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"Ratko Mladić ist ein Held"
Ratko Mladic 2012 in Den Haag vor dem Sondertribunal (picture-alliance / dpa / Martin Meissner) Altbau, hohe Decken, Stuck an den Wänden. Stefan Stamenkowski führt durch die Gänge des großen Gebäudes. "Das ist unser kleines Büro. Und das hier unser Wappen. In der Mitte das Wappentier der Nemanjić Dynastie, zur jener Zeit war Serbien am stärksten, Rechts das ist Miloš Obilić, ein serbischer Held, der bei der großen Schlacht auf dem Amselfeld den türkischen Sultan umbringt." Dafür, dass der Raum gerade Mal 20 Quadratmeter misst, passt ziemlich viel Geschichte rein. Stamenkovski ist der Vorsitzende der politischen Gruppierung "Zavetnici". Zavet wie Eid. Gemeint ist der Eid auf ein souveränes Serbien, ein Serbien in seinen natürlichen Grenzen, wie Stamenkovski sagt. Damit meint er auch das Kosovo. "Mladić war nur der Sündenbock" Stamenkovski erklärt jedes noch so kleine Detail auf einem vergilbten Bild. Doch die Geschichte vergilbt nicht, vor allem der stolze Teil der Geschichte nicht: das Mittelalter, die Balkankriege Anfang des 20. Jahrhunderts und die Rolle Serbiens als Beschützer der europäischen Kultur, der erste und zweite Weltkrieg, der Widerstand gegen Nazi-Deutschland - über diese Lesart herrscht überwiegend Konsens. Und Serben wie Stamenkovski nutzen diese historischen Bezüge, um die Verbrechen der jüngsten Vergangenheit zu rechtfertigen. Taten, die bis heute die Gesellschaft spalten. Genau wie Ratko Mladić. "Leider wird Mladić in Teilen der serbischen Gesellschaft wie auch weltweit als Kriegsverbrecher dargestellt. Ratko Mladić war der Sündenbock, um Druck auf Serbien auszuüben und die Souveränität und Stärke Serbiens zu brechen. Aber General Ratko Mladić ist für einen Großteil der serbischen Bevölkerung ein Held". Eine verbreitete Sichtweise in Serbien. Die die eigene Unschuld und die Schuld der anderen beim Ausbruch der Jugoslawien-Kriege betont. Aber es gibt auch eine andere Sichtweise. "Diese Generation weiß ganz genau, was damals passiert ist. Wenn wir über Vergangenheitsbewältigung sprechen, denke ich, dass wir große Probleme haben. Serbien verweigert sich der Aufarbeitung, weil das eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe ist. Für die Mehrheit ist es einfacher, sich diesem Prozess zu verweigern und nicht am Diskurs teilzunehmen." ...sagt Sonja Biserko vom Helsinki Komitee. "Man muss eine ganz neue Generation aufbauen" Mit "Vergangenheitsbewältigung" aber verbinden beide etwas vollkommen anderes. Für Sonja Biserko geht es darum, sich mit der Rolle Serbiens in den Jugoslawien-Kriegen auseinanderzusetzen, Stamenkovski geht es um etwas ganz anderes: "In Serbien kann man nur Vergangenheitsbewältigung betreiben, indem man die Ungerechtigkeit gegenüber den Serben korrigiert. Es gibt Menschen, die glauben, die Serben hätten etwas Schlimmes gemacht. Wenn man aber vom Mittelalter bis zum Aufstand gegen die Osmanen blickt, muss man erkennen, dass die Serben das größte Opfer sind. Uns wurde Unrecht angetan." Der Kampf um die Deutung der eigenen Geschichte hat die serbische Gesellschaft bislang an einer gemeinsamen Aufarbeitung gehindert. Das Urteil gegen Ratko Mladić könnte diese Differenzen noch verstärken. Egal wie es ausfällt. Sonja Biserko sieht Serbien auch nach dem Ende des Haager Tribunals noch am Anfang: "Man muss eine ganz neue Generation aufbauen. Es geht um nicht weniger als darum, ein neues Wertesystem zu etablieren. Verbrechen nicht rechtfertigen zu dürfen, das ist der Schlüssel zur Genesung der serbischen Gesellschaft."
Von Rayna Breuer
Es ist das letzte und eines der wichtigsten Urteile des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien: Das Urteil gegen den ehemaligen Generalstabschef der bosnischen Serbenarmee Ratko Mladić. Egal wie es ausfällt: Die serbische Gesellschaft ist noch nicht bereit, die Sache zu den Akten zu legen.
"2017-11-22T09:10:00+01:00"
"2020-01-28T11:01:58.854000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/serbien-ratko-mladic-ist-ein-held-100.html
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Ideen gegen Mikroplastik im Meer
Kleine Teilchen, große Gefahr: Mikroplastik (picture alliance / dpa / Inga Kjer) Sie sind klein und sie sind überall. Lange Zeit haben Forscher die winzigen Teilchen aus Plastik übersehen. Inzwischen aber verschmutzen sie sämtliche Weltmeere, bedrohen dort die Meeresorganismen und letztlich am Ende der Nahrungskette auch den Menschen. Pessimistischen Schätzungen zufolge werden jährlich 2,5 Millionen Tonnen Mikroplastik direkt in die Meere eingetragen, etwa aus Autoreifenabrieb und Textilfasern. Dazu addiert sich der Plastiksmog, der entsteht, wenn größere Teile zerfallen. Im Meer werden die Partikel zu kleinen Welten, der Plastisphäre. Einige der Mikroorganismen, die sich auf dem Kunststoff ansiedeln, scheinen daran zu knabbern. Könnte es sein, dass die Plastikwelten sich quasi von selbst auflösen? Nur kurz flackerte die Hoffnung auf: Zu langsam geht der Abbau vonstatten, zu wenig effektiv. Nun suchen Forscher unter Hochdruck nach Lösungen, die winzigen Partikel aufzuhalten, bevor sie das Meer erreichen. Ein Feature über Strategien für ein gigantische Problem mit kleinsten Teilchen. Das ganze Jahr über kicken: Das geht in kühlen Ländern wie Schweden und Norwegen nur auf Kunstrasen. Um den Boden weicher zu machen, enthalten die meisten Gummigranulat. Und das stammt aus alten Autoreifen. Regen wäscht die Partikel aus. Wenn es schneit, vermischt sich der Schnee mit dem Mikroplastik. Der wird abgeräumt und letztlich ins Meer gekippt. "Wir haben hier in Schweden ein Problem mit Kunstrasen. Zwei- bis dreitausend Tonnen Gummigranulat von Sportplätzen landen jährlich in der Natur." Damit trägt Kunstrasen im Norden erheblich zum Mikroplastik in den Gewässern bei, sagt Per-Olov Samuelsson, Umweltgutachter im schwedischen Stenungsund. "Diese Gummipartikel enthalten Giftstoffe. Forscher haben sie schon in Muscheln und anderen Meerestieren entdeckt. Das Problem mit dem Mikroplastik ist wirklich ein heißes Eisen." Bis zu 2,5 Millionen Tonnen landen pro Jahr im Meer, schätzt die Weltnaturschutzunion IUCN. Dieses primäre Mikroplastik ist schon an Land kleiner als 5 Millimeter. Kunstfasern aus synthetischer Kleidung, der Abrieb von Autoreifen, Reste von Schuhsohlen, Fahrbahnmarkierungen, Peeling-Partikel aus Kosmetika. Aber auch die großen Plastikteile zerfallen irgendwann. UV-Strahlung macht den Kunststoff spröde. Wellen und Strömung zerreiben ihn in immer kleinere Stücke. "Diese Partikel können auch von kleineren Organismen aufgenommen werden. Und sie binden Gifte und transportieren sie über weite Strecken." Wie kann Plastik abgefangen werden? Während die Müllmenge im Meer immer weiter wächst, fahnden Erfinder, Ingenieure und Aktivisten nach Wegen, das Plastik abzufangen. An kreativen Vorschlägen fehlt es nicht. Nur welche davon taugen? An der Universität Göteborg führt Bethanie Carney Almroth in den Keller. In sechs Aquarien schwimmen hier kleine, blau-gelb gestreifte Fische. "Hier behandeln wir Zebrafische mit Chemikalien, die wie Hormone wirken. Weichmacher zum Beispiel. Diese Chemikalien heften sich gern an das Plastik. Wir mischen sie deshalb dem Futter bei und testen, wie die Tiere reagieren." "Die Frage ist, ob über das Plastik Gift in die Fische gelangt." Forscher untersuchen gerade, ob über Plastik Gift in Fische gelangt. Dafür wurden die Tiere unter anderem mit Gummigranulat gefüttert. ( Imago / Thomas Mueller ) "Das untersuchen wir gerade. Und es sieht so aus, als wäre das tatsächlich so." In einem ersten Versuch hat Almroths Kollege Stichlinge mit Gummigranulat gefüttert. Es stammt aus Kunstrasen von einem Göteborger Fußballplatz. Offenbar beeinträchtigt das Granulat die Nahrungsaufnahme der Tiere, was bisherige Studien mit Mikroplastik bestätigt. "Aus Laborversuchen wissen wir, dass zwar ein Teil des Plastiks wieder ausgeschieden wird. Doch die verbleibenden Partikel schädigen den Magen-Darm-Kanal. Unsere Kollegen haben festgestellt, dass Fische sich anders verhalten und sich der Fettgehalt im Körper verändert. Und eine Gruppe hat sogar beobachtet, dass die Gehirnfunktion der Fische beeinflusst wird, wenn sie Nanoplastik aus Polystyrol ausgesetzt werden. Das sind Teilchen, die noch viel kleiner sind als Mikroplastik. Die Fische ändern dann ihr Verhalten – sie schwimmen und jagen ihre Beute anders als vorher." Noch rätseln die Forscher, was schlimmer ist für die Meeresbewohner. Die Chemikalien, die sich an das Plastik heften? Oder die Giftstoffe im Kunststoff selbst? Flammschutzmittel zum Beispiel oder krebserregende PCBs. Doch es gibt nicht nur Verlierer. Während der Müll durch die Meere treibt, finden unzählige winzige Lebewesen auf dem Mikroplastik eine neue Heimat. Plastisphäre – die natürliche Lösung? Es sind ganz eigene Ökosysteme, die da entstehen – selbst auf kleinsten Fragmenten aus Plastik. Entdeckt hat sie die Mikrobiologin Linda Amaral-Zettler. Die US-Amerikanerin arbeitet am Königlich Niederländischen Institut für Meeresforschung. "Wir finden auf dem Plastik ganz andere Lebensformen als sonst im Meer. In der Wassersäule schwimmen normalerweise sehr kleine Einzeller, die Photosynthese betreiben. Die Mikroben auf dem Plastik aber sind fadenförmig und kommen normalerweise auf Oberflächen vor. Das ist ganz anders als das, was wir sonst im offenen Ozean finden." Linda Amaral-Zettler hat der neuen Welt einen eigenen Namen gegeben: Die Plastisphäre. Auf Wasserproben aus verschiedenen Regionen der Meere fand sie ganz unterschiedliche Lebensformen, darunter sogar potenzielle Krankheitserreger. Die Vielfalt überraschte auch ihren Mann und Kollegen Erik Zettler: "Der Kunststoff war vollständig bedeckt von Kieselalgen. Das sind photosynthetische Zellen mit wunderschön verzierten Schalen. Außerdem Bakterien in verschiedenen Formen und eine Art Schleim. Die Zellen geben ihn ab und er bildet einen Biofilm um die Partikel. Darin lebt eine sehr vielfältige Lebensgemeinschaft." Am Strand der unbewohnten Henderson-Insel im Südost-Pazifik: 38 Millionen Teile Müll wurden hier von Forschern gezählt - darunter vor allem Plastik. (dpa/picture alliance/ Jennifer Lavers) Den Zettlers fiel dabei eine ganz besondere Mikrobenart auf: Sie saß in winzigen Höhlen, die genau zu ihrer Form passten. Die kleinen Dellen im Plastik machten die Forscher stutzig. "Das war das erste Mal, dass wir Zellen entdeckten, die direkt mit dem Plastik zu interagieren schienen. Diese Höhlenbauer hatten die kleinen Ausbuchtungen in der Oberfläche des Plastiks offenbar selbst verursacht. Aber wie machen die das, haben wir uns gefragt? Ist das ein aktiver Prozess – tun sie das gezielt, um aus dem Plastik Energie zu gewinnen? Oder sind es vielleicht nur ihre Stoffwechselprodukte, die das Plastik zersetzen?" Auf Müllkippen und im Erdreich hatte man bereits Organismen entdeckt, die sich über Kunststoff hermachen. Nun sah es danach aus, als könnte es sie auch im Meer geben. Weltweites Interesse an Fund Der Fund von Linda Amaral-Zettler, ihrem Mann und dem Meereschemiker Tracy Mincer schaffte es weltweit in die Schlagzeilen. "Welcome to World Ocean Radio. Articles in the Economist and multiple press releases worldwide recently reported, quote, the discovery of a new ecological habitat in the oceans. A vast new human-made flotilla of microbial communities that they have dubbed the Plastisphere.” "US Forscher haben entdeckt, dass auf (den) kleinen Plastikstückchen Bakterien in einer Vielfalt siedeln, wie sie sonst nur selten im Meer zu finden sind." "Y hoy, de que hablamos? Vamos a hablar de la plasticosfera! Algo positivo es que se ha observado que algunos de estos microbios pueden degradar los plasticos.” Erik Zettler: "Einige Leute sagen, wenn die Mikroben den Plastikmüll für uns zersetzen, ist das doch gut. Die Sache hat aber mehrere Haken. Wenn die Mikroben das tatsächlich machen, dann sehr langsam und ganz sicher nicht schnell genug, um das Plastik im Meer loszuwerden. Außerdem haben viele der Plastikteile eine giftige Ladung im Gepäck. Die Frage ist dann, ist es besser für das Ökosystem, wenn die Bakterien diese Giftladung aufbrechen und wieder ins Ökosystem abgeben? Da fehlt mir die Antwort.” Im Nordatlantik wurden aus dem Oberflächenwasser immer wieder Proben genommen und die Plastikfracht dokumentiert. Über zwei Jahrzehnte zeigte sich kein Anstieg. Wird das Plastik vielleicht biologisch abgebaut? Es gibt andere mögliche Erklärungen. Vielleicht fressen sich einige Tiere den Magen voll und das Plastik verschwindet aus dem Blick der Forscher. Oder die Teilchen werden so zerkleinert, dass sie den Netzen der Forscher entwischen. Vielleicht sinken sie auch in die Tiefsee ab. Filter für Gullies und Klärwerke Daniel Venghaus: "In Deutschland geht man davon aus, dass ungefähr 111.000 Tonnen Reifenabrieb auf den Straßen verbleiben und vermutlich mit dem Regenwasser in die Kanalisation gespült werden." Forscher gehen davon aus, dass in Deutschland ungefähr 111.000 Tonnen Reifenabrieb auf den Straßen verbleiben und am Ende vermutlich in die Kanalisation gelangen. (dpa / picture-alliance / Arno Burgi) Daniel Venghaus ist einer wichtigen, aber noch relativ unbekannten Form des Mikroplastiks auf der Spur: Wenn Autofahrer auf die Tube drücken, steigt der Druck auf ihre Reifen. Der Abrieb aus synthetischem Kautschuk legt sich als feiner Staub auf die Straßen. An der TU Berlin sucht Venghaus nach Abhilfe. Zusammen mit Bastian Batilla testet er für ein Unternehmen ein spezielles Filtersystem. "Dabei handelt es sich um eine Filterkartusche, also einen zylinderförmigen Filter, der außen mit einem Edelstahlsieb versehen ist und dann ein mineralisches Filtermaterial enthält, mit dem auch speziell halt auch unsere Mikroplastikpartikel zurückgehalten werden sollen." Die Filterkatusche lässt sich einfach unter den Gully hängen. In der großen Versuchshalle entwickeln Batilla und Venghaus auch ein komplettes Schachtsystem, mit einem Granulat aus porösem Mineralgestein. "Die ersten Vorversuche mit den beiden Filtersystemen waren sehr vielversprechend. Gerade grobe Partikel wurden sehr gut zurückgehalten. Jetzt die feineren Partikel, die Tests dazu laufen gerade, aber auch hier lässt sich vermuten, dass wir einen nennenswerten Rückhalt bekommen werden." 95 Prozent des Mikroplastiks von der Straße konnten die Forscher mit ihrem System nach eigenen Angaben einfangen. "In den Außenbezirken Berlins wird das Regenwasser über das sogenannte Trennsystem entwässert. Und hier erfährt ein Großteil des Regenwassers keinerlei Behandlung. Wir können in Berlin ungefähr von 35 Millionen Kubikmeter pro Jahr ausgehen." Die Menge an Abrieb, den Autoreifen auf der Straße lassen, ist enorm. Etwa ein Drittel aller primären Mikropartikel stammt aus dieser Quelle, schätzt die Weltnaturschutzunion IUCN. Auch die Reste von Fahrbahn-Markierungen gehören dazu. Filter für Gullis und Klärwerke, wie Forscher von der TU Berlin sie gerade testen, könnten das Problem eindämmen. Ganz lösen werden sie es nicht. Ein Teil entwischt, ein anderer wandert auf anderem Weg in die Flüsse und ins Meer – nämlich über die Luft Faserbeutel für Waschmaschine "Ich hab einfach bei mir in der Dusche den Abwasserschlauch der Waschmaschine abgemacht vom Abfluss und dann das rauslaufende Wasser durchgefiltert und dann geguckt, was bleibt da liegen. Und da braucht’ ich kein Mikroskop, um das zu sehen. Da ist schon relativ viel!" Oliver Spies ist Mitinhaber eines Ladens für Surferbedarf. Zur Ausrüstung, die man bei ihm kaufen kann, gehören auch viele Sachen aus Synthetik. Doch das bringt den Surfer in die Zwickmühle. Bei jeder Wäsche entweichen tausende kleinster Kunstfasern und landen in der Kanalisation. Auch Spies’ Geschäftspartner Alexander Nolte will sich nicht damit abfinden. Unsere Ausgangsthese war im Prinzip, wir dürfen keinen Fleece-Pulli mehr verkaufen, ohne irgendeine Lösung dafür zu haben. Im Klärwerk hält der Schlamm zwar einiges zurück. Trotzdem finden Meeresforscher die winzigen Fasern an den abwegigsten Stellen: Im Sediment der Tiefsee, in den Mägen von Fischen, in Muscheln. Das Mikroplastik landet also auch auf dem menschlichen Speiseteller. Als Oliver Spies und Alexander Nolte davon hören, setzen sich die beiden Naturfreunde im Biergarten zusammen und entwickeln eine Idee: Ein Waschbeutel als Fasernfänger für die Waschmaschine. "Es ist nicht ganz so einfach, so’n Gewebe zu entwickeln, weil auf der einen Seite muss Lauge und Wasser eben an die Textilien rankommen, weil nach wie vor ist die primäre Idee, dass das sauber wird, und auf der anderen Seite dürfen diese kleinen abbrechenden Mikrofasern, diese Mikroöffnungen eben nicht verstopfen." Nach anderthalb Jahren Entwicklung ist der Beutel endlich fertig. Ein weißes, transparentes Netz aus einem Kunststoff, der sonst in der Medizin eingesetzt wird, knapp 30 Euro pro Stück. Wer seine Textilien hinein packt, fängt die meisten Mikrofasern schon zu Hause ein. Alexander Nolte: "Die meisten Leute sind überrascht, dass sie durch das Waschen ihrer synthetischen Kleidung überhaupt so einen Beitrag zur Umweltverschmutzung leisten. Und deswegen ist auch die Aufgabe, hier ein Stück weit eine Aufklärung zu betreiben, um das Problem des Microwaste überhaupt mal in den Köpfen von Endkonsumenten zu verankern und damit auch nachher ‘ne bessere Entscheidung treffen zu können beim Kauf dieser Kleidung." Sanfter waschen, Wäsche schützen Beim Blick auf die Etiketten großer Bekleidungshersteller wird schnell klar: Fast in jedem Kleidungsstück stecken synthetische Fasern. Das wird sich nicht einfach ändern, meint Textilwissenschaftlerin Francesca De Falco. "Es ist nicht machbar, nur natürliche Fasern zu nutzen. Denn die gesamte globale Textilproduktion basiert heute auf synthetischen Polymeren wie Polyester, Polyamid oder Polyacryl. Wir können also nicht einfach sagen, wir verzichten darauf und kaufen ab jetzt nur noch Baumwolle oder Hanf oder andere natürliche Fasern. Francesca De Falco promoviert am Institut für Polymere, Komposite und Biomaterialien des Nationalen Forschungsrats in Italien. Im Projekt "Mermaid” untersucht sie, wie viele Mikrofasern tatsächlich beim Waschen austreten. "Das war nicht wirklich klar, deshalb haben wir dafür ein Messverfahren entwickelt." Wer seine Wäsche sanfter wäscht, gibt weniger Mikrofasern ins Abwasser. Bei niedrigen Temperaturen etwa oder geringerer Schleuderzahl. Der Einsatz eines Weichspülers kann die Zahl der Fasern schon um die Hälfte verringern.Der verursacht allerdings wieder eigene Umweltprobleme. Deshalb empfehlen die Forscher in einem gerade veröffentlichten Report Gegenmaßnahmen schon bei der Produktion. "Der nächste Schritt wird sein, eine Methode zur Behandlung synthetischer Fasern zu entwickeln.Dabei soll eine Schicht über den Textilien entstehen, die sie beim Waschen schützt." Bisher haben Francesca de Falco und ihre Kollegen für diese Schutzschicht synthetische Stoffe eingesetzt. Demnächst sollen sie ersetzt werden durch natürliche Polymere wie dem pflanzenbasierten Pektin oder Chitosan aus Garnelen. Laut Forschern ist in vielen Lippenstiften, Cremes und Mascaras Plastik in unterschiedlicher Form enthalten. (dpa/ picture alliance/ Daniel Naupold) Plastik als Schleifkörper für Hautpeelings Winzige Kunststoffpartikel finden sich heute überall. Auch dort, wo Konsumenten sie gar nicht brauchen: "Wir arbeiteten schon eine Weile am Plastikmüll im Meer. Eines Tages stellten wir fest, dass es da einen neuen Trend gab, nämlich Plastik in Kosmetika zu mischen." Umweltwissenschaftler Jeroen Dagevos hat eine der erfolgreichsten Kampagnen gegen Mikroplastik organisiert: Hautpeelings und Zahnpasten enthalten als Schleifkörper oder Glitzerperlen winzige Teilchen aus Polypropylen. Dagegen machten Dagevos und sein Team von der Plastic Soup Foundation mobi. Ihr Motto: "Beat the Microbead”. "Als wir die Kampagne starteten, erfanden wir die "Microbeads”. Dann übernahm die Industrie das Wort. Und sie sagten in ihren Statements, Ok, wir nehmen die Mikrokügelchen aus unseren Peelings und Reinigungsprodukten heraus. Manche meinten damit aber nur Polyethylen, kein anderes Plastik. Und dann ging eine Diskussion darum los, was in die Definition von Microbeads fällt und was nicht. Ich glaube, es geht den Produzenten darum, Zeit herauszuschlagen, in der sie ihre alten Produkte noch eine Weile verkaufen können." Zahlreiche Umweltorganisationen schlossen sich der Plastic Soup Foundation an und erstellten schwarze Listen mit belasteten Produkten. Im Dezember 2015 verabschiedete der damalige US-Präsident Barack Obama schließlich den Microbeads Free Waters Act. Jeroen Dagevos: "Ich denke, das Problem mit Mikroplastik in Peelings und Zahnpasta ist fast gelöst – das gibt es nur noch sehr selten. Aber in vielen Lippenstiften, Cremes und in sehr vielen Mascaras findet man immer noch Plastik in unterschiedlicher Form. Wir sind also noch nicht am Ziel. Ich glaube, die einzig vernünftige Lösung ist ein globaler Bann. Callum Roberts: "People are very inventive, and they’re finding ways to catch plastics from the oceans!” Lars Gutow: "Aber was sollen denn das für Geräte sein, die das alles einsammeln?" Boyan Slat: "I believe the Great Pacific Garbage Patch can completely clean itself - in just 5 years.” Lars Gutow: "Also ich denke, das ist im wahrsten Sinne des Wortes, ist das 'ne Sisyphusarbeit." Selten haben sich für ein Umweltproblem so viele Menschen engagiert wie für dieses. Ein junger Erfinder arbeitet mit jeder Menge Crowdfunding an einer gigantischen Säuberungstechnik für die großen Meereswirbel, ein Umweltschützer versucht feine Partikel per Elektrostatik aus dem Sand zu filtern. Jeder klammert sich an seine eigene Hoffnung. Vor kurzem machte eine zufällige Beobachtung Schlagzeilen: Spanische Forscher hatten Wachsmotten dabei beobachtet, wie sie sich durch Plastiktüten fraßen und das offenbar sogar gerne. Doch selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Raupen Plastikverpackungen in nennenswerten Mengen vertilgen, dann tun sie dies sicher nicht im Meer, denn das ist nicht ihr Lebensraum. Womöglich verschärfen sie das Problem sogar, weil sie die Tüten nur zerkleinern und als Mikroplastik wieder ausscheiden. Immerhin: Der Tütenverbrauch hat sich in einzelnen Ländern drastisch reduziert, seit in den Geschäften dafür bezahlt werden muss. Marcus Ericsen: "The real solutions are happening upstream. They are happening in your supermarkt, they’re happening in your local government.” Melanie Bergmann: "Es müsste meiner Meinung nach insgesamt zu einer Drosselung der Plastikproduktion kommen." Globales Plastik-Abkommen Die Weltnaturschutzunion IUCN schätzt, dass höchstens ein Drittel des Mülls im Meer aus Partikeln besteht, die schon als Mikroplastik im Meer landen. Das heißt: Der Hauptteil des Problems liegt bei den größeren Teilen, die zerfallen – all den alten Fischernetzen, Plastiktüten, Wasserflaschen, Zigarettenstummeln und Verpackungen. Der hohe Verbrauch an Einwegbechern: nur einer von vielen Aspekten, die das Plastikproblem ausmachen. (dpa/picture-alliance/Maximilian Schönherr) Oder auch Kämmen, Gabeln, Feuerzeugen, Computergehäusen, Autoteilen, Einmalrasierern, Kugelschreibern, Plastiktellern, To-Go-Bechern. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die weltweite Produktion rasant gestiegen. 2015 wurden 322 Millionen Tonnen Kunststoff produziert, fast 190 mal so viel wie noch Anfang der 50er Jahre. "Plastik ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass ich Stoffe kreieren und produzieren kann, auch in erheblichen Mengen, für die ich am Ende ihres Lebenszyklus noch nicht so richtig weiß, was ich damit mache." Nils Simon ist Projektmanager bei Adelphi, einer Beratungsfirma für Umwelt- und Entwicklungsfragen. Er plädiert dafür, das Problem endlich auch international anzugehen. "Warum nicht einfach ein globales Abkommen gegen Plastik-Verschmutzung fordern? Das könnte wirklich ein Aufhänger sein, um vor allem auch den Fokus darauf zu lenken, was an Land passiert. Um dafür zu sorgen, dass das, was am meisten fehlt, nämlich Unterstützung von Schwellen- und Entwicklungsländern dabei, effektive Abfallwirtschafts-Systeme aufzubauen und das mehr in den Vordergrund zu rücken." Auch Karen Raubenheimer von der Universität Wollongong in Australien sieht die Zeit gekommen, über ein multilaterales Abkommen nachzudenken. "Man hat Produkte, die in Amerika designt werden, aber in Indien hergestellt, in Russland verkauft und in China recycelt. Wie reguliert man so eine globale Industrie? Das ist eine echt schwierige Frage, wir müssen uns da den ganzen Lebenszyklus des Plastiks anschauen." In einem Paper in der Fachzeitung Marine Policy skizziert Raubenheimer, wie ein globales Abkommen aussehen könnte. Es könnte sich am Montreal-Protokoll orientieren, mit dem die Ozonschicht gerettet wurde. Damit begann 1987 der schrittweise Ausstieg aus den ozonschädigenden FCKWs, die etwa in Haarsprays enthalten waren. Das Plastik-Problem ist weitaus komplizierter. Doch ein Abkommen könnte den Weg ebnen für weniger Produktion und weniger giftige Zusatzstoffe. Ganz zentral wäre, dass viele Länder unterschreiben: "Ich denke, dass das ein ähnlich komplexes Problem ist wie der Klimawandel. Aber ich denke, es gibt Wege, die wir gehen können. Kokos und Kork statt Gummigranulat Per-Olov Samuelsson schließt ein rostiges Tor auf. Es führt zu einem schwedischen Fußballplatz. Der Platz ist leer, nur von weitem schallen die Rufe von zwei kickenden Jungs herüber. Der schwedische Umweltgutachter nimmt einen Rest Schnee in die Hand. Ein faseriges Material kommt zum Vorschein. "Hier das Schwarze, das ist Kokos gemischt mit Kork. Dieses Material ist viel umweltfreundlicher als das Gummireifen-Granulat, das auf dem anderen Fußballplatz verwendet wird. Und wie ich gehört habe, kann man auch richtig gut darauf kicken." Das Material kostet etwa dreimal so viel wie Gummigranulat aus Altreifen, reduziert aber den Plastikeintrag gewaltig. Ganz ohne Kunststoffe kommt auch dieser Sportplatz nicht aus. Der Rasen enthält zehn Prozent TPE – also thermoplastische Elastomere. Damit der Rasen bei tiefen Temperaturen nicht so schnell festfriert. "Unsere Sorge war, dass das Material hier oben bei uns im Norden nicht funktioniert. Aber es ist wirklich nur an ganz wenigen Tagen so kalt, dass man auf dem Rasen nicht spielen kann." Messungen haben gezeigt, dass kaum schädliche Partikel aus dem Kork- und Kokosrasen austreten. Ein Container am Spielfeldrand, in dem abfließendes Wasser gefiltert werden sollte, hat eine neue Aufgabe bekommen. "Oh, hier steht ja ein Haufen anderes Zeugs rum. Na ja - wir wollten das Filtersystem als Sicherheit haben, aber hier ist es so sauber, dass wir es gar nicht brauchen." Per-Olov Samuelsson sähe es am liebsten, wenn Kunstrasen mit Gummigranulat in Schweden komplett verboten würden und bestehende Plätze nachgerüstet – mit Filtersystemen, die das Granulat auffangen. "Für mich ist das eine Herzensangelegenheit!" Dabei bekommt er Unterstützung von der schwedischen Umweltschutzpartei "Miljöpartiet”, die sich in Göteborg auch für ein Tempolimit stark macht. Maximal 40 Kilometer pro Stunde sollen die Autos im Innenstadtbereich fahren dürfen. Damit die Reifen weniger Gummi abgeben. Erik Zettler: "Plastik ist eine neue Umwelt, dies gibt es erst seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist wie bei einem Exoplaneten, wir kennen die Bedingungen auf der Oberfläche nicht und wissen nicht, wie Lebewesen mit ihnen interagieren oder wie das die Dinge da draußen ändert." Mit dem Plastik sind neue Welten im Ozean entstanden, die Forscher wie Erik Zettlergerade erst erkunden. Doch schon jetzt zeichnen sich die Folgen ab: Fische und andere Meerestiere haben das Nachsehen, sagt die Biologin Almroth, wenn der Mensch weiterhin Kleidung aus synthetischen Fasern trägt und mit Vollgas über die Autobahn brettert. "Man kann auf verschiedenen Ebenen etwas gegen das Plastikproblem tun: Die Regierung kann Gesetze erlassen, Produkte verbieten und ihre Benutzung einschränken. Wir können Klärwerke mit speziellen Filtern umrüsten und die Abfallsysteme verbessern, damit nichts ins Meer gelangt. Jeder sollte auch über seinen eigenen Konsum nachdenken. Wie benutzen und entsorgen wir unsere Sachen? Ich zum Beispiel lese immer die Inhaltsangabe der Produkte, die ich kaufe, und benutze keine Plastiktüten und oder Wegwerfbesteck." Jeder einzelne kann heute schon viel gegen die Plastikflut tun. Aber die Menschheit muss ihren Einsatz von Kunststoffen auch grundsätzlich überdenken. Die Diskussion um ein globales Abkommen gewinnt gerade an Fahrt. Und das braucht es auch: Eine umfassende Strategie, um die vielen Quellen von Mikroplastik zu schließen.
Von Anja Krieger und Christine Westerhaus
Kunstfasern aus Fleece-Pullis, Abrieb von Autoreifen, Reste von Schuhsohlen: Bis zu 2,5 Millionen Tonnen winzigster Plastikteilchen landen jedes Jahr im Meer. Während die Müllmenge immer weiter wächst, suchen Erfinder, Ingenieure und Aktivisten nach Wegen, das Plastik abzufangen. An kreativen Vorschlägen fehlt es nicht. Nur welche davon taugen?
"2017-06-04T16:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:29:48.303000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/teilchenfaenger-ideen-gegen-mikroplastik-im-meer-100.html
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Was die Ausrufung der Frühwarnstufe des Notfallplans Gas bedeutet
Eine Druckanzeige auf dem Gelände des Untergrund-Gasspeichers der VNG AG mit Sitz in Leipzig. Wie lange halten die Vorräte in Deutschland, falls Russland seine Lieferungen einstellt? (picture alliance/dpa/Christian Modla) Die Frühwarnstufe ist die erste von drei sogenannten Krisenstufen, die im Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland verankert sind. Das Papier wurde erstmals 2012 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erstellt und zuletzt 2019 aktualisiert. Alle EU-Staaten sind laut einer Verordnung zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung verpflichtet, solch ein Papier in der Schublade zu haben. Bundeswirtschaftsminister Habeck hat die Frühwarnstufe am 30. März 2022 ausgerufen. Der Grünen-Politiker betonte, die Versorgung mit Gas sei "aktuell gewährleistet". Doch es gibt Ungewissheiten, was die Zukunft betrifft. Denn die russische Regierung verlangt von "unfreundlichen Staaten", Gaslieferungen aus Russland künftig nur noch in Rubel zu bezahlen. Deutschland und die anderen westlichen Staaten lehnen dies ab, weil es die wegen des Ukraine-Krieges verhängten Sanktionen gegen Russland unterlaufen würde. Sie verweisen darauf, dass in den Verträgen eine Bezahlung in Euro oder Dollar vereinbart wurde. Rubel oder Euro - Wie wir jetzt Putins Gas bezahlen Hören 04:42Hören 04:42 Unklar ist jedoch, was passiert, wenn sich die Energieversorger in Deutschland und den anderen westlichen Staaten der russischen Forderung verweigern. Dreht Russlands Präsident Putin dann den Gashahn zu? Vor diesem Hintergrund ist die Aktivierung der Frühwarnstufe zu sehen. 1. Schritt: Frühwarnstufe - noch kein Eingriff des Staates In der europäischen Verordnung zur Gewährleistung der Energiesicherheit sind die Kriterien für die Ausrufung der einzelnen Krisenstufen formuliert. Zur Frühwarnstufe kommt es demnach in folgendem Fall: Es liegen konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise darauf vor, dass ein Ereignis eintreten kann, welches wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage sowie wahrscheinlich zur Auslösung der Alarm- bzw. der Notfallstufe führt. Nach Ausrufung der Frühwarnstufe trat ein Krisenstab zusammen, der aus Vertreterinnen und Vertretern der Behörden sowie der Energieversorgungsunternehmen besteht. Im Krisenstab, der nach Aktivierung der Frühwarnstufe des Notfallplans Gas zusammengerufen wurde, sitzen Vertreterinnen und Vertreter von Behörden, Verbänden, Bundesländern und Marktteilnehmern. (BMWI.de) Versorger und Betreiber der Gasleitungen informieren das Bundeswirtschaftsministerium seither täglich über die Lage. Der Staat greift in dieser Phase noch nicht in den Gasmarkt ein. Vielmehr sollen die Marktteilnehmer dafür sorgen, dass die Gasversorgung gesichert bleibt - etwa indem sie auf den Inhalt der Gasspeicher zurückgreifen. 2. Schritt: Alarmstufe - der Markt soll die Störung alleine bewältigen Die Alarmstufe wird in Kraft gesetzt, wenn sich die Gasversorgungslage erheblich verschlechtert hat - etwa durch eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas. Der Markt ist aber noch in der Lage, die Störung alleine zu bewältigen, heißt es in der Verordnung. Die Bedeutung von Gas für die deutsche EnergieversorgungDie Bundesregierung will die Abhängigkeit von russischem Gas verringern und den Ausbau Erneuerbarer Energien beschleunigen. Kann die Versorgungssicherheit gewährleistet werden? In dieser Phase sind Energieversorger gesetzlich "berechtigt und verpflichtet, sämtliche Gaseinspeisungen, Gastransporte und Gasausspeisungen den Erfordernissen eines sicheren und zuverlässigen Betriebs der Netze anzupassen". Das heißt: Nicht systemrelevanten Kunden dürfen Gaslieferungen vorübergehend gekürzt werden. In den Verträgen der Gasversorger mit Industriekunden sei dies durch spezielle Klauseln geregelt, erklärte auf Anfrage der Bundesverband der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft (BDEW). Der Staat greift in dieser zweiten Phase noch nicht ein. 3. Schritt: Notfallstufe - Gas wird durch die Bundesnetzagentur verteilt Letzte Stufe ist die Notfallstufe: Sie wird aktiviert, wenn es eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas gibt oder die Gasversorgung gestört ist oder sich die Versorgungslage durch andere Faktoren erheblich verschlechtert hat. Alle einschlägigen marktbasierten Maßnahmen sind nicht mehr geeignet, die Nachfrage nach Gas zu decken. In dieser Phase müssen laut dem europäischen Regelwerk "nicht-marktbasierte Maßnahmen" ergriffen werden, um die Gasversorgung sicherzustellen. Der Staat tritt also in Aktion - im Fall Deutschlands in Form der Bundesnetzagentur. Sie wird nun zum "Bundeslastverteiler". Das bedeutet: Sie regelt in Abstimmung mit den Netzbetreibern, wie das noch vorhandene Gas verteilt wird. Dabei sind bestimmte Verbrauchergruppen besonders geschützt und müssen nach Möglichkeit bis zuletzt mit Gas versorgt werden. Zu ihnen gehören Haushalte, soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, aber auch Gaskraftwerke, weil sie in vielen Haushalten die Wärmeversorgung sicherstellen. Was Deutschland ein Importstopp kosten würdeAngesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gibt es Forderungen, russische Energielieferungen sofort zu stoppen. Doch nicht nur die Bundesregierung warnt. Sie befürchtet schwere Folgen für die deutsche Wirtschaft. Die Industrie zählt nicht zu den besonders geschützten Verbrauchergruppen. Betriebe müssen also, wenn die Notfallstufe aktiviert wird, damit rechnen, dass ihnen das Gas abgedreht wird. E.ON-Chef Birnbaum sprach im ARD-Fernsehen von einem "Szenario, das massive Schäden für die deutsche Volkswirtschaft zur Folge hätte". Die Bundesnetzagentur erklärte, bei ihr liefen alle erforderlichen Vorbereitungen, um auf eine Ausrufung der Notfallstufe vorbereitet zu sein. Schäden seien in einer Notfallstufe kaum zu vermeiden. Es gelte dann, Schäden zu begrenzen. Reaktionen auf die Ausrufung der Frühwarnstufe Das Energieunternehmen Uniper, Deutschlands größter Importeur von russischem Erdgas, begrüßte die Ausrufung der Frühwarnstufe des Notfallplans Gas. Die Maßnahme sei "sinnvoll, um auf eine Eskalation vorbereitet zu sein, die niemand derzeit ausschließen kann", erklärte Uniper am Firmensitz in Düsseldorf. Aktuell bestehe aber kein Engpass bei der Gasversorgung, betonte Uniper. Bundeswirtschaftsminister Habeck rief Wirtschaft und Verbraucher auf, den Verbrauch von Gas und Energie nach Möglichkeit zu reduzieren. "Jede eingesparte Kilowattstunde Energie hilft", erklärte der Grünen-Politiker. Kerstin Andreae (BDEW): "Es geht auch um Wechsel auf andere Energieträger als Gas" Hören 10:51Hören 10:51 Der Bundesverband der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft (BDEW) forderte, sich schon jetzt auf eine mögliche Aktivierung der Notfallstufe und einen Lieferstopp vorzubereiten. Hauptgeschäftsführerin Andreae sagte im Deutschlandfunk, es müssten nun Kriterien aufgestellt werden, nach denen beurteilt werde, wer im Krisenfall weiter mit Gas versorgt werde.
null
Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges gibt es die Befürchtung, dass Deutschland nicht mehr mit ausreichend Gas beliefert werden könnte. Müssen wir uns nach der Ausrufung der Frühwarnstufe des Notfallplans Gas konkrete Sorgen machen? Erst einmal nicht. Aber die Lage könnte sich verschlechtern.
"2022-04-04T16:14:00+02:00"
"2022-03-30T23:24:12.828000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-die-ausrufung-der-fruehwarnstufe-des-notfallplans-gas-bedeutet-102.html
631
Ja, es wird gedopt
Die Studie gibt es seit fünf Jahren, die Ergebnisse sind längst durchgesickert. Doch die Arbeit der Wissenschaftler durfte bis heute nicht veröffentlicht werden. (Rainer Jensen/dpa) Es waren einmal Verbandsfunktionäre. Die handelten zum Wohle des Sports und der Athleten. In der Welt des fairen Wettbewerbs. Diese Welt wurde aber dann von etwas Bösem heimgesucht. Von einer Studie nämlich, die wissenschaftlich belegt: Ja, es wird gedopt. Und ja, das Ausmaß des Dopings übertrifft die Anzahl positiver Tests bei Weitem. Die Studie, die das - zumindest für die Leichtathletik nachweist - gibt es seit fünf Jahren. Auch die Ergebnisse sind längst durchgesickert. Die Arbeit der Wissenschaftler durfte aber bis heute nicht veröffentlicht werden. Der Welt-Leichtathletik-Verband, IAAF, hatte was dagegen. Ein System aus Korruption und Geldwäsche Der Präsident damals: Lamine Diack. In seinen 16 Jahren an der Spitze hatte der Senegalese im Verband ein perfides System installiert, das weltweit Doping gegen Geld vertuschte, Marketingverträge zum persönlichen Vorteil abschloss und den Sport benutzte, um das große Geld in die eigenen Taschen zu wirtschaften. Lamine Diack steht wegen des Verdachts auf Korruption und Geldwäsche unter Hausarrest. Sein Sohn Papa Diack, der ebenfalls in die IAAF-Machenschaften verstrickt war, wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Nach dem erzwungenen Rücktritt Diacks vom Amt des IAAF-Präsidenten hätte sein Nachfolger für Transparenz sorgen können: Sebastian Coe. Der Mann, der acht Jahre lang unter Lamine Diack Vize-Präsident war und von den Machenschaften seines Vorgängers nichts gewusst haben will. Zwei Jahre nach Coes Amtsantritt darf die Welt nun die bisher unter Verschluss gehaltene Studie endlich kennenlernen und offiziell wissen, was ihr seit Jahren bekannt ist: Ja, in der Welt-Leichtathletik und wohl auch in anderen Sportarten wird umfassend gedopt. Und wer ist dafür verantwortlich? Es sind nicht die Athleten, sondern die Funktionäre, die wirksamere Kontrollen verhindern und damit dafür sorgen, dass gesunde Sportler krankmachende Substanzen einnehmen, damit sie Medaillen gewinnen. Neben den Erkenntnissen über den russischen Dopingskandal sind die heute veröffentlichten Daten ein weiterer Beleg für ein weltweites Dopingsystem, von dem korrupte Funktionäre profitiert haben. Eine Studie als Augenöffner Für die heute veröffentlichte Studie wurden im Jahr 2011 auch deutsche Sportler anonym befragt. Auch ein Drittel von ihnen könnte auf die Frage nach dem Doping mit "Ja" geantwortet haben. Wäre dies ein Märchen, würden jetzt den Erfindern der Leistungssportreform in Deutschland die Augen aufgehen. Sie würden sich fragen: Tun wir das Richtige, wenn wir von unseren Athleten mehr Medaillen wollen und gleichzeitig sauberen Sport? Sie würden umdenken. Ihnen wären die Athleten wichtiger als Medaillen. Es ginge ihnen um Spaß am Leistungssport und - ja - auch um seine Werte.
Von Andrea Schültke
Laut einer jetzt erst veröffentlichten, aber seit Jahren bekannten Studie hat rund ein Drittel der Teilnehmer der Leichtathletik-WM vor sechs Jahren gedopt. Die Daten seien ein weiterer Beleg für ein weltweites Dopingsystem, von dem korrupte Funktionäre profitiert haben, kommentiert Andrea Schültke.
"2017-08-29T19:00:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:20.638000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/doping-studie-ja-es-wird-gedopt-100.html
632
Absage an unbegrenztes Datensammeln
Beim Datensammeln wird Facebook in Zukunft durch das Bundeskartellamt eingeschränkt. (dpa / Friso Gentsch) Wer bei Facebook aktiv ist, muss dafür bezahlen. Zwar nicht mit Geld, aber mit Daten. Davon sammelt Facebook eine ganze Menge – und zwar nicht nur auf der eigenen Seite und in der Facebook-App. Facebook greift zum Beispiel auch Daten ab über "Gefällt-mir-Buttons" auf fremden Webseiten, egal ob man darauf klickt oder nicht. Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts. "Facebook sammelt auch dann ihre Daten, wenn Sie gar nichts von Facebook sehen. Nämlich über Facebook Analytics werden Ihre Bewegungen auf den meisten Websites, sehr vielen Websites festgehalten. Und am Ende werden alle diese Daten, die Facebook über uns, über Sie gesammelt hat, über Ihre sogenannte Facebook-ID in einem Punkt zusammengeführt. Die Nutzer haben keine Wahl, ob sie dem zustimmen oder nicht zustimmen." Datensammeln grundsätzlich erlaubt Genau dieses ungefragte Daten-Sammeln ist nach Ansicht des Bundeskartellamts nicht hinzunehmen. Facebook dürfe zwar grundsätzlich weiter Daten sammeln, auch weil genau dies das Geschäftsmodell des Unternehmens sei. Aber, so Andreas Mundt, "sie dürfen in Zukunft all diese Daten nur noch zusammenführen unter der Bedingung, dass der Nutzer in diese Zusammenführung wirklich einwilligt. Und der Kern des Verfahrens ist am Ende, dass der Nutzer dieser Zusammenführung widersprechen kann und Facebook darf ihn eben nicht mehr von der Nutzung der Facebook-Dienste und von Facebook selbst ausschließen". Das US-Unternehmen darf also nicht mehr ohne explizite Erlaubnis Daten verarbeiten, die Auskunft darüber geben, dass sich ein bestimmter Facebook-Nutzer regelmäßig im Netz über Basketball informiert oder sich auf der Internetseite einer Musikerin Konzerttermine anschaut. Aber nur mit Erlaubnis der Nutzer Und es wäre nach Ansicht des Kartellamtes auch nicht zulässig, dass Facebook Daten miteinander verschmilzt, die über seine unterschiedlichen Dienste zusammenkommen; wenn also jemand nicht nur Facebook nutzt, sondern auch Nachrichten über WhatsApp schreibt oder beim Foto-Netzwerk Instagram aktiv ist. Beide gehören zu Facebook und Medienberichten zufolge plant das Unternehmen genau so eine Verknüpfung. Das Bundeskartellamt unterstellt Facebook, mit über 30 Millionen Nutzern den Markt der sozialen Netzwerke in Deutschland zu beherrschen. Facebook-Nutzer hätten praktisch keine Wahl, auf andere Angebote auszuweichen. Als marktbeherrschendes Unternehmen unterliege Facebook deshalb besonderen kartellrechtlichen Pflichten. Facebook wies die Äußerungen des Kartellamts zurück. Das Unternehmen teilte schriftlich mit, es sehe sich nicht als marktbeherrschendes Unternehmen: "Wir haben in Deutschland einen harten Wettbewerb mit anderen Diensten, doch das Bundeskartellamt hält es für irrelevant, dass unsere Apps mit YouTube, Snapchat, Twitter und vielen anderen Wettbewerbern um die Aufmerksamkeit der Nutzer konkurrieren." Strafen in Millionenhöhe Facebook hat deshalb angekündigt, Beschwerde beim zuständigen Düsseldorfer Oberlandesgericht einzulegen. Das Bundeskartellamt verlangt von Facebook, seine Methoden innerhalb eines Jahres zu verändern. Andernfalls drohen Strafen von einer bis zehn Millionen Euro. Egal, wie es nun genau weitergeht: Die heutige Entscheidung ist spektakulär, findet der Kartellrechtler Rupprecht Podszun von der Universität Düsseldorf – auch wenn Facebook ein Unternehmen sei, das seine eigenen Dienste oft verändere und dem Politik und Behörden regelmäßig hinterherliefen. "Es gibt da durchaus eine Gefahr, dass diese Entscheidung vielleicht schon wieder ein bisschen zu spät kommt oder dass es zumindest Facebook gelingt, die Sache jetzt erstmal aufzuhalten. Das Signal ist trotzdem wichtig, dass man sich überhaupt traut als nationale Behörde, gegen so einen Silicon-Valley-Giganten vorzugehen." Und auch wenn das Bundeskartellamt erstmal nur in Sachen Facebook entschieden hat: Es könnte noch weitere Verfahren gegen andere Datensammler geben. Und auch die Kartellbehörden anderer Länder könnten sich orientieren an ihren Kollegen aus Deutschland.
Von Christoph Sterz
Für Facebook gehört es zum Geschäft, möglichst viele Nutzerdaten zu sammeln und miteinander zu verknüpfen. Doch für diese Praxis braucht das Unternehmen in Zukunft das ausdrückliche Einverständnis der Nutzer, so das Bundeskartellamt. Es sieht eine marktbeherrschende Stellung und pocht auf Einschränkungen.
"2019-02-07T15:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:36:51.856000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kartellamt-zu-facebook-absage-an-unbegrenztes-datensammeln-100.html
633
"Verbesserung der Asylverfahren kann nicht monatelang warten"
Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz (imago stock&people) Christiane Kaess: Im Skandal um mutmaßlich unrechtmäßig ausgestellte Asylbescheide der Bremer Außenstelle des BAMF kommen jetzt immer mehr Details ans Licht. Mittlerweile haben sich auch Beschäftigte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu Wort gemeldet. Mitgehört hat Konstantin von Notz, Mitglied des Innenausschusses des Bundestages und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen-Fraktion. Guten Morgen! Konstantin von Notz: Guten Morgen, Frau Kaess. Kaess: Herr von Notz, seit Tagen wird jetzt über dieses Thema diskutiert. Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich denn noch von Horst Seehofer und Jutta Cordt im Innenausschuss? von Notz: Wir haben mit dem Beantragen dieser Sondersitzung heute einen sehr umfassenden Fragenkatalog dem Innenministerium zukommen lassen mit über 60 Fragen, und wir erhoffen uns Antworten von Herrn Seehofer und auch von Frau Cordt auf diese Fragen, die jetzt im Raum stehen. U-Ausschuss würde "enorm viel Druck aus der Kiste" nehmen Kaess: Jetzt haben die FDP und die AfD gesagt, wir wollen einen Untersuchungsausschuss. Aber dafür wäre nötig, dass entweder noch die Grünen oder die Linken zustimmen. Sie haben sich bisher nicht entschieden. Warum? von Notz: Weil wir schnell und entschlossen aufklären müssen. Es geht ja vor allen Dingen darum, die Rechtsstaatlichkeit in den Asylverfahren wiederherzustellen. Da scheint es einen erheblichen Mangel zu geben. Wenn sich theoretisch auch heute drei Fraktionen sagen würden, wir setzen uns zusammen für einen Untersuchungsausschuss, dann wird die nächsten drei Monate – so haben wir das die letzte Legislatur fünf Mal gemacht – drei Monate lang verhandelt, was in dem Untersuchungsauftrag drinsteht, und zwar zwischen allen Fraktionen. Das ist ein sehr langwieriger Prozess. Und dann, wenn sie sich einigen und ihn einsetzen, dauert es noch mal zwei bis drei Monate, bis die ersten Akten kommen. Dann sind sechs Monate herum und dann fängt man an, in Sitzungen das zu verhandeln, was in den Akten steht, was auch erst mal jemand lesen muss. Deswegen würde, wenn Sie jetzt einen Untersuchungsauftrag oder einen Untersuchungsausschuss als das Mittel der Wahl hinstellen, erst mal enorm viel Druck aus der Kiste genommen werden, und wir glauben, im Augenblick tut der Druck gut. Es gibt andere parlamentarische Mittel aufzuklären, aber ich sage auch ganz klar: Wir schließen einen Untersuchungsausschuss überhaupt nicht aus. "Vieles spricht dafür, dass hier nicht rechtsstaatlich gearbeitet wird" Kaess: Entschuldigung, wenn ich da einhake, aber Sie haben ja gerade selber schon gesagt, Sie haben 60 Fragen. Wollen Sie das in einer einzigen Sitzung abhandeln? von Notz: Wir sitzen heute drei Stunden zusammen und am Anfang werden der Minister und Frau Cordt einen Bericht abliefern. So, denke ich mal, wird die Sitzung laufen. Und dann will ich mal hoffen, dass wesentliche Teile dann schon beantwortet sind, und dann wird man nachhaken. Das ist sozusagen die Grundlage dafür, dass jetzt schnell gehandelt werden kann, denn wir haben massive Probleme, nicht nur in Bremen, sondern wenn Sie sich angucken: Die Schutzquoten variieren wahnsinnig stark zwischen einzelnen Bundesländern, und es spricht vieles dafür, dass hier nicht rechtsstaatlich, nicht präzise und ordentlich gearbeitet wird, und das liegt nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern an der Führung. Kaess: Aber dass schnell gehandelt werden muss, das schließt ja einen Untersuchungsausschuss nicht aus. Ich möchte Sie noch mal daran erinnern: Sie sind ja eigentlich auch zur Kontrolle der Regierung verpflichtet als Parlamentarier, ist ja Ihre Aufgabe. Wie wollen Sie denn anders als mit einem Untersuchungsausschuss so eine Affäre, so eine umfassende, wie Sie es ja gerade schon ein bisschen skizziert haben, aufarbeiten – eine Affäre, in der fast täglich Neues ans Licht kommt? von Notz: Ich sage Ihnen, im Augenblick ist der Druck groß, und das hilft, dass Dinge ans Licht kommen. Horst Seehofer ist bemüht zu dokumentieren, dass er jetzt aufklärt. In Verantwortung ist er als Chef der CSU, die ja nun auch schon lange regiert, schon länger. Und ich sage Ihnen, wir als Abgeordnete, aber auch Sie als Journalistinnen und Journalisten werden in dem Moment, in dem wir sagen, der Untersuchungsausschuss ist das Mittel, mit dem wir aufklären wollen, auf jede Frage, die Sie stellen, die Antwort bekommen, jetzt warten Sie es erst mal ab, der Untersuchungsausschuss wird das ja klären und da werden wir die Akten hingeben. Deswegen: Es ist beides richtig. Wir müssen dieses Instrument Untersuchungsausschuss scharfstellen und sozusagen in der Hinterhand haben. Aber wir müssen jetzt erst mal versuchen, Strecke zu machen und aufzuklären, weil eine Verbesserung der Asylverfahren kann nicht monatelang warten. Wir müssen jetzt schnell zu Veränderungen kommen. "Wir haben viele Fragen" Kaess: Es steht aber dann noch ein anderer Verdacht im Raum. Die AfD – das hat sie auch schon angekündigt – will den Ausschuss nutzen, um die Asylpolitik der Bundeskanzlerin zu attackieren. Wollen Sie sich da als Grüne nicht in ein Boot mit der AfD setzen? von Notz: Nein. Ich glaube, so schlicht sind die Dinge nicht. Wissen Sie, es ist so: Wenn Sie diese qualifizierte Minderheit für einen Untersuchungsausschuss haben wollen, müssen Sie einen gemeinsamen Untersuchungsauftrag vereinbaren. Das heißt, man muss genau formulieren, was untersucht werden soll. Da bin ich mir noch gar nicht mal sicher, ob die AfD und die FDP eine gemeinsame Perspektive darauf haben. Erst mal zu sagen, wir wollen einen Untersuchungsausschuss, ist noch kein sehr belastbarer Satz. Die entscheidende Frage ist, was sie untersuchen wollen. Wir haben viele Fragen. Das kann ich Ihnen sagen. Wir haben im Jahr 2014 schon darauf hingewiesen, dass die Zahlen steigen und dass man auch im BAMF reagieren müsste, und es ist eine interessante Frage, warum auf Seiten der Bundesregierung (damals auch eine Große Koalition) nicht entsprechend reagiert wurde und man die Sachen hat irgendwie laufen lassen und die Probleme nicht ernst genommen hat. Kaess: Aber, Herr von Notz, selbst wenn diese Frage für den Untersuchungsausschuss noch formuliert werden müsste, offensichtlich ist ja die Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin in dieser Affäre, denn die Behörden waren ja offenbar überfordert. Im Nachhinein: Haben sich die Grünen zu schnell damals in der Flüchtlingskrise hinter die Krise der Kanzlerin gestellt und bleibt das jetzt auch irgendwie an ihnen hängen, wenn es um diese Frage Untersuchungsausschuss ja oder nein geht? von Notz: Nein! Ich halte das für eine konstruierte Frage. Wir wollen das aufklären. Wir haben immer angemahnt und schon lange, bevor das jetzt hochgekocht ist, dass beim BAMF die Dinge nicht gut laufen. Wir haben gesagt, die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren hat oberste Priorität, und das ist ein Problem, das die Große Koalition in ihrer Verantwortung, speziell im Innenministerium, in CDU/CSU-Verantwortung sozusagen verplant hat. Diese Dinge werden wir entschlossen aufklären. Wir werden uns da mit niemandem gemein machen und uns von niemandem in die Haftung nehmen lassen für irgendwas. Parlamentarisch ist unser Anspruch, ob nun Opposition oder nicht, das restlos aufzuklären und das schnell restlos aufzuklären. Wir haben jetzt diese Sondersitzung des Innenausschusses, mit dem wir heute hoffentlich relevant vorankommen, und dann wird man sehen, wie man weiter schnell und entschlossen aufklärt. Da ist ein Untersuchungsausschuss ein mögliches Instrument. "Massives Versagen auf Führungsebene" Kaess: Aber wenn Sie schon so lange diese Fehler im BAMF gesehen haben, dann haben Sie, nehme ich mal an, sich auch schon ein Bild über diese Behörde gemacht. Ist das BAMF eine völlig unzureichend funktionierende Behörde? von Notz: Ich glaube, dass es auf Führungsebene ein massives Versagen gab. Kaess: Führungsebene heißt Jutta Cordt, die dann auch nicht mehr zu halten wäre? von Notz: Ja, es gibt sozusagen noch mehr Leute als Jutta Cordt, die da in Verantwortung sind. Auch ihre Vorgänger wird man sich angucken müssen. Was man auf jeden Fall nicht mitmachen darf ist, dass man diese Probleme jetzt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die weisungsgebunden sind, ablädt, sondern es muss aufgeklärt werden, wo die Verantwortung politisch lag. Das zielt auf die Spitze des BAMF, aber das zielt auch auf das Bundesinnenministerium, das da eine Fach- und Rechtsaufsicht hat. Und wenn man die Probleme schon lange wusste – und die Zahlen waren ja bekannt, die unterschiedlichen Anerkennungsquoten etc. -, dann muss man einfach sehen, dass man hier die politische Verantwortung, dass man da auch Konsequenzen zieht und das sozusagen scharfstellt. "Politische Verantwortung in erster Linie beim Innenministerium" Kaess: Was heißt denn Konsequenzen ziehen? Jutta Cordt kann ihren Job weitermachen oder nicht? von Notz: Ich glaube, dass Frau Cordt massiv unter Druck ist. Ich bin aber auch nicht bereit, das jetzt nur mit der Führungsfrage im BAMF abzuhaken. Es geht am Ende des Tages um politische Verantwortung und die ist in erster Linie beim Bundesinnenministerium und da wird man genau verstehen müssen, was da eigentlich wo diskutiert wurde, was im Bundeskanzleramt entschieden wurde und wie man mit diesen Hinweisen, die es lange gab, dass diese Behörde nicht rechtsstaatlich ausreichend arbeitet, wie man damit umgeht. Kaess: Jetzt will die FDP im Parlament beantragen, dass diese Nachkontrolle aller Asylentscheide zwischen 2014 und 2017, die geplant ist, vom BAMF ausgelagert wird auf externe Prüfer. Unterstützen Sie das? von Notz: Das überzeugt mich jetzt erst mal - - Ach, dass die Kontrolle, die Überprüfung, die Nachkontrolle … Kaess: Ja, die Nachkontrolle, diese Überprüfung der Asylbescheide. von Notz: Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass man insgesamt die Ermittlungen, aber auch diese Nachkontrolle unabhängig gestaltet. Es geht ja auch um strafrechtliche Ermittlungen. Diese Dinge sollten von Leuten vorgenommen werden, die nicht im Weisungsstrang des Bundesinnenministeriums stehen. Insofern kann man sich das vorstellen, dass man versucht, das von unabhängiger Seite überprüfen zu lassen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Konstantin von Notz im Gespräch mit Christiane Kaess
In der Affäre um fehlerhafte Asylbescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hat der Grünen-Politiker Konstantin von Notz schnelle Aufklärung gefordert. Ein Untersuchungsausschuss sei ein mögliches Instrument dafür, würde zunächst aber vieles verzögern, sagte von Notz im Dlf.
"2018-05-29T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T17:54:19.087000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bamf-affaere-verbesserung-der-asylverfahren-kann-nicht-100.html
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Lufthansa-Piloten streiken ab morgen
Im Tarifkonflikt mit der Lufthansa wollen die Piloten streiken. (imago / Ralph Peters) Der mittlerweile 13. Ausstand beginnt morgen um 8 Uhr und endet um eine Minute vor Mitternacht. Bestreikt werden alle Langstreckenverbindungen und Frachtflüge in dieser Zeit aus Deutschland heraus. Die Piloten der Vereinigung Cockpit kämpfen gegen die Auslagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, sagt deren Sprecher Markus Wahl: "Es geht hier darum, natürlich der Lufthansa ein deutliches Zeichen zu setzen, dass wir nicht bereit sind, uns hier noch länger hinhalten zu lassen, unsere Arbeitsplätze noch länger ausflaggen zu lassen, und dass wir auch für den Tarifvertrag Übergangsversorgung eine Lösung brauchen." Am Wochenende war Lufthansa auf die Gewerkschaft zugegangen, sagte deren Sprecherin Barbara Schädler: "Ich gehe davon aus, dass wir diese Gesprächsbereitschaft auch weiter haben. Wir werden auch in konkreten Punkten noch mal auf die Vereinigung Cockpit zugehen. Es ist uns einfach wichtig, dass unsere Kunden wissen, dass wir alles tun, was wir können, um so schnell wie möglich wieder in einen normalen Flugbetrieb zu kommen." Umbuchung auf Lufthansa-Töchter Ein großer Teil der Flüge soll morgen trotzdem abheben, ein Sonderflugplan soll in den nächsten Stunden veröffentlicht werden. Wie schon in den Streiks zuvor sollen zudem möglichst viele betroffene Fluggäste auf Flüge von Lufthansa-Töchtern wie Swiss oder Austrian Airlines umgebucht werden, aber auch auf andere Fluggesellschaften. Die Angebote der Lufthansa am Wochenende habe man geprüft, sagte Pilotensprecher Markus Wahl, aber als substanzlos empfunden. "Es klang so, als würde man auf uns eingehen, es hat sich bei der Analyse aber herausgestellt, dass das leider absolut substanzlos war. Ziel dieser Einladung war nur erneut, wieder auf Zeit zu spielen, Zeit, die man natürlich dann dafür benutzen wollte, um weiter Arbeitsplätze auszulagern. Auf Zeitspiel wollen wir uns natürlich nicht einlassen." Ausgelagert werden diese Jobs in die Eurowings mit Sitz in Österreich, die günstigere Flüge auf der Langstrecke anbieten will. Denn Lufthansa stehe unter Druck, sich neu auszurichten, erklärt Sprecherin Schädler: "Uns geht es darum, dass wir die Lufthansa-Gruppe mit ihren Airlines, mit ihren Service-Unternehmen so aufstellen, dass sie in Zukunft in einem unglaublich harten Wettbewerb erfolgreich sein kann, dass wir 120.000 Arbeitsplätze sichern können, und daran orientieren wir uns." Auch die Piloten gestehen zu, dass Lufthansa agieren muss, um im Wettbewerb bestehen zu können. Sie hatten dazu ein Gesamtpaket mit Zugeständnissen im Volumen von 500 Millionen Euro aufgelegt. Dabei aber sollten sie die Mitarbeiter-Interessen stärker berücksichtigen, fordert Markus Wahl. Wenn nicht, dann könnte der Streik morgen wieder der erste einer neuen Streikwelle sein.
Von Brigitte Scholtes
Die Piloten der Lufthansa fliegen nicht. Ab morgen legen sie erneut die Arbeit nieder. Es ist bereits der 13. Ausstand in dem seit April 2014 laufenden Tarifkonflikt bei Europas größter Fluggesellschaft. Ein Teil der Flüge soll aber trotzdem abheben.
"2015-09-07T12:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:58:11.026000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/arbeitskampf-lufthansa-piloten-streiken-ab-morgen-100.html
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Der Brexit als begehbare Installation
Das Künstlerduo Elmgreen & Dragset inszeniert in einer begehbaren Installation den Umzug einer deutschen Familie aus London zurück nach Deutschland. (picture alliance / dpa / Federico Gambarini) Von Computerstimme vorgelesene Ausstellungsbeschreibung: "Ort: Museum Haus Lange. Krefeld. Zielgruppe: Alle. Kategorie: Kultur." Scheibenwischer-Wetter - Englisches Wetter? Auf dem echten Jaguar vor der Haustür, Kategorie Limousine der oberen Mittelklasse, pappt ein Aufkleber, betröpfelt vom Nieselregen: "I voted stay!" - "Ich habe gegen den Brexit gestimmt". Daneben ein großes Schild: Haus Lange "zu verkaufen" - nein, bereits "Verkauft!" "Eine Menge Leute sind auf dieses Schild angesprungen, ganz verunsichert: Wir bekamen Anrufe: Was? Das Haus Lange wird verkauft? Was ist hier los?" Als Michael Elmgreen und Ingar Dragset den Bungalow heimgesucht haben. "Genau so wollten wir es haben: Dass die Besucher zweifeln. Was ist hier echt, was ist hier - echte - Kunst und welche Artefakte gab es im Haus Lange auch schon vorher?" Akribische Ausarbeitung Das dänisch-norwegische Künstlerduo tunkt das ganze Haus in einen Plot. Eine deutsche Familie wollte nicht mit dem Brexit in England leben und ist, nach langen Jahren, zurückgekehrt, beziehungsweise versucht nun in Krefeld wieder heimisch zu werden. Die Ausarbeitung dieser Fiktion fällt stellenweise aberwitzig akribisch aus. "Wir haben mit einer Lokalzeitung hier in der Gegend zusammengearbeitet. Die sagt uns: Eine Menge Leute kehren jetzt Great Britain den Rücken und kommen zurück." Zwei Eimer weiße Farbe stehen im Flur. Jemand hat angefangen, ihn neu zu streichen. Eine Zeitung ist ausgelegt. Auf den zweiten Blick liest man die Schlagzeilen: "Wir wissen nicht mehr, ob wir hier reinpassen". Selbst diese Zeitungsartikel sind erfunden und real gedruckt mithilfe der Lokalzeitung. Fake News? Nein, eher so etwas wie alternative Wahrheit. "Nehmen Sie einen Horrorfilm oder eine romantische Komödie: Wie so ein Haus eingerichtet ist, färbt ja alles. Jeder Gegenstand erzählt etwas. Ich glaube schon, dass wir hier so eine Art Filmkulisse aufgebaut haben." "Aber: Es ist auch keine lineare Story. Wir wollen nicht plastisch machen: Wer sind diese Rechtsanwälte und Architekten, die hier neu einziehen?" Kunst statt Geisterbahn Dafür sind einige der Räume auch viel zu Abgrund-Tiefen-psychologisch eingerichtet. Zwei identische, kalkweiße Aasgeier bewachen zwei identische Kinderbetten. Die Siphon-Rohre unter zwei gleichen Waschbecken wachsen zusammen, siamesisch. Spiegel- und Symmetrieachsen durchziehen das ganze Haus. Diese artifiziellen Mittel setzt das Duo aber künstlerisch ein."Die Zugezogenen" ist als Kunst gemeint und gemacht. Und nicht als Geisterbahn. Von Computerstimme vorgelesene Ausstellungsbeschreibung: "Elmgreen und Dragset arbeiten seit Mitte der 1990er-Jahre als Künstlerduo zusammen. In ihren Skulpturen, Installationen und Performances deuten sie das Alltägliche und Vertraute mit subversivem Humor um." Wirklichkeit und Wahrheit Eine fiktive Kunstmesse in Peking, eine Prada-Boutique in der texanischen Wüste haben die beiden bereits in Szene gesetzt. In diesem Jahr kuratieren sie die Kunstbiennale in Istanbul, mit dem brisant-anspruchsvollen Motto: "Die Nachbarn"."Die Zugezogenen" in Krefeld erlauben jetzt erst einmal Wohnungsbesichtigung. Und man kann sich nicht sicher sein - zwischen tickendem Metronom auf dem Flügel und Dunkelkammer mit Privatfotos, ob es sie wirklich gibt. "Wir sind gegenüber Wirklichkeit und Wahrheit grundsätzlich offen. Also zumindest offener als einige Politiker, die wir - weltweit - agieren sehen, die Wahrheit für sich reklamieren." Was genau die Folgen des Brexits sein werden - wer weiß das schon? Michael Elmgreen hat selber jahrelang in England gelebt und es geht ihm auch um das Aufzeigen kultureller Differenzen. Die gebe es. Schuluniformen zum Beispiel, in Deutschland ja wohl undenkbar. Da kauert also ein Schuljunge im Madame Tussauds-Kabinett-Stil verängstigt unter dem Kaminsims. Und da hat sich ein Mann, Typ Rechtsanwalt, selbst ersäuft, im Pool hinter dem Haus Lange. Folgen des Brexits? Nein, hier geht es um ein allgemeines Szenario der Verunsicherung und Haltlosigkeit. Grandiose Ausstellung. Unheimlich zeitgeistig.
