, sich in dem Umfang fachlich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Fortentwicklung der zu seiner Berufsausübung in der vertragsärztlichen Versorgung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist“ (§ 95d Abs. 1 SGB V). Seitdem müssen die Vertragsärzte alle fünf Jahre nachweisen, dass sie ihren Fortbildungspflichten nachgekommen sind (§ 95d Abs. 3 SGB V). Die Fortbildungsinhalte selbst müssen auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sein (§ 95d Abs. 1 SGB V), also auch von denen der Pharma-Industrie. Allerdings dürften Ärzte ungeachtet dessen starken Beeinflussungsversuchen durch die Arzneimittelhersteller unterliegen . Qualitätssicherung in der Arzneimittelversorgung Neben der Kostendämpfung ist die Qualitätssicherung ein wichtiges Ziel der Arzneimittelpolitik. Manche der gesetzlichen Bestimmungen zielen gleichzeitig auf eine Kostendämpfung und auf eine Qualitätssicherung. Dies gilt auch für eine Reihe der oben erwähnten Kostendämpfungsmaßnahmen. Kompetenzen und Tätigkeit des Gemeinsamen Bundesausschusses Art und Umfang des Arzneimittelverbrauchs werden in erster Linie durch das ärztliche Verordnungsverhalten bestimmt. Dabei unterliegt die Arzneimitteltherapie wie alle anderen Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung auch den Rahmenbedingungen des Sozialgesetzbuches: Sie muss ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1 SGB V). Diese Generalnormen werden durch die rechtsverbindlichen Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in der Zusammensetzung für die vertragsärztliche Versorgung, also die ambulante Versorgung von GKV-Versicherten, konkretisiert. Die Arzneimittelrichtlinien beinhalten: Ausschlussbestimmungen oder Verordnungseinschränkungen für bestimmte Arzneimittelgruppen und Therapieverfahren und Grundsätze für das Verordnungsverhalten der Vertragsärzte. So sehen die Arzneimittelrichtlinien zum Beispiel vor, dass der Vertragsarzt neben oder anstelle der Arzneimitteltherapie auch andere therapeutische Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, bei der Verordnungsmenge Wirtschaftlichkeitsgrundsätze zu beachten und bei seiner Verordnungsentscheidung auch den Preis des Arzneimittels zu berücksichtigen hat. Daneben nimmt der G-BA durch sein Recht, über die Aufnahme neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) in den GKV-Leistungskatalog zu entscheiden, Einfluss auf die Erstattungsfähigkeit von Medikamenten. Zitat§ 91 Abs. 1 S. 1 SGB V Gemeinsamer Bundesausschuss "(1) Die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen bilden einen Gemeinsamen Bundesausschuss." Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/ Darüber hinaus erhielt der Gemeinsame Bundesausschuss mit dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) 2006 die Möglichkeit, die Erbringung und Verordnung von Leistungen einschließlich Arzneimitteln oder Maßnahmen einzuschränken oder auszuschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind und wenn insbesondere ein Arzneimittel unzweckmäßig oder eine wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist (§ 92 Abs. 1 SGB V). Bei den Arzneimittelrichtlinien sind insbesondere die Verordnungsausschlüsse und -einschränkungen immer wieder Gegenstand rechtlicher Beanstandungen. Wiederholt haben die Gerichte einschlägigen Klagen von Pharmaunternehmen stattgegeben und damit Richtlinien des G-BA außer Kraft gesetzt. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz, das am 1. Janaur 2004 in Kraft trat, wurde eine neue Einrichtung der Qualitätssicherung ins Leben gerufen, der auch Aufgaben auf dem Gebiet der Arzneimittelversorgung zugewiesen wurden: das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Zitat§ 139a Abs. 1 S. 1 SGB V Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen "(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 gründet ein fachlich unabhängiges, rechtsfähiges, wissenschaftliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und ist dessen Träger." Externer Link: https://dejure.org/gesetze/SGB_V/139a.html Zu seinen Aufgaben zählen (§ 139a Abs. 3 SGB V) neben der Ermittlung, Darstellung und Bewertung des aktuellen medizinischen Wissensstandes zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren bei ausgewählten Krankheiten. Weiterhin erarbeitet es evidenzbasierte Leitlinien für die Behandlung epidemiologisch bedeutsamer Krankheiten und bewertet es den therapeutischen Nutzen von Arzneimitteln. Darüber hinaus soll das Institut einheitliche Kriterien für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln bestimmen. Das IQWiG wird tätig, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss ihm einen entsprechenden Arbeitsauftrag erteilt. Diese Aufträge können sich auf patentgeschützte Arzneimittel, über deren Verordnungsfähigkeit zulasten der GKV entschieden werden soll, ebenso erstrecken wie auf alle anderen Arzneimittel. Das IQWiG gibt auf der Grundlage seiner Bewertung Empfehlungen ab (§ 35b Abs. 2 SGB V), die der G-BA bei seiner Beschlussfassung über die Arzneimittelrichtlinien zu berücksichtigen hat. Beobachtung von Arzneimittelrisiken (Nachmarktkontrolle, Pharmakovigilanz) Der therapeutische Wert – also Nutzen und Risiken – eines Medikaments kann zumeist erst nach langjährigen Erfahrungen mit der erforderlichen Zuverlässigkeit bestimmt werden. Daher ist die kontinuierliche, systematische Beobachtung der erwünschten und unerwünschten Wirkungen eines Medikaments nach der Markteinführung ein unverzichtbares Instrument der Qualitätssicherung in der Arzneimittelversorgung. In Deutschland existiert ein solches Instrument jedoch nicht. Vielmehr findet sich hier ein System der Spontanerfassung von einzelnen Verdachtsfällen, die dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) von Ärztinnen und Ärzten oder Arzneimittelherstellern angezeigt werden. Zwar gehen dort jährlich mehr als 20.000 Verdachtsmeldungen ein , vermutlich wird damit aber nur ein kleiner Teil der unerwünschten Arzneimittelwirkungen bekannt. Für die Erfassung von Arzneimittelrisiken ist des Weiteren die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft von Bedeutung. Sie erfasst, dokumentiert und bewertet unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die ihr die Ärzte mitzuteilen haben. Außerdem nimmt sie im Auftrag der Bundesärztekammer unter anderem Stellung zur Herstellung und Verwendung von Arzneimitteln. Insgesamt betrachtet, ist das deutsche Spontanerfassungssystem nicht sonderlich gut geeignet für die Ermittlung unerwünschter Arzneimittelwirkungen geeignet. Das Eintreten, die Häufigkeitsrate und die Schwere unerwünschter Arzneimittelwirkungen sowie Kausalzusammenhänge zwischen Arzneimittelkonsum und unerwünschten Nebenwirkungen können so kaum mit der wünschenswerten Genauigkeit erfasst werden. Dies zu ermöglichen, würde den Aufbau umfassender Datenbanken erfordern, die in anderen Ländern zum Teil existieren. "(1) Die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen bilden einen Gemeinsamen Bundesausschuss." Externer Link: https://www.gesetze-im-internet.de/ "(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 gründet ein fachlich unabhängiges, rechtsfähiges, wissenschaftliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und ist dessen Träger." Externer Link: https://dejure.org/gesetze/SGB_V/139a.html Antwort c) ist richtig: die Festsetzung der Preise von Arzneimitteln in Abhängigkeit von ihrem festgestellten Nutzen Antwort b) ist richtig: Die Verordnungs- und Umsatzzahlen sind im Arzneimittelsegment rückläufig. Antwort a) ist richtig: Durch die starke Anhebung der Zuzahlungen besteht in nicht wenigen Fällen eine erhebliche Belastung für die Patientinnen und Patienten. Antwort c) ist richtig: Er beschließt über die Erstattungen von Arzneimitteln bei Privatversicherten. Antwort c) ist richtig: Das in Deutschland praktizierte Spontanerfassungssystem ist sehr geeignet, um unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu dokumentieren. Antwort c) ist richtig: die Festsetzung der Preise von Arzneimitteln in Abhängigkeit von ihrem festgestellten Nutzen Antwort b) ist richtig: Die Verordnungs- und Umsatzzahlen sind im Arzneimittelsegment rückläufig. Antwort a) ist richtig: Durch die starke Anhebung der Zuzahlungen besteht in nicht wenigen Fällen eine erhebliche Belastung für die Patientinnen und Patienten. Antwort c) ist richtig: Er beschließt über die Erstattungen von Arzneimitteln bei Privatversicherten. Antwort c) ist richtig: Das in Deutschland praktizierte Spontanerfassungssystem ist sehr geeignet, um unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu dokumentieren. Quellen / Literatur Bücheler, Reinhild/Schwab, Matthias/Mörike, Klaus u. a. (2002): Off Label Prescribing to Children in Primary Care in Germany: Retrospective Cohort Study. In: British Medical Journal, Vol. 324, 1 June, S. 1311-1312. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (2016): Eingänge zu UAW-Berichten Sachstand BfArM, 79. Routinesitzung, 08.11.2016. Externer Link: http://www.bfarm.de. Ferber, Liselotte von/Schubert, Ingrid/Köster, Ingrid/Ihle, Peter (2002): Pharmakotherapie für Hausärzte – ja, aber wie? In: Die Ersatzkasse, H. 7, S. 267-271. Frölich, Jürgen C. (2001): Lipobay – ein neuer Arzneimittelskandal? Interview in Lifeline – das Gesundheitsportal http://yavivo.lifeline.de/cgi-bin/printVersion.cgi (Zuriff am 11.06.2002) Glaeske, Gerd (1999): Reflexionen über die Qualität der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. In: Faber, Ulrike/Glaeske, Gerd/Puteanus, Udo/Schubert, Ingrid (Hrsg.) (1999): Wechselwirkungen. Beiträge zu Pharmazie und Politik. Frankfurt am Main: Mabuse, S. 133-155. Glaeske, Gerd (2000): Das Arzneimittel-Informations-Netzwerk – Interaktive "Gegenöffentlichkeit" als Verbraucher- und Patientenschutz. In: Arbeit und Sozialpolitik, 54. Jg., H. 7-8, S. 10–17. Häussler, Bertram/Höer, Ariane/Hempel, Elke (Hrsg.) (2013): Arzneimittel-Atlas 2012. Der Arzneimittelverbrauch in der GKV, Berlin/Heidelberg: Springer. Kiewel, Angelika (2002): Nehmen Sie Ihre Medikamente selbst? Neue Wege der Patientenbeteiligung und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen, Weinheim, München: Juventa. Meyer, Dörte (1999): Verbraucher und die Selbstmedikation, in: Faber, Ulrike/Glaeske, Gerd/Puteanus, Udo/Schubert, Ingrid (Hrsg.) (1999): Wechselwirkungen. Beiträge zu Pharmazie und Politik. Frankfurt am Main: Mabuse, S. 189-229. Petermann, Franz (Hrsg.) (1998): Compliance und Selbstmanagement, Göttingen: Hogrefe. Rottenkolber, Dominik/Schmiedl, Sven/Rottenkolber, Marietta; Farker, Katrin; Salje, Karen; Müller, Silke et al. 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Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002a): Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Addendum: Zur Steigerung von Effizienz und Effektivität der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Baden-Baden: Nomos. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002b): Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd. I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation; Bd. II: Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege; Bd. III: Über-, Unter- und Fehlversorgung, Baden-Baden: Nomos. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) (2006): Gutachten 2005: Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, 2 Bde., Bd. I: Kooperative Koordination und Wettbewerb, Sozioökonomischer Status und Gesundheit, Strategien der Primärprävention; Bd. II: Schnittstellen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung, Hilfs- und Heilmittel in der GKV, Einflussfaktoren auf die Verordnung von Arzneimitteln, Stuttgart: Kohlhammer. Strech, Daniel/Danis, Marion7Löb, M./Marckmann, Georg (2009): Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung in deutschen Krankenhäusern. Ärztliche Einschätzungen aus einer repräsentativen Umfrage. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 134 (24), S. 1261-1266. Thürmann, Petra A./Schmitt, Klaus (1998): Erfassung und Bewertung unerwünschter Arzneimittelwirkungen. In: Medizinische Klinik, 93. Jg., H. 11, S. 687–692. Volmer, Timm/Kielhorn, Adrian (1998): Compliance und Gesundheitsökonomie. In: Petermann, Franz (Hrsg.) (1998): Compliance und Selbstmanagement. Göttingen, S. 45–72. Bücheler, Reinhild/Schwab, Matthias/Mörike, Klaus u. a. (2002): Off Label Prescribing to Children in Primary Care in Germany: Retrospective Cohort Study. In: British Medical Journal, Vol. 324, 1 June, S. 1311-1312. 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Jg., H. 7-8, S. 10–17. Häussler, Bertram/Höer, Ariane/Hempel, Elke (Hrsg.) (2013): Arzneimittel-Atlas 2012. Der Arzneimittelverbrauch in der GKV, Berlin/Heidelberg: Springer. Kiewel, Angelika (2002): Nehmen Sie Ihre Medikamente selbst? Neue Wege der Patientenbeteiligung und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen, Weinheim, München: Juventa. Meyer, Dörte (1999): Verbraucher und die Selbstmedikation, in: Faber, Ulrike/Glaeske, Gerd/Puteanus, Udo/Schubert, Ingrid (Hrsg.) (1999): Wechselwirkungen. Beiträge zu Pharmazie und Politik. Frankfurt am Main: Mabuse, S. 189-229. Petermann, Franz (Hrsg.) (1998): Compliance und Selbstmanagement, Göttingen: Hogrefe. Rottenkolber, Dominik/Schmiedl, Sven/Rottenkolber, Marietta; Farker, Katrin; Salje, Karen; Müller, Silke et al. (2011): Adverse drug reactions in Germany: direct costs of internal medicine hospitalizations, in: Pharmacoepidemiology and Drug Safety 20: 626-634, DOI: 10.1002/pds.2118. Schwabe, Ulrich (2003): Einsparpotentiale. 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Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002b): Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd. I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation; Bd. II: Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege; Bd. III: Über-, Unter- und Fehlversorgung, Baden-Baden: Nomos. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) (2006): Gutachten 2005: Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, 2 Bde., Bd. I: Kooperative Koordination und Wettbewerb, Sozioökonomischer Status und Gesundheit, Strategien der Primärprävention; Bd. II: Schnittstellen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung, Hilfs- und Heilmittel in der GKV, Einflussfaktoren auf die Verordnung von Arzneimitteln, Stuttgart: Kohlhammer. Strech, Daniel/Danis, Marion7Löb, M./Marckmann, Georg (2009): Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung in deutschen Krankenhäusern. Ärztliche Einschätzungen aus einer repräsentativen Umfrage. 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Schwabe 2012a: 26ff., bes. 39ff. Strech et al. 2009. Schwabe 2015: 25. Ferber et al. 2002; SVR 2006, Bd. II: 340ff. SVR 2006, Bd. II: 285f. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2016.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-01T00:00:00
2017-07-31T00:00:00
2021-12-01T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/gesundheit/gesundheitspolitik/253503/qualitaet-qualitaetsmaengel-und-qualitaetssicherung/
Welche Qualität weist die Arzneimittelversorgung auf? Wie wird auf bestehende Mängel reagiert?