Von Peter Backof
Haus Lange soll verkauft werden? Ein Schild am Eingang des Krefelder Museums sorgte kürzlich für Aufregung. Dahinter steckt das dänisch-norwegische Künstlerduo Elmgreen & Dragset. In "Die Zugezogenen" inszenieren sie den Brexit als begehbare Installation - und das Haus Lange ist die Bühne.
"2017-02-20T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:15:56.690000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unheimlich-zeitgeistig-der-brexit-als-begehbare-installation-100.html
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Drei Standorte für Integration
"Goede morgen!"Elf junge Männer, Marokkaner und Türken, sitzen an diesem Morgen im Seminarraum der Fachhochschule "InHolland" in Amstelveen bei Amsterdam. "...thema is omgaan met religieuse diversiteit...."Auf dem Stundenplan steht "Umgang mit religiöser Vielfalt". Dozentin Geertje de Vries zeigt Gemälde aus der Zeit der Glaubenskriege und des Bildersturms, als sich die protestantischen Niederländer vom katholischen Spanien lossagten: Zum Beispiel das Gemälde "Die Seelenfischer" von Adriaen van de Venne: "...de Zielenvisserij...."Links sind Protestanten in einem Boot zu sehen, rechts Katholiken. Beide versuchen, Seelen zu fischen, sprich: Menschen zu bekehren. Die Bekehrten stehen rechts und links am Ufer - wobei das protestantische Ufer viel voller ist als das katholische. "...ja precies..."Interessiert beginnen die Studenten das Bild zu analysieren: Die Bäume auf dem katholischen Ufer sind trocken und dürr, bei den Protestanten hingegen in voller Blüte. Dort hängen auch keine dunklen Wolken am Himmel! "Klarer Fall", sagt Geertje de Vries: "Was ihr hier seht, ist eine Art Karikaturenstreit, aber im 17. Jahrhundert!""...in de 17de eeuw!" Das Seminar ist Teil des Bachelor-Studiengangs "Islamische Theologie", den die Fachhochschule seit 2006 anbietet. Ziel ist es, Imame auszubilden, die die niederländische Gesellschaft kennen und die niederländisch sprechen und auch predigen. Einerseits sollen sie junge Muslime an sich binden und verhindern, dass diese in die Fänge islamischer Extremisten geraten - so wie der Mörder des Islamkritikers Theo van Gogh. Denn diese dritte, in den Niederlanden geborene und aufgewachsene Immigrantengeneration spricht oft nicht mehr die Sprache ihrer Eltern und Großeltern. "Ihnen fehlt ein Ansprechpartner, eine Bezugsperson", erklärt die Leiterin der Fakultät "Theologie" Rimke van der Veer:"Darum brauchen wir Imame, die die Sprache der Jugend sprechen und die Gesellschaft kennen, in der diese aufgewachsen ist. Sie müssen den verloren gegangenen Kontakt wieder herstellen und dafür sorgen, dass sich diese Jugendlichen in der Moschee wieder zuhause fühlen."Die zweite wichtige Aufgabe: Die in den Niederlanden ausgebildeten Imame sollen als Brückenbauer fungieren zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den muslimischen Immigranten. Wichtig dabei sind Kontakte zu Pfarrern und Rabbis. Deshalb steht neben Gesellschaftslehre auch vergleichende Religionslehre auf dem Stundenplan. "Schon während unseres Studiums haben wir Kontakt zu christlichen und jüdischen Theologiestudenten", erzählt Mustafa Bulut. Der 21-Jährige will noch in diesem Sommer als Imam seinen Bachelorabschluss machen. Mustafa sieht sich vor allem als Vermittler: "Auf der einen Seite gibt es viele traditionelle Muslime, die nichts verändern und keinen Kontakt zur niederländischen Gesellschaft wollen, obwohl sie so nicht weiter kommen. Auf der anderen Seite gibt es viele Klischees und Vorurteile - der Islam, so heißt es, sei eine gewalttätige Religion. Es gibt viele Spannungen, die will ich abbauen, deshalb habe ich mich für dieses Studium entschieden."Um sicher zu gehen, dass die in den Niederlanden ausgebildeten Imame auch akzeptiert werden, hat die Fachhochschule bei der Ausarbeitung des Studiengangs mit den Dachorganisationen von fünf großen Moscheen zusammengearbeitet. "Nach sechs Monaten waren wir uns über den Inhalt der Ausbildung einig", erklärt Rasid Bal. Er war der Vermittler zwischen Fachhochschule und Moscheen: "Größtes Problem war es, der islamischen Tradition gerecht zu werden. Viele Moscheen fürchteten, das religiöse Fundament, die Inhalte des Koran, könnten zu kurz kommen. Ansonsten gab es keine unüberbrückbaren Hindernisse."Erstaunlicherweise. Immerhin setzen sich die Studenten auch mit Tabuthemen auseinander wie Abtreibung oder Homosexualität, die in den Niederlanden eine ganz besonders liberale Tradition kennen: "Natürlich ist das nicht leicht. Aber wir sind eine Fachhochschule und keine Missionarsstation. Wir haben auch keine Sofort-Lösungen in petto. Aber wir können dafür sorgen, dass Tabus gebrochen werden und über solche Dinge offen gesprochen wird. Übrigens ringt nicht nur der Islam mit Themen wie Abtreibung oder Homosexualität. Das tun andere Religionen auch!"
Von Kerstin Schweighöfer
Die Diskussion über eine staatlich unterstützte, akademische Ausbildung von Imamen und islamischen Religionslehrern hat in den Niederlanden bereits konkrete Formen angenommen: An drei Standorten hat die Regierung in Den Haag entsprechende Studiengänge subventioniert.
"2010-02-09T09:10:00+01:00"
"2020-02-03T17:37:02.306000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/drei-standorte-fuer-integration-100.html
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Oh, wie schön ist Kanada
Englisch als Zweitsprache-Unterricht: Die neue Generation Kanadas. (imago/ZUMA Press) So könnte sie wohl klingen. Kanadas Seele. Simon Kendall, der Pianist, sitzt in seinem Studio hier in Vancouver und spielt sich weit weg. Hinein in sein Kanada. Und sein Instrument, es ist gewissermaßen die klaviergewordene Quintessenz der kanadischen Vielfalt: "Es ist ein Steinway aus dem Jahr 1917. Komplett restauriert. Ich habe, glaube ich, erwähnt, meine Frau hat 110 Cousins. Ich selbst habe nur drei. Aber zwei ihrer Cousins sind Klavierbauer." Und so kam es, dass ein Steinway, gebaut in Deutschland, von einem holländischen Klavierbauer, der in Los Angeles wohnt, restauriert wurde, für seinen kanadischen Cousin. Und das neue Holz für den Klangboden des Flügels, Fichtenholz aus Vancouver Island. "Das Klavier wird dieses Jahr 100. Der Restaurateur hat das Holz, es ist Sitka-Fichte, von meinem Schwager gekauft, einem Holzfäller aus Vancouver Island." Simon Kendall, Musiker, Kanadier und heute Gastgeber einer ganz besonderen Geburtstagsparty. Rezan steht da. Strahlt. Und bläst schließlich alle sechs Kerzen aus. Rezan hat Geburtstag und zwanzig Gäste sind da. Hier in Simons Haus. Es ist ein Flüchtlingslager der etwas anderen Art. Simon und seine Frau Pauline, die Frau mit den 110 Cousins, sie haben Rezans Familie aufgenommen. Im September 2016 war das. Kurden aus Syrien. Rezan, seinen siebenjährigen Bruder Riad. Seine kleine einjährige Schwester Roselle und die Eltern Fayez und Ranja. Die Cheki-Familie. Simon und Pauline, Kanadier. Er wanderte einst aus England ein, Pauline aus Holland. Jetzt wohnt unter dem Dach der Kendalls die nächste, die neue Generation Kanadas. Fünf Kurden aus einem kleinen zerbombten Dorf in Syrien. Und Simon sagt, es ist ein Glück für ihn und alle, die helfen, es der Cheki-Familie ein bisschen leichter zu machen: "Ja, es gibt uns so viel Befriedigung zu helfen. Was soll man sonst tun. So viele grauenhafte Geschichten in den Nachrichten. Wir Kanadier klopfen uns auf die Schulter, weil wir 25.000 Flüchtlinge aufgenommen haben. Ihr in Deutschland habt eine Million ins Land gelassen." Privatleute garantieren für zwölf Monate Helfen können und wollen. Auch das macht Kanadier aus. Simon und Pauline haben damals 25 Freunde zusammengetrommelt. Haben Geld zusammengelegt, den Keller in Simons Haus hergerichtet. Haben die Arme ausgebreitet und die Cheki-Familie gesponsert. Sie garantieren als Privatleute für die nächsten zwölf Monate, dass diese Familie Haus, Nahrung, Ausbildung, Kleidung und etwas Frieden findet, hier in der Grandview-Nachbarschaft, einem einst vornehmen Villenviertel von Vancouver in der Provinz British Columbia. Jim, der Immobilienmakler, Geburtstagsgast heute, und einer der 25, die seither helfen. "Wir Kanadier haben das Gefühl, wir leben im Paradies. Wir haben eine neue liberale Regierung. Ja, die Welt lacht manchmal über uns, weil wir so naiv scheinen. Aber so sind wir. Abgesehen davon sind wir ja alle Einwanderer. Jeder von uns." Ranja, die 41-jährige Mutter von Rezan, steht am Herd ihrer kleinen Kellerwohnung. Das Fett der frittierten Kartoffeln spritzt auf den Holzboden. "Lecker", ruft Rezan vom Tisch. Fayez, der 43-jährige gelernte Maurer, sagt: "Kommt, setzt Euch. Esst Kartoffeln." Und dann sitzen sie alle am Tisch und essen. Simon sagt: "Wir waren ja gar nicht eingeladen. Wir sind einfach gekommen." So wie damals die Cheki-Familie einfach gekommen war, in ihr kleines kanadisches Leben. Es wird gegessen. Gefeiert. Das Leben. Die Sicherheit. Der Frieden hier, fernab von Bomben und Krieg und es wird gelacht in diesem Haus." "Alle haben danach geweint" Und wenn Simon, der Pianist, sagen soll, was die Seele Kanadas ausmacht, dann zitiert er Fayez, den einfachen Arbeiter aus Syrien, den Kriegsflüchtling. Als sie damals einmal - alle 25 Sponsoren - mit der Familie am Tisch saßen, las Fayez auf Kurdisch vor, was er ihnen, den Kanadiern, sagen wollte: "Alle haben danach geweint. Er sagte, die Güte dieser Gruppe hier, sie ist die Krone auf den Häuptern meiner Kinder. Wir waren 25 im Raum. Das war unvergesslich." Brian Calvert sitzt ein paar Straßen von der Cheki-Familie entfernt und liest aus seinem Buch. Titel: "America. But better" - "Amerika. Nur besser". "Hallo Amerika. Wir sind's, Euer Nachbar Kanada. Und die papierdünne Grenze, die uns trennt, hat wenig geholfen, um die politische Wut zu dämpfen, die gerade aus den USA zu uns nach Kanada herüberschwappt." Brian Calvert ist Kanadier, Comedian. Als nebenan in den USA Donald Trump gewählt wurde, Hass und Abgrenzung aufkeimten, Angst vor dem Fremden, dem anderen, den Einwanderern, da hat Brian Calvert die fiktive Kanada-Partei gegründet. Kanadische Satire als Mittel gegen amerikanische Angst. Sein Vorschlag. Die USA sollten doch Kanada, alle 35 Millionen Kanadier, zum nächsten Präsidenten der USA wählen: Der kleine Nachbar Kanada. Er wundert sich und lebt ansonsten weiter sein Leben mit anderen und manchmal eben auch für andere. Simon Kendall steht in kurzen Fußballhosen vor der Tür der Cheki-Familie. Es ist Mittwochnachmittag. 17 Uhr. Zeit für das Fußball- Training. Simon ist Coach des Micro-Footie-Teams. Und Rezan ist Mittelstürmer: Rezan, der Fünfjährige. Er sprach kein Wort Englisch, als sie damals im September 2016 aus einem Flüchtlingslager im Libanon über die Türkei nach Kanada kamen. Er war einer von damals 25.000, die die neue Regierung von Premierminister Justin Trudeau ins Land holte "Ein Sonnenschein", sagt Simon. Als Rezan am Flughafen in Vancouver auf Simon und Pauline zukam, grinste Rezan schon von weitem: "Er hier, Rezan, als er aus dem Flugzeug kam, schelmisch grinsend, machte gleich Witze mit uns, kitzelt alle. Damals dachten wir, das geht ja ganz gut los. Wir wussten ja nicht, was uns erwartete." Jetzt erwartet Rezan sein Fußball-Training im Park um die Ecke. Im Team von Rezan spielt auch der Enkel von Simon Kendall. Als Simon, Rezan und Riad, der ältere Bruder, auf dem Weg zum Park sind, fährt das Auto von Simons Tochter an ihnen vorbei. "Bampa" ruft es aus dem Autofenster. Seine Enkel, sagt Simon, konnten als Kleinkinder Grandpa nicht aussprechen. Sie sagten "Bampa". Seither ist Simon eben Bampa: Und auch Rezan und Riad sagen Bampa zu ihm. Jetzt steht das Team, Kanadier, Syrer, Mexikaner, Fünfjährige aus aller Herren Länder, auf dem Feld. Ein Testspiel steht an: Simon gibt die Aufstellung bekannt, und Simons Tochter sitzt am Spielfeldrand. Ihr Sohn spielt zusammen mit Rezan im Team. Und auch sie hilft, wo sie kann, um der syrischen Gastfamilie Cheki im Keller ihres Elternhauses ein neues, kanadisches Zuhause zu geben. Rezan, sagt sie, so offen. So freundlich. Als sie ihn zum ersten Mal traf, trug er ein T-Shirt mit der Nummer drei drauf, und weil er sonst auf Englisch nichts sagen konnte, rief er begeistert: "Dreeeii". 60 Prozent der Kanadier für weitere Aufnahmen Mittlerweile sind weit über 40.000 syrische Flüchtlinge nach Kanada gekommen. Weil es die Regierung Trudeau so wollte. Fast 60 Prozent aller Kanadier sagen derzeit, wir sollten noch mehr ins Land lassen. Hinein nach Kanada, jenen Flecken Erde, den der französische Philosoph Voltaire einmal ein "wildes Stück Erde" nannte. "Acht Monate im Jahr bedeckt von Schnee und Eis. Bewohnt von Barbaren, Bären und Bibern." Fayez, der Kurde aus Syrien, sagt, das Klima hier in Kanada sei in der Tat anders als Zuhause in Kamishli, seinem ehemaligen Heimatdorf. "Ja, es ist ganz anders hier. Als ich ankam, da mochte ich den Regen. Es hat viel geregnet. Aber dann gab es zwei Monate Schnee, so viel Schnee. Das hat mir nicht gefallen." Fayez ist heute Morgen, wie eigentlich jeden Morgen, auf dem Weg zur Grundschule. Er bringt Riad und Rezan zur Lord-Nelson-Schule, 500 Meter vom Haus entfernt. Es ist 8:45 Uhr. Rezans Lehrerin schließt gerade das Klassenzimmer auf. Rachel Lloyd, die Vorschullehrerin. Es ist das erste Mal, dass sie ein syrisches Flüchtlingskind in einer Klasse hat. "Aber", sagt sie, "das ist eben Kanada. Vielfalt. So viele Menschen aus aller Welt in einem Land vereint." "Wenn man weiß, dass man hier ein Kind in der Klasse hat, das jetzt in Frieden leben kann – und Rezan ist zu einem Teil unserer Schule geworden, er gehört dazu – dann ist das für mich persönlich als Lehrerin unglaublich beglückend." Brian Calvert, der Comedian, der Kanada-Versteher, auf der Suche nach der Seele seiner Heimat, er hat die Cheki-Familie aus Syrien noch nie getroffen, aber er sagt, wenn er in den Hort kommt, in den seine Tochter hier in Vancouver geht, dann fühlt er sich, als sei er bei den Vereinten Nationen: Einwanderung. Vielfalt. Gewollt und in der kanadischen Verfassung verankert. Was also ist die kanadische Identität? Brian Calvert fällt dazu zuallererst ein, was Kanada definitiv nicht sein will: "Wir sind nicht Amerika!" Kanada, das bessere Amerika? Die Freiheit sei gerade nach Norden ausgewandert, titelte einst der Economist, als im Nachbarland Donald Trump Präsident wurde und ein großer Schatten über dieses Amerika fiel, mit dem sich Kanada die längste Landgrenze der Welt teilt. Brian Calvert findet, Kanadier sind keine Heiligen. Aber die Kanadier sähen in diesen Tagen gerade auch deshalb so besonders nett aus, weil der Nachbar einen Präsidenten namens Trump habe. Es sei eben wie in der Schule. Wenn Du da neben dem Arschloch der Klasse sitzt, dann machst Du automatisch eine bessere Figur: "Wir haben eben einen Nachbarn, der die ganze Welt drangsaliert. Da sehen wir in Kanada eben besser aus." Es ist Donnerstagmorgen, 9:30 Uhr. Pauline, Simons Frau, bringt Fayes Cheki gerade zum täglichen Sprachunterricht. Englisch für Einwanderer. Und Pauline, deren Eltern in den 50ern aus Holland einst nach Kanada kamen als Einwanderer, hatten damals, wie jetzt die Tochter auch, Flüchtlinge aufgenommen. Damals waren es Boat-People. Eine Mutter und ihre drei Töchter aus Vietnam: "Das war Mitte der 70er. Sie sind bis heute befreundet, nennen meine Eltern Oma und Opa. Daher kam wohl auch bei uns die Idee. Und es macht unser Leben so viel reicher. Beide Seiten gewinnen." Die Cheki-Familie, sie kam durch ein so genanntes "Blended Visa". Staat und die 25 privaten Sponsoren teilen sich die Verantwortung. 1200 kanadische Dollar bekommt die Familie im Monat. Dazu knapp 1600 Dollar Kindergeld, das automatisch direkt an die Mutter der Flüchtlingsfamilie geht. Es reicht zum Leben. Aber ohne Englisch hat das Leben der Cheki-Familie in Kanada wenig Zukunft. Deswegen sitzt Fayez jetzt jeden Morgen hier in der Mosaic-Sprachschule. Es ist ein bisschen wie ein modernes Babylon. Die Schüler aus allen Teilen der Welt: Mark, der Lehrer bittet sie, sich vorzustellen. Fayez hat große Fortschritte gemacht. Vor neun Monaten konnte er nicht ein Wort Englisch. Jetzt gehört er zu den besseren Schülern hier. Mark, der Sprachlehrer, sagt, hier in diesem Klassenraum sitze der Mikrokosmos Kanadas an einem Tisch. "Es gibt wohl wenig andere Orte in der Gesellschaft, wo ein Milliardär aus China neben einem Flüchtling aus Syrien Englisch lernt, einem Flüchtling, der vielleicht sein Leben lang als Bauer gearbeitet hat und nie in einer Schule war. Die gemeinsame Sprache bringt sie zusammen." Es ist Nachmittag geworden. Fayez sitzt zu Hause und büffelt Englisch. John gibt ihm Nachhilfe. Jeden Donnerstag. John ist ein Freund von Simon. Und John, der Schreiner, wird hier jeden Donnerstag zum Englischlehrer. "Ich habe eine kleine Firma. Gerade ist es ruhig. Und ich habe Zeit, um mit Fayez Englisch zu üben. Ich muss das auch lernen. Ich bin schließlich kein Lehrer." Später wird John sagen, Kanada, seine Heimat, sei für ihn ein Land, das willkommen heißt, selbst noch neu ist und eine offene Gesellschaft sei. "Gut gesagt John. Gut, dass Du da bist." Simon Kendall, der Pianist ist dazugekommen. Die Cheki-Familie sitzt um den kleinen Tisch hier im Keller und alle denken darüber nach, was denn wohl ihren kanadischen Traum vom Leben ausmache. Und Simon sagt in die Stille des Raumes, ich erzähl Dir mal ein kleines Stückchen vom kanadischen Traum. "Mein Schwiegersohn baut gerade eine Veranda hier am Haus. Aus Zedernholz, das mein Schwager auf Vancouver Island gefällt hat. Und eben schauten sie hoch und da kreiste über ihnen am Himmel ein Adler. Hier, mitten in der Stadt, wo eineinhalb Millionen Menschen leben. Das gibt’s auch nicht überall." Rezan und Riad hören aufmerksam zu. Adler. Eagle. Das Wort kennen sie. Der Adler, zugleich das Wappentier des mächtigen Nachbarns, der Vereinigten Staaten von Amerika, die dieser Tage so anders scheinen, als die stets bescheidenen Kanadier, deren Nation jetzt 150 Jahre alt geworden ist. Und vielleicht auch deshalb erzählt Simon, der Pianist und gute Mensch von Vancouver, dann seinen kurdischen Gästen, die irgendwann die nächste Generation Kanadas sein werden, was die kanadischen Ureinwohner, die Indianer, einst über den mächtigen Adler sagten: "Die Legende will es, dass der Adler irgendwann zu stolz und selbstbewusst wurde und deshalb gab der Schöpfer ihm eine lächerlich klingende, piepsige Stimme. Es ist ein majestätischer Vogel aber er klingt wie ein Hühnchen."
Von Georg Schwarte
Kanadier stammen oft von Flüchtlingen ab oder kamen selbst als Flüchtling ins Land. Das prägt ihr Selbstverständnis. Sie helfen gern, ziehen Befriedigung daraus und sind stolz auf ihre Haltung, die sie auch vom großen Nachbarn USA abhebt. "Amerika, nur besser" - bringt ein Comedian das Selbstbild auf den Punkt.
"2017-08-26T18:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:47:51.314000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingsaufnahme-und-nationalstolz-oh-wie-schoen-ist-100.html
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"Black Metal als Abbild des Ästhetisch-Bösen"
Ihsahn, Sänger und Gitarrist der Norwegischen Band Emperor. (picture alliance / dpa / Friso Gentsch) Juliane Reil: Black Metal gilt als ziemlich düstere Spielart des Rock und Heavy Metal. In den 90er Jahren hatte das Genre seine erste Hochphase und zwar vor allen Dingen in Norwegen, wo es mittlerweile – wenn nicht als Kulturgut, so doch als Exportschlager – gilt. Krächzender Gesang, LoFi-Ästhetik, hohe Gitarren und folkloristische Note. Die Bands von damals gibt es noch, und die Musik entwickelt sich weiter. Denn vor gar nicht so langer Zeit wurde Black Metal sogar als "Sound der Stunde" von Ulf Poschardt in der "Welt" bezeichnet. Jakob Schermann ist Musikwissenschaftler und hat das Buch "Analyzing Black Metal" mit herausgegeben. Herr Schermann, hallo zum Corsogespräch. Jakob Schermann: Vielen Dank für die Einladung. Reil: Sie hören Black Metal, nehme ich an. Passioniert? Schermann: Ja, relativ passioniert. Also mein Zugang zu dem Thema ist einfach daraus entstanden, dass ich selber Fan bin, relativ aktiv war: Konzertgeher, Musikhörer auch zu Hause. Und dadurch hat es mich sehr gefreut, dass ich bei diesem Buchprojekt mitwirken durfte. Reil: Was fasziniert Sie an dieser Musik? Schermann: Ich persönlich finde im Black Metal einerseits eine relativ spannende Atmosphäre, die ich in anderer Musik so in dieser Form nicht unbedingt wieder finden würde. Und auch ästhetisch bildet Black Metal meiner Meinung nach sehr viele spannende Anknüpfungspunkte, gerade dann auch für weiterführende Reflexionen. Das liegt sicherlich auch daran, dass Black Metal - obwohl es natürlich als Subgenre des Heavy Metal entstanden ist - doch auch sehr viele Einflüsse aus anderen musikalischen, aber auch allgemein kulturellen Richtungen sich einverleibt. "Manche Bands haben ihre Wurzeln auch in anderen Stilrichtungen" Reil: "Black Metal erfindet sich neu", das kann man im ersten Satz in Ihrem Buch lesen. Wie erfindet sich Black Metal denn jetzt neu? Schermann: Dass sich Black Metal neu erfindet, ist jetzt nicht unbedingt eine These unseres Buches. Wir haben sie vorangestellt, weil wir so im Musikjournalismus, im Feuilleton, beobachtet haben, dass sich vor allem ein größeres Interesse auch über die Musiksubkultur des Black Metal heraus Bands entwickelt hat, die allgemein dem Black Metal, aber auch dem Post-Black-Metal und neueren - sagen wir mal - moderneren Spielrichtungen des Genres zuzurechnen sind. Und wir haben das eben als Anlass genommen, um uns ein bisschen die musikgeschichtlichen und die ästhetischen Komponenten, die gemeinhin Black Metal, also auch schon vor den aktuellen Entwicklungen, irgendwie definieren oder ausmachen. Reil: Genau. Aber diese Auseinandersetzung im Feuilleton mit Black Metal, einerseits erstaunlich, andererseits gibt es aber natürlich Grund, wenn es neue Entwicklungen gibt. Wie würden Sie diese neuen Entwicklung denn etwas konkreter beschreiben? Schermann: Diese neueren Entwicklungen lassen sich vielleicht teilweise dadurch beschreiben, dass viele Bands im Entstehen sind, die nicht unbedingt aus der Musikultur des Black Metal heraus entstanden sind, sondern durchaus ihre Wurzeln vielleicht eher im Hardcore Punk oder in anderen Stilrichtungen haben, und die sich an das Phänomen Black Metal musikalisch auch annähern, teilweise Elemente übernehmen, teilweise wieder verwerfe, um so Black Metal in ihrer Spielweise und für ihre Musik in neuer Form fruchtbar zu machen. Charakteristische Anfänge in den 1990ern Reil: Aber die Tradition des Genres, die ist ganz stark mit Norwegen verbunden, wie ich auch vorhin schon sagte, in den 90er Jahren, da sind so große Bands entstanden, mittlerweile gibt es Black Metal Bands verstreut über die ganze Welt. Wie erklären Sie sich das, dass Black Metal jetzt gerade so in Skandinavien, eben Norwegen, so groß geworden ist? Schermann: Ende der 80er, Anfang der 90er hat sich dort einfach ein Personenkreis an jungen Musikern etabliert, die ihre eigene, schnelle, extreme Musik einfach spielen wollten, aber mit einigen Strömungen da in der damaligen Metalkultur nicht unbedingt konform waren. Also es gab damals sehr starke Polemiken gegen schwedischen Death Metal dann später auch. Es lässt sich dann letztendlich schon festhalten - und das ist auch ein bisschen die Grundthese unseres Buches - dass spezielle musikalische und auch ästhetische Charakteristika, die wir heute vor allem mit Black Metal assoziieren, speziell in dieser Phase so um 1990 in Norwegen entstanden sind, und dass wir deswegen oft, wenn wir von Black Metal sprechen, auch implizit ein bisschen - oder vielleicht sogar ein bisschen mehr - von norwegischen Black Metal sprechen. Reil: Aber das Interessante ist ja, dass ganz viel Norwegen oder Skandinavien eben in der Musik anklingt - ob das nun thematisch ist, Natur, Mystik, Wälder, Wiesen, also eben die Landschaft - und es hat irgendwie etwas mit Weltflucht zu tun, Fantasy - im weitesten Sinne auch Tolkiens "Herr der Ringe". Inwiefern hat das denn eigentlich dann auch noch einen Bezug zur Gegenwart, würden Sie sagen? Schermann: Der Gegenwartsbezug des Black Metal, also, ich glaube, Poschardt macht das vor allem an modernen Bands fest wie Uada aus den USA und Mgła aus Polen, und er verortet die Aktualität dieser Bands im Kontext unserer Gegenwart, dadurch, dass einfach Dinge wie Terrorismus in der Medienlandschaft präsenter sind und daraus ein relatives Black-Metal-Abbild des ästhetisch bösen, und somit auch das politisch bösen, diese Dinge thematisiert, beziehungsweise sogar thematisiert hat, bevor sie überhaupt aufgekommen sind. Also, er schreibt da glaube ich auch davon, dass sich nicht Black Metal an die Realität angepasst hat, sondern vielmehr umgekehrt. Wäre natürlich ein Argument für den Gegenwartsbezug zu argumentieren. "Ein gesellschaftlicher und ökonomischer Teil Norwegens" Reil: Trotzdem ist es ja interessant, dass diese Musik - mittlerweile habe ich gehört - ja, tatsächlich auch Einzug in die norwegischen Botschaften tatsächlich findet, dass man dort ausgebildet wird als Diplomat, um ganz genau Bescheid zu wissen über die Geschichte des Black Metal. Ist das korrekt? Schermann: Ich habe auch von diesen Dingen gehört, aber in der Tat ist Black Metal im Selbstbewusstsein Norwegens schon ein großer gesellschaftlicher und auch ökonomischer Teil geworden, würde ich sagen. Also auch bei den Spellemannprisen-Verleihungen in Norwegen werden auch immer wieder Metal Bands mit den Preisen für das beste Hardrock-/Metal-Album ausgezeichnet, was zumindest in Österreich wahrscheinlich eher eine ungewöhnliche Vorgehensweise wäre. Reil: Jakob Schermann über das Musikphänomen Black Metal. Er ist Mitherausgeber des Buches "Analyzing Black Metal", im Transcript Verlag erschienen. Danke Ihnen für das Gespräch. Schermann: Vielen Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Sarah Chaker, Jakob Schermann, Nikolaus Urbanek: "Analyzing Black Metal – Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikkultur"Transkript Verlag, Bielefeld 2017. 180 Seiten, 24,99 Euro
Jakob Schermann im Corsogespräch mit Juliane Reil
In den 90er-Jahren war der norwegische Black Metal noch eine Subkultur mit kriminellen Energien. Mittlerweile ist das Genre gesellschaftlich anerkannt, sagte der Musikwissenschaftler Jakob Schermann im Dlf. Es gehört zu den wichtigsten kulturellen Exporten des Landes.
"2018-01-08T15:05:00+01:00"
"2020-01-27T17:34:04.238000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pop-phaenomen-black-metal-als-abbild-des-aesthetisch-boesen-100.html
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Zurück zum Autoritarismus?
Nach der Wahl im Oktober gab es Ausschreitungen, Bürger drangen dabei auch ins Parlament ein (imago images/ITAR-TASS) Ende November im Zentrum von Bischkek, der Hauptstadt von Kirgistan. Hunderte Menschen ziehen durchs Stadtzentrum. Sie sind dick vermummt gegen die Kälte, tragen Masken gegen das Coronavirus und halten Plakate in die Luft. Seit mehreren Wochen demonstrieren jedes Wochenende mehr Menschen, von Sicherheitskräften argwöhnisch beäugt, aber größtenteils unbehelligt. Ihr Protest richtet sich gegen eine geplante Verfassungsänderung. Die neue Verfassung wird von ihnen als "Khanstituzia" betitelt – ein Wortspiel aus dem russischen Wort für Verfassung, "konstituzia", und "Khan", dem Herrschertitel zentralasiatischer Reitervölker. Am 10. Januar sollen die Kirgisen einen neuen Präsidenten wählen und gleichzeitig per Referendum über eine neue Verfassung abstimmen. Die als "Khanstituzia" verballhornte neue Verfassung würde in Kirgistan das vor zehn Jahren abgeschaffte Präsidialsystem erneut einführen und die damals begründete parlamentarische Demokratie abschaffen. Auch Bektur Iskender beteiligt sich an den Protesten. Er ist Chefredakteur von Kloop.kg, einer unabhängigen, liberalen Medien-Plattform. Auf seinem privaten Instagram-Account hatte er am Tag vor der Demonstration aufgerufen, daran teilzunehmen. "Ich hoffe sehr, dass wir uns morgen um 12 Uhr sehen, um für unsere Verfassung auf die Straße zu gehen. Das ist sehr wichtig, denn das, was hier gerade passiert, dass diese Leute unser Land in ihre Hand bringen wollen, ist einfach nur entsetzlich." "Diese Leute" – das sind für Iskender reaktionäre Kräfte, die die demokratischen Entwicklungen der vergangenen Jahre rückgängig machen wollen. Kirgistan mit seinen gut sechs Millionen Einwohnern gilt im Westen als "Insel der Demokratie" – ein demokratischer Hoffnungsschimmer inmitten der autoritär regierten Nachbarstaaten Zentralasiens. Den Ruf hat es dank einer protestaffinen Bevölkerung, die wiederholt korrupte Autokraten stürzte. Zehn Jahre parlamentarische Demokratie Per Verfassungsänderung erklärte es sich im Jahr 2010 zu einer parlamentarischen Demokratie, schränkte die Entscheidungsgewalt des Präsidenten deutlich ein und erweiterte die des Parlaments. Doch dieses Demokratie-Experiment scheint jetzt ein Ende zu haben. Denn im Oktober kam es in Kirgistan zu einem erneuten Regierungsumsturz – dem dritten in 15 Jahren. Weil bei den Parlamentswahlen mehrere Parteien offen Stimmen gekauft hatten und nur so ins Parlament gewählt worden waren, protestierten am Tag danach Tausende gegen den Wahlbetrug. Während chaotischer Tage kämpften progressive Kräfte um die Erhaltung der parlamentarischen Ordnung. Ihnen gegenüber standen Kräfte des 2010 gestürzten Regimes – diese setzten sich letztlich durch. Die Regierung und der 2017 regulär gewählte Präsident Sooronbai Jeenbekov traten zurück. Präsidentschaftswahl 2017 in KirgisistanPräsident Almasbek Atanbayev dufte in Kirgistan nicht mehr antreten. Zur Nachfolge gab es weitgehend offene Wahlen. Eine Ausnahme in Zentralasien. Trotzdem werden Medien geschlossen und Oppositionspolitiker benachteiligt. Mitte Oktober erklärte sich Sadyr Japarov, ein früherer Parlamentsabgeordneter der konservativen Partei Ata-Zhurt, zum Premierminister und neuen Präsidenten des Landes. "Der frühere Präsident Sooronbai Jeenbekov ist mit offizieller Erklärung zurückgetreten. Der Parlamentssprecher erklärte, er sei nicht in der Lage, die Geschäfte des Präsidenten zu übernehmen, und ist von seiner Verpflichtung zurückgetreten. Heute wurden die Ämter des Premierminister und des Präsidenten an mich übertragen." Japarov besetzte seine Interimsregierung mit konservativen Unterstützern, aber auch mit Gegnern aus dem progressiven Lager. Mittlerweile ist er als Premierminister und Interimspräsident zurückgetreten. Denn um bei den Präsidentschaftswahlen am 10. Januar antreten zu können, darf er vorab nicht Interimspräsident sein. Jetzt ist er einer von 18 Kandidaten – und der aussichtsreichste dazu. Inzwischen als Premierminister und Interimspräsident zurückgetreten: Sadyr Japarov (imago images/ITAR-TASS) Der 52-jährige gilt als nationalkonservativ, ist Anhänger des 2010 wegen Korruptionsvorwürfen gestürzten Ex-Präsidenten Kurmanbek Bakiyev. Noch während der Parlamentswahlen am 4. Oktober hatte Japarov im Gefängnis gesessen. Seit 2017 hatte er dort eine elfjährige Haftstrafe verbüßt, für die Entführung eines Lokalpolitikers. Während der Staatskrise nach den Parlamentswahlen befreiten Anhänger ihn gewaltsam aus dem Gefängnis. Doch wie konnte Japarov so schnell zum Staatsoberhaupt aufsteigen? – Durch seine mehrjährige Haft fehlen ihm eigentlich Verbindungen in die aktuelle Politik. Asel Doolotkeldieva ist politische Analystin und Gastforscherin an der OSZE-Akademie in Bischkek. Sie sieht bei Japarov großes rhetorisches und politisches Talent, auch Volksnähe, räumt aber ein, die Dynamik seines Aufstiegs sei unklar: Experten sind geteilter Meinung – agiert er alleine, oder steht jemand hinter ihm, der die Strippen zieht? Das könnte Ex-Präsident Bakiyev sein, der in Belarus im Exil lebt. Oder er ist Repräsentant des organisierten Verbrechens. Einige Experten meinen, er ist tatsächlich unabhängig, sei aber selbst davon überrascht worden, so schnell an die Macht zu kommen. Verbindungen zum organisierten Verbrechen? Journalist Bektour Iskender tendiert zur Theorie, das organisierte Verbrechen unterstütze Japarov. - Iskenders Medien-Unternehmen Kloop recherchiert seit Monaten zu Korruptionsskandalen in Kirgistan. Gemeinsam mit einem internationalen Recherche-Verbund hatten er und seine Kollegen ein gigantisches internationales Geldwäsche-Netz aufgedeckt. Der Ex-Vize-Chef der obersten Zollbehörde in Kirgistan Raiymbek Matraimov hatte mehrere Hundert Millionen Dollar außer Landes geschafft. Kurz nachdem Japarov im Oktober Interimspräsident geworden war, wurde Ex-Zollchef Matraimov verhaftet. Doch auf Anweisung des Interimspräsidenten und jetzt Kandidaten Japarov kam er wieder frei. Matraimov habe angeboten, so begründete Japarov seine Entscheidung, "das illegal erworbene Eigentum und Geld zurückzugeben". Journalist Iskender vermutet, die Verhaftung sei reine Show gewesen, Japarov und den Kriminellen Matraimov verbänden gemeinsame Interessen. Aber darüber kann man nur spekulieren, weil es keine Beweise gibt. Abgeordnete verschiedener Parteien haben allerdings erzählt, dass sie von Unterwelt-Bossen bedroht wurden, damit sie Japarov zum Premierminister machen. Trotz des Misstrauens gegenüber Japarovs politischen Verbindungen – er erfreut sich breiter Unterstützung innerhalb der Bevölkerung. Shirin Aitmatova ist Anti-Korruptions-Aktivistin und frühere Kollegin Japarovs. Gemeinsam saßen sie Anfang der 2010er Jahre im Parlament, sie für die Sozialistische Partei Ata-Meken, Japarov für die konservative Ata-Zhurt. Das Leben in Kirgistan ist so schwierig, deshalb will das Volk jemanden sehen, der genauso gelitten hat, der genau solche Ungerechtigkeiten erlebt hat. Vielleicht ist das Selbstbetrug oder naiv, aber die Leute sind so – "Schaut, dem geht es genau so dreckig, der versteht uns". Aitmatova zufolge ist auch Japarov ein Opfer der kirgisischen Politik. Er sei aus politischen Gründen zu einer so langen Haftstrafe von elf Jahren verurteilt worden. Seine politische Agenda unterstützt sie nicht, kann aber seine Popularität nachvollziehen. Sie ist sicher, Japarov und seine Unterstützer werden die Verfassungsänderung durchbekommen. Reform gegen den Parlamentarismus Diese sieht die Abschaffung des Parlamentarismus vor. Während sich der Präsident und ein vom Parlament gewählter Premierminister bisher die Aufgaben der Exekutive teilen, gibt die neue Verfassung die ganze Macht dem Präsidenten. Das Parlament würde verkleinert, eine weitere Kammer geschaffen: der so genannte Kurultai, angelehnt an die Fürstenversammlung früherer Turkvölker. Gegner der Verfassungsreform fürchten, Kurultai und Parlament könnten lediglich zum Abnicken der Entscheidungen eines wiedererstarkten Präsidentenamts dienen. Aitmatova will per Verfassung verbrieften Parlamentarismus. Aber Verfassung und Parlamentarismus müssten auch wirklich umgesetzt werden. "Alle halten an diesen demokratischen Instituten fest – das ist auch irgendwie richtig. Aber da stehen Sachen drin wie kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Bildung – das wird ja ohnehin nicht eingehalten. Auch Nordkorea hat eine Verfassung. Eine Verfassung ist also nicht per se wahnsinnig wertvoll." Politologin Doolotkeldieva von der OSZE-Akademie in Bischkek bringt die Probleme der kirgisischen Auslegung von Parlamentarismus deutlich auf den Punkt. "Die zehn Jahre Experiment parlamentarisches System hatten sehr negative Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung. Wir haben gesehen, wie das Parlament sich in eine passive Institution verwandelt hat, die so lange wie möglich den Interessen des Präsidenten gedient hat. Parteien haben ganz offensichtlich ein Geschäft aus Wahlen und Parlamentssitzen gemacht, sie haben Sitze regelrecht verscherbelt, und weit entfernt von ihren Programmen agiert, dafür aber eigene Wirtschaftsinteressen und die des Präsidenten lobbyiert." Corona verschärft die Krise Im Einsatzraum der städtischen Notrufzentrale von Bischkek. Zehn Frauen sitzen an Computerplätzen, durch Plexiglasscheiben voneinander getrennt. Alle haben Masken vorm Gesicht. Yegor Borissov ist Chef der Notrufzentrale und einer von Tausenden Ärzten in Kirgistan, die dieses Jahr die Coronakrise bewältigen müssen. "Jetzt ist die COVID-19-Situation angespannt, aber wir kommen klar. Die Rettungswagen fahren raus und schaffen es. Im Sommer war das hier die Hölle – da waren es viel, viel mehr Patienten. Das Gesundheitssystem war geradezu gelähmt. Viele Patienten sind gar nicht in die Statistik eingegangen, weil sie keinen Kontakt mit uns hatten." Borissov ist Intensivmediziner, koordiniert die Arbeit von rund 70 Mitarbeitern. Und er ist ganz nah dran am Versagen des Staates, wie er sagt. Das Gesundheitswesen in Kirgistan ist seinen Worten zufolge seit 30 Jahren massiv vernachlässigt worden. Rund 120, 130 Dollar verdiene ein Arzt in Kirgistan im Monat. Viele würden deshalb das Land verlassen oder in anderen Jobs arbeiten. "All diese Probleme – niedrige Löhne, fehlende Ärzte, fehlende Krankenhäuser, fehlende Bildung, ein Mangel an allem – das hat sich in 30 Jahren aufgestaut. 30 Jahre lang hat sich darum niemand gekümmert. Und jetzt im Jahr 2020, wo sich Ärzte als die nötigsten Spezialisten erwiesen haben, sehen alle diese Probleme. " Corona in Zentralasien - Demokratische Entwicklung ausgebremstLänder wie Kasachstan oder Kirgistan fallen zurück in autoritäre Muster. Menschenrechtler sagen, Regierungen würden die Coronakrise nutzen, um Regimekritiker loszuwerden. Auf nötige Reformen wartet er nicht mehr, gerade jetzt nach dem Regierungsumsturz sei dies ohnehin zwecklos. Er erzählt aber davon, wie in der Hoch-Zeit der Pandemie ein Heer von Freiwilligen ihnen hier zur Hilfe geeilt sei. "Mich haben pro Tag fünf, zehn Leute angerufen, braucht ihr Masken, Kittel, Medikamente? – Sag, wir bringen das vorbei. Oder es fuhren irgendwelche Fremden hier vor und sagten, Leute, wir haben euch Mittag gemacht. Und für uns ist das mittlerweile die Norm. – Wenn irgendwas passiert, wissen die Leute, ah, dem, dem, dem müssen wir helfen – der hat Geld, der andere ein Auto, der Dritte macht Burger – also machen wir für das Geld Burger und bringen sie zu den Ärzten. Und das sind alles Freiwillige. Das ist eine so mächtige Unterstützung und deshalb sind wir noch am Leben." Tatsächlich hat dieses Jahr einen enormen Selbsterhaltungstrieb der Kirgisen hervorgekehrt. Während der Pandemie hatten sich allein in Bischkek bis zu 5.000 Freiwillige organisiert und Patienten versorgt, Beatmungsgeräte herangeschafft. Und während der Krisentage nach den gescheiterten Parlamentswahlen schützte ein Herr von Freiwilligen, Regierungsgebäude und Läden in Bischkek vor Plünderungen. – Weil der Staat an so vielen Stellen in Kirgistan versagt, sind die Kirgisen auf sich selbst zurückgeworfen, um ihr Leben zu bewältigen. In westlichen Medien dient diese Selbstorganisation gern als Beweis einer funktionierenden Zivilgesellschaft – und als demokratisches Aushängeschild. Das Volk ist gespalten Im Vergleich zu den autoritären Nachbarländern ist Kirgistan tatsächlich weniger repressiv. Deshalb gibt es mehr Unternehmergeist, das Niveau der politischen Bildung ist hoch, es wird gern und offen diskutiert. Doch Polit-Analystin Asel Doolotkeldieva ist diese Bewertung zu sehr durch westliches Verständnis geprägt. Vor allem aber verhindere sie zu verstehen, was derzeit in Kirgistan politisch passiere. "Das ist nur ein Bruchteil der Zivilgesellschaft. Es gibt andere Teile der Zivilgesellschaft, auf die diese Charakterisierung nicht zutrifft, ebenso aktive Bürger, die aber nicht unbedingt für eine liberale Demokratie stehen. Und die möchten ein Kirgistan nach ihren Wertvorstellungen – das ist ein konservatives, religiöseres Kirgistan, ein Kirgistan, das ein Präsidialsystem bevorzugt. Und es ist nicht korrekt, diese Menschen auszublenden. Deshalb bin ich sehr gegen diese voreingenommene Interpretation der Zivilgesellschaft durch die liberale, demokratische Brille." An einem eisigen Wintermorgen, rund 150 Kilometer von Bischkek entfernt, im Dorf Chui. Junge Männer in bunt-glänzenden Anzügen liefern sich einen Wettkampf im Kok-boru, einem traditionellem Reiterspiel. Kok-boru ist eine Art Rugby zu Pferd – ein geköpfter Ziegenbalg muss im Galopp in das Tor der gegnerischen Mannschaft gebracht werden. EU-Strategie für Zentralasien - Viel Engagement, aber kein konkreter PlanPartnerschaft für politische Stabilität, Wohlstand und bessere Zusammenarbeit: Das sind die Eckpfeiler der EU für künftiges Engagement in Zentralasien. Wie das konkret aussehen soll, ist noch unklar. Ularbek Jakshylykov, der Kapitän der Blauen aus dem Nachbardorf Shabdan, ist 26 Jahre alt. Er ist der jüngere von zwei Söhnen und daher verpflichtet, bei seinen Eltern im Dorf wohnen zu bleiben, um sich später im Alter um sie zu kümmern. Wie sein Vater ist Jakshylykov Bauer geworden. Wenn Jakshylykov nicht an Kok-boru-Turnieren teilnimmt, ist er für das Wohl von Pferden, Schafen, Kühen und Yaks zuständig. Aber er plant auch, ein kleines Hotel zu bauen, das der Familie künftig weiteres Einkommen sichert, zusätzlich zum Lebensmittelladen, den seine Mutter betreibt. Jakshylykov weiß schon, wem er im Januar zu den Präsidentschaftswahlen seine Stimme geben wird: Sadyr Japarov, denn der stamme aus dieser Region. "Er will Präsident werden egal wie, auf gesetzlichem Wege oder nicht, und dann will er das Land in Ordnung bringen. Wenn er jetzt schon damit anfangen würde, gäbe es genug Missgünstige, die ihn daran hindern wollen würden. – Viele aus dem Volk sind für Japarov. Die glauben einem anderen schon nicht mehr." Die Wirtschaft ist fragil Die wichtigste Aufgabe für Kirgistan und seinen zukünftigen Präsidenten wird es sein, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren. Doch an dieser Aufgabe sind schon die bisherigen Präsidenten gescheitert – oder wollten sie nicht angehen. Aktivistin Shirin Aitmatova: "Wenn wir wegkommen von diesen ständigen Krediten und anfangen, selbst zu denken, zu arbeiten, dann werden die Löhne steigen, das Lebensniveau. Auch die Frage der Korruption – wir sind doch alle darauf angewiesen, einfach um zu überleben, nur ein paar kriegen den Hals nicht voll und wollen immer mehr. Aber der Verkehrspolizist mit seinem Stöckchen, oder ein Arzt, der dem Schüler ein Attest ausstellt für Geld – die machen das doch nicht, weil sie das toll finden. Die müssen ihre Kinder ernähren. Und wenn es wirtschaftlich besser wird, wird Korruption unwichtiger werden." Politik-Analystin Asel Doolotkeldieva will weder für die Präsidentschaftswahlen, noch für die Gesamtperspektive Kirgistans Prognosen abgeben – zu schnell könnten sich Dinge hier ändern. Doch sie hält einen neuen Präsidenten Japarov für wahrscheinlich. "Wenn man Japarovs Aktivitäten in Bakiyevs autoritärem Regime betrachtet, auch seine Verbindungen zur organisierten Kriminalität, dass er die Augen verschlossen hat vor Korruption, dann ist er vermutlich nicht der Mann, der wirtschaftliche Reformen umsetzen kann, sondern das Land eher in eine Diktatur verwandelt könnte. – Ja, es gibt ein Risiko, dass das Land in einen stabilen Autoritarismus zurücksinkt." Japarov könnte sich zunächst großer Popularität erfreuen. Wenn der wirtschaftliche Aufschwung aber ausbliebe, dann, so Doolotkeldieva, würde Japarov "genauso abgesägt werden, wie er Jeenbekov abgesägt hat". Der Kreislauf politischer Instabilität begänne für Kirgistan von neuem.
Von Edda Schlager
Kirgistan gilt als "Insel der Demokratie" in Zentralasien. Nach dem Sturz des gewählten Präsidenten im Oktober sind für den 10. Januar Neuwahlen angesetzt - und ein Referendum über eine neue Verfassung. Die soll die Macht des Parlaments einschränken.
"2020-12-17T18:40:00+01:00"
"2020-12-18T12:00:15.675000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kirgistan-zurueck-zum-autoritarismus-100.html
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Späte Genugtuung
"Den Gedanken, dass Vater tot war, ließen wir lange nie zu 100 Prozent zu. Es gab immer einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass er vielleicht irgendwo in Sibirien im Lager sitzt, dass er eines Tages zurückkehren wird. Also warteten wir."Doch der Vater von Danuta Panczakiewicz kam niemals zurück. Er wurde wie rund 20.000 andere polnische Offiziere vom russischen Geheimdienst auf Befehl Stalins verschleppt und erschossen. Männer, die vor dem Krieg die damalige Führungselite Polens repräsentierten. Juristen, Mediziner, Lehrer, Historiker, Philosophen, Staatsrechtler, Polizei- und Verwaltungsfachleute. Wer diese Schicht vernichtet, dachte Stalin, der vernichtet auch das ganze Land. Dies als eigentliches Ziel des immer noch hoch angesehenen sowjetischen Führers zu bezeichnen, wollen russische Politiker bis heute nicht zulassen. Dementsprechend sperre sich Moskau auch, wenn es darum gehe, Rehabilitierungsansprüche der Opfer anzuerkennen, erklärt Ireneusz Kaminski, Anwalt der Angehörigen. Sie klagen seit Jahren vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof und hoffen, dass die Richter bald entscheiden: "Ein gerechtes Urteil wäre, wenn das Tribunal klipp und klar erkennt, dass es hier zu Menschrechtsverletzungen gekommen ist. Und dass sie andauern. Denn hat Russland bislang nichts unternommen, um die Verbrechen von Katyn aufzuarbeiten." Das könnte sich nun ändern. Wie der russische Außenminister Sergei Lawrow auf Nachfrage erklärte, prüfe Moskau derzeit eine Rehabilitierung der Opfer. Damit wäre Russland bereit, diese so wörtlich "absolut rechtmäßige Bitte" 71 Jahre nach dem Massaker von Katyn zugunsten der Angehörigen zu klären. Russland wolle das Problem so beilegen, dass die Angehörigen zufrieden seien und russische Gesetze nicht verletzt würden, sagte Lawrow in einem jetzt in Polen veröffentlichten Interview. Wie es heißt, hätten russische Experten dem Kreml vorgeschlagen, die Opfer nicht namentlich, sondern pauschal zu rehabilitieren. Für die 80-jährige Offizierstochter, keine Überraschung:"Sie haben Angst vor Entschädigungsansprüchen. Hier geht es um 20 Milliarden Dollar. Nicht Zloty. Was meines Erachtens für die Angehörigen der Ermordeten zurzeit nun wirklich nicht das Wichtigste ist." Den Betroffenen, sagt Witomila Wolk-Jezierska, auch sie Tochter eines der in Katyn ermordeten polnischen Offiziere, gehe es nicht ums Geld, sondern schlicht um Genugtuung:"Am wichtigsten wäre es, wenn Russland die Schuld der damaligen sowjetischen Führung offiziell anerkennt. Moskau hat die Verbrechen zwar grundsätzlich zugegen, aber hier geht es darum, dass sich Russland dazu bekennt, dass es Mord an unschuldigen und wehrlosen Opfern war." Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, meint der Anwalt der Angehörigen. Für die Moskauer Führung indes ein gewaltiger Schritt, den bislang niemand zu machen wagte. Und dass obwohl der Krieg schon 66 Jahre zurückliegt. Genau deshalb werden in Polen die jüngsten Äußerungen des russischen Außenministers mit ganz besonderer Aufmerksamkeit verfolgt.
Von Henryk Jarczyk
Die als Massaker von Katyn bekannten sowjetischen Massenmorde an polnischen Offizieren von 1940 belasten immer noch das Verhältnis zwischen Polen und Russland. Aufhorchen lässt nun eine Erklärung des russischen Außenministers Sergei Lawrow, nach der Moskau derzeit eine Rehabilitierung der Opfer prüfe.
"2011-10-25T09:10:00+02:00"
"2020-02-04T01:50:00.579000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spaete-genugtuung-106.html
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Geopolitik zulasten eines Volkes
Die Lage für die Menschen in Ost-Ghuta nahe Damaskus ist seit dem Giftgasangriff 2013 besonders schlimm (AFP / Youssef Karwashan) Einer der wichtigsten Tage im Syrien-Krieg war der 30. September 2015. Damals flog die russische Luftwaffe zum ersten Mal Angriffe in Syrien. Auf den zahllosen Schlachtfeldern im Land stand die Armee von Präsident Baschar al-Assad damals schlecht da. Sie litt unter immer größeren Personalproblemen und musste an zu vielen Fronten gleichzeitig kämpfen. Auf einmal schien es nicht mehr ausgeschlossen, dass das Regime von Assad fallen würde, gut vier Jahre nach Beginn des Konflikts. Damit war nicht nur das bisherige Herrschaftssystem in Gefahr. Ein Sturz Assads hätte wohl auch die bisherige Rolle Syriens im Nahen und Mittleren Osten umgeworfen. Unter Assad und dessen Vater Hafiz war Syrien ein hartleibiger Frontstaat gegen Israel. Als einziges arabisches Land hatte es zum Iran enge Beziehungen. Der libanesischen Hisbollah - selbst ein Günstling des Iran - bot Syrien strategische Hilfe und gestattete es, dass Teheran der Miliz via Damaskus Waffen lieferte. Und für Russland stellte das befreundete Syrien das letzte arabische Land im Nahen Osten dar, von dem aus es noch Einfluss auf die Region ausüben konnte; in Tartous liegt die einzige russische Marinebasis am Mittelmeer. All das stand aus Sicht von Wladimir Putin 2015 plötzlich auf dem Spiel. Also handelte der russische Präsident - und trat an jenem 30. September in den Krieg ein. Kurz darauf sagte der syrische Außenminister Walid al-Muallem: "Die Bekanntgabe des Beginns der russischen Luftangriffe in Syrien, die auf Bitten der syrischen Regierung und mit der syrischen Regierung koordiniert stattfinden, zeigt die Unterstützung für die syrischen Anstrengungen, den Terrorismus zu bekämpfen." Erst friedliche Demonstrationen, dann Bürgerkrieg Am Anfang war alles noch recht einfach, und die Konfliktlinien waren klar: Der Aufstand gegen die Regierung von Baschar al-Assad hatte 2011, im Jahr des sogenannten Arabischen Frühlings, mit friedlichen Demonstrationen begonnen. Die Sicherheitskräfte schossen scharf, weitere Proteste führten zu einer noch härteren Reaktion der Regierung - und irgendwann schossen Oppositionelle zurück. Von da an schlitterte das Land in einen Bürgerkrieg. Die USA sprangen den Assad-Gegnern früh zur Seite, zumindest verbal, und verlangten bereits 2011, dass der syrische Machthaber abtrete. Die damalige Außenministerin Hillary Clinton: "Die Menschen in Syrien haben eine Regierung verdient, die ihre Würde respektiert, ihre Rechte schützt und ihrem Streben, ihren Ansprüchen gerecht wird. Assad steht ihnen im Weg." Jeder Gegner wird zum Terroristen erklärt Worte wie diese weckten Erwartungen bei den Oppositionellen. Arabische Staaten - vor allem Katar und Saudi-Arabien - sprangen ihnen bei und begannen mit Waffenlieferungen. Sie sahen den Konflikt als Chance, durch einen Sturz Assads die Achse Syrien-Iran zu brechen. Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte die Männerfreundschaft mit dem Herrscher in Damaskus auf. Präsident Assad hingegen erklärte rundweg jeden seiner Gegner zum Terroristen und entließ alle radikalen Islamisten aus den Gefängnissen - wissend, dass auch diese zu den Waffen greifen würden. Assads Kalkül, damals wie heute: Das eigene Volk und der Westen sollen vor die Wahl gestellt werden - entweder er oder die Terroristen. Syrische Pro-Assad-Demonstranten 2011 in Damaskus (dpa / epa / Sana) Der türkische Präsident Erdogan protestierte:"Das syrische Volk kann nicht gezwungen werden, sich zwischen dem Regime, das seine Menschen abschlachtet, und Terrorgruppen zu entscheiden. Die Türkei wird weder den Terror, noch den Willen eines einzelnen Mannes auf der anderen Seite der Grenze Wurzeln schlagen lassen." Immer mehr FSA-Kämpfer liefen zu den Fanatikern über Zunächst hatte der Westen noch Partner innerhalb der syrischen Opposition: national eingestellte Menschen, die Freiheit und Demokratie wollten. Viele der Bewaffneten, die so dachten, versammelten sich unter dem Banner der Freien Syrischen Armee, FSA, die von Deserteuren gegründet worden war. Doch auf dem Schlachtfeld gerieten diese gemäßigten Kräfte immer mehr ins Hintertreffen. Nie erhielten sie von den USA genug Waffen und Munition. Und die Waffen, die die Lufthoheit von Assads Kampfjets hätten brechen können, wollten die Amerikaner nicht liefern. Arabische Staaten versorgten ihre Klienten in Syrien hingegen gut: Milizen, die eine radikal-islamische Agenda verfolgten und die ganze Bandbreite religiösen Extremismus darstellten. Immer mehr Kämpfer liefen von der FSA zu den Fanatikern über - denn bei ihnen gab es meist bessere Waffen und einen höheren Sold. Irgendwann waren plötzlich mehrere Hundert Milizen in Syrien aktiv, die häufig auch einander bekämpften - darunter auch der IS und Al-Kaida. Die politischen Köpfe der Opposition waren heillos zerstritten und konnten keine Partner für den Westen mehr sein. Kurdischen Kämpfer kontrollieren große Teile des Nordens Mittlerweile hat sich Erdogan auf die syrischen Kurden eingeschossen - im wahren Sinne des Wortes. Aus der Region Afrin hat sein Militär im vergangenen Monat die Kämpfer der PYD, die er für Terroristen hält, bereits vertrieben. Nun will Erdogan weitermachen: "Wir setzen unsere Afrin-Offensive fort, um die Gebiete in der Region dort unter Kontrolle zu bringen, vor allem Tel Rifaat. Unsere Pläne bezüglich Manbij und der Terroristen in anderen syrischen Regionen bestehen fort." Dass die PYD so stark geworden ist, ist eine unbeabsichtigte Folge des Niedergangs des IS in Syrien. Beim von den USA geführten Kampf gegen den IS waren die sogenannten Syrischen Demokratischen Kräfte, SDF, ein wichtiger Verbündeter, und dieser Verband wird von den PYD geführt. Deswegen kontrollieren diese kurdischen Kämpfer nun große Teile des Nordens von Syrien an der Grenze zur Türkei und zum Irak - für Erdogan völlig inakzeptabel. Trump kündigte bei Twitter Raketenangriffe an Die USA hatten nie eine umfassende Strategie für Syrien formuliert. Präsident Donald Trump hat daran nichts geändert. "We will be coming out of Syria like very soon. Now, very soon, very soon we're coming out." - Sehr bald werde man Syrien verlassen, so Trump noch Ende März. Mittlerweile kündigt er jedoch bei Twitter Raketenangriffe an. Derzeit haben die USA 2.000 Spezialkräfte und Ausbilder in Syrien im Einsatz zur Unterstützung der SDF. Ein schneller Abzug dieser Soldaten wäre aber nicht zuletzt ein Geschenk an den Iran - ausgerechnet. Denn die syrischen Kurden würde dies schwächen - und den Iran näher an sein Ziel bringen, eine durchgehende Landverbindung zwischen Teheran und dem Mittelmeer zu etablieren, was wiederum auch Israel unbedingt verhindern möchte. Kriegseintritt Russlands hat Assads Überleben gesichert Im vergangenen Dezember rief sich der russische Präsident Putin zum Sieger aus, bei einem Besuch auf dem Luftwaffenstützpunkt Hmeimim, der nun gewiss auf Dauer ein zweites militärisches Standbein der Russen in Syrien ist. "Das Militär erhielt die Aufgabe, bewaffnete Gruppen in Syrien zu bekämpfen, mithilfe großer militärischer Macht. Das wurde alles in allem erreicht, auf brillante Art und Weise. Ich beglückwünsche Sie." Syriens Präsident Baschar Al-Assad, Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu am 11. Dezember 2017 auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim in Syrien (picture alliance / Mikhail Klimentyev/TASS/dpa) Mit dem Kriegseintritt Russlands im September vor zweieinhalb Jahren war Assads Überleben gesichert. Von dem Moment an, an dem russische Jets über Syrien zu kreisen begannen, hätte eine machtvolle Unterstützung des US-Militärs für die Regierungsgegner sofort die Gefahr eines Kriegs des Westens mit Russland bedeutet. Erfolgreich hat Putin das Vakuum gefüllt, das die US-Politik der vergangenen Jahre im Nahen Osten geschaffen hatte. Die arabischen Unterstützer der syrischen Opposition haben sich eine blutige Nase geholt. Frankreich zieht "rote Linien" Der Preis für Assads Sieg ist hoch: Syrien liegt in weiten Teilen in Trümmern, das soziale Gewebe, die gesellschaftlichen Bande sind zerrissen, und Russland und der Iran werden das Land nicht wieder aufbauen. Syrien ist zu einem Bombodrom geworden, zu einem Land, in dem ausländische Mächte nach Belieben schalten und walten. Und wie es aussieht, wird Moskau Assad auch weiterhin davor bewahren, dass er für den überaus wahrscheinlichen Einsatz von Chemiewaffen bestraft werden kann. Zuletzt war es der französische Präsident Emmanuel Macron, der mehrfach erklären ließ: Wenn der syrischen Regierung der Einsatz von Chemiewaffen zweifelsfrei nachgewiesen werden könne, sei für ihn eine rote Linie überschritten. Dann werde Frankreich militärisch reagieren. Er wiederholte damit, was im August 2012 schon der damalige US-Präsident Barack Obama vor laufenden Kameras gesagt hatte:"Wir können keine Situation akzeptieren, bei der Chemiewaffen in die Hände der falschen Leute geraten. Wir sind sehr deutlich zum Assad-Regime, aber auch zu anderen Akteuren in der Region: Unsere rote Line ist, wenn Chemiewaffen eingesetzt werden. Das würde meine Kalkulationen ändern." Ein Jahr später hieß es von Obama: "Ich habe keine rote Linie gezogen!" Am 21. August 2013 starben mehr als 1.400 Menschen Was in der Zwischenzeit passiert war, ging in grausamen Bildern um die Welt: Fast auf den Tag genau ein Jahr nach Obamas Erklärung der roten Linie - am frühen Morgen des 21. August 2013 - schlugen in Ost-Ghouta bei Damaskus mehrere Boden-zu-Boden-Raketen ein. Ihre Ladung war tödlich. Eine UN-Untersuchung vor Ort wies später den Einsatz des Nervengases Sarin nach. Mehr als 1.400 Menschen starben. Es war der schlimmste Giftgasangriff seit Inkrafttreten der Chemiewaffenkonvention 1997. Beobachter nannten den Giftgasangriff von Ost-Ghouta später einen Test der Assad-Regierung, ob die USA zu ihrem Wort stehen – auch aufgrund des Timings, genau ein Jahr nach der Ankündigung Obamas. Doch die Reaktion der USA ließ auf sich warten. Der US-Journalist Jeffrey Goldberg, der die Vorgänge minutiös recherchiert hat: "Syrien war ein Krieg, in den Obama nicht hineingezogen werden wollte. Und als Assad dann Chemiewaffen einsetzte, da realisierte Obama, dass es jetzt an ihm war, zu reagieren - und da begann die Krise." Obama wollte Großbritannien dafür gewinnen, Syrien aus der Luft anzugreifen. Doch das britische Parlament lehnte eine Offensive ab - und auch der US-Kongress schien nicht mitziehen zu wollen. Am Tag, bevor der Luftangriff stattfinden sollte, zog Obama die Notbremse. USA und Russland handelten Chemiewaffen-Vernichtung aus Sehr zum Entsetzen auch seiner eigenen Leute, die nun die Glaubwürdigkeit des US-Präsidenten beschädigt sahen. Statt militärisch einzugreifen, handelte Washington mit den Russen aus, dass Assad all seine Chemiewaffen vernichten sollte. Medienwirksam wurden die deklarierten syrischen Bestände außer Landes gebracht. Über 50 Mal haben Aktivisten und Beobachter seit dieser offiziellen Chemiewaffen-Vernichtung 2013 Giftgas-Einsätze gemeldet. Mehrmals konnten später Experten der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen, OPCW, der Assad-Regierung den Einsatz von Giftgas nachweisen - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. So beispielsweise vor einem Jahr, im April 2017, mit mehr als 80 Toten in Chan Scheichun. Neben Assad wurde bislang nur einer anderen Kriegspartei im Syrienkrieg der Einsatz von Giftgas nachgewiesen – und das war der IS. Die syrische Regierung weist jedoch alle Schuld von sich. Russland betont ebenso immer wieder, Giftgaseinsätze seien bloß eine Erfindung - oder würden von den Aufständischen selbst durchgeführt. Das von den syrischen Weißhelmen veröffentlichte Bild zeigt den Angaben zufolge Opfer des mutmaßlichen Giftgasangriffs in Syrien. (dpa-Bildfunk / AP / Syrian Civil Defense White Helmets) Auch im jüngsten Fall, dem mutmaßlichen Giftgasangriff in der Stadt Duma, hatten Assad und Russland nahestehende Medien schon Tage zuvor darüber berichtet, dass ein Giftgasangriff der Aufständischen bevorstehe. Der syrische UN-Botschafter Bashar al Jaafari: "Drei türkische LKWs beladen mit Chlorgas sind nach Syrien gebracht worden. Unsere Informationen weisen darauf hin, dass die Terroristen einen Terrorangriff vorbereiten, bei dem sie weiträumig Chlorgas einsetzen werden, um es dann der syrischen Armee in die Schuhe zu schieben." OPCW: Kampfstoffe wohl aus den Beständen Assads Eine wahre Prognose - oder vielmehr die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf eine spätere Verteidigungslinie? Gegen die Theorie, der Giftgaseinsatz sei von den Aufständischen selbst durchgeführt worden, spricht unter anderem die Machbarkeit. Wie sollten die Substanzen in eine umlagerte Stadt gelangen? Und gerade Sarin ist ein äußerst schwer zu handhabender Kampfstoff - nichts für Hinterzimmer-Chemielabore. Dagegen konnten die OPCW-Experten beim Abgleich von Proben feststellen, dass die Kampfstoffe in Ost-Ghouta und Chan Scheichun aus den Beständen Assads kommen mussten. Auffällig ist auch beim jüngsten Fall das Datum: Der mutmaßliche Chemiewaffenangriff in Duma ereignete sich offenbar auf den Tag genau ein Jahr, nachdem US-Präsident Trump eine syrischen Militärbasis hatte angreifen lassen - am 7. April 2017, als einmalige Reaktion der USA auf den Chemiewaffenangriff in Chan Scheichun. Eine unmittelbare Botschaft an Trump, eine direkte Provokation der USA? Als sich mit Frankreichs Staatspräsidenten Macron nun ein weiterer Akteur in Stellung brachte, der rote Linien zog, vermuteten Beobachter, dass Assad das tun werde, was er auch bei Trump und Obama getan hat: Testen, wie belastbar die rote Linie ist. Zum Leid der Zivilisten. Frankreich: Entscheidung in den nächsten Tagen Am Dienstagabend sagte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron auf einer Pressekonferenz mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman in Paris: "Wir haben Informationen erhalten, die zum großen Teil aus allgemein zugänglichen Quellen stammen: Nicht-Regierungsorganisationen haben gezeigt, dass bei dem Angriff chemische Waffen benutzt wurden. Wir werden den technischen und strategischen Informationsaustausch mit unseren Partnern fortsetzen - vor allem mit den Briten und den Amerikanern - und werden in den nächsten Tagen unsere Entscheidung mitteilen." "Informationen, die zum großen Teil aus allgemein zugänglichen Quellen stammen" – woher stammen die anderen? Geheimdienstkreise, sicher: Niemand wird solche Quellen offenlegen. Doch wie kommt es, dass seit Jahren schon der Eindruck besteht, dass Frankreich, was Syrien angeht, immer etwas besser informiert ist als - zum Beispiel - Deutschland? 1946 verließen die letzten französischen Truppen Syrien Antworten darauf sind in der gemeinsamen Geschichte zu finden. Schon in 19. Jahrhundert war Frankreich wirtschaftlich eng mit dem damaligen Osmanischen Reich verbunden. Nach dessen Zusammenbruch einigte sich Frankreich in geheimer Diplomatie mit Großbritannien über eine Aufteilung der Interessenssphären. Von den Großmächten bestätigt, vom Völkerbund abgesegnet, wurden die libanesischen und syrischen Gebiete 1920 französischem Mandat unterstellt. Noch im 2. Weltkrieg war Syrien französisch - unter der Regierung des Vichy-Regimes: Im besetzten Mutterland Frankreich würdigte die Wochenschau 1941 die heldenhaften Kämpfe französischer Truppen in Damaskus. Von den arabischen Völkern wurde das französische Mandat als Kolonialisierung empfunden. Denn die Franzosen hatten vor allem ihre bestehenden Privilegien verlängert, sie investierten in Handel, Infrastruktur und in die Ausbeutung natürlicher Rohstoffe, während zwei Drittel der Bauern als Pächter von den Großgrundbesitzern abhängig blieben. Erst 1946 verließen die letzten französischen Truppen das Land, Syrien wurde unabhängige Republik. Doch gute Wirtschaftskontakte blieben bestehen, ein Teil der syrischen Elite spricht noch heute Französisch. Unter Präsident Sarkozy erlebte das französisch-syrische Verhältnis eine Blütezeit: Ihm galt Bashar Al Assad als Hoffnungsträger der arabischen Welt, er lud ihn 2008 zur Parade am Nationalfeiertag nach Paris ein. Macron hat eine umfassende Nahost-Strategie entwickelt Die von Sarkozy intensivierten diplomatischen Beziehungen brach Präsident Francois Hollande angesichts des Syrienkrieges wieder ab. Ebenso die Geheimdienstkontakte - ein großes Problem, da Syrien immer mehr zum Rückzugsort islamistischer Terroristen wurde. Präsident Macron hat nun besondere Kontakte zu den kämpfenden Kurden aufgebaut. Er bot sich als Vermittler zur Türkei an, er telefoniert regelmäßig mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, hat eine umfassende Nahost-Strategie entwickelt. Und auch Geheimdienstkontakte nach Syrien dürfte Macron wieder haben - zu verdanken einem Mann, der seit vielen Jahren in der gesamten Region bestens vernetzt ist: Außenminister Jean-Yves Le Drian. Nicht zuletzt aufgrund seiner Kontakte nach Syrien, so hört man in Paris, habe man im Krieg gegen den "Islamischen Staat" relativ konkret gewusst, wo und wie die Milizen am besten zu bekämpfen sind. Gut möglich, dass Macron sich aufgrund Le Drians besonderen Kenntnissen eher als andere befugt fühlt, auch nun - wahrscheinlich an der Seite der USA - in Syrien einzugreifen.