[ "Arzneimittelpolitik", "Arzneimittelversorgung", "Qualifikation", "Qualitätsmängel", "Qualitätssicherung", "Nachmarktkontrolle", "multimorbide Patienten", "Wechselwirkungen", "Compliance", "Qualitätszirkel", "Fortbildung" ]
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Impressum | Zeiten des Wandels | bpb.de
Herausgeberin: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Adenauerallee 86, 53113 Bonn Fax-Nr.: +49 228 99515-309. Internet-Adresse: Externer Link: www.bpb.de E-Mail: E-Mail Link: info@bpb.de Redaktion: Elke Diehl, Jürgen Faulenbach (verantwortlich/bpb), Christine Hesse. Manuskript und Mitarbeit: Peter Borowsky, Hamburg; Elke Diehl, Bonn; Jürgen Faulenbach, Bonn; Hermann Harms, Braunschweig; Christine Hesse, Bonn; Werner Ripper, Seeheim-Jugenheim; Walter Süß, Berlin. Online-Bearbeitung: Franzis print & media, Denisstraße 1/b, 80335 München. Redaktionsschluss der Printausgabe: Februar 1998. Titelbild: Ullstein Bilderdienst. US-Präsident John F. Kennedy während seines Berlin-Besuchs im Wagen neben dem Regierenden Bürgermeister von Berlin Willy Brandt und Bundeskanzler Konrad Adenauer (v.l.) im Juni 1963.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-07T00:00:00
2011-09-13T00:00:00
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Bildungspartnerschaften im Querschnitt Jugend, Kultur und Schule | Kulturelle Bildung | bpb.de
"Hochkonjunktur" wird der kulturellen Bildung in Zusammenhang mit Schulen, insbesondere mit Ganztagsschulen, gerne bescheinigt. Anlass dazu geben Medienereignisse wie "Rhythm is it!" ebenso wie zahlreiche erfolgreiche Kulturkooperationen, die über Wettbewerbe wie "Mixed Up" und "Kinder zum Olymp!" bekannt geworden sind. Einzelne Bundesländer unterstützen kulturelle Bildungsangebote in allgemein bildenden Schulen mittlerweile mit Förderprogrammen wie "Kultur und Schule" in Nordrhein-Westfalen oder dem Programm "Pilotschule Kultur" in Hamburg. Insgesamt hat das Themenfeld "Kulturelle Bildung in der Schule" deutlich an Dynamik gewonnen. Angesichts ihrer Potenziale für zeitgemäße Lehr- und Lernformen, für umfassende Kompetenzentwicklung und für die Förderung von Teilhabegerechtigkeit nimmt kulturelle Bildung einen zentralen Stellenwert ein, wenn es um vernetzte Bildungsangebote und Schulkooperationen geht. Noch vor einigen Jahren stellte diese Form der "Hochkonjunktur" keine Selbstverständlichkeit dar. Als nach den für das deutsche Bildungssystem ernüchternd ausfallenden PISA-Ergebnissen mit dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" 2003 der bundesweite Ganztagsschulausbau begann, setzten die Umbrüche in den Ländern und Kommunen auch für außerschulische Träger und Einrichtungen neue Bewegungen in Gang. Für kulturelle Kinder- und Jugendbildung bedeuteten die Bildungs- und jugendpolitischen Neuerungen Veränderungsprozesse mit weitreichenden Folgen. Die Kooperationen mit den neuen Ganztagsschulen gingen zumeist deutlich über die in langer Tradition gepflegte, zeitlich begrenzte und projektbezogene Zusammenarbeit der bisherigen Praxis hinaus. Angestrebt wurde die Schaffung eines "gemeinsamen Dritten". Für zahlreiche außerschulische Fachkräfte galt das erklärte Ziel, an einer Schulreform mitzuwirken und die Bildungswirkungen von Schule und Jugendkulturarbeit unter dem Dach eines "neuen Hauses des Lernens" zusammenzuführen . Eine große Stärke der Kooperationen zwischen Kultur und Schule liegt in der Heterogenität des Themenfeldes. Gleichzeitig stellt diese eine zentrale Herausforderung dar, die sich alleine aus der Vielseitigkeit der Kooperationspartner ergibt: Vereine, Verbände, Einrichtungen, Institutionen in freier oder öffentlicher Trägerschaft vom Spielmobil bis zum Konzerthaus, ebenso einzelne Pädagogen/-innen, wie Tanz- oder Theaterpädagogen/-innen, und freischaffende Künstler/-innen aus allen Kunst- und Kultursparten treffen auf offene, teilweise gebundene und gebundene Ganztagsschulformen in wahlweise additivem, integrativem oder kooperativem System. Gleichzeitig bietet der schulische Kooperationspartner im föderalen Deutschland nicht weniger als 16 unterschiedliche Ganztagsschulkonzepte und damit unterschiedlichste bildungspolitische Voraussetzungen und Bedingungen für Kooperationen . Bis heute ist das Handlungsfeld "Kultur und Schule" von unterschiedlichsten Dynamiken geprägt: Die Spannweite der bundesweiten Entwicklungen reicht von Nichtvorhandensein in einigen (häufig ländlichen) Regionen über zahlreiche gut funktionierende Einzelprojekte bis hin zu ersten Strukturfördermaßnahmen in einzelnen Ländern und Kommunen sowie der Entstehung von sogenannten Kulturschulen. Mit ihrem Netzwerk für Kooperationen "Kultur macht Schule" begleitet die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung seit 2004 den Ausbau und die Qualitätsentwicklung von Kooperationen zwischen kultureller Bildung und allgemein bildenden Schulen. Ein wichtiges Instrument stellt in diesem Zusammenhang der Wettbewerb "MIXED UP" dar. Bereits seit 2005 lobt die BKJ diesen Kulturpreis aus. Jahr für Jahr präsentiert sich der Wettbewerb seither als Spiegelbild einer bundesweiten Kooperationspraxis, die sich stetig weiterentwickelt und bis heute stark verändert hat. Was mit überschaubaren Wettbewerbsbeiträgen, bestehend aus zumeist bilateral und zeitlich begrenzt angelegten Kooperationsprojekten, begann, wuchs mit den Jahren zu einer Bewerberschaft heran, die sich zunehmend durch umfassende lokale Netzwerkstrukturen auszeichnet. Nicht selten beteiligen sich mehrere Schulen an den Projekten, unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler, Vereine und Institutionen: Das Stadttheater arbeitet zusammen mit dem soziokulturellen Zentrum, hinzu kommt eine freischaffende Künstlerin, die örtliche Musikschule, das Gymnasium und die integrative Förderschule. Offensichtlich lernte das Praxisfeld aus der Erfahrung, dass die Kooperationspraxis ihre Wirkungen nur sehr punktuell entfaltet, solange sie keine nachhaltige Verankerung in den Strukturen der Schule und deren sozialräumlichem Umfeld erfährt. Zunehmend erkannten die Akteure, dass die neu entstandenen Ganztagsschulen ein geeignetes Dach bieten, unter dem die Fäden lokaler Bildungsnetzwerke zusammenlaufen können. Gleichzeitig wuchs bei den Trägern und Einrichtungen der kulturellen Bildung, nun bereits seit einigen Schuljahren kooperationserprobt, der Anspruch an den Bildungspartner Schule. Der Weg zu einer neuen Lehr- und Lernkultur und damit zur konsequenten Realisierung umfassender Bildungskonzepte erfordert Entwicklungsschritte, welche die gesamte Schulkultur und -struktur betreffen. Kulturelle Bildung bietet vielfältige Möglichkeiten, derartige Veränderungsprozesse zu gestalten. Rückblickend auf die rasante Entwicklungsgeschichte der Kooperationspraxis seit 2003 und der Bildungserfolge, die zahlreiche Kooperationen zwischen Kulturträgern und Schulen zu verzeichnen haben, scheint die Bezeichnung "Hochkonjunktur" nicht übertrieben. Gleichzeitig haftet dem Begriff der bittere Beigeschmack einer zeitlichen Begrenzung an: Was folgt dem Aufschwung? Zukünftig muss es gelten, einen nachhaltigen Strukturrahmen für diese Kooperationen zu schaffen. Vor allem lokalen Bildungslandschaften , in denen regionale Träger aus den Bereichen Jugendhilfe, Kultur und Bildung eng verzahnt zusammenarbeiten, kommt für die strukturelle Verankerung ressortübergreifender Bildungsangebote eine zentrale Bedeutung zu. Vielerorts stellen Kulturkooperationen den Ursprung derartiger Netzwerke dar, Kulturträger fungieren als Motor für die Netzwerkbildung und die Inszenierung groß angelegter Bildungsallianzen. Auch die Bundespolitik macht sich die Stärkung von Bildungsangeboten im Schnittfeld Jugend, Kultur und Schule zur Aufgabe: "Wir betonen die zentrale Bedeutung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Es gilt die neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur und Schule zu nutzen und qualitativ und quantitativ auszubauen", heißt es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung (Kapitel III. Sozialer Fortschritt – Absatz 2. Jugendliche). Damit auf die Hochkonjunktur kein Abwärtstrend folgt, sind alle Ebenen für den Ausbau nachhaltiger Strukturen gefragt: Für Bund, Länder und Kommunen muss es zukünftig gelten, die Erfahrungswerte der erfolgreichen Kooperationspraxis aufzugreifen und umfassende Bildung im Querschnitt zu fördern. Wie Kultur Schule macht: gelungene Kooperationspraxis In Hamburg gestaltet ein Kinderzirkus vom Fachunterricht über den Mittagstisch bis hin zur AG am Nachmittag den kompletten Schultag einer Grundschule mit.Eine kulturpädagogische Einrichtung aus München entwickelt gemeinsam mit einer Hauptschule ein rhythmisiertes Ganztagskonzept mit kulturellem Schwerpunkt.Die Schülerinnen und Schüler einer Grundschule in Essen kennen die Philharmonie ihrer Stadt gut: sowohl als Künstler/-innen auf der Bühne als auch als Zuschauer/-innen bei Konzerten.Improvisationstheater gehört im Rahmen von ""KLaTSch! Kulturelles Lernen an (Off) Theatern und Schulen" zum Angebotsspektrum zahlreicher Schulen in Sachsen-Anhalt.Ein Jazzmobil etabliert neue Formen des Musikerlebens an zahlreichen Schulen im ländlichen Raum Niedersachsens.An einer Grundschule in Moers bereichern Künstler/-innen seit Jahren den Fachunterricht aller Jahrgangsstufen mit ästhetischen Methoden. Diese Beispiele sind nur Auszüge dessen, was die von Kultur und Schule gemeinsam gestaltete Bildungspraxis bundesweit zu bieten hat. Von der Medienwerkstatt über Spielmobilarbeit bis hin zur Orchestermusik: So vielfältig wie die kulturelle Bildung sind auch die Ideen, Konzepte und Methoden, mit denen sich Kunst und Kultur in allgemein bildenden Schulen etabliert. Im Folgenden werden drei Modelle gelungener Kooperationspraxis näher vorgestellt: Über den Holm Ausbildung von rund "20 Young Coaches of Artistic and intercultural intervention" Der Titel ist Programm: Der Begriff "über den Holm" kommt aus dem Sportgeschehen und bezeichnet den erfolgreichen Überschwung über den Barrenholm als Voraussetzung für die nächste Übung. Die Hector-Peterson-Oberschule in Berlin hat sich gemeinsam mit dem zirkuspädagogischen Verein "GrenzKultur" das feste Ziel gesetzt, ihren Schülerinnen und Schülern das notwendige Rüstzeug mit auf den Weg zu geben. "Die Jugendlichen treffen bei uns im Zirkuszelt auf Profis, die ihnen neue Horizonte eröffnen, ihnen dabei helfen, ihre bisherigen Grenzen zu überschreiten", so der Projektleiter Karl Köckenberger. "Unsere Trainer bringen den Jugendlichen nicht nur Disziplinen wie Trapez, Trampolin, Kugellauf, Jonglage, Breakdance etc. bei, sondern sie zeigen ihnen auch Berufe wie Tischler/-in, Schlosser/-in, Veranstaltungstechniker/-in, Fotograf/-in oder Schneider/-in", beschreibt Köckenberger das Geschehen im Zirkuszelt. Das Projekt richtet sich an mehrfach benachteiligte und "schuldistanzierte" Jugendliche. Sie werden selbst zu Multiplikatoren und Multiplikatorinnen für Artistik und interkulturelle Interventionen ausgebildet. Während und nach dem Projekt agieren sie an ihrer Schule als jugendliche "Kulturbotschafter/-innen" im Sinne eines Keywork-Ansatzes. Das Angebot will Kinder, Jugendliche sowie Eltern in ihrer Partizipationskraft stärken, Kreisläufe von Gewaltstrategien und Rückzug durchbrechen. Dabei setzen die Zirkusleute zusammen mit den Lehrerinnen und Lehrern auf Berufsorientierung und Selbstkompetenz. Das Projekt besteht aus einem intensiven wöchentlichen Zirkustraining (Wahlpflichtfach Sport/ Zirkusartistik), Projektwochen, einer internationalen Begegnung, öffentlichen Aufführungen und einem Workshop für interkulturelle soziale Intervention. Lehrer/-innen und Schulsozialarbeiter/-innen sind intensiv in die Zirkusproben wie auch in die Einheiten zur Berufsvorbereitung eingebunden. Die enge Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen ist eine wichtige Säule des erfolgreichen Projekts. "Doch die wichtigste Vielfalt, die die Schüler und Schülerinnen bei uns entdecken, ist die Vielfalt in ihrer eigenen Persönlichkeit", betont Karl Köckenberger. "Auch sogenannte Lernverweigerer erleben Lust am Lernen, sie übernehmen Verantwortung, lernen Mitbestimmung, bekommen mehr Selbstvertrauen, lernen Konflikte zu lösen, sie finden offene Ohren für Probleme und Respekt vor ihren Stärken und ihrer Identität." Verantwortung übernehmen, Erfolge haben und gesellschaftliche Anerkennung bekommen – das stärkt das Selbstvertrauen und wirkt durch ein kluges Multiplikatoren-Modell in das Zusammenleben in der Schule hinein. "Der Kreislauf der Chancenungerechtigkeit kann durchbrochen werden", ist Köckenberger überzeugt. KonTakt – ein integratives Bewegungstheater Eine interdisziplinäre Kooperation zwischen der Förderschule Evangelisch-lutherisches Wichernstift, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und vielen weiteren Partnern "KonTakt" ist ein integratives und generationsübergreifendes Tanz- und Bewegungstheater, das für die Einübung kultureller Toleranz, für generationsübergreifende Kommunikation und Chancengleichheit bei Aus- und Weiterbildung steht. "KonTakt" entstand auf dem Land und wurde auch dort aufgeführt. Das Projekt zeigt, dass kulturelle Bildung auf hohem Qualitätsniveau auch abseits der großen Metropolen möglich ist. Zur Musik von Nikolai Rimsky-Korsakovs "Scheherazade" und eigens für das Projekt komponierten musikalischen Intermezzi tanzten 97 Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Rahmen eines von Choreograf Alexander Hauer entwickelten Bewegungstheaters. Für das Projekt wurden völlig verschiedene Gruppierungen erfolgreich über die Stadtgrenzen Bremens hinaus vernetzt: ein international agierendes Spitzenorchester, vier verschiedene Primar- und Sekundar-Schultypen, eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, ein Verein für Menschen mit Behinderung, eine Gruppe Landfrauen und freischaffende Künstler/-innen. "KonTakt" führte diese Gruppen zusammen und ermöglichte so die Begegnung zwischen diesen verschiedenen Lebensweisen und -perspektiven – mit und ohne "Handicap". Durch "KonTakt" wurden bestehende Vorurteile zwischen Gruppen, die im Alltag wenig Berührungspunkte haben, abgebaut und in ein vertrauensvolles, voneinander profitierendes Miteinander verwandelt. Mittlerweile wurden fast alle Förderschüler/-innen, die am Projekt teilgenommen haben, wieder in eine Regelschule integriert. Die international renommierte Deutsche Kammerphilharmonie Bremen setzt neue Maßstäbe in der kulturpädagogischen Vermittlungsarbeit (hoch)kultureller Einrichtungen: Im Rahmen ihres Education-Programms betritt das Orchester immer wieder Neuland und verbindet unterschiedlichste Gruppen und Bereiche. Mit dem Umzug in die Gesamtschule Bremen-Ost hat das Orchester ein deutliches Signal gesetzt. Die Philharmoniker arbeiten im Rahmen von verschiedenen Projekten nun noch enger mit den Schülern/-innen und Lehrern/-innen zusammen. Tamars wundersame Rettung 1944 Eine Kooperation zwischen dem Lern- und Gedenkort Jawne und der Kölner Grundschule Mülheimer Freiheit 99 Wie Tamars wundersame Rettung 1944 vonstatten ging, erfuhren die Schülerinnen und Schüler aus der dritten und vierten Klasse der Kölner Gemeinschaftsgrundschule Mülheimer Freiheit aus allererster Hand. Vier mal besuchte die Zeitzeugin Tamar Dreifuss die Kinder im Schulunterricht und berichtete über ihre jüdische Kindheit in Wilna, die Verfolgung nach Kriegsbeginn und über ihre wundersame Rettung. Gehört, erfragt, gezeichnet und aufgeschrieben haben die Kinder die aufregende und traurige Geschichte der Holocaust-Überlebenden. Auf mehreren Ebenen wurde das Projekt in weitere Aktivitäten der Schule eingebunden: Die Kinder gingen auf Spurensuche im Stadtteil, sie verarbeiteten Tamar Dreifuss' Geschichte im Deutsch- und Kunstunterricht im Rahmen von Aufsätzen und Zeichnungen. Durch eine dem Entwicklungsstand der Kinder angepasste Vermittlung des Themas "Nationalsozialismus" lernten die Kinder rassistische, diskriminierende und die Menschenwürde verachtende Äußerungen und Handlungen zu erkennen und Handlungsstrategien zu entwickeln. Die konkrete Lebensgeschichte der Zeitzeugin bildete eine Brücke zwischen einer lange zurückliegenden Zeit und der Lebenswirklichkeit der Kinder. Der Kölner Lern- und Gedenkort Jawne ermöglichte dieses ungewöhnliche Bildungsprojekt in Zusammenarbeit mit seiner Partnerschule, seinem Künstlerteam und Tamar Dreifuss. Ein Fotograf und eine Künstlerin arbeiteten gemeinsam mit der Klassenlehrerin sowie einem Pädagogen und einer Historikerin des Lern- und Gedenkorts in einem Team. Der Impuls für diese Zusammenarbeit kam von der Zeitzeugin selber: Ihr Wunsch war es, die Geschichte ihrer Rettung in einem Kinderbuch zu erzählen. So mündete das Projekt in einem Buch, mit dem sich mittlerweile eine Parallelklasse beschäftigt. Das Projekt unterstützt in nachhaltiger Form die Friedens- und Demokratieerziehung dieser Grundschule – hoffentlich noch viele Jahre lang! Wirkungen kultureller Bildung in Schule Für ein gerechtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen stellt sich an alle mit Bildungsfragen Betrauten die Aufgabe, Lernfelder zu ermöglichen, die Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines eigenständigen Handelns, Denkens und Fühlens vermitteln. Internationale Evaluationen und Monitoringverfahren haben jedoch eine mangelnde Wirksamkeit der Schulen vor Augen geführt: 20 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler konnten sie nicht die notwendigen Bildungserfolge vermitteln. Dass diese 20 Prozent nicht etwa nur über ein lückenhaftes Fachwissen verfügen, sondern in der grundsätzlichen Entwicklung einer Bildung als Lebenskompetenz nicht ausreichend unterstützt wurden, lässt sich u.a. daran ablesen, dass sich rund eine halbe Millionen Jugendliche in Maßnahmen der Wiedereingliederung in Bildung, Ausbildung und Beruf, d.h. im sogenannten Übergangssystem befinden . Hier steht nicht nur die Förderung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Mittelpunkt, sondern auch die basale Kompetenz, sich orientieren und eigenständig handeln zu können. So müssen etwa vier Fünftel der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss eine Qualifizierungsmöglichkeit im Übergangssystem wahrnehmen. Von den Absolventen mit Hauptschulabschluss mündet etwa die Hälfte im Übergangssystem. Selbst bei Jugendlichen mit Mittlerem Schulabschluss muss über ein Viertel mit Qualifizierungsmaßnahmen im Übergangsystem Vorlieb nehmen . Die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen verlangt daher ein Bildungskonzept, das Jugendliche und Kinder im doppelten Sinne stark fürs Leben macht. Alle Kinder und Jugendlichen brauchen die Möglichkeit, Kulturtechniken wie z.B. Lesen, Rechnen und Schreiben entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse zu erlernen und zu üben. Dies stellt eine zentrale Voraussetzung für die pragmatische Handlungsfähigkeit des Subjekts dar. Neben einem soliden Schulwissen brauchen Kinder und Jugendliche jedoch mehr. Für eine gelingende Lebensführung brauchen sie Möglichkeitsräume, um ihre kreativen Stärken zu entdecken und spielerisch soziale Kompetenzen zu entwickeln. Denn die aktuelle gesellschaftliche Situation verlangt immer mehr, dass Jugendliche und Kinder in der Lage sind, ihr Leben im Hinblick auf soziale, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte immer wieder neu zu gestalten. Die Fähigkeit zu einer fortschreitenden, lebenslangen Identitätsarbeit erfolgt im Schnittfeld bewussten Erfahrens des eigenen Fühlens, Denkens und Handelns sowie einer reflexiven Anwendung des bewusst Durchlebten als Eigenes. Das verlangt Gelegenheiten zum freien Experimentieren und Spielen. Hierin liegt ein wichtiger Grund für die Notwendigkeit von Bildungspartnerschaften von Kultur und Schule. Handlungsfähigkeit als Grundlage gesellschaftlicher Teilhabe braucht ein Ineinandergreifen beider Bildungswege, des formalen schulischen wie des nonformalen der kulturellen Bildung. Kulturelle Bildung setzt mit dem Ziel der Förderung kreativer und sozialer Kompetenzen da an, wo der Mensch immer schon ist: an seinen sinnlichen Vollzügen. In der künstlerischen Praxis bietet Kulturelle Bildung ein umfangreiches Instrumentarium an Erfahrungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, deren Besonderheit darin liegt, dass sie den Handlungsvollzug selbst in den Mittelpunkt stellen. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche faszinierende Kooperationen zwischen Schulen und Trägern der kulturellen Bildung entstanden. Sie nutzen die beschriebenen Potenziale von kultureller Bildung in der Schule, um Räume zu öffnen, die für alle Beteiligten neue Bildungserfahrungen möglich machen. Und sie verweisen eindringlich darauf, dass kulturelle Bildung in einem zukunftsfähigen Bildungskonzept nicht bloß eine schmackhafte Beigabe, sondern ein prinzipieller und originärer Bestandteil sein muss. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2008. Ein Indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu den Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Bielefeld 2008. Becker, H.: "Auf dem Weg zur neuen Bildung – Trägererfahrungen evaluiert", in V. Kelb (Hrsg.): Kultur macht Schule. Innovative Bildungsallianzen – Neue Lernqualitäten. Schriftenreihe Kulturelle Bildung, Vol. 3. München 2007. Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) e.V. (Hrsg.): "Mit Kunst und Kultur Schule gestalten", Remscheid, 2009. Kelb, Viola (Hrsg.): "Kultur macht Schule. Innovative Bildungsallianzen – Neue Lernqualitäten. Schriftenreihe Kulturelle Bildung, Vol. 3. München 2007. Stolz, H.-J.: Gelingensbedingungen lokaler Bildungslandschaften. Die Perspektive der dezentrierten Ganztagsbildung, in: P. Bleckmann/J. Durdel (Hrsg): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen, Wiesbaden 2009, S. 105-119. Dokumentarfilm aus dem Jahr 2004 von Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch. MIXED UP – der Wettbewerb für Kooperationen zwischen Kultur und Schule: www.mixed-up-wettbewerb.de. KINDER ZUM OLYMP! - Die Bildungsinitiative der Kulturstiftung der Länder: www.kinderzumolymp.de NRW Landesprogramm "Kultur und Schule": www.kultur.nrw.de. Förderprogramm "Pilotschule Kultur" der Behörde für Schule und Berufsbildung und der Behörde für Kultur, Sport und Medien: www.hamburg.de. Vgl. Becker 2007, S. 77. Vgl. Kelb 2007, S. 56. Kultur macht Schule – das Netzwerk für Kooperationen der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V.: www.kultur-macht-schule.de. Vgl. Stolz 2009. Kinderzirkus "Abrax Kadabrax": www.abraxkadabrax.de. Pädagogische Aktion / Spielen in der Stadt e.V.: www.spielkultur.de Theater und Philharmonie Essen: www.philharmonieforkids.de. Landeszentrum "Spiel & Theater" Sachsen-Anhalt e.V. (LanZe): www.lanze-lsa.de. Landesarbeitsgemeinschaft Jazz Niedersachsen e.V.: www.lag-jazz.de. MUS-E-Programm der Yehudi Menuhin Stiftung Deutschland: www.ymsd.de. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008, S. 7. Vgl. ebd., S. 157.