Von Jürgen König, Carsten Kühntopp und Anna Osius
Erneut droht die Situation in Syrien zu eskalieren. Das Land ist zum Austragungsort für strategische Interessen geworden, in das ausländische Mächte eingreifen. Eine Politik der roten Linien hat dazu geführt, dass nun auch Frankreich an der Seite der USA das Assad-Regime angreifen könnte.
"2018-04-11T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:22.310000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schachbrett-syrien-geopolitik-zulasten-eines-volkes-100.html
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Gewappnet für den Brexit
Deutsche, die in Großbritannien eine zweite Staatsbürgerschaft beantragten, brauchten bisher eine sogenannte "Beibehaltungsgenehmigung" (dpa/Frank Rumpenhorst) "Der Brexit war schon der ausschlaggebende Punkt für die zweite Staatsbürgerschaft." "Ich glaube auch, dass dadurch, dass Deutschland gemeint hat, dass nach dem Brexit mit England keine doppelte Staatsbürgerschaft mehr möglich sein wird." Eike und Susanne, zwei Kinder, wohnen im Londoner Stadtteil Richmond. Susanne arbeitet als Architektin und Eike - auch Architekt - ist als Berater einer britischen Firma für Projekte in Deutschland zuständig. Alles unkompliziert. Bis der Brexit kam: das Referendum im Sommer 2016. Die Frage, ob sie ohne Weiteres im Vereinigten Königreich bleiben können, hatte sich sehr schnell geklärt: ja. Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal "Countdown zum Brexit" (AFP / Tolga Akmen) Die Unsicherheit war da Aber das war den beiden nicht genug: "Es geht einerseits um Sicherheit, weil man nicht genau weiß, was hier passieren wird, wenn man das Land mal verlassen möchte. Und sich dann entschließt zurückzukehren. Zum andern geht es auch darum, dass man in dem Land wählen kann und die politische Zukunft mit definieren kann." Deutsche, die eine zweite Staatsbürgerschaft beantragen, brauchen eine sogenannte "Beibehaltungsgenehmigung", damit die alte, die deutsche Staatsbürgerschaft beibehalten wird. Und genau darüber hatte der Deutsche Bundestag im Januar noch entschieden, dass Deutsche, die bis 31. Dezember 2020, einen Antrag auf Einbürgerung im Vereinigten Königreich gestellt haben, ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verlieren. Das, im Fall eines geregelten EU-Austritts. Bei einem No-Deal-Brexit haben alle, die bisher den Antrag noch nicht gestellt haben, kaum noch Chancen auf den zweiten Pass, in absehbarer Zeit. Denn Britin oder Brite werden ist nicht so einfach. "Man muss also erst die Permanent Residency Card beantragen. Sobald man dann ein Jahr lang Permanent Residency gehalten hat, dann kann man die Staatsbürgerschaft beantragen. "Da wir schon sehr lange in Großbritannien gewohnt haben, mussten wir nicht warten, sondern konnten direkt die Tests beantragen." Schneller durch den Zoll Ein Test über das Leben im Vereinigten Königreich und ein Sprachtest. "Beim ‚Live in the UK‘-Test herrschen recht hohe Sicherheitsvorkehrungen. Es wird geschaut, dass man keine Mikrofone irgendwo versteckt hat, keine Lautsprecher versteckt hat, die Uhr muss abgelegt werden, Telefone müssen abgelegt werden und zusätzlich ist das Ganze noch videoüberwacht." Und das alles, nur um auf jeden Fall gewappnet zu sein, ob für den Theresa-May-Deal-Brexit oder den No-Deal-Brexit. Aber für eines sind die zwei Pässe in jedem Fall gut: "Das hoffe ich mal, dass es an der Grenze schneller geht. Auf jeden Fall kann ich mich in Europa an der EU-Schlange anstellen und in England an der UK-Schlange anstehen und entsprechend schneller durch den Zoll kommen."
Von Ralph Günther
Mit deutschem Pass in Großbritannien leben auch nach dem Brexit? Für den geregelten Austritt Großbritanniens hat Deutschland bereits Vorkehrungen getroffen. Für den No-Deal-Brexit besteht weiter Unsicherheit. Ein deutsches Paar in London lässt sich deshalb sicherheitshalber dort einbürgern.
"2019-03-06T05:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:40:53.555000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-in-grossbritannien-gewappnet-fuer-den-brexit-100.html
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Eine App für faire Mode
Studierende der Akademie für Mode und Design in Düsseldorf wollen mit einem Einkaufsführer für faire Mode ein Zeichen setzen. (picture alliance / dpa / Inga Kje) Verkäuferin: " Ja, die steht tatsächlich auch total auf bunte Socken. Kannste gerne mal ein bisschen gucken. Oder halt Gürtel ..." Faire Mode verkauft sich gut in Köln. Neben zahlreichen Designern setzen auch immer mehr Boutiquen-Inhaber auf ökofaire Ware. Marlies Binder war eine der ersten. "Die Nachfrage in den letzten fünf Jahren ist auf jeden Fall gewachsen. Das liegt einmal daran, dass natürlich dieses Thema in der Öffentlichkeit mehr Raum gefunden hat. Gerade eben seit dem tragischen Riesen-Unglück in Bangladesch. Andererseits auch weil einfach das Angebot so vielfältig geworden ist." Durch den Einsturz eines Fabrikgebäudes in Bangladesch vor drei Jahren sind Sicherheitsmängel, unfaire Arbeitsbedingungen, Menschenrechtsverletzungen und ökologische Missstände in der Modeindustrie am Pranger. Marlies Binders Kunden kommen gezielt – aus umliegenden Städten wie Aachen oder Siegburg. Sogar Stammkundschaft aus Holland und Belgien kommt in ihr Geschäft. Aber nicht alle kaufen ausschließlich faire Mode." "Ich versuch's. Es ist natürlich manchmal auch eine Preisfrage. Oder auch eine: Ich muss gezielt hingehen und was finden, für die Arbeit zum Beispiel schickere Klamotten. Am Ende ist es ein sich aufraffen und es tun – und da bin ich bestimmt nicht so konsequent, dass ich es immer wieder mache. Man findet auch viel online. Wenn man möchte, ist es eigentlich gar nicht so schwer." Studierende des Fachbereichs Design an der Akademie für Mode und Design in Düsseldorf wollen mit einem Einkaufsführer für faire Mode in Köln ein Zeichen setzen. Hippe Modefotos und Hintergrundberichte zum Thema wollen sie in einer App bündeln. Für viele der angehenden Designer ein völlig neues Pflaster: "Ich hab mir auch ehrlich gesagt vorher nicht so viele Gedanken gemacht, weil ich auch super viele Vorurteile ehrlich gesagt hatte. Dass es nicht so modisch ist." Miriam Rhazi ist 19 und möchte später im Online-Handel der Modeindustrie arbeiten. Sie war in vielen Kölner Läden, die nachhaltige Mode im Sortiment haben, unterwegs. "Da waren super modische Teile, sehr schöne Sachen. Auch nicht so teuer, wie ich es eigentlich immer erwartet hätte von ökofairer Mode. So'n T-Shirt 20 bis 30 Euro." Per Fragebogen haben die Studierenden die Inhaber der meisten kleinen Modegeschäfte in Köln zu ihrem Angebot an ökofairer Mode, zu Marken und Siegeln befragt. Manche wollten nicht einmal mit den Studenten sprechen. Andere hatten Vorurteile, berichtet Studentin Martina Karrasch. "Das ist teuer, das können wir uns nicht leisten. Das Interesse ist nicht da, haben wir oft gehört – dabei wissen wir eigentlich, dass Interesse kommt." Von den teils topmodernen Kleidungsstücken war Martina Karrasch selbst überrascht. "Ist noch sehr viel Street Wear und Casual wear, die fair gehandelt wird. Aber wir haben auch ein paar Labels, die wirklich modisch sind und in die Businnessrichtung gehen." "…soll einfach nach und nach auch ein politischer Druck aufgebaut werden" Die Preise sind vergleichbar mit denen für konventionelle Markenware. Die Studierenden sind gerade mit ihren Recherchen fertig geworden. Jetzt wird der Verein FEMNET, der sich für bessere Produktionsbedingungen in der Modeindustrie einsetzt, zusätzlich die großen Modeketten befragen. Der Verein hat das Projekt zusammen mit der Akademie für Mode und Design ins Leben gerufen. Annika Cornelissen von FEMNET e.V. ist selbst ausgebildete Mode-Designerin und betreut das Projekt. "Durch die Befragung soll einfach nach und nach auch ein politischer Druck aufgebaut werden auf große Unternehmen, die immer wieder preisen, dass sie sich engagieren. Und dann aber in unserem Führer nur zu einem ganz kleinen Prozentsatz auftauchen oder eben gar nicht." Elisabeth Hackspiel ist Professorin für Modetheorie und Modegeschichte an der AMD Akademie. Sie behandelt das Thema Nachhaltigkeit bereits seit Jahren in ihren Vorlesungen. "Das bewegt die jungen Menschen schon. Es gibt eigentlich keine Modefirma mehr, die sich nicht mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen kann. Firmen wie H & M oder C & A haben ja veröffentlicht, dass sie in Zukunft fast ausschließlich Biobaumwolle verwenden wollen. Das sind schon sehr heftige Statements – schauen wir mal, wie sie es umsetzen." Was genau ökofaire Mode ausmacht, versuchen die Projektleiter durch vorgeschriebene Standards zu definieren. "Uns war wichtig, dass die Kleidung unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt ist und dass die Textilien selber gesundheitlich unbedenklich sind. Und dass man auch nachvollziehen kann, wo diese Kleidung von wem hergestellt worden ist." Die Kunden wissen solche Transparenz zu schätzen, die Nachfrage scheint zu wachsen. Marlies Binder beobachtet eine für sie positive Entwicklung. "Das ist einfach in der Mitte angekommen. Ich hab' ganz viele junge Kunden, die gerade ihr Studium fertig haben. Ärzte, Rechtsanwälte, die sich einfach Gedanken machen." Prof. Dr. Elisabeth Hackspiel treibt auch ein persönlicher Wunsch an. "Wir bilden hier junge Leute aus, die später Führungspositionen haben werden, im Modemanagement oder im Modedesign. Da sehe ich das als meine Verantwortung an, dass sie sich mit diesen Themen auseinandersetzen und auch ihre eigene Verantwortung erkennen." "Ich habe super viel aus dem Projekt mitgenommen. Ich weiß jetzt, man kann ökofaire Mode privat tragen. Man kann damit auch Erfolg haben in der Modebranche." "Unser Fazit ist: es wird eine Basis werden. Das denke ich auch für meinen Werdegang – dass ich auch in dem Bereich bei einem Label anfange und da sehr viel Potenzial sehe." Der Öko-Modeführer "Buy Good Stuff" ist für die Städte Düsseldorf und Bonn fertig und kostenlos online verfügbar. Am Kölner Shopping Guide wird noch gefeilt, das Endprodukt wird voraussichtlich im September veröffentlicht. Alle Infos gibt es unter: http://www.amdnet.de
Von Julia Batist
Faire Mode – das sind doch diese weiten Leinenteile, nicht gerade trendy, farblos und mit Öko-Touch. Klischees wie diese halten sich hartnäckig. Damit wollen angehende Designer aus Düsseldorf jetzt aufräumen. Wie breit gefächert das Angebot wirklich ist, zeigen sie den Verbrauchern übersichtlich in einer App.
"2016-06-28T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:38:04.327000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nachhaltigkeit-eine-app-fuer-faire-mode-100.html
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Heimspiel für Putin
Wladimir Putin bei Gesprächen zur Vorbereitung der Fußball-WM in Russland (AFP PHOTO / SPUTNIK) Der Kremlpalast im Herzen Moskaus. Staatschefs der Sowjetunion haben hier, wie Michail Gorbatschow, die Lebendigkeit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beschworen; inzwischen zieht der längst sanierte Saal tausende Besucher zu Konzerten an. Und heute Nachmittag schauen hier viele hundert Gäste, voraussichtlich der russische Präsident und angereiste frühere Weltmeister wie Diego Maradona, Laurent Blanc und Miroslav Klose auf die Lostöpfe. Die Auslosung soll nach 16 Uhr deutscher Zeit beginnen. Währenddessen laufen die Vorbereitungen auf das Turnier in den elf Austragungsstädten Russlands - teilweise wird Tag und Nacht gebaut. "Natürlich ist die wichtigste Frage heute: die Fertigstellung der WM-Bauten. Verzögerungen bei den Vorbereitungen auf die Weltmeisterschaft sind inakzeptabel", erklärte Wladimir Putin Anfang Oktober in Moskau mit strengem Blick und auf den Tisch klopfend im Kreis derjenigen, die für die Bauarbeiten verantwortlich sind. Er fuhr fort: "Im Allgemeinen geht es zufriedenstellend voran, aber es gibt manche Verzögerungen. Sie sind nicht kritisch. Aber ich habe es oft gesagt und würde es heute gern wiederholen: Wenn nicht auch das letzte Teil an seinem Platz ist, bedeutet dies, dass wir nicht alles rechtzeitig erledigt haben. Wenn wir uns zurücklehnen, werden wir unsere Aufgaben nicht bewältigen. Außerdem werden Stadien und Anlagen nur dann eröffnet werden können, wenn die Umgebung stimmt. Es darf dort kein Geröll, keine Pfützen und keinen Bauschutt mehr geben. Alles muss so vorbereitet werden, dass es für die Leute komfortabel und angenehm ist." Ärger mit dem Bauunternehmer Bei dem Treffen wurden Fortschrittszahlen genannt: In Jekaterinburg im Ural seien 85 Prozent der Arbeiten erledigt, in Kaliningrad an der Ostsee auch mehr als 80 Prozent, aber der nasse Untergrund des Stadions bereite Schwierigkeiten – und aus Samara wurde Ärger mit dem Bauunternehmer gemeldet; dort fallen Bauplan und -realität zurzeit auseinander. Fertig gestellt sind die vier Stadien, die schon beim Konföderations-Cup in diesem Sommer in Sotschi, Kasan, Sankt Petersburg und in Moskau bespielt wurden. Vor Kurzem bestand außerdem das Stadion Luschniki in Moskau sein erstes Testspiel, die russische Mannschaft allerdings unterlag Argentinien mit 0 zu 1. Im Sommer finden in Luschniki das Eröffnungs- und Finalspiel statt. Nach dem Spiel gab es Probleme damit, die Fans nach dem Abpfiff zügig zur Metro oder S-Bahn zu geleiten. Das Gedränge war groß. Die Behörden versprachen Besserung. Währenddessen werden bereits Berechnungen für die Zeit nach der WM angestellt. Anton Alichanow, Gouverneur Kaliningrads, wandte sich bittend an Präsident Putin, damit die Russische Föderation uns einige Jahre lang hilft und subventioniert, die Ausgaben für den Unterhalt der Infrastruktur zu bestreiten, bis wir die Stadien effektiv nutzen können. Zum Beispiel wird es in Kaliningrad, wo es keinen Klub gibt, der in der ersten russischen Fußball-Liga spielt, schwierig werden, das Stadion mit 35.000 Sitzplätzen zu nutzen." Urinproben - im Ausland untersucht Ähnliche Prognosen gibt es unter anderem für Rostow am Don, Wolgograd oder Saransk – Fußball zieht im russischen Ligabetrieb nur selten Zehntausende in die Stadien. Drängender als diese Fragen sind aber zurzeit die Vorwürfe, vor der WM in Brasilien sei im russischen Fußball mit Wissen offizieller Stellen gedopt worden. Das will der frühere Chef eines russischen Anti-Doping-Labors, Grigorij Rodtschenkow, belegen können. Moskau widersprach, zuletzt gestern Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, der eine Kampagne gegen Russland sieht: "Das ist Politik. Wir werden uns in allen Organisationen dagegen wenden. Aber es muss uns einfach klar sein, dass es in all dem in der Hauptsache nicht um den Sport geht." Russland verfügt zurzeit über kein international anerkanntes Dopinglabor. Urin-Proben, auch während der WM, werden voraussichtlich im Ausland untersucht.
Von Thielko Grieß
Mit der Auslosung der Gruppen für die Fußball-WM 2018 beginnt für Russland der Endspurt für die Vorbereitungen auf das Prestige-Event. Knapp 200 Tage bleiben dem WM-Gastgeber noch, seine Stadien fertigzustellen. Nicht mehr ausräumen können wird das Land bis dahin die Dopingvorwürfe gegen sein Team.
"2017-12-01T05:05:00+01:00"
"2020-01-28T11:03:12.204000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-der-auslosung-zur-fussball-wm-heimspiel-fuer-putin-100.html
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Rohani braucht den Verhandlungserfolg
Vieles, was der Präsident versprochen hatte, konnte Rohani in seinem ersten Amtsjahr nur bedingt umsetzen. (AFP - ATTA KENARE) Der seit zehn Jahren währende Streit um das iranische Atomprogramm hat die Islamische Republik mächtig viel Geld gekostet. Rund 120 Milliarden Dollar liegen eingefroren auf ausländischen Konten; jährlich verliert der Iran knapp 44 Milliarden Dollar durch Öl-Embargo und Handelssanktionen. Nicht zuletzt deshalb strebt Präsident Rohani ein Ende des Konfliktes an. Repräsentative Umfragen gibt es nicht, doch die Mehrheit der Bevölkerung scheint ein Ende der Sanktionen und der Isolation Irans herbeizusehnen. Zum Bespiel der Händler Amir Hossein. Er pendelt zwischen der iranischen Insel Kish und Dubai: "Das Leben ist wirklich schwer. Überall stoßen wir auf Sanktionen. Reis zum Beispiel hat noch vor kurzem 12.000 Rial das Kilo gekostet. Heute sind es 60.000." Von umgerechnet 30 Cent auf 1,5 Euro. Die Lebenshaltungskosten sind seit der Eskalation im Atomstreit deutlich gestiegen. Mit Präsident Rohanis neuem Politikstil habe sich die Stimmung geändert, stellt der Seemann Alireza fest: "Es ist etwas besser geworden. Früher haben wir lange gebraucht, bis unsere 200 Tonnen fassende Barkasse voll war. Jetzt ist sie nach drei Tagen beladen." Hassan Rohani braucht den Verhandlungserfolg, will er das Land weiter öffnen und wirtschaftlich voranbringen. Nicht jeder im Land, räumt der 65-Jährige ein, sei mit dem erhofften Abbau der Sanktionen einverstanden: "Es gibt eine kleine Minderheit, die darüber sehr zornig ist, weil sie dabei etwas zu verlieren haben. Die haben bedauerlicherweise die Sanktionen ausgenutzt und einige Versuche, die Regierung madig zu machen, haben darin ihren Ursprung." Rohani hat bei vielen Iranern seinen Kredit verspielt Viele Knüppel sind dem Präsidenten in den vergangenen Monaten von konservativen Hardlinern zwischen die Beine geworfen worden. Vieles, was er an Reformen auf den Weg bringen wollte, musste er zurückstellen. Der Händler Rostam auf der Golfinsel Kish hält das System als Ganzes für erstarrt und unbeweglich. Auch Hassan Rohani genießt bei ihm keinen Kredit mehr: "Wir setzen keine Hoffnung mehr auf diesen Herrn. Was Herr Rohani versprochen hat, hat er nicht eingelöst. Die Leute rechnen mit keiner positiven Überraschung mehr." Roozbeh Alibabadi sieht das anders. Er organisiert auf Kish die gerade laufende Luftfahrt-Ausstellung: "Mehr ausländische Firmen denn je nehmen diesmal teil. Unsere Beziehungen zur internationalen Luftfahrtindustrie sind sehr intensiviert worden. Ich glaube, diese Entwicklung in unserer Wirtschaft kann nicht gestoppt werden. Sie steht über den politischen Entwicklungen." Wahrscheinlich ist es für eine derart gewagte Aussage noch viel zu früh. Täglich melden sich im Iran konservative Kräfte zu Wort, die Verrat wittern. Für Hassan Rohani wäre ein guter Abschluss die politische Überlebensgarantie - falls Revolutionsführer Ali Khamenei, der wirklich starke Mann Irans, sie denn auch absegnet.
Von Reinhard Baumgarten
Der seit zehn Jahren währende Streit um das Atomprogramm hat den Iran viel Geld gekostet. Das Land verliert knapp 44 Milliarden Dollar durch Öl-Embargo und Handelssanktionen. Nicht zuletzt deshalb strebt Präsident Rohani ein Ende des Konfliktes an. Seine Ziele: das Land weiter öffnen und wirtschaftlich voranbringen.
"2014-11-21T13:22:00+01:00"
"2020-01-31T14:14:53.355000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atomgespraeche-mit-dem-iran-rohani-braucht-den-100.html
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Beobachtermission ausgesetzt
Julia Timoschenko macht ihre Ohnmacht fast rasend. In ihrem Land wird in drei Wochen ein neues Parlament gewählt und ihr sind die Hände gebunden. Aber sie wäre nicht die, als die sie bekannt ist, wenn sie nicht gegen alle Hindernisse ankämpfte. Jetzt hat sie sich mit einem Video an die Öffentlichkeit gewandt. Aus der Charkower Klinik heraus, gegen den Widerstand eines Wärters. Er versucht während ihres gesamten Appells die Aufnahme zu stören, verdeckt mit seiner Hand fast vollständig das Bild, redet auf sie ein, sie solle aufhören, Timoschenko ist nicht zu stoppen. Blass, mit langem blondem Zopf, und offenbar in besserem Gesundheitszustand, zumindest verglichen mit den Fotos aus dem Gefängnis, wirkt sie aufgebracht und aufgeregt. Eindringlich wendet sie sich an ihre Landsleute, dass die Ukraine heute im Schatten einer von Kriminellen ausgeübten Macht lebe, sie selbst erfahre das am eigenen Leibe. Für die Regierung Janukowitsch hätten Menschenrechte keinerlei Bedeutung. "Ich möchte alle warnen: Wenn ihr nicht versteht, mit wem ihr es an der Regierung zu tun habt, dann wird euch nichts vor ihnen schützen." Auch wenn es Timoschenko, abgeschirmt im Krankenhaus, so vorkommen mag: Die Welt hat sie nicht vergessen. In Brüssel und auch in Warschau musste man sich ihres Schicksals nicht erst erinnern, Aleksandr Kwasniewski, bis 2005 zehn Jahre lang polnischer Präsident, steht weiter als Prozessbeobachter der Verfahren gegen Julia Timoschenko zur Verfügung. An seiner Seite der Ire Pat Cox, ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Parlaments.Der amtierende polnische Präsident Broniswaw Komorowski und auch Kwasniewski treffen sich regelmäßig mit Viktor Janukowitsch in Kiew. Obwohl der ukrainische Präsident außer Julia Timoschenko noch weitere Minister ihres früheren Kabinetts hinter Gitter gebracht hat. Für seine polnischen Amtskollegen immer noch nicht Grund genug, Janukowitsch oder die Ukraine zu meiden.Selbst eine Isolierung von Weißrussland kommt für Polen nicht in Frage, auch wenn das im Westen der europäischen Union verwundern mag. Polen hält fest an der Östlichen Partnerschaft, weil sie als ein Weg erscheint, ein Gegengewicht zu Russland aufzubauen. Alles, was zusätzliche Masse in die Waagschale der EU wirft, ist von Vorteil und damit zu begrüßen. Eine Auffassung, die in Warschau durchaus kontrovers diskutiert wird und demzufolge Fragen aufwirft. Timoschenko gilt in Polen nicht ausschließlich als rundum bedauernswertes Opfer, Kwasniewski äußert sich entsprechend zurückhaltend:"Die Vorwürfe gegen Timoschenko haben gewisse Grundlagen, sie sind nicht nur erfunden. Wobei die wegen des Gasgeschäfts mit Russlands noch am zweifelhaftesten sind, denn hier geht es um politische Verantwortung."Und daraus einen Straftatbestand zu machen, ist kaum möglich, könnte das Ganze wohl etwas direkter formuliert lauten. Kwasniewski, der die beiden Politiker seit Langem kennt, verweist auf deren persönlich vergiftetes Verhältnis:"Das bewegt sich auf der psychologischen Ebene. Das sind Leute, die seit vielen Jahren in der Politik tätig sind und sich regelrecht hassen. Ihre Argumente, Vorwürfe sind oft sehr persönlich, überwiegen die sachlichen, die tatsächlich mit Politik oder Recht zu tun haben."Die Timoschenko-Beobachtermission der EU ist keineswegs nur Salbe für die Seele. Kwasniewski und Cox verweisen darauf, dass die Ex-Premierministerin, die zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, wegen ihres Rückenleidens immerhin im Krankenhaus behandelt wird und nicht in Haft. Und Kwasniewski verzeichnet einen anderen handfesten Erfolg."Eines der inhaftierten Kabinettsmitglieder, das inzwischen freigelassen wurde, ist der ehemalige Verteidigungsminister Waszczenko. Und wir hoffen, dass nach den Wahlen endlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein wird, dass ein Ausweg aus dieser problematischen Situation gefunden wird." Kwasniewski erklärt die Härte von Präsident Janukowitsch. Dem hätte die langjährige Gegnerin, die 2004 aller Welt dessen Wahlfälschung vorführte, doch schon wieder gefährlich werden können. Janukowitschs Partei der Regionen und Timoschenkos Partei seien vor einige Monaten in Umfragen gleichauf gewesen, was der Präsident vor der Parlamentswahl nicht gebrauchen konnte. Die Demokratie in der Ukraine sei schwach, und leider viel zu viel Geld im Spiel, so Kwasniewski.
Von Sabine Adler
Ende Oktober wird in der Ukraine ein neues Parlament gewählt. Für die Zeit des Wahlkampfs hat die EU das Mandat der Timoschenko-Beobachtermission ausgesetzt. Damit mochte sich die inhaftierte Politikerin nicht abfinden. Eindringlich wandte sie sich jetzt in einem Video an ihre Landsleute.
"2012-10-10T09:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:28:37.332000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beobachtermission-ausgesetzt-100.html
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Welche Seuche springt als nächste über?
Durch sogenannte Impfplattformen könnte bei Virus-Epidemien schneller ein adäquater Impfstoff zur Verfügung stehen (picture-alliance / dpa / Julian Stratenschulte) Billigflüge rund um den Globus, intensive Tierhaltung, Zerstörung der Ökosysteme, all das zusammen bringt immer wieder Viren aus dem Dschungel in die Großstadt. Sie fallen erst auf, wenn sich die Krankenhäuser füllen. Bis die Ursache gefunden ist, vergeht noch einmal Zeit. Aber dann läuft die internationale Gesundheitsmaschinerie an, versucht die Kranken zu behandeln und ihre Kontaktpersonen zu isolieren. Parallel arbeiten Forscher an Schnelltests und an Impfstoffen - doch das braucht Zeit. Ebola ist für Ab Osterhaus ein gutes Beispiel: "Wenn wir jetzt die Impfstoffe haben, brauchen wir die eigentlich nicht mehr. Wir haben mehr als zehn Impfstoffe gegen Ebola. Jetzt aber gibt es noch sehr viele andere Krankheiten, die auch explodieren können wie Ebola." Das weiß der Virologe vom Forschungszentrum für neu entstehende Infektionen und Zoonosen in Hannover nur zu genau. Er selbst hat Dutzende von Viren in Tieren isoliert und charakterisiert und für einige für den Menschen wichtigen Krankheiten selbst Impfstoffe mitentwickelt. Doch diese Impfstoffe können im Grunde immer erst beim nächsten Ausbruch eingesetzt werden, und für den ist dann wieder ein neues Virus verantwortlich - ein Hase-und-Igel-Wettlauf. Deshalb schlagen Ab Osterhaus und andere Forscher vor, mit der Impfstoffentwicklung nicht zu warten, bis es wirklich zu einem Ausbruch kommt: "Also was wir machen sollten ist wirklich in Friedenszeiten sich vorbereiten auf all diese verschiedenen Krankheiten." Das heißt jetzt nicht, dass man für jeden Erreger, der in Borneo eine Fledermaus befällt oder Vögel in Südamerika einen eigenen Impfstoff auf Vorrat produziert. Stattdessen sollte man für die großen Virengruppen Plattformen vorbereiten, mit deren Hilfe sich rasch Impfstoffe für Erreger gewinnen lassen, die konkret für Probleme sorgen. Dass so etwas im Prinzip möglich ist, zeigt die altbekannte Grippeimpfung: "Jedes Jahr brauchen wir einen neuen Impfstoff für Influenza und da haben wir ein System entwickelt, um das zu tun. So könnten wir das zum Beispiel für alle Flavivieren machen. Falviveriren sind Viren, die Gelbfieber verursachen. Aber auch Zika, Dengue, die sind alle in derselben Gruppe. Man könnte also einen Impfstoff gegen Viren aus dieser Gruppe machen. Das ist es was wir in einem Europäischen Programm zusammen mit der Industrie machen wir das - um da Prinzipen zu machen um Impfen zu können." Baukastenimpfstoffe lösen in der Regel eine schwächere Immunantwort aus als spezifische Impfstoffe Mit 20 Millionen Euro, je zur Hälfte aus EU- und aus Industriegeldern, sollen Impfplattformen für drei Virengruppen erforscht werden. Die einzelnen Viren einer solchen Gruppe verfolgen oft ähnliche Strategien, nutzen vergleichbare Wege, um in den Körper zu gelangen. Hier bieten sich Ansatzpunkte für einen Impfstoff, die von einem Virus auf den anderen übertragen werden können. Die Basis bildet ein eigentlich harmloses Trägervirus, etwa das Vaccinavirus, das schon in der Pockenschutzimpfung erfolgreich eingesetzt wurde. In diese Trägerviren werden dann Bruchstücke des neuartigen Virus eingebaut, die eine spezifische Immunantwort auslösen sollen. Stephan Ludwig: "Also das ist ein sehr attraktiver Gedanke, so vorzugehen. Da kann man eben die Studien im Menschen schon sehr weit fortführen und dann hinterher einfach nur quasi das Oberflächen-Protein der Wahl einsetzen, was dann eben durch das zirkulierende Virus dargestellt wird. Und so kommt man sehr, sehr schnell zu einem Impfstoff." Das ist der große Vorteil eines solchen Baukastenimpfstoffs. Aber Stephan Ludwig vom Institut für molekulare Virologie der Universität Münster sieht ein Problem: Diese gentechnisch hergestellten sogenannten rekombinanten Impfstoffe lösen meist keine besonders starke Immunantwort aus: "Das Gute ist hier, dass - wenn man dann mit einem spezifischen Impfstoff hineingeht - im Nachhinein, dass dann der Schutz sehr viel stärker ist. Also man kann schneller so eine primäre Impfung über diese rekombinante Impfstoff-Plattform machen und dann mit spezifischen Impfstoffen später noch einmal reingehen und einen sogenannten Boost-Effekt der Impfung erhalten und da dann einen stärkeren Schutz." Impfstoff gegen Coronaviren wird erprobt Das Prinzip der Impfplattform haben Ab Osterhaus und seine Kooperationspartner für die Coronaviren erprobt, zu denen etwa die SARS- oder MERS-Viren gehören. MERS-Viren vermehren sich normalerweise in Kamelen, gelegentlich sorgen sie aber auch für Ausbrüche beim Menschen: "Und dann haben wir so eine Impfstoff gemacht. Wir haben das ausgetestet bei Dromedaren, wir haben die wirklich nachgewiesen, dass die wirklich gut geschützt sind. Und jetzt haben wir den Impfstoff. Wir wissen jetzt, wie wir einen Impfstoff gegen Coronaviren ziemlich schnell machen können." Ob der MERS-Impfstoff auch Menschen schützt, wird gerade erprobt. Dieses Virus löst immer wieder kleinere Epidemien aus, und das auch weit weg von seinem Ursprungsgebiet auf der arabischen Halbinsel. 2015 steckte ein einzelner erkrankter Reisender 185 Personen in Korea an. 36 starben. Die meisten von ihnen gehörten zu den Ärzten und Krankenschwestern, die die Patienten versorgten. In einer ähnlichen Situation könnte in Zukunft die Impfung des medizinischen Personals den Ausbrauche wohl deutlich früher eindämmen. Weltgesundheitsorganisation reagiert heute deutlich schneller auf Infektionsmeldungen Für Ab Osterhaus ist aber vor allem entscheidend, dass das Prinzip der Impfplattform für die Coronaviren nun etabliert ist. Wenn ein weiterer Erreger aus dieser Gruppe Probleme bereitet, dann sollte es möglich sein, rechtzeitig einen Impfstoff zu produzieren, um zu helfen, den Ausbruch einzudämmen. Entscheidend ist natürlich, dass problematische Viren schnell entdeckt werden, Und auch da hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Osterhaus: "Die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, die haben jetzt so ein System entwickelt, wo diese Surveillance, wo das gemacht wird. Und auch wenn es nur Gerüchte gibt über Sterblichkeit bei Tieren oder Menschen oder ernsthafte Probleme, dann wird das rapportiert. Und unmittelbar wird eine Gruppe da hingehen, wenn es wirklich seriös ist, um zu gucken gibt es das." Wenn es sich tatsächlich um einen neuen Ausbruch handelt, dann liegt es an den Politikern vor Ort und weltweit, die neuen Möglichkeiten der Wissenschaft auch tatsächlich einzusetzen.
Von Volkart Wildermuth
HIV, SARS, Schweinegrippe, MERS, Ebola, Zika. Immer wieder greifen neue Viren auf die menschliche Bevölkerung über. Oft handelt es sich um Erkrankungen, die ursprünglich nur bei Tieren vorkamen. Deshalb ist es wichtig, dass Tierärzte, Humanmediziner und Virologen ins Gespräch kommen.
"2016-10-13T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:59:19.964000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vogelgrippe-zika-mers-welche-seuche-springt-als-naechste-100.html
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Flüchtlings-Treck in Mexiko – was vertreibt die Menschen?
Viele Mittelamerikaner fliehen vor Gewalt in ihren Heimatländern und erhoffen sich in Mexiko ein besseres Leben (Archivbild 2014) (AFP / Yuri Cortez) Die Bilder erreichen uns seit Tagen. Die Bilder von Tausenden Menschen aus Guatemala, Honduras und El Salvador, die sich zu Fuß auf den Weg gemacht haben. Die meisten von ihnen wollen in den USA eine neue Zukunft aufbauen. Denn zuhause hält sie nichts. Wie schlimm sind denn die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern eigentlich? Sie sind schlimmer - berichtet unsere Mittelamerika-Korrespondentin Anne-Kathrin Mellmann. Atheisten in Diakonie und Caritas? Dürfen sich die Kirchen in Deutschland aussuchen, ob sie Konfessionslosen einen Job geben oder nicht? Oder diskriminieren sie damit ganze Bevölkerungsgruppen? Eine Sozialpädagogin wollte sich nicht damit abfinden, dass sie den Job bei der Diakonie, auf den sie sich beworben hatte, nicht bekam. Und zog vor Gericht. Heute beschäftigte sich das Bundesarbeitsgericht mit der Sache. Henry Bernhard stellt den Fall vor – und die womöglich weitreichenden Folgen. Feedback schicken Sie gerne an: DerTag@deutschlandfunk.de
Von Dirk-Oliver Heckmann
Über 7.000 Mittelamerikaner haben sich zu Fuß auf den Weg gemacht. Sie wollen in die USA – und den Verhältnissen in ihren Herkunftsländern entfliehen. Wie ist denn da die Lage eigentlich? Außerdem: Dürfen die Kirchen in Deutschland Konfessionslosen einen Job verwehren?
"2018-10-25T16:00:00+02:00"
"2020-01-27T18:17:13.565000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-fluechtlings-treck-in-mexiko-was-vertreibt-die-100.html
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Lex-FIFA abgelehnt
Die FIFA muss nur einen reduzierten Steuersatz zahlen. (Deutschlandradio / Dietrich Karl Mäurer) Es bleibt dabei: 12 statt 21 Prozent. Auch künftig muss der in Zürich ansässige Weltfußballverband nur einen reduzierten Steuersatz zahlen. Der Ausgang der Abstimmung war so erwartet worden. Die bürgerliche Mehrheit im Züricher Kantonsrat setzte sich durch. Eine Initiative der Sozialdemokratischen Partei wollte eigentlich erreichen, dass Vereine mit einer Bilanzsumme von mehr als einer Milliarde Franken wie normale Unternehmen besteuert werden. FIFA erwirtschaftet Milliardenbilanz In Zürich gibt es genau einen Verein, auf den das zutrifft, den Weltfußballverein. Deshalb sprach man von der Lex-FIFA. Die Befürworter des Gesetzes hatten argumentiert, die FIFA arbeite wie ein gewinnorientiertes Unternehmen. Sie erwirtschafte mit Lizenzen und Werbedeals eine Milliardenbilanz und unterhalte Tochterfirmen in aller Welt. Große wirtschaftliche Bedeutung für Zürich Die nun siegreichen Gegner hielten die Gesetzesvorlage dagegen für rechtsstaatlich bedenklich, da sie nur auf eine einzige Organisation abzielte. Zudem habe der Weltfußballverband und seine Firmen mit hunderten Beschäftigten eine große wirtschaftliche Bedeutung für die Region Zürich. Eine höhere Steuerlast hätte zum Wegzug der FIFA führen können.
Von Dietrich Karl Mäurer
Der Kantonsrat in Zürich hat gegen die sogenannte Lex-Fifa gestimmt. Trotz einer Milliardenbilanz und vielen Tochterfirmen wird der Weltfußballverband weiter wie ein gemeinnütziger Verein besteuert.
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"2020-01-27T18:19:05.163000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/steuerstreit-in-der-schweiz-lex-fifa-abgelehnt-100.html
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Möbelbranche in der Flaute
Die deutsche Möbelindustrie: Das sind mehr als 500 Unternehmen mit insgesamt 86.000 Beschäftigten. Weltweit betrachtet sind Möbel "Made in Germany" gut nachgefragt – das gilt dem Verband der Deutschen Möbelindustrie zufolge vor allem für Küchen. Die deutschen Möbelproduzenten belegen Platz drei – nach den USA und China und noch vor Italien.Allerdings: Zurzeit läuft der Möbelverkauf im Ausland nicht richtig rund. Wegen der Krise in einigen Euroländern sinkt die Nachfrage nach Möbeln. Die Hersteller erschließen sich deswegen zunehmend neue Märkte wie die USA und China. Dorthin konnten die deutschen Möbelhersteller zuletzt deutlich mehr exportieren – bis zu einem Viertel mehr als vor einem Jahr. Auch Inlandsgeschäft schwächelt Zurzeit gilt: Es herrscht Flaute in der Möbelbranche. Der Umsatz ist im ersten Halbjahr 2013 um 4 Prozent zurückgegangen. Nur ein Zweig legte zu – es wurden mehr Möbel für Geschäfte und Läden verkauft. Weniger Umsatz wurde dagegen mit Sofas, Matratzen und auch Küchen gemacht. Die Deutschen kaufen zurzeit zwar gerne ein. Allerdings keine Möbel. Sie geben ihr Geld lieber für neue Kleidung aus oder sie verreisen. Eine Konkurrenz sieht der Verband der Möbelindustrie auch in Smartphones oder Tablet-Computern.Zudem kämpft die Branche mit der Konkurrenz aus dem Ausland: Jedes zweite Möbelstück, das hier verkauft wird, stammt nicht von deutschen Herstellern. Viele Möbel werden importiert - vor allem aus Polen, wo etwa IKEA viele seiner Möbelteile produziert."Ikea ist Kult","sagt Elmar Duffner vom Möbel-Verband. Die Schweden hätten sich über viele Jahre etabliert: ""Aber der Markt ist groß genug, um mit Innovationen Ikea auf Augenhöhe zu begegnen." Branche setzt auf Innovationen und "Made in Germany" Die Hersteller müssen neue Trends setzen, sagt Verbandspräsident Duffner. Heute würden andere Möbel gekauft als noch vor ein paar Jahren. Die Schrankwand der Eltern oder Großeltern habe ausgedient.Zudem wolle sich der Verbraucher ausdrücken und alte Möbel mit neuen Möbeln kombinieren. Die deutschen Hersteller müssen sich etwa überlegen, wie sich Omas alter Wäscheschrank oder ihr alter Sekretär mit neuen Möbelstücken ergänzen lassen.Die Möbelindustrie setzt zudem auf die Marke "Made in Germany". Viele Käufer wüssten oft gar nicht, woher die Möbel kommen. Es brauche eine klare Kennzeichnung, forderte Elmar Duffner. Denn die Kunden wüssten, dass deutsche Möbel für Qualität stünden. Bei Küchen etwa gelte das bereits. Wer eine Küche eines deutschen Hersteller kaufe, der wisse, dass er Qualität kaufe. Das will die Branche auf andere Möbelstücke übertragen.Der Verband setzt auf die EU-Kommission, die künftig die Herkunft von Produkten kennzeichnen will.
Von Sina Fröhndrich
Bei der Jahrespressekonferenz des Verbandes der Deutschen Möbelindustrie in Köln kam keine Euphorie auf. Der Umsatz im Inland ist im ersten Halbjahr 2013 um 4 Prozent zurückgegangen. Weltweit sollen Produkte "Made in Germany" als innovative Qualitätsmarke etabliert werden.
"2013-09-09T13:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:34:43.342000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/moebelbranche-in-der-flaute-100.html
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"Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch alleingelassen"
Robert Habeck (Grüne) sieht keine Problem darin, der Ukraine Waffen für Verteidigungszwecke zu liefern. (dpa) Er habe Verständnis dafür, dass sich die Ukraine allein gelassen fühle, sagte Robert Habeck im Dlf. Gepanzerte Fahrzeuge könnten etwa zum Transport von Verletzten oder zur Minenräumung eingesetzt werden und sollten deshalb an Kiew geliefert werden. Die Ukraine verteidige auch die Sicherheit Europas, so Habeck. Wenn das Land den Konflikt um die Krim verlieren sollte, sieht der Grünen-Co-Chef die Gefahr, dass Russland in anderen Regionen genauso vorgehen könnte wie auf der Krim. Eine Aufnahme der Ukraine in die Nato hält Habeck momentan allerdings nicht für möglich, unter anderem darum, weil "die NATO nicht sortiert genug" sei und die Situation dadurch weiter eskalieren könne. Habecks Forderung, die Ukraine mit deutscher Waffentechnik zu unterstützen, hat empörte Reaktionen durch alle politischen Parteien hindurch ausgelöst. Sowohl die Linke als auch Union und FDP zeigten kein Verständnis für Habecks Forderung. Der Konflikt sei nicht mit Waffen zu lösen, sagte etwa die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, Marie-Agnes Strack Zimmermann. Auch der ehemalige Generalstabsoffizier und CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter und die Linke Außenpolitikerin Sevim Dağdelen kritisierten Habecks Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch aus den eigenen Reihen gab es Kritik an Habecks Vorstoß. Ukraine-Konflikt: Kämpfe im Donbass Der militärische Konflikt im Osten der Ukraine dauert seit fast sieben Jahren an. Ende März sind die Kämpfe wieder aufgeflammt – trotz Waffenruhe. Die Schuld an der Eskalation schieben sich die Konfliktparteien gegenseitig zu. Das Interview zum Nachlesen: Philipp May: Hat Sie der Besuch an der Front tatsächlich so sehr beeindruckt, dass Sie jetzt mit Ihrer Parteilinie brechen? Robert Habeck: Der Besuch an der Front war beeindruckend, aber die Äußerungen, über die jetzt der ganze Wirbel entstanden ist, sind dort vorgefallen aus einer politischen Analyse, die ja auch schon vor meinem Reiseantritt getroffen war. Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch allein gelassen und sie ist allein gelassen. Deutschland baut Nord Stream zwei zu Ende. SPD- und CDU-Ministerpräsidenten wollen die Sanktionen gegenüber Russland aufheben wegen der Ukraine. Es gibt den Truppenaufmarsch im Osten. Die Krim ist annektiert. Und Deutschland liefert keine Medivacs, keine Nachtsichtgeräte, keine Kampfmittelbeseitigung, und das habe ich mal klargestellt. Irgendwas muss man halt tun, um nicht nur seine Worte wie Hohn klingen zu lassen. May: Hat Selenskyj Sie denn nach Waffen gefragt? Habeck: Nein! Selenskyj und ich, wir haben darüber nicht gesprochen. Beim Außenminister war es Thema. Aber der Deutschlandfunk hat mich danach gefragt. Ukrainischer Botschafter: "Wir brauchen militärische Unterstützung" Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk spricht von den massivsten Truppenbewegungen Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg: An der Grenze zur Ukraine spielten sich reale Kriegsvorbereitungen ab, sagte Melnyk im Dlf. "Dafür sorgen, dass Ukrainer nicht erschossen werden" May: Sie haben gerade gesagt, es geht um Defensivwaffen. Aber es gibt ja eigentlich – das haben wir auch im Beitrag gehört – kaum Waffen, die man nicht auch offensiv einsetzen könnte. Oder geht es tatsächlich nur um Nachtsichtgeräte und Ähnliches? Habeck: Natürlich kann man, wenn man U-Boote zur Minenräumung hat, auch Minen legen. Aber einen Angriffskrieg wird man damit nicht führen können. – Natürlich kann man in gepanzerten Fahrzeugen auch Angriffe fahren, aber darüber, worüber hier gesprochen wurde und was mal eine Anfrage der Ukraine war, die die Bundesregierung abgelehnt hat, waren gepanzerte Fahrzeuge zum Verletztentransport von der Front zurück, dass die Leute nicht verbluten. Natürlich kann man – das ist jetzt hier die neue Kriegsführung der Warlords auf der anderen Seite, dass sie mit kleinen Dingern, die man quasi vom Medienmarkt kennt, mit kleinen Drohnen Minen abwerfen, hinter der Grenze, die dann in den Vorgärten liegen und die Menschen verletzten. Natürlich kann man mit Drohnen-Abfanggeräten oder mit Zerstörung der Drohnen auch nach vorne schießen. Aber darum geht es und es geht darum, dafür zu sorgen, dass Ukrainer nicht erschossen werden. "Ich habe ja bewusst von Defensivwaffen gesprochen" May: Dennoch steht Ihre Aussage, man kann der Ukraine bestimmte Waffenlieferungen nicht verwehren, Waffen, die dann ja auch eingesetzt werden können gegen Menschen, schon diametral gegen grüne Überzeugungen und auch gegen das Wahlprogramm. Habeck: Das würde ich nicht sagen. Ich habe ja bewusst von Defensivwaffen gesprochen, wie eben ausgeführt. Auf gepanzerten Fahrzeugen kann natürlich ein Maschinengewehr aufgebaut und stationiert werden. Deswegen ist es eine Waffe. Aber im Wesentlichen sind die Dinger dazu da und werden auch so bestellt, um Verletzte zu transportieren beispielsweise. Zum Wahlprogramm oder auch zur Exportrichtlinie der Bundesregierung einmal gesagt: Die Frage ist, wie man auf die Situation schaut. Wenn ein Land angegriffen wird, dann gibt es auch die Möglichkeit zu helfen. Die Krim ist besetzt. In den getrennten Gebieten werden russische Pässe ausgegeben. Der Außenminister von Russland droht, dass seine Truppen dort einmarschieren. Scharfschützen erschießen die Soldaten an der Grenze. Da nicht defensiv zu helfen, ist schwierig, wenn man sagt, die Ukraine kämpft für ihre Freiheit. May: Was sagt Annalena Baerbock denn dazu? Sieht die das genauso wie Sie? Habeck: Annalena hat vor ein paar Wochen ein Interview in der "taz" gegeben, wo sie die Linie schon eingeschlagen hat. Bundestagswahl 2021: Was im Wahlprogramm der Grünen stehtMehr Klimaschutz, ein schnellerer Kohleausstieg, mehr Investitionen, aber auch höhere Schulden. Die Partei will mit ihrem Wahlprogramm ihren Anspruch auf das Kanzleramt untermauern. Die wichtigsten Inhalte – und Knackpunkte. "Grüne haben eine pazifistische Tradition" May: Welche Reaktionen kommen sonst aus Ihrer Partei? Habeck: Na ja. Grüne haben eine pazifistische Tradition, und das ist auch gut, dass wir uns schwertun mit der Debatte über Waffen insgesamt. Es ist ja ein Ehrenprädikat der Partei, dass man nicht hinter jedem Kriegsschrei sofort hinterherstürmt. Insofern gibt es gemischte Reaktionen. Aber wir haben auch eine lange Tradition, der Ukraine zu helfen. Namen sind Rebecca Harms oder Marieluise Beck, die hier immer vor Ort waren. Deswegen hat meine Partei auch ein besonders hohes Ansehen. Ich glaube, meine Einladung beruht nur darauf, auf diesem Ruf. Vielleicht muss man es so formulieren: Die Ukraine kämpft hier nicht nur für sich selbst, sondern die Ukraine verteidigt auch die Sicherheit Europas hier. Wenn das fällt und sie fühlen sich bedroht, dann ist das eine Einladungen an Russland, andere Konflikte ebenfalls eskalieren zu lassen. Ich glaube, so sollte man es sehen, und alle, die jetzt sagen, was macht der denn da, die sollten sich mal überlegen, was sie denn eigentlich tun. Die Dankbarkeit der Ukraine für die diplomatischen Bemühungen Deutschlands ist groß und ist hoch. Die sicherheitspolitische Situation wird allerdings hier völlig anders eingeschätzt, und ich sage es noch mal: Nord Stream zwei als Stichwort wird hier als Aufgabe der Sicherheitsgarantie der Ukraine gesehen. Und sie haben recht, so wird es auch gesehen. "Ich habe es rein auf die Ukraine bezogen" May: Zu Nord Stream zwei würde ich gleich mit Ihnen kommen. Ich würde gerne einen ganz kurzen Schlenker machen, weil das ja schon auch eine Grundsatzfrage ist, die Sie aufgeworfen haben, weil für ihre Freiheit kämpfen viele. Ist das jetzt nur rein auf die Ukraine bezogen, oder können Sie sich auch Waffenlieferungen in andere Gebiete vorstellen, zum Beispiel Israel? Habeck: Nein! Ich habe es rein auf die Ukraine bezogen, auf die konkrete Situation, auf die Annexion der Krim, auf die Schießerei auf die Soldaten. Wenn Sie fragen, wie ist es an der Grenze – die erzählen, dass die russischen Sniper, die Scharfschützen jeder seinen eigenen Fingerabdruck haben, und sie können an den Schüssen erkennen, welche Gruppe da gerade im Einsatz ist. Einige schießen direkt in die Stirn, einige schießen immer ins Auge. So ist die Situation an der Grenze. Und dann zu sagen, wir machen das alles mit diplomatischen Dingen, mit diplomatischen Gesprächen, ist natürlich richtig, aber trotzdem sollte man Nachtsichtgeräte, Aufklärungsgeräte, Kampfmittelbeseitigung, Medivacs doch zur Verfügung stellen. "Die NATO-Mitgliedschaft ist viel schwieriger" May: Wenn Sie sagen, die Ukraine verteidigt die Freiheit des Westens, dann wäre ein logischer Schritt auch eine NATO-Mitgliedschaft. Habeck: Wenn die Ukraine diesen Konflikt verliert – und in den Jahren 2015 fortfolgende waren ja weite Teile der Ukraine destabilisiert und Panzer sind vorgerückt -, dann ist das eine Einladung, dass das auch an anderen Stellen probiert werden kann. Die NATO-Mitgliedschaft ist viel schwieriger. Die Ukraine drängt darauf. Deswegen heißt das nicht, dass das sofort funktionieren kann, weil die NATO selber uneinig ist und unorganisiert ist an dieser Stelle. Aber das, was ich vorgeschlagen habe, der Ukraine zumindest da, wo keine Eskalation des Krieges zu befürchten ist, aber die Truppen Deutschland um Hilfe bitten, noch mal in diesen Defensivwaffen, die ja Waffen sind – ich habe es schon dreimal jetzt gesagt -, da immer nur Nein zu sagen, das, finde ich, ist die Konsequenz aus der Situation. May: Nach den Waffen habe ich Sie jetzt auch nicht gefragt. Aber grundsätzlich: Sie sind Befürworter bei aller Kompliziertheit dieses Schrittes grundsätzlich einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft? Habe ich das jetzt richtig verstanden? Habeck: Nein! Jetzt im Moment kann man das nicht machen. Die Ukraine will das. Die NATO ist nicht sortiert. Das wäre auch eine Eskalation der Situation. Da muss die Ukraine geduldig sein. Die konkrete Aktion, das konkrete Helfen, das ist das, was man jetzt tun kann, um Menschenleben zu retten. "Wir sind gegen die Pipeline" May: Kommen wir zu Nord Stream zwei, Sie haben es gesagt, die den Gastransit durch die Ukraine nach Europa auch quasi obsolet machen würde. Würde eine grüne Bundesregierung die Pipeline sofort stoppen? Habeck: Wir wollen erst mal sehen, dass sie nicht zu Ende gebaut wird. Es sind noch vier Monate zur Wahl. Ich registriere es so, dass im Moment alles getan wird, um die Pipeline doch noch schnell anzuschließen. Aber ja, wir sind gegen die Pipeline. Im Moment geht es erst mal darum, dass sie nicht zu Ende gebaut wird. Wenn sie dann noch nicht fertig gebaut wird, sollten wir sie stoppen. Oliver Krischer (Grüne): "Nibelungentreue zu Nord Stream 2 aufgeben"In der Diskussion über die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 hat Oliver Krischer (Grüne) erneut die Einstellung des Projekts gefordert. Ein Festhalten an fossilen Energien widerspreche den Klimazielen der Bundesregierung. Habeck: Zu wenige Sanktionen gegen Belarus May: Herr Habeck, das große derzeitige Konfliktthema, wo wir schon dabei sind, würde ich auch gerne noch kurz ansprechen – mit einem anderen ehemaligen Sowjetstaat, der an die EU grenzt, Belarus. Nach der erzwungenen Flugzeuglandung und der Verhaftung des Regime-Kritikers Protasevich und seiner Freundin hat die EU weitere Sanktionen beschlossen und gleichzeitig auch den Flugverkehr von, nach und über Belarus quasi eingestellt. Sind Sie als Grüne damit einverstanden? Habeck: Wenn man sich anschaut, was möglich wäre an Sanktionen, hat die EU nicht genug beschlossen. Schon vor zehn Jahren gab es eine lange Liste, die die volle Breite der Sanktionen aufgelistet hat, und jetzt fehlt immer noch weite Teile der Harnstoff-, der Düngerindustrie, der Ölindustrie, der Chemieindustrie. Das würde ich jetzt als ersten Punkt sofort bemängeln und sagen, richtig sanktionieren, auch die Lücken schließen und auch diese großen Industriekomplexe ansprechen, und Ausweitung der persönlichen Sanktionen. Das trifft schon die Leute um Lukaschenko, wenn ihre Kinder nicht mehr im Ausland studieren können. Belarus - EU reagiert mit SanktionenMit Empörung und verschärften Reaktionen hat die EU auf die erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Belarus reagiert. Das Regime in Minsk bestätigte inzwischen, dass sich der bei der Aktion verhaftete Regimekritiker Roman Protasewitsch in U-Haft befindet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Robert Habeck im Gespräch mit Philipp May
Grünen-Co-Chef Robert Habeck hat sich erneut für die Lieferung von „Defensivwaffen“ an die Ukraine ausgesprochen. Es gehe dabei um den Schutz der Bevölkerung, sagte er im Dlf. Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO lehnte er jedoch ab. Dafür sei es „zu früh“.
"2021-05-26T06:50:00+02:00"
"2021-05-27T15:17:57.760000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/habeck-gruene-zu-waffenlieferungen-an-ukraine-die-ukraine-100.html
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Streit um Schuld am Euro-Hawk-Desaster
Jasper Barenberg: Wer hat wann was gewusst? Auch in der Affäre um die spektakulär gescheiterte Anschaffung der Aufklärungsdrohne Euro-Hawk geht es zentral um diese Frage, zumal sich der Verteidigungsminister ja festgelegt hat. Erst am 13. Mai diesen Jahres will er davon erfahren haben, dass die vielen Probleme mit der Drohne nicht zu lösen sind, woraufhin er die Reißleine zog und mehrere Hundert Millionen Euro waren verbrannt. Einige Male schon hat der Minister seine Festlegung ein Stück weit korrigieren müssen und zum Auftakt der Zeugenbefragung heute werden neue Vorwürfe laut.Am Telefon begrüße ich Joachim Spatz, den Berichterstatter der FDP im Untersuchungsausschuss. Guten Morgen!Joachim Spatz: Ja guten Morgen!Barenberg: Und auf der anderen Leitung ist Omid Nouripour, der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag. Guten Morgen auch Ihnen.Omid Nouripour: Ich grüße Sie!Barenberg: Herr Spatz, die erste Frage an Sie. Wir haben gerade in dem Beitrag gehört, dass aus den Akten ja offenkundig hervorgeht, dass Thomas de Maizière schon ein Jahr früher als bisher bekannt oder zugestanden von massiven Problemen Kenntnis erhielt. Kennen Sie diese Unterlagen auch schon?Spatz: Ich kenne die Unterlagen nicht und alles, was uns bisher als Neuigkeit offeriert worden ist, stellte sich dann bei genauerer Lektüre als Bestätigung dessen heraus, was der Minister immer gesagt hat. Wir alle wussten, dass es Probleme gibt. Sie wurden uns allen immer als lösbar beschrieben. Und dass das Ding mal zur Entscheidung kommt, deswegen hat ja der Minister einen Zeitplan vorgegeben, dass eine Entscheidungsvorlage bis Ende März '13 vorliegen soll, aufgrund derer dann die Staatssekretäre entscheiden sollen. Genau das ist geschehen, insofern kann ich jetzt überhaupt noch nicht den Neuigkeitswert erkennen, und insofern, denke ich mal, gibt es da keine neue Bewertungsgrundlage. Im Übrigen: bei allen großen Beschaffungsproblemen – denken Sie an die Hubschrauber, denken Sie an die Korvette – gab es immer mal wieder zum Teil auch, ich sage mal, momentan schwer lösbare Probleme, und die wurden dann eben doch gelöst. Also insofern, denke ich mal, wird da aus einer ganz, ganz kleinen Mücke ein Riesenelefant versucht, zu machen.Barenberg: Das bestreitet ja auch niemand, Herr Spatz, dass es bei solchen großen Rüstungsprojekten Probleme gegeben hat. Die entscheidende Frage scheint ja zu sein, ob es lösbare Probleme gewesen sind, oder ob der Minister hätte erkennen können oder müssen, dass diese Probleme nicht zu lösen sind.Spatz: Genau so ist es.Barenberg: Nun ist da in einer Vorbereitungsmappe für eine Rüstungsbesprechung mit dem Minister von Kostensteigerungen die Rede, die das Gesamtsystem zunehmend infrage stellen, und es gibt noch einige weitere Details, die in diese Richtung weisen. Omid Nouripour, bewerten Sie das ganz anders als Joachim Spatz von der FDP?Nouripour: Na ja, es ist schon so, dass der Minister nahezu wöchentlich seine Verteidigungslinie ändern muss. Er hat am Anfang das alles ganz spät gewusst, später ist er nicht korrekt informiert worden, dann waren es lösbare und unlösbare Geschichten. Aber das wird alles nicht besser davon, dass jetzt mittlerweile relativ fast über eine Milliarde verbrannt worden ist. Ich meine, ich will doch nicht, dass ein Minister sich mit einem Problem erst dann beschäftigt, wenn es nicht mehr lösbar ist. Dafür sind Minister nicht da!Barenberg: Sondern Sie wollen, dass der Minister sich laufend über Projekte informiert hält und dann darauf reagiert. – Joachim Spatz, der zentrale Vorwurf ist ja, dass sich der Minister zu spät um dieses Rüstungsprojekt gekümmert hat, weil er schon wissen konnte, dass es massive Probleme gibt.Spatz: Wissen Sie, ich finde es immer bemerkenswert, dass im Nachhinein immer alle wissen, wie es genau hätte sein sollen. Ich bin auch für mehr Transparenz und ich finde, es war schade, dass Rot-Grün eine Unterrichtungspraxis, wo monatlich dem Berichterstatter, dem Haushaltsausschuss über genau diese Projekte berichtet worden ist, wo sich also auch das Haus monatlich auf den Punkt bringen lassen musste, dass das abgeschafft worden ist. Jetzt werden wir mühsam wahrscheinlich so was wieder einführen. Ich denke, dass so ein Instrument damals abgeschafft worden ist, war nicht gut und wir sollten solche Kontrollmechanismen vonseiten des Parlaments wieder einführen, und da wird auch die Verwaltung gezwungen, ich sage mal, früher als es vielleicht an dem einen oder anderen Punkt der Fall gewesen ist auf den Punkt zu kommen. Aber jetzt für diesen ganz konkreten Fall, bei der Komplexität der Fragestellung, finde ich nicht, dass hier die Spitze des Hauses zu spät reagiert hat.Barenberg: Der Minister konnte von massiven Problemen wissen, nicht reagieren, und das geht für Sie völlig in Ordnung?Spatz: Natürlich gab es massive Probleme und er hat die Leute, die dafür verantwortlich sind, Lösungen zu erarbeiten oder zum Schluss zu kommen, dass es nicht lösbar ist, damit beauftragt, das zu tun, und das ist geschehen in einem wie gesagt vorgegebenen Zeitablauf. Und jetzt zu sagen im Nachhinein, wo das Ergebnis einer komplizierten Prüfung feststeht, theoretisch hätten wir das alles viel früher wissen können – wissen Sie, ich bin Mathematiker. Da gibt es nur unlösbare und triviale Probleme. Hinterher, wenn es gelöst ist, zum Teil nach jahrelangen Überlegungen, ist es immer alles trivial. Das finde ich ein bisschen abgeschmackt. Im Übrigen haben alle, alle, sowohl Rot-Grün, wo das Projekt gestartet ist, wie Schwarz-Rot, wie auch Schwarz-Gelb, Mitverantwortung an der Struktur, wie dieses Rüstungsprojekt aufgesetzt worden ist, und wie gesagt, da finde ich es ein bisschen kleinkariert und kleine parteipolitische Wahlkampfmünze, da jetzt so einseitig eine Schuldzuweisung zu machen an den Minister, der zuerst, als überhaupt erster Minister, Rüstungsprozesse versucht zu optimieren. Alle vorher haben das nämlich nicht gemacht.Barenberg: Herr Nouripour, Sie müssen sich also als Grüner an die eigene Nase fassen. Das ist das eigentliche Problem.Nouripour: Na genau. Wir werden einen Untersuchungsausschuss machen, warum die Grünen überhaupt regieren durften damals. Es ist ja auch sehr bezeichnend, dass Rot-Grün etwas angeblich abgeschafft hat, was so im Übrigen nicht stimmt. Es wurde ein Unterausschuss abgeschafft, weil das alles in einen Gesamtausschuss gehört im Haushaltsausschuss. Das war auch richtig so. Aber vier Jahre, nachdem Schwarz-Gelb regiert, fällt denen auf einmal auf: Huch, das war ja falsch, dann schieben wir es doch mal darauf, und wenn wir die Möglichkeit bekommen, was nicht passieren wird, dann werden wir das ja dann anders machen. Das ist doch alles Käse! Wenn Rot-Grün, tatsächlich im Übrigen alle gemeinsam, gemeinsam mit den Schwarzen und den Gelben, zu dem Ergebnis kommt, es gibt einen Bedarf, es gibt eine sogenannte Fähigkeitslücke, ich muss etwas kaufen, dann heißt das doch nicht, dass am Ende, wenn viele Jahre später das in die Hose geht, weil sich die Minister viele Jahre danach nicht darum gekümmert haben, dass Rot-Grün jetzt daran die Verantwortung trägt. Das ist wirklich Käse!Das zweite ist: Eine der Verteidigungslinien dieses Ministers ist ja: Er hat so spät auch die Reißleine gezogen, weil er wollte ja das Aufklärungssystem retten. Es gibt ja das Aufklärungssystem und es gibt die Plattform, die Trägerplattform, also die Drohne selber. Die Drohne fliegt nicht mehr, er will aber das Aufklärungssystem ISIS, heißt das, retten. Jetzt stellen wir fest, das ist möglicherweise gar nicht mehr zu retten, das wird wenn, dann deutlich teurer, und wenn man das überhaupt nutzen kann, dann muss man sowieso komplett neu erproben. Der Minister lässt aber zurzeit Woche für Woche weiter erproben, das kostet weiter Geld. Wir reden über weitere Millionen, die jetzt wieder immer noch ausgegeben werden. Warum das so ist, diese Fragen wird er uns beantworten, und vor allem ist für uns Grüne die zentrale Frage nicht, wann der Minister was gewusst hat – das ist sicher richtig und wichtig, gerade für die politische Verantwortung -, sondern für uns ist die zentrale Frage, wie kommen wir denn dazu, dass wir die Gelder der Steuerzahler zurück bekommen. Hier lesen wir im Vertrag ziemlich deutlich, dort steht eindeutig, dass dann die Industrie haftet. Der Minister hat öffentlich mittlerweile was anderes erzählt. Das heißt, wenn es zu einem Rechtsstreit käme zwischen Industrie und Bundesregierung, dann wären die Zitate des Ministers vor Gericht verwendbar gegen die Interessen der Steuerzahler, und das ist ein Skandal!Barenberg: Die Frage an Joachim Spatz zum ersten Punkt, den Herr Nouripour angesprochen hat. 45 Millionen, wenn ich es recht im Kopf habe, werden zu zahlen sein, bis die Erprobung am Ende ist. Sind das 45 Millionen, die auch zum Fenster rausgeworfen sind?Spatz: Ich finde es immer wieder gut, dass die Opposition im Vorhinein schon Prüfergebnisse kennt. Wir gehen davon aus, dass hier seriös geprüft wird, wie die Hälfte der Gelder, die investiert worden sind ins Gesamtsystem, dadurch gerettet werden können, dass das Überwachungssystem ISIS funktionsfähig gemacht worden kann, in welcher geeigneten Weise, mit welcher fliegenden Plattform auch immer. Dies zu überprüfen, steht im Moment an, und das warten wir ab, bis das rauskommt. Meine Informationen sind jedenfalls so, dass es bisher keinen Anhaltspunkt gibt, dass es keine alternative Verwendung geben sollte, sondern dass das System dann eingesetzt werden kann.Barenberg: Und die zweite Frage, Herr Spatz, war: Werden wir das Geld zurück bekommen, das verbrannt ist, oder zumindest einen Teil davon?Spatz: Ja gut, das müssen die Juristen natürlich prüfen. Das wird im übrigen auch Teil des Untersuchungsausschusses sein, inwieweit bei Vertragsabschluss 2007 die damals beteiligten Ministerien, das schwarz geführte Verteidigungsministerium, das SPD-geführte Finanzministerium, Verträge geschlossen haben, die solche Möglichkeiten zulassen oder eben nicht.Barenberg: Herr Nouripour, sehen Sie einen gemeinsamen Weg, wenn es darum geht, Regressforderungen tatsächlich durchzusetzen, unabhängig von Wahlkampf?Nouripour: Ich hoffe das sehr. Wir haben ja den Untersuchungsausschuss gemeinsam, alle Fraktionen gemeinsam eingesetzt. Trotzdem ist es so, dass wir natürlich eine herbe Kritik haben an diesem Minister, der sagt, ich mache die größte Bundeswehrreform aller Zeiten, und am Ende aber beim ersten wirklich großen Rechtsstreit, der auf ihn zukommt, nicht sagt, mein Ministerium wird das dann prüfen, sondern ich beauftrage eine externe Anwaltskanzlei damit zu prüfen, ob das geht oder nicht geht, wobei nach unserer Sicht noch mal die Verträge extrem deutlich sind. Wenn ich noch ein Letztes zum Thema ISIS sagen darf und den Erprobungen. Was wird denn gerade erprobt? Was gerade erprobt wird, ist die sogenannte Integration zwischen Drohne und Aufklärungssystem. Wenn die Drohne nicht mehr fliegt, was sie nicht wird, weil sie ja nicht darf, dann wird man komplett neu erproben müssen, weil ja eine neue Trägerplattform da sein wird, die komplett neu mit dem Aufklärungssystem verschmolzen werden muss. Das heißt, das was gerade passiert bleibt Geldverschwendung.Barenberg: Okay. Darauf sollte Herr Spatz noch mal die Möglichkeit haben zu reagieren.Spatz: Das ist natürlich so nicht, sondern die Zulassungsfragen werden ja in einem anderen Zusammenhang, Stichwort NATO-System, was man so hört, auf Sizilien dann stationiert werden soll, noch einmal neu unter anderen Kautelen gestellt. Deswegen halte ich das in überhaupt noch keiner Weise für abgeschlossen. Im Übrigen, was Gemeinsamkeit bei Regress angeht: Natürlich werden wir im Sinne der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten. Das ist doch völlig selbstverständlich.Barenberg: Der Berichterstatter der FDP im Untersuchungsausschuss zur Drohnen-Affäre, Joachim Spatz. Danke schön Ihnen und Dank auch an Omid Nouripour, dem verteidigungspolitischen Sprecher der Grünen im Bundestag.Nouripour: Danke Ihnen!Spatz: Besten Dank.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mit Jasper Barenberg
Das gescheiterte Euro-Hawk-Projekt sei nicht allein die Schuld von Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), sagt der FDP-Politiker Joachim Spatz. Schon unter Rot-Grün seien Fehler gemacht worden. Falsch, meint Grünen-Politiker Omid Nouripour. Der Minister habe das Projekt zu spät gestoppt.
"2013-07-22T08:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:27:28.090000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-schuld-am-euro-hawk-desaster-100.html
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Schutzkonzepte für öffentliche Einrichtungen
Welche Schutzkonzepte können Kinder vor Missbrauch bewahren? (picture alliance / Photoshot) "Kinder haben Rechte ein Kinderleben lang, Kinder haben Rechte. Na los, kommt mit, fang an! Kinder haben Rechte! Da bleiben wir nicht leis. Kinder haben Rechte! Damit das jeder weiß!" Die Siebtklässler der "Schule am Tannenberg" in Göttingen haben das bekannte Kinderlied für ein Musical einstudiert. Kinderrechte wie der Schutz vor Gewaltanwendung sind an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung ein großes Thema. Einige der rund 160 Schüler und Schülerinnen sind schwerst mehrfach behindert, können nicht selbständig essen und laufen. Manche haben das Downsyndrom oder Autismus. Auch Flüchtlingskinder sind dabei, manche nach mehrjähriger Flucht traumatisiert, berichten Sabine Lo-Becker und Maria Brinkmann, die Leiterinnen der Tagesstätte und der Schule. Das Thema sexueller Missbrauch sei häufig präsent: "Dass besonders kleine Mädchen sexuell missbraucht werden von Freunden der Familie, vom Opa. Wir haben häufig Kinder, die eine große Assistenzleistung brauchen beim Schwimmen, zum Beispiel Duschen und Ausziehen, die lassen sich nicht mehr anfassen. Oder die haben im Genitalbereich blaue Flecken. Auf der anderen Seite haben wir häufig Kinder, die in Einzelsituationen im Bus oder bei den Therapeuten oder beim Einkaufengehen mit den Betreuern Sachen erzählen, wo wir denken: Das kann ein Kind sich nicht ausdenken, wenn es geistig behindert ist und in der Grundstufe." Frage: "Da sind wir auf Alarmstufe, oder?" "Ja, ja, ja, da gucken wir dann ganz genau hin. Und ein ganz großes Problem ist: Viele können ja gar nicht sprechen. Die können vielleicht malen, aber es gibt ja auch die, die auch das nicht können. Wo wir aber ganz stark den Verdacht haben, Mensch, irgendwas stimmt da nicht. Aber die Kinder haben keine Chance, irgendwie das mitzuteilen." Um die Kinder vorbeugend zu stärken und bei Missbrauchsfällen gezielt handeln zu können, hat die Schule am bundesweiten Modellprojekt "Beraten und Stärken" teilgenommen. 15 Monate lang haben sich Schulleitung sowie ein Teil der Lehrer, Erzieher und Therapeuten fortgebildet und ein auf die Schule zugeschnittenes Schutzkonzept entwickelt. Sexueller Kindesmissbrauch: Die Schule als Tatort Die Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" will die 30.000 Schulen in Deutschland dabei unterstützen, eigene Schutzkonzepte aufzustellen – ohne dabei den Generalverdacht gegen Lehrer zu erheben. Kinder mit Behinderung stärker von sexuellem Missbrauch betroffen Maren Kolshorn von der Göttinger Kinder- und Jugendberatung Phönix hat sie dabei unterstützt. Nach Ansicht der Psychologin benötigen Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung arbeiten, besonders viel Beratung, weil diese stärker noch als andere gefährdet sind, Opfer sexueller Übergriffe zu werden. "Sie haben oft viel weniger Wissen über Sexualität: Was ist richtig, was nicht? Was darf man, was darf man nicht? Sie haben oft eine ganz große Bedürftigkeit im Bereich Sexualität, weil sie es nicht ausleben können. Aber auch oft weil sie andere Vernachlässigungen haben und es sich dann wünschen, damit zu kompensieren. Sie haben dadurch eine viel viel größere Gefährdung auch tatsächlich, dass andere sie ausnutzen oder dass sie sich auf Dinge einlassen, weil sie die Konsequenzen nicht überschauen." Präventionsprogramm stärkt Kinder beim Reden über Grenzüberschreitung Die "Schule am Tannenberg" versucht es mit Transparenz. Das pädagogische Personal ist darin geschult, sexuelle Gewalt zu erkennen und darf einen Verdacht auch aussprechen. Die Eltern sind über die Schutzmaßnahmen informiert. Und die Schüler lernen mit Hilfe des Präventionsprogramms "Ben und Stella wissen Bescheid", dass es außer Liebe und Freundschaft auch Missbrauch gibt, erzählt die Lehrerin Claudia Woppowa: "Es geht um Stärkung der Kinder. Und es ist deutschlandweit auch das einzige Präventionsprogramm, was so ganz klar einen Baustein auch nennt: sexueller Missbrauch. Ben und Stella wissen Bescheid über sexuellen Missbrauch. Bis dahin hat man gelernt, dass es okay ist, diese Wörter zu benutzen und da kein Schamgefühl haben muss. Und das entwickelt dann so eine Selbstverständlichkeit für die Kinder, auch darüber zu sprechen: Es gibt sexuellen Missbrauch, und was ist das eigentlich, und man darf das nicht. Und schlussendlich dann: Wie kann ich mir Hilfe holen, wenn mir das passiert ist?" Die "Schule am Tannenberg" ist nicht die einzige Einrichtung, die sich gegen sexuelle Gewalt wappnet. Kurz nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an Schulen und Internaten der Bundesrepublik im Jahr 2010 hat der "Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch" Leitlinien zur Prävention und Intervention in Institutionen erarbeitet. Institutionen zu Schutz- und Kompetenzräumen entwickeln Wie können Schulen, Kitas und Heime, Freizeiteinrichtungen und religiöse Gemeinden, aber auch Krankenhäuser und Praxen einerseits erkennen, dass Mädchen und Jungen intern oder extern Opfer geworden sind? Wie bieten sie andererseits selbst davor Schutz? Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, fordert zum Beispiel von jeder Klinik, "dass sie sicherstellt, dass Mädchen und Jungen bei ihr einen maximal geschützten Raum finden. Dafür ist es wichtig, dass auch Leitungsverantwortliche Kenntnis und Wissen haben zu Schutzkonzepten. Und dass die Ressourcen von den Trägern der Kliniken zur Verfügung gestellt werden. Und es müssen Regeln aufgestellt werden zu Nähe und Distanz. Wichtig ist vielleicht zuletzt, dass das Personal gut ausgesucht wird, das erweiterte Führungszeugnisse eingefordert werden, Fachkräfte fortgebildet sind, sie über ein Basiswissen zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verfügen. Und dass möglichst viele Fachkräfte an dem E-Learning-Programm teilnehmen werden." Kindesmissbrauch: Das große Schweigen Nach Ansicht des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, ist sexuelle Gewalt gegen Kinder in vielen Institutionen noch immer ein Thema, über das nicht gesprochen wird. Kostenloser Onlinekurs zu besonderen Risiken in der Medizin Der Missbrauchsbeauftragte und die Uniklinik Ulm haben kürzlich den kostenlosen Onlinekurs "Kinderschutz in der Medizin" auf den Weg gebracht. Dieser soll Führungs- und Fachkräften dabei helfen, bei konkreten Missbrauchsfällen die richtigen Ansprechpartner zu adressieren, aber auch, mit den besonderen Risiken im Krankenhaus umzugehen. Denn zwischen Behandelnden und insbesondere den jüngeren Patienten besteht ein Machtgefälle. Körperliche Untersuchungen sind notwendig, Minderjährige halten sich teilweise länger ohne Bezugspersonen in einer für sie fremden Umgebung auf, einige haben bereits negative Erfahrungen mit sexueller Gewalt hinter sich. Prof. Jörg Fegert, Leiter der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: "Was für unseren Bereich wichtig ist, ist, dass die Täter Handlungen als medizinisch notwendige Interventionen tarnen. Da haben wir in der Medizin einen privilegierten Zugriff auf den Körper. Und jeder hat eigentlich auch schon als Kind schon gelernt, dass man vom Arzt und von der Krankenschwester bestimmte Dinge tolerieren muss, die unangenehm sind, weil es das braucht, damit alles besser wird." Tarnung als medizinisch notwenige Intervention Fegert spricht von einer Vielzahl gefahrengeneigter Situationen und Orte wie dem Aufwachbereich der Anästhesie, der scheinbaren Notwendigkeit einer nächtlichen Untersuchung ohne Beisein einer medizinisch-technischen Assistentin oder der nahen Beziehung zum Kinderpsychiater. Mit sexuellem Missbrauch und dem Schutz davor hat der ärztliche Direktor sich schon lange vor dem Runden Tisch der Bundesregierung beschäftigt. Auslöser dafür war, dass er über den verdächtigen Chefarzt seiner damaligen Klinik eine standesrechtliche Begutachtung schreiben musste. Der Verdacht bestätigte sich, bei einer Hausdurchsuchung wurden tausende kinderpornografischer Abbildungen gefunden. "Der hat nach jeder Therapiestunde die Jungs am Penis stimuliert, bis der Penis erigiert war und hat mit einem Geodreieck das abgemessen und fotografiert und hat den Kindern gesagt, das gehört zu einer Psychotherapie, weil unter der Psychotherapie entwickelst du dich auch sexuell und dass muss ich dokumentieren. Und das ist so eine typische Strategie, wo man Halbwissen nimmt und scheinbar ärztlich handelt. Das wirkt von außen völlig verrückt, aber die Kinder haben das geglaubt. Und deshalb ist so ein anderes Thema: Information von Patienten, Patientenrechte, dass wir erklären, was wir tun." Neue Studie zur Umsetzung von Schutzkonzepten Um herauszufinden, ob die vom Runden Tisch geforderten Schutzkonzepte bereits entwickelt und umgesetzt worden sind, befragt das Deutsche Jugendinstitut DJI im Auftrag des Missbrauchsbeauftragten derzeit Bildungs-Institutionen, Freizeit- und Gesundheits-Einrichtungen. Dr. Heinz Kindler, beim Münchner Institut für Kinderschutz zuständig, spricht von einem Entwicklungsprozess. "Wir haben Bereiche wie jetzt zum Beispiel Jugendreisen oder auch einzelne Religionsgemeinschaften mit ihrer Jugendarbeit, die sich noch relativ am Anfang befinden. Und wir haben in den Bereichen stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendverbandsarbeit schon eine längere Geschichte der Auseinandersetzung." 165 Kliniken, an denen Kinder und Jugendliche behandelt werden, hat das DJI befragt. Davon haben 20 Prozent bislang ein umfassendes Schutzkonzept entwickelt. In zwei Dritteln der Häuser gibt es eine interne Ansprechperson, in der Hälfte Verhaltensregeln etwa für die Berührung von Kindern und Jugendlichen oder für den Umgang mit ihren Schamgrenzen. Heinz Kindler bilanziert, "dass das Feld sich auf den Weg gemacht hat, dass die große Mehrzahl der Kliniken ein oder mehrere Elemente von Schutzkonzepten berichten konnten, dass wir bei unseren Kontakten und Besuchen auch sehr beeindruckende Beispiele gesehen haben. Ich erinnere mich an eine Klinik, die Kinderrechte im Treppenhaus in nicht zu übersehender Art und Weise aufgeschrieben hat oder eine andere Klinik, die solche Regeln für den Umgang mit Kindern mit dem Personal entwickelt und dann nach einer Erprobungszeit nochmal mit dem Personal besprochen hat." Schutzkonzepte selbst und immer wieder neu erarbeiten Für entscheidend hält Maren Kolshorn von der Göttinger Beratungsstelle Phönix, dass jede Institution die für sie passenden Bausteine selbst entwickelt und immer wieder daran feilt. Sonst lande das Schutzkonzept im Ordner. "Und eine meiner entscheidensten Erfahrungen ist: Es steht und fällt mit der Leitung. Das Entscheidende ist die Haltung – und zwar: Das muss von oben kommen: Das ist ein wichtiges Thema."
Von Isabel Fannrich-Lautenschläger
Immer mehr Fälle von sexuellen Übergriffen gegen Kinder und Jugendliche im Bildungs-, Gesundheits- und Freizeitbereich kommen ans Licht. Mit Hilfe neuer Konzepte versuchen Institutionen zu Schutz- und Kompetenzorten zu werden. Wichtige Bausteine sind: darüber reden und falsches Schamgefühl überwinden.
"2019-07-25T20:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:03:25.959000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexueller-kindesmissbrauch-schutzkonzepte-fuer-oeffentliche-100.html
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"Wir wussten nicht, was Krieg bedeutet"
Menschen in einem Schutzraum in einem Krankenhaus in der Großstadt Donezk. (AFP / DIMITAR DILKOFF) Lana Mikhailova ist raus, weg aus Donezk, nach über 40 Jahren. Eigentlich könnte die Millionenstadt im Osten der Ukraine Ärztinnen wie sie nur allzu gut gebrauchen. Aber vor zwei Wochen war endgültig Schluss. Mikhailova packte ihre Sachen und ging, flüchtete zu Verwandten nach Litauen. "Es ist schrecklich. Denn wir wussten nicht, was Krieg wirklich bedeutet. Wir konnten uns nicht daran gewöhnen." Die 44-jährige Sportmedizinerin aus Donezk ist nur eine von rund eintausend Kriegsflüchtlingen pro Tag. Die Vereinten Nationen sprechen mittlerweile von 3,9 Millionen Menschen, die unmittelbar von den Kämpfen in der Ukraine betroffen sind. "Die Menschen in Donezk stehen unter Schock. Keiner von meinen Arbeitskollegen, wirklich keiner hat sich vorstellen können, dass so etwas hier passieren kann. Immerhin ist Donezk ja eine Millionenstadt. Inoffiziell leben hier bis zu zwei Millionen Menschen. Und diese zwei Millionen hören jetzt ständig Schüsse und Explosionen, ohne genau zu wissen, wo und wen es gerade getroffen hat." Infrastruktur längst zerstört Der Krach der Panzer, der Raketenwerfer und Mörsergranaten macht mürbe. Marija, ihre 14-jährige Tochter, hätte enorme Stress-Symptome gezeigt, erzählt die Ärztin. "Als die Kämpfe noch auf die Vororte und den Flughafen begrenzt waren, hatten wir noch versucht, uns einzubilden, dass alles nicht so schrecklich sein wird. Dann aber ist die ganze Stadt abgestorben. Die Autos verschwanden, die Leute gingen weg. Wir haben gemerkt: Unsere Stadt ist besetzt. Als ich mit meiner Tochter auf unserem Balkon stand und die ganzen Militärkolonnen sah, da hatte ich begriffen: jetzt müssen wir abhauen." Lana Mikhailova ist aus Donesk nach Litauen geflohen. (ARD / Tim Krohn) Die Infrastruktur im Osten der Ukraine ist längst zerstört. Strom gibt es kaum noch und Wasser oft nur für ein paar Stunden. Mikhailova erzählt von ihren alten Nachbarn, wie sie mit Kanistern und Eimern losziehen, in der Hoffnung auf ein klein bisschen Wasser. "Panik entstand bei uns auch wegen der Lebensmittel. So gut es eben ging, haben wir alle Graupen, Fleisch, Salz und Zucker gehamstert. Jeder hat so viel nach Hause geschleppt, wie er es sich leisten konnte. Aber auch das geht jetzt nicht mehr. Die Bank-Automaten sind außer Betrieb, die Gehälter werden nicht ausgezahlt und die Regale sind leer. Unsere Banken hat man regelrecht ausgeraubt. Bewaffnete Banditen haben alles Geld mitgenommen, für die Revolution, haben sie gesagt." Rebellen an den Gesichtern erkennen Lana Mikhailova ist eine drahtige, sportliche Frau. Nichts an ihr wirkt wehleidig oder gar so, als würde sie vorschnelle Urteile fällen. Nur bei einer Sache wählt die Ärztin dann doch sehr deutliche Worte. Man müsse sich die selbst ernannten Separatisten doch nur einmal ansehen, meint sie: acht Jahre Schule, dann nur noch perspektivlose Leere. Ja, man könne die Banditen an ihren Gesichtern erkennen. "Die russischen Sender berichten das eine, die ukrainischen dann wieder das komplette Gegenteil. Wenn ich mich mit anderen unterhalte, merke ich sofort, wer welchen TV Sender geguckt hat." Zu viel Propaganda, zu viele Granaten. Mikhailova konnte nicht mehr. Mag sie auch noch so zupackend wirken, irgendwann war es genug. Die Frau aus Donezk will erst mal in Litauen bleiben. Und wann geht es zurück? Mikhailova schüttelt ihre blonden Haare. Keine Ahnung, meint sie. Nicht bevor dieser Wahnsinn zu Hause wirklich ein Ende hat.
Von Tim Krohn
Tausende Menschen fliehen vor den Kämpfen in der Ostukraine. Auch die Ärztin Lana Mikhailova hat ihre Heimatstadt Donezk verlassen, als Militärkolonnen den Berufsverkehr in der Millionenstadt ablösten.
"2014-08-26T05:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:00:37.037000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-fluechtlinge-wir-wussten-nicht-was-krieg-bedeutet-100.html
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"Deutschland muss mehr investieren"
Emmanuel Macron und Sigmar Gabriel: Wie sehr stimmen deutsch-französische Interessen und Ziele überein? (dpa / picture alliance) Christiane Kaess: Vor der Sendung habe ich über die Vorstellung zur Wirtschaftspolitik von Emmanuel Macron und Martin Schulz mit Guntram Wolff gesprochen. Er ist Direktor des Bruegel-Instituts, einer europäischen Denkfabrik zu Wirtschaftsfragen mit Sitz in Brüssel. Gestern Abend überall in Europa: Aufatmen über den Sieg Macrons, auch in Berlin. Aber wird es für Berlin nicht schwierig, denn Macron hat den Deutschen ja schon im Wahlkampf ihren Exportüberschuss vorgeworfen und er hat mehr Investitionen verlangt? Guntram Wolff: Ja, es ist sicherlich für Deutschland erst mal eine Erleichterung, denn mit Marine Le Pen hieße es sicherlich Abschied von Europa nehmen, Abschied von der Europäischen Union und vom Euro nehmen, wie wir ihn kennen. Aber es ist richtig, Emmanuel Macron hat bestimmte Forderungen und sagt vor allem, dass es nicht einfach so weitergehen kann wie bisher, sondern dass es mehr Wachstum braucht, dass die Eurozone selber auch noch ein bisschen weiter umgebaut werden muss und dass natürlich Deutschland auch seinen Teil spielen muss. "Deutschland muss mehr investieren" Kaess: Wie sollte Berlin damit umgehen? Wolff: Das ist natürlich eine schwierige Frage. Ich denke, in Berlin hat jetzt natürlich schon der Wahlkampf begonnen. Aber im Prinzip, denke ich, ist die grundsätzliche Idee, dass man in Deutschland mehr investiert, schon die richtige. Deutschland muss mehr investieren, um einfach mehr Wachstum zu haben, besseren Kapitalstock zu haben. Der öffentliche Kapitalstock ist seit Jahren rückläufig und insofern: Das Grundthema, dass mehr investiert werden sollte in Deutschland, ist eigentlich in deutschem Interesse und ist natürlich auch im europäischen Interesse. Kaess: Dieses Ziel, stärker zu investieren, das vertritt auch der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Er hat jetzt ein bisschen die Bildung und die Infrastruktur in den Vordergrund gerückt. Sind das die richtigen Schwerpunkte? Wolff: Ja. Ich denke, Bildung und öffentliche Infrastruktur ist natürlich ein Teil. Aber was ich schon auch betonen würde, ist insbesondere der Privatsektor. Wir müssen auch dazu kommen, dass Unternehmen wieder mehr investieren, und bei Unternehmen fehlen teilweise auch die Anreize. Es fehlen auch die Reformen, die in Deutschland neue Märkte, neue Wirtschaftsmöglichkeiten schaffen, und insofern, glaube ich, brauchen wir ein Programm, das einerseits sowohl diese Nachfragethemen ein bisschen betont, öffentliche Investitionen, wie auf der anderen Seite aber auch ein paar angebotsorientierte Reformen, die deutschen Unternehmen ermöglichen, auch mehr wieder in Deutschland zu investieren. "Immer noch sehr abgeschottet" Kaess: Was kann der Staat da konkret tun? Wolff: Na ja. Wir haben einerseits natürlich steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen, die wichtig sind. Aber wir haben auch Öffnung bestimmter Märkte, die immer noch sehr geschützt sind, zum Beispiel natürlich Apotheken, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber gerade im Dienstleistungsbereich ist der deutsche Markt immer noch sehr abgeschottet und deswegen gibt es da auch relativ wenig Investitionen, relativ wenig Innovationen. Kaess: Wenn Emmanuel Macron von Investitionen spricht, dann will er auch soziale Kriterien einbeziehen. Macht das Sinn? Wolff: Na ja, das ist natürlich eine politische Frage, wie stark man soziale Kriterien bei Investitionen einbringen will. Ich denke, was schon eine große Stärke in Europa ist und war in den letzten Jahren ist, dass wir eine soziale Marktwirtschaft haben, dass wir nicht nur ein rein wirtschaftsliberales Modell haben, sondern dass wir auch Leuten helfen, die ihren Job verlieren, einen neuen Job zu kriegen. Wir setzen uns bei der Ausbildung ein, bei der Ausbildung junger Menschen, bei der Ausbildung auch Berufstätiger, und all diese Themen sind, glaube ich, Themen, die mehr und mehr gerade im internationalen Vergleich als Stärke gesehen werden, die uns vielleicht auch gerade absetzen von einem Amerika, das kein Sozialmodell hat und dann wirklich letztendlich eine gescheiterte Wirtschaftspolitik hat. "Bei bestimmten Themen stärker zusammenarbeiten" Kaess: Emmanuel Macron schlägt jetzt vor, für die Eurozone einen gemeinsamen Haushalt, einen gemeinsamen Finanzminister und ein Parlament auch noch dazu. Was würde das bedeuten? Wolff: Ich glaube, das weiß noch niemand so genau. Das sind bis jetzt erst mal nur Schlagwörter. Was genau dahintersteht, muss sich noch zeigen. Das muss noch ausbuchstabiert werden. Das sind auch erst mal Forderungen, die aus Paris kommen, die natürlich verhandelt werden müssen. Ich glaube, der grundsätzliche Ansatz, dass man bei bestimmten Themen stärker zusammenarbeitet, wie zum Beispiel bei europäischen Investitionsprojekten, die auch auf europäischer Ebene Sinn machen, dass man im Banken- und Finanzbereich noch stärker sich verzahnt und noch stärker akzeptiert, dass man nicht eine gemeinsame Währungsunion haben kann und gleichzeitig macht jeder was er will mit seinen Banken. Ich glaube, das ist schon der richtige Ansatz. Wir müssen da stärker zentralisieren, um aber umgekehrt bei anderen Themen wiederum bereit sein zu können zu sagen: okay, wenn ein Land schlecht wirtschaftet, dann muss dieses Land auch die Konsequenzen des schlechten Wirtschaftens selber tragen und im Notfall auch in eine Staatsinsolvenz gehen. Kaess: Deutschland ist ja auch dagegen, mehr Geld und Einfluss nach Brüssel zu geben. Zumindest bisher hat Finanzminister Schäuble die Bedingung gestellt, dass andere Länder weniger Schulden machen müssen. Ist die SPD da näher an Macron als die Union? Stärker zusammenarbeiten und so Eigenverantwortung stärken Wolff: Da wäre ich sehr vorsichtig. Ich glaube, das würden sich sehr viele Leute so vorstellen in großen Teilen Europas. Ich glaube, wenn die SPD dann selber erst mal im Kanzleramt sitzt, wird auch ganz schnell klar sein, dass Deutschland nicht der Zahlmeister Europas sein kann. Insofern: Dass alle Mitgliedsstaaten Europas ihre Hausaufgaben machen müssen und verantwortlich sind für ihre eigene Haushaltspolitik, das ist eigentlich ein Ziel, das viele in Deutschland haben und zurecht haben und das wir auch haben müssen, weil es kann nicht sein, dass eine Währungsunion so aussieht, dass einer für alle zahlt. Das wird nicht funktionieren. Wir müssen definitiv die Eigenverantwortung der Mitgliedsländer stärken. Aber bei einigen bestimmten Themen müssen wir stärker zusammenarbeiten und wenn wir das machen, nur dann können wir die Eigenverantwortung der Länder stärken. Kaess: … sagt Guntram Wolff. Er ist Direktor des Bruegel-Instituts, einer europäischen Denkfabrik. Danke für Ihre Zeit heute Abend. Wolff: Vielen Dank! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guntram Wolff im Gespräch mit Christiane Kaess
Deutschland benötige mehr Wachstum - das sei in deutschem wie im europäischen Interesse, sagte Guntram Wolff vom Bruegel-Institut im DLF. Um das zu erreichen müssten Unternehmen mehr investieren. Anreize versuche SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz mit der von ihm umrissenen Investitionsoffensive zu setzen. Auch der Vorstoß von Emmanuel Macron zur besseren Verzahnung des Banken- und Finanzbereichs auf EU-Ebene sei richtig.
"2017-05-08T23:24:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:54.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-franzoesische-wirtschaftspolitik-deutschland-muss-100.html
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"Die Studie hat ein Glaubwürdigkeitsproblem"
"Die Studie sagt ja ganz deutlich, dass in den Diözesen ein ganz unterschiedlicher Aufklärungswille ist", sagte der Jesuitenpater Klaus Mertes im Dlf (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte) Benedikt Schulz: Klaus Mertes hat 2010, damals als Leiter des Berliner Canisius-Kollegs die Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich gemacht und letztlich dadurch Aufklärungsanstrengungen überhaupt erst den Weg bereitet. Sie haben also die Zahlen jetzt auch gelesen, Sie haben auch die Genese dieser Studie sicherlich verfolgt in den vergangenen Jahren. Was lesen Sie jetzt aus dieser Studie? Mertes: Ich bin über das, was ich lese, jetzt nicht sonderlich überrascht. Die Stärke der Studie ist eben, dass sie jetzt in kompakten noch mal einfach deutlich bestätigt, was wir ja schon seit vielen Jahren wissen oder ahnten oder hochgerechnet haben. Schulz: Und ist es jetzt nach all den Jahren der große Wurf, diese Studie? Mertes: Ich finde, sie ist ein großer Schritt, weil hier eben wirklich, mit all den Mängeln, die ja eben gerade auch genannt worden sind, eben doch wirklich sehr seriös gearbeitet ist und die Forscher das, was ihnen möglich war, auch wirklich getan haben. Und die Kirche ja im Übrigen nicht verschonen mit den Informationen, die sie nun valide vorliegen haben, sowie mit ihren Reflexionen sowohl zu den Bedingungen, unter denen sie geforscht haben, als auch über die Konsequenzen, über die sie nachdenken. "Kein Vorwurf an die Studie, sondern eine grundlegende Frage" Schulz: Man könnte meinen, dass die katholischen Bischöfe sich von dieser Studie, die ja nun jetzt bald dann auch offiziell veröffentlicht wird, und sie hat ja eine Genese von vier Jahren oder noch länger, je nachdem, wie man es betrachtet, dass Sie sich davon eine Art Befreiungsschlag erhoffen. Wird dieser Befreiungsschlag kommen oder ausbleiben? Mertes: Ich glaube, dass der Befreiungsschlag deswegen letztlich nicht kommen wird und auch nicht kommen kann, weil die Studie durch die Struktur selbst, durch die sie zustande gekommen ist, eben ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Das ist kein Vorwurf an die Bischöfe, die diese Studie in Auftrag gegeben haben. Ich finde es gut, dass sie diese Studie in Auftrag gegeben haben, und ich kenne ganz viele Kirchen in europäischen und anderen Ländern, die niemals eine solche Studie in Auftrag geben würden. Insofern ist es ein großer Schritt. Das Problem aber ist und bleibt, dass die Kirche selbst der Auftraggeber ist, und damit stellt sich auf der Rezeptionsseite eine Glaubwürdigkeitsfrage. Die Alternative dazu ist eben letztlich eine Studie, die nicht im Auftrag der Bischofskonferenz gemacht worden ist, wie das in Pennsylvania oder in Irland oder in Australien der Fall war. Das ist die Strukturfrage, die da steht. Das ist aber kein Vorwurf an die Studie, sondern es ist eine grundlegende Frage daran, ob eine Institution überhaupt in der Lage ist, Missbrauch und Machtmissbrauch, der in ihren Reihen stattgefunden hat oder in ihren Reihen vertuscht worden ist, selbst aufzuarbeiten. Dass es ohne sie auch nicht geht, ist klar, und darin liegt das Verdienst dieser Studie und auch der Beauftragung zu dieser Studie. "Ganz unterschiedlicher Aufklärungswille in den Diözesen" Schulz: Sie sagen jetzt, es wäre auch kein Vorwurf an die Bischöfe. Aber man kann ja auch böswillig jetzt natürlich vermuten, dass es da einfach gar keinen echten Aufklärungswillen gibt. Wenn man sich die Auswahl der Informationen letztlich doch selbst vorbehält. Mertes: Ja, das ist eine interessante Information, die ja aus dieser Studie offensichtlich zu kommen scheint. Ich muss hier sagen, dass ich mich natürlich jetzt auch nur auf Artikel beziehe und die Studie selbst noch nicht kenne. Das ist ein Vorbehalt, den ich machen muss. Aber die Studie sagt ja ganz deutlich, dass in den Diözesen ein ganz unterschiedlicher Aufklärungswille ist. Finde ich eine interessante Information. Es gibt offensichtlich Diözesen, die sehr gut kooperiert haben und sehr gründlich gearbeitet haben. Die entscheidende Frage, vor der ja jede Studie steht, die auch den Anspruch hat, veröffentlicht zu werden, ist die Frage nach den Persönlichkeitsrechten, die zu schützen sind, bei allen Personen, um die es geht, insbesondere auch bei den Opfern im Übrigen. Und diese Frage muss jede Instanz, die einen Bericht veröffentlicht, klären, auch die Berichte in Pennsylvania, die von einer unabhängigen Kommission gemacht worden sind, haben Namen anonymisiert. Schulz: Aber das hätte man ja hier auch machen können, das hätte doch eine totale Akteneinsicht geben können. Mertes: Aber trotzdem wäre es immer noch eine Studie, die im Auftrag der Bischofskonferenz gegeben worden wäre, und damit wäre die letzte Verantwortung wieder bei der Bischofskonferenz, und damit auch die Letztverantwortung für den Umgang mit den Daten bei der Bischofskonferenz. Deswegen funktioniert es ja nicht. Es muss eine Struktur gefunden werden, in der eine Kommission aus eigener Vollmacht Einblick in die Akten verlangen kann und diesen Einblick auch durchsetzen kann und dann selbst auch die volle Verantwortung für die Veröffentlichung übernimmt. Schulz: Jetzt zeigt aber doch im Prinzip, so, wie es jetzt nun gelaufen ist, ein bisschen für Außenstehende davon, dass sich innerhalb der katholischen Kirche an dieser Mauermentalität letztlich nicht so viel geändert hat in den vergangenen acht Jahren. Mertes: Es bröckelt schon einiges, finde ich. Aber es gibt eben auch Kreise, die resistent sind und bleiben. "Kann die Kirche sich selbst aufklären?" Schulz: Der Papst beruft ja jetzt eine weltweite Bischofskonferenz ein, ein relativ einmaliger Vorgang. Das Ganze findet statt im Februar. Wie finden Sie einen solchen Vorschlag? Hilft das was, wird das was bringen? Mertes: Was war der Vorschlag, sagen Sie es mir noch mal ganz genau? Schulz: Dass er eine weltweite Bischofskonferenz zum Thema Missbrauch in der katholischen Kirche einberufen möchte jetzt im Februar im Vatikan. Mertes: Ich wüsste jetzt keinen Grund, den ich dagegen haben könnte. Aber auch diese Bischofskonferenz wird sich dann mit der Frage beschäftigen können, kann die Kirche, die Institution selbst, die ja Teil des Problems ist, sich selbst aufklären und aufarbeiten und das Problem lösen? Ich würde mir von einer solchen Bischofskonferenz die Einsicht wünschen, wir schaffen es nicht. Und zwar nicht, weil wir zu wenig Willen haben – das mag ja bei einigen auch der Fall sein –, sondern weil es von der Struktur her nicht klappt. Es muss in der Kirche selbst, auch auf weltkirchlicher Ebene, eine Gewaltenteilung irgendeiner Art eingeführt werden, in der Instanzen dann vorgesehen sind, die aus eigener Vollmacht an die Aufklärung herangehen können und von der Kirche und den Institutionen nicht im Auftrag der Hierarchie, sondern in eigener Vollmacht Aufarbeitung beginnen können. "Die strukturellen Hintergründe aufarbeiten" Schulz: Die Studie benennt kirchenspezifische Risikofaktoren. Einen Faktor haben Sie letztlich jetzt auch gerade schon genannt, nämlich die Hierarchie, die hierarchischen Strukturen und eben die fehlende Gewaltenteilung. Und es gibt noch den anderen, es gibt noch den priesterlichen Zölibat, überhaupt, die Machtstrukturen in der Kirche. Das fordert alles Konsequenzen, Konsequenzen, die eigentlich schon seit Jahren von vielen Seiten gefordert werden. Wird diese Studie zu echten Konsequenzen führen? Mertes: Ich glaube, dass die Studie dazu einen Beitrag leisten kann, weil es ja inzwischen auch so ist, dass auch, wie soll ich sagen, 98 Prozent der Katholiken, die in der Kirche leben, darin ihre Heimat haben, auch im Auftrag der Kirche und im Geist der Kirche in Gesellschaft und Politik und in Lehrberufen und Krankenhausberufen Verantwortung übernehmen, irgendwann auch den Anspruch haben, dass mehr kommt als nur die Bitte um Verzeihung, sondern dass auch wirklich Entscheidungen getroffen werden, die die oft benannten strukturellen Hintergründe, sozusagen den katholischen Geschmack am Missbrauch endlich aufarbeiten und durch Entscheidungen da eben auch tätig werden. Und das betrifft eben Fragestellungen, die Sie genannt haben: Das Verständnis des Priestertums, den Umgang mit autoritär-elitären Gruppen in der katholischen Kirche, das betrifft das Feld Homosexualität, die Männerbündischkeit des Klerus und die Zugangsbedingungen zum Klerus, die Machtverteilung in der Kirche und so weiter, und so fort. Es muss an diese Themen herangegangen werden, und ich glaube, die Studie macht einen Beitrag dazu, dass der Druck auf diese Fragestellungen deutlicher wird. "Nicht-Vorkommen von Frauen besonders problematisch" Schulz: Und was ist mit dem Zölibat? Den haben Sie jetzt ausgelassen in Ihrer Aufzählung. Mertes: Ja, ich habe den bewusst ausgelassen, weil ich finde, dass es beim Zölibat zu kurz gegriffen ist. Ich denke, dass das Thema der Männerbündischkeit in diesem Kontext mit gesagt werden muss. Schulz: Das eine schließt ja das andere nicht aus. Mertes: Ja, das eine schließt das andere nicht aus. Ich bin auch dadurch für diese Fragestellung durchaus offen. Aber ich finde, dass es eine Fixierung gibt auf den Zölibat, die nicht tief genug greift. Für viel problematischer halte ich zum Beispiel das Nicht-Vorkommen von Frauen innerhalb des Klerus. Wenn jetzt bloß für die Männer der Zölibat aufgelöst wird, haben wir noch nicht viel geschafft. Schulz: Die Studie benennt letztlich keinen einzigen Verantwortlichen. Und es ist auch gar nicht im Sinne der Studienautoren gewesen, das zu tun. Täter, Mitwisser, Vertuscher taucht alles nicht auf. Ungeachtet jetzt des Persönlichkeitsschutzes – ist es nicht jetzt mal an der Zeit, auch über persönliche Verantwortung zu sprechen? Es wird ja niemand zur Rechenschaft gezogen. Es wird immer nur kollektiv gesagt, es tut uns leid. Mertes: Genau das müsste geschehen, und genau das müsste eben eine – könnte letztlich nur eine unabhängige Kommission leisten, die eben nicht im Auftrag der Hierarchie arbeitet, die dann zugleich der Gegenstand eben von Anklage ist, bis hin zur persönlich genannten Aufforderung, zurückzutreten, et cetera pp. Das ist in der Anlage dieser Studie nicht vorgesehen, und das ist eben tatsächlich ihre strukturell bedingte Schwäche. "Innerhalb des Kirchenvolkes eine tiefe Spaltung" Schulz: Lassen Sie uns in die Kirche noch mal selbst gehen. Das ist mit den vielen Priestern, die sich nichts unmittelbar haben zu Schulden kommen lassen, wo ist denn deren Aufschrei? Das Kirchenpersonal ist erschreckend schweigsam, wenn nicht gar passiv. Mertes: Das ist nicht meine Erfahrung, sondern ich habe das Gefühl, dass es - mich ja selbst eingeschlossen, wobei ich auch etwas dagegen habe, sozusagen mich jetzt einfach hier auf eine Good-Guy-Seite zu schlagen -, ich habe das Gefühl, dass die Empörung und Erschütterung innerhalb der katholischen Kirche selbst sehr groß ist. Es gibt aber einen ganz wichtigen Punkt. Es gibt ein tiefes Gefühl von ganz vielen Katholiken in der katholischen Kirche, dass die eigentlichen Opfer des kirchlichen Versagens ja zunächst einmal die Missbrauchsopfer sind und nicht die Kirche selbst. Und insofern ist der Hinweis darauf, dass zunächst einmal die Opfer dieser ganzen Entwicklungen die Betroffenen selbst sind, ganz wichtig. Dann aber gibt es auch den Aufstand aus dem Kirchenvolk selbst. Schauen Sie nach Irland, da ist es ja ganz deutlich gewesen. Schauen Sie, was in Amerika läuft, da wird es auch ganz deutlich. In Chile gab es einen ganz klaren Aufstand. Und ich bin auch gespannt, wann es hier in Deutschland losgeht. Es gibt übrigens auch noch einen Gegenaufstand dagegen, den finden Sie in anderen Ländern. Wenn Sie mit Katholiken in osteuropäischen Ländern oder gar in Indien oder Afrika sprechen, die schimpfen auf die katholische Kirche und sagen, sie hat eben den Glauben verloren und ist völlig verweltlicht, vergendert und verschwult, und das ist der eigentliche Grund. Es gibt also auch innerhalb des Kirchenvolkes eine tiefe Spaltung über die Interpretation dessen, was da geschehen ist. Schulz: Die Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. Seit gestern sind die Zahlen also bekannt. Darüber habe ich gesprochen mit Klaus Mertes, Leiter des Jesuitenkollegs St. Blasien. Er hat 2010 die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Mertes im Gespräch mit Benedikt Schulz
Dass die katholische Kirche selbst Auftraggeber ihrer Missbrauchsstudie sei, führe zu einem Glaubwürdigkeitsproblem, sagte Klaus Mertes im Dlf. Er hatte 2010 als Schulleiter einen Missbrauchsskandal öffentlich gemacht. Er fordert, es müsse eine innerkirchliche Gewaltenteilung geben, um die strukturellen Hintergründe aufzuarbeiten.
"2018-09-13T00:00:00+02:00"
"2020-01-27T18:10:47.424000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/untersuchung-zu-missbrauch-in-der-katholischen-kirche-die-100.html
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Bedroht, geschlagen und verhöhnt
Beleidigungen, Hetze im Netz, Bedrohungen, Prügel- oder sogar Messerattacken: Polizisten, Rettungskräfte und Lokalpolitiker sind zunehmend Zielscheibe von Gewalt. (pa/dpa/Rumpenhorst) "Wir werden angegangen, weil wir zu langsam sind, weil wir zu spät kommen, auch wenn wir nur drei Minuten zum Einsatzort gebraucht haben - nachweislich." Werner Nölken arbeitet seit 38 Jahren bei der Hamburger Feuerwehr. "Auch, wenn wir nur drei Minuten zum Einsatzort gebraucht haben, nachweislich. Vor Ort werden wir bespuckt, bepöbelt. Es gab vor kurzer Zeit, gerade auch am vorletzten Wochenende, eine Bedrohung mit einer Schusswaffe. Wenn es auch nur eine Softair-Pistole war. Trotzdem ist das ein absolutes No Go und wir verurteilen das natürlich aufs Schärfste, solche Übergriffe, auch wenn bei uns viele Mitarbeiter gerade so im Bereich Kiez, Reeperbahn schon sagen: Das ist doch schon Alltag, wenn da einer, ich sage mal, "Arschloch" zu mir sagt, oder: "wo kommst Du Penner jetzt erst her"? Sowas wird schon als Normalität empfunden, da wird auch gar nichts mehr zu gesagt." "Draußen wird es rauer" Früher fuhr Werner Nölken selbst als Sanitäter Rettungswageneinsätze. Später bildete er Rettungsassistenten aus. Allein im letzten halben Jahr, sagt der heutige Feuerwehrsprecher, gab es zahlreiche Angriffe gegen Kollegen seiner Wache: "So aus dem Kopf heraus weiß ich, dass eine Notfallsanitäterin getreten wurde - in den Unterleib. Es ist ein Kollege mit einem Faustschlag im Gesicht getroffen worden. Ein Tritt vor die Brust und natürlich auch Bespucken und so weiter und so weiter. Es sind Fahrzeuge von uns beschädigt worden durch Fußtritte. Das sind auch Übergriffe, die einfach nicht nötig tun, und da stellen wir schon fest, dass das Ganze rauer wird draußen, wirklich rauer wird." Rettungskräfte beklagen fehlenden Respekt. (PA/dpa/Marcel Kusch) Was Nölken mit "rauer" beschreibt, widerfährt heute immer mehr Menschen, die in Uniform oder qua Amt den Staat repräsentieren: Politikern, Notärzten, Feuerwehrleuten, Sanitätern und Polizisten – viele von ihnen werden immer wieder Opfer von Beleidigungen, Hetze im Netz, von Bedrohungen, Prügel- oder sogar Messerattacken. Dies geht auch aus den Kriminalstatistiken der Polizei und einer aktuellen Studie der Ruhr-Universität Bochum zum Thema Gewalt gegen Rettungskräfte hervor. Drei Beispiele von vielen Anfang Juni soll eine Gruppe von mehr als 100 Menschen auf einem Musikfestival in Darmstadt Polizisten angegriffen und sie mit Flaschen und Steinen beworfen haben. 15 Beamte wurden verletzt. Vor einigen Monaten beschädigte ein Mann in Berlin einen Rettungswagen, der ihm beim Ausparken im Weg stand, und bedrohte die Sanitäter, die gerade ein bewusstloses Kleinkind behandelten. Ende vergangenen Jahres griff ein Mann Andreas Hollstein, den Bürgermeister der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Altena, in einem Dönerimbiss an und verletzte ihn mit einem Messer am Hals. Drei Beispiele, die nur eine kleine Auswahl dessen zeigen, was immer mehr Uniform- und Mandatsträger in ihrem Alltag erleben. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, hat eine Vermutung, warum derartige Übergriffe zugenommen haben: "Wir haben einen Verlust von Anerkennung. Dass das die sind, die sich für mich von morgens bis abends einsetzen, das wird in der Öffentlichkeit wenig kommuniziert, und das führt dann auch dazu, dass man eine Erwartungshaltung hat. Man sieht den Staat als Dienstleister. Der soll gefälligst dafür sorgen, dass es mir gut geht, möglichst besser, und das muss auch ganz schnell gehen. Und wenn das nicht so ist, dann werde ich eben wütend. Das ist eine Struktur, die wir leider haben." Der Verlust von Anerkennung, der Verlust von Respekt – das sind Stichworte, die in diesem Zusammenhang häufig fallen. Marco König vom Deutschen Berufsverband Rettungsdienst, beschreibt exemplarisch eine Gewissheit, die seiner Meinung nach früher für Uniform- und Mandatsträger galt – und die heute häufig nicht mehr zu existieren scheint: "Naja, wenn wir in der Rettungsdienstbekleidung da reinkommen, dann wird man uns schon nichts tun." Stattdessen… "… haben wir schon das Gefühl, dass der Respekt abnimmt. Wir sehen das auch im Straßenverkehr, wenn es darum geht, uns freien Weg zu verschaffen. Weil einige Verkehrsteilnehmer doch sehr rücksichtslos sind und die Sonderrechte so nicht wahrnehmen wollen, die das Rettungsdienstfahrzeug hat." Der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU), wurde mit einem Messer angegriffen. (dpa / Oliver Berg) Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, beklagte in der Neuen Osnabrücker Zeitung im vergangenen Jahr sogar eine "Verachtung gegenüber öffentlich Beschäftigten insgesamt". Über die Gründe hinter dieser Verachtung, dem Verlust von Respekt und Anerkennung, lässt sich nur mutmaßen. Werner Nölken glaubt… "…dass eine Verrohung da ist, dass die Leute einfach viele Dinge von sich selber anders einstufen, auch mit andern Wertprofilen in vielen Dingen rumlaufen." Angriff auf das Amt oder die Person? Die Hemmschwelle scheint heute niedriger: Wem etwas nicht passt, der bringt seinen Unmut schneller zum Ausdruck. Durch Beleidigungen oder gar Gewalt. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass sich etwas verschoben hat. Vom Respekt vor dem Amt oder der Funktion und der oft schwierigen Arbeit, die damit verbunden ist, hin zu der Haltung: wenn Polizei, Feuerwehr, Politiker, Notärzte oder Rettungssanitäter nicht so handeln, wie es mir passt, bekommen sie meinen Unmut direkt zu spüren. Dabei – so der Eindruck vieler Betroffener - richtet sich ein Angriff selten gegen sie persönlich, sondern meist gegen das Amt oder die Funktion, die er oder sie ausüben. Neben diesem allgemeinen Verlust von Respekt und Anerkennung haben die betroffenen Berufsgruppen für sich noch individuelle Gründe für Hass, Hetze und Attacken ausgemacht. Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund erklärt: "Die Bürger erwarten ja immer, dass irgendwelche Probleme ganz schnell gelöst werden, und das ist nicht immer ganz einfach. Wenn Sie in bestimmte Zeitungen schauen, haben Sie auch immer das Gefühl: Ja, warum machen die das denn nicht? In Wirklichkeit sind die Dinge sehr, sehr viel komplexer. Und das kann man nur verstehen, wenn man die Zusammenhänge versteht. Einfaches Beispiel: Ich bin hier in der Kommunalpolitik in Bonn, wir haben ja auch das Schadstoffproblem. Jetzt geht es um Elektrobusse. Da sagt mir ein Bürger: Ja, dann kauft die doch endlich, Geld habt ihr doch! Ja, die muss ich europaweit ausschreiben. Allein die Ausschreibung dauert ein halbes Jahr. Es gibt gar keinen deutschen Hersteller. Ja, wenn Sie das alles nicht wissen, dann fragen Sie sich natürlich: Ja, warum machen die das nicht mal einfach? Und deswegen gehört Politikunterricht viel mehr verstärkt auch in die Schulen, damit das Kinder schon lernen." Für Angriffe auf Rettungskräfte haben Forscher der Ruhr-Universität Bochum noch einen ganz anderen Grund ausgemacht: "Alkohol spielt tatsächlich bei der Entstehung von Gewalt im Einsatz eine nicht zu unterschätzende Rolle." …erklärt Marvin Weigert, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Universität Bochum für die Befragung der Rettungskräfte zuständig war. "Also in den Fällen körperlicher Gewalt war es in unserer Erhebung zum Beispiel so, dass 55 Prozent der betroffenen Einsatzkräfte angegeben haben, dass der Täter alkoholisiert war." Noch einmal anders sieht es bei der Polizei aus. Dort hat man festgestellt, dass Angriffe auf die Beamten gerade bei Großeinsätzen wie Fußballspielen oder politischen Gipfeltreffen häufig eine Art Ersatzhandlung darstellen. Karsten Becker, früher selbst Polizist und heute polizeipolitischer Sprecher der SPD Niedersachsen, erklärt: "Da ist eine Entwicklung in den vergangenen Jahren, dass Polizei auf Grund effizienter, effektiver Einsatztaktiken immer wirkungsvoller dafür sorgt, dass das Objekt, das geschützt werden soll, auch tatsächlich geschützt ist. Und sofern es von Personen angegriffen werden soll, nicht angegriffen werden kann, weil sie gar nicht in die Nähe kommen. Und das führt dann häufig dazu, dass Polizei als – ich benutze mal den Begriff – Ersatzgegner wahrgenommen wird. Das ist natürlich völlig inakzeptabel, aber das ist sicherlich so eine Entwicklung, dass die Menschen ihr eigentliches Ziel nicht mehr erreichen und dann ihre Gewaltanwendung, ihre Gewaltfantasien gegen Polizisten wenden." Auch wenn gezielte Angriffe auf Uniform- und Mandatsträger trotz der gestiegenen Tendenz immer nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung ausgehen, hat die Politik vor kurzem darauf reagiert: Im vergangenen Jahr hat der Bundestag Paragraph 113 des Strafgesetzbuches verschärft, der das Strafmaß im Fall von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte regelt: Ein Angriff auf einen Polizisten wird im Fall einer Verurteilung nun beispielsweise zwingend mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten geahndet, während früher auch eine Geldstrafe möglich war. Karsten Becker, der polizeipolitische Sprecher der SPD Niedersachsen, erklärt, wie es zu dieser Verschärfung des Gesetzes kam: "Das ist eine Diskussion, die aus den Berufsvertretungen der Polizei hervorgegangen ist, die gesagt haben: es reicht. Wir wollen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen und suchen nach Möglichkeiten, wie das wirkungsvoll geschehen kann. Es kann nicht sein, dass Polizisten um ihre Gesundheit fürchten müssen, wenn sie sich um die Sicherheit der Bevölkerung kümmern." Der Bundestag hat die Gesetzeslage verschärft. (picture alliance/dpa - Michael Kappeler) Seit der Verschärfung des Gesetzes stehen zusätzlich auch die Mitarbeiter von Rettungsdiensten, Katastrophenschutz und Feuerwehr unter diesem Schutz. Eine Maßnahme, die auf dem Papier erst einmal gut aussieht. Doch Einsatzkräfte beklagen immer wieder, dass vielen Anzeigen erst gar nicht nachgegangen wird, wie Marco König vom Deutschen Berufsverband Rettungskräfte berichtet: "Es wurden eine Zeitlang vermehrt Strafanzeige gestellt. Inzwischen sind die meisten Kolleginnen und Kollegen müde geworden, die Strafanzeigen zu stellen, weil grundsätzlich die Staatsanwaltschaft nach kurzer Zeit die Ermittlungen wieder einstellt, weil kein öffentliches Interesse vorliegt. Und dann bekommen die Kolleginnen und Kollegen den Brief nach Hause und dann sagen sie einem: Naja, dann ist das jetzt nochmal so, als wenn diese Gewalt mir erfahren wird – also es ist eine Doppelbestrafung, und das macht uns große Sorge, und ich kann die Kolleginnen und Kollegen da gut verstehen, dass sie da müde werden." Selten Anzeige erstattet Denn wird der Anzeige gar nicht erst nachgegangen, helfen auch erhöhte Strafen nicht weiter. Dazu kommt, dass die Betroffenen die Anzeige meist in ihrer Freizeit erstatten müssen, weil während des Dienstes häufig gar keine Zeit dafür bleibt. Auch das empfinden viele als mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit. Karsten Becker von der SPD in Niedersachsen hält die Verschärfung des Gesetzes trotzdem nicht für vergebens: "Ich messe eigentlich der Debatte, die darüber geführt worden ist, ein größeres Maß an Einflussnahme auf die künftige Entwicklung zu, als dem bloßen Umstand, dass wir jetzt höhere Strafen haben. Weil sie einerseits deutlich macht, dass die Gesellschaft hinter den Menschen steht und dass die Politik hinter den Menschen steht, die sich für unsere Sicherheit einsetzen. Und ich glaube, dass auch die Debatte dafür sorgt, dass sich vielleicht auch Täter in ihrer langfristigen Auseinandersetzung mit der Thematik vielleicht doch stärker überlegen, ob sie in ihrem Handeln gegen Polizeibeamte oder Rettungskräfte vorgehen." Eine optimistische Sichtweise, die den Betroffenen bei einem konkreten Vorfall erstmal wenig bringen dürfte. Dabei gehen die Einsätze an vielen von ihnen nicht spurlos vorüber, wie Marvin Weigert durch seine Studie über Rettungskräfte für die Universität Bochum herausgefunden hat: "Bei körperlicher Gewalt war es so, dass etwa 40 Prozent der Betroffenen einen körperlichen Schaden davon getragen haben. Und im Rahmen von Freitextantworten wurde uns eben auch zum Beispiel mitgeteilt, dass man im Rahmen des Einsatzes seine Tätigkeit quasi durchgehend hinterfragt, ob jetzt gleich was passieren könnte , ob man selber vielleicht auch irgendwie was dazu beigetragen hat, oder was dazu beitragen könnte, dass die Situation eskaliert." Für die Politik gibt es diesbezüglich zwar keine Studie, aber auch Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund beobachtet erste Veränderungen bei seinen Kollegen. "Es hat durchaus schon Fälle gegeben, wo Leute gesagt haben: Nee, also ich kandidiere jetzt nicht nochmal. Das Risiko – insbesondere auch für meine Familie – ist mir zu hoch. Es hat häufig auch psychische Folgen, dass die Leute nach einem erfolgten Angriff natürlich ängstlich werden. Es hat ja Rücktritte gegeben im Main-Kinzig-Kreis. Der damalige Landrat – Pieper hieß er – der ist aus diesem Grund nicht wieder angetreten, hat sich nicht nochmal aufstellen lassen und ist in Pension gegangen, also das gibt es schon." Stärker als andere Berufsgruppen werden Politiker häufig auch psychisch enorm unter Druck gesetzt: Beispielsweise durch Hassmails oder Hetze in den sozialen Netzwerken. Gerd Landsberg: "Früher haben die Leute gewütet am Stammtisch, naja, aber irgendwann war die Kneipe dann zu, dann sind sie nach Hause gegangen. Heute setzen sie sich vor den Computer und haben dann natürlich gleich eine Gemeinde von tausenden, teilweise von zehntausenden Leuten, und das verstärkt das ebenfalls, und da muss man klar gegen halten: konsequent anzeigen, konsequent verfolgen, eventuell auch Schwerpunktstaatsanwaltschaften bilden." Weil Anzeigen, Ermittlungen und gegebenenfalls ein Prozess mühsam und zeitaufwändig sind und längst nicht immer zum Erfolg führen, will man sich bei der Polizei nicht ausschließlich darauf verlassen. Stattdessen werden die Beamten seit einigen Jahren in so genannten De-Eskalationstrainings darin geschult, Konflikt-Situationen zu entschärfen, sodass es im besten Fall gar nicht zu einem Angriff kommt. Karsten Becker, polizeipolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in Niedersachsen, erklärt, wie die Trainings funktionieren: "Das sind Rollentrainings, die auf einer Analyse von konkreten Fällen beruhen. Es gibt Phänomene, die führen zu konkreten Gewalttaten. Und es gibt ganz ähnliche, bei denen passiert nichts. Und die schaut man sich an, die hat sich die Polizei angeschaut, und versucht zu analysieren, ob durch unterschiedliches polizeiliches Vorgehen es in dem einen Fall zu einer Gewalteskalation gekommen ist und in einer anderen nicht. Und anhand einer solchen Analyse kann man lernen und das fließt in diese Rollenspiele ganz konkret ein." Wie viele Angriffe durch die De-Eskalationstrainings konkret verhindert werden, lässt sich natürlich nur schwer sagen. Und manchmal verändern sich auch die Rollen: Polizisten, die eigentlich Situationen entschärfen und für Recht und Ordnung sorgen sollen, werden zu Tätern. In den Medien ist dann die Rede von Polizeigewalt. Von Beamten, die Bürger ungerechtfertigt angreifen oder gar misshandeln. Die Deutsche Polizeigewerkschaft spricht in diesem Zusammenhang von Ausnahmen. Amnesty International beklagt hingegen strukturelle Polizeigewalt in Deutschland. Teil des Problems ist, dass es in solchen Fällen keine unabhängigen Ermittlungen gibt; stattdessen ermitteln Polizisten gegen ihre eigenen Kollegen. Im zuletzt zum Thema Polizeigewalt veröffentlichten Bericht schreibt Amnesty International: "Die Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass die Ermittlungsmethoden und -abläufe in Fällen mutmaßlicher polizeilicher Misshandlung beziehungsweise unverhältnismäßiger Gewaltanwendung bedauerlicherweise noch nicht den Grundsätzen entsprechen, die in den von Deutschland unterzeichneten Menschenrechtsabkommen verankert sind." Welche Rolle spielt Polizeigewalt? Karsten Becker von der SPD Niedersachsen weicht beim Thema Polizeigewalt aus: "Ich kenne nicht einen, nicht eine Polizistin, nicht einen Polizisten, der sich in irgendeiner Form darüber freut, im Laufe des Tages in eine gewalttätige Auseinandersetzung einbezogen zu werden. Das Gegenteil ist der Fall, das wünscht sich überhaupt keiner, jeder möchte friedlich seinen ganz normalen Dienstbetrieb und die Anliegen, die an ihn herangetragen werden, abarbeiten können." Marco König vom Deutschen Berufsverband Rettungsdienst gibt hingegen zu, dass auch Rettungskräfte nicht immer unschuldig sind, wenn eine Situation eskaliert: "Es ist so, dass wir auch sicherlich an uns arbeiten müssen. Wir können eben nicht mehr immer davon ausgehen, wenn wir in Rettungsdienstkleidung am Einsatzort erscheinen, dass wir immer auf positives Echo stoßen. Das sind ganz verschiedene Einsatzsituationen – zum Beispiel eben halt die alkoholisierten Personen, die unter Drogen stehen. Und wir müssen noch besser lernen, zu kommunizieren." Mit dem Schlagstock geht ein Polizist in Wuppertal gegen Demonstranten vor. (Marius Becker, dpa picture-alliance) Auch bei der Behandlung von Menschen aus anderen Kulturen und Religionen, findet König, müssten Rettungskräfte noch viel sensibler werden. Häufig bewegen die Einsatzkräfte sich hier auf einem schmalen Grat: zwischen notwendiger medizinischer Behandlung und Rücksichtnahme auf kulturelle oder religiöse Regeln. "Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, wenn wir jetzt mit anderen Kulturen zu tun haben, dass wir das häufig nicht verstehen, weil wir dort einfach nicht die Kenntnisse haben. Und es ist einfach so, wenn wir zu einer Patientin kommen mit islamischem Glauben, dann ist es halt eine andere Untersuchung, andere körperliche Untersuchung, als wenn wir das bei einer Frau machen, die nicht den islamischen Glauben hat. Und da müssen wir Rücksicht drauf nehmen. Wir können nicht sagen: Naja, weil wir jetzt vom Rettungsdienst sind, haben wir alle Freiheiten und der Glaube wird zurückgestellt. Aber da gibt’s halt viele Situationen, wo wir das einfach vielleicht auch nicht wissen." Flächendeckende De-Eskalationstrainings wie bei der Polizei gibt es bei den Rettungskräften noch nicht. "Wir haben inzwischen ein neues Berufsbild, den Notfallsanitäter, eine dreijährige Ausbildung, wo wir jetzt erstmals in der Ausbildung auch Kommunikation haben mit 200 Stunden, wo wir auch uns ganz viel von versprechen, dass wir nämlich auch de-eskalierend einwirken können, dass wir früh Anzeichen wahrnehmen können: wann ist jemand so aggressiv, dass er uns gefährlich werden kann? Dass wir dann entsprechend auch den Rückzug antreten können." Eine Lösung für das Gewaltproblem hat bislang keine der betroffenen Berufsgruppen gefunden. De-Eskalationstrainings können Gewalt abmildern, doch den verloren gegangenen Respekt, den viele Uniform- und Mandatsträger beklagen, können sie nicht wieder herstellen. Werner Nölken von der Hamburger Feuerwehr findet, dass auch viele Medien ihren Anteil daran haben: "Es gibt Printmedien, da gibt es eine Telefonnummer, die rufe ich an und schicke denen meine gerade gemachten Bilder. Da gibt es auch noch Geld für. Damit provoziere ich natürlich auch die Menschen draußen, die möglichst heißesten Bilder zu machen, heißt in Form von Flamme und sonstigem. Jetzt hat jeder sein Handy, jeder dreht seinen Film. Auch diese ganze Gafferproblematik zählt für mich mit irgendwo in dieses Ganze hinein. Das gab es vor vier, fünf Jahren nicht." Und Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund ergänzt: "Und wenn es eine Talkshow gibt und dann brüllen sich da Politiker an oder auch andere und dann geht einer raus – am nächsten Tag wird nicht über die Sache berichtet, nein, es wird über diesen Vorgang berichtet. Das schafft ein bestimmtes Umfeld, dass Leute glauben: Ja, das ist richtig so."
Von Catalina Schröder
Der Ton gegen Rettungskräfte, Polizisten und Lokalpolitiker wird rauer. Sie werden bedroht, verhöhnt oder gar angegriffen, obwohl sie eigentlich helfen wollen. Verbandsvertreter kritisieren, die Bürger hätten zu hohe Ansprüche an die staatlichen Repräsentanten. Aber es geht auch um einen grundsätzlichen Verlust an Respekt.