Article
Viola Kelb, Tom Braun
2021-06-23T00:00:00
2012-01-26T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59977/bildungspartnerschaften-im-querschnitt-jugend-kultur-und-schule/
In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Kooperationen zwischen Schulen und Trägern der kulturellen Bildung entstanden. Sie nutzen die Potenziale von kultureller Bildung in der Schule, um Räume zu öffnen, die für alle Beteiligten neue Bildungserfahr
[ "kulturelle Bildung", "Bildungserfahrung", "Kooperationen", "Bildungspartnerschaften", "Beispiele" ]
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"Having a nationality is not a given, it is a privilege" | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
Legally a stateless person is someone who does not have a nationality. Statelessness is an invisible trait that can happen to anyone anywhere in the world. In Europe there are at least half a million people without a nationality and many more that have not officially been recognized as stateless. Christiana Bukalo and Laura van Waas are working to support stateless people and raise awareness on the issue of statelessness. A conversation on statelessness in Europe. About the interview partners Christiana Bukalo: Christiana Bukalo is the co-founder of the non-profit association Statefree e.V.. She grew up stateless in Germany, is an individual member and Trustee of the European Network on Statelessness and works together with the Institute on Statelessness and Inclusion to raise awareness on the issue of statelessness. Her political engagement regarding Statelessness in Germany is now supported by JoinPolitics. Laura van Waas: Laura van Waas is a founder and co-Director of the Institute on Statelessness and Inclusion, as well as assistant professor at the Department of Public Law and Governance at Tilburg Law School in the Netherlands. Since 2004 she has been dedicating her work, research and teaching to the legal dimension of statelessness and practices to support people in their fight for their right to a nationality. Laura van Waas, could you please give us a short overview on statelessness in Europe? How many stateless people are there in this world region? Portrait Photo Laura van Waas. (© Alena Jascanka) Laura van Waas: Nobody knows exactly how many people are stateless in Europe. But it is understood that there are at least half a million people who are living without a nationality in Europe today. You find statelessness basically in every country in Europe, but particularly large populations in Estonia and Latvia. Here you have people who remain stateless today, because they failed to acquire a nationality when those states became independent following the collapse of the Soviet Union. Which groups in Europe are particularly affected by statelessness and what are the reasons for this? Laura van Waas: One of the big causes of statelessness in Europe and around the world has been situations where countries have gained independence or have broken up. The collapse of the Soviet Union led to many stateless people and we see similar problems in countries of the former Yugoslavia. Some people were not able to acquire the nationality of the newly emerged countries and as it was no longer possible to be a citizen of Yugoslavia they became stateless. This situation particularly affected people from the Roma community. Due to a lack of sufficient documentation of their address or place of birth they often faced difficulties proving their connections to the newly formed countries and therefore could not acquire the new nationality. This continues to have an effect for the next generations since traditionally children inherit their nationality from their parents. If the parents are stateless or their nationality status is disputed, it can be difficult for children to get a nationality. Through the rest of Europe statelessness mainly occurs in the context of migration. That can be situations where someone was stateless before coming to Europe like many stateless Palestinians who were fleeing the war in Syria. They were stateless already in Syria and they remain stateless now that they have found protection in Europe. And then you have some situations where people have come to Europe with a nationality but due for instance to their long-term absence or as a result of political changes in their country of origin, they run the risk of losing their nationality. Sometimes the laws of other countries also limit conferral of nationality by parents to their children, such as where nationality cannot be passed on by the mother, which can put children who are born to migrants or refugees settled in Europe at risk of statelessness. There are currently 25 countries globally where women are limited in their right to confer nationality on their children – including for example Syria, Malaysia and Kuwait. Christiana Bukalo, you grew up stateless in Germany. How did you become stateless? Photo Christiana Bukalo. (© Sapna Richter) Christiana Bukalo: My situation links to statelessness often occurring in the context of migration and also the fact that the status of statelessness or an ‘unclear nationality’ often gets passed on over generations. My parents came from West Africa to Germany 28 years ago. As they did not have sufficient documentation of their identity, they were given the 'unclear nationality’ status and that is what I inherited the minute I was born in Germany. Since it is very hard to naturalize in Germany this is the status that I have been in ever since. Only for three years now I am actually recognized as a stateless person. Can you explain what the difference is between being recognized as stateless and having an 'unclear nationality' status? Christiana Bukalo: You could refer to it as being either de-facto stateless or de-jure stateless. In both cases the people do not have a nationality. The difference is that de-jure statelessness is legally recognised, but de-facto statelessness is not. An example of de-facto statelessness can be the ‘unclear nationality’. In this case, the person is without an effective nationality, but this is not legally recognised as de-jure statelessness. In Germany this status is called ‘ungeklärt’ (undetermined) which conveys that it is still to be clarified if a person is really stateless. You remain in this unclear and pending status. But if you are lucky you will get recognized as a stateless person at some point. This means that you have higher chances of getting travel documents for example and improved opportunities for naturalisation. In Germany a clarified identity is a prerequisite for naturalization. You cannot apply for naturalisation if your ‘identity’ is still ‘unclear’. Although statelessness is already an invisible issue, it is still more visible than the matter of an ‘unclear nationality’. Laura van Waas: Legally a stateless person is someone who does not have a nationality. And legally it is important to get recognized as stateless because international law sets certain rules about how people with no nationality should be treated by states. You need to be recognized as stateless to be able to exercise those special rights and protections, like being able and even helped to access naturalization. What does the process to get recognized as a stateless person look like in Germany? Christiana Bukalo: In theory you have to prove that you are not able to obtain another nationality. The burden of proof definitely lies with the stateless person and it is rather hard to prove something that is not there. Practically this means that a person would need to go to a certain embassy and ask them to hand out any document or any statement that proves the fact that he or she cannot obtain that nationality. In reality that tends to be pretty hard and often retraumatizing for people because there are different reasons why that person does not have (or want to have) any ties to that nation state anymore. But in my case, I would not even be able to explain how I got recognized as a stateless person. This is particularly because there is no defined procedure in Germany for determining statelessness. In my case, the decision was made by the person working in the authority who processed my application. Laura van Waas: What Christiana Bukalo is describing is the story of so many stateless people across Europe. It shows that essentially governments are suspicious of the idea that you do not have a nationality because it is not considered the norm. And it shows that in the end it comes down to someone in the authorities having to take an interest in your case and ultimately having to decide on recognition. But what you see is that because statelessness is quite an unknown phenomenon and so difficult to prove, the responsible people in the authorities are often quite hesitant with the recognition. They are afraid of being generous and in many countries there is a political culture of mistrust. This leads to people in charge assuming that stateless people are hiding facts about their identity and to situations where they will only recognize you as stateless if you provide proof or convince them that you have done everything in your power to do so. That is why no one really knows how many stateless people there are in Europe. There are many people who have not been recognized as stateless and who do not have the confidence or knowledge to push for that recognition. That makes the problem even more invisible than it already is. What does it actually mean to be stateless? Christiana Bukalo: As a child, citizenship did not mean much to me because it is a theoretical construct. It is something you do not really feel and I did not know that it existed. Although I did understand that we were limited in some sense, like we never travelled and so forth. Now, being stateless actually reflects a lot of what I feel. I do not necessarily identify with a certain nation and I think that is also because even though I am a person that has been living in Germany all my life I am still in the process of having to prove why or whether I am allowed to stay here. The fact that I still have the stateless status just conveys to me that the government or the state does not want me to belong here. That makes it really hard to identify with a country. But apart from the limitations it creates, I would not even feel so bad about not having a nationality. Because as a person who grew up without it I understood that you can be a person without having a nationality. I do feel like I belong to my family and the groups I interact with. I feel like I have an environment of which I am part of. I decided that it is maybe healthier to separate those two things: Yes, I do not really feel like I belong to Germany but that does not mean that I do not belong to this world. But the problem is that your citizenship is tied to so many things that actually make you question your identity and worth, that the lack of a nationality becomes something negative although it does not necessarily have to be something negative. Laura van Waas: I think for everyone with or without nationality, the experience of citizenship and whether it matches your identity is a very personal thing. I mean I have two citizenships, which is another form of being conflicted; and ask for instance someone in Britain whether they still feel European. All of these things have that very personal lived dimension to it and the identity question is for everyone to reconcile with themselves. But in practice in our system in the world, states have the monopoly and if you do not officially belong to one of the states on paper it causes all sorts of problems in practice. And that is the piece that we are working to resolve. How does your status as a stateless person impact your life? What difficulties do you and other affected persons face in everyday life? Christiana Bukalo: The impact of statelessness on your life is often connected to your residence status. Therefore the way that it has affected my life has changed over the course of the last years because my residence status has improved. Right now, what I am noticing the most is that I am not able to participate in this democracy. I am not allowed to vote. Frequently, I am facing situations in which I need to take an extra step: Even though I do have a travel document, my freedom of movement is very limited because I often need additional information to know how to navigate this right to travel. Also, there are some very basic things like being asked to digitally verify my identity by uploading my ID-card. My documents are often not recognized as the system just does not know that they exist. Moreover, when I want to register for certain services I am just not able to, because people are asking for my nationality and the option of stateless, or maybe ‘unclear nationality’, is often not given. So, what happens is that I sometimes do not know how to deal with the particular situation and I decide not to do certain things. In my case that was university and signing up for the courses I wanted to. Apart from that, stateless people might struggle to get a bank account, do not have access to public health services or cannot go to school. Luckily, those are things I did not experience because my parents’ residence status allowed me to access those things. Building on Christiana Bukalo's insights, are there any differences between the impact of statelessness on the lives of those affected in different European countries? Laura van Waas: There certainly is a difference. One thing that makes a difference is that some countries in Europe (including for instance France, Spain, Hungary and the UK) are much better set up to actually recognize people as stateless. They have put into place specific laws and procedures as well as a responsible authority that you can go to if you think that you are stateless. Apart from that, having a secure legal status is also one of the things that make the biggest difference: Stateless people who do not even have the right to be in the country and who live with an irregular status are probably in the most precarious position. They can end up in immigration detention for a long time when the government tries to deport them but there is no country to deport them to because they are stateless. Eventually they will have to be released, but if their situation is not addressed and they are not given a status they are trapped in limbo, not being able to progress with their lives. At the same time you have places in Europe where statelessness is part of a wider discrimination against minorities and it can be difficult to separate whether their exclusion results from their statelessness or societal discrimination in general. This particularly affects Roma minority groups in countries like Montenegro, Macedonia, Serbia and even Italy. Here, if you are stateless and Roma it really becomes difficult to access schooling for example. In the context of the COVID-19-Pandemic we have also seen difficulties to get access to relief packages from the government or the vaccine. As it was not obvious to the governments that they have a responsibility and an interest to include this stateless population, a lot of advocacy work had to be done to help these people access health services and economic relief during the pandemic. As both of you work on the topic of statelessness. What is your perspective on the system of nation states and the implications that come with it? Christiana Bukalo: I feel like obviously the system of nation states was created with the intention of serving a certain purpose and I guess this purpose is valuable and valid. But it has become clear that this system, unfortunately, is not accessible to everyone or it at least leaves out a certain group of people. Knowing this, I think the system should be adapted. At the moment, categories are being used to say ‘you do not belong’ instead of ‘hey, you belong’. I think that we should be more open with the community instead of spreading this narrative that we have to be protected against some ‘other group’. Laura van Waas: The system of nation states is something that I and others who have worked in the field of statelessness for a long time keep coming back to. Especially when a global pandemic hits, all the borders close and you see an unbelievable disparity magnified, you are confronted again by how unfair this system is. And yet, you have to work within the system because I do not think anyone has yet imagined an alternative that would solve all of these problems. I would love to imagine a world, where which citizenship you have did not matter or where it does not exist, or where borders were irrelevant or where people could just live where it was safe and there was enough food. But in the day to day, I live and work within the system and try to help correct some of the problems that that system causes. Laura van Waas, you are a founder and co-director of the Institute on Statelessness and Inclusion. Why was the institute set up and what does it do exactly? Laura van Waas: The Institute on Statelessness and Inclusion (ISI) was set up seven years ago to fill the gap that there was no civil society organisation that was set up to push specifically on the issue of statelessness at the global level. There were only groups working on, for instance, human rights issues more generally or assisting refugees and migrants, who encountered statelessness but were not dedicated to the issue. Work on statelessness was also dominated by a UN-driven agenda that approached it as a humanitarian issue, seeing stateless people as being outside the system and in need of protection. Contrary to that, we understand statelessness as a human rights issue and a violation of the right to a nationality. In our understanding, stateless persons do not need protection, they need respect for their rights. Essentially, we work with people all over the world to ensure that there is expertise and knowledge in the places that it is needed. We gather evidence of what the drivers of statelessness are so that there can be better responses to that. We help to make sure that issues that people are seeing at the local level are also documented at the level of the UN and are therefore fed into the UN human rights system. Our work is very varied and can involve research, training, network building or trying to bring people together to brainstorm solutions. What other institutions and organisations support stateless people in Europe? Laura van Waas: There is the European Network on Statelessness that was established in 2012. It brings together a variety of local and national civil society groups but also academic experts and stateless people who are involved in activism on the issue. It is a place where all of these organisations and individuals can come together, share expertise and take joint actions. It has run a number of campaigns for example to end immigration detention for stateless people or to address childhood statelessness among refugees and migrants in Europe. Nowadays, there is probably a civil society organisation at the national level in any given country in Europe that spends at least some of its time doing work on statelessness. And increasingly there are also PhD researchers, journalists, individual activists and community leaders who are doing really fantastic work to document the issues, raise public attention or try to influence political processes. It is maybe not a very visible or known field to the outside world but it is a very vibrant and growing group of organisations and individuals across the region. What approaches and mechanisms are there in Europe to end statelessness? Laura van Waas: One of the big pieces of the puzzle in terms of working towards solutions of statelessness in Europe is promoting the establishment of procedures to make sure that stateless people can be recognized. That could help them access naturalisation and ultimately to resolve their statelessness. Originally there were only three or four countries like France, Spain and Italy that had these procedures in place. In the past ten years Hungary, Latvia, the United Kingdom and a number of other states have followed. Then in other contexts it is about making sure that statelessness never actually happens or is stopped very early. One of the key strategies is to push states to respect every child's right to acquire a nationality as soon as possible after birth. So a really important area of work is to make sure that where children are born without a nationality, action is taken to put them on a pathway to a nationality or at least to recognize them as stateless. Ideally, they should be granted the nationality of the country where they are born as that is what the international law rule is. This is not applied across all of Europe but we can see positive developments with countries that are changing their laws to make it easier for stateless children born there to get a nationality. And then in situations like with the Roma communities it is also about breaking down social stigma and working to address historic problems in terms of how the community and the state have interacted. So there is a much bigger project of building social cohesion and breaking down exclusionary structures. What are major obstacles and challenges to ending statelessness and supporting stateless people in Europe? Laura van Waas: Probably the biggest challenge right now is the political culture and that the general environment in many countries in Europe is increasingly xenophobic and anti-immigrant. We run up against the same challenges as for the protection of refugees in Europe. Statelessness is often seen as a foreigner’s problem which means that even people who are born in the country and who's only possible tie is with that country are put in the bracket of foreigners. So, one of the big challenges is to make sure that stateless people are not treated as another group of foreigners who ‘need to go back to their country’, even if there is nowhere else for them to be. It is important that their specific situation is understood and is treated in a different way. Christiana Bukalo, you are an activist in this field, what are your thoughts on the current institutional attempts to support stateless people and to end statelessness? Christiana Bukalo: I agree that the field is very vibrant. Since I have been in contact with all of these organisations who are working on improving the situation, I understand how much is being done. I think what is missing might be the visibility not only of the topic of statelessness but also of the work that is being done in that area. Additionally, I think that there needs to be more of a collaboration between the different areas of engagement, such as people who work in law, in civil society organisations and also academics and researchers. Collaboration is one of the most powerful things especially if you want to enact change. Christiana Bukalo, you are the initiator of Statefree, an organization that is building a platform to connect stateless people to each other and to organizations that work to improve their situation. How did this come about? Christiana Bukalo: Due to a personal incident, I decided to start an in depth research on what was affecting my life. I knew by that time that the term for it was statelessness, but I wasn’t really familiar with it. In my documents I never saw the term itself, I only saw the letters 'xxx' that stand for an ‘unclear nationality’ and 'xxa' that are used to describe the status of stateless people. Through my research I got in contact with organisations like the European Network on Statelessness. My goal was to find a single source that gathered all relevant information on statelessness, but I noticed that what I was searching for does not exist. I figured that this was something that has to be co-created by collecting all the knowledge and experience there is in that field. What was missing was a hub in which all of those people working on the issue of statelessness came together, especially with people who are affected. What do you want to achieve with your platform and what does it look like? Christiana Bukalo: Statelessness is an invisible trait; you would not really notice a person that is stateless based on skin colour, age or gender. It is something that just happens everywhere and can happen to everyone. That is why I decided to create a space in which affected people and the organisations working on the issue could come together. A person like me should know that there is somebody who actually cares and that there are other people who are affected. The goal is for the platform to be a combination of a forum and social network: On the one hand it is a space where affected people can have a global conversation and share their stories, and organisations can share what they are working on. On the other hand we want to create a forum in which specific topics - like traveling as a stateless person for example - can be discussed and in which all of the information and experiences are connected so that it will be easier for affected people to find the information they need. The ultimate vision is to bring together stateless people and people in positions of power, so that the most crucial issues can be identified and solved together. What political changes would you like to see or what would you like to achieve? Christiana Bukalo: Essentially, I am noticing that there is this tendency of othering and of trying to protect a certain space and making sure that nobody else can enter that space. That becomes visible with borders and in law for example. Obviously, there is some concern and fear here. I would like to understand and address those thoughts and the things people are scared of. I believe that collaboration and conversation is especially important in those areas in which people have completely different opinions and perspectives. After all, there is no way to find a solution without both groups interacting with each other. Everything we do starts with an idea, and obviously the ideas we have at the moment have created the system we live in. Accordingly, ultimately, a mindset change is the most important thing we need: Thoughts for different laws. This is the only way we can create ideas and approaches for new laws. Laura van Waas: I would like to see more recognition and empathy with the reality of statelessness from people in power. This could even be the person working in the local town hall putting people with no nationality on a pathway to improve their situation instead of treating them with suspicion or sending them away as someone with a problem that they need to resolve themselves. Because for instance if your child is born stateless, you do not necessarily know what that means. The child certainly does not, so it is about making sure that those people who have the responsibility in their roles do act accordingly. Meaning if someone cannot provide a document proving their nationality, offering assistance and putting them on a pathway to recognition with the legal advice that they might need. Do you think the topic of statelessness should be more strongly addressed in civic and political education? Laura van Waas: Yes, definitely. In all forms of education, it is important for people to think about their place in the world, what defines that and how they feel about it. I have taught about statelessness to people of all different ages, backgrounds and jobs for the last 15 years. For everyone, whether they are ten year old children or 65 year old senior UN-Staff, it is an enlightening thing to discuss statelessness as a way to think about the world. Just having a conversation about how citizenship is handed out, who misses out, what should then happen and whose responsibility it is, is so valuable. It is valuable for everyone in terms of understanding how the world works and not just to support stateless people. Christiana Bukalo: I completely agree. What I have been noticing since starting my work in that area is that people actually want to listen. When starting Statefree I have been using a pen name because I wanted to keep my identity secret. Statefree was supposed to be a technical platform for people to talk to each other and was not supposed to be about me and my story. Things have turned out differently and I now see that people have an easier way to empathise with it and understand what it means to be stateless if they can connect it to a person. And what becomes very clear is that it is extremely important for people to understand that having a nationality is not a given, it is a privilege to have a nationality. And this is something that people just do not know, because it’s not thought of. That is also why education is important. Laura van Waas: I think especially in Western Europe, if you say the word statelessness, people think of something very far away. They may be thinking of the Rohingya from Myanmar or some notion of the problem in other parts of the world. But what I have learned through my teaching experience is how local the issue actually is. If not statelessness then nationality questions affect many more people than you think. There have been a few students who actually discovered that stateless is the label that applied to their situation through their encounter with the topic in the classroom. One of these got back in touch recently because she has finally been able to naturalize in the Netherlands. Education is a really important strategy to understand that statelessness and nationality questions are problems that exist everywhere. In conclusion: With which final thoughts would you like to leave the reader with on the subject of statelessness? Christiana Bukalo: Having a nationality is not a given. And not having a nationality is a situation many people are just born into. Reflecting on the fact that you probably did not do anything to acquire a nationality at birth makes it clear that a person without a nationality also did not do anything wrong not to have it. It is something that nobody has a fault in. It is the system that decides whether you belong, or you do not. A second thought is that we all can play a part in making statelessness more visible. It is often underestimated how much can change by just simply talking about it. Even if you are not affected by it, the likelihood that a person you are surrounded with has never heard about statelessness is pretty high. We can all play a part by sharing the stories and amplifying the voices of stateless people. Laura van Waas: I agree that it is important not to take citizenship for granted and to realize that for most people it is not something that is in their control. Statelessness happens to people. It is not a choice and often it is something that is very difficult for them to resolve. One of the big changes that I want to see is making sure that no child reaches the age where they can actually debate their own status without being set on a pathway to citizenship. I cannot imagine what it must feel like to realize, as you are growing up and discovering the world around you, not just that you are a little bit different from your neighbours and classmates but that there is no country that “wants” you. It is our responsibility to make sure that children grow up with a place in the world that officially recognizes them. Portrait Photo Laura van Waas. (© Alena Jascanka) Photo Christiana Bukalo. (© Sapna Richter) For further information see Global Campaign for Equal Nationality Rights (2021): The Problem. Externer Link: https://equalnationalityrights.org/the-issue/the-problem (Access: 17.12.2021). For further information see Statelessness Index (2021): Statelessness determination and protection in Europe. Good practice, challenges, and risks. Thematic briefing. Externer Link: https://www.statelessness.eu/sites/default/files/2021-09/ENS-Statelessness_determination_and_protection_in_Europe-Sep_2021.pdf (Access: 17.12.2021).