"2018-07-12T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:01:31.086000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-gegen-repraesentanten-des-staates-bedroht-geschlagen-100.html
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"Zwölf Wochen in Riad"
In Saudi-Arabien dürfen viele Frauen ihr Gesicht nicht zeigen. (DVA / dpa) Als Frau aus dem Westen allein in Saudi-Arabien zu leben, das ist eine echte Herausforderung. Wie etwa eine Wohnung finden?, fragt sich Susanne Koelbl bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt Riad. Für eine alleinstehende Einheimische wäre das praktisch unmöglich – die strenge saudische Lesart des Islam ließe es nicht zu. "In privaten Angelegenheiten ist hier noch immer die Familie das alles bestimmende Gesetz, und die wenigsten würden einer erwachsenen Frau erlauben, ohne männlichen Schutz zu leben. Ohne Zustimmung eines Vormunds würde ein Wohnungsbesitzer gar nicht erst an eine Frau vermieten. Umgekehrt wird wiederum auch nicht an alleinstehende Männer vermietet, wenn bereits Frauen im Haus wohnen. Als westliche Frau falle ich jedoch nicht unter die lokalen Gepflogenheiten und Familiengesetze." So findet Koelbl eine Wohnung, mit Balkon und Sicht auf die Wolkenkratzer Riads. Von hier aus beginnt sie ihre Reise durch ein Land, das andersgläubigen Ausländern nur wenige Blicke in sein Innenleben gewährt. Sie trifft königliche Hoheiten, besucht mit anderen Frauen Hochzeiten, geht auf Wüstentrips und trifft Ausländer, die zu Hause heimlich Alkohol herstellen. Sie lupft den Schleier, der über Saudi-Arabien liegt, in einer Zeit, in der das Königreich einen einzigartigen Umbruch erlebt: "Die Saudi-Araber selbst sind verunsichert angesichts dessen, was gerade in ihrem Land passiert, das so ultrakonservativ ist wie kein anderes auf der Arabischen Halbinsel. Gleichzeitig strebt das Königreich mit aller Macht in eine neue, prosperierende Zukunft – mit ungewissem Ausgang. Es ist ein Glücksfall, diesen historischen Aufbruch aus nächster Nähe erleben zu dürfen. Jede Begegnung in Saudi-Arabien ist wie ein kleines Abenteuer." Schwerpunkt auf Frauenrechten Weil die Ölvorkommen eines Tages aufgebraucht sein werden, muss das Land seine Wirtschaft umbauen – mit Folgen für die Gesellschaft. Gerade für Frauen öffnet der Wandel neue Chancen. Ihnen widmet Koelbl einen Schwerpunkt. Die Männer herrschen über fast alle Lebensbereiche. Frauen leben zurückgezogen. Ihr Gesicht dürfen viele nur den engsten Verwandten zeigen: dem Vater oder dem Bruder. Einem Cousin schon nicht mehr, weil er ein potenzieller Ehemann ist. Viele Frauen wollen mehr Freiheiten – gleichzeitig werden lokale Sitten wie die Vollverschleierung häufig auch von ihnen selbst nicht in Frage gestellt. Frauen müssten ihre Schönheit vor Männern beschützen, sagt etwa Amira, die Koelbl bei einem Koran-Wettbewerb für Mädchen trifft. "Sie ist Anfang vierzig, perfektes Englisch, elegantes Make-up mit knallrotem Lippenstift, Englischlehrerin, Diplomatengattin. Sie kommt jeden Tag in die Koranschule, wenn die Kinder aus der Schule abgeholt und versorgt sind [...] Frauen seien verführerisch und verführbar, sagt Amira [...] Dass es möglicherweise auch an den Männern sein könnte, sich zu zügeln oder bestraft zu werden, wenn sie Frauen sexuell belästigen oder ihnen Gewalt antun, ist hier offensichtlich außerhalb des Denkbaren." Sehr deutlich wird aber auch die Zerrissenheit, unter der viele saudische Frauen leiden. Eine Stärke des Buches liegt vor allem darin, dass Koelbl westliche Klischees zwar aufgreift, es aber nicht bei ihnen belässt, sondern viel differenzierter und tiefer auf das Land blickt. Da ist etwa Dschamila, 29, einerseits erfolgreiche Bankerin, andererseits tiefgläubig und verschleiert mit dem Nikab. Seit ihrer Kindheit ist sie den Regeln der Religionsgelehrten streng gefolgt – um jetzt festzustellen, dass die Geistlichen auf einmal etwas anderes predigen, um die Gunst der Herrscher nicht zu verlieren. "Dschamila sagt, sie fühle sich betrogen. Sie wünschte, zehn, zwanzig Jahre jünger zu sein, um den gesellschaftlichen Aufbruch dieser Tage genießen zu können. All die Jahre sei sie eine Frau unter vielen gewesen, weil sie ihr Gesicht nicht habe zeigen dürfen. Nie sei sie erkennbar anders als andere gewesen [...] Sie könne den Nikab jetzt nicht mehr abnehmen: Der Vater wäre enttäuscht, die Mutter traurig und ihre Reputation [...] zerstört." Die ambivalente Führung Vorangetrieben wird der Wandel vom Kronprinzen Mohammed bin Salman, dem eigentlichen Herrscher Saudi-Arabiens: jung, ehrgeizig, ungeduldig. Ihm haben es die jungen Saudis zu verdanken, dass sich das Land öffnet. Dementsprechend populär ist der 33-Jährige. Doch Mohammed bin Salman ist auch der Mann, der die saudische Militärintervention im benachbarten Jemen angeordnet hat. Menschenrechtler sitzen in Haft, wo sie gefoltert werden, wie Koelbl schreibt. Sie hält den Kronprinzen für unberechenbar, grausam und ruchlos. Die CIA ist sich sicher, dass er auch den brutalen Mord an dem Regierungskritiker Jamal Kashoggi angeordnet hat, den Koelbl persönlich kannte. "Die Botschaft, die von diesem Mord ausgeht, ist klar. Sie richtet sich an alle, die dem König und seinem mächtigen Sohn Schaden zufügen wollen: Niemand ist sicher vor dem Zugriff unserer Macht. Ganz gleich, wo du bist auf dieser Welt, wir kriegen dich. In den Tagen nach Jamals Ermordung schweigen meine saudi-arabischen Freunde zu dem Fall. Sie senken den Blick, wenn ich mit ihnen darüber sprechen will. Sie lenken vom Thema ab, zu gefährlich." Wäre es besser, wenn ein derart autoritärer Herrscher mit seinen Reformen scheitert? Wohl kaum, warnt Koelbl. "Ein Fehlschlag würde die Arbeitslosigkeit erhöhen, zur Verarmung mehrheitlich junger Saudis führen, irgendwann käme es wohl zum Aufruhr. Doch ein Ende der saudischen Regierung brächte jetzt vor allem weitere Instabilität im Nahen Osten. Radikal-religiöse Kräfte gewännen rasch die Oberhand. Dann wären Milliarden von Petrodollars in der Hand von Extremisten, die Weltmärkte führen Achterbahn und neue Flüchtlingsbewegungen wären zu erwarten." Der Spiegel-Journalistin ist ein sehr lesenswertes und kurzweiliges Länderporträt gelungen, kritisch, aber offen im Blick, charmant im Ton, mit seltenen Einblicken in ein für den Westen meist verschlossenes Land. Saudi-Arabien, so viel wird auch klar, steht am Anfang einer schwierigen und langen Transformation, die Auswirkungen auf die ganze Welt haben wird. Susanne Koelbl: "Zwölf Wochen in Riad. Saudi-Arabien zwischen Diktatur und Aufbruch", DVA, 320 Seiten, 22 Euro.
Von Jan Kuhlmann
Die saudi-arabische Führung modernisiert ihr Land, dennoch bleibt das Königreich abgeschottet und wird nach wie vor streng autoritär regiert. Ein Scheitern dieses Systems wäre jedoch fatal, führt die Journalistin Susanne Koelbl aus. Es würde den Nahen Osten noch instabiler machen.
"2019-06-17T19:15:00+02:00"
"2020-01-26T22:57:35.990000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/susanne-koelbl-zwoelf-wochen-in-riad-100.html
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Appell an die moralische Verantwortung
Martin Winterkorn, EX-Vorstandsvorsitzender des VW-Konzerns. (dpa / picture-alliance / Ulrich Baumgarten) Der frühere Vorstandschef Martin Winterkorn, auch die aktiven Vorstände bei VW, zeigen wenig Neigung, auf die variablen Vergütungen zu verzichten: "Pacta sunt servanda" – Verträge müssen eingehalten werden. Darauf berufen sie sich, denn die Boni sind vertraglich fest geregelt und hängen am wirtschaftlichen Erfolg des Konzerns. Maßgeblich sind bei Volkswagen die vergangenen vier Jahre. Den Gürtel enger schnallen auch bei den Boni, wie dies VW-Chef Matthias Müller Ende Dezember angekündigt hatte, das ist also nicht mehr als ein Appell. Klaus Nieding, Vizepräsident der DSW, der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz erklärt: "Rein rechtlich kommt man aus solchen Dingen eigentlich nur raus, wenn man entsprechende Öffnungsklauseln in den Vertragswerken drin hat. Und wenn das bei VW nicht der Fall ist, dann tut man sich rein rechtlich betrachtet schwer mit einer Forderung, dass Vorstände auf ihnen zustehende Leistungen automatisch verzichten müssen." Keine rechtliche Handhabe Eine rechtliche Handhabe hat der Aufsichtsrat also offenbar nicht, sondern die Vorstände müssten einer Kürzung oder einem Verzicht zustimmen. Das gilt jedoch nicht bei Fehlverhalten: Wenn der Aufsichtsrat einem Vorstand dafür eine persönliche Verantwortung nachweisen könnte, dann könnte er ihn haftbar machen. Dabei gebe es zwei Arten von Verantwortung, erklärt Rechtsanwalt Nieding: "Das eine ist die des aktiven Tuns, und das andere ist, dass man nicht ausreichend Vorsorge getroffen hat, dass solche Dinge, wenn sie passieren, das natürlich auch nach oben hin entsprechend durchgereicht und durchgemeldet wird. Der § 91 Aktiengesetz spricht da eine klare Sprache, es muss ein solches Risikomess- und Steuerungssystem im Konzern implementiert worden sein vom Vorstand, dass es auch wirklich funktioniert und dass es auch aufdeckt. Wenn das nicht funktioniert, haben wir auch eine Verantwortung des Vorstands." Ausfall der Dividende möglich So bleibt dem Aufsichtsrat wohl nur der Appell an die moralische Verantwortung. Jörg Hofmann, IG-Metall-Chef und Mitglied im Kontrollgremium, hat jedenfalls schon angekündigt, dass man mit dem Vorstand über die Frage diskutieren werde, was in der jetzigen Situation angemessen sei. Schließlich haben die 120.000 Arbeitnehmer im VW-Haustarif keinen Anspruch auf Erfolgsbeteiligung für das vergangene Jahr, sie erhalten voraussichtlich nur eine Anerkennungsprämie. Die Aktionäre werden sich auf eine Kürzung, wenn nicht sogar auf den Ausfall der Dividende einstellen müssen. Deshalb schlägt DSW-Vize Nieding vor: "Ich wäre dafür, dass man bei VW insoweit Maß hält, dass man sagt: Wir zahlen die festen Bestandteile des Gehaltes aus, sofern die Vorstände nicht freiwillig sogar auf solche Dinge verzichten. Also, man zahlt die festen Bestandteile aus und wartet mit variablen Bestandteilen solange, bis der Sachverhalt hieb- und stichfest aufgeklärt ist. Und dann kann man die Dinge neu bewerten."
Von Brigitte Scholtes
Der Volkswagenkonzern steckt durch den Skandal um manipulierte Abgaswerte tief in der Krise. Dass amtierende und frühere Vorstandsmitglieder trotzdem etliche Millionen an Boni erhalten sollen, verstehen viele Menschen nicht. Rein rechtlich betrachtet, ist daran aber wohl nur schwer zu rütteln.
"2016-04-11T13:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:23:23.124000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vw-vorstandsboni-appell-an-die-moralische-verantwortung-100.html
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Wer Erdogan kritisiert, lebt gefährlich
Die türkische Zeitung "Hürriyet" berichtet immer wieder kritisch über die Regierung von AKP-Chef Erdogan - und gerät nun ins Visier der Parteianhänger. (dpa/picture-alliance/Wolfgang Moucha) Die Angreifer kamen um kurz nach Mitternacht. Zu viert lauerten sie Ahmet Hakan, einem der bekanntesten Journalisten der Türkei, vor seinem Büro bei der Zeitung Hürriyet auf. Mit einer gebrochenen Nase, zwei gebrochenen Rippen und zahlreichen Prellungen landete er wenig später im Krankenhaus. "Unsere Mediengruppe und vor allem Ahmet Hakan wurden seit Langem bedroht." Erklärte Sedat Ergin, Hürriyet-Chefredakteur, gegen vier Uhr morgens sichtlich schockiert. "Schon am 6. September wurde die Hürriyet-Redaktion angegriffen, Türen und Fenster wurden eingeschlagen. Zwei Tage später folgte ein weiterer Angriff. Und nun wurde einer von uns zusammengeschlagen... Was für eine Demokratie ist das, in der Journalisten morgens um vier Presseerklärungen vor einem Krankenhaus abgeben müssen?" Tatsächlich kam der Angriff nicht von ungefähr. Mehrfach hatte Ahmet Hakan zuvor um Polizeischutz gebeten – ohne Erfolg. Grund für die wachsende Angst ist eine Art Schlammschlacht, die AKP-nahe Bürger, Medien und Politiker seit Wochen gegen Hürriyet führen. "Wie ein Schizophrenie-Kranker wähnst du dich noch immer in den Tagen, in denen die Hürriyet unser Land regierte", schrieb der Journalist Cem Kücük im September in der AKP-nahen Star-Zeitung an die Adresse des nun niedergeschlagenen Ahmet Hakans. Und weiter: "Wenn wir wollten, könnten wir dich wie eine Fliege zerquetschen. Du bist nur noch am Leben, weil wir bislang Mitleid mit dir hatten." "Die Hürriyet ist die mächtigste Zeitung der Türkei." Erklärt Medienwissenschaftlerin Ceren Sözeri von der Istanbuler Galatasary-Universität den offenen Hass der Erdogan-Anhänger. "Es herrscht eine Atmosphäre der Angst" "Sie hat so viele Leser, dass sie die Politik und den Alltag beeinflussen kann. Die AKP hätte gern die Unterstützung eines solchen Mediums, um selbst Glaubwürdigkeit zu erhalten. Aber die Dogan-Medien sind die letzten im Land, die bisher nicht "auf Linie" gebracht werden konnten. Das ist der Grund, warum sie angegriffen werden. Dogan repräsentiert eine Art uneinnehmbare Festung." Eine Festung, die sich allerdings selbst immer wieder den Vorwurf gefallen lassen muss, einseitig zu berichten, so die Medienwissenschaftlerin. Und so ist der Krieg zwischen Recep Tayyip Erdogan und Aydin Dogan auch alles andere als neu. Vor einigen Jahren schon brachte eine umstrittene Steuerstrafe von 2,5 Milliarden Euro den Medienkonzern fast zu Fall. Doch Hürriyet und Co überlebten – und wurden nach vorübergehender Zurückhaltung in den vergangenen Monaten wieder deutlich mutiger in ihrer Kritik. Nicht ohne Folgen. "Wir wissen, wie wir Aydin Dogan die Nägel und die Zähne ausreißen können." Erklärte der AKP-Abgeordnete Mehmet Metiner vergangene Woche in einer Fernsehtalkshow. Worte, die selbst den 70-jährigen Turgay Olcayto noch schockieren. Nie sei der Druck auf kritische Medien am Bosporus so groß gewesen wie im Moment, so der Vorsitzende des türkischen Journalistenverbandes. Nicht nur die aktuelle Schlammschlacht, auch die Tatsache, dass neuerdings eine fast ausschließlich mit AKP-nahen Bürokraten besetzte Kommission über die Vergabe von Journalistenausweisen in der Türkei entscheidet, spreche für sich. Kritische Medienleute müssen damit rechnen, bald keine offizielle Berufserlaubnis mehr zu haben. Turgay Olcayto: "Es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Der Premier und der Präsident brauchen nur ein Medium oder einen Journalisten zu nennen – und sofort wächst der Druck. Die Staatsanwaltschaft beginnt zu ermitteln, es gibt Schadensersatzklagen usw. Die Regierung hat eine ganze Armee von Anwälten, die rund um die Uhr damit beschäftigt ist, Leute zu verklagen. Das alles zusammen mit den Drohungen und Attacken der letzten Wochen führt dazu, dass keiner mehr frei schreibt. Die Selbstzensur wächst." Immerhin: Der niedergeschlagene Ahmet Hakan ließ noch im Krankenhaus verlauten, er werde sich weder von Drohungen noch von Attacken einschüchtern lassen. Doch längst nicht jeder türkische Journalist zeigt so viel Mut. Zahlreiche sind bereits verstummt. Vier Wochen vor den für den 1. November angesetzten Neuwahlen in der Türkei, dürfte es nicht wenige im Land geben, die genau darauf hoffen.
Von Luise Sammann
Kritische Journalisten in der Türkei leben in Angst. Nun wurde ein Vertreter der schreibenden Zunft von AKP-treuen Nationalisten krankenhausreif geprügelt. Von Pressefreiheit kann einen Monat vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 01. November keine Rede sein.
"2015-10-05T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:02:45.927000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-medien-unter-druck-wer-erdogan-kritisiert-lebt-100.html
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Rückkehr mit Mohammed
Das aktuelle Titelbild von Charlie Hebdo (dpa / picture-alliance / Charlie Hebdo) Die Schlagzeile auf dem Heft lautet "Tout est pardonné", also "Alles ist verziehen". Französische Medien interpretieren das als Vergebung des Propheten Mohammeds gegenüber der Zeitschrift, die ihn mehrmals in kritischen Karikaturen thematisiert hatte. Bei dem Mordanschlag auf die Redaktion der Zeitschrift in Paris hatten die Terroristen ihre Tat als Rache für den Propheten gerechtfertigt. Nach den Glaubensvorstellungen von Muslimen sollen weder Gott noch Mohammed oder andere Propheten bildlich dargestellt werden. Das hängt mit dem Verbot der Anbetung von Götzen zusammen. Magazin erscheint in 16 Sprachen Insgesamt waren bei den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" und einen Supermarkt für koschere Lebensmittel 17 Menschen getötet worden, zwölf davon in der Redaktion des Magazins. Auch die drei Terroristen starben. Die neue Ausgabe erscheint in fünf Sprachen - darunter arabisch und türkisch - und in einer Auflage von drei Millionen Exemplaren; üblicherweise sind es 60.000. Die Zeitung "Liberation" hatte den Redaktionsmitgliedern von "Charlie Hebdo" Aufnahme in ihren Räumen gewährt, damit sie das aktuelle Heft produzieren konnten. Zuvor hatten sich Karikaturisten und auch überlebende Zeichner der Zeitschrift gegen eine Vereinnahmung des Anschlags durch rechte Gruppierungen wie "Pegida" gewehrt. Auch auf Facebook stellten sich Karikaturisten gegen die islamfeindliche Bewegung. Frankreich nimmt Abschied von den getöteten Polizisten In Frankreich sucht die Polizei weiter nach Unterstützern der Terroristen. Es gebe "ohne Zweifel einen Komplizen", sagte Premier Manuel Valls. Die Lebensgefährtin des Attentäters, der den jüdischen Supermarkt in Paris überfiel, soll bereits nach Syrien geflohen sein. Zugleich nahm Frankreich am Dienstag Abschied von den drei erschossenen Polizisten. An der Veranstaltung in der Polizeipräfektur in Paris nahm auch Präsident François Hollande teil. Beim Anschlag auf "Charlie Hebdo" waren ein Polizist und ein als Personenschützer abgestellter Beamter getötet worden. Im Süden der Stadt wurde eine Polizistin erschossen. (nch/nza)
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Genau eine Woche nach den Anschlägen mit zahlreichen Toten meldet sich "Charlie Hebdo" zurück: In einer Auflage von drei Millionen Exemplaren wird die neue Ausgabe erscheinen. Mit dem Titelblatt macht die Satire-Zeitschrift deutlich, dass sie sich dem Terror nicht beugen will.
"2015-01-13T09:16:00+01:00"
"2020-01-30T12:16:42.815000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/charlie-hebdo-rueckkehr-mit-mohammed-100.html
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Rapper Falz klagt an
Falz lässt in seinem Video vier junge Mädchen in traditionellen Gewändern und hellblauen Hijabs tanzen (FalzVEVO / YouTube) "Das ist Nigeria – schau wie ich jetzt lebe. Jeder ist kriminell!" Um diesen Refrain dreht sich alles. Falz, the Bahd Guy, sagt seinem Land, seinen Fans, den Politikern, den selbst ernannten Predigern oder den Polizisten, wie er Nigeria sieht: Nämlich korrupt, ungerecht, realitätsfremd und verdreht: "Der furchtbare Zustand Nigerias ist zur Normalität geworden. Die Leute erinnern sich fast nicht mehr daran, dass das eben nicht normal ist. Deshalb muss man sagen: Hey wach auf, die Dinge stehen auf dem Kopf." Beispielsweise, wenn eine Polizeistation ein Schild raushängt, auf dem steht: "Ab 18 Uhr geschlossen – wegen Sicherheitsrisiken." – Das gab es wirklich. Falz, the Bahd Guy, hat im "This is Nigeria"-Video eine Menge Wirklichkeit seines Landes mit den Mitteln der Pop-Kultur eingefangen: Die Korruption, die glitzernde Welt der Reichen, die mörderischen Kämpfe zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern. Und – natürlich – den Terrorismus. Falz, the Bahd Guy, lässt in seinem Video vier junge Mädchen, in traditionellen Gewändern und hellblauen Hijabs, also Kopftüchern, tanzen. Sie symbolisieren die jungen Frauen, die von Kämpfern der Terrormiliz Boko Haram entführt und vergewaltigt wurden. Als Nestbeschmutzter und Plagiator beschimpft Prompt empörten sich manche: Junge Frauen tanzend, in traditioneller islamischer Kleidung - unmöglich! "Typisch", sagt der Rapper: "Immer versuchen Leute, den Überbringer der Botschaft zu erschießen – damit sie die Botschaft nicht hören müssen", meint der 27-Jährige. Seine Botschaft lautet: Die Nigerianer sollen bewusst wahrnehmen, was in ihrem Land los: Geldgier, Betrug als Alltagserlebnis, Kriminalität. – Zu viele, meint Falz, the Bahd Guy, nehmen das einfach hin und sagen: "Dann heißt es, och, der versucht doch nur, sich über Wasser zu halten. Dabei ist so was kriminell, einfach falsch. Jeder weiß das, versucht aber, es zu verdrängen." Manche sehen ihn als Nestbeschmutzer. Manche als Plagiator, der nur die nigerianische Kopie einer US-amerikanischen Idee abgeliefert habe. In den USA gab es schon den Song "This is America" von Childish Gambino. Aber viele loben Falz als Künstler, der die Verhältnisse in Nigeria beim Namen nenne. Ein Musikkritiker schrieb, man solle Falz, the Bahd Guy, den Preis für den besten politischen Kommentar zur Lage in Nigeria verleihen. Er würde ihn allein schon deshalb bekommen, weil es keine Konkurrenz für ihn gebe in Nigeria. Denn nigerianische Rapper-Videos sehen üblicherweise so aus: Club-Ambiente, viele, viele üppige Frauen in lasziven Posen, coole Kerle. Falz, the Bahd Guy, hat das schon vor einiger Zeit kritisiert. "Wir lassen uns viel zu sehr von Unterhaltung ablenken: glitzernde Lichter, wackelnde Hintern – das ist ja auch okay. Aber wir müssen mal Pause machen und uns anschauen, wie es in unserer Gesellschaft aussieht. Wir Künstler haben eine Stimme. Die müssen wir für das Richtige nutzen." Als Kind den Musiker Fela Kuti kennengelernt Der 27-Jährige ist keineswegs ein Junge aus den Slums von Lagos. Seine Eltern, beide Rechtsanwälte, sind bekannt in Nigeria. Der Vater war lange Jahre Rechtsbeistand des Übervaters der nigerianischen Musik, Fela Kuti. Kuti hatte gegen die Militärdiktaturen des Landes musiziert, protestiert und dabei einiges riskiert. Falz, the Bahd Guy, hat Fela Kuti als Kind kennengelernt. Im Haus seiner Eltern ging es immer um wahre Demokratie, darum, sich für Schwächere einzusetzen. Fela Kuti während eines Konzertes im Jahr 1984. (imago/Future Image/ R. Keuntje) Der Vater tat das mit dem Gesetzbuch. Für den Sohn hieß es erstmal: katholische Grundschule, internationale Oberschule, später Jurastudium. Jetzt rappt Folarin Falana, wie er eigentlich heißt. Unter anderem über die miserable Wirtschaftslage und Nigerias politische Klasse: "Das ist Nigeria – kein Ende der Wirtschaftskrise – wo Plünderer, Mörder und Diebe immer noch zu Wahlen antreten – Politiker stehlen Milliarden, sind aber nie im Knast …" Das alles präsentiert er in einer Mischung aus kernigem Pidginenglisch und Yoruba-Dialekt – das gehört zu seinem Image. Dabei hat der Bürgersohn das Jurastudium abgeschlossen und behauptet, manchmal immer noch als Anwalt zu praktizieren. Aber eben nur manchmal. Falz, the Bahd Guy, will in Zukunft noch mehr über Politik und gesellschaftliche Realitäten rappen: "Ich arbeite daran, mehr Sachen dieser Art zu machen. Mehr dieser Art – damit meine ich, politisches und soziales Bewusstsein zu schaffen." Fast sechs Millionen Klicks auf YouTube Über Mangel an Aufmerksamkeit kann er seit dem Erfolg mit seinem Song "This is Nigeria" definitiv nicht klagen. Fünf Millionen Klicks hat das Video schon seit Ende Mai - dauert gibt er Interviews – und ein Mangel an Selbstbewusstsein ist da nicht zu erkennen: Rapper Falz nennt sich "the Bahd Guy". Das englische Wort für "übler Bursche". Er schreibt das aber nicht korrekt b-a-d, sondern b-a-h-d, die Abkürzung für:"Brilliant and highly distinct""Brilliant und seeeehr deutlich". Und diese Deutlichkeit hat Falz, the Bahd Guy" jedenfalls erstmal viel Prominenz eingebracht. Mal sehen, was da noch kommt.
Von Jens Borchers
Korrupt, ungerecht, realitätsfremd: Der Rapper Falz zeichnet in seinem Song "This is Nigeria" ein düsteres Bild der Lebenswirklichkeit in seinem Heimatland. Der Jurist rappt über Mörder und Diebe, gegen die miserable Wirtschaftslage und Nigerias politische Klasse - und das sorgt für Aufsehen.
"2018-06-16T13:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:26.457000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/musikvideo-this-is-nigeria-rapper-falz-klagt-an-100.html
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"Ein Komplettausschluss wäre Wasser auf Putins Mühlen"
Die russische Hochspringerin Yevgenia Fedotova bei einem russischen Leichtathletik-Wettkampf in Moskau im Februar 2016. (picture alliance/dpa - Mikhail Japaridze) Kommende Woche entscheidet der Leichtathletik-Weltverband, ob die russischen Leichtathleten bei den Olympischen Spielen in Rio starten dürfen. Der russische Sport, insbesondere die Leichtathletik, ist nach den Enthüllungen der ARD und Berichten der Welt-Anti-Doping-Agentur mit gravierenden Doping-Vorwürfen belegt. Doping sei ein Riesenthema und fast täglich in Nachrichten, sagte Deutschlandradio-Korrespondentin Gesine Dornblüth. Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa habe angekündigt zu klagen, sollte sie nicht bei den Olympischen Spielen in Rio im August starten dürfen. In der Öffentlichkeit rechne man aber damit, dass es den Ausschluss der Leichtathletik geben wird und der Sportminister Mutko habe deutlich gemacht, dass dies eigentlich keine Katastrophe wäre. Boykott und Nichtteilnahme aus Solidarität unwahrscheinlich Dass die anderen Athleten aus Solidarität auch nicht nach Rio fahren oder Russland aus Prinzip einen Boykott erklärt, hätten Dornblüths Gesprächspartner für unwahrscheinlich gehalten. Bei den Sportlern sei sich vermutlich jeder selbst der nächste. Zudem wäre ein Boykott für Russland argumentativ schlecht: Man könnte sich dann nicht mehr als Opfer darstellen. Bei den Olympischen Spielen in Sotschi 2014 habe Russland zudem selbst argumentiert, dass ein Boykott nichts bewirke. Zu erwarten sei aber eine Klagewelle von Sportlern, die nicht des Dopings überführt wurden und die trotzdem nicht starten dürfen, so Dornblüth. Eine Konsequenz könnte sein, dass Russland sich zurückziehen könnte. Das wäre schlecht für den Sport, da Russland Strukturen mittrage und Wettbewerbe ausrichte. Der Ausschluss der Leichtathletik werde aber wird nicht zu ernsthaften politischen Verwerfungen führen. Ausschluss des gesamten Teams Anlass für neue Propaganda Im Vergleich zu den Sanktionen gegen Russland sei der Aufschrei angesichts des drohenden Ausschlusses in der russischen Öffentlichkeit gering. Sollte es aber zu einem Ausschluss der kompletten Olympiamannschaft kommen, hätte das nach Einschätzung von Dornblüth eine größere Tragweite. Der Komplettausschluss würde eine "sehr große Empörung und eine neue Welle von Propaganda nach sich ziehen." Putins Macht beruhe darauf, dass er sagt, dass alle anderen Russland Schlechtes wollen. Daher wäre ein Komplettausschluss Wasser auf Putins Mühlen, und würde indirekt dessen Macht stärken, so Dornblüth. Zudem sei ein Charakteristikum russischer Außenpolitik deren Unberechenbarkeit. Sie könnte dazu führen, dass Russland erneut vorgeht gegen seine Nachbarn und eventuell soweit gehe, ein Land zu überfallen wie am Eröffnungstag der Olympischen Sommerspiele 2008 in China, als Russland Georgien angriff. Derzeit sei aber Russland diplomatisch auf dem Rückzug, versuche, die Krim zu wahren, aber suche keinen weiteren Streit, so Dornblüth. Das vollständige Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Gesine Dornblüth im Gespräch mit Astrid Rawohl
In Russland rechne man damit, das die Leichtathleten von den Olympischen Spielen in Rio ausgeschlossen werden, sagte Moskau-Korrespondentin Gesine Dornblüth im DLF. Es sei mit einer Klagewelle zu rechnen. Ein Ausschluss der kompletten Olympiamannschaft werde in der Öffentlichkeit kaum diskutiert, würde aber eine neue Welle der Propaganda nach sich ziehen, so Dornblüth.
"2016-06-12T00:00:00+02:00"
"2020-01-29T18:34:52.271000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russische-sportler-bei-den-olympischen-spielen-ein-100.html
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Spenden als einzige Hoffnung
Nach den Überflutungen in Houston, Texas, kehren die ersten Menschen zu ihren Häusern zurück und begutachten die Schäden. (AFP/ Thomas B. Shea) Kniehoch steht das Wasser in dem Wohnzimmer. Am Klavier mitten zwischen schwimmenden Plastikboxen sitzt ein Mann und spielt. Er wollte seinem Sohn zeigen, dass das Instrument die Fluten überstanden hat. Es muss wohl ein bisschen gestimmt werden, scherzt Aric Harding am Ende des Videos, das er auf Instagram eingestellt hat. Während in Houston die ersten Menschen zu ihren Häusern zurückkehren und die Schäden begutachten, starten und landen Helikopter nonstop in Beaumont. Hier werden die Patienten eines Krankenhauses ausgeflogen. Die Stadt steht unter Wasser. Es gibt kein Leitungswasser mehr, weil Pumpen ausgefallen sind. Der größte Teil der Schäden durch Überflutungen ist nicht versichert, da sind sich die Experten einig. Spenden als einzige Hoffnung Consuelo fängt gerade an, in ihrem Haus aufzuräumen. Sie ist eine von denjenigen, die sich nicht gegen Wasserschäden versichert hat - sie habe schließlich nicht in einer Gefahrenzone gelebt. Für sie und Zehntausende andere sind die Spenden aus dem ganzen Land die einzige Hoffnung. Footballprofi JJ Watt von den Houston Texans hat mit seinem Team am Wochenende angefangen, Spenden zu sammeln. 200.000 Dollar hatte er sich als Ziel gesetzt. Darüber ist er längst hinaus. "Wir haben gerade die 10-Millionen-Grenze überschritten. Ich kann mich gar nicht genug bedanken. Promis, Musiker, Sportler, Unternehmen, Kinder mit ihren Limoständen, die gespendet haben. Wir haben Essen, Wasser, Kleidung, Generatoren, Babysachen und Putzmittel auf dem Weg." Raffinerien liegen still Vor der Küste gibt es einen Schiffsstau, weil der Hafen von Houston noch für große Schiffe geschlossen ist. Auch hier muss erst aufgeräumt werden. Die größte Ölraffinerie der USA ist weiter geschlossen. Ein Drittel der Raffinerien des Landes sind vom Netz und bis die wieder laufen, kann es dauern, erklärt der ehemalige Präsident von Shell Oil John Hofmeister. "Im besten Fall sollte die Raffinerie bis Mitte September wieder laufen. Im schlimmsten Fall könnten schwer beschädigte Raffinerien bis Ende Oktober oder noch länger stillliegen." An Tankstellen in Texas bilden sich lange Schlangen. Der Benzinpreis ist bereits um 10 bis 15 Cent pro Gallone gestiegen. Ein zupackender Vizepräsident Unterdessen war Mike Pence mit weiteren Regierungsmitgliedern in der Krisenregion. Der Vizepräsident hat Arbeitshandschuhe angezogen, die Hemdsärmel hochgekrempelt und mitgeholfen, Äste wegzuräumen. Zupackend - diese Botschaft soll ankommen. Die Bilder unterscheiden sich deutlich von Donald Trump als der vor zwei Tagen in die Krisenregion kam. Der Vizepräsident trifft in Texas im Gegensatz zu Trump Opfer der Flutkatastrophe und er verspricht. "Wir sind bei Euch. Wir werden bei Euch bleiben bis Rockport und der ganze Südosten von Texas wieder aufgebaut sind." Trump will aus Privatvermögen spenden Gestern hat Trump angekündigt, eine Million US-Dollar aus seinem Privatvermögen zu spenden. Außerdem wurde bekannt, dass der US-Präsident dem Kongress ein Hilfspaket in Höhe von 5,9 Milliarden Dollar vorschlagen will. Harvey zieht derzeit weiter Richtung Tennessee und Kentucky. Die Meteorologen beobachten allerdings schon den nächsten Hurrikan. Irma ist noch Tausende Kilometer entfernt. Aber sie behalten den Sturm im Blick und hoffen, dass ihre Befürchtung, dass er in zwei Wochen irgendwo zwischen Florida und Texas auf Land treffen könnte, nicht eintrifft.
Von Martina Buttler
Da der Großteil der Schäden durch Überflutungen in Texas wohl nicht versichert ist, haben viele prominente Amerikaner angefangen, Spenden zu sammeln. Während US-Präsident Donald Trump eine Million US-Dollar aus seinem Privatvermögen spenden will, hat Footballprofi JJ Watt bereits mehr als zehn Millionen zusammen getragen.
"2017-09-01T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:48:44.286000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochwasser-in-texas-spenden-als-einzige-hoffnung-100.html
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Beucher: "Das war nur ein Inklusions-Alibi"
Friedhelm Julius Beucher, Präsident des DBS, wünscht sich bei künftigen Events noch mehr Inklusion von Para-Wettbewerben als aktuell. (dpa / picture alliance / Christoph Soeder) Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), hat die Para-Wettbewerbe bei der Multi-EM in München im Deutschlandfunk "nur als Inklusions-Alibi" bezeichnet. Die Zeiten für die Para-Sportler seinen extrem unattraktiv gewesen und auch in der Medienberichterstattung wären die Sportler nicht vorgekommen, sagte Beucher. Rücktritt nach 33 JahrenWollmert: "Para-Tischtennis ist viel besser geworden" 07:24 Minuten04.06.2022 Para-Biathletin Clara Klug"Es geht darum, Inklusion in den Alltag einzubauen" 32:38 Minuten08.11.2021 Para-Schwimmerin ScholzMit Querschnittslähmung zu Weltrekorden 06:27 Minuten11.06.2022 "Man hat schlicht weg gesagt: 'Es passt nicht da rein!'" Die Veranstalter hätten schlicht keine weiteren Para-Wettbewerbe zugelassen, sagte Beucher. Am Ende sei man froh gewesen, dass mit Rudern und Kanu noch zwei Para-Wettbewerbe übrig geblieben seien. Man habe eine Chance liegen lassen. "Da hätte man die Faszination des Parasports hervorragend unter bringen können", sagte Beucher. "Man hat schlicht weg gesagt: 'Es passt nicht da rein!'". Neben den Parawettbewerben im Rudern und Kanu hätte sich der DBS-Präsident auch sehr gut einen Leichtathletik-Parawettbewerb im Müncher Olympiastadion vorstellen können. Handbikerin Annika Zeyen"Schön, dass immer mehr inklusive Sportevents stattfinden" 07:47 Minuten14.08.2022 Paralympische Winterspiele in Peking"Man kann sich nicht nur auf den Sport fokussieren" 05:17 Minuten23.02.2022 Trotz aller Kritik seien die Para-Sportler in München aber vor Zuschauermassen aufgetreten, die sie sonst nur bei den Paralympics gewohnt sind, sagte er. Dabei gebe es sehr viele Beispiele, von Sportorganisationen, die Para-Wettbewerbe zusammen mit den anderen Wettbewerben durchführen. So veranstalte der Weltreitverband (FEI) bei seiner Weltmeisterschaft alles parallel und es gebe Überlegungen dies auch beim CHIO in Aachen so zu handhaben, sagte Beucher. Klares Pladöyer für deutsche Olympia-Bewerbung Es sei auch keine Möglichkeit, die Olympischen Spiele zur selben Zeit, wie die Paralympics stattfinden zu lassen. "Keine Stadt der Welt kann den Spannungsbogen über vier Wochen aufrechterhalten", sagte der DBS-Präsident. Kommentar zu Olympia-Plänen Olympia-Hype zur falschen Zeit Kommentar zu Olympia-Plänen Olympia-Hype zur falschen Zeit In diesen Tagen wird angesichts des Erfolgs der European Championships der Ruf nach einer deutschen Olympiabewerbung wieder laut. Doch es sei der falsche Zeitpunkt und der falsche Ansatz, ein neues olympisches Fass aufzumachen, kommentiert Bianka Schreiber-Rietig. Olympiapark München "Olympische Winterspiele können wir uns absolut vorstellen" Die Ausrichtung der European Championships sei eine große Herausforderung gewesen, sagte Marion Schöne, Geschäftsführerin des Olympiaparks München, im Dlf. Dass 50 Jahre nach den Olympischen Spiele die alten Sportstätten immer noch genutzt werden können, erfülle sie mit Stolz. Beucher warb im Deutschlandfunk auch für eine deutsche Olympia-und Paralympics-Bewerbung. "Wer solche attraktive Sportereignisse mit einer solchen Zuschauerresonanz nicht nutzt, um einen Prozess in Gang zu setzen, auch um diese Spiele nach Deutschland zu holen, der hat nicht begriffen, was für Chancen das auch für den Sport bietet."
Friedhelm Julius Beucher im Gespräch mit Matthias Friebe
Die European Championships in München wollten auch inklusiv sein. Daher fanden bei der Kanu- und Ruder-EM auf der Regattastrecke auch Para-Wettbewerbe statt. Doch DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher übte im Dlf heftige Kritik an den Organisatoren.
"2022-08-21T19:10:00+02:00"
"2022-08-21T20:29:22.808000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/european-championships-muenchen-parasport-beucher-100.html
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Bei Lufthansa drohen Flugausfälle
Grund für den Warnstreik sind große Differenzen in der aktuellen Lohnrunde. Die Gewerkschaft ver.di fordert für 33.000 Beschäftigte bei der Lufthansa 5,2 Prozent mehr Gehalt bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Der Konzern, wieder mal mitten in einer Sparphase, bietet eine Nullrunde.Deshalb hat ver.di zu einem "Warnsignal" aufgerufen. Es wird massive Auswirkungen haben. Im Zentrum der Warnstreiks stehen die Flughäfen Frankfurt am Main und Hamburg. Hier soll von 5 bis 10 Uhr gestreikt werden. In Berlin sind auch die Flugbegleiter zum Ausstand aufgerufen. Warnstreiks sind auch für München, Düsseldorf und Köln angesetzt.Lufthansa hat morgen zwischen 5 und 12 Uhr alle Deutschland- und Europaflüge von allen betroffenen Standorten aus gestrichen. Langstreckenflüge von Frankfurt, München und Düsseldorf sollen nach Möglichkeit stattfinden. Aber der Flug, der etwa morgen um 5.25 Uhr aus Peking in Frankfurt ankommen solle, fällt aus. Die Liste der gestrichenen Verbindungen findet sich auf der Internet-Seite lufthansa.com.
Von Michael Braun
Am Donnerstag werden voraussichtlich einige Flugzeuge am Boden bleiben. Denn die Gewerkschaft ver.di hat Lufthansa-Mitarbeiter zu Warnstreiks aufgerufen. Im Zentrum sollen vor allem die Flughäfen Frankfurt am Main und Hamburg stehen.
"2013-03-20T13:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:11:43.520000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bei-lufthansa-drohen-flugausfaelle-100.html
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China lockt mit dem großen Geld
"Top-Bedingungen": Hockey-Nationaltrainer Jamilon Mülders zieht es nach China. (imago sportfotodienst) Nach den Olympischen Spielen von Rio de Janeiro 2016, bei denen Mülders mit den deutschen Damen Bronze holte, habe der chinesische Verband alle Trainer der Medaillengewinner angeschrieben. Das habe er damals "schmunzelnd zur Kenntnis genommen". Aber die Chinesen ließen nicht locker und meldeten sich erneut: "Es hatte eine solche Dimension, dass wir über ganz andere Rahmenbedingugen reden." Welche genau, wollte Mülders zwar nicht beziffern. Aber: "Das finanzielle Volumen für die Stelle, das finanzielle Volumen für die Mitarbeiter und das finanzielle Volumen für das gesamte Projekt - das habe ich so noch nicht gesehen in den 26 Jahren beim Deutschen Hockey-Bund und zehn Jahren als Bundestrainer." "Top-Bedingungen" Er selbst bezeichne sich zwar eher als "Heimscheißer", aber das Projekt sei in seiner Gesamtheit einfach nicht auszuschlagen gewesen. Es gebe verschiedene Trainingszentren in China mit "Top-Bedingungen". Allein in Peking stünden drei Kunstrasenplätze, Krafträume, zwei Torhütertrainer, vier Co-Trainer, zwei Manager und zwei Analysten zur Verfügung. "Sie können ein gesamtes Hochleistungssetup auf die Beine stellen und entwickeln." Die Rahmenbedingungen seien gut. Ziel sind die Olympischen Spiele 2020 in Tokio mit ihrem historischen Prestige zwischen China und Japan. "Der Vertrag ist daran gekoppelt, dass wir sie überhaupt nach Tokio bringen. Sobald das nicht mehr möglich ist, ist das Engagement direkt beendet." China Interesse sei in allen Sportarten ein großer Auftritt in Japan. Doping kein Thema Von der Qualität der deutschen Spielerinnen sei seine neue Mannschaft aber im vergleich "noch Lichtjahre" entfernt. "Solch selbständig denkende, handelnde und eigenverantwortliche Athleten gibt es in dieser Konstellation in diesem System nicht." Bei den Vorgesprächen habe er das Thema Doping im chinesischen Sport sehr offensiv angegangen. "Ich gehe mit dem Vertrauen aus den Gesprächen heraus, dass das in dem Bereich, den ich zu verantworten habe, kein Thema ist. Warten wir ab. Ich werde mir das in Ruhe angucken und immer wieder hinterfragen." Die Augen werde er jedenfalls nicht verschließen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jamilon Mülders im Gespräch mit Bastian Rudde
Der Bundestrainer der deutschen Hockey-Damen Jamilon Mülders wechselt nach China. Der Bronze-Trainer von Rio soll die chinesischen Frauen zu den Olympischen Spielen 2020 nach Japan bringen. Das Angebot sei nicht auszuschlagen gewesen. Ein solches finanzielles Volumen habe er noch nicht gesehen, sagte Mülders im Dlf.
"2017-10-01T19:39:00+02:00"
"2020-01-28T10:53:53.350000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hockey-bundestrainer-china-lockt-mit-dem-grossen-geld-100.html
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Saudi-Arabien steht vor umfassenden Wirtschaftsreformen
Der saudi-arabische Königssohn und Verteidigungsgminister Mohammed bin Salman. (dpa / picture-alliance / Olivier Douliery) Es ist unerhört: Über Jahrzehnte waren es gebrechliche, greise Männer, die Saudi-Arabien regierten - jetzt will ein junger Prinz alles umkrempeln. Und was er vorhat, erklärt er in einem langen Fernsehinterview - auch das außergewöhnlich in einem Land, in dem es keine öffentliche Debatte über Politik gibt: "Heute beruht unsere Verfassung auf dem heiligen Buch und auf dem Erdöl. Das ist sehr gefährlich. Im Königreich haben wir eine Art Sucht nach dem Öl. Das verhinderte die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche in den vergangenen Jahren." Mohammed bin Salman al-Saud, Vize-Kronprinz, erst 30 Jahre alt; überlegt und in wohlgesetzten Worten spricht der etwas dicke junge Mann, der Vollbart ist sorgfältig gestutzt. Sein Plan heißt "Vision 2030", sein Vater - also der König -, und das Kabinett haben ihn soeben gebilligt. Etwa 90 Prozent der Staatseinnahmen kommen direkt oder indirekt aus der Ölproduktion - das soll sich ändern. Weil die Preise niedrig bleiben, ist der Reformdruck hoch. - Einzelheiten sind noch nicht bekannt. Nur dies ist schon klar: Der staatliche Ölkonzern Saudi Aramco wird teilprivatisiert, der Erlös fließt in einen Staatsfonds, und was dessen weltweite Investitionen bringen, kann die Regierung zuhause ausgeben. Außerdem werden die großzügigen Subventionen auf Wasser, Strom und Benzin, die die Saudis bisher genossen, weiter gesenkt - aber nur für einen Teil der Bevölkerung, erklärt Mohammed bin Salman: "Wenn wir uns die Staatsregister anschauen, finden wir heraus, dass die Reichen 70 Prozent der Subventionen im vergangenen Jahr bezogen haben - obwohl sie diese Unterstützung gar nicht brauchen! Und das darf doch nicht sein! Nur die Mittelschicht und die unteren Schichten der Gesellschaft bedürfen dieser Subventionen." Eine Kampfansage auch an die vielen Tausend Prinzen. Der opulente Lebensstil der weitverzweigten Familie Al-Saud verschlingt bisher Unsummen. Kometenhafter Aufstieg Mohammed bin Salman hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich. Als sein Vater vor gut einem Jahr König wurde, kannten ihn nur wenige - doch jetzt ist er die Nummer Drei an der Spitze, leitet als Verteidigungsminister unter anderem den Militäreinsatz gegen die Rebellen im Jemen - und er führt Saudi Aramco, das wahrscheinlich größte Unternehmen der Welt, denn sein Vater betraute ihn auch mit einer Art Oberaufsicht über die Wirtschaft. So viel Macht in einer Hand zu konzentrieren, geht gegen die saudische Tradition. Bisher wurden Zuständigkeiten sorgfältig verteilt, damit sich kein Zweig der Familie benachteiligt fühlt. Wie sich Mohammed bin Salman sein Land in 15 Jahren vorstellt - ob es beispielsweise wie das heutige Dubai ist, nur etwas frommer - das weiß niemand. Doch der Prinz scheint das Königreich tatsächlich öffnen zu wollen. Das wird deutlich, wenn er über seine Pläne für die Kultur und den Tourismus spricht: "Während wir die islamische Geschichte ohne Zweifel als sehr wichtig betrachten, haben wir aber auch eine viele hundert Jahre alte Geschichte der Araber. Dazu kommt, dass wir einen Teil der europäischen Kultur und deren Kulturstätten in Saudi-Arabien haben. Und wir haben Ruinen untergegangener Kulturen, tausende Jahre alt, viel älter als vieles andere. Das ist nur ein Teil unseres Kulturguts." So viel Respekt für die vorislamische Kulturgeschichte hat vor ihm wohl noch kein ranghohes Mitglied des Königshauses öffentlich geäußert. Etwa 70 Prozent der Saudis sind so alt wie Mohammed oder jünger. Bei vielen von ihnen kommt er gut an - zum Beispiel bei dieser Berufstätigen in Riad: "Seine Ankündigung, dass Frauen ein Teil der 'Vision 2030' sind - darüber freuen wir uns, wie auch darauf, dass die saudischen Frauen zur Transformation der Wirtschaft beitragen. Dies wird ihnen Möglichkeiten eröffnen, und ganz gewiss werden künftig mehr Frauen in Saudi-Arabien arbeiten gehen." Widerstände sind vorprogrammiert Die Ausbildung des Vize-Kronprinzen war untypisch mittelmäßig: Mohammed studierte nicht im Ausland und hat nur einen Bachelor in Rechtswissenschaften. Dann soll es seine Mutter gewesen sein, die ihn zur Übernahme von Regierungsverantwortung drängte. Man weiß, dass Mohammed vier Kinder hat und gerne Wasserski fährt, dass er alle Produkte von Apple liebt und dass sein Lieblingsland Japan ist. Er gilt als sehr ambitioniert und energieladen, als der eigentliche Macher hinter dem König - aber auch als ein wenig impulsiv. Wenn Mohammed bin Salman seine "Vision 2030" nun umsetzen will, dürfte er auf entschiedenen Widerstand stoßen. Da ist die Regierungsbürokratie, die meistens ineffizient ist oder gar nicht funktioniert. Da ist eine Gesellschaft, die teilweise sehr konservativ ist. Und da ist vor allem die islamische Geistlichkeit, die befürchtet, dass jede Öffnung des Landes den Einfall westlicher Unmoral und Sünde bedeutet. Mohammed dürfte wissen, worauf er sich eingelassen hat. Sollte er seine "Vision 2030" ernst meinen, dürfte Saudi-Arabien vor einer Zeit beispielloser Umbrüche stehen.
Von Carsten Kühntopp
Der niedrige Ölpreis hat Saudi-Arabien in eine Krise gestürzt und deutlich gemacht, wie abhängig der Wohlstand des Landes vom Öl ist. Der gerade einmal 30 Jahre alte Vize-Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud will das ändern und hat mit der Rückendeckung seines Vaters, König Salman, umfassende Reformen angekündigt. Das Land steht vor einer Zeit beispielloser Umbrüche.
"2016-04-30T13:30:00+02:00"
"2020-01-29T18:27:02.378000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-fluch-des-schwarzen-goldes-saudi-arabien-steht-vor-100.html
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"Hörglück"
Das Projekt kreiert sich im Laufe der Proben (Folkert Uhde) Multimediales Experimentieren steht dabei im Vordergrund: Video, Liveelektronik und Instrumentalklang befinden sich in ständigem Dialog. Für die fünf InstrumentalistInnen, die Elektronikerin Letizia Renzini sowie die Betreuer Jeremias Schwarzer und Folkert Uhde war das Projekt "Hörglück" völliges Neuland. Sie haben ihm eine erste Gestalt verliehen und es Anfang Oktober im Berliner Radialsystem V geprobt und uraufgeführt. Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tage lang anhören.
Von Martina Brandorff
Percussion, Querflöte, Blockflöte und Horn – in dieser Kombination treffen sie aufeinander. Ausgewählte StipendiatInnen des Deutschen Musikwettbewerbs 2017 haben in Berlin ein neues das Projekt kreiert. Ihr Ziel: über das normale Konzertformat hinauszugehen.
"2017-10-31T13:30:00+01:00"
"2020-01-28T10:45:03.696000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutscher-musikwettbewerb-hoerglueck-100.html
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Die Sklaverei wird abgeschafft
Freiwillige spielen Szenen aus der Schlacht bei Gettysburg in Pennsylvania nach. Sie gilt als Wendepunkt im Amerikanischen Bürgerkrieg. (Imago) (Abraham Lincoln) "Vor 87 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind." Mitten im amerikanischen Bürgerkrieg, im November 1863, hielt US-Präsident Abraham Lincoln zur Einweihung eines Soldatenfriedhofs in Gettysburg eine kurze, legendäre Rede. In wenigen Worten fasste er das demokratische Selbstverständnis der Vereinigten Staaten zusammen. In Gettysburg nördlich von Washington hatte vier Monate zuvor eine bedeutende Schlacht des Bürgerkriegs stattgefunden, 30.000 Soldaten waren dabei gefallen oder verwundet worden. Ausgebrochen war der Bürgerkrieg nach einer Formulierung von Abraham Lincoln "irgendwie im Streit um die Sklaverei". Während der Norden die Sklaverei abgeschafft hatte und den Zusammenhalt der Nation betonte, verteidigte der ländlich geprägte Süden die Autonomie der einzelnen Staaten und das Recht, Menschen zu unterjochen. "Als die Verfassung geschrieben wurde, lag die Schlange der Sklaverei schlafend unter dem Tisch", schrieb später der amerikanische Autor John J. Chapman. Nachdem die US-Bürger Abraham Lincoln, einen erklärten Gegner der Sklaverei, im November 1860 zu ihrem Präsidenten gewählt hatten, spalteten sich Anfang des folgenden Jahres insgesamt elf Südstaaten ab, darunter Alabama, Mississippi, Texas und Florida. Sie bestimmten Jefferson Davis zum Präsidenten ihrer Konföderation und bekräftigten das Recht auf Sklavenhaltung. Am 12. April 1861 beschossen Südstaatler in South Carolina stationierte US-Truppen und entfesselten damit den Sezessionskrieg. Beide Seiten lieferten sich zahllose kleine Gefechte mit hohen Verlusten. Am 1. Januar 1863 erklärte Lincoln alle Sklaven der Südstaaten für frei. Die Kämpfe gingen jedoch unvermindert weiter, auch nach dem Sieg des Nordens in der Schlacht von Gettysburg. Der Nordamerika-Experte Ekkehart Krippendorff: "Das ist bis heute eigentlich der blutigste Bürgerkrieg überhaupt gewesen, weil er auch zum ersten Mal mit moderner Technik geführt wurde. Es wurde das Maschinengewehr zum ersten Mal eingesetzt, es wurden zum ersten Mal U-Boote gebaut, es wurden Panzerschiffe gebaut, es wurde der Stacheldraht erfunden, Schützengräben. All diese moderne Kriegsführung wurde hier zum ersten Mal ausprobiert." Mit zunehmender Dauer wurde der Bürgerkrieg immer erbitterter geführt. General William T. Sherman, Oberbefehlshaber des Nordens, betrieb eine Politik der verbrannten Erde. Im Sommer 1864 gab er die Devise aus: "Wir bekämpfen nicht nur feindliche Armeen, sondern ein feindliches Volk, und müssen deshalb dafür sorgen, dass Alt und Jung, Arm und Reich die harte Hand des Krieges ebenso zu spüren bekommen wie deren Armeen." Die Nordstaatentruppen töteten bei ihrem Vormarsch durch den Süden Menschen und Vieh, sie steckten Farmen in Brand und zerstörten Städte wie Atlanta oder Charleston, bis sich nach der Niederlage bei Richmond die Südstaaten-Armee am 9. April 1865 ergab. "Der Krieg ist aus, die Rebellen sind wieder unsere Landsleute“,erklärte der Nordstaatengeneral Ulysses Grant nach der Kapitulation. Gleichwohl erschoss fünf Tage später ein fanatischer Südstaatler Abraham Lincoln, ein Anschlag auf die Einheit der Nation und den Kampf gegen die Sklaverei. Trotz der entscheidenden Niederlage von Richmond kämpften einzelne konföderierte Truppen weiter, bis General Stand Watie, ein Angehöriger der Cherokee-Indianer, am 23. Juni 1865 bei Fort Towson im heutigen Oklahoma das letzte Waffenstillstandsabkommen unterzeichnete. Im Bürgerkrieg starben rund 600.000 Soldaten, weit mehr, als die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg verloren, sowie unzählige Zivilisten. Danach wurde die Sklaverei durch einen Verfassungszusatz endgültig verboten, alle in den USA geborenen Personen - mit Ausnahme der Indianer - waren nunmehr vor dem Gesetz gleich. Doch mit rechtlichen Schritten allein ließen sich Rassenschranken und soziale Diskriminierung nicht beseitigen, bis heute nicht.
Otto Langels
Vier Jahre, von 1861 bis 1865, dauerte der amerikanische Bürgerkrieg. Im Zentrum des Konflikts zwischen den Nord- und Südstaaten der USA stand der Streit um die Abschaffung der Sklaverei. Vor 150 Jahren endete der Krieg und mit ihm die Sklaverei in den USA, doch Rassenschranken und soziale Diskriminierung existieren bis heute.
"2015-06-23T09:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:43:25.885000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ende-des-amerikanischen-buergerkriegs-die-sklaverei-wird-100.html
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"Hand ausstrecken haben wir ja dauernd gemacht"
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (AFP/Matthew Mirabelli) Tobias Armbrüster: Die Europäische Union erlebt gerade mal wieder abwechslungsreiche Zeiten. Zu spüren ist das seit gestern Nachmittag auch beim EU-Gipfel, beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Da ist zum einen Aufbruchsstimmung, weil in vielen Ländern die Zustimmung zur Europäischen Union wieder wächst, und zum anderen sind da nach wie vor riesige Probleme, die immer noch ungelöst sind, die gemeinsame Flüchtlingspolitik zum Beispiel. Aber es gab gestern auch wieder ein ermutigendes Signal: Die britische Premierministerin Theresa May macht nämlich ein wichtiges Zugeständnis bei den Brexit-Verhandlungen. Mitgehört hat am Telefon Jean Asselborn, der Außenminister von Luxemburg. Schönen guten Morgen, Herr Asselborn. Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Armbrüster. Armbrüster: Herr Asselborn, wir haben es gerade gehört: Optimistische Stimmung bei der EU herrscht vor, trotz aller Probleme. Hat die EU zurzeit einen Grund abzuheben? Asselborn: Der Mensch lebt von der Hoffnung - l'espoir fait vivre in Französisch. Ich glaube, es geht der EU wie den Menschen. Diese zwei Wörter, EU und Krise, müssen nicht in alle Ewigkeit, sagen wir mal, ein unzertrennliches Tandem bleiben. Es gibt Hoffnung. Sie wissen, in Frankreich wurde die Europhobie ausgekontert. Die Erholung der Wirtschaft ist angesagt. Beim Brexit sind wir auf der Schiene. Jedenfalls sind wir schon auf einer Schiene, es gibt gute Ansätze. Populismus glaube ich auch, dass der Populismus sich selbst ausgekontert hat mit Brexit und auch mit der Wahl von Trump. Es bleibt aber, wie Sie richtig sagen, diese Frage der Migration. Das ist ein Schattengewächs auf der anderen Seite der Medaille, ja. "Nicht noch tiefer in Krisenszenario hineinsetzen" Armbrüster: Ist diese Freude dann vielleicht ein bisschen voreilig? Diese Beispiele, die Sie da aufgezählt haben, das können ja alles nur sehr kurze Strohfeuer sein, und niemand hat wirklich genau festgestellt, dass die Populisten in Europa keinen Aufwind mehr haben. Asselborn: Herr Armbrüster, wir müssen ja früh am Morgen ein wenig optimistisch sein. Es gibt Ansätze, die das andeuten. Wir müssen aus diesem Krisenszenario, wo wir immer sind, uns nicht noch tiefer hineinsetzen. Es gibt Hoffnung und auf diese Hoffnung muss aufgebaut werden. "Diese Sätze sind abgedroschen" Armbrüster: Jetzt hat Theresa May, wir haben es gehört, die britische Premierministerin, diese Geste gemacht gestern Abend. EU-Bürger sollen auch nach dem Brexit im Land bleiben dürfen. Das ist ein erhebliches Zugeständnis, wenn man sich mal anschaut, zu welchen Zerwürfnissen das in den vergangenen Wochen und Monaten in Großbritannien geführt hat. Wenn jetzt Frau May diesen Schritt zugeht auf ihre Partner in der Union, zeichnet sich da eine einvernehmliche Scheidung ab? Asselborn: Ich glaube, es sind zwei Sachen. Das eine ist von gestern Abend, sagen wir mal: Alles andere wäre ja eine Kampfansage an die Europäische Union gewesen. Aber hier steckt der Teufel natürlich im Detail: 23.6.2016 Referendum, 29.3.2019 Abschluss des Artikel 50 Verfahrens. Wir müssen schauen: Barnier verhandelt. Wir verhandeln ja nicht im Europäischen Rat und auch nicht in einem Ministerrat. Barnier soll verhandeln. Es ist ein guter Ansatz, aber ich glaube, dass Wichtiger ist: In Großbritannien nach dieser Wahl, dieser Parlamentswahl, hört man ja nicht mehr Brexit ist Brexit und "no deal better than a bad deal". Diese Sätze sind abgedroschen, man hört sie nicht mehr. Das war ein Medikament, um jene zu beruhigen, die, glaube ich, nur auf einen harten Brexit gesetzt haben. Das britische Volk, das ist klar, will faire, transparente, verantwortungsvolle Verhandlungen nach den Regeln, die die EU-Diplomatie und auch die britische Diplomatie ja inne hat, und natürlich bleibt ein großes Problem in diesen Verhandlungen. Die Regierung in Großbritannien braucht eine parlamentarische Mehrheit. Das scheint mir eine Basis zu sein. Sonst kommen wir in den Verhandlungen nicht voran. Aber es ist schon richtig: Das größte Problem wird der Finanz-Impact sein. Das ist auch die Conditio sine qua non, wie wir die Beziehungen nach 2019 aufbauen können. Und vergessen wir nicht ... Armbrüster: Also der riesige Milliarden-Betrag, um den es da geht? Asselborn: Ja, richtig. Wir reden jetzt nicht über einen Betrag, sondern über das Prinzip. Ich will nur ein Wort sagen: Den Friedensprozess gibt es nicht nur im Nahen Osten. Es gibt das Good Friday Agreement. Da müssen wir aufpassen in Nordirland, dass da nichts zerstört wird, was irreparabel wäre. "Auch im Interesse Großbritanniens" Armbrüster: Wenn jetzt Frau May diesen großen Schritt da zugeht auf ihre Partner in der Europäischen Union, wenn sie dieses Zugeständnis gemacht hat, wäre das auch dann ein Moment für die übrigen Staats- und Regierungschefs zu sagen, wir können hier jetzt auch die Hand ausstrecken? Asselborn: Ich weiß nicht, ob das ein riesiger Schritt ist. Das ist ja im Interesse Großbritanniens, dass Bürger aus der Europäischen Union nicht ausgewiesen werden oder verjagt werden. Armbrüster: Aber es war ja in den Verhandlungen von Anfang an ein riesiges Faustpfand, das Großbritannien da hatte, und das haben sie jetzt sozusagen aus der Hand gegeben. Asselborn: Es gibt auch eine Million oder mehr als eine Million Briten in Europa. Ich glaube nicht, dass das jetzt ein großes Zugeständnis ist. Es ist ein richtiger, guter Schritt in eine gute Richtung, auch im Interesse Großbritanniens. Das muss man so sehen. Hand ausstrecken haben wir ja dauernd gemacht. Wir wollen die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien nach 2019 auf einer guten Schiene haben, weil viel davon abhängt. Viele, viele, vielleicht hunderttausende Arbeitsplätze hängen davon ab. Wir wollen mit Großbritannien aber in Zukunft dieselben Beziehungen haben, wie wir sie mit Drittländern haben. Das heißt, wir wollen ein Free Trade Agreement, ein Handelsabkommen, auch eine Zollunion aushandeln, und das muss doch in einem fairen Geist geschehen. Natürlich: Großbritannien, muss man immer wiederholen, hat nicht vor einem Jahr am 23. Juni 2016 die Europäische Union verlassen. Es sind Engagements da und die müssen eingehalten werden, auch was das Geld angeht. "Solidarität hat auch eine materielle Grundlage" Armbrüster: Engagements gibt es nach wie vor auch in der Flüchtlingspolitik. Wir haben das auch gerade gehört. Die Regelung dazu ist nach wie vor höchst umstritten innerhalb der Europäischen Union. Vor allen Dingen die Staaten in Osteuropa wehren sich dagegen, Flüchtlinge nach bestimmten Quoten aufzunehmen. Wäre es da langsam an der Zeit, dass die übrigen EU-Mitgliedsländer, auch die großen Staaten, die einflussreichen Staaten sagen, auch da müssen wir zu einem Deal kommen, da können wir vielleicht nicht einfach so weitermachen, wie wir uns das mit unserem Vorhaben vor ein, zwei Jahren gedacht haben? Asselborn: Herr Armbrüster, es ist eine kapitale Frage hier der europäischen Solidarität. Und ohne Umschweife: Ich verstehe nicht und ich glaube, ich bin nicht der einzige in Europa, dass die Identität, die nationale Identität von Ländern, die Millionen Einwohner haben, zerstört werden soll durch die Aufnahme von hundert oder von ein paar tausend Flüchtlingen. Das ist für mich unverständlich und es ist eine ganz, ganz gefährliche Evolution, die da sich weiter entwickelt. Wir müssen auch aufpassen, selbstverständlich hüben wie drüben, dass wir in Sachen Solidarität, auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit keinen Zwist bekommen zwischen Ost und West, keine Konfrontation bekommen zwischen Ost und West. Wir müssen das auf beiden Seiten selbstverständlich verhindern. Aber zur Flüchtlingsfrage: Sie wissen, im Herbst kommt jetzt das Urteil des Gerichtshofs über die Abstimmung im Innen- und Justizministerium. Dann ist Recht gesprochen. Und ich nehme an, dass wenn Recht gesprochen wird, auch Recht angewandt wird. Die Kommission ist die Hüterin der Verträge. Sie hat hier zu agieren, sie macht das auch. 2018, um das politisch zu sagen, fangen wir ganz im Ernst an, über den Finanzrahmen nach 2020 nachzudenken. Und wissen Sie, meines Erachtens: Solidarität hat selbstverständlich eine politische Grundlage, aber auch eine materielle, und beide sind keine Einbahnstraße. Das muss man wissen. Mit Ankara über "Normalisierung der Beziehungen reden" Armbrüster: Sie haben jetzt die Rechtsstaatlichkeit angesprochen, die innerhalb der Europäischen Union gelten sollte. Wenn es um die Flüchtlingspolitik geht, dann sprechen wir allerdings auch über ein Land, über die Türkei, in dem einige Leute so Zweifel haben mit der Rechtsstaatlichkeit, ein Land, auf das sich die EU bei ihrer Flüchtlingspolitik aber trotzdem sehr gerne stützt. Wie passt das denn eigentlich zusammen? Asselborn: Die Europäische Union ist nicht nur in der Flüchtlingsfrage mit der Türkei, sagen wir mal, interessiert, eine gute Zusammenarbeit zu haben. Die Türkei hat drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und aus dem Irak. Das ist eine große Leistung und hier sollen wir helfen. Das machen wir ja auch. Es sind drei Milliarden engagiert für Schulkinder, dass sie in die Schule gehen können, für Gesundheitsfragen und so weiter. Das läuft gut. Was mit der Türkei ist, ist, dass wir von einer Normalisierung der Beziehungen reden, und vor allem in Ankara wird das gemacht. Ich sage ganz klar: Meine Meinung ist, die Türen der Gefängnisse, die müssen zuerst in der Türkei geöffnet werden, bevor wir die Türen öffnen zu Normalisierungsverhandlungen. Das hat jetzt nichts mit dem Beitritt zu tun, aber Tatsache ist, dass viele tausende Menschen ohne Prozess, ohne Achtung der Rechtsprozedur in den Kerker geworfen werden in der Türkei, zuletzt über 20 Menschenrechtler, sogar der Präsident von Amnesty International, ein sehr bedeutender Menschenrechtler, Taner Kilic, dem erging es so. Das muss aufhören! Die Türen der Gefängnisse müssen geöffnet werden, bevor wir über Normalisierung mit der Türkei reden. Wir können nicht über, sagen wir mal, Visa- und Zollunion reden mit der Türkei unter diesen Umständen. Das geht nicht! Es ist im Interesse der Türkei, und ich rede jetzt, ich sage es noch einmal, nicht über Beitrittsverhandlungen, sondern über Normalisierung, dass hier wirklich der Druck gemacht wird, der gemacht werden muss. Hier geht es um elementarste Menschlichkeit gegenüber denen, die in der Türkei viel leiden. Beitrittsverhandlungen sollten eingefroren bleiben Armbrüster: Herr Asselborn, das würde mich trotzdem zum Schluss gerne mit Bitte um eine kurze Antwort noch interessieren. Wie soll es dann weitergehen mit den Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Türkei? Asselborn: Die sind eingefroren zurzeit. Da sollten wir am besten bei dem Eingefrorenen jetzt bleiben. Armbrüster: Jean Asselborn, der Außenminister von Luxemburg, live hier in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch! Asselborn: Bitte, Herr Armbrüster. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jean Asselborn im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat das britische Versprechen begrüßt, EU-Bürger nach dem Brexit nicht auszuweisen. "Alles andere wäre ja eine Kampfansage an die Europäische Union gewesen", sagte Asselborn im Dlf. Die knallharte europhobe Stimmung wie vor der britischen Parlamentswahl sei verflogen.
"2017-06-23T07:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:33:44.020000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brexit-verhandlungen-hand-ausstrecken-haben-wir-ja-dauernd-100.html
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Junge Türken wollen nach Uruguay
Viele Türken bewundern Jose Pepe Mujica, den ehemaligen Präsidenten von Uruguay. (picture alliance / dpa / Sergio Goya) Es herrscht wieder Alltag im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Die Wahlkampfstände, die die Parteien hier traditionell am Bosporusufer aufbauen, sind verschwunden und an einer Straßenkreuzung nimmt ein Arbeiter auf einer Leiter die letzten Porträts von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ab. Doch so gleichmütig die Passanten auch an ihm vorbei eilen - gerade hier, im säkularen, Erdogan-kritischen Kadiköy, haben die meisten den Schock vom 1. November noch nicht überwunden. In einer Bar sitzen mehrere junge Männer bei einer Flasche Raki zusammen. Der Grund für ihr Treffen steht auf einem Bildband, in dem einer von ihnen begeistert blättert: "Uruguay". Berk, Mitte dreißig, erklärt: "Ich habe vor einiger Zeit im Radio einem Türken zugehört, der in Uruguay lebte. Er hat erzählt, wie schön das Leben dort ist. Seit den Wahlen überlegen meine Frau und ich ernsthaft auszuwandern und seitdem kriege ich das nicht mehr aus dem Kopf." Berk und seine Frau sind mit ihrem Traum längst nicht mehr allein am Bosporus. "28 Gründe für einen Umzug nach Uruguay" heißt eine türkische Website, die inzwischen über 90.000 Mal bei Facebook geteilt wurde und neben Pressefreiheit und Co. die fröhliche Hymne des Landes preist. Besonders junge, gut ausgebildete Türken wollen auswandern Pepe Mujica, bis vor Kurzem Präsident von Uruguay, gilt vor allem vielen Erdogan-Kritikern als Idol. Denn während das türkische Staatsoberhaupt sich extra einen Palast mit 1.000 Zimmern bauen ließ, lebte Mujica auch während seiner Präsidentschaft in aller Einfachheit auf dem Lande. Erdogans Dienstwagen ist ein circa 300.000 Euro teurer Mercedes, dem als "ärmster Präsident der Welt" bekannt gewordenen Mujica reichte ein VW-Käfer. Auch Hakan, einer der vielen frustrierten Gezi-Demonstranten vom Sommer 2013, hat sich vom allgemeinen Uruguay-Fieber anstecken lassen: "Während bei uns der Druck auf alles und jeden wächst, herrscht dort die pure Freiheit. Sogar Marihuana ist freigegeben. Bei uns würden sie sogar Alkohol am liebsten verbieten. Und ein Land, dessen Präsident in einem Bauernhaus lebt? Das klingt wie ein Märchen in der Türkei!" Kein Wunder also, dass man sich im Istanbuler Konsulat von Uruguay vor auswanderungswilligen Türken kaum noch retten kann, wie die türkische Zeitung Evrensel jüngst schrieb. Auch Agenturen, die sich generell auf Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für Türken im Ausland spezialisiert haben, melden einen deutlichen Kundenzuwachs. Besonders junge, gut ausgebildete Türken wollen ihre Heimat immer öfter verlassen, zeigt eine aktuelle Studie der OSZE. Der 35-jährige Berk passt genau in ihr Schema. "Warum wir weg wollen? Weil wir uns Sorgen um die Zukunft machen, weil wir das Regime ablehnen, weil wir nicht wissen, ob wir hier unsere Kinder großziehen wollen und weil wir genug haben von den ständigen Spannungen hier. Diese Wahlen haben das alles noch einmal deutlich verstärkt." Keine Hoffnung auf einen Wandel mehr Nur wenige Stunden nachdem der so überraschend eindeutige AKP-Sieg feststand, hatte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu betont, dass nun die Zeit der Versöhnung gekommen sei. Das Schubladendenken und der Hass innerhalb der Gesellschaft müssten ein Ende haben. Doch Kritiker wie Berk haben wenig Hoffnung, dass es der Regierung damit ernst ist. Schon am Tag nach der Wahl ging die Polizei erneut gegen Anhänger der in Verruf geratenen Gülen-Bewegung vor. Seit Dienstag stehen die Chefredakteure der Zeitschrift Nokta vor Gericht, weil sie den Wahlausgang als "Anfang des Bürgerkriegs" bezeichnet hatten. Die Anklage lautet auf Putschversuch. Berk, selbst Journalist, zuckt mit den Schultern: "Auch, wenn ich noch nicht weiß, ob es am Ende wirklich Uruguay wird. Dass wir auswandern wollen, steht fest. Bis vor Kurzem haben wir auf einen großen Wandel gehofft. Aber zu wissen, dass nun alles für mindestens vier Jahre so weitergeht und vielleicht sogar noch schlimmer wird, lässt uns keine andere Wahl, als nach Wegen zu suchen, dieses Land zu verlassen."
Von Luise Sammann
Viele Türken sind nach dem eindeutigen Wahlsieg der AKP ernüchtert. Sie sehen keine Zukunft für sich und ihre Familien in ihrer Heimat. Viele ziehen in Betracht, das Land zu verlassen. Favorisiertes Auswanderungsziel ist allerdings nicht das restliche Europa - sondern Uruguay.
"2015-11-06T09:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:07:52.642000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/emigration-junge-tuerken-wollen-nach-uruguay-100.html
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Hotspots eindämmen
Das Coronavirus verändert unseren Alltag und zwingt Menschen zum Handeln. Wir begleiten beides mit unserem Podcast "Coronavirus - Alltag einer Pandemie". (Deutschlandradio / Bildmaterial: CDC) Das Coronavirus verändert unser Leben, unsere Gesellschaft. Für Tage, Wochen, wahrscheinlich Monate. Wir wollen mit diesem Podcast begleiten, wie die Pandemie unser aller Alltag verändert und wir wollen die Geschichten von Menschen erzählen, die gegen die Ausbreitung des Virus handeln: Ärzte, Politikerinnen, Krisenstäbe, Forschende. Unser Podcast "Coronavirus - Alltag einer Pandemie" erscheint immer dienstags und freitags, gegen 16 Uhr. Abonnieren Sie den Deutschlandfunk Coronavirus-Newsletter! Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) Dossier - Die wichtigsten Antworten zum CoronavirusUnsere Übersicht zum Coronavirus, mit aktuellen Zahlen und Forschungsergebnissen sowie Hintergründen zu politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Entwicklungen in der Pandemie.
null
Neuköllns Gesundheitsstadtrat Falko Liecke muss heftige Diskussionen aushalten. Er setzt auf Aufklärung, Polizeipräsenz und tägliche Hausbesuche. Landrätin Dorothea Störr-Ritter kann alle Notfallsysteme sofort hochfahren, wenn es drauf ankommt.
"2020-06-23T16:45:00+02:00"
"2020-06-24T09:26:11.922000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-krisenmanager-hotspots-eindaemmen-100.html
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Lernen im Urlaub
Am Vormittag Vokabeln büffeln, am Nachmittag die Gegend erkunden und abends mit der Gastfamilie zusammen grillen. So stellt man sich den perfekten Sprachurlaub vor. Mit zwei, drei Klicks könnte man sich den auch im Internet ganz fix buchen. Doch so einfach sollte man es sich nicht machen! Konkret heißt das, dass Sie sich intensiv informieren müssen. Greifen Sie bloß nicht zum günstigsten Angebot, Qualität hat hier wirklich ihren Preis. Barbara Engler vom Verein Aktion Bildungsinformation berät unabhängig. Ihr Verein hat Tipps in einer Broschüre zusammengestellt, sie sind auch im Internet zu finden. "Der Veranstalter sollte mit einer Sprachschule im Ausland zusammenarbeiten, die von unabhängiger Stelle geprüft ist. Dann, dass der Reisepreis gegen Insolvenz gesichert ist. Wichtig ist natürlich, dass man in den richtigen Kurs eingestuft wird. Dazu muss natürlich ein ausführlicher Einstufungstest vor Ort stattfinden. Und dass sich der Veranstalter nicht vorbehält, den Kurs vor Reisebeginn wegen Nichterreichen der Mindestteilnehmerzahl abzusagen."Wie wichtig diese Details sind, hat Christian Parzich aus Berlin bei seiner letzten Sprachreise nach Südfrankreich erfahren müssen. "Also die haben zum Beispiel keinen Einstufungstest gemacht. Was sehr störend war, dass die Kursteilnehmer einen sehr großen Niveauunterschied hatten. Dann gab es wenig praktisches Sprechen und demzufolge wurde der Unterricht durchgewinkt mit Lückentexten, die auch noch aus einer losen, kopierten Sammlung von sehr altem Unterrichtsmaterial herrührten."Lassen Sie sich beim Anbieter unbedingt telefonisch beraten. Man sollte dabei gezielt nach den Kursinhalten, dem Aufbau des Unterrichts und dem Alter der Teilnehmer fragen. Wichtig ist Unterricht in einer kleinen Gruppe. Vier, fünf Unterrichtsstunden am Tag reichen. Erholung und die Anwendung der Sprache bei Ausflügen oder Sport sollen ja auch nicht zu kurz kommen. Das fällt bei Ganztagsunterricht nämlich flach. Christian Parzich würde übrigens nicht mehr im November eine Sprachreise machen, nur noch in der Hauptsaison: "Wenn wenig Schüler da sind, ist es ja auch so, wenn man einen Kurs hat, der einem nicht zusagt, kann man ja nicht so leicht in eine Klasse wechseln, die seinem Niveau entspricht."Viel Geld für wenig Inhalt, zu dem Schluss ist die Stiftung Warentest gekommen. Die Zeitschrift "Finanztest" hat acht Sprachreiseanbieter für Businessenglisch unter die Lupe genommen. "Unsere Hauptkritik war, dass diese wichtigen beruflichen Inhalte fast überall zu kurz kamen. Also es stand Businessenglisch drauf, es war aber kaum Businessenglisch drin. Und nur ein Anbieter hat im wichtigsten Prüfpunkt dem Sprachunterricht eine gute Note von uns bekommen. Das war Dr. Steinfels Sprachreisen. Da wurde zum Beispiel über Globalisierung diskutiert, über die Finanzkrise, die Teilnehmer haben Präsentationen und Bewerbungen erstellt, Meetings simuliert oder Telefonate auf Englisch geübt."Sagt Christina Engel von der Stiftung Warentest. Wenn Sie in einer Gastfamilie schlafen, lassen Sie sich Sonderwünsche wie Nichtraucher oder vegetarische Kost unbedingt schriftlich bestätigen. Sagt Ihnen die Familie nicht zu, sollte man diese kostenlos wechseln können!
Von Katja Feller
Wie steht es eigentlich mit Ihren Fremdsprachenkenntnissen? Aufbessern kann man die im Urlaub oder auch bei einer Sprachreise. Egal ob für Schüler oder Erwachsene, bei den vielen Anbietern ist es um die Qualität ganz unterschiedlich bestellt.
"2010-03-23T14:35:00+01:00"
"2020-02-03T18:04:05.749000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lernen-im-urlaub-102.html
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Atomabkommen mit dem Iran: Ein schlechter Deal?
US-Präsident Donald Trump während seiner Rede über das Atomabkommen mit dem Iran. (dpa-Bildfunk / AP / Susan Walsh)) Alle Argumente, die Trump gegen den Iran-Atomdeal ins Feld führt, sind nicht stichhaltig, sagt Daniel Gerlach, Chefredakteur des Fachmagazins Zenith über Politik und Kultur des Nahen Ostens. Er glaubt nicht, dass das Abkommen ohne die USA zu retten sein wird. 64 Regierungen hat es in Italien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schon gegeben und wann die 65. ins Amt kommt, steht in den Sternen. Zwei Monate nach der Wahl sind alle Versuche, eine Koalition zu bilden, gescheitert. Jetzt stehen Neuwahlen im Raum. Das Drama zeigt: Italien braucht dringend ein neues Wahlrecht, damit wieder stabile Mehrheiten zustande kommen, so ARD-Rom-Korrespondentin Lisa Weiß.
Von Philipp May
Donald Trump will am Abend verkünden, ob die USA das Internationale Atomabkommen mit dem Iran aufkündigen. Was würde dann passieren? Ein Lagebericht. Außerdem: Italien in der Dauerregierungskrise.
"2018-05-08T17:00:00+02:00"
"2020-01-27T17:51:27.849000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-atomabkommen-mit-dem-iran-ein-schlechter-deal-100.html
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Beschädigungen, Gewalt und Mobbing an Schulen
Garbsen bei Hannover. Der Schulleiter der Nikolaus-Kopernikus-Hauptschule wendet sich vor einigen Woche in einem Brandbrief an die Schulbehörde, die Stadt und die Polizei. Die Schule liegt in einem sogenannten Brennpunkt, 95 verschiedene Nationen leben hier, die Arbeitslosenquote ist hoch. Der Rektor fordert mehr Polizeipräsenz und Videoüberwachung an der Schule und schildert dramatische Zustände. In den vergangenen Monaten gab es gleich mehrere gravierende Gewaltdelikte. Polizeisprecher Stefan Wittke: "Die Beschädigungen mehrerer Lehrerautos, wo Scheiben zerstört worden sind. Dann gab es im November vergangenen Jahres außerhalb der Schulzeiten eine sich anbahnende Massenschlägerei hier auf dem Schulgelände und dann gab es durch einen jetzt suspendierten Schüler den sehr unschönen Vorfall, dass er eine in den Klassenraum hineinkommende junge Lehrerin mit einem Stuhl beworfen hat. Er hat sie nicht getroffen, aber der Vorfall als solcher war sicher besorgniserregend genug." Der Hilferuf der Schule sorgt für bundesweite Schlagzeilen. Der Garbsener Bürgermeister sorgt sich um eine Stigmatisierung der Schüler, lehnt eine Kameraüberwachung ab. Die Polizeibehörden und das niedersächsische Kultusministerium beraten derzeit über ein Sicherheitskonzept an der Hauptschule. Nach einem Besuch vor Ort kündigt Kultusminister Bernd Althusmann Präventionsmaßnahmen unter anderem in Form von Rugby- oder Boxkursen an der Schule an und stellt in Aussicht, in das junge überwiegend weibliche Kollegium mehr männliche Lehrer einsetzen zu wollen: "Gewalt hat an einer niedersächsischen Schule überhaupt nichts zu suchen und dafür werden wir auch alles Notwendige tun." Sottrum in Niedersachsen. Ein 14jähriger Realschüler wird über Monate hinweg von Mitschülern gehänselt und geärgert. Mitte Mai eskaliert die Situation. Einer der Mobber greift den 14jährigen körperlich an. Der zieht ein Taschenmesser, das er seit Wochen mit in die Schule gebracht hat. Zu seiner Verteidigung, wie er sagt. Der 14jährige verletzt einen Gleichaltrigen leicht am Rücken. Berlin. In einem Internetforum wird eine 17jährige von ihren Mitschülern wiederholt auf Übelste beschimpft und verleumdet. Die Sprache ist drastisch, die Gemeinheiten explizit. Jemand droht ihr sogar Schläge an. Ein 17jähriger Freund, der sie vor der Hetzjagd im Netz friedlich verteidigen will, wird im März dieses Jahres auf einem Parkplatz von etwa 20 Jugendlichen krankenhausreif geschlagen. Sei Angreifer schlagen und treten so lange auf den Jungen ein, bis er bewusstlos am Boden liegt. Oldenburg. Zum Auftakt des Deutschen Präventionstages Mitte Mai veranstalten 3000 Schüler einen Protestmarsch gegen das sogenannte Cyber-Mobbing. Kurz zuvor hatte die Leitung der Waldschule Sandkrug bei Oldenburg Alarm geschlagen. Das sogenannte Cyber-Mobbing habe inzwischen erschreckende Ausmaße angenommen. Fälle von Beleidigungen und Bedrohungen gegen Schüler im Internet häuften sich. Der Schulleiter und das Kollegium wussten sich nicht mehr anders zu helfen, als das Problem öffentlich zu machen. Köln, Ende Mai. Während der großen Pause in der Gustav-Heinemann-Hauptschule rempelt ein Neuntklässler versehentlich einen Mitschüler an. Der Neuntklässler ist ausgebildeter Streitschlichter und entschuldigt sich sofort. Der Angerempelte findet sich mit der Entschuldigung des 14jährigen jedoch nicht ab. Einige Stunden später geht er unvermittelt und von hinten auf ihn los. Mehrfach schlägt er den Jungen auf den Kopf, Zeugen berichten, der Jugendliche habe dem Gleichaltrigen sein Knie gegen den Schädel gerammt. Polizeisprecherin Nadine Perske: "Nach unseren Erkenntnissen ist die ganze Sache gegen 13.15 Uhr nach Schulende auf dem Schulhof passiert. Als die Polizei eintraf, lag einer der Schüler auf dem Boden, der 14jährige wurde massiv angegangen. Er musste mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht werden. Nach Angaben der Ärzte besteht akute Lebensgefahr." Vergangene Woche erlag der 14jährige seinen schweren Verletzungen.
von Susanne Schrammar
Einige Fälle von Gewalt an Schulen gehen derzeit durch die Presse. In ganz Deutschland gibt es Fälle. In Köln ist nach einer Schlägerei auf dem Schulhof ein Schüler sogar an den Verletzungen verstorben. Ein Überblick.
"2011-06-18T14:05:00+02:00"
"2020-02-04T02:07:24.635000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beschaedigungen-gewalt-und-mobbing-an-schulen-100.html
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Rufus Wainwright vertont Shakespeares Sonette
Der Sänger Rufus Wainwright (l.) und der 1616 verstorbene Dichter William Shakespeare (picture-alliance / dpa ) Einmal einen Hit haben, so richtig erfolgreich sein, das ist der große Traum von Rufus Wainwright. So wie William Shakespeare, der hatte schon zu Lebzeiten großen Erfolg und gilt bis heute weltweit als einer der bedeutendsten Dichter. Schon als Teenager hat sich Wainwright Shakespeares Stücke im Theater angesehen und findet, dass seine Werke bis heute nichts an ihrer Relevanz verloren haben. Im Gegenteil. Rufus Wainwright: "Wenn es um diese ganze Gender Debatte geht, Sexualität, Feminismus, Transsexualität und so weiter, dann ist Shakespeare bis heute der führende Experte. In all seinen Stücken geht es um genau diese Themen. Wenn man sich mal die Situation in den USA ansieht, wo transgender Leuten verboten wird, bestimmte Toiletten zu benutzen, da ist Shakespeare heute genauso aktuell wie damals". Da war es doch fast naheliegend, dass sich Wainwright mal näher mit Shakespeare beschäftigt. Vor allem die Sonette haben es ihm angetan, und davon hat Shakespeare ja über 150 geschrieben. Neun davon hat Wainwright für sein neues Album ausgewählt und vertont. Wobei er die ersten Stücke bereits schon vor über acht Jahren komponierte, als er Shakespeare auf die Bühne des Berliner Ensembles brachte. Zur Unterstützung diesmal hat er sich eine abwechslungsreiche Gästeliste an Musikern zusammengestellt. Seine Schwester Martha zum Beispiel, oder Florence Welsh, sonst Sängerin von Florence and the Machine. Eine Verbindung aus Klassik und Pop "Florence wollte ich von Anfang an auf diesem Album haben. Für mich ist sie einfach ein Shakespeare Symbol. Sie könnte genauso gut aus einem original Shakespeare Stück rausmarschieren. Sie hat diesen unglaublichen elisabethanischen Geist." Rufus Wainwright ist bei Weitem nicht der erste Musiker, der Shakespeare´s Sonette zu Musik macht. Brian Ferry, Hallam London, Arthur Sullivan oder Benjamin Britten - sie alle haben schon vor ihm Sonette von Shakespeare vertont. Der Unterschied zu Wainwright ist allerdings, dass sie alle sich für jeweils ein Musikgenre entschiedene haben: entweder Klassik oder Pop. Bei Wainwright dagegen ist es Klassik und Pop, jeweils zu 50 Prozent. Den Großteil der klassischen Kompositionen singt die Österreicherin Anna Prohaska, die eine Vorliebe für außergewöhnliche Projekte hat. Um die Vielseitigkeit der Verarbeitungen noch deutlicher herauszustellen, sind einige Sonette auch doppelt oder sogar dreifach auf der CD: in der Popversion, in der klassischen und rezitiert. Wie ein verbindender Faden zwischen Klassik und Pop hört man auf dem Album Sonette, die von bekannten Schauspielern rezitiert werden. Carrie Fisher, Christopher Nell und Inge Keller zum Beispiel. Wainwright hofft, die Übergänge zwischen den Musikstilen dadurch eleganter zu gestalten. Nötig wäre das nicht gewesen, denn genau diese musikalischen Gegensätze machen ja den Reiz des Albums aus. Aber ein Hinhörer sind diese Rezitationen doch. Da ist zum Beispiel William Shatner, bekannt als Captain Kirk aus Star Trek. Wainwright: "Ich würde mich nicht als Trekkie bezeichnen, aber ich bin 42 Jahre alt und in Montreal aufgewachsen, die Stadt, aus der auch William Shatner kommt. Ich habe ständig Star Trek im Fernsehen gesehen. Damals gab es vielleicht zwei Sender, und auf einem davon lief garantiert immer Star Trek. Das hat sicher mein armes Kinderhirn beeinflusst." Den großen Hit, den sich Rufus Wainwright so sehr wünscht, wird er wohl auch mit diesem Album nicht landen. Dazu ist das Album zu verkopft und teilweise zu anstrengend. Es gibt kaum eine Pause zum Durchatmen. Ständig passiert etwas, das mal irritiert, mal neugierig macht, mal fesselt. In einer Minute klingt es nach großer Rockoper und fünf Minuten später nach sphärischem Indie-Pop. Aber egal, ob Hit oder nicht, Rufus Wainwright wollte sich auf seine ganz eigene Art vor Shakespeare verneigen, und das ist ihm gelungen. Wainwright: "Ich habe schon immer Shakespeare verehrt. Seine Sonette sind für mich kleine Juwelen voller Wissen über Liebe, Tod und den Umgang mit Zeit. Man muss sie einfach immer wieder lesen. Und jetzt werden sie gesungen. Mal sehen, wie das ankommt."
Von Kerstin Poppendieck
Gerade hat sich Shakespeares Todestag zum 400. Mal gejährt. Das hat Rufus Wainwright zum Anlass genommen und ein Album mit vertonten Sonetten von Shakespeare veröffentlicht. An "Take All My Loves" wirkt eine bunte Gästeliste an Musikern und Schauspielern mit.
"2016-04-26T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:26:12.055000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klassik-und-pop-rufus-wainwright-vertont-shakespeares-100.html
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Türkische Spitzeleien an Schulen?
Die türkische Botschaft in Berlin nennt die Vorwürfe "völlig haltlos". (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) Die Vorwürfe wiegen schwer: Türkische Konsulate sollen auf internen Treffen Schüler zum Spionieren angestiftet haben. Zeitungen zitieren den Vize-Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, in Nordrhein-Westfalen mit den Worten: "Wir haben aus unterschiedlichen Quellen erfahren, dass die Teilnehmer dazu angehalten wurden, den Generalkonsulaten jede Kritik an der türkischen Regierung, die in NRW-Schulen beobachtet wird, zu melden." Der Ko-Vorsitzende der Türkischen Elternvereine in Deutschland, Ali Sak, widerspricht den Meldungen vehement: "Die Behauptungen der GEW entbehren - ich unterstreiche - jeder Grundlage und sind haltlos." Türkei mit Nazi-Deutschland verglichen? Es hätte Versammlungen gegeben, sagt Sak. Aber das seien Treffen, zu denen die Konsulate regelmäßig türkische Eltern- und Lehrervertreter einladen. Dabei werde über verschiedene Themen wie Muttersprachenunterricht, Benachteiligung türkischstämmiger Schüler oder Bildungsprobleme im Allgemeinen diskutiert. Bei einem dieser Treffen hätten Konsulatsvertreter über konkrete Beschwerden von einigen Eltern berichtet. Ihre Kinder sollen zu Hause erzählt haben, dass die Türkei im Unterricht mit Nazi-Deutschland verglichen worden sei. Auch über ein anderes Thema, das in der Türkei immer für Aufregung sorgt, sollen sich die Schüler beschwert haben, so Elternvertreter Ali Sak. "Ereignisse zum Beispiel Armenier-Genozid - in Anführungsstrichen. Und wenn diese Themen im Unterricht unverhältnismäßig einseitig behandelt werden, und die Eltern suchen nach Institutionen, wo sie ihre Beschwerden loswerden können." Wenn Ali Sak den Begriff Armenier-Genozid ausdrücklich in Anführungszeichen setzt, ist das eine klare Botschaft: Er erkennt den Genozid nicht an. Sak spricht von türkischstämmigen GEW-Mitgliedern, die die Vorwürfe aus den Konsulats-Treffen weitergetragen hätten. Sie seien der türkischen Regierung gegenüber generell kritisch eingestellt. "Das wäre für die Landesregierung absolut inakzeptabel" Dem NRW-Schulministerium sind die Spitzelvorwürfe seit zwei Wochen bekannt. Das Ministerium habe die Justiz und die Sicherheitsbehörden informiert und die erforderlichen Maßnahmen veranlasst. Weiter heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme: "Die Polizei hat die Staatsanwaltschaft Düsseldorf um eine Würdigung gebeten, ob Anlass für die Aufnahme von Ermittlungen besteht. Staatssekretär Ludwig Hecke hat die Generalkonsulate zu einer Stellungnahme zu den im Raum stehenden Vorwürfen aufgefordert. Sollten sich die Vorwürfe gegen die Generalkonsulate in Düsseldorf und Essen und gegebenenfalls weitere Konsulate bewahrheiten, wäre dies für die Landesregierung absolut inakzeptabel." Die türkische Botschaft in Berlin teilt ebenfalls schriftlich mit: "Die Berichte sind völlig haltlos entsprechen nicht den Tatsachen. Die entsprechenden Informationen werden von dem zuständigen Generalkonsulat veröffentlicht." Das türkische Generalkonsulat in Düsseldorf war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Von Kemal Hür
Haben türkische Konsulate Schüler zu Spionagetätigkeiten angestiftet? Das berichten mehrere Medien unter Berufung auf die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Türkischen Elternvereine in Deutschland weisen das zurück. Das NRW-Schulministerium lässt die Vorwürfe nun von den Sicherheitsbehörden überprüfen.
"2017-02-23T18:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:30.757000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vorwuerfe-der-lehrergewerkschaft-tuerkische-spitzeleien-an-100.html
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Schengen am Scheideweg?
Ein Lastwagen passiert die belgisch-luxemburgische Grenze. (pa/dpa/AP) "Guten Morgen Polizeikontrolle, Sie sprechen Deutsch ... " Am Grenzübergang Alte Bremm in Saarbrücken hat die Bundespolizei Posten bezogen. Die Landstraße verbindet das Deutschmühlental mit dem französischen Stiring-Wendel. Nicht einmal mehr Überreste ehemaliger Grenzkontrollstellen sind hier zu sehen. Alles ist längst abgebaut. Deutschland und Frankreich gehören wie Italien und die Beneluxstaaten zu den Gründungsmitgliedern des "Schengener Abkommens". Seit 30 Jahren steht der luxemburgische Ort für ein zentrales europäisches Bürgerrecht: Die grenzenlose Reisefreiheit für Millionen von Menschen. Die Beamten wissen, dass sie mit diesem Bürgerrecht sensibel umgehen müssen. Sie schicken aus ihren Reihen einen sogenannten Einweiser mit Kelle auf den Mittelstreifen der Fahrbahn. Das helfe, sagt Dieter Schwan von der Bundespolizei. "Damit wir hier den Verkehr fließend halten können, das heißt, wir verursachen durch diese Kontrolle keine Staubildung." Die meisten Fahrzeuge werden durchgewinkt. Nur etwa jedes vierte wird auf einen Parkplatz gelotst. "Machen Sie bitte den Motor mal aus, ich bräuchte die Ausweisdokumente." Der Beamte überprüft Ausweis, Fahrzeugpapiere, schaut ins Wageninnere ... "Es macht nichts, sie machen ihre Arbeit." "Für mich ist es das erste Mal, es ist gut, dass sie kontrollieren." "Es gibt zu viele Kontrollen, ich werde jedes Mal kontrolliert. Sie gehen nach dem Aussehen, wenn Sie einen Bart tragen, so wie ich, und ein tolles Auto haben, dann werden Sie angehalten. Mich trifft es immer, jedes Mal wenn ich hier rüberfahre." Die deutschen Beamten kontrollieren auf Basis von Artikel 23 des sogenannten Schengen-Kodex, darin heißt es: "Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum gestattet." Zu den außergewöhnlichen Umständen zählt auch die Flüchtlingskrise, sagt Pressesprecher Dieter Schwan. Ein Großteil der Flüchtlinge versucht, von der Türkei aus übers Meer nach Griechenland zu kommen, um weiter zu ziehen, über die Balkanroute nach Mittel- und Nordeuropa. Im Januar waren es über 2.000 am Tag. Seit Wochen fordern die EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission Griechenland auf, seine Außengrenze besser zu schützen. So wie es das Schengener Abkommen vorsieht. Demnach muss Griechenland dafür sorgen, dass nur jene in die EU einreisen, die dazu auch berechtigt sind. Kritik wurde laut, Griechenland tue nicht genug, ebenso die Forderung, Griechenland aus dem Schengen-Raum auszuschließen, die Balkanroute dicht zu machen. Durch die österreichische Obergrenze für Asylbewerber zeichnet sich bereits ein Dominoeffekt ab. Zeitgleich setzt die EU auf die Türkei. Und Griechenland? Fühlt sich von der EU im Stich gelassen, während die Kontrollen an den Binnengrenzen weitergehen. Flüchtlinge an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland (picture alliance/dpa/Georgi Licovski) "Ich würde mir gerne noch ihren Kofferraum ansehen ... ." Das Team der Bundespolizei wird von französischen Beamten begleitet. Doch die dürfen mit der Presse nicht reden. Die Situation sei zu sensibel. Frankreich befindet sich seit den Terroranschlägen von Paris im November vergangen Jahres im Ausnahmezustand. Nach den Anschlägen hatte Frankreich die Grenzübergänge tagelang abgeriegelt, selbst die Autobahnen waren betroffen. Eine terroristische Bedrohung zählt zu den stärksten Argumenten, die für außerordentliche Grenzkontrollen gemäß Schengener Abkommen ins Feld geführt werden können. Die Menschen hätten darauf verständnisvoll reagiert, sagt die Bundespolizei. "Der Bürger hat glaube ich zurzeit ein unheimliches Bedürfnis, ein Sicherheitsgefühl vermittelt zu bekommen und das machen wir hier durch unsere Kontrollstellen. Wir haben also überhaupt keine Inakzeptanz in dieser Sache." Längstens sechs Monate dürfen diese Kontrollen an den nationalen Grenzen dauern. Wenn die garantierte Reisefreiheit darüber hinaus, bis zu zwei Jahre lang, eingeschränkt werden soll, dann bedarf es eines Vorschlags der EU-Kommission und einer Empfehlung des Rates, also der Europäischen Mitgliedstaaten. Etienne Schneider, stellvertretender Premierminister von Luxemburg, ist nicht nur Wirtschaftsminister, sondern auch zuständig für die innere Sicherheit und militärischen Belange im Großherzogtum Luxemburg. Er hofft auf die Einsicht der europäischen Kollegen. "Die Grenzen in Europa sind so lange nicht mehr bestehend, dass Europa mit einer Einführung der Binnengrenzen nicht mehr funktionieren würde, das ist einfach ein Fakt. Und ich denke, dass die Minister, die sich um Immigration kümmern, ihren Wirtschaftsministern etwas zuhören sollten, denn es ist auch ein Thema der Wirtschaftspolitik in Europa geworden." Schneider weiß, wovon er spricht. Denn nach den Attentaten von Paris, als Frankreich mit den Grenzkontrollen massiv in die Verkehrsströme eingriff, standen 70.000 französische Pendler stundenlang im Stau, sie kamen nicht zu ihren Arbeitsplätzen in Luxemburg. "Wenn wir jetzt davon ausgehen würden, dass Grenzkontrollen wieder Normalität würden, dann denke ich, dass wir das nicht sehr lange aushalten würden. Weder wir als Land, noch alle anderen Volkswirtschaften, Deutschland insbesondere. Das gesamte Wirtschaftsmodell, zumindest im Bereich der Produktion, wird zusammenbrechen." "Es war doch alles freier, kein Zöllner, der das Auto durchwühlt" Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag schätzt die Kosten, die durch Staus und Wartezeiten an den Grenzen entstehen, auf etwa zehn Milliarden Euro jährlich. Auch der Einzelhandel werde zu spüren bekommen, wenn Lkw an den Grenzen aufgehalten würden. In Perl zum Beispiel, an der deutsch-französisch-luxemburgischen Grenze. Der Parkplatz ist voll mit Autos aus Luxemburg. Das Preisniveau ist deutlich niedriger. Schengen auszusetzen, diese Vorstellung findet hier keine Befürworter: "Als Schengen begann, habe ich es erlebt, es hat mir nur Vorteile gebracht. Es war doch alles freier, kein Zöllner, der das Auto durchwühlt und mir vorzustellen, dass das noch einmal kommt, nein danke." Von Perl aus führt eine Brücke über die Mosel nach Schengen. Unterhalb der Brücke erinnert ein Museum an den gleichnamigen Vertrag. Die Straße ist nach Robert Goebbels benannt. Er war Staatssekretär, später Minister in Luxemburg und bis vor einem Jahr Europaabgeordneter. Er hat den Schengen-Vertrag mit ausgehandelt. "Ich habe damals eine kleine Rede gehalten, wo ich sagte: Was wir jetzt unterzeichnen, wird in die Geschichte eingehen als Schengen-Vertrag. Da hat jeder sich kaputt gelacht. Ich sollte aber Recht behalten, weil Schengen von den Menschen sofort aufgenommen wurde und das gab Druck auf die Politik, mehr zu tun." Diesen Druck werde es wieder geben, sollte die Politik Schengen aushebeln, glaubt Goebbels. Abgesehen davon seien Kontrollen im Innern der Europäischen Union nicht mehr als eine zweifelhafte Beruhigungspille für die Bevölkerung. "Es bringt nichts, das sind alles Pseudo-Lösungen, da wird den Menschen vorgegaukelt in Deutschland, in Österreich, in Frankreich, dass man mit Grenzkontrollen das in den Griff bekommen könnte. Man kann immer sagen: Wir machen die Grenzen zu, wir machen Kontrollen, wir machen Stacheldrahtverhaue, dann sind wir sicher. Sind wir nicht." Europa, die handelnden Politiker, blamieren sich seit Monaten, findet auch der christsoziale Bürgermeister von Schengen, Ben Homan. Sie müssten endlich Farbe bekennen und solidarische Lösungen zum Schutz der Flüchtlinge und zum Schutz der eigenen Bevölkerung auf den Weg bringen. "Wir sollten uns doch bewusst sein, dass wir besonders aufpassen müssen auf den Mob am rechten Rand. Denn wenn der wieder ins Laufen kommt, dann werden wir alle Schwierigkeiten haben und da halte ich es mit einem SPD-Politiker, mit Willy Brand, der gesagt hat: Beeilt euch zu handeln, bevor es zum Bereuen zu spät ist!" Schweden hat gehandelt, allerdings anders, als sich der Bürgermeister von Schengen das vorgestellt hat. Gut 160.000 Flüchtlinge hat Schweden im vergangenen Jahr aufgenommen, acht Mal mehr als Nachbar Dänemark, Rekord im Norden Europas. Doch damit war das "Boot" selbst für die "humanitarian superpower", die "humanitäre Supermacht" voll. Ende 2015 gab die rot-grüne Minderheitsregierung dem wachsenden Druck vor allem der fremdenfeindlichen "Schwedendemokraten" nach. Auch deshalb verkündete Ministerpräsident Stefan Löfven, ein Sozialdemokrat, den Tabubruch: die Einführung von Grenzkontrollen: "Damit wir Ordnung schaffen in unserem Asylsystem, das ist der wichtigste Grund für diese Kontrollen. Wir müssen wissen, wer zu uns kommt, und zwar genauer, als wir es heute tun. Das wird ein Effekt dieser Maßnahme sein." Ausweiskontrolle in einem Bus auf der schwedischen Seite der Öresund-Brücke (dpa/picture alliance/SCANPIX DENMARK/Nils Meilvang) Kurz zuvor hatte Schwedens Innenminister Anders Ygeman Alarm geschlagen und das Land auf den radikalen Kurswechsel in der Asylpolitik vorbereitet. "Die Polizei beurteilt die Lage so, dass momentan die allgemeine Ordnung und die innere Sicherheit in Schweden in Gefahr sind", so Ygeman. Schengen hin, Schengen her. Schweden fühlte sich vom großen Rest Europas in der Flüchtlingsfrage allein gelassen und zog die Notbremse. Im Wissen, dass dadurch ein Imageschaden, wirtschaftliche Nachteile und Krach mit den dänischen Nachbarn drohten. Die zogen noch am Tag der Einführung schwedischer Grenzkontrollen nach und richteten Anfang Januar an der Grenze zu Deutschland Kontrollposten ein. Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen, mit seiner liberal-konservativen Minderheitsregierung ebenfalls unter politischem Druck durch starke Rechtspopulisten, sprach von befristeten Stichproben: "Die Regierung möchte nicht, dass Dänemark jetzt das neue große Flüchtlingsziel wird. Deshalb haben wir uns entschlossen, für eine bestimmte Zeit Grenzkontrollen einzuführen. Unserer Meinung nach ist es notwendig, um Ruhe und Ordnung zu sichern und um zu vermeiden, dass Flüchtlinge in Dänemark stranden." Das wollen auch Norweger und Finnen nicht. Die Konsequenz: Alle kontrollieren ihre Grenzen – mit spürbarer "Wirkung", um das Wort "Erfolg" zu vermeiden. Seit Januar ist die Zahl der Asylsuchenden in ganz Skandinavien deutlich zurückgegangen, etwa auf ein Fünftel. Und schon wird neu über die Kontrollen diskutiert – und über ihre Nebenwirkungen. Auf rund 300 Millionen Euro im Jahr schätzen Experten den volks-wirtschaftlichen Schaden der schwedisch-dänischen Grenzkontrollen in der boomenden Region Kopenhagen-Malmö. Knapp 100 Millionen Euro kosten die Kontrollen an der dänisch-deutschen Grenze. Also schnellstens wieder abschaffen? Wohl nicht! Die quer durch Skandinavien von Rechtspopulisten entweder gestützten, mit getragenen oder – wie in Schweden – gefährdeten Regierungen wägen ab, zwischen wirtschaftlichem Nachteil und politischem Risiko. Und sind offenbar der Meinung, dass das Risiko größer ist. Ja, Grenzkontrollen kosten viel Geld, aber sie halten die Rechtspopulisten und -extremisten in Schach mit ihren radikalen Forderungen, ihrem "zurück in die Zukunft". Noch neu, aber bereits sehr einflussreich ist zum Beispiel die "Rajat Kiinni!"-Bewegung in Finnland, auf Deutsch: "Grenzen dicht". Im finnischen Fernsehen erklärte Pekka Kemppainen, was damit gemeint ist: "Unser Ziel ist seit letztem August genau das, was jetzt auf dem Tisch der EU-Minister ist. Oder wenn noch nicht, dann hoffentlich bald: Nämlich eine Schließung der Schengen- und Dublin-Außengrenzen für solche Menschen, die nun wirklich nicht nach Europa gehören." Noch denken im Schnitt lediglich um die 20 Prozent der Skandinavier so. Aber das sind Ergebnisse von Meinungsumfragen. Bei einem "heißen" Thema wie diesem muss man davon ausgehen, dass nicht alle Antworten ehrlich sind und es eine hohe "Dunkelziffer der Fremdenfeindlichkeit" gibt. "Ich bin ja offen und tolerant", sagt auch dieser Finne, "aber es ist auch richtig, was der Präsident gesagt hat, dass es passieren kann, dass eine Million Menschen kommen. Und das ist vielleicht erst der Anfang. Es kann also sein, dass Verträge geändert werden müssen, wie Schengen und so." Nur hat der finnische Präsident Niinistö nie gesagt, dass eine Million Menschen Richtung Finnland unterwegs sein könnten. Auch hier also: Gerüchte und gezielte Falschmeldungen, die gestreut werden, um Stimmung zu machen gegen Fremde und für geschlossene Grenzen. Aus der Politik kommt wenig Widerstand, stattdessen wird taktiert. Aktuell kommt Dänemark mit dem Vorschlag, eine Art Mini-Schengen einzurichten, also nur an den skandinavischen Außengrenzen zu kontrollieren. Wieder "zurück in die Zukunft": Denn das gab es schon einmal, ab 1954, und nannte sich "nordische Passunion". Damals allerdings als Mittel zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und nicht zur Abschottung nach außen. Ersten Applaus hat Dänemarks Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen schon für diese Idee bekommen, ausgerechnet von den rechtspopulistischen "Schwedendemokraten". Und so ist das Mantra in Brüssel seit Beginn der Flüchtlingskrise: Schengen darf nicht sterben. Doch Schengen funktioniert zurzeit erkennbar nicht, angesichts der Hunderttausenden Flüchtlinge und des entsprechenden Drucks auf die EU-Außengrenzen. Das System des Reisens ohne Kontrollen im Schengen-Raum ist gefährdet, muss aber unter allen Umständen als eine der wichtigsten Errungenschaften der Union gerettet werden, so das Credo. EU setzt große Hoffnungen auf Verhandlungen mit der Türkei Ein optimistisches Szenario für die Zukunft Schengens könnte so aussehen: Die Kontrolle – wohl gemerkt nicht die Schließung – der Außengrenzen funktioniert innerhalb der nächsten drei Monate wieder. Asylsuchende werden kontrolliert, registriert, gegebenenfalls zurückgeschickt. Die Hoffnungen, nicht nur von EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos, konzentrieren sich einerseits auf das Konzept der sogenannten "Hotspots", die mit EU-Hilfe in Italien und Griechenland aufgebaut und gemanagt werden sollen. "Italien und Griechenland müssen dringend dafür sorgen, dass alle sechs Hotspots funktionsbereit sind. Es scheint voran zu gehen, was ein positives Signal ist." In der Tat ist inzwischen der Anteil der Flüchtlinge, die in Griechenland regelgemäß registriert werden, erheblich gestiegen – von unter 10 Prozent im Oktober auf fast 80 Prozent Anfang Februar. "We have to reach 100 Prozent." Dieses Ziel ist aber nicht erreicht. Die EU-Kommission hat Griechenland erhebliche Mängel beim Management seiner Außengrenze bescheinigt. Bis Mitte Mai müssten diese Mängel behoben werden. "Wir machen niemandem Vorwürfe, wir geben Anleitungen." Deswegen setzt die EU andererseits große Hoffnungen auf Verhandlungen mit der Türkei. Um Schlepperbanden zu bekämpfen, Flüchtlinge zurückzuschicken, kurz: die europäischen Außengrenzen auf diese Art besser zu schützen. Es ist das, was Angela Merkel vor dem Bundestag den "europäisch-türkischen Ansatz" genannt hat. Für diesen Ansatz wollte Merkel heute in Brüssel werben. Für 12 Uhr stand ein Termin der Europäer mit dem türkischen Ministerpräsidenten im Kalender. Nach dem Attentat von Ankara wurde der Termin abgesagt. Verschoben, aber nicht aufgehoben, unterstreicht EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: "Wir hoffen, dass wir dennoch bald mit der türkischen Regierung über die notwendige Kooperation und die Umsetzung der bereits getroffenen Vereinbarungen so schnell wie möglich sprechen können." Das pessimistische Szenario sieht so aus: Die "Anleitungen" führen nicht zum Erfolg. Dann könnten die Länder des Schengen-Raums bis zu zwei Jahre lang ihre Binnengrenzen kontrollieren. Dann wäre Schengen vielleicht immer noch nicht tot, aber zumindest suspendiert. Im Europäischen Parlament hoffen die meisten, dass es dazu nicht kommt. Könnte das doch tatsächlich der Anfang vom Ende von Schengen sein, fürchten der CDU-Abgeordnete Herbert Reul und seine SPD-Kollegin Birgit Sippel. "Wenn sich das dann verstetigt und zu stabilen Grenzkontrollen wird, dann ist Schengen hin. Und das wär Drama – das wäre ein Riesendrama." "Ich glaube, das wäre ein Schlag, von dem wir uns alle gemeinsam so schnell nicht erholen würden." Kaum weniger dramatisch wäre aus Sicht Birgit Sippels das skandinavische Modell, das auch in anderen Regionen seit einigen Monaten immer mal wieder ventiliert wird: dass sich einige EU-Staaten des Schengen-Raums zu einer Art "Mini-Schengen" zusammenschließen könnten, darunter Deutschland, Österreich, Slowenien, die Niederlande. Sie würden die Grenzen untereinander offen halten, aber alle Grenzen zu nicht beteiligten EU-Nachbarn wie Außengrenzen behandeln und kontrollieren. "Ich halte das für Quatsch, weil mit einem solchen Mini-Schengen würde man in der derzeit politisch sehr aufgeheizten, emotionalen Debatte auch ein Signal geben: Europa löst sich auf und konzentriert sich auf wenige." Nicht nur deshalb halten in Brüssel wenige etwas von einem de facto Ausschluss Griechenlands aus dem Schengen-Raum. Da Griechenland zu Lande keine Grenze mit einem Schengen-Land hat, würde sich dadurch praktisch wenig, symbolisch aber einiges ändern. "Sehr viel wichtiger wäre es jetzt, Solidarität zu zeigen, zu sagen: Ihr habt nicht die alleinige Verantwortung für Flüchtlinge. Wir unterstützen euch und danach werden die Flüchtlinge selbstverständlich in alle Länder Europas verteilt." Doch mit diesem "selbstverständlich" beginnt das nächste Problem.
Von Tonia Koch, Carsten Schmiester und Annette Riedel
Schweden, Dänemark, Frankreich: Die Wiedereinführung von Kontrollen an EU-Binnengrenzen scheint für diverse Länder zunehmend attraktiv zu werden. Das System Schengen - die grenzenlose Reisefreiheit für etliche Menschen - ist gefährdet. Ob das Abschotten tatsächlich die Flüchtlingskrise eindämmt, wird gleichzeitig von vielen Seiten bezweifelt. Zudem kosten die Kontrollen Hunderte Millionen Euro.
"2016-02-18T18:40:00+01:00"
"2020-01-29T18:14:35.802000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grenzkontrollen-in-europa-schengen-am-scheideweg-100.html
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Bundespräsident: Israelis und Palästinenser "müssen kompromissbereit sein"
Hans-Joachim Wiese: Herr Bundespräsident, Ihre erste offizielle Reise im Amt, die Sie nicht gewissermaßen aus der Erbmasse Ihres Vorgängers übernommen hatten, führte Sie nach Israel. Warum Israel? Warum nicht sagen wir Frankreich?Christian Wulff: Ich hatte sogleich nach Amtsübernahme die Antrittsbesuche gemacht, vor allem in unseren Nachbarländern, also auch in Frankreich, aber für eine mehrtägige Reise bot Israel sich deshalb an, weil gerade Deutschland vor dem Hintergrund der Geschichte für Israel und dessen Existenzrecht und dessen Sicherheit eine ganz besondere Verantwortung hat. Da Deutschland auch über große Sympathie in den palästinensischen Gebieten verfügt, bot es sich an, in dieser Region einige Tage Gespräche zu führen, um sich auch einen Eindruck aus erster Hand zu verschaffen.Wiese: Sie betonten auch während Ihrer Reise mehrfach den besonderen Charakter der deutsch-israelischen Beziehungen. Was genau macht diesen besonderen Charakter aus?Wulff: Der Staat Israel ist durch Besiedlung von Palästina entstanden seit Ende des 19. Jahrhunderts infolge des Zionismus, aber natürlich hat das eine ganz besondere Bewandtnis bekommen durch die Schoa, durch den Holocaust, durch die Ermordung Millionen Juden in Europa, und infolgedessen ist die Erkenntnis der Juden, einen eigenen Staat aus ihrem Heimatgebiet zu benötigen, um eine Heimstatt zu bieten für alle Juden aus der Welt, und Deutschland hat hier eine besondere Beziehung, eine besondere Bindung, eine besondere Unterstützung geleistet, was im Übrigen ja aber auch für die palästinensischen Aktivitäten gilt, eigene Strukturen in Polizei und Justiz und Bildungswesen zu schaffen.Wiese: Wenn das deutsch-israelische Verhältnis tatsächlich so freundschaftlich und vertrauensvoll ist, wie Sie sagen, Herr Bundespräsident, dann ist es sicherlich nicht nur Ihr Recht, sondern sogar Ihre Pflicht, einen Freund, also Israel, auch zu kritisieren, wenn er Ihrer Meinung nach politische Fehler begeht. Sie haben das ja hinsichtlich der israelischen Siedlungspolitik und der Absperrung des Gaza-Streifens auch getan. Was missfällt Ihnen da?Wulff: Beide Seiten in den Konfliktsituationen, die ja erheblich sind, müssen kompromissbereit sein, müssen aufeinander zugehen, Respekt füreinander entfalten, und dazu gehört das Thema der Wesenrichtung der palästinensischen Gebiete, dazu gehört die Frage von Import- und Exportbeschränkungen, dazu gehört auch das Thema der Siedlungspolitik. Hier ist sich ja auch die Staatengemeinschaft einig, dass eine konstruktive Rolle erbeten ist, und so habe ich selbstverständlich in den Gesprächen und dann auch öffentlich nach den Gesprächen darauf hingewiesen, wo wir Erwartungen an Israel und Palästina, die palästinensischen Gebiete haben, wo sie aufeinander zugehen sollen.Wiese: Wenn Sie von konstruktiver Politik sprechen, was meinen Sie damit konkret?Wulff: Man muss Vertrauen schaffen, Vertrauen, dass es die andere Seite ernst meint, dass zwei Staaten auf Dauer lebensfähig nachhaltig in Frieden nebeneinander leben sollen, dass man es akzeptiert, dass der jeweils andere eine solche Berechtigung hat, und dass man für die auch einsteht. Das ist die Erwartungshaltung, die auch auf ganz viel Resonanz, auf ganz viel Offenheit und Herzlichkeit gestoßen ist. Also ich bin angetan von der freundlichen Aufnahme sowohl in Israel als auch dann in den palästinensischen Gebieten.Wiese: Der israelische Ministerpräsident Netanjahu billigt Deutschland eine Schlüsselrolle im Nahost-Friedensprozess zu. Sollte Deutschland diese Rolle annehmen und wie könnte die aussehen?Wulff: Die Breite der Beziehungen zu Israel ist heute in einem hervorragenden Zustand, wenn es um gemeinsame Wirtschaftsprojekte geht, wenn es um Wissenschaftskooperationen geht, wenn es um den Austausch im Kulturbereich geht. Wir müssen vor allem realisieren, dass Israel ein sehr kreatives, ein sehr dynamisches wachsendes Land ist mit einer erfolgreichen Wirtschaft, einer erfolgreichen Innovationspolitik. Aus diesen engen Bindungen heraus hat Deutschland natürlich ein erhebliches Gewicht. Wir haben es aber auch deshalb, weil seit vielen Jahrzehnten der Aufbau von Schulen, von Bildungseinrichtungen, von Polizeidienststellen jetzt ganz aktuell, auch durch Ausbildung von Polizisten in den palästinensischen Gebieten eine wirkliche wichtige Rolle Deutschlands begründet hat, und insofern kommt Deutschland eine wichtige Rolle zu. Ich vermeide allerdings den Begriff Vermittlerrolle, Schlüsselfunktion, weil das nach meiner Meinung die Situation überziehen würde, und dafür ist die Lage auch zu komplex. Hier kommt eher der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika eine solche Bedeutung zu.Wiese: Noch eine etwas persönlichere Frage, Herr Bundespräsident. Sie sind mit Ihrer 17jährigen Tochter Annalena und acht weiteren Jugendlichen nach Israel gereist und haben gemeinsam mit ihnen die Holocaust-Gedenkstätte Yad Washem besucht. Welcher Gedanke steckte dahinter?Wulff: Es ist eine zentrale Aufgabe der Elterngeneration, an ihre Kinder, an unsere Kinder die Erfahrungen der Juden mit Deutschland, den Umgang mit dem Judentum zu thematisieren, die Erinnerung weiterzugeben und damit auch wach zu halten, und ich wollte natürlich vor allem gegenüber Israel deutlich machen, dass mir dies ein Herzensanliegen ist, dass niemand aus der Überlebendengeneration, die jetzt sehr alt ist und die nicht auf Dauer ja vorhanden sein werden, sich Sorgen machen muss, dass hier etwas in Vergessenheit gerät und aus der Geschichte nicht gelernt wird. Das ist auch mit diesem Besuch gelungen, denn die acht jungen Leute haben eindrucksvoll dargestellt, wie sie sich mit dem Nahostkonflikt auseinandergesetzt haben, mit verschiedenen Facetten des Judentums, und es waren Hunderte aus Deutschland bei dem Jugendempfang, den ich dort ausgerichtet habe, die sich als Freiwillige im sozialen Bereich, im historischen Bereich einsetzen, aufarbeiten, sich kümmern, und damit grandios überzeugend zeigen, dass wir auf unsere junge Generation in Deutschland extrem stolz sein können, wie sie sich mit der Geschichte auseinandersetzt.Meurer: Mit Bundespräsident Christian Wulff sprach zum Abschluss von dessen Reise nach Israel mein Kollege Hans-Joachim Wiese.
null
Bundespräsident Christian Wulff hat an Israelis und Palästinenser appelliert, den Friedensprozess voranzutreiben, insbesondere bei der Siedlungspolitik, aber auch beim Thema Handelsbeschränkungen. Ziel müsse es sein, wieder Vertrauen zu schaffen.
"2010-12-01T06:50:00+01:00"
"2020-02-03T18:10:44.826000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundespraesident-israelis-und-palaestinenser-muessen-102.html
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USA planen Bündnis gegen "IS"
Präsident Barack Obama: USA planen Bündnis gegen Terrormiliz "Islamischer Staat". (SAUL LOEB / AFP) Er habe Verteidigungsminister Chuck Hagel aufgefordert, verschiedene Möglichkeiten im Kampf gegen "IS" vorzubereiten, sagte Barack Obama in Washington. Zudem werde Außenminister John Kerry in den Nahen Osten reisen, um dort ein Bündnis gegen die Terrormiliz zu schmieden. Im Kampf gegen die Gruppe komme es auf eine "regionale Strategie" im Irak und in Syrien unter Einbeziehung der Sunniten an, so Obama. Der US-Präsident kündigte an, weitere Schritte im Vorgehen gegen "IS" mit dem Kongress zu besprechen. Republikaner und Demokraten fordern, dass der Kongress in dieser Frage befragt wird. Seine Strategie beinhalte einen "militärischen Aspekt", so Obama. Die irakischen Streitkräfte könnten auch von einem "internationalen Bündnis" unterstützt werden, durch Ausbildung wie Ausrüstung. Koalition mit Großbritannien und Australien? Einem Bericht der arabischen Tageszeitung "Al-Sharq al-Awsat" zufolge könnten zu der Koalition gegen die "IS" Großbritannien, Australien, Jordanien, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören. Auch die Hilfe der Türkei sei erwünscht, da deren Militärstützpunkte für Einsätze im Nachbarland wichtig wären. Bislang fliegen die USA nur im Nordirak Angriffe auf die Extremisten. Deutschland hat bereits klargemacht, dass es für solche Einsätze keine Soldaten stellen will. Geplant sind jedoch Waffenlieferungen an die Kurden im Norden des Irak. Auf Wunsch der Opposition soll darüber nächste Woche nun doch der Bundestag abstimmen. Die Entscheidung liegt jedoch weiterhin bei der schwarz-roten Bundesregierung allein. Die ersten sechs deutschen Soldaten zur Verteilung der Militärhilfe sind bereits in der Kurden-Hauptstadt Erbil. (bor/has)
null
Washington arbeitet laut US-Präsident Obama an einem Bündnis arabischer Staaten, um Angriffe auf die Terrormiliz "Islamischer Staat" in Syrien vorzubereiten. Auch andere westliche Staaten könnten einbezogen und der Militäreinsatz im Nachbarland Irak ausgedehnt werden.
"2014-08-28T22:39:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:09.677000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/naher-osten-usa-planen-buendnis-gegen-is-100.html
682
"Extremwetterereignisse werden durch Veränderung der Arktis wahrscheinlicher"
Der Forschungseisbrecher Polarstern (picture alliance / abaca) Werchojansk, 115 Kilometer nördlich des Polarkreises, ist bekannt als kälteste Stadt der Welt. Temperaturen von mehr als 60 Grad unter Null sind dort keine Seltenheit. Doch nun geriet die Kleinstadt in Sibirien wegen ihres Hitzerekordes in die Schlagzeilen: So heiß wie am 20. Juni 2021 – es waren 38 Grad Celsius – war es noch nie in diesen Breitengraden. Wie die Weltorganisation für Meteorologie bekannt gab, ist es die höchste jemals über dem Polarkreis gemessene Temperatur. Gemessen wird seit 1885. Der Trend der Extreme hat sich auch in diesem Jahr fortgesetzt. Erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen hat es am höchsten Punkt des grönländischen Eisschildes geregnet und nicht geschneit. Arktis-Forscher berichtet von verheerenden Auswirkung der Erderwärmung Seit über 40 Jahren fährt das deutsche Eisbrecher-Forschungsschiff Polarstern durch die Polarregionen der Erde. Es ist das Flaggschiff des Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meersforschung des Alfred-Wegener-Instituts. Markus Rex untersucht mit seinem Team die Auswirkungen des Klimawandels auf das arktische Ökosystem. Seiner Meinung nach wird dieser Hitzerekord nicht der letzte gewesen sein. Auf seiner Arktismission habe er beobachtet, wie die Erwärmung der Arktis sich schon ausgewirkt hat. "Wir haben da gesehen, dass im Frühjahr 2020, als wir unterwegs waren, sich das Eis schneller als jemals zuvor in der Arktis zurückgezogen hat und dann im Herbst 2020 auch später wieder zurückgebildet hat als jemals zuvor. Wenn das so weitergeht, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann wird die Arktis tatsächlich in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei werden. Das wäre eine komplett andere Welt." Eine Erwärmung der Arktis habe immer auch Auswirkungen auf den Rest der Welt, wie man an den Extremwetterereignissen in Deutschland, im Ahrtal, oder auch in Kanada gesehen habe. Das Interview im Wortlaut: Britta Fecke: Sind diese hohen Temperaturen nördlich des Polarkreises nur Extreme eines Sommers oder bestätigen sie einen Trend? Markus Rex: Ja, ich denke, das wird nicht die letzte Nachricht eines neuen Temperaturrekords aus der Arktis sein, die wir hören, denn die Arktis erwärmt sich ja wirklich dramatisch. Sie erwärmt sich viel schneller als der Rest der Welt. Wir haben es da mit einer Erwärmung etwa zwei- bis dreimal schneller als im Rest der Welt zu tun. Und natürlich sind die Rekordtemperaturen, die dann erreicht werden in den dazu noch auftretenden Extremwetterlagen, dann nur das Symptom, das Anzeichen dieser generellen Erwärmung. Die Arktis wird insgesamt wärmer, und damit werden natürlich auch die Hitzerekorde immer mal wieder neu geknackt. Arktis erwärmt sich bis zu dreimal schneller als Rest der Welt Fecke: Seit 1971 – Sie sagten es ja schon – erwärmt sich die Region dreimal schneller. Welche Mechanismen wirken da zusammen, dass es da zu dieser Beschleunigung gekommen ist? Rex: Es gibt in der Arktis tatsächlich eine ganze Reihe von verstärkenden Effekten, warum der Klimawandel dort viel stärker ist als im Rest der Welt. Einige, viele von denen kann man nicht so gut erklären, einige andere sind allerdings gut zu verstehen. Das sind nicht unbedingt die wichtigsten. Aber einer, der sich sehr einfach erklären lässt, ist das, was wir den Ice Albedo Feedback nennen. Denn wenn sich die Arktis erwärmt, dann schmilzt ja mehr Eis. Wenn das Eis verschwindet, kommt dadrunter eine entweder dunkle Ozeanoberfläche oder auf dem Land, wenn der Schnee schmilzt, eine dunkle Landoberfläche zum Vorschein, und die kann sich im Sommer, wenn die Sonne auf die Oberfläche brennt, viel stärker erwärmen als die vormals weiße Eis- oder Schneeoberfläche, und das trägt natürlich zu einer Erwärmung bei. Ist nicht unbedingt der stärkste Effekt, aber er trägt dazu bei. Ruß aus Waldbränden oder Schifffahrt trägt zur Erwärmung bei Fecke: Welche Rolle spielen denn, wenn Sie gerade von der Verdunklung des Eises oder von der Verdunklung der Oberfläche vielmehr gesprochen haben, welche Rolle spielen denn dann die Brände, die sich auch in Sibirien abgespielt haben, und der Ruß, der in der Luft lag? Rex: Das ist ein weiterer Beitrag zur Erwärmung. Wenn wir mehr Ruß in der Atmosphäre haben – Ruß absorbiert Sonnenlicht –, dann erwärmt das die Atmosphäre auch noch weiter. Das kommt zum einen aus den vermehrt auftretenden Waldbränden, es kommt aber auch besonders in der Zukunft aus der vermehrten und intensiveren Schifffahrt, den Transportwegen auf dem Ozean durch die Arktis. Wenn die Arktis im Sommer zunehmend eisfrei wird, dann werden die Handelsschifffahrtsrouten von Asien nach Europa, wo ein Großteil unserer Waren herkommt, zunehmend durch die Arktis führen, und auch die Schiffe setzen dort Ruß frei. Und das trägt natürlich dann auch lokal noch mal zur weiteren Erwärmung bei. Arktis in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei Fecke: In diesem Jahr ist zum allerersten Mal am höchsten Punkt Grönlands kein Schnee mehr runtergekommen, sondern Regen. Sie waren ja selber im Herbst vor zwei Jahren mit Ihrem Team, mit Ihrem Forschungsschiff und Eisbrecher Polarstern im arktischen Eis, haben sich einfrieren lassen und ein Jahr lang mit dem Eis quer, wie sagt man, über die nördlichen Polkappen schieben lassen. Waren solche Trends schon zu erkennen? Rex: Ja, wir haben natürlich ganz massiv selber gesehen, wie die Erwärmung der Arktis sich schon ausgewirkt hat. Das Eis war dünn, deswegen auch sehr mobil. Wir sind schneller durch die Arktis gedriftet mit dieser arktischen Eisdecke, als wir das erwartet hätten, eben weil es dünn und mobil geworden ist. Wir haben dann auch im Frühjahr, wenn die große Schmelze einsetzt immer im arktischen Frühjahr, gesehen, wie massiv dieses Schmelzen ist und welch großer Anteil der Niederschläge heutzutage schon als Regen runterkommt. Das sind natürlich alles Folgen der generellen Erwärmung der Arktis. Wir haben da gesehen, dass im Frühjahr 2020, als wir unterwegs waren, sich das Eis schneller als jemals zuvor in der Arktis zurückgezogen hat und dann im Herbst 2020 auch später wieder zurückgebildet hat als jemals zuvor. Wenn das so weitergeht, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann wird die Arktis tatsächlich in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei werden. Das wäre eine komplett andere Welt. Fecke: Die Prognosen lauteten ja mal 2050, aber ich glaube, Sie haben sich da schon nach unten korrigiert. Rex: Das kann sogar schon früher noch auftreten. Wir haben da große Unsicherheiten drin. Es kann auch natürlich dazu kommen, dass wir mal sporadisch in einzelnen Jahren eine quasi eisfreie Arktis im Sommer bekommen und dann im nächsten Jahr wieder etwas mehr Eis im Sommer in der Arktis liegen haben. Das wird kein Umlegen eines Schalters werden von einer eisbedeckten Arktis zu einer eisfreien Arktis. Aber die Sommer, in denen die Arktis dann weitgehend eisfrei wird, werden immer häufiger werden, und das kann schon in wenigen Jahrzehnten einsetzen und mit Sicherheit auch schon deutlich vor Mitte des Jahrhunderts. Methanemissionen in Ostsibirien können das Klima global anheizen Fecke: Das Schmelzen der Kappen ist ja das eine, das andere ist das Schmelzen des Permafrostbodens. Welche Faktoren müssen wir da noch im Blick halten, Stichwort Methanausscheidung, wenn es um die Beschleunigung des Klimawandels geht? Rex: Ja, diese Nachricht von 38 Grad Celsius jetzt nördlich des Polarkreises in Ostsibirien ist natürlich wirklich alarmierend, denn das ist genau der Bereich, in dem der Permafrost liegt. Diese 38 Grad Celsius sind gemessen worden auf einer Landoberfläche, die eigentlich bis Hunderte Meter tief in den Boden hinein gefroren ist, und in dem gefrorenen Boden sitzt sehr viel Kohlenstoff, der jetzt anfängt aufzutauen, und Sie können sich vorstellen, wie massiv das Tauen bei 38 Grad Lufttemperatur vonstatten geht. Dann wird dieser Kohlenstoff freigesetzt, vieles wird umgesetzt in Methan, welches dann in die Atmosphäre gelangt. Methan ist ein sehr, sehr potentes Treibhausgas, es ist noch viel potenter, die Treibhausgaswirkung ist noch viel stärker als die von Kohlendioxid. Das kann zu einer weiteren Verstärkung der globalen Erwärmung führen, denn diese Methanemissionen wirken nicht nur lokal, sondern würden tatsächlich global das Klima anheizen. Erwärmung der Arktis führt zu Extremwettersituationen - wie im Ahrtal Fecke: Die Veränderungen des arktischen Klimas, die sind ja eng mit den klimatischen Verhältnissen auch in unseren Breiten gekoppelt. Welchen Einfluss nimmt die Erwärmung der Arktis auf unsere Klimaentwicklung? Rex: Die Arktis ist ja tatsächlich gar nicht so weit weg von uns. Wenn Sie mal auf den Globus schauen, dann ist das unser Vorgarten, und sie ist insbesondere auch für unsere Wettersysteme ganz bestimmend. Sie ist die Wetterküche für viele der Tief- und Hochdrucksysteme, die bei uns hinterher wetterbestimmend werden. Insbesondere der Temperaturunterschied zwischen der kalten Arktis und den wärmeren mittleren Breiten treibt unser Westwindband an. Das ist der Grund dafür, warum der Wind meistens aus Westen weht und warum wir in zehn, zwölf Kilometer Höhe diesen ausgeprägten Westwind-Jetstream liegen haben, den Sie auch im Wetterfilm heutzutage häufig sehen, weil er eben so wetterbestimmend ist für uns. Da sich die Arktis jetzt ja aber schneller erwärmt als der Rest der Welt, nimmt dieser Temperaturunterschied ab. Damit wird der Antrieb für dieses Westwindband schwächer, das wird instabiler, wir bekommen es mehr mit Nordsüdtransporten von Luftmassen zu tun, weniger mit von Westen nach Osten gerichteten Transporten. Das kann eben gerade solche Hitzewellen in der Arktis oder auch Hitzewellen in unseren Breiten verstärken. "Das, was im Ahrtal in diesem Sommer passiert ist, ist nicht unabhängig von der Entwicklung der Arktis", so Klimaforscher Markus Rex (picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt) Das führt zu diesen sehr trockenen, heißen Phasen im Sommer, die wir ja auch schon wirklich intensiv und verstärkt wahrgenommen haben in den letzten Jahren. Und es kann auch zu anderen Extremwetterlagen führen, weil auch die Drucksysteme nicht mehr so schnell um den Globus geschoben werden von Jetstream. Wenn sich ein Tiefdruckgebiet festsetzt über einer Region, dann wird eben das gesamte enthaltene Wasser, der gesamte Regen über einer Region abgelagert, anstatt wie mit der Gießkanne über große Bereiche verschmiert zu werden. Rex: Da haben Sie genau den Stichpunkt wie im Ahrtal. Das trägt natürlich mit dazu bei, dass die extremen Niederschlagsereignisse intensiver werden. Es gibt da weitere Gründe dafür – insgesamt ist in warmer Luft mehr Wasserdampf drin, da regnet es sowieso schon mal mehr. Fecke: So wie im Ahrtal. Aber wenn dann so ein Tiefdrucksystem nicht mehr ordentlich weiterzieht, eben durch den verminderten Temperaturkontrast zwischen Arktis und mittleren Breiten, dann gibt es noch mal den letzten Push für das Extremwetterereignis und diese extremen Niederschläge. Deswegen, das, was im Ahrtal in diesem Sommer passiert ist, ist nicht unabhängig von der Entwicklung der Arktis. Temperaturrekorde in Kanada wurden pulverisiert Fecke: Was im Westen der USA und Kanadas passiert ist, nämlich diese Hitzewelle mit Temperaturen bis zu sechs Grad über den bisherigen Rekordwerten, ist dann auch in dem Kontext zu sehen. Rex: Absolut. Da hat sich ein anderes Drucksystem festgesetzt, nämlich ein Hochdrucksystem ist dort stationär geworden. Es hat eine Hitzeglocke sich ausbilden können, einfach weil dieses Hochdruckgebiet nicht mehr weitergezogen ist und über lange Zeiten sich diese Region immer weiter aufheizen konnte. Damit sind ja in Kanada jetzt im vergangenen Sommer 2021 die bisherigen Temperaturrekorde nicht nur mal so eben übertroffen worden, sie sind völlig pulverisiert worden. Es war in Kanada vorher noch nie wärmer als 45 Grad gewesen, was auch schon ganz schön warm ist, aber es ist tatsächlich in diesem Sommer in der Region fast 50 Grad warm geworden, fünf Grad über dem bisherigen Rekord. Da sieht man, welches Potenzial diese Extremwetterereignisse haben, die eben durch Veränderungen in der Arktis wahrscheinlicher werden. Die ganze Region ist vollständig ausgetrocknet während dieser Phase der Hitzeglocke und danach dann auch komplett abgebrannt. Es gab gewaltige Schäden, die Menschen sind davon betroffen, und das zeigt uns auch, dass das alles hier nicht akademisch ist, was wir diskutieren. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Rex im Gespräch mit Britta Fecke
Der Klimawandel vollzieht sich wegen verstärkender Effekte in der Arktis viel schneller als im Rest der Welt. Die Arktis sei für unsere Wettersysteme bestimmend, sagte Polarforscher Markus Rex im Dlf. Auch Extremwetterereignisse wie im Ahrtal seien nicht von den Entwicklungen der Arktis unabhängig.