Article
Beeke Wattenberg
2022-03-17T00:00:00
2022-02-22T00:00:00
2022-03-17T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/505454/having-a-nationality-is-not-a-given-it-is-a-privilege/
How many people in Europe are stateless? What does it mean to be stateless? What are obstacles to ending statelessness in Europe? And why should everyone reflect on statelessness as a way to think about the world?
[ "Interview", "Staatsbürgerschaft", "staatenlos" ]
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„Ich sehe mich als Erinnerungskünstlerin“ | Deutschland Archiv | bpb.de
Sarai Meyron am Tag der Eröffnung ihrer ersten Solo-Ausstellung und der Premiere ihres gleichnamigen Kunstbuches „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ im Foyer des Münzenberg Forums in Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Sharon Adler: Dein aktuelles multimediales Kunstbuchprojekt und deine Audioinstallation tragen den Titel „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“. Welche Message transportierst du mit diesem Titel? Welche persönlichen Erfahrungen fließen in den Titel und den Inhalt ein? Sarai Meyron: Ausgangspunkt des Buches und die Inspiration für den Titel sind die Wiedergutmachungsunterlagen meiner Großmutter. Sie hatte zahlreiche Dokumente, beinahe den gesamten Papierkram, das Hin und Her aus der acht Jahre dauernden Korrespondenz mit den Behörden aufbewahrt. Alles befand sich in einem Aktenordner: Papiere, Zeugenaussagen, ärztliche Bescheinigungen und private Korrespondenzen. Bei der Lektüre werden die Mauer und der Antisemitismus deutlich, mit dem sie im Amt für Wiedergutmachung konfrontiert war, aber auch ihre Stärke, sich dagegen zu wehren, und die Unterstützung, die sie dabei von verschiedenen Menschen erhielt. Darüber, und über meine gemischten Gefühle, die ich beim Lesen der Dokumente hatte, schreibe ich in meinem Buch. Auf der einen Seite sehe ich die Stärke und Widerstandsfähigkeit meiner Großmutter, auf der anderen Seite sehe ich die Mauer der Bürokratie und den Kampf, den sie direkt nach dem Krieg führen musste. All das zu lesen war für mich eine bittersüße Erfahrung. Ich habe alles sorgfältig digitalisiert und daraus eine zwei Meter lange Collage erstellt. Sie hätte noch länger sein können. In einem Moment der Fantasie beschreibe ich mich selbst, wie ich die Collage wie einen Schal trage, als ein imaginiertes Schutzschild für den kommenden Tag. Ein Schutzschild, weil es ihre Worte enthält, ihren Kampf mit dem Wiedergutmachungsamt, dessen Position ich als Nachkriegsstandpunkt ihr gegenüber betrachte. Aus diesem Grund erwärmen mich die Worte nicht. Es ist eine visuelle Metapher für das Tragen des Archivs und des Erbes meiner Familie und die Frage, wie sich dieses „Tragen“ auf jeden von uns auswirkt, da wir alle ein Erbe zu tragen haben. Die Botschaft, die ich damit vermitteln möchte, ist eine Reflexion der Frage, die ich mir mit diesem Kunstbuch gestellt habe: Wie können Vergangenheit und Geschichte bewältigt werden? Wie, in welchen Bereichen wirkt sich das heute auf die Gesellschaft aus? Der lange Kampf um „Wiedergutmachungszahlungen“ und eine Anerkennung des Unrechts Sharon Adler: Kannst du bitte noch etwas mehr über deine Großmutter Lore Holtz, geborene Gutwillig, berichten, über die Geschichte ihrer Vertreibung und ihren Kampf um Restitution, um „Wiedergutmachung“? Kannst du bitte zusammenfassen, wie sie überlebt hat, welches Unrecht ihr angetan wurde und wie ihr Leben nach dem Überleben davon geprägt war? Sarai Meyron: Ich finde es schwierig, etwas zu beantworten, das für sie eine zutiefst traumatische Erfahrung war. Ich denke, es ist einfach, mein eigenes Verständnis ihrer Erfahrungen zu projizieren, anstatt das, was für sie wahr war. Deshalb habe ich in dem Buch ihre Briefe an das Wiedergutmachungsamt veröffentlicht, damit die Leser*innen sehen können, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg, den sie darin beschrieb, auf sie hatte. Registrierungsausweis von Lore Gutwillig, Großbritannien 1938, Buchdruck, Tinte, Fotografie, Prägestempel, 12,8 x 20,5 cm. (© Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2011/120/2, Schenkung von Lore Holtz-Gutwillig) Meine Großmutter floh im Alter von 14 Jahren mit dem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach England. Sie stand acht Jahre lang in Kontakt mit dem Wiedergutmachungsamt. Durch einige in den Büchern veröffentlichten Dokumente können die Leser*innen ihren Prozess auf dieselbe Weise wie ich entdecken und in ihren Worten lesen, wie sie gekämpft hat, und die Reaktion des Wiedergutmachungsamtes auf ihre Briefe erfahren. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser durch die chronologische Darstellung der Informationen in meinem Buch die Erfahrung nachempfinden können, dass die Erfahrungen meiner Großmutter sie nicht zum Opfer gemacht haben, sondern dass wir ihre Resilienz und Stärke bewundern können. Sharon Adler: Anstelle des Begriffs „Wiedergutmachung“ wurde in Israel der Begriff „Pitzuim“ (Hebräisch „Entschädigungen“) verwendet, der dann durch den Begriff „Shilumim“ (Hebräisch: „Zahlungen im Rahmen der Wiedergutmachung“) ersetzt wurde. Kannst du bitte von dem Kampf deiner Großmutter um Restitution bei den deutschen Behörden berichten? Konnte sie ihn abschließen? Was hast du aus den Dokumenten und Briefen, die du in deinem Projekt abgebildet hast, herausgelesen? Sarai Meyron: Indem sie den Behörden schrieb, dass sie das Trauma, das sie in der „Kristallnacht“ und in Nazi-Deutschland erlebt hat, noch Jahre später belastet und dass sie auch in der Zukunft Nervenzusammenbrüche haben könnte, die ganz klar im Zusammenhang mit der Nazizeit standen, war meine Großmutter ihrer Zeit voraus. Sarai Meyron wurde 1995 in Israel geboren, ist in den USA aufgewachsen, und zog 2015 nach ihrem Sozialdienst in Israel nach Deutschland. Im Jahr 2022 hat sie ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig abgeschlossen: „Meine Arbeiten sind feministische Erzählungen und Darstellungen, in denen ich fantastische und mythologische Elemente verwende, um soziale Identitäten, nationale Erzählungen und kollektive Erinnerungen zu untersuchen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Beim Lesen der Dokumente stieß ich auf einen Brief ihrer Psychiaterin. Sie erwähnte darin, dass sie neben meiner Großmutter auch andere Personen kennengelernt hat, die Schwierigkeiten hatten, eine Entschädigung zu erhalten. Sie schrieb auch, dass es ihr so schien, als ob die deutsche Regierung zwar etwas anbot, aber wenig Absichten hatte, das auch umzusetzen. Ich denke, das ist eine soziale Lesart, die wir im Rückblick nur schwer verstehen können. Meine Großmutter erhielt am Ende eine kleine symbolische Summe dafür, dass ihr die Möglichkeit einer Berufsausbildung genommen wurde, sowie einen lächerlich geringen Betrag für die Sachschäden, die ihre Familie am 9. November 1938 erlitten hatte. Wonach sie jedoch wirklich suchte, war etwas Ideelles: die Anerkennung, dass ihr Leben durch das Trauma des Zweiten Weltkriegs unwiderruflich geprägt worden war. Sharon Adler: Wie beurteilst du in diesem Kontext Umfrageergebnisse wie die des ZDF aus dem Jahr 2020, nach denen 28 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, „die Deutschen sollten einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ziehen“? Sarai Meyron: Bevor ich diese Menschen verurteile, was meine erste Reaktion ist, halte ich es für wichtig zu überlegen, woher diese Haltung kommt. In meinen Augen könnte sie von einer wachsenden Tendenz herrühren, die Art und Weise zu ändern, wie Erinnerungskultur strukturiert ist. Und sie könnte den Wunsch widerspiegeln, das Narrativ des Nationalsozialismus, das meiner Meinung nach sehr stark in der deutschen Kultur verankert ist, von „Schuld“ weg zu bewegen. Ich glaube, dass auch jemand, der nicht während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gelebt hat, die gleiche Verantwortung trägt wie ich heute: sich zu erinnern und aus den Ereignissen zu lernen, um zu verhindern, dass so etwas jemals wieder geschieht. Wenn wir unsere Bildungssysteme überdenken und darüber nachdenken, wie wir aus einer Perspektive der gemeinsamen menschlichen Verantwortung – und nicht der Schuld – über die Vergangenheit lernen können, denke ich, dass viel mehr Deutsche, einschließlich derer, die keinen nationalsozialistischen Familienhintergrund haben, die Bedeutung dieses Themas erkennen werden. Jüdischsein in Deutschland Sharon Adler: Wie erlebst und reflektierst du das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland aus der Perspektive einer Israelin? Sarai Meyron: Ich denke, das ist sehr individuell. In Deutschland werde ich normalerweise zuerst als Ausländerin gesehen, und dann, wenn die Leute erfahren, dass ich aus Israel komme, als Jüdin. Sharon Adler: Du schreibst „Wenn jüdisch sein keine Kategorie mehr ist, darf es zu einer Facette unserer Identität werden.“ Was bedeutet das für dich im Kontext von „Erinnerungskultur“? Sarai Meyron: Obwohl es vielleicht gut gemeint ist, habe ich das Gefühl, dass ich in den Augen anderer oft auf den „Juden“ reduziert werde. Eine Kategorie, in die ich nicht hineingehöre. Ich bin viele andere Dinge, bevor ich jüdisch bin, und ich möchte nicht aufgrund meiner Kultur, Herkunft oder Geburt kategorisiert werden. Jüdisch ein ist eine Facette meiner Identität, die auch einen fließenden Aspekt hat, so wie es das Alter oder das Geschlecht sein kann. Werde ich im Kontext von Erinnerungskultur vor allem zuerst als Jüdin gesehen, wird damit eine Art von Kategorisierung und Erwartung geschaffen, unter die ich nicht einsortiert werden möchte. Sharon Adler: In deinen Arbeiten beschäftigst du dich mit der individuellen und der kollektiven jüdischen Geschichte sowohl in Israel als auch in Deutschland, so auch in der Videoinstallation „Atmendes Archiv; der Körper als Erbe“, in der du Fotos aus deinem Familienarchiv zeigst, die zwischen 1930 und 1960 in Deutschland und der Schweiz aufgenommen wurden. Wofür stehen die gezeigten Fotos für dich, was zeigen sie? Sarai Meyron zeigt in ihrer Videoinstallation „Atmendes Archiv; der Körper als Erbe“ Fotos aus ihrem Familienarchiv, die zwischen 1930 und1960 in Deutschland und der Schweiz aufgenommen wurden. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Sarai Meyron: Mir gefällt, wie standardmäßig einige der Aufnahmen in den Familienalben von der Mittelschicht in Deutschland und der Schweiz sind. Franzi, die großartige Grafikerin meines Kunstbuches „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“, wies mich darauf hin, noch bevor ich ihr erzählt hatte, welche Rolle diese Bilder für mich spielen. Sie meinte, dass sie genauso wie die Fotos aus ihrem eigenen Familienalbum aussehen würden. Genau das ist es! Und was ich an ihnen noch für bedeutsam halte, ist dieser Moment, dass Fotos von Freunden daruntergemischt sind und man nicht weiß, wer jüdisch ist und wer nicht. Das Verwenden dieser Fotos war für mich eine Möglichkeit, das deutsche Lesepublikum visuell über die Kategorisierung von „Juden“ zu befragen, von denen ich an den verschiedenen Stellen spreche. Sharon Adler: Inwieweit sind die Fotos neben deiner individuellen auch repräsentativ für die kollektive jüdische Gesellschaft und Geschichte? Sarai Meyron: Ich denke, es ist wichtig zu betonen, dass die Fotos nur eine Facette darstellen. Die jüdische Gesellschaft ist vielfältig, und das sieht man auf den Bildern nicht. Man sieht liberale und weiße Europäer, und Menschen, die ihrem Alltag nachgehen. Noch mehr als eine „Wiedergabe von kollektiv erlebten Traumata“ sehe ich es als eine Botschaft für die Zukunft, dass diese Bilder und Menschen, die in meiner Genetik verankert sind, ein Teil von mir sind, und dass wir uns fragen sollten, welche Geschichte wir in uns tragen und wie wir darauf aufbauen können. Familie. „Mischidentität“ Sharon Adler: Du hast eine Externer Link: aschkenasische Mutter und einen sephardischen Vater. Was bedeutet diese „Mischidentität“ für dich, für deine Perspektive auf Jüdisch Sein und für deine Arbeit? Sarai Meyron: Ich wurde 1995 in Israel geboren und bin in den USA und Israel aufgewachsen. Kurz nach meinem Sozialdienst in Israel bin ich allein nach Deutschland gezogen. Mein Migrationshintergrund und der meiner Familie prägen meine künstlerische Perspektive: Ich bin eine Mischung aus irakisch-sephardischen und schweizer-aschkenasischen jüdischen Eltern. Die Einflüsse der Vergangenheit in unserer Gegenwart, die jüdische Diaspora und die weibliche Stimme sind zentrale Themen in meiner Kunst. Meine Arbeiten sind feministische Erzählungen und Darstellungen, in denen ich fantastische und mythologische Elemente verwende, um soziale Identitäten, nationale Erzählungen und kollektive Erinnerungen zu untersuchen, wobei ich häufig die Vergangenheit in Form und Inhalt reflektiere und gleichzeitig auf eine entscheidende, eine wesentliche Verbindung zur Zukunft verweise. Auf diese Weise schaffe ich eine Erinnerung und einen Beitrag für die Zukunft. Mein bisheriges Werk ist eine multimediale Mischung aus Text, Installation, Audio, Video, Collage und Fotografie; ich verwende das Medium, das am besten zum Konzept des jeweiligen Projekts passt. Exotisierung und Zuschreibungen. Antisemitismus Sharon Adler: Wie werden deiner Meinung nach jüdische und jüdisch-israelische Menschen in Deutschland heute von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen? Mit welchen Bildern über Jüdinnen/Juden und das Judentum wurdest du in Deutschland konfrontiert? Sarai Meyron: Ich denke, das größte Missverständnis besteht darin, jüdische Menschen als ein Volk zu sehen, obwohl es ein riesiges Spektrum von unterschiedlichen Ansichten und Einstellungen gibt. Die Bilder, mit denen ich am meisten konfrontiert werde, sind Stereotypen der jüdischen Symbolik, die mich überhaupt nicht repräsentieren. Die Multimedia-Künstlerin Sarai Meyron erzählt in ihrem Kunstbuchprojekt „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ auch vom acht Jahre langen Kampf ihrer Großmutter um „Wiedergutmachungszahlungen“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Sharon Adler: Welche Art von Zuschreibungen oder Kategorisierungen als israelisch-jüdische Frau hast du persönlich erfahren? Sarai Meyron: Das sind vor allem Erfahrungen, die ich als Künstlerin mache, zum Beispiel durch die Kategorisierung „jüdische Kunst“. Ich sehe mich eher als Erinnerungskünstlerin, im weitesten Sinne des Wortes - auch unter Berücksichtigung meiner eigenen Erinnerung, der meiner Familie und des gesellschaftlichen Gedächtnisses sowie der nationalen Narrative, die daraus entstehen. Ich denke, meine Kunst richtet sich an viel mehr Gruppen als nur an Menschen mit jüdischem Hintergrund. Sharon Adler: In deinem Kurzvideo „Woher kommen Sie?“ aus dem Jahr 2017 stellst du deinem imaginierten Publikum Fragen zu Herkunft und Muttersprache. Was war deine Intention, was war der Hintergrund, wie bist du vorgegangen und was hast du für dich aus dieser Arbeit mitgenommen? Sarai Meyron: Inspiriert wurde es von Small-Talk-Fragen, mit denen ich in Deutschland immer wieder konfrontiert wurde. Durch das Video wollte ich über diese Fragen und auch über die Art und Weise, wie sie mir gestellt wurden, nachdenken. Sie lauten unter anderem: Woher kommen Sie? Was machen Sie in Deutschland? Bleiben Sie in Deutschland? Diese und andere Fragen stammen aus meiner Erinnerung, und so, wie ich sie wahrgenommen habe, spiegele ich sie den Zuschauer*innen. Ich erhoffe mir dadurch, dass sie nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, diese Fragen, die oft einen seltsamen Beigeschmack haben, gestellt zu bekommen. Ich fand es sehr ermutigend, wie gut diese Arbeit ankam und wie viele Menschen mir sagten, dass sie sich davon angesprochen fühlten. Ich denke, dass das eine Erfahrung ist, die viele Menschen teilen. Interner Link: Zur Vita von Sarai Meyron >> Zitierweise: „Ich sehe mich als Erinnerungskünstlerin“, ein Interview von Sharon Adler mit Sarai Meyron. Das Gespräch wurde aus dem Englischen übersetzt. In: Deutschland Archiv, 22.12.2022, Link: www.bpb.de/516554 Ergänzend: Zu über 40 weiteren Portraits im Rahmen der Serie Externer Link: "Jüdinnen in Deutschland nach 1945" Sarai Meyron am Tag der Eröffnung ihrer ersten Solo-Ausstellung und der Premiere ihres gleichnamigen Kunstbuches „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ im Foyer des Münzenberg Forums in Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Registrierungsausweis von Lore Gutwillig, Großbritannien 1938, Buchdruck, Tinte, Fotografie, Prägestempel, 12,8 x 20,5 cm. (© Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2011/120/2, Schenkung von Lore Holtz-Gutwillig) Sarai Meyron wurde 1995 in Israel geboren, ist in den USA aufgewachsen, und zog 2015 nach ihrem Sozialdienst in Israel nach Deutschland. Im Jahr 2022 hat sie ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig abgeschlossen: „Meine Arbeiten sind feministische Erzählungen und Darstellungen, in denen ich fantastische und mythologische Elemente verwende, um soziale Identitäten, nationale Erzählungen und kollektive Erinnerungen zu untersuchen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Sarai Meyron zeigt in ihrer Videoinstallation „Atmendes Archiv; der Körper als Erbe“ Fotos aus ihrem Familienarchiv, die zwischen 1930 und1960 in Deutschland und der Schweiz aufgenommen wurden. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Die Multimedia-Künstlerin Sarai Meyron erzählt in ihrem Kunstbuchprojekt „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ auch vom acht Jahre langen Kampf ihrer Großmutter um „Wiedergutmachungszahlungen“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022) Sarai Meyron, No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte, Leipzig 2022. Lore Holtz, geborene Gutwillig, geboren am 24.6.1924 in Fürth in Bayern. Siehe auch https://objekte.jmberlin.de/object/jmb-obj-442275, zuletzt aufgerufen am 12.12.2022. https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/vermoegensrecht_entschaedigungen.html, zuletzt aufgerufen am 12.12.2022. Vgl. Andrea Schäffler, „Ein Viertel will Abschluss mit NS-Zeit“, ZDF-heute vom 20.12.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/holocaust-umfrage-ns-zeit-100.html, zuletzt aufgerufen am 15.12.2022.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-07-31T00:00:00
2022-12-19T00:00:00
2023-07-31T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/516554/ich-sehe-mich-als-erinnerungskuenstlerin/
Die Multimedia-Künstlerin Sarai Meyron erzählt in ihrem Kunstbuchprojekt „No Words of Warmth / Keine wärmenden Worte“ auch vom acht Jahre langen Kampf ihrer Großmutter um Wiedergutmachungszahlungen.