"2021-12-15T16:35:00+01:00"
"2021-12-15T19:39:10.168000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interview-markus-rex-polarstern-mission-arktis-expedition-hitzerekord-auswirkungen-100.html
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"Wir akzeptieren Wahlen der Separatisten nicht"
Der ukrainische Außenminster Pawel Klimkin (dpa/picture alliance/Olivier Hoslet) Seine Regierung habe ein klares Dezentralisierungskonzept, das ein Gesetz über einen speziellen Status von Donezk und Lugansk vorsehe. Er schlug daher vor, auf dieser Basis richtige Lokalwahlen im Dezember zu organisieren. "Durch diese Wahlen können wir diejenigen bestimmen, die die Verantwortung in Donesk und Lugansk übernehmen". Der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin sagte, dass man momentan einen kritischen Dialog mit Russland führe, aber " wir brauchen Russland, damit wir die Lage in Donezk und Lugansk stabilisieren können. Wir müssen auch das Vertrauen zurückgewinnen, aber das ist nicht in Sicht". Sanktionen müssen Ostukraine stabilisieren Im Hinblick auf die Sanktionen der EU und den USA gegen Russland sagte er, dass diese so gestaltet werden müssten, dass man die Regionen Donezk und Lugansk in der Ostukraine stabilisiere und einen dauerhaften Waffenstillstand erreiche. Es sei ganz wichtig, die Grenze zu Russland im Osten der Ukraine zu schließen, denn "alles was reinkommt aus Russland - Söldner, Waffen - das ist problematisch". Auf die Frage, ob sich alle im Osten als Ukrainer fühlten, sagte Klimkin: "Absolut ja. Im Großen und Ganzen sehen sich die Ukrainer vereint". Streumunition nicht eingesetzt Die Vorwürfe von Human Rights Watch, dass das ukrainische Militär Streumunition in der Konfliktregion einsetze, verneinte Klimkin klar. "Wir haben diese Vorwürfe überprüft, es ist ein Fake (Fälschung)", sagte er im Hinblick auf Beweisbilder. Er bekräftigte aber, die Vorwürfe mit Human Rights Watch prüfen zu wollen. "Wer solche Waffen eingesetzt hat - Terroristen, Gangs - sollen zur Verantwortung gezogen werden", ergänzte er. Gasversorgung in der Ukraine gesichert Im Hinblick auf den Konflikt mit Russland sieht Klimkin keine Probleme bei der Gasversorgung. "Die Ukrainer müssen nicht frieren, wir haben genug Gas, wir haben andere Ressourcen, die wir nutzen, wir haben genug Gas zum Heizen, es wird aber eine Herausforderung für unsere Wirtschaft". Korruption wichtigstes Thema nach Wahlen Ein wichtiges Ziel nach den Wahlen werde vor allem die Korruptionsbekämpfung sein, sagte Klimkin. "Nicht nur Gesetze, sondern auch die Implementierung dieser" werden nach den Wahlen angegangen. Die Ukraine wählt am Sonntag ein neues Parlament. 26 Parlamentssitze werden nicht neu besetzt, da auf der Halbinsel Krim nach der Annexion durch Russland keine Wahl stattfindet sowie ebenfalls nicht in Teilen der Ostukraine, die von den prorussischen Separatisten unter Kontrolle stehen. Diese wollen eine eigene Wahl im November durchführen. Das Interview in voller Länge: Klimkin: Ja, absolut! Wenn Sie in Charkiw viele fragen, oder vielleicht in einigen Städten. Es gibt nach wie vor die schwierige Lage in Donezk und in Lugansk, aber auch da wollen ganz wenige sich Russland anschließen. Dafür gibt es unterschiedliche Stimmen selbstverständlich, aber im Großen und Ganzen sehen Sie, dass die Ukraine vereint ist. Und wenn jetzt die Frage lautet, wohin soll die Ukraine, in die Europäische Union, dann antworten immer mehr als 70 Prozent der Ukrainer wirklich in die Europäische Union, und das hängt nicht davon ab, ob man das in Odessa fragt, in Charkiw oder in Kiew. Wichtig ist ein nachhaltiger Waffenstillstand Heinemann: Herr Minister, Russland sitzt am Verhandlungstisch. Ist das eine Folge der Sanktionen gegen Russland? Wirken die? Klimkin: Ich glaube, die Sanktionen, das ist nur ein Teil der Möglichkeiten, die uns vorliegen. Was wichtig ist, dass wir die Lage in Donezk und Lugansk stabilisieren und nachhaltigen Waffenstillstand erreichen. Ganz, ganz wichtig, dass wir auch die Grenze schließen, weil alles, was in die Ukraine reinkommt, und zwar Söldner, Gelder, Waffen, schwere Waffen, Panzer, kommt aus Russland.Drittens: Wir brauchen, endlich alle Geiseln freizumachen. Das ist wirklich nicht nur empörend, dass wir nach wie vor 600 Geiseln haben. Und selbstverständlich müssen wir ganz klar die politische Linie sehen. Solche angebliche Wahlen, die man in Donezk und Lugansk für November geplant hat, und dass man sogenannte Präsidenten und Parlamente in Donezk und Lugansk wählt, das geht wirklich nirgendwo. Wahlen der Separatisten sind inakzeptabel Heinemann: Wie wird die ukrainische Regierung, die Regierung in Kiew genau auf diese Wahlen, diese angekündigten Wahlen der Separatisten im Donbass reagieren? Klimkin: Ganz klar! Wir haben hier gesagt, erstens: Wir akzeptieren diese Wahlen nicht und wir können diese Wahlen nicht anerkennen. Zweitens: Es muss eine klare Botschaft geben, und zwar von allen, von der Europäischen Union, aber auch von Russland, dass solche Wahlen nicht stattfinden. Und wir haben ein klares Dezentralisierungskonzept. Wir haben auch ein spezielles Gesetz über einen speziellen Status von Donezk und Lugansk und gemäß dieses Gesetzes können wir die Wahlen im Dezember organisieren, und zwar richtige Lokalwahlen, und durch diese Wahlen können wir dann diejenigen bestimmen, die die Verantwortung in Donezk und Lugansk übernehmen können. Wir haben schon einen Fortschritt erzielt Heinemann: Herr Minister, Sie sprachen eben davon, dass verhindert werden muss, dass weitere Waffen über die Grenze geraten. Kann man sagen, dass die Lage doch noch nicht stabil ist im Osten? Klimkin: Ja. Wir haben keinen nachhaltigen Waffenstillstand. Das ist klar. Es gibt nach wie vor täglich viele Fälle, dass man auch versucht, den Waffenstillstand zu brechen. Aber wir haben schon einen Fortschritt erzielt und diesen Weg des Fortschritts müssen wir weitergehen, und das ist der einzige Weg. Heinemann: Herr Minister Klimkin, Sie haben mitbekommen: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft dem ukrainischen Militär vor, während der Kämpfe im Osten des Landes Streumunition, Clusterbombs verwendet zu haben. Die Bundesregierung in Berlin hat diese Vorwürfe als "ernsthaft" bezeichnet. Werden solche Waffen eingesetzt? Klimkin: Nein! Das ist ganz klar. Ich habe mit unseren Militärs gesprochen und wir haben diese Lage und alle diese Vorwürfe ganz klar überprüft. Und wenn Sie diese Fotos genau ansehen, dann sehen Sie, dass es ein Fake ist, eine Art Provokation. Wir haben aber vor, mit Human Rights Watch, mit allen Organisationen das absolut genau zu prüfen. Heinemann: Was heißt "absolut genau"? Klimkin: Absolut genau, wer solche Waffen dann eingesetzt hat, welche Terroristen. Vielleicht gibt es Provokationen, vielleicht gibt es einige Gangs, die solche Munition benutzen. Aber wir wollen nicht nur ganz genau festlegen, wer das benutzt hat, sondern auch alle diejenigen zur Verantwortung ziehen. Heinemann: Sie können auf jeden Fall ganz klar ausschließen, dass das ukrainische Militär solche Waffen einsetzt? Klimkin: Absolut! Heinemann: Herr Minister, wir sprachen eben über die Sanktionen. Welche Bedingungen müssten aus ukrainischer Sicht für eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland erfüllt sein? Klimkin: Das müssen ja die Europäische Union und die Vereinigten Staaten entscheiden, die solche Sanktionen auferlegt haben und über solche Sanktionen entschieden haben. Aus meiner Sicht soll man ganz klar die Bedingungen erreichen für eine nachhaltige Stabilisierung, und für mich ist der nachhaltige Waffenstillstand, die Schließung der Grenze eine politische Linie der Stabilisierung, also im Rahmen des Friedensplanes der Präsidenten, aber auch einen klaren Fortschritt mit den Geiseln. Ich würde das nicht Bedingungen nennen, sondern einen Rahmen, in dem wir auch einen wichtigen Fortschritt erzielen können. Heinemann: Die Krim haben Sie jetzt nicht genannt. Klimkin: Nein. Es gibt ja Sanktionen, die genau Richtung Krim entschieden wurden. Die müssen selbstverständlich bleiben, solange wir die Lösung für die Krim finden können. Ich habe immer gesagt, es kann ja überhaupt keinen Kompromiss über die Krim geben. Das ist absolut klar. Die Krim war ukrainisch, ist ukrainisch und wird ukrainisch. Und wenn Sie die Stimmung auf der Krim verfolgen, dann gibt es schon ganz klare Anzeichen für nicht nur Unzufriedenheit, sondern dass man ganz klar versteht, dass es so nicht weitergehen könnte. Heinemann: Glauben Sie, dass Präsident Putin das Projekt "Neu Russland" weiter verfolgt? Klimkin: Ich glaube, dass man in die Zukunft sehen soll und nicht in die Vergangenheit. Wenn wir mit den Begriffen aus der Vergangenheit, und zwar aus dem 18. Jahrhundert operieren, dann war Kaliningrad, Königsberg und die Vereinigten Staaten eine britische Kolonie. Zweitens: Man muss ganz klar die Geschichte analysieren, aber nicht diese Geschichte für politische Zwecke benutzen. Und ich würde mal sagen, ich kenne die Geschichte der Ukraine, und dieses Projekt "Neu Russland" hat mit der Geschichte nichts zu tun. Wir haben genug Gas Heinemann: Politische Zwecke erfüllen auch Energieträger. Thema Gaslieferungen. Eine Einigung ist nach wie vor nicht erzielt. Werden die Menschen in Ihrem Land im Winter frieren müssen? Klimkin: Nein, absolut nicht. Wir haben genug Gas, selbstverständlich, und wir haben auch andere Ressourcen, auch aus sogenannten Reserven, und das kaufen wir gemäß unserer Kontrakte, die wir mit den europäischen Unternehmen geschlossen haben. Deswegen haben wir genug Gas fürs Heizen. Das aber selbstverständlich eine ordentliche Herausforderung für unsere Wirtschaft und deswegen brauchen wir mehr Gas. Heinemann: Herr Minister, ein großes Problem in der Ukraine: Die Korruption spielt auch im Wahlkampf eine Rolle. Wieso ist die in der Ukraine so weit verbreitet? Klimkin: Weil in allen diesen mehr als 20 Jahren hat man nicht geschafft, die Korruption effektiv zu bekämpfen, und für mich ist das eine von den wichtigsten Benchmarks, dass man die Reformen vorantreibt. Nach den Wahlen haben wir eine Reihe von Aufgaben, aber die wichtigste von denen ist selbstverständlich Korruption und wie man die Korruption bekämpft, und zwar nicht nur die Gesetze, sondern die richtige Implementierung, Good Governance und auch selbstverständlich der Rechtsstaat. Auf dieser Basis können wir auch weitere Wirtschaftsreformen effektiv betreiben und das soll ganz, ganz schnell geschehen, und zwar von Dezember her. Aber für das nächste Jahr haben wir das Fenster für unsere Reformen. Das müssen wir nutzen. In 2005 haben wir das leider nicht geschafft und das ist unsere unglaubliche Chance jetzt. Wir müssen das Vertrauen zu Russland zurück gewinnen Heinemann: Herr Minister Klimkin, außenpolitisch wichtigste Aufgabe ist die Nachbarschaft. Wie stellen Sie sich die künftigen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland vor? Klimkin: Im Moment gibt es einen kritischen Dialog. Unter diesen schwierigen Bedingungen führen wir diesen Dialog, auch durch verschiedene Kontakte. Wir brauchen Russland, dass wir die Lage in Donezk und Lugansk stabilisieren können. Wir müssen aber auch das Vertrauen zurückgewinnen, und das haben wir nicht in Sicht. Heinemann: Das Gespräch mit dem ukrainischen Außenminister Pawel Klimkin haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Pawel Klimkin im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die prorussischen Separatisten in der Ostukraine planen eine eigene Wahl im November. Diese Wahlen "werden wir nicht anerkennen", sagte der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin im DLF. Dazu müsse es auch eine klare Botschaft von der EU und Russland geben.
"2014-10-24T07:15:00+02:00"
"2020-01-31T14:10:00.627000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-wir-akzeptieren-wahlen-der-separatisten-nicht-100.html
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"Die Summen sind fern jeglicher Vorstellungskraft"
Die NFL ist in ihre 100. Saison gestartet (dpa / picture-alliance / Darron Cummings) Er müsse sehr an der Oberfläche bleiben, um den Zuschauern das Spiel näher zu bringen, sagte NFL-TV-Experte Patrick Esume im Dlf. Deswegen müsse er sich bei der Kommentierung auch immer wieder bremsen, ansonsten drohen die Zuschauern schnell den Anschluss zu verlieren. Er könne darum nicht so sehr ins Detail gehen, wie er es gerne möchte, aber mittlerweile habe man eine Stammzuschauerschaft gewonnen, der man nicht mehr alles von auf Null neu erklären müsse. "Schach mit lebenden Figuren" Mit Fußball sei American Football nicht zu vergleichen, sagte der Buchautor und American-Football-Trainer. Fußball sei in erster Linie kein Taktik- und Strategiespiel, American Football eher "Schach mit lebenden Figuren" und auch kein fließendes Spiel, denn die Zeit werde bei Unterbrechungen gestoppt. "Football wird sich in Deutschland durchsetzen" - NFL-Experte und American-Football-Trainer Patrick Esume. (dpa / picture alliance / R. Goldmann) Angesprochen auf die extreme Kommerzialisierung und der Verbindungen der NFL zum Showbusiness, sagte Esume, die Amerikaner hätten einen anderen Bezug zu Leistung, Geld und Entertainment als hier in Deutschland. Bezüglich der Dimensionen bei den Gehältern und Transfersummen, geriet Esume allerings auch ins Grübeln. "Die Summen sind fern jeglicher Vorstellungskraft". Wenn auch die Zahlen im Fußball sich in ähnliche Sphären entwickeln würden, sagte er. 100. NFL-Saison - Jagd auf Football-Superstar Tom BradyDie American Football League NFL geht in die 100. Saison. Urgestein Tom Brady könnte mit seinem Team, den New England Patriots, einen neuen Rekord aufstellen, während andere Spieler unter der Belastung leiden. Und es gibt einen neuen Berater in der Liga – für viele eine Überraschung. Entschädigungszahlungen - Wie die NFL ihre Ex-Profis hinhält2015 einigten sich die US-amerikanische National Football League und ehemalige Spieler auf eine Entschädigungszahlung für die Langzeitschäden, die die Profis während ihrer Karriere erlitten hatten. Doch die Auszahlung verläuft schleppend – die NFL wittert Betrug durch Simulanten. Er glaube nicht, dass American Football in Deutschland nur ein Hype sei, er glaube daran, dass die Sportart sich langsam durchsetzen werde. Ein Indiz dafür sei für ihn, dass "ranNFL" von ProSiebenMaxx mit dem Deutschen Fernsehpreis für die beste Sportsendung ausgezeichnet worden sei.
Patrick Esume im Gespräch mit Matthias Friebe
Strategie, Taktik und "Schach mit lebenden Figuren": Mit Fußball sei American Football nicht zu vergleichen, sagte NFL-TV-Experte Patrick Esume im Dlf. Zwar seien die Summen in der NFL auch für ihn fern jeglicher Vorstellungskraft, aber die Amerikaner hätten einen anderen Bezug zu Geld, Leistung und Entertainment.
"2019-09-07T19:20:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:38.639000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/100-nfl-saison-die-summen-sind-fern-jeglicher-100.html
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Vom Flüchtlingsteam zur UN-Botschafterin
Die Schwimmerin Yusra Mardini ist Mitglied des Refugee Olympic Team (ROT). (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) Mardini stammt aus Syrien und ist Leistungs-Schwimmerin. Die heute 19-jährige war 2015 zusammen mit ihrer Schwester vor dem Bürgerkrieg in Syrien nach Europa geflohen. In einem Schlauchboot voller Flüchtlinge hatten sie versucht, zur griechischen Insel Lesbos zu gelangen. Als der Motor des Bootes kaputt ging, schwammen Mardini und ihre Schwester stundenlang und zogen das Boot an einem Seil hinter sich her.Zur Ernennung als UN-Sonderbotschafterin erklärte die UN-Organisation: Mardini sei eine starke Stimme für die Vertriebenen in der Welt. Ein starkes Beispiel für die Widerstandskraft und Entschlossenheit von Flüchtlingen, um ein neues Leben anzufangen.Yusra Mardini lebt inzwischen in Deutschland. Im vorigen Jahr nahm sie an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro teil. In einer Mannschaft, die es so zum ersten Mal gab.
Von Ingo Bötig
Die Vereinten Nationen haben Yusra Mardini zur neuen UN-Sonderbotschafterin für Flüchtlinge ernannt. Das hat das Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Genf mitgeteilt.
"2017-04-27T22:56:00+02:00"
"2020-01-28T10:25:17.513000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/yusra-mardini-vom-fluechtlingsteam-zur-un-botschafterin-100.html
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Fachanwalt: Schulboykott wird teuer
Es obliegt der Landesregierung und nicht den Kommunen, über Schulöffnungen oder -schließungen zu entscheiden, sagte Fachanwalt Winkler im Dlf (imago / Eibner) Wie geht es weiter mit dem Präsenzunterricht an unseren Schulen? Noch in dieser Woche wollen die Kultusministerinnen und -minister wieder dazu beraten. Gestern haben wir darüber berichtet, dass sich einige Eltern nicht mehr auf die Politik verlassen wollen. Angesichts steigender Infektionszahlen wollen diese ihren Kindern die Teilnahme am Präsenzunterricht nicht länger gestatten. Klinikleiter: Schulen soweit wie möglich offenhaltenSeit Wochen stecken sich immer mehr Kinder mit dem Coronavirus an. Der Kinderarzt und Klinikleiter Jörg Dötsch bezweifelt, dass Kinder SARS-CoV-2 verstärkt untereinander übertragen – und hält Schulöffnungen für vertretbar. Eltern müssen sich an die Schulpflicht halten Gebert: Nicht nur die Eltern sind sauer und verunsichert, auch einzelne Kommunen würden gerne ihre Schulen wieder schließen, weil die Zahl der Neuinfektionen steigt. Dortmund zum Beispiel, der Bürgermeister dort wurde aber von der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen sofort wieder zurückgepfiffen. Dr. Felix Winkler ist Fachanwalt mit Schwerpunkt Schulrecht.[*] Bleiben wir mal bei dem Beispiel Dortmund. Gibt es da rechtlich kein Vertun, also ist in diesem Fall nicht die Kommune, sondern die Landesregierung diejenige, die den Hut auf hat? Felix Winkler: Richtig, das heißt hier, in dem ganzen Bereich entscheidet immer die Landesregierung, ob die Schulen wieder aufmachen und ob Präsenzunterricht stattfindet oder Distanzunterricht. Die Stadt Dortmund hat hier leider keine Handhabe. Bis zu 5.000 Euro Bußgeld Gebert: Man muss also auf das hören, was aus dem Ministerium kommt. Wenn wir jetzt vermehrt aber Eltern haben, die ihre Kinder trotz Präsenzpflicht zu Hause lassen und zum Boykott vielleicht sogar aufrufen, was sind da mögliche rechtliche Konsequenzen? Winkler: Wenn das Ministerium sagt, dass im Prinzip ein Präsenzunterricht stattfindet, haben sich die Eltern aufgrund der Schulpflicht daran zu halten. Ein Boykott wäre natürlich eine denkbare Möglichkeit der Eltern, rein rechtlich gesehen wäre da eigentlich nicht zu zu raten. Hintergrund ist der, das Schulgesetz Nordrhein-Westfalen gibt die Möglichkeiten, Bußgeldverfahren durchzuführen, wenn die Eltern sich verweigern und die Kinder nicht zur Schule schicken. Das heißt, das kann bis zu 5000 Euro Bußgeld nach sich ziehen, deshalb sollte man sich das in der Tat wirklich gut überlegen. Bildungsministerin Prien: "Bewusste Entscheidung, die wir als Gesamtgesellschaft treffen"Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien hat die Öffnung der Grundschulen im Dlf begrüßt. Im Alter bis zu zehn Jahren machten Kinder entscheidende Entwicklungsschritte im Kontakt mit anderen. Schon jetzt brauchten viele Kinder psychologische Behandlung. Gebert: Sieht das in anderen Bundesländern ähnlich aus, was wissen Sie da? Winkler: Grundsätzlich ist es so, jedes Bundesland hat unterschiedliche Schulgesetz, aber das mit dem Ordnungsgeld- oder Bußgeldverfahren ist sicherlich auch in anderen Bundesländern so geregelt. Gebert: Welche Chance habe ich überhaupt als Mutter oder als Vater, wenn ich mein Kind eben nicht in die Schule schicken und schützen will vor einer möglichen Infektion, was kann ich tun? Winkler: Eigentlich würde noch die Möglichkeit bestehen, dass man gegen die aktuelle Corona-Betreuungsverordnung, die kann auch in den Ländern unterschiedlich heißen, in Nordrhein-Westfalen heißt sie Corona-Betreuungsverordnung, vor dem Oberverwaltungsgericht ein Eilverfahren anstrebt und dort klären lässt, ob die Kinder verpflichtet sind, tatsächlich in den Präsenzunterricht zu gehen. Gerichte kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen Gebert: Wir haben ja einzelne Entscheidungen schon erlebt zum Thema Maskenpflicht im Unterricht, haben da aber auch erlebt, dass die Gerichte deutschlandweit sehr unterschiedlich reagieren und urteilen. Winkler: Genau, absolut richtig. Das heißt also, hier ist es so, dass die Gerichte vollkommen unterschiedliche Entscheidungen treffen. Aktuell auch in Nordrhein-Westfalen gab es Anfang März eine Entscheidung, wo Oberstufenschüler im Prinzip wieder in den Präsenzunterricht gehen wollen und sich darauf berufen haben, dass die Grundschüler ja schon wieder im Präsenzunterricht sind. Da hat zum Beispiel das Oberverwaltungsgericht, also das höchste Verwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen, entschieden, dass das vollkommen in Ordnung sei, dass hier die Landesregierung differenziert zwischen Grundschülern und älteren Schülern, weil die zum Beispiel im Distanzunterricht vielleicht auch besser mit Medien auskennen, also dort besser lernen können. Genau, jetzt sieht es genau andersherum aus, jetzt ist der Präsenzunterricht da, und es ist wohl auch gerade noch ein Verfahren anhängig beim Oberverwaltungsgericht, wo jetzt Eltern gegen vorgehen wollen, dass die Kinder in den Präsenzunterricht gehen. Das heißt, es gibt immer unterschiedliche Auffassungen. Letztendlich entscheiden halt die Gerichte, drei bis fünf Richter, je nachdem, ob es eine Kammer oder ein Senat ist, und die entscheiden das dann. Das kann zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen führen. Anfragen an den Schulanwalt steigen Gebert: Haben Sie denn im Moment tatsächlich ein wenig mehr zu tun als Fachanwalt mit Schwerpunkt Schulrecht, weil vermehrt Eltern, Familien sich zumindest eine Information holen wollen, welche Chance sie haben? Winkler: Genau, Anfragen gibt es jetzt mehr, seitdem die Corona-Betreuungsverordnung in kraft getreten ist, die hat sich dann teilweise fast wöchentlich geändert. Deshalb war das mit diesen Eilverfahren recht schwierig, weil wenn man ein Eilverfahren einleitet bei Gericht, dauert das, auch wenn das Eilverfahren heißt, grundsätzlich mehrere Wochen, bis dann eine Entscheidung getroffen wird. Das konnte also dazu führen, dass sich die Corona-Betreuungsverordnung schon wieder geändert hat, also ein ganz anderer Sachverhalt wieder zugrunde lag, aber Anfragen gibt es vermehrt, das ist richtig. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. [* ] Anmerkung d. Red.: Wir haben an dieser Stelle die Berufsbezeichnung unseres Gesprächspartners korrigiert.
Felix Winkler im Gespräch mit Stephanie Gebert
Eltern, die ihren Kindern die Teilnahme am Präsenzunterricht nicht gestatten, müssen in NRW mit einem Bußgeld bis zu 5.000 Euro rechnen, sagte Felix Winkler, Anwalt mit Schwerpunkt Schulrecht, im Dlf. Es gelte auch während Corona die Schulpflicht. Aus dem Grund sollten sich Eltern ein solches Vorgehen gut überlegen.
"2021-03-17T14:35:00+01:00"
"2021-03-18T12:51:44.412000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/protest-gegen-praesenzunterricht-fachanwalt-schulboykott-100.html
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"Hamas verhindert, dass Menschen geschützt werden"
Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen und Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini) Dirk-Oliver Heckmann: Telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt Volker Beck. Er ist innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe. Guten Tag, Herr Beck. Volker Beck: Guten Tag! Heckmann: Herr Beck, auf Demonstrationen in Deutschland werden antisemitische und antiisraelische Parolen gerufen. Die Bundesregierung sieht derzeit keinen Handlungsbedarf. Sie auch nicht? Beck: Der Handlungsbedarf besteht vor allen Dingen einerseits bei der Anwendung des Rechts. Es ist richtig, wir brauchen keine Rechtsänderung. Aber auch das Versammlungsrecht muss konsequent angewandt werden. Deshalb ist es richtig, wenn man jetzt, wenn auch ein bisschen spät, bei solchen Veranstaltungen Auflagen macht. Wenn die Auflagen verletzt werden, ist das ein Grund, um auch eine Versammlung zu unterbinden. Es darf nicht hingenommen werden, wenn antisemitische Volksverhetzung auf den Straßen gerufen wird, und es darf auch nicht hingenommen werden, wenn "Tod Israel" gerufen wird. Da habe ich den Eindruck, da war die Anwendung des Rechts nicht bei allen Veranstaltungen so konsequent, wie man das sich wünschen würde. Heckmann: Woran liegt das aus Ihrer Sicht? Beck: Ich glaube, manchmal ist man so überwältigt von der Veranstaltung, dass man nicht richtig nachdenkt, was der Sinn eigentlich einer Äußerung ist, und dass "Jude, Jude, feiges Schwein" eine Kollektivbeleidigung ist und dass die anderen Formulierungen Volksverhetzung waren, das sollte man eigentlich erkennen. Manchmal greift man auch nicht unmittelbar ein, um eine Eskalation zu vermeiden, aber dann muss wenigstens die Strafverfolgung funktionieren, und ich hoffe, dass auch die Täter da verfolgt werden. Beck: Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft Heckmann: Pardon, Herr Beck. Ein Sprecher der Berliner Polizei hat jetzt gesagt, bisher habe die Polizei nicht handeln können, weil diese Parole, ich zitiere das noch mal, "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf' allein", weil diese Parole nach einer vorläufigen Einschätzung der Staatsanwaltschaft keine Volksverhetzung darstelle. Beck: Volksverhetzung ist das nicht, das ist eine Beleidigung. Eine Volksverhetzung setzt immer voraus, dass man zu Gewalt gegen eine Gruppe auffordert. Das wird hiermit nicht getan und deshalb ist es keine Volksverhetzung, aber womöglich eine Beleidigung. Das muss die Staatsanwaltschaft jetzt prüfen und dann entsprechend gegebenenfalls einschreiten. Aber wir sollten nicht nur über das Rechtliche reden, weil es geht auch um gesellschaftliche Antworten, und da teile ich die Auffassung der Bundesregierung nicht. Wir sind in dem Bereich Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus zu schlecht ausgestattet. Da muss mehr geschehen, und insbesondere muss auch für alle Zielgruppen was geschehen. Wir haben da in der Vergangenheit hauptsächlich deutschstämmige Jugendliche aus dem rechtsextremen Milieu adressiert. Wir müssen uns aber kümmern um den Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft und auch um den Antisemitismus bei Muslimen. Heckmann: Weil man Demonstrationen verbieten kann, Meinung aber nicht? Beck: Meinung kann man nicht verbieten, und eine demokratische Zivilgesellschaft muss sich immer um ihre demokratische Substanz kümmern und Minderheitenfeindlichkeit wie Antisemitismus zersetzen, die demokratische Substanz der Gesellschaft. Deshalb muss man dagegen auch jenseits des Strafrechts anarbeiten, und das ist die Aufgabe, die sich jetzt stellt. Und ich fände es sehr gut, wenn in dieser zugespitzten Situation die beiden großen Kirchen zusammen mit den vier islamischen Verbänden ein Wort zu dieser Problematik gemeinsam herausgeben würden. Das würde zeigen, es geht uns gemeinsam, Christen und Muslimen darum, dass wir gut mit den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes zusammenleben, die ja nun für Sachen, die in Israel geschehen, überhaupt nichts können, weil sie leben in Deutschland, und sie sind Juden, und in der großen Mehrheit sind die Juden in Deutschland auch keine Israelis. Beck: Hamas nutzt Zivil-Bevölkerung als menschlichen Schutzschild Heckmann: Herr Beck, Professor Rolf Verleger - der war Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden -, der war heute bei uns im Programm im Interview, und der hat diese antisemitischen Ausfälle verurteilt, klar verurteilt. Aber er hat auch Verständnis gezeigt für wütende Reaktionen. Das israelische Militär verübe derzeit immerhin ein Massaker. Und auf die Frage, ob er es verstehen kann, wenn deutsche Politiker sich zurückhalten mit Kritik, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, sagte er folgendes: O-Ton Rolf Verleger: "Ich kann das nicht mehr verstehen. Ich finde, das sind Angsthasen, und ich finde, sie sollten mal das sagen, was sie nach abgeschalteten Mikrofonen sagen. Das sollten sie mal bei laufenden Mikrofonen sagen. Ich finde es eine Absurdität, sich hinzustellen und zu sagen, das sei das selbstverständliche Verteidigungsrecht Israels, jetzt dieses Massaker in Gaza anzurichten. Jeder vernünftige Mensch sagt sich, da stimmt doch was nicht. Und wenn da dagegen Protest laut wird, der dann überbordet, dann muss man sich doch nicht wundern, wenn man so einen Blödsinn sagt." Heckmann: Das meinte Rolf Verleger heute Früh im Deutschlandfunk, ehemals Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden. – Herr Beck, Herr Verleger spricht von Angsthasen. Fühlen Sie sich angesprochen? Beck: Nein, fühle ich mich überhaupt nicht angesprochen. Ich habe in der Vergangenheit immer die israelische Siedlungspolitik kritisiert, weil sie eines der großen Probleme auf dem Weg hin zu einem Frieden und einem palästinensischen Staat ist und sein wird, und warum man ein Problem größer macht, das ohnehin im Wege steht, wenn man einen Frieden aushandelt, das ist für mich unbegreiflich, und da würde ich mir auch wünschen, dass die israelische Regierung die Kraft hat, die Rechten in ihrer Koalition hier stärker in die Ecke zu stellen. Heckmann: Aber, Herr Beck, vielleicht wird diese Kritik nicht deutlich genug und nicht laut genug geäußert. Wo bleibt die Kritik, beispielsweise daran, dass Israel möglicherweise Völkerrecht verletzt bei dem Vorgehen jetzt im Gazastreifen? Jetzt kommt ja auch die Meldung, dass eine deutsch-palästinensische Familie getötet worden ist. Beck: Die Toten, das macht uns alle betroffen. Aber ohne die genauen Fakten zu kennen, kann keiner sagen, was ist jetzt völkerrechtskonform oder völkerrechtswidrig gewesen. Was sicher völkerrechtswidrig ist, ist der Umgang der Hamas mit diesem Konflikt, wo sie die Aktionen torpediert, die Israel macht, um die Zahl der zivilen Opfer zu reduzieren, indem sie die Leute warnen, und die Hamas setzt einfach die Menschen im Gazastreifen, Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Zivilisten ein als menschliche Schutzschilde, um ihre Militäraktionen zu decken. Die UNRWA, die sonst immer auf der Seite der Palästinenser ist, weil sie für die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung zuständig ist, hat erst in der letzten Woche protestiert, dass in einer Schule 24 Raketen der Hamas gelagert wurden. Das ist auch einer der Gründe, warum wir so hohe Zahlen bei den zivilen Opfern haben, weil hier die Hamas ganz gezielt verhindert, dass man die zivilen Menschen schützt und dass sie sich von den Stätten, wo es zu militärischen Auseinandersetzungen kommen wird, entfernen können, nachdem sie von Israel gewarnt wurden. Heckmann: Der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck war das. Er ist auch Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe. Herr Beck, danke Ihnen für das Gespräch! Beck: Bitte schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Volker Beck im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Der Grünen-Politiker Volker Beck hat der palästinensischen Hamas vorgeworfen, Völkerrecht zur brechen. Sie setze "die Menschen im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde ein", sagte Beck im DLF. Die antisemitischen Proteste in Deutschland verurteilte er.
"2014-07-22T13:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:54:03.905000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nahost-konflikt-hamas-verhindert-dass-menschen-geschuetzt-100.html
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Alarmanlage für den Luftraum
Was, wenn eine Drohne Fotos von streng geheimen Anlagen macht, über einen Flughafen fliegt oder sogar Sprengstoff bei sich trägt? Dann braucht es Drohnen-Abwehr (picture alliance / dpa / Sven Hoppe) Ein Strand am Pazifik im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien. Spaziergänger schlendern durch die Brandung, manche Besucher sitzen im Sand. Sie schauen den Surfern zu, die artistisch in den Wellen auf ihren Brettern balancieren. Kaum jemand sieht das, was sich in knapp 15 Metern über freiem Wasser abspielt. Dort, wo die Möwen segeln, schwebt eine Drohne. Sie wird von einer Klippe aus ferngesteuert und macht Videoaufnahmen von den Sportlern. Hier sind die kleinen beweglichen Flugobjekte noch Freizeitspaß. Doch was, wenn eine Drohne Fotos von streng geheimen Anlagen macht, über einen Flughafen fliegt oder sogar Sprengstoff bei sich trägt? Idee entsteht bei Vorfall einem mit Angela Merkel Diese Frage hat sich Jörg Lamprecht der Mitbegründer des Unternehmens "Dedrone" gestellt. Das Büro des Mitvierzigers befindet sich nicht weit entfernt vom Strand und den Surfern, in der Hauptstadt des Sillicon Valley, San Fransisco. "Die Idee ist eigentlich 2013 entstanden", erzählt Lamprecht, "als Frau Merkel bei einer öffentlichen Veranstaltung in Leipzig war. Da hat ein Spaßvogel eine Drohne geflogen, die einen Meter direkt vor ihr am Rednerpult abgestürzt ist. Damals hat das noch alle belustigt, niemand wusste so richtig, was da eigentlich passiert. Ich habe das gesehen und mich gefragt, was wäre, wenn da jetzt eine Handgranate drunter wäre. Das war eigentlich die Geburtsstunde von Dedrone, wo wir gesagt haben, wir müssen eine Art von Erkennungssystem entwickeln, damit wir Drohnen erkennen können und warnen können." Ein Erkennungssystem für Drohnen, oder auch Drohnen-Tracker genannt, eine Alarmanlage für den Luftraum, das stellt Dedrone her. Die Nachfrage nach diesen Drohnen-Trackern hat vor allem mit der rasanten Entwicklung und Nutzung der multifunktionalen Drohnen zu tun, erklärt Lamprecht: "Heute im Jahr 2016 haben wir Drohnen die 100 Kilo tragen können. Die haben heute alle Autopilot, eine ganz hohe Windstabilität und hochauflösende Kameras. Das geht alles sehr schnell. " Drohnen-Tracker wirkt unscheinbar Selbststeuernde Drohnen im Alltag. Besonders Zulieferer wie die Deutsche Post oder Amazon denken darüber nach. Um eine Zukunft mit Drohnen zu kontrollieren, brauche es Warnsysteme, sagt Lamprecht. Das Gerät selbst, der Drohnen-Tracker, sieht ziemlich unscheinbar aus. Ein weißes Plastik-Kreuz, das an die kleinere Version einer Mobilfunkantenne erinnert. Dabei steckt viel mehr darin. Denn damit der Drohnen-Aufspürer nicht einen Vogel oder einen Helikopter mit Drohnen verwechselt, muss spezielle und kleinteilige Technik in das Plastikgehäuse eingesetzt werden, erklärt Firmengründer Lamprecht: "Wir haben uns vorgestellt, wie man eine Drohne in der Luft erkennen kann. Die sieht ja anders aus und hört sich anders an. Daraufhin haben wir verschiedene Sensoren entwickelt. Ein Videoanalyse, damit wir wie der Mensch sehen können, wo sich die Drohne befindet. Dann haben wir Mikrofone eingebaut, da Drohnen ein ganz typisches Geräusch machen und Frequenzscanner, um die Steuer-Frequenz der Drohnen wahrzunehmen." Aus zwei Mitarbeitern sind 60 geworden Ein Tracker kostet mindestens 10.000 Euro, je nach Ausstattung. Insgesamt werden dieses Jahr weltweit über 500 Stück verkauft. Von San Francisco aus soll der US-amerikanische Markt erobert werden. 2014 hat das Unternehmen mit zwei Mitarbeitern begonnen. In Kassel, dem Heimatort Lamprechts, wo sich auch weiterhin die Produktion befindet. Aus den zwei Mitarbeitern sind in den vergangenen zwei Jahren 60 geworden. Mit der Idee, Drohnen-Tracker speziell für zivile Zwecke zu entwickeln, hat sich Lamprecht eine Nische in der Sicherheitsindustrie geschaffen. Vor allem auf dem Gebiet der urbanen Drohnen-Abwehrtechnik gebe es bisher keine ernst zu nehmende Konkurrenz, ist Lamprecht überzeugt. Wie der Detektor funktioniert, führt der Vertriebs-Mitarbeiter Lee Jones vor. Er lässt in den Büroräumen mit seinem Smartphohne eine handelsübliche tellergroße Drohne steigen. Der Tracker hinten an der Wand hat die Drohne sofort erfasst und meldet auf Jones Computer Alarm: "Während ich die Drohne gestartet habe, hat der Tracker alles schon aufgenommen. Dieser rote Punkt, der bei hundert Prozent liegt, zeigt an, dass eine Drohne dem Tracker sehr nahe gekommen ist. Wir haben die Drohnen ja gerade mal zwei Meter vom Tracker gestartet. Null ist die weiteste Entfernung, das wären ungefähr 300 Meter." Zu Lamprechts Kunden zählen Stadienbetreiber, Gefängnisse und Stars Aber mit einem automatischen Alarmsignal ist es nicht getan. Der Drohen-Aufspürer kann noch mehr, erklärt Jones. "Klicken wir also diesen Punkt an, wird uns die Seriennummer und das Modell der Drohne angezeigt. Sogar ein Foto macht der Tracker, außerdem kann bestimmt werden wo sich die Fernsteuerung befindet. Wir bekommen quasi einen digitalen Fingerabdruck des Gerätes, und es muss dazu nicht mal fliegen." Je nach Bedarf können Drohnen-Abwehrmaßnahme in den Tracker eingebaut werden, darunter ein Störsender, der die Drohne am Weiterfliegen hindert. Zu Lamprechts Kunden gehören Stadien- und Flughafenbetreiber, Besitzer von Industrieanlagen oder Botschaften. Und auch Stars und Sternchen lassen sich von Drohnen-Trackern gerne helfen. Paparazzi setzen nämlich längst fliegende Kameras ein, um ins Privatleben von Promis einzudringen. Lamprechts Drohnen-Aufspürer sind eine Antwort der Promis darauf. Auch das Gefängnis in Halle hat Dedrone ausgestattet, weil es dort mehrere Fälle gegeben hatte, bei denen Drogen via Drohne über die Gefängnismauer, quasi per Expresslieferung, in die Zellen geflogen wurden. Marktvolumen für Drohnenabwehr riesig "Wir arbeiten mit vielen wichtigen Kunden zusammen", erklärt Lee Jones, " aber vor kurzer Zeit durften wir sogar die Debatte der Präsidentschaftskandidaten an der Hofstra-Universität in New York ausstatten. Das war sicherlich eine große Sache für uns." Auf über eine Milliarde US-Dollar schätzt das Forschungsinstitut Markets and Markets die Absatzmöglichkeiten für zivile Drohnenabwehr-Technologien im Jahr 2022. Firmengründer Lamprecht ist überzeugt, dass er seinen Teil davon abbekommt. Investoren stünden Schlange bei ihm, sagt er mit einer guten Portion Zufriedenheit.
Von Tim Schauenberg
Pizza, Weihnachtspaket, Supermarkt-Einkäufe - all dies könnte mit Drohnen zu Hause abgeliefert werden. Was aber, wenn Drohnen für unerwünschte Aktivitäten eingesetzt werden – für Paparazzi-Bilder oder gar Bomben? Dann braucht es Abwehrmaßnahmen - und genau dies ist das Geschäftsmodell von Dedrone.
"2016-12-16T00:00:00+01:00"
"2020-01-29T19:08:55.559000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geschaeftsmodell-drohnen-abwehr-alarmanlage-fuer-den-100.html
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Militärputsch in Myanmar
Aung San Suu Kyi bei ihrer Ansprache in Naypyidaw (AFP / Ye Aung Thu) Mitwirkende: Holger Senzel, ARD-Studio Singapur Thielko Grieß, Dlf Korrespondent Russland Lob, Kritik und weitere Rückmedlungen an: dertag@deutschlandfunk.de
Von Sonja Meschkat
Das Militär in Myanmar hat die aktuelle Regierung festgesetzt und die Macht übernommen. Was das für die Demokratiebewegung heißt und was der Putsch für Regierungschefin Aung Sang Suu Kyi bedeutet. Außerdem: Die Proteste in Russland gegen Putin und für die Freilassung Nawalnys halten an. Was ist der eigentliche Kern der Proteste?
"2021-02-01T17:00:00+01:00"
"2021-02-02T12:27:49.388000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-militaerputsch-in-myanmar-100.html
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Blanker deutscher Chauvinismus
AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla und Alice Weidel: EU-Binnenmarkt ja, Förderpolitik nein. (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert) Bisschen mehr Schwarz-Rot-Gold und etwas häufiger die Deutschland- statt der Europahymne. Bisschen weniger Ausländer, und wenn dann auch noch den Eurokraten in Brüssel mal jemand richtig in den Hintern tritt: Was soll dagegen schon einzuwenden sein? Die AfD hofft, dass sich möglichst viele Wähler ihr Projekt ,,Bund der Nationalstaaten“ schönreden – und bei der Europawahl im nächsten Juni ihr Kreuz bei den Rechtsextremen machen. Und damit das auch gelingt, hat die Partei in ihrem Europawahlprogramm viel weiße Salbe verschmiert, die dessen wahre Absichten verbergen soll. Also, was steckt hinter dem „Bund der Nationalstaaten“? Vor allem blanker deutscher Chauvinismus. Denn nach den Fantasien der AfD soll der Binnenmarkt beibehalten, aber alle Instrumente der Kohäsionspolitik abgeschafft werden. Dabei sind diese beiden Komponenten der EU-Politik zwingend miteinander verbunden. EuropawahlversammlungAfD will EU als "Bund europäischer Nationen" neu gründen 03:54 Minuten06.08.2023 Die AfD und ihr Programm für Europa 02:56 Minuten07.08.2023 AfD beschließt Europa-Wahlprogramm 06:42 Minuten06.08.2023 Vom Binnenmarkt profitieren vor allem die wirtschaftlich starken Staaten, oder um es klar zu sagen: vor allem Deutschland. Damit die schwächeren Volkswirtschaften nicht fürchten müssen, abgehängt zu werden, verspricht ihnen die EU die schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse. Aus Brüsseler Töpfen werden Regionen und Projekte gefördert, um dieses Versprechen in die Tat umzusetzen. Wiederbelebung des Kolonialismus mit neuen Mitteln Würde man nun das eine - den Binnenmarkt - beibehalten, und das andere - die Förderpolitik - abschaffen, wie es die AfD fordert, käme dies der Unterwerfung ärmerer EU-Staaten unter die ökonomische Übermacht Deutschlands gleich. Eine Wiederbelebung des Kolonialismus mit neuen Mitteln. So – Pardon – dämlich können die anderen EU-Staaten gar nicht sein, um sich dieser Allmachtsfantasie der AfD zu unterwerfen. Zweites Beispiel: die Währungsunion, die Freizügigkeit, der Schengen-Raum. Nach Ansicht der AfD: alles gescheitert. Alles Instrumente, die vermeintliche Versagerstaaten Europas sich ausgedacht haben, um an deutsche Steuergelder, deutsche Sozialhilfe, deutsche Sparvermögen zu gelangen. Da tritt neben den Chauvinismus die Aggression des zu kurz Gekommenen. Und das verheißt nichts Gutes für das Friedensprojekt EU. Drittes Beispiel: die Verteidigungspolitik. Da fordert die AfD die strategische Autonomie Europas. Klingt eigentlich nicht schlimm. Ähnliches hört man ja zuweilen auch aus Frankreich. Aber im Detail sieht die Sache dann ganz anders aus. Für Russland und China, gegen die USA US-Truppen sollen der AfD zufolge aus Europa verschwinden, die Sanktionen gegen Russland gestoppt und Nordstream repariert werden - und schließlich soll sich Deutschland auch noch der Seidenstraßeninitiative Pekings anschließen, mit der China seine globale wirtschaftliche Dominanz betoniert. Wer dann noch das Gerede vom Vasallenstaat Deutschland auf dem Parteitag zu Kenntnis genommen hat, der weiß: Aus dem Europawahlprogramm der AfD schaut uns ein ganz alter Bekannter an - blanker Antiamerikanismus. Was die AfD will, ist keine europapolitische Zeitenwende, sondern eine Zeitreise. Allerdings rückwärts. Das Wahlprogramm der AfD riecht nicht nach Zukunft, es stinkt nach Kaiserreich. Peter Kapern, geboren 1962 in Hamm, Westfalen. Studium der Politikwissenschaften, der Philosophie und der Soziologie in Münster. Volontariat beim Deutschlandfunk. Moderator der Informationssendungen des Dlf, 2007 bis 2010 Leiter der Redaktion Innenpolitik, Korrespondent in Düsseldorf, Tel Aviv und Brüssel.
Ein Kommentar von Peter Kapern
,,Bund der Nationalstaaten“ statt Europäischer Union: Die AfD hat ihre europapolitischen Vorstellungen in einem Wahlprogramm festgehalten. Das rieche nicht nach Zukunft, sondern stinke nach Kaiserreich, kommentiert Peter Kapern.
"2023-08-07T19:05:00+02:00"
"2023-08-07T19:27:00.008000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afd-europa-nationalstaaten-bund-100.html
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Meadows And Mirrors
Zum Komponieren seines Programms "Meadows And Mirrors" hatte sich Philipp Schiepek in ein winziges, waldumgebenes Dorf ohne Handynetz zurückgezogen. (Lukas Diller) Im Grunde genommen, sagt Philipp Schiepek, seien zwei Dinge schuld daran, dass er heute Musiker ist: das Akkordeon, das ihm sein Opa geschenkt hatte, und das Internet, durch das er zu seinem jetzigen Instrument gefunden habe. Der 1994 in Dinkelsbühl geborene Gitarrist studierte an den Musikhochschulen Würzburg und München klassische und Jazz-Gitarre, veröffentlichte 2019 sein Debütalbum, unter anderem mit dem kanadischen Saxofonisten Seamus Blake, und gewann 2020 den „BMW Welt Young Artist Jazz Award“. Mit dieser Auszeichnung wurde der Musiker mit der exzellenten Technik und dem geschmackvollen, warmen Ton auch für seine Vielseitigkeit geehrt. In München gab er ein Konzert ohne Publikum, das für das Jazzfest Berlin 2020 produziert und in dessen Rahmen gestreamt wurde. Es war Teil der Jazzfest Berlin Radio Edition, einer erstmalig ortsübergreifenden Festival-Kooperation mit den öffentlichen Rundfunksendern Deutschlands im Corona-Jahr 2020. Schiepek stellte dabei sein neues Programm „Meadows and Mirrors“ vor, geschrieben im Lockdown in seiner fränkischen Heimat. Jason Seizer, TenorsaxofonPhilipp Schiepek, GitarreMatthias Pichler, BassFabian Arends, Schlagzeug Aufnahme vom 15.9.2020 des Bayerischen Rundfunks, München
Am Mikrofon: Anja Buchmann
Philipp Schiepek spielt sowohl klassische als auch Jazz-Gitarre. Mit neuer Band und neuen Stücken stellte er sich im Rahmen des Jazzfest Berlin vor: moderner, zupackender Bebop mit Sinn fürs Schöne und Blick ins Offene.
"2020-12-15T21:05:00+01:00"
"2020-12-08T11:41:36.532000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/philipp-schiepek-quartett-meadows-and-mirrors-100.html
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Reizüberflutung versus Kontemplation
Darmstädter Ferienkurse 2018 (Kristof Lemp) Die 1932 geborene Französin Éliane Radigue verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens mit einem einzigen Instrument: einem analogen Modularsynthesizer. Hiermit schuf sie Musik von maximaler Langsamkeit und Sparsamkeit im Material. Nach der Jahrtausendwende begann sie erstmals, für akustische Instrumente zu schreiben und arbeitet seit 2011 an ihrem Zyklus "OCCAM". Einige Stücke daraus wurden bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt 2018 präsentiert. In gewisser Hinsicht sprechen diese Arbeiten noch immer die Sprache der elektronischen Musik. Andersherum verhält es sich beim Trio Accanto: Hier wird das zunächst rein akustische Instrumentarium um Elektronik erweitert. Bei ihrem Konzert müssen die Musiker neben Saxofon, Klavier und Schlagzeug etliche digitale Geräte bedienen. Denn die Komponisten der jüngeren Generation konfrontieren in ihren Arbeiten archaische Instrumentalklänge mit elektronischen Verzerrungen und verrauschten Lo-Fi-Sounds. Mit einer Klangkulisse also, wie sie ganz unserer hektischen, durchdigitalisierten Gegenwart entspricht. "Real Accanto" Neue Arbeiten von Yu Kuwabara, Marco Momi, Stefan Prins Trio AccantoMarcus Weiss (Saxofon)Nicolas Hodges (Klavier)Christian Dierstein (Schlagzeug) Mitschnitt vom 15. Juli 2018 in der Orangerie, Darmstadt "OCCAM" Instrumentalmusik von Éliane Radigue Dafne Vicente-Sandoval (Fagott)Robin Hayward (Tuba)Charles Curtis (Violoncello)Rhodri Davies (Harfe) Mitschnitt vom 17. Juli 2018 in St. Ludwig, Darmstadt Diese Sendung finden Sie nach Ausstrahlung 30 Tage lang in unserer Mediathek.
Am Mikrofon: Leonie Reineke
Handys, Drum-Machines und Laptops gesellen sich auf die Bühne zum Trio Accanto. Elektronische Geräte dieser Art nebenbei zu bedienen, gehört heute zum Standard. Genau umgekehrt ist es bei Éliane Radigue: Die langjährige Elektronik-Pionierin komponiert heute für akustische Instrumente.
"2018-12-03T21:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:13:35.525000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/darmstaedter-ferienkurse-2018-reizueberflutung-versus-100.html
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Clinton-Unterstützer hoffen auf Obamas Eingreifen
Unterstützer der Demokratin Clinton erwarten, dass Obama in den US-Wahlkampf einsteigt, sobald die Demokraten ihren Kandidaten bzw. ihre Kandidatin gekürt haben. (picture alliance / dpa / Mike Nelson) Barack Obama sei ungeduldig, heißt es in seinem Umfeld. Der Präsident warte nur darauf, endlich in den Wahlkampf eingreifen zu können. Bislang hat sich Obama im Vorwahlkampf der Demokraten neutral verhalten. Wer wollte, konnte nur an sehr wenigen Äußerungen eine Tendenz in Richtung Hillary Clinton erkennen: "Sie ist außerordentlich erfahren, hochintelligent und kennt jedes Politikfeld in- und auswendig." Wenn Obama dieser Tage reist, so tut er das nicht nur in eigener Sache, sondern auch, um die Verdienste demokratischer Politik zu betonen. Gestern war der Präsident in Elkhart, Indiana. Eine Kleinstadt, die vor sieben Jahren vor dem Abgrund stand, mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Der Grund war das Absatzloch für die in Elkhart hergestellten Wohnmobile – daran hing die wirtschaftliche Existenz des Ortes. Clinton steht hinter Obamas Politik Heute ist die Nachfrage wieder gut, in Elkhart herrscht Vollbeschäftigung. Bei 3,8 Prozent Arbeitslosigkeit haben die Wohnmobil-Unternehmen Schwierigkeiten, qualifizierte Arbeiter zu finden. Ohne die Rettung der Automobilindustrie durch die Obama-Administration wäre das Schicksal der Stadt besiegelt gewesen. Jetzt aber stünden Elkhart und die USA wirtschaftlich gut da, so Obama bei seinem Besuch: "Der amerikanischen Wirtschaft gehe es nicht nur besser als vor sieben Jahren, die amerikanische Wirtschaft sei die beste und stabilste weltweit." In der Tat sprechen die Arbeitslosenquote von fünf Prozent, das moderate, aber stabile Wachstum von zwei Prozent und 74 Monate ununterbrochenen Wachstums des Arbeitsmarktes politisch für die Obama-Administration. Und anders als ihr linkspopulistischer Konkurrent Bernie Sanders stellt sich Hillary Clinton stets hinter das mit Obama Erreichte. Obama soll nach Kür der Demokraten in den Wahlkampf eingreifen "Ich bin stolz darauf, zu Präsident Obama zu stehen, und ich bin stolz auf den Fortschritt, den er gebracht hat", so Clinton immer wieder auf ihren Wahlveranstaltungen. Ob bei der Gesundheitsreform Obamacare oder bei Fortschritten bei den Bürgerrechten – Clintons Politikmodelle schließen an die Politik der Obama-Administration an. Das unterscheidet sie grundsätzlich sowohl vom Linkspopulisten Sanders als auch vom Rechtspopulisten Trump. Sobald die Demokraten ihren Kandidaten, bzw. ihre Kandidatin gekürt haben, wird damit gerechnet, dass Obama in den Wahlkampf einsteigt. Seine Zustimmungsrate ist im letzten Jahr auf 52 Prozent gestiegen, kein hervorragender Wert, aber immerhin über der Hälfte. Wie seine Unterstützung sich auswirken wird, ist unklar. Historisch hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur einmal ein Kandidat der gleichen Partei geschafft, nach zwei Amtszeiten seines Vorgängers gewählt zu werden, das war George Herbert Walker Bush, der auf Ronald Reagan folgte. Doch historische Evidenz vermag in diesem bislang einzigartig verlaufenen Wahlkampf wenig Orientierung zu bieten.
Von Marcus Pindur
In einer Woche finden in den USA die letzten Vorwahlen statt. Bislang hat sich US-Präsident Barack Obama im Vorwahlkampf der Demokraten zwar neutral verhalten, die Kandidatin Hillary Clinton bezeichnete er jedoch als "außerordentlich erfahren" und "hochintelligent". Für Obamas Unterstützung spricht auch, dass Clintons Politikmodelle direkt an die der Obama-Administration anschließen.
"2016-06-02T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:32:44.098000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-vorwahlen-clinton-unterstuetzer-hoffen-auf-obamas-100.html
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"Wir fühlen uns ziemlich sicher hier"
Überlebte spanische Inquisition, zwei Weltkriege und den Bosnienkrieg: die über 650 Jahre alte "Haggadah von Sarajevo" (Picture Alliance / dpa / epa / Fehim Demir) Als Eli Tauber, ein jüdischer Historiker aus Sarajevo, 1992 mit seiner Frau nach Israel auswanderte, berichtete eine israelische Zeitung über das exotische jüdisch-muslimische Paar. Erst dann wurde Tauber klar, dass seine Mischehe nur in Bosnien ganz normal ist. "Der Übertritt meiner Frau zum Judentum war für mich keinerlei Bedingung für unsere Eheschließung. Sie konvertierte dennoch später bei meinem Onkel, Rabbiner Danon, und fühlt sich inzwischen absolut jüdisch. Sie kocht zum Beispiel sehr leckere sephardische Speisen und bereitet seit Jahren die Speisen für die jährliche ‚Nacht der sephardischen Küche' in Sarajevo zu. Auch die Tochter unseres Gemeindevorsitzenden ist mit einem Moslem verheiratet. Das Paar lebt in Israel. Meine beiden Söhne leben in Israel, meine Tochter lebt in Bosnien und hat einen Juden geheiratet, was in unserer Gemeinde nur selten vorkommt." Inzwischen sind die Taubers zurückgekehrt nach Sarajevo, ebenso wie hunderte bosnischer Juden und trotz der wirtschaftlichen und politischen Krise. Die Folge war ein beispielloser Babyboom in der 700 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde. Jakob Finci, Präsident der jüdischen Gemeinde in Bosnien und Herzegovina: "Im letzten Jahr hatten wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen Babyboom – zehn Neugeborene in einem Jahr! In den zehn Jahren zuvor wurden bei uns lediglich drei Babys geboren und 40 Mitglieder starben. Nun kehrten Kinder nach Sarajevo zurück, die während des Bosnienkriegs evakuiert wurden, weil hier das Studium wie im Sozialismus kostenlos ist." Moscheen finanziert von Saudi-Arabien Diese jüdische Gemeinde wächst trotz einer spürbaren Radikalisierung unter den eineinhalb Millionen Muslimen in Bosnien. In der Hauptstadt Sarajevo entstanden in den letzten Jahren mit Geldern aus Saudi-Arabien große Moscheen, die einen wahabitischen und damit streng-konservativen Islam verbreiten. Im November wurde ein salafistischer Prediger wegen Anwerbung von Kämpfern für den "Islamischen Staat" zu sieben Jahren Haft verurteilt. Allein in diesem Jahr reisten rund 200 Bosnier nach Syrien und in den Irak. Manche der 40 Rückkehrer stehen vor Gericht. Der muslimische Jurist Hikmet Karcic vom Institut für die Islamische Tradition der Bosniaken in Sarajevo: "Während des Bosnienkriegs kamen die ersten arabischen Freiwilligen, um zu kämpfen. Sie und muslimische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen brachten ihre radikalen Ansichten mit. Die meisten von ihnen zogen unter dem Druck der Sicherheitsbehörden nach dem 11. September ab und zwölf von ihnen wurden in Guantanamo inhaftiert. Einige kehrten jedoch zurück nach Bosnien." Mehrere hundert muslimische Kämpfer durften bleiben, weil sie einheimische muslimische Frauen geheiratet hatten. Sie wurden als Gegenleistung für ihren Kampfeinsatz auch eingebürgert. Hikmet Karcic hält dennoch die islamistische Gefahr für die Juden für gering. "Die kleine jüdische Gemeinde pflegt gute Beziehungen mit allen ethnischen Gruppen, weil sie im Krieg von niemand angefeindet wurde und während der Belagerung von Sarajevo allen Bürgern half." Im November erschoss ein Anhänger der Terrormiliz "Islamischer Staat" zwei Soldaten; Zwölf Männer wurden wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen des IS in Syrien und im Irak angeklagt. Im April überfiel ein Islamist eine Polizeiwache und tötete einen Beamten und dann sich selbst. In fünf entlegenen Dörfern wehen die schwarzen Flaggen des "Islamischen Staates". Dennoch werden die jüdischen Institutionen in Sarajevo nicht polizeilich geschützt, anders als in Belgrad oder Zagreb zum Beispiel. Gemeindepräsident Jakob Finci. "Wir fühlen uns ziemlich sicher, gerade weil kein Sicherheitspersonal unsere Institutionen bewacht. Wir haben nur Videokameras installiert, so dass, falls Gott behüte etwas Schlimmes passiert, wir nachträglich wissen, wer es getan hat. Unsere Offenheit ist unsere Sicherheitsgarantie, denn dadurch zeigen wir, dass wir nichts zu verbergen haben und in unserem Land nichts befürchten. Die Zahl der IS-Rekruten kann Bosniens Ansehen beeinträchtigen. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen den bosnischen und den europäischen Muslimen. Die Muslime hier waren Slaven, die vor 500 Jahren konvertierten und 50 Jahre im Sozialismus lebten, so dass sie nicht religiös sind. Die kleinen salafistischen Gruppen werden von der Polizei streng bewacht und stellen keine Gefahr für dieses Land dar." Philosemitismus als Teil der bosnischen Staatsräson Dass Juden in Bosnien große Anerkennung genießen, das lässt sich auch daran ablesen, wie der Staat ein bestimmtes jüdisch-historisches Erbe pflegt, nämlich die sogenannten "Sarajevo Haggada". Dieses aus dem Jahr 1350 datierte Büchlein ist die älteste sephardische Schrift des Pessachfestes. Das Werk hat die Spanische Inquisition, den Zweiten Weltkrieg und den Bosnienkrieg überlebt. Heute ist es in einem besonderen Raum im bosnischen Nationalmuseum ausgestellt. Eliezer Papo, der aus Sarajevo stammt, erforscht an der Ben Gurion Universität in Israel die Geschichte der Juden auf dem Balkan. "Der Haggada-Raum im Bosnischen Nationalmuseum ist auch nachts von der Straße durch die bläulich schimmernden Davidsterne in den Fenstern erkennbar. Und das mitten in einer muslimischen Stadt. Im Zentrum dieses Raums steht die Sarajevo-Haggada und drum herum werden in vier Vitrinen Dokumente über das mittelalterliche bosnische Königreich ausgestellt, Gegenstände des orthodoxen und katholischen Christentums sowie des bosnischen Islams. Jeder bosnische Schüler muss dieses identitätsstiftende Museum besuchen und sieht die Haggada im Zentrum, umgeben von den Werken der anderen drei Staatsreligionen." Der Philosemitismus ist Teil der bosnischen Staatsräson - auch, weil die wenigen Juden keine territorialen Ansprüche stellen und keine politische Macht haben.-Jakob Fincis Familie lebt seit 400 Jahren in Sarajevo. Obwohl seine beiden Söhne in den USA leben, ist er optimistisch, dass die jüdische Gemeinde in 50 Jahren ihre 500-jährige Existenz feiern wird. Der 72-jährige frühere Botschafter kann sich ein Bosnien ohne Juden gar nicht vorstellen: "Bosnien ist eine gemischte Gesellschaft, die nach Brot schmeckt. Die drei ethnischen Gruppen - Muslime, orthodoxe Serben und katholische Kroaten - stehen für die drei Zutaten des Brots: Wasser, Mehl und Hefe. Sobald das Brot gebacken ist, kann man die drei Komponenten, so wie in Bosnien, nicht mehr auseinandernehmen. Und wir wenigen Juden sind die Prise Salz, die Bosnien seinen Geschmack gibt."
Von Igal Avidan
Auch in Bosnien ist eine wachsende Radikalisierung unter jungen Muslimen zu beobachten. Doch in der überwiegend muslimischen Hauptstadt Sarajevo leben Juden und Muslime friedlich zusammen. Und das hat eine lange Tradition.