[ "Jüdische Frauen", "Judentum" ]
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Hoffnungsträger einer neuen Zeit: John F. Kennedy | USA | bpb.de
Die Nachricht von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963 löste weltweit einen Schock aus. Menschen unterschiedlichster Hautfarben, Konfessionen und Weltanschauungen wurden von der Nachricht ergriffen, als sei ein enger persönlicher Freund gestorben. Es war einer der seltenen Momente, in denen die Welt durch ein kollektiv erlebtes Gefühl geeint schien. In West-Berlin war die Trauer besonders tief. Hier war Kennedy noch kurz zuvor, am 26. Juni 1963, der großartigste Empfang seines Lebens bereitet worden. In der geteilten Stadt hatte der US-Präsident seine vielleicht berühmtesten Worte gesprochen: "Ich bin ein Berliner". Erster "Popstar"-Politiker Der "Mann für die 60er", wie seine Wahlplakate verkündet hatten, brachte damals einen neuen Stil in die Politik. Mit nur 43 Jahren war der demokratische Senator aus Massachusetts der jüngste Mann, der je ins Weiße Haus gewählt wurde – und damit auch weit jünger als die anderen Staatsmänner seiner Zeit. Seine Jugendlichkeit, sein Charme, seine Intellektualität und die Aufbruchstimmung, die von seiner Administration ausging, sprachen Menschen weltweit an. Kennedy wurde zum ersten "Popstar" unter Amerikas Politikern, und er war der erste Präsident, der sich nahezu perfekt des Mediums Fernsehen bediente. Gemeinsam mit seiner Frau verstand er es, die Präsidentschaft glanzvoll zu inszenieren. Unter der Leitung von Jackie Kennedy erstrahlte das Weiße Haus schnell wieder in alter Pracht und wurde so auch zu einem kulturellen Zentrum des Landes. Außenpolitik wichtigste Aufgabe seiner Amtszeit Vor allem die Außenpolitik und internationale Krisen in Kuba und Berlin drückten Kennedys Amtszeit weitgehend den Stempel auf. Der überzeugte Kalte Krieger und Antikommunist wollte Amerika zur unangefochtenen Nummer Eins machen, ob im All oder bei der Anzahl der Atomraketen. Um die Freiheit der West-Berliner zu verteidigen, wäre Kennedy selbst zum Krieg bereit gewesen. Den Bau der Berliner Mauer im August 1961 verurteilten die USA zwar. Doch insgeheim war die US-Regierung erleichtert, weil dies zu einer Stabilisierung Ostdeutschlands beitrug und so die gefährliche Lage in Berlin entspannte. In Vietnam erhöhte Kennedy das militärische Engagement der USA deutlich, auch wenn er wiederholt Forderungen seiner militärischen Berater ablehnte, Bodentruppen in das Land zu schicken. Erster "heißer Draht" zwischen Washington und Moskau In den 13 Tagen der Kubakrise im Oktober 1962 stand die Welt am Rand eines Atomkrieges. Und die Kennedy-Regierung hatte eine Mitschuld am Entstehen der damaligen Krise. Um den kubanischen Machthaber Fidel Castro zu stürzen, hatte der US-Präsident im April 1961 einen Invasionsversuch in der kubanischen Schweinebucht genehmigt, der kläglich scheiterte. Später folgten geheime US-Sabotageaktionen gegen Kuba und mehrere Attentatsversuche der Geheimdienste auf Fidel Castro. Nicht zuletzt um eine US-Invasion Kubas zu verhindern, ließ der russische Staatschef Nikita Chruschtschow heimlich sowjetische Atomwaffen auf der nur 150 km vom amerikanischen Festland gelegenen Karibikinsel stationieren. Besorgt darüber, dass sie die Lage nicht mehr völlig unter Kontrolle hatten und ein kleiner, ungewollter Zwischenfall schnell zu einem Dritten Weltkrieg hätte führen können, lenkten Kennedy und Chruschtschow schließlich ein: Gegen das Versprechen, nicht in Kuba zu intervenieren, und gegen die geheime Zusage, US-Atomraketen aus der Türkei abzuziehen, zog die Sowjetunion ihre Raketen schlussendlich von Kuba ab. Das glückliche Ende der Kubakrise ebnete den Weg für entspannungspolitische Initiativen wie ein erstes begrenztes Atomteststopp-Abkommen und die Einrichtung des so genannten heißen Drahtes, einer schnellen und direkten Telegrafenverbindung zwischen Washington und Moskau. Kennedy inspirierte vor allem die Jungen Kennedy hatte nur rund tausend Tage, die großen Hoffnungen zu erfüllen, die sein Amtsantritt bei vielen Menschen ausgelöst hatte. Vor allem junge Menschen auf der ganzen Welt fühlten sich persönlich angesprochen von seinen Worten: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst." Junge Schwarze in den USA engagierten sich daraufhin beispielsweise im Kampf um die Bürgerrechte. Tausende US-Amerikaner bewarben sich, um im "Peace Corps", einem freiwilligen Entwicklungsdienst, zu arbeiten. Andere gingen freiwillig als Soldaten nach Vietnam und waren bereit, "jeden Preis zu zahlen, um die Freiheit gegen den Kommunismus zu verteidigen", wie es Kennedy in seiner Antrittsrede ebenfalls gefordert hatte. Wenige innenpolitische Erfolge Kennedy ist es zu verdanken, dass viele bis dahin wenig beachtete Themen damals ins öffentliche Bewusstsein rückten. Das gilt für die Bekämpfung der Armut, ein Krankenversorgungsprogramm für bedürftige ältere Menschen oder auch die Reform der Einwanderungsgesetzgebung, um das antiquierte Quotensystem abzuschaffen. Wegen des äußerst knappen und umstrittenen Wahlsiegs gegen den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon fehlte Kennedy jedoch ein Mandat für weit reichende innenpolitische Reformen. So standen der beeindruckenden Palette an Reformvorschlägen und Initiativen enttäuschend wenige Erfolge gegenüber. Auch bei den Bürgerrechten mangelte es ihm lange an Entschlossenheit. Erst seinem Nachfolger im Präsidentschaftsamt, Lyndon B. Johnson, gelang es, ein groß angelegtes sozialpolitisches Reformprogramm, die Änderung der Einwanderungsrichtlinien sowie das von Kennedy im Sommer 1963 in den Kongress eingebrachte, wichtige Bürgerrechtsgesetz durchzusetzen. Sein Versprechen, das Land wieder in Bewegung zu bringen, hat Kennedy jedoch erfüllt – das vielleicht größte Verdienst seiner Amtszeit. Kennedy-Mythos bis heute Hätte Kennedy seine politische Karriere vollenden können, so glauben viele, hätte die amerikanische Geschichte einen anderen, positiveren Verlauf genommen. Von dem, was durch seinen frühen Tod unvollendet und somit für die Menschen unerfüllt blieb, nährt sich der Kennedy-Mythos allerdings bis heute. Nicht abreißende Enthüllungen über Kennedys Krankheiten und Affären, aber auch dunkle Episoden seiner Politik ändern daran nur wenig. "Der Mythos ist sehr oft der Feind der Wahrheit", hatte der ehemalige Geschichtsstudent John F. Kennedy in einer Rede an der Yale University im Juni 1962 erklärt. Sein früher Tod bewahrte ihn vielleicht auch davor, schon zu Lebzeiten entzaubert zu werden.
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Andreas Etges
2022-02-02T00:00:00
2011-11-24T00:00:00
2022-02-02T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10610/hoffnungstraeger-einer-neuen-zeit-john-f-kennedy/
Mit Jugendlichkeit und Charme begeisterte er die Massen: Mit 43 Jahren zog John F. Kennedy ins Weiße Haus ein. Nur rund 1.000 Tage blieben ihm, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. 1963 kam er bei einem Attentat ums Leben. Der Aufstieg John F
[ "John F. Kennedy", "Ich bin ein Berliner", "Kalter Krieg", "Kuba-Krise", "USA" ]
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Info 05.09 Umweltbewusstsein und Umweltverhalten | Umweltbewusstsein und Klimaschutz | bpb.de
Einleitung Umweltprobleme müssen, um gelöst werden zu können, zunächst einmal als solche von den Menschen wahrgenommen werden. Diese Aussage klingt auf den ersten Blick selbstverständlich. Sie lohnt aber eine nähere Betrachtung, wie die Geschichte des Umweltbewusstseins zeigt. Denn verschmutzte Flüsse und Seen, kontaminierte Böden und stark belastete Luft gab es bereits, lange bevor die Begriffe Umweltproblem, Umweltkrise und Umweltbewusstsein in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielten. Als der spätere Bundeskanzler Willy Brandt 1961 mit dem Slogan "Blauer Himmel über der Ruhr" in den Wahlkampf zog, wurde dies zunächst kaum ernst genommen - Luftverschmutzung galt damals nicht als dringliches politisches Problem, obwohl der Himmel über der Ruhr in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße rußgeschwärzt war. Es sollte noch fast 20 Jahre dauern, bis das Thema Umweltschutz Mitte der 1980er Jahre auf Platz 1 der Rangliste der aktuell bedeutsamsten politischen Probleme kletterte. Heute ist in Deutschland ein Umweltbewusstsein weit verbreitet. 2004 hielten 92 Prozent der Bevölkerung den Umweltschutz für eine wichtige politische Aufgabe. 58 Prozent waren der Meinung, dass wir auf eine Umweltkatastrophe zusteuern, wenn wir so weiter machen wie bisher (siehe auch www.umweltbewusstsein.de). Überwältigend - zwischen 82 Prozent und 88 Prozent, mit steigender Tendenz in den letzten Jahren - ist die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger, wenn es um die Grundprinzipien der Nachhaltigen Entwicklung (schonender Ressourcenverbrauch, Generationengerechtigkeit und fairer Handel zwischen reichen und armen Ländern) geht. Nachhaltige Entwicklung ist das Leitbild der internationalen Umweltpolitik seit dem "Erdgipfel" der Vereinten Nationen von Rio de Janeiro 1992. Damals hatten die Unterzeichnerstaaten der dort verabschiedeten Agenda 21 bereits unterstrichen, dass es ohne ein Umweltbewusstsein und ohne eine Veränderung der Konsummuster in den hoch entwickelten und in starkem Maße Ressourcen verbrauchenden Industrieländern keine Lösung der globalen Umweltprobleme geben könne. Dabei bestand Einigkeit, dass staatliche Steuerung allein keine Wende zu einer nachhaltigen Entwicklung bewirken kann. Denn die Demokratien des Westens garantieren die Freiheit des Einzelnen: Innerhalb des gesetzlichen Rahmens sind die Individuen berechtigt, frei zu handeln und zu konsumieren, was sie bezahlen können. Sie bestimmen selbst, welche Autos sie fahren, wie viel Benzin sie pro Monat verbrauchen oder wie häufig sie eine Flugreise zu weit entfernten Ländern unternehmen wollen. Hier sind also Umweltbewusstsein und freiwilliges Handeln gefragt, wenn es Veränderungen geben soll. Aber was ist eigentlich unter Umweltbewusstsein zu verstehen? Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen definierte schon 1978 Umweltbewusstsein als "Einsichten in die Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch diesen selbst" und als "Bereitschaft zur Abhilfe". Diese Begriffsbestimmung ist auch heute noch aktuell, wurde aber inzwischen differenziert. Heute werden verschiedene Komponenten des Umweltbewusstseins unterschieden - an vorderster Stelle Umweltwissen, Umwelteinstellungen, Umweltverhalten und Verhaltensintentionen: Umweltwissen beschreibt den Kenntnis- und Informationsstand einer Person über Umwelt und Natur, über Trends und Entwicklungen in ökologischen Aufmerksamkeitsfeldern.Unter Umwelteinstellungen werden neben Einstellungen zu Fragen des Umweltschutzes im engeren Sinne auch Ängste, Empörung, Zorn und Betroffenheit sowie persönliche Grundorientierungen und auf die Umwelt bezogene Werthaltungen verstanden.Mit Umweltverhalten wird das individuelle Verhalten in relevanten Alltagssituationen bezeichnet.Davon zu unterscheiden sind Handlungsbereitschaft und Verhaltensintentionen, das heißt Bekundungen, sich in Zukunft so und nicht anders verhalten zu wollen. Der wissenschaftliche Begriff Umweltbewusstsein umfasst in der Regel alle genannten Komponenten, während in der politischen Diskussion üblicherweise lediglich eine Unterscheidung von Umweltbewusstsein und Umweltverhalten vorgenommen wird. Es wird also zwischen Wissen, Einstellungen sowie Verhaltensintentionen einerseits und dem tatsächlichen Umwelthandeln andererseits unterschieden. Abweichungen im Alltagsverhalten Wann immer in der Öffentlichkeit über Umweltbewusstsein diskutiert wird, taucht unweigerlich die Frage einer Kluft zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverhalten auf. Was ist damit gemeint? Sehr häufig wird in empirischen Untersuchungen festgestellt, dass die Menschen hierzulande ein hohes Umweltbewusstsein besitzen, aber ihr Verhalten nicht damit Schritt hält. Zwar glaubt die Gesellschaft, die Grenzen des Wachstums seien erreicht und "wir" sollten sparsam mit Ressourcen umgehen. Trotzdem ist das gerade erstandene Auto größer und leistungsstärker als das alte. Auch die nächste Wochenendreise hat nicht die nähere Umgebung zum Ziel, sondern es geht mit dem "Billigflieger" in weit entfernte Städte und Länder. Die empirische Sozialforschung spricht in diesem Fall davon, dass Einstellungen und Verhalten nur gering miteinander korrelieren, dass positivere Einstellungen gegenüber dem Umweltschutz also nicht unweigerlich mit einem umweltgerechteren Verhalten einhergehen. Wo liegendie Gründe für diese Kluft? Um es vorweg zu nehmen: Es gibt keine einheitliche Theorie, die für alle Bereiche und alle Verhaltensweisen eine plausible Erklärung liefern würde. Wenn jemand statt der relativ teuren Bio-Lebensmittel lieber "normale" landwirtschaftliche Produkte kauft, ist es nahe liegend, Kosten-Nutzen-Motive, letzten Endes also finanzielle Gründe, zu vermuten. Aber der Kauf eines größeren, leistungsstärkeren Autos ist mit Sparmotiven und Kosten-Nutzen-Rechnungen schwerlich zu begründen. Die Sozialwissenschaftler Andreas Diekmann und Peter Preisendörfer haben 2001 eine so genannte Low-Cost-These aufgestellt, derzufolge die Menschen sich nur solange ihrem Umweltbewusstsein entsprechend verhalten, wie damit nur geringe Kosten verbunden sind. Wird es hingegen zu teuer, so zeigt das Umweltbewusstsein keine Wirksamkeit mehr. Diese Annahme kann eine Reihe von Verhaltensweisen gut erklären, vorzugsweise solche, die direkt mit einer Wahlsituation und einer bewussten Entscheidung verbunden sind. Viele Verhaltensweisen sind jedoch von Gewohnheit geprägt, und eine Kosten-Nutzen-Abwägung findet gar nicht statt. Mitunter sind die Mehrkosten auch so gering, zum Beispiel beim Kauf von Bio-Eiern verglichen mit Eiern aus Legebatterien, dass sie kaum eine ausschlaggebende Rolle in einem bewussten Entscheidungsprozess spielen können. Häufig ist es sogar so, dass umweltfreundliches Verhalten mit Ersparnissen verbunden ist, wie das Abdrehen der Heizung bei längerer Abwesenheit, die Isolierung undichter Fenster oder das Sparen von Strom durch Ausschalten von Elektrogeräten (anstelle der Standby-Stellung), sodass die Low-Cost-Hypothese offenkundig nicht greift. Neben der erwähnten Kosten-Nutzen-Abwägung lassen sich weitere Ursachen für ein nicht umweltgerechtes Verhalten identifizieren: die Einbettung des Verhaltens in den persönlichen Lebensstil (Es ist "in", in die Karibik zu fliegen.);das Streben nach Wohlbefinden (Im Auto fährt es sich angenehmer als in öffentlichen Verkehrsmitteln. Man möchte auch im Winter frisches Obst essen oder bevorzugt das angenehme Baden anstelle des Duschens.);die Routinisierung von Alltagshandeln (Es werden immer wieder die gleichen Produkte gekauft.);ein Dilemma zwischen Normen und persönlichen Interessen (Fahren alle wie vorgeschrieben Tempo 100, hat derjenige, der sich nicht daran hält, freie Bahn.). Empirische Studien zu den Motiven des Umweltverhaltens legen nahe, das jeweils in Frage stehende Verhalten im Detail zu untersuchen und nicht pauschal eine überall wirksame Ursache zu vermuten. [...] Der Diskurs um die Kluft zwischen Umweltbewusstsein und Verhalten ist häufig von einem Rigorismus gekennzeichnet, der in anderen gesellschaftlichen Feldern so nicht besteht. Personen verhalten sich im einen Fall umweltgerecht, im anderen aber nicht. Sie kombinieren und probieren Verhaltensweisen, sind flexibler und handeln widersprüchlicher als noch vor einigen Jahrzehnten. Sie essen vielleicht in der Woche in der Kantine und kaufen am Wochenende auf dem Markt Bio-Lebensmittel, ohne dies als Inkonsequenz oder Widerspruch zu empfinden. Für die Umweltpolitik erweist es sich als notwendig, die einzelnen Verhaltensbereiche und Verhaltensweisen aus der Nähe zu betrachten, um Hemmnisse und fördernde Faktoren für umweltgerechtes Verhalten in spezifischen Feldern und Situationen herauszufinden. Einfluss der Massenmedien Umweltbewusstsein ist ein Phänomen, das eng mit der Bedeutung der elektronischen Medien, vor allem des Fernsehens, und dem Prozess des Zusammenwachsens dieses Planeten zu einem "globalen Dorf" zu tun hat. Wir wissen heute über weit entfernte Länder Bescheid, erfahren zeitgleich von Naturkatastrophen in Indien, Australien oder Florida. Der Informationsaustausch wurde durch die Erfindung des Internets noch intensiviert. Bedingt durch die Auswahlmechanismen, die den Verbreitungsmedien, insbesondere dem Fernsehen, zu eigen sind, haben Katastrophen die größte Chance, über die Sender das abendliche Wohnzimmer zu erreichen. Bei den Zuschauenden, die geschützt und gemütlich vor den Fernsehgeräten sitzen, entsteht so der Eindruck, als sei da draußen eine Welt voller Katastrophen und Risiken, darunter kaum kalkulierbare Umwelt- und Naturrisiken. Auf diese Weise werden die Medien zu einer gleichsam nie versiegenden Quelle von Umweltbewusstsein bei gleichzeitigem passivem Verharren der Zuschauenden und Zuhörenden. Im Kontrast zu dieser Welt der Risiken, Gefahren und Katastrophen steht die eigene kleine Welt zu Hause, in der Heimatgemeinde oder im heimischen Stadtviertel. Hier scheint die Umwelt noch in einem guten Zustand zu sein, hier gibt es keinen unmittelbaren Handlungsdruck. So fühlen sich 2004 nur zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger durch Autoabgase oder Straßenverkehrslärm stark gestört oder belästigt. Auch aus diesem Spannungsverhältnis ist es erklärlich, dass der Einzelne globale Umweltzustände für schlimm hält, globalen Handlungsdruck sieht und beispielsweise die Klimapolitik der Bundesregierung begrüßt, aber in seinem eigenen Bereich einschneidende Änderungen und konsequentes Verhalten nicht für notwendig hält. Bedingungen staatlichen Handelns Die Anfänge des öffentlich wirksamen Umweltbewusstseins lassen sich historisch relativ genau bestimmen und zeigen, wie eng Umweltbewusstsein und staatliches Handeln miteinander verzahnt sind. Im Jahr 1962 publizierte die amerikanische Biologin Rachel Carson ihr Buch "The Silent Spring" ("Der stumme Frühling"). Es schilderte in eindrücklicher Weise die Auswirkungen des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft und prognostizierte ein Aussterben des Weißkopf-Seeadlers, des amerikanischen Wappentiers. Das Buch und die anschließende öffentliche Debatte bewirkten, dass das Insektizid DDT Anfang der 1970er Jahre in den Industrieländern verboten wurde. Der Zusammenhang von staatlicher Umweltpolitik und Umweltbewusstsein ist seither offenkundig. Auf der einen Seite sind Erfolge unbestreitbar: Zahlreiche Gesetze zum Schutz der Umwelt wurden in den letzten 30 Jahren erlassen, Institutionen wie die amerikanische EPA (Environmental Protection Agency) oder das deutsche Umweltbundesamt wurden gegründet, seit 1986 existiert in der Bundesrepublik auch ein Umweltministerium. An manchen Punkten hat sich die Skepsis der Bürgerinnen und Bürger aber auch als Hemmnis für Umweltpolitik erwiesen. Nicht nur die Ökosteuer ist ein Beispiel für den Widerstand in der Bevölkerung, sondern der gesamte Bereich der (Auto-)Mobilität erweist sich als relativ veränderungsresistent. Eine Wende zur Nachhaltigkeit wird nur erreicht, wenn die Menschen mitwirken. In einer freiheitlichen Gesellschaft wird sich dies nur über die Anerkennung eines Rechtes auf Differenz erreichen lassen. So ist es für die Umweltpolitik wichtig, in Sachen Umweltbewusstsein zwischen Akzeptanz, Resonanz und Engagement zu differenzieren. Die Einen werden vielleicht die staatliche Klimapolitik akzeptieren, ohne aber die Notwendigkeit zu sehen, den persönlichen Lebensstil einschneidend zu verändern. Andere werden möglicherweise von den technischen Möglichkeiten Erneuerbarer Energien fasziniert sein und sich eine Solaranlage auf das Dach stellen. Wieder andere werden aus Überzeugung einen nachhaltigen Lebensstil wählen und ihr Konsumverhalten umstellen. Wirksame Umweltpolitik sollte alle drei Formen von Umweltbewusstsein ins Kalkül ziehen und ihre Steuerungsmaßnahmen darauf abstellen. Aus: Udo Kuckartz: Umweltbewusstsein und Umweltverhalten, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 287.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-04-30T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/umweltbewusstsein/134851/info-05-09-umweltbewusstsein-und-umweltverhalten/
Der Text setzt sich wissenschaftlich mit den verschiedene Komponenten des Umweltbewusstseins auseinander und untersucht vor allem die Kluft zwischen Bewusstsein und Verhalten.
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Welche verschiedenen Schutzformen können im Asylverfahren erteilt werden? | Flucht und Asyl: Grundlagen | bpb.de
Schutzsuchende, die in Deutschland Asyl suchen, haben unterschiedliche Gründe, aus denen sie ihr Herkunftsland verlassen haben. Das deutsche Asylrecht erkennt jedoch nicht jede Motivation, in die Bundesrepublik einzureisen, als asylrelevant an. Rein wirtschaftliche Erwägungen sind beispielsweise nach dem geltenden Recht kein Asylgrund, ebenso wenig wie die Hoffnung auf bessere Bildungschancen oder ein selbstbestimmtes Leben. Solche Ambitionen können in gewissem Umfang durch andere aufenthaltsrechtliche Regelungen umgesetzt werden. So können zum Beispiel Hochqualifizierte und Fachkräfte, die über Qualifikationen verfügen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt gesucht werden, eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit erhalten. Auch für Ausländer und Ausländerinnen, die an einer deutschen Hochschule Interner Link: studieren wollen, gibt es entsprechende Zuzugsmöglichkeiten. Im Asylverfahren wird hingegen ausschließlich geprüft, ob einem Antragsteller gravierende Gefahren drohen würden, wenn er in sein Herkunftsland zurückkehren müsste. Dafür gibt es verschiedene Formen von Schutz: die Anerkennung als Asylberechtigte oder als Flüchtling, subsidiärer Schutz und Abschiebungsverbote. Die Schutzformen haben unterschiedliche Voraussetzungen und unterschiedliche Rechte zur Folge. Allen gemeinsam ist, dass anerkannten Schutzberechtigten eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, sie arbeiten dürfen und Zugang zu den allgemeinen sozialen Sicherungssystemen haben. Asylanerkennung Das Grundrecht auf Asyl ist in Art. 16a des Grundgesetzes geregelt. Es steht politisch Verfolgten zu, die durch staatliche oder staatsähnliche Akteure verfolgt werden. Staatsähnliche Akteure können zum Beispiel die Parteien in einem Bürgerkrieg sein. Das Asylgrundrecht ist im Jahr 1993 stark Interner Link: eingeschränkt worden. Seitdem kann sich nicht mehr auf Art. 16a Grundgesetz berufen, wer aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Als sichere Drittstaaten zählen unter anderem alle EU-Mitgliedstaaten. Da es nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten für politisch Verfolgte gibt, legal – beispielsweise mit einem Arbeitsvisum – nach Deutschland einzureisen, gelangt die Mehrzahl illegal, d.h. ohne gültige Einreiseerlaubnis, über gefährliche Landwegrouten in die Bundesrepublik. Diese Personen sind wegen der Durchreise durch sichere Drittstaaten von vornherein vom Asylgrundrecht ausgeschlossen. Im Prinzip haben also nur Menschen, die über den See- oder Luftweg nach Deutschland kommen, die Möglichkeit, die in Art. 16a Grundgesetz verankerte Asylberechtigung zu erhalten. Daher wurden in den letzten zehn Jahren nur zwischen 0,8 Prozent und 1,8 Prozent der Antragsteller als Asylberechtigte anerkannt. Da alle Asylberechtigten auch als Flüchtlinge anerkannt werden, haben sie dieselben Rechte wie anerkannte Flüchtlinge (siehe unten). Flüchtlingsanerkennung Die Anerkennung als Flüchtling beruht auf der Genfer Flüchtlingskonvention. Im Vergleich zur Asylberechtigung nach dem Grundgesetz, kennt sie jedoch weniger Einschränkungen. So führt die Einreise durch einen sicheren Drittstaat nach dem derzeit geltenden Recht nicht von vornherein zum Ausschluss vom Flüchtlingsstatus. Außerdem kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, wenn der Herkunftsstaat nicht in der Lage oder nicht willens ist, wirksamen Schutz zu bieten. Damit wird der Überlegung Rechnung getragen, dass von nichtstaatlichen Akteuren wie Terrorgruppen oder Clans eine ebenso große Bedrohung für das Individuum wie vom Staat ausgehen kann. Für die Anerkennung als Flüchtling ist Voraussetzung, dass die Verfolgung an einen Verfolgungsgrund anknüpft, der in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt ist, also an die "Rasse", die Religion, die Nationalität, die politische Überzeugung oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Es muss sich dabei um ein angeborenes Merkmal (z.B. Hautfarbe oder Geschlecht) oder eine charakteristische Eigenschaft (z.B. religiöse Überzeugung oder die sexuelle Orientierung) handeln, die so wesentlich für die Identität oder das Gewissen ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, darauf zu verzichten. Man spricht hier auch von unveräußerlichen Merkmalen. Die Flüchtlingsanerkennung ist ausgeschlossen, wenn es sichere Regionen im Herkunftsland gibt, in denen der Antragsteller internen Schutz finden kann. Es muss allerdings auch vernünftigerweise erwartet werden können, dass die Person dort wohnen und ihren Lebensunterhalt bestreiten kann. Ein Ort, an dem die Person ihr wirtschaftliches Existenzminimum nicht sichern könnte, wird nicht als relevante innerstaatliche Fluchtalternative angesehen. Wer als Flüchtling anerkannt wird, erhält nicht nur eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre, die im Anschluss in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (Niederlassungserlaubnis) umgewandelt werden kann, sondern auch einen blauen Reiseausweis für Flüchtlinge. Dieser wird von allen Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben, als Ausweisdokument anerkannt. Anerkannte Flüchtlinge können einen Interner Link: Integrationskurs besuchen. Außerdem dürfen sie ihren Wohnort innerhalb Deutschlands frei wählen und können innerhalb des Schengenraums für einen Zeitraum von drei Monaten visumfrei reisen. Familiennachzug ist unter erleichterten Voraussetzungen möglich: Wird die Familienzusammenführung binnen drei Monaten nach Asylanerkennung beantragt, muss der Lebensunterhalt der Familie nicht gesichert sein, um Familienangehörige nach Deutschland holen zu dürfen. Außerdem muss der nachziehende Ehegatte keine Deutschkenntnisse nachweisen. Subsidiärer Schutz Subsidiärer Schutz wird gewährt, wenn dem Asylsuchenden in seinem Herkunftsland die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Außerdem erhält subsidiären Schutz, wer als Zivilperson im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ernsthaft individuell bedroht ist. Diese Gefahren müssen nicht an bestimmte Merkmale der Person – beispielsweise die ethnische Zugehörigkeit – wie bei anerkannten Flüchtlingen anknüpfen, sondern können sich aus willkürlicher Gewalt, etwa in einem Bürgerkrieg, ergeben. Subsidiär Schutzberechtigte erhalten eine Aufenthaltserlaubnis, die ein Jahr lang gültig ist und im Anschluss verlängert werden kann. Nach fünf Jahren können sie unter bestimmten Voraussetzungen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Sie dürfen einen Interner Link: Integrationskurs besuchen, aber in der Regel nur dann innerhalb Deutschlands umziehen, wenn sie ihren Lebensunterhalt (und den ihrer Kinder) eigenständig sichern können. Das in der letzten Februarwoche 2016 vom Bundestag beschlossene sogenannte Asylpaket II sieht vor, dass der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt wird. Abschiebungsverbote Fehlt es an einer oder mehreren Voraussetzungen für Asyl, Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz, kann hilfsweise ein Abschiebungsverbot festgestellt werden, wenn eine Interner Link: Abschiebung trotzdem eine Menschenrechtsverletzung zur Folge hätte oder wenn im Zielstaat für den Asylsuchenden eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das kann zum Beispiel bei einer schweren Erkrankung der Fall sein, die sich im Herkunftsland aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten deutlich verschlechtern würde. Ein Umzug innerhalb Deutschlands ist für Personen mit Abschiebungsverbot oft nicht zulässig. Auch für den Familiennachzug bestehen besondere Hürden. Zum einen muss der Lebensunterhalt der gesamten Familie in der Regel vollständig gesichert sein. Zum anderen kann ein Visum zur Familienzusammenführung nicht erteilt werden, wenn die Familie in einem Drittstaat gemeinsam leben könnte. Zum Thema Interner Link: Deutsche Asylpolitik und EU-Flüchtlingsschutz im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Interner Link: Länderprofil Deutschland Asylrecht Zahlen zu Asyl in Deutschland Interner Link: Asyl in Deutschland!? Zur Situation der Flüchtlinge in Deutschland 20 Jahre nach dem "Asylkompromiss" Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Flucht und Asyl: Grundlagen".
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-11-19T00:00:00
2016-04-12T00:00:00
2021-11-19T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/224699/welche-verschiedenen-schutzformen-koennen-im-asylverfahren-erteilt-werden/
Schutzsuchende, die in Deutschland Asyl suchen, haben unterschiedliche Gründe, aus denen sie ihr Herkunftsland verlassen haben. Das deutsche Asylrecht erkennt jedoch nicht jede Motivation, in die Bundesrepublik einzureisen, als asylrelevant an.
[ "Asylrecht", "Integration", "Flüchtlinge und Integration", "Integrationskurs", "Abschiebungsschutz", "Asylberechtigte", "Deutschland" ]
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Veränderte Beschäftigungssituationen in der frühen Phase der Coronakrise | Datenreport 2021 | bpb.de
Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Studie zur Entwicklung verschiedener Indikatoren der sozialen Ungleichheit in der Erwerbstätigkeit während der frühen Phase der Coronakrise in Deutschland präsentiert. Die berichteten Erkenntnisse beziehen sich auf die erste Welle der Coronapandemie in Deutschland und reichen von Mitte März, kurz nach Implementierung der ersten Eindämmungsmaßnahmen, bis Anfang Juli 2020, die Zeit der Lockerungen und des zwischenzeitlichen Abflauens der Epidemie. Die entsprechenden Daten wurden wiederholt bei denselben Personen erhoben, sodass sie tatsächliche individuelle Situations- und Verhaltensänderungen widerspiegeln. Die Erwerbstätigkeit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland hat sich während der Zeit der Kontaktbeschränkungen und der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise insbesondere im Hinblick auf zwei Aspekte gewandelt: Erstens ist es zu Veränderungen beim Arbeitsort gekommen, da viele Betriebe unmittelbar nach Beginn der Kontaktbeschränkungen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt haben beziehungsweise ihnen das Arbeiten im Homeoffice teilweise oder vollständig erlaubt wurde. Eine Rückkehr zum Arbeiten vor Ort erfolgte mit der Rücknahme der Kontaktbeschränkungen, allerdings arbeitet nach wie vor ein Teil der Beschäftigten entweder ausschließlich oder teilweise von zu Hause. Zweitens wird das Instrument der Kurzarbeit in der aktuellen Krise in einem Umfang genutzt, der zuvor in der deutschen Geschichte nicht erreicht wurde. Das betrifft zum einen Beschäftigte, die unmittelbar mit Einsetzen der Kontaktbeschränkungen freigestellt wurden, beispielsweise im Gastgewerbe, und zum anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in jenen Betriebe, die in der Folge von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise betroffen waren. Zur Darstellung dieser Veränderungen wird die Beschäftigungssituation verwendet, die eine gemeinsame Betrachtung von Arbeitsort und Erwerbsstatus ermöglicht. Entsprechend wird unterteilt nach Arbeiten im üblichen Stundenumfang vor Ort, im üblichen Stundenumfang von zu Hause, Kurzarbeit, Freistellung und Arbeitslosigkeit. In alle Auswertungen werden immer ausschließlich jene Personen einbezogen, die laut GIP-Erhebung im Januar 2020 entweder abhängig oder selbstständig beschäftigt waren. In Bezug auf Arbeitslosigkeit werden folglich nur die Anteile jener gezeigt, die seit Januar ihren Job verloren haben, nicht der Bestand aller Arbeitslosen in Deutschland. Zur grafischen Darstellung werden sogenannte Alluvial-Plots verwendet, um Übergänge in der Beschäftigungssituation zwischen drei ausgewählten Erhebungswochen zu Beginn (20. bis 26. März), in der Mitte (9. bis 15. Mai) und am Ende (3. bis 9. Juli) der Feldphase zu visualisieren. Für diese Plots werden nur jene Personen selektiert, die an allen drei ausgewählten Zeitpunkten an der Befragung teilgenommen haben, damit deren Übergänge im Zeitverlauf darstellbar sind.
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Annelies G. Blom, Katja Möhring
2021-06-23T00:00:00
2021-03-26T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/auswirkungen-der-coronapandemie/330405/veraenderte-beschaeftigungssituationen-in-der-fruehen-phase-der-coronakrise/
Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Studie zur Entwicklung verschiedener Indikatoren der sozialen Ungleichheit in der Erwerbstätigkeit während der frühen Phase der Coronakrise in Deutschland präsentiert.
[ "Corona", "Corona-Pandemie", "COVID-19", "Datenreport", "soziale Ungleichheit", "Beschäftigte" ]
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Staatsbegräbnis für Tunesiens Oppositionspolitiker Belaid | Hintergrund aktuell | bpb.de
Er galt als einer der heftigsten Kritiker der islamistischen Regierungspartei Ennahda. Der 48-jährige Jurist Chokri Belaid, Vorsitzender der oppositionellen "Bewegung der demokratischen Patrioten" wurde vor seinem Haus erschossen und verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Heute bekommt er auf Anweisung von Präsident Moncef Marzouki ein Staatsbegräbnis in Tunis. Tausende Menschen werden zur Beisetzung erwartet. Das Verteidigungsministerium kündigte an, den Trauerzug mithilfe der Streitkräfte schützen zu wollen. Mord an Belaid löste Proteste und Regierungskrise aus Seit Mittwoch kommt es zu neuen Proteste in Tunesiens Städten – den schwersten seit der Revolution vor zwei Jahren. Landesweit gingen tausende Menschen auf die Straße. In mehreren Städten des nordafrikanischen Landes kam es zu teils gewalttätigen Protestaktionen. Demonstranten attackierten die Zentrale der regierenden islamistischen Ennahda-Partei in Tunis und legten dort Feuer. Noch am Mittwoch hatte Tunesiens Premierminister Hamadi Jebali deshalb in einer Fernsehansprache mitgeteilt, eine "Regierung der nationalen Kompetenz ohne politische Zugehörigkeit" zu bilden und Neuwahlen ausschreiben zu wollen. Die überparteiliche Expertenregierung solle ein "beschränktes Mandat zur Führung der Geschäfte des Landes bis zur Abhaltung von Wahlen binnen kürzester Frist" haben. Doch seine Ennahda-Parteikollegen wandten sich am Donnerstag in Tunis gegen ihren Premier und lehnten eine Kabinettsneubildung ab: Jebali habe seinen Beschluss ohne Absprache gefasst. Opposition beschuldigt regierende Ennahda Belaids Angehörige sowie die Regierungsopposition machen die Ennahda und deren Umfeld für das Attentat an Belaid verantwortlich. Seit Monaten kommt es in Tunesien immer wieder zu Übergriffen gegen Oppositionelle, Gewerkschafter und Frauenorganisationen. Dahinter vermutet die Opposition die islamistischen Milizen der "Liga zum Schutz der Revolution". Im vergangenen Oktober war der Oppositionspolitiker Lotfi Naguedh nach einem Angriff von Regierungsanhängern ums Leben gekommen. Der Ennahda wird von Kritikern immer wieder mangelnder Wille, das staatliche Gewaltmonopol zu gewährleisten und die Gewalt der Islamisten zu stoppen, vorgeworfen. Regierungspolitiker der Partei wiesen in Stellungnahmen jegliche Verantwortung für das Attentat zurück. Die Polizei werde alles dafür tun, den Mörder so schnell wie möglich zu fassen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-11-04T00:00:00
2013-02-07T00:00:00
2021-11-04T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/154769/staatsbegraebnis-fuer-tunesiens-oppositionspolitiker-belaid/
Am Mittwoch (6. Februar) wurde der bekannte tunesische Oppositionspolitiker Chokri Belaid vor seiner Wohnung in der Hauptstadt Tunis erschossen. Am Freitag (9. Februar) wurde er beigesetzt. Gewerkschaften und Opposition riefen zum Generalstreik auf.
[ "Demokratisierung", "Arabischer Frühling", "Tunesien", "Opposition", "Oppositionspolitik", "Generalstreik" ]
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Parlamentswahlen in Moldau | Hintergrund aktuell | bpb.de
Die Sozialistische Partei (PSRM) mit ihrer Vorsitzenden Zinaida Greceanî ist die Gewinnerin der Wahl. Sie kam auf 31,4 Prozent der Stimmen und verfügt künftig über 34 der 101 Sitze im Parlament. Die PSRM spricht mehrheitlich russischsprachige Wähler an und gilt als russlandfreundlich. Auf die bisher regierende, pro-westliche Demokratische Partei Moldaus (PDM) entfallen dank vieler Direktmandate 31 Sitze, der Wahlblock ACUM kommt mit 26,12 Prozent der Stimmen auf 26, die mit weitem Abstand folgende Partei "Sor" auf sieben Mandate. Die Wahlbeteiligung lag offiziellen Angaben zufolge bei knapp über 49 Prozent. Zahlreiche politische Skandale In den vergangenen fünf Jahren hat Moldau zahlreiche politische Skandale erlebt. Das Land driftete 2014 in eine Wirtschaftskrise, nachdem drei Banken zugeben mussten, bei dubiosen Kreditgeschäften mit Hilfe von Staatsdienern und Politikern insgesamt eine Milliarde Dollar veruntreut zu haben. Davon betroffen waren auch die öffentlichen Pensionskassen. Die Höhe der veruntreuten Gelder entsprach mehr als ein Siebtel der Wirtschaftsleistung Moldaus, das laut Angaben der Weltbank das ärmste Land Europas ist. Der frühere Ministerpräsident Vlad Filat von der PLDM war in den bis heute nachwirkenden Skandal verwickelt, er wurde zu neun Jahren Haft verurteilt. Die staatlich gesteuerte Bereinigung des moldauischen Bankensektors dauert immer noch an. Parlament der Republik Moldau Das Nationalparlament von Moldau umfasst insgesamt 101 Sitze. Es gilt ein kombiniertes Mehrheits- und Verhältniswahlrecht: 50 Sitze werden über Parteilisten vergeben, 51 Sitze an die Sieger der Wahlkreise. Für Wahlbündnisse mit drei oder mehr Parteien gilt eine Sperrklausel von elf Prozent, Zwei-Parteien-Bündnisse müssen eine Neun-Prozent-Hürde überspringen. Einzelparteien müssen sechs Prozent erreichen, um im Parlament vertreten zu sein. Das Wahlrecht wurde im Jahr 2017 beschlossen. Kritiker sagen, es bevorzuge die großen Parteien. Die Moldauer stimmen am 24. Februar am Tag der Parlamentswahl auch darüber ab, ob das Parlament von 101 auf 61 Sitze verkleinert werden soll. Korruption ist ein weit verbreitetes Problem in der Republik Moldau. Das Land hatte sich in dem 2014 unterzeichneten Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unter anderem zu einem schärferen Kampf gegen Korruption verpflichtet. Transparency International listet Moldau im Korruptionswahrnehmungsindex aber weiterhin nur auf Platz 117 von 180 Ländern. Seit 2013 hatte Moldau sechs verschiedene Regierungschefs. Chiril Gaburici von der PLDM amtierte im Jahr 2015 beispielsweise nur vier Monate lang. Er musste zurücktreten, nachdem bekannt wurde, dass er Unterschrift und Stempel unter seinem Abiturzeugnis gefälscht hatte. An seiner vermeintlichen Schule konnten sich die Lehrer nicht daran erinnern, Gaburici je gesehen zu haben. Für Massenproteste sorgte im Sommer 2018 der Wahlsieg von Andrei Nastase von der Plattform Würde und Wahrheit bei der Bürgermeisterwahl in der Hauptstadt Chişinău. Ein Gericht annullierte die Wahl mit der umstrittenen Begründung, es sei zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Die Parlamentswahlen sorgten im Vorfeld auch international für Aufmerksamkeit. Das US-Außenministerium hatte Mitte Januar in einer Stellungnahme eine faire und freie Wahl in Moldau angemahnt. Das Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) startete am gleichen Tag eine Beobachtermission. Nach Einschätzung der OSZE gab es bei den Parlamentswahlen nun tatsächlich Hinweise auf Wahlmanipulationen und "Anzeichen für Stimmenkauf". Dies erklärte die Staatenkonferenz einen Tag nach der Wahl in der Hauptstadt Chişinău. Moskau betrachtet Moldau als Teil seiner Interessensphäre Eine zentrale Frage für die Zukunft wird sein, ob Russland seinen Einfluss in dem 3,5 Millionen Einwohner zählenden Land festigen kann. Moskau betrachtet die Republik Moldau als Teil seiner Interessensphäre. Geografisch gesehen wird die Republik Moldau von der Ukraine und Rumänien eingeschlossen. Bis 1991 war das Land Teil der Sowjetunion und wurde danach unabhängig. In einem relativ dicht besiedelten Landstreifen entlang des Flusses Dnister erstreckt sich seit 1990 die Republik Transnistrien, die sich 1992 in einem rund fünf Monate andauernden bewaffneten Konflikt von Moldau faktisch abgespalten hat und mehrheitlich von russischsprachigen Bürgern bewohnt wird. International wird Transnistrien bis heute nicht anerkannt – selbst Russland hat dies nicht getan, obwohl dort bis heute russische Soldaten stationiert sind. Im Zuge der Krim-Annexion 2014 stellte auch Transnistrien einen "Antrag zur Aufnahme in die Russische Föderation". Das Nationalparlament von Moldau umfasst insgesamt 101 Sitze. Es gilt ein kombiniertes Mehrheits- und Verhältniswahlrecht: 50 Sitze werden über Parteilisten vergeben, 51 Sitze an die Sieger der Wahlkreise. Für Wahlbündnisse mit drei oder mehr Parteien gilt eine Sperrklausel von elf Prozent, Zwei-Parteien-Bündnisse müssen eine Neun-Prozent-Hürde überspringen. Einzelparteien müssen sechs Prozent erreichen, um im Parlament vertreten zu sein. Das Wahlrecht wurde im Jahr 2017 beschlossen. Kritiker sagen, es bevorzuge die großen Parteien. Die Moldauer stimmen am 24. Februar am Tag der Parlamentswahl auch darüber ab, ob das Parlament von 101 auf 61 Sitze verkleinert werden soll. Im Süden Moldaus existiert das autonome Verwaltungsgebiet Gagausien, in der sich bei einem Referendum im Jahr 2014 angeblich mehr als 97 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gegen eine Annäherung an die EU ausgesprochen haben sollen. Im Mai wählen die Gagausen ein neues Regierungsoberhaupt. Das "Baschkan" genannte Amt bekleidet derzeit die von den Sozialisten unterstützte Politikerin Irina Vlah, die dezidiert pro-russische Positionen vertritt. Auch die Bewohner Gagausiens gelten traditionell als Moskau verbunden. Im Juli 2016 ist das zwei Jahre zuvor unterzeichnete Assoziierungsabkommen zwischen Moldau und der EU vollständig in Kraft getreten. Knapp die Hälfte der Menschen in Moldau spricht sich für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union aus. Tatsächlich verhindern die Konflikte um Transnistrien und Gagausien, aber auch die politischen Skandale derzeit eine engere Kooperation mit der EU. Eine EU-Vollmitgliedschaft scheint in weite Ferne gerückt. Mehr zum Thema: Interner Link: Andreas Wittkowsky: Verschleppte Konflikte im post-sowjetischen Raum Interner Link: Hannes Adomeit: Ukraine, Belarus und Moldau (Dossier Russland)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-07-30T00:00:00
2019-02-15T00:00:00
2021-07-30T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/286020/parlamentswahlen-in-moldau/
In der Republik Moldau wurde am 24. Februar ein neues Parlament gewählt. Die Wahl galt als richtungsweisend für das südosteuropäische Land. Wie erwartet konnte keine Partei eine absolute Mehrheit erreichen: Das Land steht nun vor einer schwierigen Re
[ "Republik Moldau", "Parlamentswahlen", "Republik Moldau" ]
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References and Further Reading | Japan | bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2012-12-18T00:00:00
2012-11-26T00:00:00
2012-12-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/150368/references-and-further-reading/
Here you can find literature and further reading for Country Profile 24 "Japan" by Gabriele Vogt.
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Diskussion: Krüger und Merkel | Fachtagung "Demokratie und der Streit um Werte" | bpb.de
Mit der Frage, ob es möglich sei den beschriebenen Spalt mit Solidarität zu überwinden, eröffnete Krüger das Gespräch. Allgemeiner gesprochen fragte er nach dem Schnittpunkt, um den Diskurs zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten wieder zu eröffnen. Es sei wichtig zu betonen, dass es sich bei der skizzierten Konfliktlinie um eine unter mehreren handle, so Merkel. Jedoch sei bei circa zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung die kulturelle Identität die Vorherrschende, d.h., dass dort auch ein hohes Potential für die Ausbildung einer solchen Konfliktlinie liege. Die empirische Forschung habe zu der Erkenntnis geführt, dass Solidarität dort stark ausgeprägt sei, wo die Gesellschaft besonders homogen ist. In Anbetracht der Tatsache, dass eine zukünftige Gesellschaft eher heterogen sein wird, sei dies besonders beunruhigend. Theoretisch sei die Aufnahme eines Diskurses möglich, so seien im Kosmopolitismus auch kommunitaristische Elemente zu finden. Der Blick in die Realität stelle jedoch die Fraglichkeit dieses Unterfangens hervor. Weiterhin verhärte und befeuere die trumpsche Methode den Konflikt, indem auf dem Weg einer direkten Kommunikation versucht werde, diese Gruppen für sich einzunehmen. Rechts- und Linkspopulismus Wie steht es um das Feld der populistischen Landschaft überhaupt bzw. wie ist das Verhältnis des rechten zum linken Populismus? Ersterer sei sowohl kulturell als auch ethnisch exkludierend und konstruiere im schlechtesten Fall einen homogenen "Volkskörper". Letzterer hingegen inkludiere auf einer sozioökonomischen Ebene. Als Beispiele könne man Gruppierungen von Europa bis Amerika anbringen. Gemeinsam sei beiden Spielarten des Populismus eine Verachtung für die Institutionen. In diesem Geiste verstünden sich die meisten Gruppierungen als Bewegungen und nicht als Parteien. Oft seien solche Bewegungen jedoch von einem innerorganisatorischen Demokratiedefizit betroffen. Des Weiteren teilten beide Spielarten einen gewissen Stil in der Politik, der mit Kategorien wie Wahr/Unwahr oder Kritisch/Unkritisch operiere und demnach mit demokratischen Institutionen nicht kompatibel sei. Auf Nachfrage stimmte Merkel zu, dass die Legitimität der linken Bewegungen stark mit der Haltung des sozialdemokratischen Angebots zum Neoliberalismus zusammenhänge. Der Weg vom starken Staat und der "gewerkschaftsbasierten Umverteilungsmaschinerie" zum schwachen Staat, der die positiven Faktoren der Globalisierung betone, sei ein großer Fehler gewesen. Insbesondere die verhängnisvollen Steuerreformen schwächten den Steuerstaat. Paradoxerweise habe es unter Rot-Grün so starke Steuerentlastungen gegeben, wie unter keiner konservativen Regierung. Volksparteien als Endmoränen des 20. Jahrhunderts Außerdem sei es problematisch, dass "ehrenwerte Zivilgesellschaftsorganisationen" reine "Mittelstandsveranstaltungen" seien. Die kognitiven Anforderungen für politische Partizipation sorgten für ein Wegfallen der unteren Milieus. Es werde sozial selektiert. Merkels Bezeichnung der Volksparteien als "Endmoränen des 20. Jahrhunderts" passe nicht so recht mit der Mobilisierung der Wählerschaft für die Volksparteien im Kontext des "aufkeimenden Rechtspopulismus" zusammen, hakte Krüger nach. In gewissem Sinne meine Mouffe auch das, antwortete Merkel. Die Repolitisierung vollziehe sich nicht nur zu Gunsten der Populisten. Jedoch führe das Erstarken der Rechtspopulisten dazu, dass sich ein "Kartell aller demokratischer Parteien" bilde, um die rechtspopulistische Attacke abzuwehren. Dies sei eine Aufwertung die oftmals Bedeutung und Größe dieser Parteien überschätze. Kann es starke Solidarität in einer heterogenen Gesellschaft geben? Kann ein hybrides Modell Abhilfe schaffen bzw. kann eine Besinnung auf kleinere Teile der Gesellschaft das Problem lösen? Die Tendenz, zurück zu den ganz kleinen Einheiten zu gehen, hält Merkel für romantisch. Es sei schwierig eine primäre politische Organisation 'im Kleinen' zu gewährleisten. Es liege an der Zivilgesellschaft Brückenkapital zu akkumulieren und der Segmentierung der Gesellschaft entgegen zu wirken. So gelte es etwa Schulen in so genannten "Problem-Kiezen" stark über zu finanzieren, was jedoch den Machtverhältnissen der Gesellschaft widerspräche. von Simon Clemens
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2017-07-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/252728/diskussion-krueger-und-merkel/
Im Anschluss an seinen Vortrag diskutierte Wolfgang Merkel mit Thomas Krüger etwa über die Unterschiede von Links- und Rechtspopulismus, die Volksparteien, die Repolitisierung und vieles mehr.
[ "Rechts- und Linkspopulismus", "kulturelle Bildung" ]
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Im Praxistest: fluter: Handel (Heft Nr.50) | bpb.de
Konzeption des Materials Das Heft ist in zwanzig Artikeln auf 49 Seiten vor allem als Hintergrundmaterial für die Lehrkraft oder auch als Informationsmaterial in der Sekundarstufe II für Schülerinnen und Schüler geeignet. Es ist anhand von aktuellen Themen schülerorientiert aufbereitet. Ergänzend sind die Artikel ansprechend illustriert und mit kleinen Informationstexten, Fakten und Zahlen unterfüttert, die die Problemorientierung zuspitzen. Reißerische Titel und Thesen motivieren die Schülerinnen und Schüler sich mit dem Artikel auseinanderzusetzen. Die Themen aus dem internationalen, vielfältigen Markt sind in drei große Leitfragen bzw. Kapitel unterteilt: 1. Was wir handeln, 2. Wie wir handeln" und 3. Was Handel mit uns macht. Dabei stehen abgesehen von den drei Oberkapiteln die Artikel für sich und thematisieren Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung, Handelskonzepte und Fragen der Verantwortung und Gerechtigkeit auf den Weltmärten (in Berlin, Brasilien, Russland, Ägypten usw.). Einsatzmöglichkeiten im Unterricht und Anregungen Angesichts der Komplexität und Bandbreite, die das Thema Globalisierung und Handel eröffnet, ist es sinnvoll exemplarisch anhand von Waren, Märkten und Ländern verbunden mit konkreten Schicksalen und der Problemhaftigkeit bzw. einhergehenden Kontroversen vorzugehen. Das Heft lässt sich dabei inhaltlich in den Oberstufenunterricht des vierten Qualifikationssemesters in Politikwissenschaft einordnen, aber auch reduziert und eingeordnet in der Sekundarstufe I einsetzen. Das Heft kann sehr situativ eingesetzt werden. Entweder als Hintergrundmaterial für die Schülerinnen und Schüler als Ganzes, auf das im Laufe der Reihe in Auszügen zurückgegriffen werden kann oder um Unterrichtsanregungen für die Lehrkraft zu sammeln. Ein ausgewählter Fall (z.B. "Let’s meat") eignet sich insbesondere, um daran die wesentlichen Akteure, globalen Zusammenhänge und Mechanismen exemplarisch zu erarbeiten, diskutieren und politisch zu beurteilen. Die meisten Artikel sind als eindeutig positionierte problematisierende Stellungnahme verfasst und müssen daher mit Gegendarstellungen im Unterricht ergänzt werden, um eine differenzierte Urteilsbildung zu gewährleisten. Die eingeschobenen Informationen mit Zahlen und Fakten zu den Artikeln können im Einstieg bspw. über die vier Ecken-Methode einen ersten aktivierenden Impuls in die Thematik bzw. in die Fallanalyse geben: z.B. "Wie viel Kilogramm aß [rein rechnerisch] jeder Bundesbürger im Jahr 2012?"; "Unter Darknet versteht man …" (mit jeweils vier vorgegebenen Antwortmöglichkeiten). Diese Methode ist aktivierend, weckt Neugier bei unerwarteten Antworten und stellt unmittelbar den Bezug zur eigenen Person und Lebenswelt her. Zudem können Schülerinnen und Schüler für den Verlauf der Reihe Vermutungen über die Hintergründe, bzw. Begründungszusammenhänge der Antworten formulieren und im Laufe der Unterrichtssequenz abgleichen. Die Artikel erfordern je nach Lerngruppe die Aufbereitung für den sprachsensiblen Unterricht, indem z.B. ein Glossar mit den verwendeten politikwissenschaftlichen Fachkonzepten ergänzt wird. Für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler ist die Didaktisierung der Texte, sowohl durch Kürzen als auch Vereinfachen der Artikel sinnvoll. Zuletzt ermöglicht der inhaltliche Bogen, der im Heft zum fairen Handel ("Und das soll gerecht sein?") und den Konsequenzen für den Verbraucher geschlagen werden, einen ähnlichen Abschluss in einer Unterrichtsreihe zu Globalisierung und wirtschaftlichen Verflechtungen, die am Ende beim Verbraucher ankommen aber auch vom Verbraucher abhängig sind. Hier bietet sich eine Diskussion an zur handlungsorientierten Frage, nach welchen Kriterien ein "faires Gütesiegel" vergeben werden sollte und wie dies auf einem liberalisierten Markt zu bewerkstelligen ist.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-07-28T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/rezensionen/231755/im-praxistest-fluter-handel-heft-nr-50/
Organe, Aktien, TTIP, Darknet – der globalisierte Weltmarkt kennt mittlerweile keine Ausnahmen. Alles kann zur Ware werden und virtuell oder in Echtzeit Grenzen passieren. Aber wie steht es um die sozialen, arbeitsmarkt- und umweltpolitischen Standar
[ "fluter", "Handel", "Rezension" ]
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Die Angst vor Verarmung lastet auf den französischen Wahlen | Frankreich | bpb.de
Die Frage der Armutsbekämpfung ist über das Thema des bedingungslosen Grundeinkommens in den französischen Wahlkampf geplatzt. Letzteres fand in Frankreich ein breites Medienecho. Die verschiedenen Präsidentschaftskandidaten haben das Thema ausgiebig kommentiert. Beides zeigt, wie sehr die Angst vor Armut das Land beschäftigt. Seit der Finanzkrise ist die Frage der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung, ebenso wie die Armutsfrage, in Frankreich wie in allen entwickelten Ländern wieder ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Über die traditionellen Parteigrenzen hinweg herrscht Beunruhigung. Die befürworteten Lösungsansätze variieren abhängig von den politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen der Einzelnen. So neigen beispielsweise die französischen Sozialdemokraten dazu, stärker für Sozialtransfers bei Beibehaltung des aktuellen ökonomischen Status quo einzutreten. Die klassischen Liberalen dagegen konzentrieren sich eher auf eine Vereinfachung des Arbeitsrechts, um Beschäftigungsanreize zu schaffen. Ungeachtet dieser üblichen Spaltung lässt sich mit gewissem Erstaunen beobachten, dass einige Liberale und der linke Flügel des Parti socialiste um Benoît Hamon in der Frage des bedingungslosen Grundeinkommen ungewollt übereinstimmen. Offene Fragen Von einem intellektuellen Standpunkt aus betrachtet, kann man die derzeitigen Debatten schwerlich als neu bezeichnen. Tatsächlich wurden sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im englischsprachigen Raum von so unterschiedlichen Autoren wie Oscar Wilde, Bertrand Russell oder Milton Friedman offen ausgetragen. Was die Liberalen betrifft, so spiegelt sich in den heutigen Debatten ein gewisses Bewusstsein dafür, dass die globalisierte Wirtschaftsordnung und die Automatisierung unweigerlich Verlierer schaffen. Die Anhänger dieser Sichtweise sowohl in Frankreich als auch in den USA stellen das bedingungslose Grundeinkommen deshalb als Mittel dar, welches es ermöglicht, das System zu erhalten. Und zwar, indem man das Aufbegehren derer begrenzt, die von Globalisierung und technischem Fortschritt abgehängt zu werden drohen. Der Flügel der französischen Linken hingegen, der sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt, betont seinerseits die Notwendigkeit, den Bürger*innen in einer Welt des durch den globalen Wettbewerb verschärften ökonomischen Drucks eine gewisse Freiheit in ihren Lebensentscheidungen zu lassen. Ganz abgesehen von der eigentlichen Finanzierungsfrage (die geschätzten Kosten belaufen sich auf etwa 380 Milliarden Euro pro Jahr), scheint diese Strömung jedoch die gesamte Tragweite einer solchen Maßnahme innerhalb eines durch eine hohe Steuerbelastung ohnehin bereits angespannten Umfelds nicht zu erfassen. Die Idee eines so radikalen gesellschaftlichen Wandels, wie ihn das bedingungslose Grundeinkommen induzieren würde, beruht in der Regel auf der Annahme erheblicher Produktivitätszuwächse. Diese erhofft man sich von der „Vierten Industriellen Revolution“ (Robotisierung, 3D-Druck, künstliche Intelligenz). Trotz eines willkommenen Effekts der Rückverlagerung von Produktionsstätten aus dem Ausland würden diese aber auch die gegenwärtige Tendenz des sozialen Abstiegs eines Teils der Arbeiterschaft verstärken. Zu einem Zeitpunkt, da Frankreich einen beträchtlichen technologischen Rückstand auf diesem Gebiet aufweist, vernachlässigt Benoît Hamons Vorschlag einer Robotersteuer – in der Absicht, die Robotisierung noch stärker zu bremsen – die Frage der Produktivität. Damit läuft er im Grunde dem Vorschlag des bedingungslosen Grundeinkommens zuwider. Ein Blick in die Programme Die Präsidentschaftskandidaten, die sich gegen das bedingungslose Grundeinkommen aussprechen, haben sich dennoch zur Lösung der Armutsfrage geäußert. Die Debatte verläuft dabei eher entlang der traditionellen politischen Trennlinien. Aufseiten der Linksextremen stellt Jean-Luc Mélenchon die Erhöhung der Sozialausgaben und die Verteidigung sozialer Rechte, vor allem für die besonders von Armut betroffenen Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, ins Zentrum seines Vorhabens. Bei den Rechtsextremen dreht sich Marine Le Pens populistisches Wirtschaftsprogramm um die drohende Abwertung eines möglichen „Neuen Franc“ und einen Protektionismus, dessen Modalitäten (Größenordnung, anvisierte Märkte und Länder) jedoch nicht näher benannt werden. Die Républicains konzentrieren sich auf ein konventionelleres Wirtschaftskonzept. Sie gehen davon aus, dass die Armut durch eine allgemeine Rückkehr zum ökonomischen Wachstum zu bekämpfen sei. Mehr Wachstum erhoffen sie sich von einer Verringerung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft und einer Senkung der Unternehmensbesteuerung. Emmanuel Macron folgt, trotz des Aufbaus einer neuen Mitgliedsstruktur bei En Marche, dem Ansatz des derzeitigen Establishments der französischen Sozialisten. Er behandelt die Armutsfrage vor allem im Zusammenhang mit dem Arbeitsrecht und den staatlichen Maßnahmen für Arbeitslose. Seine Vorschläge zielen in Richtung einer stufenweisen, gezielten Liberalisierung – allerdings unter Beibehaltung einer vielschichtigen Regulierung, mit der Absicht, den Druck auf die Arbeitslosen zu erhöhen. Die Massenarbeitslosigkeit wird in diesem Konzept als ein Problem des „Fine-Tunings“ der Entschädigungsregelungen betrachtet.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-03T00:00:00
2017-03-31T00:00:00
2021-12-03T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/245732/die-angst-vor-verarmung-lastet-auf-den-franzoesischen-wahlen/
Die Armutsbekämpfung ist ein zentrales Thema des Wahlkampfes. Aktuell wird die Debatte insbesondere von der Frage nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bestimmt. Wie positionieren sich die Parteien und Präsidentschaftskandidaten i
[ "Armut", "Frankreich", "Französischer Wahlkampf", "bedingungsloses Grundeinkommen", "Armutsbekämpfung", "Benoit Hamon", "Emmanuel Macron", "Frankreich" ]
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Wer soll OER finanzieren? | OER - Material für alle | bpb.de
Der Begriff OER wird oft mit “freie Bildungsmaterialien” übersetzt. “Frei” bedeutet dabei allerdings nicht “kostenfrei”, sondern “zur freien Nutzung bestimmt” und damit “frei von Lizenzgebühren”, wie u.a. der auf Urheberrecht und OER spezialisierte Rechtswissenschaftler Till Kreutzer Externer Link: in dieser Studie darlegt. Unstrittig ist zugleich, dass bei der Erstellung, Verbreitung, Qualitätssicherung und Qualifizierung zur Nutzung von OER Kosten entstehen. Wie aber lassen sich freie Bildungsmaterialien vor diesem Hintergrund am besten finanzieren? Auf diese Frage gibt es in der bildungspolitischen Diskussion und auch in OER-Praxisprojekten noch keine abschließenden Antworten. Zwei Optionen Umfassend und auf Basis früherer Studien zu OER wurden Wege zur Finanzierung freier Bildungsmaterialien insbesondere im Externer Link: Abschlussdokument des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts “Mapping OER” analysiert. Möglich wäre demnach erstens die Entwicklung neuer Finanzierungsmodelle. Hierbei könne man von Geschäftsmodellen in anderen Bereichen – etwa der Finanzierung von Open Source Software – lernen oder auch auf private Spenden bzw. ehrenamtliche Initiativen setzen. Als zweite Option wird der Weg skizziert, die öffentliche Lehr- und Lernmittelfinanzierung, mit der insbesondere der Kauf von Schulbüchern staatlich bezuschusst oder sogar vollständig finanziert wird, auch für OER zu öffnen. Für den ersten Weg sprechen vor allem die größere Flexibilität und Offenheit. Der zweite Weg würde dagegen eine verlässliche und nachhaltige Finanzierung garantieren. Insbesondere für den Bereich der Schule, in der die öffentliche Finanzierung von Lehr- und Lernmitteln eine zentrale Rolle spielt, wäre solch eine verlässliche und nachhaltige Perspektive von großer Bedeutung. Neue Finanzierungsmodelle in der Praxis In Deutschland wird in der Praxis mit OER bislang vor allem der erste Weg beschritten. Ein Beispiel hierfür ist die überwiegend ehrenamtlich arbeitende Externer Link: Initiative der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet. Hier stellen Lehrkräfte ihren Kolleginnen und Kollegen Materialien, die sie selbst entwickelt haben, auf ehrenamtlicher Basis und im Rahmen einer Kultur des Teilens kostenfrei zur Verfügung. Startup-Gründungen wie der Online-Arbeitsblatt-Editor Externer Link: “Tutory” setzen dagegen auf ein Freemium-Modell, bei dem nur die Basisversion kostenfrei genutzt werden kann. Wer mehr Möglichkeiten für Anpassungen der mit OER-Inhalten erstellten Arbeitsblätter haben möchte, muss ein kostenpflichtiges Abo-Modell abschließen. Des Weiteren gibt es Ansätze, die Entwicklung von OER durch Crowdfunding zu finanzieren. Auf diese Weise entstand im Rahmen des Projekts Externer Link: Schulbuch-O-Mat beispielsweise ein Biologie-Schulbuch, das unter einer freien Lizenz steht. Speziell in der Weiterbildung werden OER als ein mögliches Marketing-Instrument für freiberuflich arbeitende Lehrkräfte eingeordnet. Mit diesem Argument wirbt zum Beispiel das BMBF-geförderte Projekt Externer Link: “OER-MuMiW”, ein Projekt für “OER-Macher und Multiplikatoren in der Weiterbildung”. Eine wesentliche Erkenntnis des Projekts "Mapping OER" war zudem, dass sich Geschäftsmodelle zu OER durchaus auch abseits einer Vergütung der Erstellung von OER entwickeln lassen können. Denkbar wäre in diesem Sinne beispielsweise eine gezielte Zusammenstellung im Sinne einer Kuratierung von Materialien zu einem bestimmten Themengebiet oder auch – wie beim oben erwähnten Arbeitsblatt-Editor Tutory – eine Unterstützung bei der Erstellung von OER. Ein weiterer möglicher Service rund um OER wäre das Angebot einer Qualitätsüberprüfung. Öffentliche Finanzierung von OER Neben der Erschließung privater Finanzierungsquellen oder ehrenamtlicher Initiative können OER-Projekte zum Teil auch auf öffentliche Mittel zurückgreifen. So werden mit der Externer Link: Förderrichtlinie zu OER des BMBF seit Anfang 2017 sowohl eine bundesweite Informationsstelle zu OER aufgebaut als auch mehrere Qualifizierungsprojekte finanziert. Weitere Initiativen gibt es auf Ebene der Länder. Beispielsweise können sich Lehrkräfte in Baden-Württemberg zum Teil von Unterrichtsverpflichtungen befreien lassen, um in dieser Zeit OER zu entwickeln. Zur Verfügung stehen in diesem Fall – über die einzelne Schule beantragt und organisiert – so genannte Deputatsstunden, d.h. Ermäßigungen bei der Unterrichtszeit, die traditionell beispielsweise für die Betreuung der Schulbibliothek oder ähnliche schulspezifische Zusatzaufgaben zur Verfügung standen. Ähnliche Überlegungen gibt es im Rahmen der entstehenden Plattform für OER in Berlin. Einen grundsätzlichen Zugang zur öffentlichen Lehr- und Lernmittelfinanzierung gibt es für OER in Deutschland aktuell aber nicht. Um zu sehen, wie der skizzierte zweite Weg funktionieren könnte, muss deshalb ein Blick in andere Länder geworfen werden. So wurde in Norwegen beispielsweise mit öffentlichen Mitteln die Externer Link: Norwegian Digital Learning Arena (NDLA) aufgebaut – eine OER-Website mit Lehr- und Lernmitteln für den schulischen Oberstufenbereich. Zur Finanzierung des Angebots geben alle norwegischen Gebietskörperperschaften (Counties) mit Ausnahme von Oslo aktuell 20 Prozent ihres Lehr- und Lernmittel-Etats an die Plattform. Die norwegischen Schulbuchverlage hatten gegen den Aufbau und die staatliche Finanzierung ohne Erfolg geklagt. Einen ähnlichen Weg schlug Polen ein: Hier stellte die Regierung im Jahr 2012 fast 11 Millionen Euro für die Entwicklung offen lizenzierter Schulbücher für die Klassenstufen vier bis sechs zur Verfügung. Die polnischen Schulbuchverlage beteiligten sich nicht an der Ausschreibung. Externer Link: Befürchtet und beklagt werden von ihnen Qualitätseinbußen, Intransparenz bei Ausschreibungen und fehlende nachhaltige Finanzierungsmodelle. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass – wenn in Deutschland über die Öffnung der staatlichen Bildungsfinanzierung für OER diskutiert wird – häufig die Bedrohung des Geschäftsmodells der Schulbuchverlage als Folge genannt wird. Ob Deutschland dem Beispiel Norwegens oder Polens folgt oder ein eigenes Finanzierungsmodell entwickelt, ist aktuell noch nicht abzusehen. Zwei zentrale Vorhaben zur nachhaltigen Verankerung und Bereitstellung (auch) von OER sind in diesem Zusammenhang die Informationsstelle OER und die Schul-Cloud, die in diesem Sinne auch im Externer Link: Digitalpakt D Erwähnung finden. Sicher ist, dass der Erfolg und die weitere Verbreitung von OER maßgeblich davon abhängen, ob bedarfsdeckende und nachhaltige Finanzierungswege gefunden werden. Denn wie für alle Bildungsangebote gilt auch für OER: Gute Bildung kostet Geld. Link-Tipps zum Weiterlesen: Externer Link: Praxisrahmen Open Educational Resources in Deutschland: In dem Abschlussdokument zum BMBF-geförderten Projekt "Mapping OER" wurden "Finanzierungs- und Geschäftsmodelle" als einer von vier Schwerpunkten behandelt. Externer Link: Website der Norwegian Digital Learning Arena (NDLA): Die NDLA ist ein Beispiel für die öffentliche Finanzierung von OER. Kommerzialisierung von OER und Datenschutz: Unter dem Titel Externer Link: "Entmündigung als Bildungsziel" reflektiert Thomas Thiel in der FAZ vom 14. Juli 2016 die Vermarktung von Daten der Nutzenden von MOOCs (Massive Open Online Courses) als eine Form der Kommerzialisierung von OER. OER als Treibstoff für Geschäftsmodelle: Externer Link: Debattenbeitrag von Stefan Probst im Rahmen des Projekts "Mapping OER" zu Finanzierungsoptionen von freien Bildungsmaterialien. Externer Link: Praxisrahmen Open Educational Resources in Deutschland: In dem Abschlussdokument zum BMBF-geförderten Projekt "Mapping OER" wurden "Finanzierungs- und Geschäftsmodelle" als einer von vier Schwerpunkten behandelt. Externer Link: Website der Norwegian Digital Learning Arena (NDLA): Die NDLA ist ein Beispiel für die öffentliche Finanzierung von OER. Kommerzialisierung von OER und Datenschutz: Unter dem Titel Externer Link: "Entmündigung als Bildungsziel" reflektiert Thomas Thiel in der FAZ vom 14. Juli 2016 die Vermarktung von Daten der Nutzenden von MOOCs (Massive Open Online Courses) als eine Form der Kommerzialisierung von OER. OER als Treibstoff für Geschäftsmodelle: Externer Link: Debattenbeitrag von Stefan Probst im Rahmen des Projekts "Mapping OER" zu Finanzierungsoptionen von freien Bildungsmaterialien.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-02-09T00:00:00
2017-11-02T00:00:00
2022-02-09T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/oer-material-fuer-alle/248200/wer-soll-oer-finanzieren/
Freie Bildungsmaterialien (OER) sind nicht kostenfrei. Ihre Entwicklung und Verbreitung sind mit Kosten verbunden. Wie und von wem dies finanziert werden soll, ist Teil der Debatten um OER. Wir geben einen Überblick über Finanzierungswege und -modell
[ "OER", "Finanzierung", "Debatten & Positionen" ]
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Themenraum: Frankfurter Buchmesse 2014 | Presse | bpb.de
Eine Vielzahl an Neuerscheinungen zur Frankfurter Buchmesse ist ab dem 16. September 2014 in der Amerika-Gedenkbibliothek zu sehen, zu lesen und auszuleihen. Der Themenraum Frankfurter Buchmesse 2014 bündelt Romane, Sachbücher und Hörbücher diverser Verlage sowie Neuerscheinungen der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Auch die für den Deutschen Buchpreis und den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten Titel werden präsentiert. Hinzu kommen relevante Neuerscheinungen aus Finnland, dem diesjährigen Ehrengast der Buchmesse. Vom 16. September bis 23. Oktober 2014 ist der Themenraum montags bis samstags geöffnet. Aktuelle politisch, gesellschaftlich und kulturell relevante Debatten und Themen stehen im Zentrum des Themenraums in der Amerika-Gedenkbibliothek der ZLB, organisiert von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und der Bundeszentrale für politische Bildung. Jedes Thema ist rund sechs Wochen präsent. Der Themenraum ist ein Informationsangebot, das zu einem Thema in einem Raum unterschiedliche Medien bündelt, begleitet durch weitere digitale Angebote sowie eine jüngst preisgekrönte App der Bibliothek. Bis auf einige Präsenzexemplare sind alle Medien ausleihbar. Auch eine ausführliche Bibliografie zum Mitnehmen erscheint zu jedem Themenraum. Ergänzt wird das Informationsangebot durch Veranstaltungen: Auf einen Blick: Themenraum: Frankfurter Buchmesse Ort: Amerika-Gedenkbibliothek der ZLB, Blücherplatz 1, 10961 Berlin Zeit: 16.09.- 23.10.2014 / Öffnungszeiten: Mo-Fr 10.00-21.00 Uhr, Sa 10.00-19.00 Uhr Eintritt frei Führungen zum Themenraum 24.09.2014 und 08.10.2014 jeweils um 16.00 Uhr Themenzeit: "Was erzählen Computerspiele?" Ort: Amerika-Gedenkbibliothek, Salon, Blücherplatz 1, 10961 Berlin Zeit: 18.09.2014, 16.00 Uhr mit Prof. Dr. Franz-Josef Röll, Hochschule Darmstadt Themenzeit: "Der gläserne Übersetzer" - eine Installation mit Literaturübersetzern. Ort: Amerika-Gedenkbibliothek, Salon, Blücherplatz 1, 10961 Berlin Zeit: 30.09.2014, 16.00 und 18.00 Uhr Partner dieses Themenraums sind die Frankfurter Buchmesse, das 14. internationale literaturfestival berlin und die Weltlesebühne. Mehr zum Themenraum unter Externer Link: www.zlb.de/themenraum und Interner Link: www.bpb.de/themenzeit Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-09-15T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/191585/themenraum-frankfurter-buchmesse-2014/
Eine Vielzahl an Neuerscheinungen zur Frankfurter Buchmesse ist ab dem 16. September 2014 in der Amerika-Gedenkbibliothek zu sehen, zu lesen und auszuleihen. Der Themenraum Frankfurter Buchmesse 2014 bündelt Romane, Sachbücher und Hörbücher diverser
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