"2016-01-07T09:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:25.429000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/juden-und-muslime-in-sarajevo-wir-fuehlen-uns-ziemlich-100.html
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"Russland ist nicht an Aufklärung interessiert"
Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung. (imago/Metodi Popow) Mario Dobovisek: Keine Aufklärung des MH17-Absturzes also vor einem Tribunal der Vereinten Nationen. Bernd Großheim berichtete aus Moskau. Heftige Kritik am russischen Veto kommt aus den Niederlanden, Malaysia und Australien, jenen Ländern also, die die meisten Opfer zu beklagen haben. Am Telefon begrüße ich Ralf Fücks, Grünen-Politiker und Vorstand der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Abend, Herr Fücks! Ralf Fücks: Guten Abend, Herr Dobovisek! Dobovisek: Die Befürworter der Resolution wollten keine Zusammenarbeit, begründet Russland seine Ablehnung. Sie missbrauchten das Ergebnis für ihre Propaganda, sie wollten keine Aufklärung, das sei sehr bedauerlich. So sagt es jedenfalls, wir haben es zu Beginn der Sendung gehört, Russlands Botschafter Tschurkin im Sicherheitsrat. Was will Russland damit demonstrieren, Herr Fücks? Fücks: Das klingt sehr nach "Haltet den Dieb". Es sieht ja ganz so aus, als würde Russland die Aufklärung dieses Massakers, so muss man das ja wohl nennen, wenn eine Zivilmaschine mit 300 Personen abgeschossen wird, hintertreiben würde. Und das ist auch nicht ganz neu. Im Grunde, unmittelbar nach dem Abschuss am 17. Juli wurden schon die Ermittlungen behindert. Die internationale Kommission, die versuchte, vor Ort die Fakten festzustellen, die Indizien zu sammeln, bekam zeitweise keinen Zugang.Man muss davon ausgehen, dass eine systematische Spurenverwischung betrieben worden ist durch die von Russland unterstützten Separatisten im Osten der Ukraine. Dobovisek: Kiew nennt das Veto einen Beweis für Russlands Schuld. Gehen Sie auch so weit? Russland will mit Absturz nichts zu tun haben Fücks: Ein Beweis ist es sicher nicht, aber es ist ein Hinweis darauf, dass Russland nicht wirklich an einer Aufklärung interessiert ist. Man kann ja, seit im Grunde dieser Krieg begonnen hat und vom Zaun gebrochen worden ist vom Kreml, feststellen, dass Russland systematisch seine Verantwortung für diesen Krieg verwischt. Das hat ja fast Orwellsche Dimensionen, ein Krieg, der von Russland aus inszeniert worden ist, mit russischen Söldnern, zum Teil auch mit regulären Truppen, mit russischen Waffen. Und gleichzeitig stellt sich die russische Regierung vor die internationale Öffentlichkeit und sagt, wir haben damit nichts zu tun. Und der Versuch, die Aufklärung dieses Abschusses zu verhindern, gehört genau in dieses Kapitel, weil viele Indizien weisen doch darauf hin, dass die Spuren nach Russland führen, dass es eine russische Raketenbatterie war, von der das malaysische Flugzeug abgeschossen worden ist. Dobovisek: Moskau fühlt sich vom Westen in die Enge gedrängt, in die Ecke gestellt sozusagen. Ist das der richtige Weg des Westens, diesen Druck auszuüben und Moskau damit ja im Grunde zu provozieren? Russland isoliert sich mit der Ukraine-Politik Fücks: Nein, ich halte es nicht für eine Provokation, wenn man auf der Aufklärung eines solchen Massenverbrechens besteht. Das ist geradezu notwendig im Sinne der internationalen Sicherheit, nicht nur der Sicherheit des Flugverkehrs, dass ein solches Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung aufgeklärt wird. Und der Kreml kann sich entscheiden, ob er entweder kooperiert – dann wird er aber auch seine Mitverantwortung einräumen müssen – oder ob er weiterhin eine Politik der Spurenverwischung oder der politischen Lüge betreibt und sich damit selbst isoliert. Das ist ja das Drama, dass Russland, die Regierung, dass der Präsident Putin die Selbstisolation Russlands mit dieser Politik betreiben, weil sie systematisch Völkerrecht brechen und gleichzeitig versuchen, die Aufklärung zu sabotieren. Dobovisek: Es wird also zunächst kein UN-Tribunal geben. Welche anderen Formen der internationalen juristischen Aufarbeitung wären denn denkbar? Fücks: Nun, zunächst muss man abwarten den Bericht der niederländischen Untersuchungskommission, die sich ja auf ein Team internationaler Expertinnen und Experten stützt, wird voraussichtlich im Oktober veröffentlicht werden. Es gibt jetzt schon erste Klagen von Familienangehörigen, von Betroffenen dieses Abschusses. Und es wird mit Sicherheit sowohl strafrechtlich wie zivilrechtlich weitere juristische Verfahren geben. Im Grunde gehört ein solcher Vorgang vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Bundesregierung versucht Gratwanderung Dobovisek: Sehen Sie da genug Aktivität bei der Bundesregierung in Richtung Moskau? Fücks: Nun, die Bundesregierung versucht ja eine Gratwanderung, einerseits schon mit deutlichen Worten die russische Politik gegenüber der Ukraine zu kritisieren, auf der Einhaltung des Minsker Abkommens zu bestehen. Das beinhaltet ja auch den Rückzug von russischen Söldnern und Waffen aus dem Donbass und die Rückkehr der Grenze unter die Souveränität der Ukraine. Und gleichzeitig den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, also die Tür offenzulassen für eine Wiederherstellung eines kooperativen Verhältnisses mit Russland. Dafür muss aber dieser Konflikt gelöst werden in der Ukraine, und der kann nur gelöst werden, indem die Souveränität der Ukraine wiederhergestellt wird, einschließlich ihrer Entscheidungsfreiheit, sich nach Europa zu orientieren. Dobovisek: Nun haben wir in diesem Konflikt ja seit dem Absturz oder dem Abschuss des MH17-Fluges vor rund einem Jahr nicht besonders viel Bewegung gesehen. Wir haben mehrere Abkommen erlebt, die auch immer wieder gebrochen worden sind. Gibt es jetzt neue Hoffnungen, dass das jüngste Abkommen vielleicht etwas länger überdauern könnte. Die Frage aber: Morgen will das ukrainische Verfassungsgericht über den geplanten Autonomiestatus der Separatisten im Osten des Landes entscheiden. Könnte das die entscheidende Wende bringen? Fücks: Ich fürchte, nein, weil das langfristige Ziel, das der Kreml verfolgt, nach wie vor die Destabilisierung der Ukraine ist, die Verhinderung, dass aus dem Maidan ein Erfolgsprojekt wird, dass die Ukraine sich wirtschaftlich modernisiert, dass sie zu einem demokratischen Staat wird, weil das eine Bedrohung der russischen Herrschaftsordnung selbst darstellt. Insofern glaube ich nicht, dass es eine kurzfristige Lösung geben wird. Und die Autonomiefrage ist sehr verzwackt. Einerseits eine gewisse kulturelle und politische Autonomie, aber unter der ukrainischen Souveränität. Die Forderungen der Separatisten und der russischen Regierung gehen ja sehr weit darüber hinaus. Das läuft darauf hinaus, ein russisches Protektorat in der Ostukraine zu errichten, und das ist für die Ukraine nicht akzeptabel, und für die EU auch nicht. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralf Fücks im Gespräch mit Mario Dobovisek
Bei der abgestürzten Malaysia-Airlines-Fluges MH17 versuche Russland seine Verantwortung zu verwischen, sagte Ralf Fücks, Vorsitzender der Heinricht-Böll-Stiftung, im DLF. Bei einer Kooperation zur Aufklärung müsse Moskau eine Mitverantwortung einräumen für den Absturz der Maschine, die mutmaßlich von russischen Separatisten in der Ukraine abgeschossen wurde.
"2015-07-31T05:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:50:55.347000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mh17-resolution-russland-ist-nicht-an-aufklaerung-100.html
698
"Dass man so zu einem Fall kommt, ist eine Ausnahme"
Doping mit Eigenblut ist seit Einführung des Anti-Doping-Gesetzes 2015 in Deutschland strafbar. (dpa/picture alliance/Marius Becker) Gräber bestätigte im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, dass eine Anzeige der Nationalen Anti-Doping-Agentur NADA eingegangen sei. Seine Behörde habe aber auch auf Grundlage des Films Ermittlungen aufgenommen. Er habe zwar Hoffnung, die möglichen Anwender des Blutdopings zu ermitteln - doch wäre es besser gewesen, früher von dem Fall zu erfahren und nicht erst aus den Medien. "Wir haben keinen Vorsprung", sagte Gräber. Zudem sei eine Verurteilung auf Grundlage des Anti-Dopings-Gesetzes nicht möglich: Denn nach Angaben von Johannes Dürr liegen die Fälle zu weit zurück. Das Anti-Doping-Gesetz ist erst seit 2015 in Kraft. "Das Vergehen war aus Sicht des Anwenders damals nicht strafbar", sagte Gräber. Dürr selbst habe im Verfahren den Status eines Zeugen. Dass für ihn gegebenfalls Zeugenschutz in Betracht komme, hält Gräber für unwahrscheinlich, da er sich bereits öffentlich geäußert habe. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kai Gräber im Gespräch mit Andrea Schültke
Nach der Ausstrahlung einer ARD-Doku hat die Münchener Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen unbekannt aufgenommen. In dem Film hatte Ski-Langläufer Johannes Dürr auf Blutdoping in Deutschland hingewiesen. Staatsanwalt Kai Gräber zeigte sich im Dlf überrascht: Normalerweise dringe aus der Sportszene keine Informationen nach außen.
"2019-01-19T00:00:00+01:00"
"2020-01-26T22:34:11.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/doping-ermittlungen-nach-ard-doku-dass-man-so-zu-einem-fall-100.html
699
Wer fastet, lebt länger
Mehrere Studien belegen, dass Menschen, die nach den Regeln der orthodoxen Kirche fasten, viel gesünder lebten, als die, die es nicht tun (picture alliance/ dpa/ Socrates Baltagiannis) Gottesdienst in der Marienkirche der Heiligen Maria im Athener Vorort Glyfada. Orthodoxe Heiligenbilder schmücken die Wände, es duftet nach Weihrauch. Rund dreihundert Gläubige verfolgen den Gottesdienst, überwiegend ältere Menschen, aber auch viele junge Familien. Zum Beispiel Manos Vourvachis mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Er versucht, so oft es geht, in die Kirche zu gehen, sagt der 45-jährige Topograf. Und selbstverständlich werde er sich auch an die kommende Fastenzeit halten: "Wir fasten jedes Jahr vierzig Tage vor Ostern. Es ist eine Frage des Glaubens, aber auch eine Tradition. Wir haben das Fasten von unseren Eltern kennengelernt und versuchen, uns weiterhin daran zu halten. Gerade jetzt, wo wir selber Kinder haben. Denn unsere Taten werden ihnen stärker in Erinnerung bleiben als unsere Worte." Für die 49-jährige Diamando ist es genau umgekehrt. Ihren Nachnamen möchte die schlanke Frau mit dem kurzen schwarzen Haaren nicht nennen. Diamando arbeitet als Reinigungskraft in der Athener Innenstadt, macht gerade Mittagspause, Sie gehe nicht oft in die Kirche, sagt sie, und faste auch nicht. Ihre zwei Töchter aber wollen sich diesmal unbedingt an die orthodoxe Fastenzeit halten: "Meine Töchter sind sechszehn und siebzehn Jahre alt. Ich glaube, es ist ein Trend unter den Jugendlichen, denn ihre Freunde werden auch fasten. Ich glaube diese Tradition und der Glaube gibt unseren Kindern halt. Sie haben so viel Leistungsdruck in der Schule und bekommen auch die finanziellen Schwierigkeiten der Familien mit. Es tut ihnen also gut, sich ein Ziel zu setzen. Und wenn sie es schaffen, können sie stolz auf sich sein!" Meeresfrüchte und Schnecken sind erlaubt Die Fastenzeit vor Ostern ist nur eine von mehreren im orthodoxen Kirchenjahr. Insgesamt wird rund hundertachtzig Tage im Jahr gefastet, wobei nicht alle Fastenperioden gleich sind, erklärt Andonis Kafatos, emeritierter Professor für Präventivmedizin und Ernährung an der Universität Kreta. "Das halbe Jahr haben wir also kein Fleisch, keine Milchprodukte und keine Eier. Fisch hingegen darf man öfter essen, zum Beispiel in der Fastenzeit vor Weihnachten. Der große Unterschied zur veganen Ernährung ist, dass Meeresfrüchte und Schnellen erlaubt sind. So bekommt der Körper auch wichtige Nährstoffe, die nur oder vor allem in Produkten tierischen Ursprungs zu finden sind, wie zum Beispiel das Vitamin B12 oder die ungesättigten Fettsäuren und die lebenswichtigen Aminosäuren, ohne die die Lebenserwartung sinkt!" Seit Jahrzehnten nimmt Andonis Kafatos die Ernährung der griechischen Bevölkerung unter die Lupe. Mehrere Studien belegen, dass Menschen, die nach den Regeln der orthodoxen Kirche fasten, viel gesünder lebten, als die, die es nicht tun, sagt er: "Wer fastet, hat ein geringeres Risiko chronisch krank zu werden: Das Risiko, an Osteoporose zu erkranken, sinkt, auch das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden oder einen Hirnschlag. Die Ergebnisse der Studien zeigen das ganz klar. Und wir haben herausgefunden, dass Menschen, die fasten, ein um 38 Prozent geringeres Risiko haben, depressiv zu werden. Wobei wir hier nicht genau wissen: Ist es der Glaube, der den Menschen seelisch hilft oder die Ernährung? Wahrscheinlich ist beides der Fall." Allerdings reiche ein einmaliges Fasten für die positiven Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit nicht aus. Bei den Testpersonen handele es sich vielmehr um Menschen, die seit ihrer Kindheit konsequent nach dem orthodoxen Kirchenjahr fasteten. Und auch an den Tagen, an denen nicht gefastet wird, sollte man auf eine ausgewogene Ernährung achten, so der Präventivmediziner: Ein halbes Kilo Rind täglich Andonis Kafatos: "Wir haben den Fall eines Kollegen an der Universität Kreta veröffentlicht, um das auch unseren Studenten deutlich zu machen: Der Kollege hat an allen Fastenperioden der orthodoxen Kirche gefastet. Das restliche Jahr aber hat er ein halbes Kilo Rind täglich gegessen und anderthalb Liter Cola getrunken. Das Ergebnis: Mit fünfundfünfzig hatte er einen Herzinfarkt. Als er mir erzählte, wie er sich ernährt hat, sagte ich ihm: Hättest du nicht gefastet, hättest du den Herzinfarkt schon zehn Jahre früher gehabt." Für die Kirche spielt dieser gesundheitliche Aspekt bei der Einhaltung der Fastenzeit keine Rolle, sagt Pfarrer Konstantinos Vartholomäos. Ziel des Fastens sei es schließlich nicht, gesünder zu leben, so der orthodoxe Geistliche, das könnte man auch mit einer allgemein ausgewogenen Ernährung. Nein, das Ziel des Fastens sei ein anderes: "Wir fasten, um Enthaltsamkeit zu üben und uns auf die Heilige Kommunion vorzubereiten. Und das Fasten alleine reicht da nicht aus. Viel wichtiger ist es, dass wir unser Benehmen bessern. Dass wir gut zu unseren Mitmenschen sind, am Gemeindeleben teilnehmen, dass wir Buße tun und das Sakrament der Beichte begehen. Nur so bereiten wir uns auch richtig auf die Heilige Kommunion an Ostern vor. Nur so bereiten wir uns wirklich auf die Heilige Kommunion und die Auferstehung Christi vor."
Von Rodothea Seralidou
In Griechenland ist eine Tradition zum Trend geworden. Eine von mehreren Fastenzeiten der orthodoxen Kirchen beginnt am Montag. Bis Ostern verzichten Gläubige auf Fleisch, Eier und Milchprodukte. Neue griechische Studien zeigen: Wer sich streng daran hält und 180 Tage im Jahr verzichtet, tut etwas für die Gesundheit.
"2018-02-16T09:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:39:28.010000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/orthodoxes-fasten-wer-fastet-lebt-laenger-100.html
700
Korrespondentin: „Den Schweizern ist ihre Neutralität heilig“
Die Schweiz hat ihr Veto gegen die Lieferung von Munition für den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard gegeben - sie beruft sich auf ihre Nationalität. Deutschland will die Panzer an die Ukraine liefern. (imago / Sven Eckelkamp)
Biegger, Sandra
Es sei fast ausgeschlossen, dass die Schweiz vom Prinzip der Neutralität abrücken werde, so Schweiz-Korrespondentin Sandra Biegger. Die Eidgenossen tragen aber die EU-Sanktionen mit. Das habe Beobachter überrascht - und sei dem „Druck der Straße“ geschuldet. Das Veto der Regierung gegen Munitionslieferungen sorgt im Schweizer Parlament nun für viel Diskussion.
"2022-04-27T09:15:00+02:00"
"2022-04-27T09:58:06.183000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/keine-beteiligung-an-waffenlieferungen-schweiz-diskutiert-ueber-neutralitaet-dlf-d8f6fb9d-100.html
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"Amerikaner glauben an Rasse"
Bürger von Chicago demonstrieren gegen Polizeigewalt (dpa / Picture Alliance / Tannen Maury) Michael Brown, Eric Garner, Walter Scott: Drei Namen aus der jüngsten Vergangenheit, die für Gewaltakte weißer Polizisten gegen schwarze Bürger in Amerika stehen. Auf die Gewalt folgte Gegengewalt: Proteste, Plünderungen und Vandalismus an Orten wie Ferguson, New York und Baltimore. Dies seien keine bedauerlichen Einzelfälle. Sondern: Rassismus in Amerika sei systemisch und strukturell, eingewoben in die Identität des Landes, schreibt der Journalist Ta-Nehisi Coates in seinem Essay "Zwischen mir und der Welt". "Amerikaner glauben an 'Rasse' als fest umrissenes, naturgegebenes Merkmal unserer Welt. Rassismus – das Bedürfnis, Menschen bis ins Mark zu kategorisieren und daraufhin zu demütigen, zu reduzieren und zu vernichten – wäre demnach eine unvermeidliche Folge dieser unabänderlichen Gegebenheit. So wird Rassismus zur unschuldigen Tochter von Mutter Natur (…). Doch Rasse ist das Kind des Rassismus, nicht seine Mutter." Das Buch, 2015 in den USA erschienen, stand an der Spitze der "New York Times"–Bestsellerliste und gewann den National Book Award. Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison bezeichnete es als "Pflichtlektüre". Ta-Nehisi Coates hat für seinen Essay die Form eines Briefes an seinen 15-jährigen Sohn gewählt. Darin seziert er das Wesen des Rassismus in Amerika, verbindet seine persönliche Geschichte mit der Geschichte des Landes. Angst vor Gewalt und dem Ausgeliefertsein Coates wuchs in den 80er Jahren in einem Schwarzenviertel von Baltimore auf. Gangs beherrschten die Straßen, Gewalt war allgegenwärtig. Verhaltensregeln waren überlebenswichtig, erklärt Coates im US-Rundfunk NPR: "Geh’ um Gottes willen nicht allein zur Schule. Stell’ sicher, dass du in einer Gruppe von fünf oder sechs Leuten gehst. Vermeide bestimmte Wohngegenden, außer du kennst jemanden dort, deine Großmutter oder einen Cousin. Beweg’ dich immer, als ob du ein klares Ziel hättest. Sei wachsam, sei immer bereit dich zu wehren, hab Deine Umgebung genau im Auge." Zwei Motive ziehen sich durch Coates' Essay: Die ständige Angst vieler Afroamerikaner vor Gewalt, vor dem Ausgeliefertsein. Und die Verletzlichkeit des eigenen Körpers. Wie ein Stakkato hämmert er die Worte "Angst" und "Körper" in das Bewusstsein des Lesers – in einer Sprache, die kraftvoll, poetisch, manchmal auch bedrängend ist. "Die Angst, (...) sie war da, direkt vor meinen Augen. Sie lebte in den Posen der Jungs meines Viertels, in ihren großen Ringen und Anhängern, ihren dicken Jacken und Ledermänteln mit Pelzkragen, ihrer Rüstung gegen die Welt. Wenn ich heute an diese Jungs denke, sehe ich nur ihre Angst; ich sehe, wie sie sich gegen die Geister der bösen alten Zeit wappnen, in der sich der Mississippi-Mob um ihre Großväter scharte, um die Zweige des schwarzen Körpers abzufackeln." Den Teufelskreis der Angst konnte Coates erst durchbrechen, als er Baltimore verließ und an der afroamerikanischen Howard-Universität in Washington, D.C. studierte. Hier begegnete er Prince Jones, einem jungen Afroamerikaner aus bürgerlichem Haus. Der lebte so, wie sonst – zumindest nach Coates’ bisheriger Erfahrung - nur Weiße leben. Und wurde trotzdem Opfer von Polizeigewalt. "Er kam aus einer wohlhabenden Familie, er hatte Eliteschulen besucht, seine Mutter war Ärztin. Er hatte alles, was in Amerika zählt. Und er wurde getötet. Hingerichtet wie ein Schwerverbrecher." Später stellte sich heraus: Prince Jones war das Opfer einer fatalen Verwechslung geworden. Es gab eine Untersuchung, aber der Täter blieb straffrei. Coates‘ Wut und Trauer waren so groß, dass ihn sogar die Anschläge vom 11. September 2001 ein Jahr später kalt ließen. Dass er im New Yorker Finanzviertel, selbst angesichts der schwelenden Skelette der Twin Towers, nur den ehemaligen Ort des Sklavenhandels sah: "Ich dachte daran, dass das südliche Manhattan für uns schon immer Ground Zero gewesen war. Dort hatten sie unsere Körper versteigert, in diesem verwüsteten, passend benannten Finanzviertel. Und einst gab es dort einen Friedhof für die Versteigerten. Auf einem Teil davon hatten sie ein Kaufhaus errichtet. (…) Ich wusste, dass Bin Laden nicht der Erste war, der in diesem Teil der Stadt Terror ausübte." "Du und ich, mein Sohn, wir sind dieses 'Unten'." Coates ist gespalten in seiner Botschaft an seinen Sohn: Er hat Angst um ihn, nicht nur körperlich. Er will verhindern, dass sein Sohn naiv in sein Erwachsenenleben startet. Deshalb beschreibt er mit bitterer Ernüchterung die soziale Wirklichkeit im Amerika des 21. Jahrhunderts, wo Versöhnung zwischen Weißen und Schwarzen kaum möglich scheint. "Du und ich, mein Sohn, wir sind dieses 'Unten'. Das galt 1776. Das gilt auch heute. Es gibt kein sie ohne dich, und ohne das Recht, dich zu brechen, fallen sie zwangsläufig vom Berg, verlieren ihre Göttlichkeit und purzeln aus dem Traum." Die Rassismus-Debatte wird in den USA seit Jahren intensiv geführt – in den Medien und in der Politik, in den Hörsälen und in Hollywood. Und derzeit vor allem im Wahlkampf, wo die Kandidaten sich in ihren Versprechen einer Reform von Polizei und Justiz überbieten. Dennoch hat Ta-Nehisi Coates wenig Hoffnung, dass sich die Lage der Afroamerikaner in absehbarer Zeit ändert: "Ob wir Wandel erwarten können? Ich bin da eher skeptisch. Die Polizei in Amerika steht ja nur stellvertretend für das Verhältnis zwischen der breiten amerikanischen Gesellschaft und der schwarzen Bevölkerung." "Zwischen mir und der Welt": Der Essay von Ta-Nehisi Coates über Rasse und Rassismus in Amerika ist kein großes, vielleicht nicht einmal ein wirklich gelungenes Buch – allein schon, weil sich der Autor zu oft vom Pathos überwältigen lässt, von Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Lesenswert ist es trotzdem – als ein tief persönliches, radikal subjektives, aber durchgehend leidenschaftliches und niemals langweiliges Manifest. Buchinfos:Ta-Nehisi Coates: "Zwischen mir und der Welt", übersetzt von Miriam Mandelkow. Hanser, Berlin, 2016. 240 Seiten, 19,90 Euro.
Von Katja Ridderbusch
Die wiederkehrenden Fälle von Polizeigewalt gegen Afroamerikaner haben die Debatte um Rassismus in Amerika angeheizt. Bereits im vergangenen Jahr legte der Journalist Ta-Nehisi Coates, einer der einflussreichsten schwarzen Intellektuellen der USA, einen sehr persönlichen Essay über Rasse und Rassismus in Amerika vor. "Zwischen mir und der Welt" ist jetzt auf Deutsch erschienen.
"2016-03-07T17:28:00+01:00"
"2020-01-29T18:17:28.101000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ta-nehisi-coates-amerikaner-glauben-an-rasse-100.html
702
Schlechter als sein Ruf
Eins-zu-Eins-Chats sind bei Telegram nur verschlüsselt, wenn Nutzer die entsprechende Einstellung aktivieren (imago images/Future Image/C. Hardt) Bis Anfang Oktober war Michael Wendler für viele einfach nur ein Schlagersänger. Dann aber machte er ein Instagram-Video, in dem er Corona-Verschwörungen zum Besten gab - und sich als Experte für Messenger versuchte: "Ladet euch so schnell wie möglich Telegram runter! Telegram ist die einzige Möglichkeit, zensurfrei Meinungen auszutauschen. Alle anderen Portale wie Instagram, YouTube oder Facebook sind zensiert. Und wichtige Informationen, die Ihr unbedingt begreifen müsst, werden gelöscht." Schlagerstar und Verschwörer Michael Wendler (imago / C. Hardt) Was Michael Wendler als "Zensur" bezeichnet, ist in Wirklichkeit etwas Anderes: YouTube, Twitter oder Facebook zeigen inzwischen bei Videos und Texten Warnhinweise, wenn dort Falschinformationen verbreitet werden. Sie setzen auf externe Faktencheckerinnen und löschen Hassbotschaften. Bei Telegram passiert all das so gut wie gar nicht – weswegen sich Verschwörer wie Wendler, Attila Hildmann oder Xavier Naidoo bei Telegram wohl fühlen. Das liegt auch an bestimmen Funktionen, die andere Messenger wie WhatsApp nicht anbieten, erklärt der Sicherheitsforscher und Hacker Roland Schilling. "Diese Channels, die ja der Attila Hildmann sehr gerne nutzt, wo man einfach ähnlich wie auf so einem Facebook-Feed Inhalte postet, die dann eine große Menge von Zuhörer*innen erreichen. Telegram bietet viele Features, die es sehr schön nutzbar machen, genau für diesen Anwendungsfall von Attila Hildmann, einfach eigene Inhalte an eine Zielgruppe zu transportieren." Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern Bei Telegram gibt es neben diesen Einbahnstraßen-Kanälen auch Gruppen, die bis zu 200.000 Mitglieder haben können. Das scheint viele Menschen anzulocken: Telegram hat nach eigenen Angaben 400 Millionen aktive Nutzer pro Monat, doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren - und damit immerhin ein Fünftel der Whatsapp-Nutzerinnen. Neue digitale Heimat für Trump-AnhängerSeit der US-Wahl gehen Facebook und Twitter massiv gegen Falschinformationen vor. Die Anhänger von Wahlverlierer Trump wechseln deshalb zu alternativen Sozialen Netzwerken. Experten warnen vor neuen Gefahren. Ein Grund für den Zuwachs dürfte auch der Ruf sein, den Telegram seit Jahren hat: den eines besonders sicheren und datensparsamen Messengers. Wer aber zum Beispiel unbedingt vermeiden will, dass Geheimdienste oder andere Akteure leicht mitlesen können, für den ist Telegram eine ausgesprochen schwierige Wahl, meint Schilling. "Tatsächlich ist mir persönlich der Ruf immer ein großes Rätsel gewesen, weil Telegram in der Fachwelt eigentlich einen ausgesprochen schlechten Ruf hat. Die Chats sind solange unverschlüsselt, bis man ein Feature in Telegram aktiviert. Dann sind Einzelchats, also zwischen zwei Personen, direkt verschlüsselt. Und das ist genau so ein Feature, das Telegram nicht standardmäßig an hat und in Gruppenkommunikation so oder so gar nicht unterstützt." Holocaust-Leugnung, Waffenhandel, Falschinformationen Abgesehen davon, dass wegen fehlender Ende-zu-Ende-Verschlüsselung private Nachrichten, Bilder und Videos zum Teil und Gruppenchats grundsätzlich eher unsicher sind, und auch wenn Telegram genau wie WhatsApp die eigene Telefonnummer und das eigene Telefonbuch und die darin gespeicherten Namen und Nummern der Nutzer kennt: Es lockt in letzter Zeit besonders Verschwörer und Kriminelle an. Corona-Verschwörungen vom FitnesscoachManche Influencer verharmlosen auf Youtube, Instagram und Co. die Corona-Pandemie und verbreiten Falschinformationen – wohl auch aus geschäftlichem Interesse, vermutet die Journalistin Karolin Schwarz. Darauf deutet auch eine aktuelle Studie im Auftrag Landesmedienanstalt NRW hin. Holocaust-Leugnung, Verstöße gegen das Urheberrecht, illegaler Handel mit Waffen oder Drogen, Verbreitung von Falschaussagen: All das gebe es bei Telegram – und gegen all das werde zu wenig unternommen, findet Tobias Schmid, der Chef der Landesmedienanstalt. "Mich erinnert das ein bisschen an die Situation, die wir in den größeren sozialen Netzwerken vor zwei, zweieinhalb Jahren vorgefunden haben. Da hatten wir auch eine Vielzahl von Delikten festgestellt, aber noch keine große Routine entwickelt bei der Frage, wie man dagegen vorgeht. Das ist jetzt wieder so eine Situation, weil die Struktur von Telegram anders ist. Aber ich bin sicher, dass wir auch hier einen Weg finden werden." Kaum Einblicke in die Firma hinter Telegram Tatsächlich agiert Telegram noch intransparenter als etwa Facebook. Die beiden Telegram-Gründer und Hauptfinanziers, die russischen Durov-Brüder, geben wenig über sich preis. Der Firmensitz von Telegram wechselt immer wieder. Das Unternehmen weigert sich offiziell, mit Regierungen zusammenzuarbeiten. Wohl auch deshalb verlassen sich viele Oppositionelle in Hongkong, Belarus und im Iran auf Telegram – aber gleichzeitig ist es für Medienaufseher wie Tobias Schmid ein Problem, keinen verlässlichen Ansprechpartner zu haben, um Rechtsverstöße bei Telegram auch verfolgen zu können. "Natürlich werden wir versuchen, mit Telegram in einen Austausch zu treten. Das wird sicherlich nicht ganz einfach werden, weil es in der Natur von Telegram steckt, sich sozusagen dezentral und anonym aufzustellen. Wir müssen eine Lösung für die Frage finden, dass das bei allen großen Verdiensten solcher Dienste, zum Beispiel auch für demokratische Diskurse in autoritären Systemen, nichts daran ändert, dass wir natürlich Rechtsverstöße bei uns deswegen nicht zulassen können." Warum gegen den Hass im Netz Gesetze allein nicht helfenVor zwei Jahren hat die Bundesregierung das Netzwerkdurchsetzungsgesetz auf den Weg gebracht. Doch Hass und Anfeindungen in den sozialen Netzwerken scheinen nicht zurückgegangen zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass Telegram beim deutschen Gesetz gegen Hass im Netz, dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, durchs Raster fällt. Messenger sind vom NetzDG nämlich ausgenommen, genauso wie Dienste ohne Gewinnerzielungsabsicht. Die EU immerhin plant mit dem Digitale-Dienste-Gesetz neue Regeln, die auch Telegram mit einschließen würden. Solange das aber nicht schwarz auf weiß festgeschrieben ist, werden auf Telegram wohl munter weiter kriminelle Taten begangen und Falschnachrichten unters Volk gebracht, von Schlagersängern und anderen Verschwörerungsgläubigen.
Von Christoph Sterz
Telegram gilt vielen als sichere Alternative zu WhatsApp, obwohl die Verschlüsselung weniger umfassend ist. Die App wird oft auch von Verschwörern und Kriminellen genutzt. Grund: Das Netzwerksdurchsetzungsgesetz greift hier nicht.
"2020-11-25T15:35:00+01:00"
"2020-11-26T11:24:55.348000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/messenger-dienst-telegram-schlechter-als-sein-ruf-100.html
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"Wir treten dem Rechtsextremismus in Hessen entschlossen entgegen"
Peter Beuth, CDU, will den Mordfall Walter Lübcke lückenlos aufgeklärt sehen (dpa / Boris Roessler) Christine Heuer: Nach dem Mordgeständnis von Stephan E. ist die politische Debatte über Maßnahmen gegen den rechten Terror in vollem Gange. Am Telefon ist der christdemokratische Innenminister von Hessen, Peter Beuth. Guten Morgen! Peter Beuth: Guten Morgen, Frau Heuer! Heuer: Herr Beuth, Sie kannten Walter Lübcke persönlich. Jetzt haben wir das Geständnis. Die Szene ist besser vorstellbar als vorher: Stephan E., wie er mit der Pistole an Walter Lübcke herantritt. Wie schlafen Sie dieser Tage? Beuth: Ja, der Mord oder die Tat an Walter Lübcke, die bestürzt mich natürlich, seitdem ich davon erfahren habe. Es ist ein guter Kollege gewesen im hessischen Landtag. Wir haben sehr eng zusammengearbeitet, weil er Regierungspräsident in Nordhessen war, eine Behörde, die dem hessischen Innenministerium nachgeordnet ist. Wir haben auch gerade in der Flüchtlingskrise sehr, sehr eng zusammengearbeitet und insofern waren wir wirklich eng verbunden. Deswegen ist diese furchtbare Tat natürlich nach wie vor unfassbar. Aber man muss dazu sagen: Es ist eine Tat, die wir jetzt im Moment ausermitteln und aufklären wollen. Auswirkungen auf mein eigenes Verhalten, auf mein persönliches Verhalten, hat es im Moment nicht. "Wenn Fehler passiert sind, dann werden die benannt" Heuer: Horst Seehofer hat gesagt, es gäbe Verbesserungsbedarf im Umgang mit Rechten, mit dem rechten Terror, mit der Gefahr von rechts. Wenn Die Ermittler vorher schon alles besser gemacht hätten, hätte dieser Mord verhindert werden können? Beuth: Das werden jetzt die Ermittlungen ergeben. Gestern war der Generalbundesanwalt ja nicht nur im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, sondern auch des hessischen Landtages, und dort hat er noch mal deutlich gemacht, dass wir trotz des Geständnisses, was ja wohl offensichtlich jetzt vorliegt, noch am Anfang der Ermittlungen sind. Bei diesen Ermittlungen werden wir natürlich wirklich jeden Stein herumdrehen, in unseren Ämtern, in unseren Behörden, und werden schauen, ob da Fehler passiert sind. Und wenn Fehler passiert sind, dann werden die benannt, dann werden die aufgearbeitet und abgestellt werden. Aber im Moment ist es sicherlich noch zu früh zu sagen, es sind Fehler passiert. Heuer: Aber Stephan E. hatte 37 Einträge im Strafregister. Er war ein bekannter gewaltbereiter Neonazi und verschwindet dann plötzlich vom Radar der Behörden. Ist da nicht klar, dass da Fehler passiert sind? Beuth: Na ja, aus dieser Tatsache heraus kann man das sicherlich noch nicht ablesen. Die letzte Tat, die er begangen hat, zumindest soweit wir das wissen und soweit auch die Polizei Kenntnisse darüber hat, ist vom 1. 5. 2009, also vor zehn Jahren. Insofern wird das jetzt im weiteren Ermittlungsverfahren natürlich bearbeitet werden und aufgeklärt werden müssen, ob da etwas übersehen worden ist. Heuer: Aber, Herr Beuth! Wie sehen Sie persönlich das denn? Da müssen doch Fehler passiert sein. Der Mann war auffällig, er verschwindet vom Radar und dann ermordet er einen Kommunalpolitiker. Beuth: Na ja. Zunächst mal ist es so, dass er in der Tat 37 Straftaten von, ich glaube, 1989 bis 2009 begangen hat und danach halt keine mehr. Deswegen ist es ja nicht ungewöhnlich, wenn das sich so bestätigt, dass dann die Behörden ihn nicht mehr ganz unmittelbar vor Augen haben, wenn er halt keine Straftaten mehr begangen hat. "Ausschließen können wir im Moment gar nichts" Heuer: Der Mörder von Walter Lübcke war mit anderen Neonazis und Beate Zschäpe in einer Kneipe in Kassel. Das sagt eine Zeugin aus. Haben die Ermittler das jemals zur Kenntnis genommen? Beuth: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das wären Erkenntnisse aus den Verfassungsschutzbehörden. Aber wenn das so ist, dann wird das in einem Zeitraum vor diesem Jahr 2009 gewesen sein. Heuer: Sie sind aber der zuständige Innenminister, Herr Beuth. Können Sie ausschließen, dass Stephan E. im NSU-Netzwerk aktiv war? !Beuth: Nein, ausschließen können wir im Moment gar nichts, und es wäre auch falsch, wenn wir was ausschließen würden. Wir haben ja ausdrücklich gesagt, dass wir in alle Richtungen ermitteln, und der GBA hat das gestern noch mal im Innenausschuss auch unterstrichen. Wir wollen ja, dass wir die Tat, die Tatumstände, auch am Ende die Vergangenheit von Stephan E. voll umfänglich aufklären, und insofern ist das jetzt Gegenstand auch der Ermittlungen in diesem Fall, und das wird jetzt passieren. Heuer: Es wird über Mitwisser, über Mittäter, über Netzwerke, vergleichbar dem NSU, gerade nachgedacht. Was sagen Sie denn? Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es so eine Art NSU 2.0 tatsächlich gibt? Das ist ja auch eine Signatur unter den Drohmails gegen eine Frankfurter Flüchtlingsanwältin gewesen. Aber unabhängig vom Namen: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es wieder eine Art braune RAF gibt in Deutschland? Beuth: Na ja, ich kann mich da an Spekulationen nicht beteiligen. Aber es ist so, dass wir gestern im Innenausschuss des hessischen Landtags vom Generalbundesanwalt beziehungsweise von dem zuständigen Abteilungsleiter gehört haben, dass in alle Richtungen ermittelt wird, dass auch gerade diese Frage eine Rolle in den Ermittlungen spielen wird, und deswegen sollten wir die und müssen wir diese Ermittlungen am Ende abwarten und werden dann sehen, welche Bezüge, Zusammenhänge es gibt. Und Sie dürfen davon ausgehen, dass die Ermittler – wir geben dem GBA da voll umfänglich Unterstützung – mit Hochdruck im Moment in alle Richtungen ermitteln und versuchen, möglichst ein klares Bild von der Tat, den Tatumständen und den Tathintergründen zu bekommen. "Wir haben den Täter anhand einer winzigen Spur ermittelt" Heuer: Es kann also sein, Herr Beuth, dass sich so etwas wie der NSU-Skandal gerade wiederholt, eine braune RAF, und die Ermittler bekommen es lange Zeit nicht mit? Es kann sein, es muss nicht, aber es kann sein. Beuth: Seien Sie mir da an dieser Stelle nicht böse. Ich kann mich an solchen Spekulationen nicht beteiligen. Dafür sind jetzt die Ermittlungsbehörden zuständig. Die tun das und ich finde, dass wir schon deutlich machen oder deutlich gemacht haben, dass wir in den letzten Wochen in alle Richtungen ermittelt haben. Es ist von der ersten Minute an mit einem sehr hohen Kräfteansatz in die Ermittlungen eingestiegen worden. Wir haben den Täter anhand einer offenbar winzigen Spur ermittelt. Es war das hessische Landeskriminalamt, das mit seiner Expertise gerade auch in diesem Bereich der DNA-Spuren dafür gesorgt hat, dass es eine Zuordnung des Täters gegeben hat. Wir haben den Täter zunächst mal inhaftiert und mittlerweile liegt offensichtlich ein Geständnis vor, und insofern machen die Ermittler ihre Arbeit. Sie ermitteln in alle Richtungen und wir werden sehen, welche Ergebnisse das am Ende bringt. Das Zwischenergebnis, was wir im Moment haben, dass wir einen geständigen Täter haben, der Walter Lübcke getötet hat, das ist schon mal ein erster Ermittlungserfolg, aber eben ein Zwischenerfolg. Heuer: Aber man hat ja den Eindruck, da ist ein ganzer Sumpf, der dahinter steckt. Der NSU-Mord an Halit Yozgat 2006, ebenfalls in Kassel, da ist ein Verfassungsschützer am Tatort, bekommt angeblich nichts mit, ein sehr dubioser Fall. Die Akten dazu hat Hessen zunächst für 120 Jahre gesperrt. Sie haben das jetzt auf 40 Jahre reduziert – ist immer noch ziemlich lang, Herr Beuth. Hat Hessen etwas zu verbergen? Beuth: Nein, Hessen hat nichts zu verbergen. Und diese Sperrfristen besagen ja nicht, ob da nicht jemand, der dazu berufen ist und einen rechtlichen Grund hat, in diese Akten auch hineinschauen kann. Wir haben einen Untersuchungsausschuss im Wiesbadener Landtag gehabt, der sich mit den Umständen des Mordes an Halit Yozgat und des NSU beschäftigt hat. Diesem Untersuchungsausschuss, den Abgeordneten des Untersuchungsausschusses haben sämtliche Akten natürlich vorgelegen und wir haben sogar dafür gesorgt, dass wir ein Verfahren gefunden haben, das auch in ungeschwärzte Akten Einsicht genommen werden konnte. Die Frist für die Sperrung zur Veröffentlichung in der Öffentlichkeit hat damit gar nichts zu tun, ob jemand in die Akte, der dazu befugt ist, hineinschauen kann. Einsatz gegen Rechtsextremismus Heuer: Herr Beuth! Der Verfassungsschutzpräsident von Thüringen und der bayerische Innenminister haben in der vergangenen Woche im ZDF beide gesagt, sie verstehen überhaupt nicht diese wahnsinnig langen Sperrfristen. Das sei bei ihnen in Bayern und Thüringen alles viel leichtgängiger. Dann haben wir diese Drohmails gegen die Frankfurter Anwältin aus den Reihen der Polizei. Haben die Behörden in Hessen den rechten Rand in den eigenen Reihen? Beuth: Nein, und ich finde auch, dass es sich verbietet, die Fragen miteinander jetzt hier zu verbinden. Wir haben einmal die furchtbare Tat an Walter Lübcke. Um die kümmern sich im Moment die Ermittlungsbehörden. Wir haben darüber hinaus den Untersuchungsausschuss im NSU gehabt. Dafür galten, was unsere Akteneinstufung angeht, Regeln, die noch aus dem Jahre 2010 oder davor gegolten haben. Die haben wir jetzt verändert. Das ändert aber nichts daran, dass die Akten denen, die dazu bestimmt waren, auch vorgelegt worden sind und auch vorgelegt waren und die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss das auch aufklären konnten. Und dann haben wir darüber hinaus – ich räume das ein; das finde ich auch unerträglich, dass wir in der hessischen Polizei an ein paar wenigen, aber an zu vielen Stellen Kollegen haben, die offensichtlich mit rechter oder sogar rechtsextremistischer Gesinnung unterwegs sind, und da sind wir im Moment dabei, denen ebenfalls ein Stoppschild zu setzen. Heuer: Herr Beuth! Das ist alles gut, was Sie sagen. Aber dann sage ich jetzt noch mal: In Nordhessen, besonders in Kassel fühlen sich Neonazis offenbar pudelwohl. Da gibt es seit Jahren einen braunen Sumpf, der ist immer noch nicht ausgetrocknet. Deshalb noch mal zum Schluss die Frage: Hat Hessen da vielleicht ein besonders starkes Problem mit rechtem Terror, und möglicherweise auch die Ermittler, dass die ein besonders starkes Problem damit haben? Beuth: Die Ermittler haben kein starkes Problem. Es ist den Ermittlern gelungen, dass sie in diesem aktuellen Fall den Täter zumindest überführt und zu einem Geständnis gebracht haben. Deswegen halte ich diesen Vorwurf für völlig ungerechtfertigt. Wir treten dem Rechtsextremismus in Hessen entschlossen entgegen, und zwar in einem Umfang, dass sich die Abgeordneten im hessischen Landtag gestern darüber beschwert haben, dass ich das alles noch mal vorgetragen habe, was es sehr lange gedauert hat, weil wir eben sehr, sehr viel machen in diesem Bereich. Wir machen das in ganz Hessen, aber eben auch speziell in Nordhessen. Wir haben in Nordhessen – das habe ich gestern berichtet – eine sehr heterogene Landschaft, auch im Bereich des Extremismus, Rechtsextremismus, und die wird von uns sehr akribisch bearbeitet und wir bemühen uns darum, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu gewährleisten, auch wenn es uns insgesamt im Moment wirklich bestürzt, dass trotz dieser Aktivitäten es zu einer solchen Tat gekommen ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Beuth im Gespräch mit Christine Heuer
Im Mordfall Walter Lübcke werde im Zuge der Ermittlungen "jeder Stein umgedreht", sagte der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) im Dlf. Es sei unerträglich, dass in der hessischen Polizei offenbar Mitarbeiter mit rechter oder sogar rechtsextremistischer Gesinnung seien. Ihnen werde man ein "Stoppschild setzen".
"2019-06-27T07:15:00+02:00"
"2020-01-26T22:59:24.309000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mordfall-luebcke-wir-treten-dem-rechtsextremismus-in-hessen-100.html
704
Der Kampf um Mitte-Rechts
Der britische Premierminister David Cameron setzt im Parlamentswahlkampf auf Wirtschaftskompetenz (afp / Carl Court) Es dürfte eng werden für die regierenden Konservativen. Seit zweieinhalb Jahren liegen sie in den Umfragen hinter der Labour Partei zurück. Derzeit um fünf Punkte mit 31 Prozent. Hinzu kommt das UKIP-Problem; zwar stellen die Rechtspopulisten aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts keinen einzigen Abgeordneten; das aber könnte sich bald schon ändern. Mark Reckless, konservatives Mitglied des britischen Unterhauses verkündete seinen Wechsel zur Unabhängigkeitspartei am Wochenende ausgerechnet auf der UKIP-Konferenz unmittelbar vor dem Parteitag der Tories. Konservative Abgeordnete verlassen Fraktion Reckless ist bereits der zweite Abgeordnete, der innerhalb weniger Wochen die Tories verlassen hat. Der andere, Douglas Carswell, hat gute Chancen die fällige Nachwahl in einer Woche zu gewinnen und damit seiner neuen Partei den ersten Parlamentssitz überhaupt zu besorgen. Grant Shapps, Generalsekretär der Tories, war wenig amüsiert und donnerte: "Wir sind betrogen worden, jeder weiß: Ein Abgeordneter gewinnt nicht alleine, sondern mit der Hilfe seiner Parteifreunde, Euer Vertrauen ist missbraucht worden und ihr wurden getäuscht." Tatsächlich ist den Konservativen an ihrem rechten Rand ein inzwischen ernst zu nehmender Gegner erwachsen. Premier und Parteichef David Cameron gibt zu, dass der Parteitag nicht gerade einen Bilderbuchstart hingelegt hat: "So etwas ist frustrierend. Und es ist kontraproduktiv und ziemlich sinnlos. Denn wenn Du ein EU-Referendum willst und Einwanderungskontrolle dann gibt es nur eine Option und das ist eine konservative Regierung nach der Wahl." Labour-Partei lachender Dritte? Doch die rückt in weite Ferne, je stärker UKIP wird. 16 Prozent billigen ihr die Meinungsforscher zu. Die reichen zwar nicht zum Regieren, aber womöglich dazu, den Konservativen das Regieren unmöglich zu machen. Im britischen Mehrheitswahlsystem könnten sich die Mitte-Rechts-Stimmen für Tories und UKIP gegenseitig neutralisieren, sodass Labour-Kandidaten profitieren. Die Konservativen fühlen sich in einer Zweifronten-Schlacht mit UKIP und Labour und das Rezept gegen UKIP lautet: Rechtsruck. EU-Kritik, Anti-Einwanderung und vor allem Recht und Ordnung. Die innere Sicherheit will Innenministerin Theresa May mit einer drastischen Strategie garantieren. "Sie zielt darauf, Extremismus in all seinen Formen zu untergraben. Neonazismus ebenso wie islamistischen Extremismus. Sie zielt darauf, in der Gesellschaft Extremismus zu identifizieren, zu konfrontieren, herauszufordern und zu besiegen. " So sollen schärfere Gesetze es im Fall eines Tory-Wahlsiegs der Innenministerin erlauben, extreme Gruppen zu verbieten, die zwar nicht gewalttätig sind, aber Hass verbreiten. Die Internet-Kommunikation müsse umfassend überwacht werden und Einzelnen will Frau May den Zugang zum Web, aber auch öffentliche Auftritte und Reden untersagen können, was nicht nur Bürgerrechtsgruppen, sondern auch eigene Parteifreunde wie David Davis besorgt: "Das sind doch ganz unglaubliche Befugnisse, demokratische Rechte einzuschränken, die wir in diesem Land seit 200 Jahren haben. Und das allein schon, wenn die Innenministerin einen begründeten Verdacht hat. Das ist das Kriterium." Cameron setzen auf Wirtschaftskompetenz Gegenüber der linken Labour-Konkurrenz wollen sich die Konservativen vor allem weiter als Partei mit der höheren Wirtschaftskompetenz profilieren. "Großbritannien hat die am schnellsten wachsende, Arbeitsplätze schaffende, Defizit verringernde Wirtschaft von allen großen Industrieländern." Verkündet Schatzkanzler George Osborne unter großem Applaus seine Erfolgsbilanz. Unerwähnt lässt er vor den Parteifreunden, dass er mit Wachstum und Defizitabbau drei Jahre hinter den ursprünglichen Plänen zurückliegt. Um das verbleibende Defizit loszuwerden, bedarf es in den kommenden Jahren zusätzlicher 30 Milliarden Euro. Und dafür setzt der Konservative auf Bekanntes: Gestrichen werden soll wie bislang schon weiter im Sozialetat: "Die Sozialleistungen müssen für zwei Jahre eingefroren werden. Der fairste Weg Sozialstaatsrechnungen zu senken, liegt darin, sicherzustellen, dass Sozialleistungen nicht schneller steigen als die Gehälter der Steuerzahler, die sie finanzieren. " Was bedeutet, dass nicht nur Arbeitslose, sondern auch die fünf Millionen so genannten arbeitenden Armen, deren niedriges Einkommen mit staatlichen Hilfen wie Kinder- oder Wohngeld aufgestockt wird, verzichten müssen – im Durchschnitt auf 600 Euro jährlich. Die Wählerklientel der Tories wird dagegen geschont: keine Steuererhöhungen für Mittelstand, Rentner, Gutverdiener und Unternehmen. Die Zeit, als David Cameron noch Werbung machte mit dem Schlagwort vom mitfühlenden Konservativismus, scheint keine acht Monate vor der Wahl endgültig vorbei zu sein.
Von Jochen Spengler
Bei der Parlamentswahl im Mai 2015 müssen vor allem die Konservativen von Premierminister David Cameron um die Mehrheit bangen. Teile ihrer Wähler wandern nach Umfragen zu den Rechtspopulisten, der UKIP, ab. Wegen dem Mehrheitswahlsystem könnten sich die Mitte-Rechts-Stimmen beider Parteien gegenseitig neutralisieren - zu Freuden der Labour-Partei.
"2014-10-01T05:51:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:19.931000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-der-kampf-um-mitte-rechts-102.html
705
Neue Pläne der EU-Kommission für Schuldenregeln
Die EU-Kommission will mit den einzelnen Euroländern individuelle, maßgeschneiderte Fiskalpläne verabreden, mit dem Ziel des langfristigen Schuldenabbaus. Dadurch erhalten die Staaten mehr Mitbestimmung bei der Umgestaltung ihrer Finanzsysteme. (dpa / Daniel Kalker)
Kapern, Peter
Die EU möchte die Schuldenregeln für ihre Mitglieder reformieren. Teilweise will sie den Staaten beim Schuldenmachen mehr entgegenkommen – etwa bei Investitionen in die Klimaneutralität. An anderen Stellen soll jedoch härter durchgegriffen werden.
"2022-11-09T13:51:00+01:00"
"2022-11-09T15:10:01.850000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stabilitaetspakt-eu-kommission-schuldenregeln-100.html
706
Deutsche Spionagesoftware gegen türkische Oppositionelle?
Linus Neumann vom Chaos Computer Club im Gespräch mit Jan Rähm (Deutschlandradio / Felix Konradi ) Die Hacker Linus Neumann und Thorsten Schröder fanden heraus, dass die untersuchten Samples große Ähnlichkeit mit der Spionagesoftware "FinSpy" der deutschen Unternehmensgruppe FinFisher aufweisen. Doch solche Produkte dürfen seit 2015 nicht mehr ohne Genehmigung exportiert werden. Im Gespräch auf dem Chaos Communication Congress 36C3 in Leipzig erläutert Neumann die computerforensische Untersuchung. Im Code habe es Hinweise gegeben, dass es sich um einen deutschsprachigen Programmierer gehandelt habe, sagte Neumann. Anmerkung der Redaktion: Wie haben die Firmen FinFisher Deutschland GmbH und Elamann GmbH um Stellungnahme gebeten. Die Unternehmen haben sich bisher uns gegenüber nicht geäußert.
Linus Neumann im Gespräch mit Jan Rähm
Im Sommer 2017 tauchte in der Türkei Spionagesoftware auf, die gegen Oppositionelle eingesetzt wurde. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte hat die Herkunft der Software vom Chaos Computer Club (CCC) untersuchen lassen. Die Spuren führten möglicherweise nach Deutschland, sagte Linus Neumann vom CCC.
"2019-12-28T10:00:00+01:00"
"2020-01-26T23:25:38.932000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/36c3-staatstrojaner-deutsche-spionagesoftware-gegen-100.html
707
"Deutsche Politik sollte Sotschi boykottieren"
Anton Hofreiter ist neuer Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag. Er betont, dass der Sport auch nach dem unbefriedigenden Wahlergebnis und der damit verbundenen Neuausrichtung der Grünen unter seinem Vorsitz eine wichtige Rolle spielen werde. “Nein, der Sport wird da nicht hintenrunterfallen, weil er von einer ganz besonderen gesellschaftlichen Relevanz ist. Weil er von hohem Interesse für uns als solches ist.“ Sagt Hofreiter und verweist auf die Diskussion rundum die Olympischen Spiele in München 2022. Der Bayer begrüßt das negative Votum im Bürgerentscheid. Vor allem die Skepsis vor Sportgroßorganisationen und die ungeklärte Landschaftszerstörung hätten die Bürger dazu bewogen. Das kommende Sportgroßereignis gilt längst als ökologisches Desaster. In wenigen Wochen beginnen die Winterspiele im russischen Sotschi – ein milliardenschweres Investitionsprojekt des russischen Staates – über 30 Milliarden Euro. Die teuersten Winterspiele aller Zeiten. Neben der Kostenausuferung und der Umweltzerstörung, belasten auch die innenpolitischen Zustände in Russland die Spiele in Sotschi. Vor allem die verschärfte Homosexuellen-Gesetzgebung und der Umgang mit Minderheiten sowie Oppositionellen sorgten zuletzt für massive internationale Empörung. Hofreiter fordert nun von der deutschen Politik den Spielen in Sotschi fern zu bleiben. Russland entwickle sich immer mehr in Richtung Diktatur. “Sotschi ist hochproblematisch. Die Deutsche Politik sollte die Olympischen Winterspiele in Sotschi boykottieren. Man sollte nicht die Sportler dazu zwingen es zu boykottieren. Man sollte von Seiten der deutschen Politik Druck ausüben, dass Menschenrechte, Minderheitenrechte in Russland eingehalten werden. Man sollte sich nicht drauf verlassen, dass einfach so mit dem warmen Worten der Sport wird das Ganze schon richten. Wer bei den Olympischen Spielen in Sotschi gut aufgehoben wäre, wäre der Menschenrechtsausschuss, um das Ganze zu begleiten.“ Der Menschenrechtsausschuss des deutschen Bundestags – statt der üblichen Delegation deutscher Sportpolitiker. Auch Amnesty International regte zuletzt an, die Spiele in Sotschi zu nutzen, um auf die Probleme in Russland aufmerksam zu machen. Hofreiter sieht auch den IOC-Präsidenten Thomas Bach in der Pflicht. “Thomas Bach sollte Druck ausüben auf Russland, dass es da bestimmte grundlegende Änderungen gibt. Manche Dinge kann man nicht mehr ändern, da ist das Kind schon in den Brunnen gefallen - die extrem zerstörerische Art wie die Sportstätten errichtet worden sind. Man müsste Druck ausüben, dass die Menschen die zwangsumgesiedelt worden sind, dass die wenigstens vernünftige Entschädigungen kriegen, nämlich wenn ihre Häuser und ihre Heimat bereits zerstört ist, muss man wenigstens für einen Anspruch auf Entschädigung sorgen.“ Nächste Woche kommt in Lausanne die Führungsriege des IOC zusammen. Solche Themen werden dort erfahrungsgemäß nicht diskutiert. Und selbst wenn – es wird die Öffentlichkeit wohl nicht so schnell erfahren. Das IOC fordert die Presse auf, bei dem fünftägigen Meeting an vier Tagen nicht zu erscheinen. Man stellt auch keine Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten zur Verfügung, teilte man mit. Langjährige Beobachter sind entsetzt. Anton Hofreiter sieht bei Sportgroßorganisationen einen generellen Reformbedarf. Die grüne Sportpolitik in der letzten Legislaturperiode hatte auch dies immer wieder angemahnt. Viola von Cramon, die bisherige sportpolitische Sprecherin der Fraktion, zog nicht mehr in den Bundestag ein. Grüne Sportpolitik unter von Cramon war meist engagiert und hatte durchaus Profil. Kritisch ging die Grüne mit dem organisierten Sport um, Freunde bei Funktionären machte sie sich damit nicht. In neun Tagen will sich Angela Merkel mit den Stimmen der Großen Koalition zur Bundeskanzlerin wählen lassen. Dann sollen auch die Ausschüsse gebildet werden. Unbekannt ist bisher, wer die Grünen im Sportausschuss des Bundestags vertreten wird. Auch Anton Hofreiter will noch keine Namen nennen. “Die grüne Sportpolitik wird weiter Profil haben. Aber ich möchte jetzt nicht vorgreifen, weil die große Koalition so vor sich hintrödelt, bei ihrer Konstituierung, können wir uns auch noch nicht konstituieren und wollen dies auch noch nicht. Da wir noch nicht wissen, wie viele Ausschüsse gibt es insgesamt. Deswegen möchte ich der Fraktionsentscheidung nicht vorweg greifen, wer das dann am Ende machen wird. Aber es gibt eine ganz Reihe von Leuten, die es sich vorstellen können und die sicher mit großem Engagement und Interesse dabei sind.“ So leicht scheint die Findung eines Abgeordneten in der Fraktion aber nicht zu sein. Bisher hat sich noch niemand richtig ins Spiel gebracht, heißt es aus Fraktionskreisen. Auch zu drängenden sportpolitischen Fragen, äußerte sich die Fraktion zuletzt selten. Wichtig wäre, dass auch der neue Vertreter der Grünen im Sportausschuss zu den kritischen Köpfen gehört. Denn Sportfreunde sitzen im Sportausschuss bekanntlich genug.
Von Robert Kempe
Der neue Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter forderte die deutsche Regierung auf, während der Spiele nicht nach Sotschi zu fahren. Russland entwickle sich immer mehr in Richtung Diktatur.
"2013-12-08T19:39:00+01:00"
"2020-02-01T16:49:48.450000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportpolitik-deutsche-politik-sollte-sotschi-boykottieren-100.html
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Goppel: CSU und AfD denken nicht gleich
Der CSU-Politiker Thomas Goppel wirft der AfD mit Blick auf ihre Anti-Islam-Haltung vor, Dinge unzulässig zu verallgemeinern. (picture alliance / dpa / Nicolas Armer) Der Landtagsabgeordnete erklärte weiter, die AfD verallgemeinere auf unzulässige Weise. Die stellvertretende AfD-Parteivorsitzende Beatrix von Storch hatte gesagt, der Islam sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, und Symbole der Religion sollten aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Über den Kurs der AfD auch zum Islam soll Ende des Monats ein Parteitag entscheiden. Die Forderung des CSU-Bundestagsabgeordneten Alexander Radwan, eine Art Kirchensteuer für Muslime einzuführen, lehnte Goppel ab. Im Grundgesetz sei festgelegt, wer eine finanzielle Hilfe erhalte. Wenn eine Religion sage, sie sei wichtiger als der Staat, könne sie nicht in den Genuss dieser Hilfe kommen. Was man im Koran und in Suren lesen könne, bedeute immer - wie es früher auch in Deutschland gewesen sei - dass der geistliche Führer gleichzeitig auch der staatliche Herrscher sei. "Dieses ist ein Prinzip, das in unsere demokratische Rechtsordnung nicht passt." Das Interview in voller Länge: Dirk Müller: "Der Islam ist eine politische Ideologie. Der Islam verstößt gegen die Werte des Grundgesetzes." So argumentiert die AfD. Die Empörung quer durch alle etablierten Parteien im Bundestag ist groß. Auch zahlreiche Verbände kritisieren den nächsten Vorstoß von Teilen der Parteiführung jedenfalls als rassistisch, als gefährlich. Die AfD fordert, dass Imame in Deutschland nur noch auf Deutsch predigen oder verkünden dürfen und dass die Moscheen und auch die muslimischen Vereine nicht mehr aus dem Ausland finanziert werden dürfen. Zwei Beispiele, zwei Forderungen, die auch in Bayern vielleicht auf größeres Interesse stoßen dürften, hat CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sich genau diese Punkte auch auf seine Fahnen geschrieben. Wie groß ist die Schnittmenge zwischen AfD und CSU? Gibt es die? Unser Thema nun mit Thomas Goppel, viele Jahre lang Minister im Kabinett von Edmund Stoiber, zuvor auch noch in der Regierungsmannschaft bei Franz-Josef Strauß dabei. Er engagiert sich jetzt für die Katholiken in der CSU. Guten Morgen! Thomas Goppel: Guten Morgen, Herr Müller! - Ich war auch mal Generalsekretär, der Vorgänger vom Andreas. Müller: Ich musste mich jetzt für ganz viele Dinge entscheiden. Goppel: Nein, nein, ist schon gut. Sie müssen sich für gar nichts entschuldigen. Aber das wollte ich Ihnen sagen. In der Parteistrategie bin ich auch nicht ganz doof. "Tolerant heißt ertragen, dass andere anders sind" Müller: Deswegen kommen wir heute Morgen zusammen. Ich freue mich auf das Gespräch, Herr Goppel. - Hat die AfD auch manchmal recht? Goppel: Die AfD hat ganz sicherlich nicht recht, weil sie verallgemeinert. Da wo sie Einzelne in besonderen Fehlhaltungen erwischt, überzieht sie das auf die gesamte politische Landschaft, oder sie verallgemeinert so, dass daraus Vorwürfe gegenüber den Amtierenden und Regierenden werden, die so nicht zulässig sind. Natürlich passieren dort, wo gearbeitet wird, auch der eine oder andere Fehler und die eine oder andere Großzügigkeit wirkt sich am Ende unangenehm aus. Ich diskutiere, seitdem ich der CSU angehöre, immer die Frage nach einer ordentlichen und vernünftigen Form der deutschen Rechtschreibung. Im Norden Deutschlands neigen viele dazu, tolerant mit zwei L zu schreiben, weil es so nah am Kölner Karneval ist. Tolerant heißt ertragen, dass andere anders sind. Das gilt auch bei uns. Müller: Das gilt auch für die AfD? Goppel: Ertragen müssen wir es schon. Solange sie sich an die Grundsätze der Verfassung hält, geht es um die politische und gemeinsame Auseinandersetzung miteinander und mit den Thesen der anderen, und das aber heftig und deutlich. Einfach nur sich hinzustellen und zu sagen, die anderen können es nicht, ist zu wenig. Wir merken das, sonst nähme die AfD nicht zu. Müller: Ich bin jetzt ein bisschen überfordert. Wenn Sie sagen, Verallgemeinerung geht ja gar nicht. Ist das nicht ein Grundaxiom des politischen Diskurses? Goppel: Nein, jedenfalls nicht in der CSU. Dafür haben wir ein Programm, das zwar gelegentlich bei manchen auch von uns selbst in Vergessenheit gerät. Aber da heißt es, christliches Menschenbild, und das heißt, der andere wird ernst genommen, aber es wird nicht verallgemeinert. "Es ist Vorsicht geboten" Müller: Der Islam ist keine politische Ideologie? Goppel: Er ist eine politische Ideologie dort, wo er so ausgelegt wird, wie es im Koran steht. Das wissen wir ja alle. Dort wo jemand längst in eine andere Betrachtungsweise eingetreten ist, ist das eine unnötige Verallgemeinerung, die zur Verhärtung der Fronten führt. Wir können eine ganze Menge Vertreter auch dieser Religion für uns durchaus gewinnen, aber eine ganze Menge ist nicht ausreichend, um zu sagen, das ist ohne Fehl und Tadel. Müller: Aber Sie sagen immerhin, es ist eine ganze Menge. Eine problematische Menge? Goppel: Es ist eine Menge, eine problematische. Solange es eine eigene Staatsführung wie den IS gibt und solange wir erleben, was da für Bilder und für Berichte aus anderen Ecken dieser Welt kommen, die jetzt bis zu uns getragen werden auch in den entsprechenden Attentaten, ist Vorsicht geboten. Wir haben das Problem, dass der eine Teil unserer deutschen Argumentatoren, insbesondere bei Rot und Grün, im Verharmlosen Weltmeister sind - verharmlosen darf man es nicht -, und umgekehrt angegriffen wird nach dem Motto, wenn Du jemand anderem unterstellst, er tut Böses, dann ist das Dein falscher Geist. Das geht auch nicht. Müller: Wir brauchen die CSU ja oft für die Zuspitzung, um die Dinge auch ein bisschen klarer und deutlicher zu formulieren. Goppel: Ist ja nicht verkehrt. Wir kommen aus dem Süden. Alles was aus dem Süden kommt, ist ein bisschen deutlicher. Müller: Wenn wir empirisch einmal vorgehen und klammern die Türkei in Anführungszeichen erst einmal aus, haben Sie empirisch einen muslimischen Staat gefunden, der nicht auf dieser politischen Ideologie fußt? Goppel: Nein. Ich habe Ihnen vom Prinzip her gesagt, dass die Ausgangspositionen jeweils darin bestehen, wer hat das Sagen. Es gibt Zeiten, bei denen Sie in Ägypten sagen können, es geht daneben und es ist nicht in Ordnung, und dann gibt es wieder umgekehrte Zeiten. Das heißt, auch die anderen Staaten, nicht nur wir in Europa, sind in der Entwicklung und verändern uns. Wir haben viele Jahrhunderte mit den Polen große Schwierigkeiten gehabt, weil wir uns gegenseitig überfallen haben und weil wir nicht aufgepasst haben, dass man an einer solchen Stelle sehr wohl sehr behutsam mit dem Nachbarn umgehen muss, aber dasselbe passiert in anderen Teilen der Welt. Das zu verurteilen, ist nicht unser Geschäft. Zu verhindern, dass es wieder zu der Prädominanz der politischen Umgangsformen miteinander kommt, das müssen wir tun. "Wir sind in vielen Punkten das Original" Müller: Reden wir, Herr Goppel, noch mal über diese zwei konkreten Punkte, die ich in der Anmoderation schon genannt habe. Imame müssen Deutsch reden, eine Forderung, und Verbot der Auslandsfinanzierung von Moscheen. Findet sich auch bei Andreas Scheuer wieder. Das heißt, hier haben wir doch eine klare Schnittmenge? Goppel: Das würde ich aber dann bitte immer von der Seite aus sehen, an der die Schnittmenge ansetzt. Die Frage nach der deutschen Sprache, die Imame brauchen, ist eine, die kommt von uns und die AfD hat sie übernommen. Die Tatsache, dass sie sie übernimmt, ist noch lange nicht der Beleg dafür, dass wir gleich denken. Müller: Die CSU ist auch hier das Original? Goppel: In dem Fall. Nicht auch hier. Sie ist in diesem Fall das Original. Wir sind in vielen Punkten der Diskussion unserer Tage wirklich das Original. Alles was in der CDU nachdenklich formuliert wird in diesen Tagen, nach dem September 2015, sind Originaltöne der CSU. Müller: Imame müssen Deutsch reden, um dabei zu bleiben, heißt Arabisch-Sprechverbot in Moscheen. Goppel: Sicherstellen: Dass das, was andere bei uns als These beziehungsweise als Norm für ihre eigene Umgangsform erklären, muss bei uns auf Deutsch erklärt werden und nicht auf irgendeinem sonst gewählten Kauderwelsch. "Wir wollen, dass wir miteinander zurechtkommen" Müller: Jetzt weiß ich gar nicht, ob Sie sich für Südtirol kämpferisch engagiert haben. Jetzt müssen die Deutsch sprechenden Südtiroler dort auch Italienisch sprechen wie früher? Goppel: Sie wissen ja genau, wie das nach dem Krieg gewesen ist. Da haben die Italiener das eingefordert, gemerkt, dass sie an der Stelle überziehen, und haben es auch wieder weggenommen, wobei inzwischen Deutsch und Italienisch so nebeneinander stehen, dass das kein Problem ist. Aber dass wir verstehen werden, was in der Moschee in Istanbul gesagt wird, ist ja wohl ein Gerücht, oder? Müller: Ja, ja. Aber es geht ja um die Moschee beispielsweise in München. Das heißt, da soll jetzt definitiv Deutsch gesprochen werden, damit wir es verstehen? Goppel: Nicht, damit wir es verstehen, sondern damit niemand untereinander Vereinbarungen treffen kann und will, im öffentlichen Raum Vereinbarungen treffen kann, von denen wir nicht wissen, wie sie sich auf uns auswirken. Wir wollen, dass wir miteinander zurechtkommen. Wir haben ja noch viele andere solche Dinge. Die Burka ist ein ähnlicher Fall. In allen unseren Nachbarstaaten ist inzwischen das Verbot ausgesprochen, Frankreich et cetera. Wir sagen, das ist Freiheit. Ich persönlich sage Ihnen, wer der Polizei auferlegt, Nummern anzulegen, kann nicht gleichzeitig auf der anderen Seite sagen, aus religiösen Gründen hängen wir uns alles zu, was nur erkennbar macht, dass wir eine eigene Identität haben. Müller: Sie haben ja immerhin das Kopftuchverbot an bayerischen Schulen durchgesetzt. Goppel: Ja das ist wieder ein kleiner Unterschied, dass an einer Stelle unter Umständen etwas dann nicht anders gemacht wird, wobei ich sagen muss, so durchgesetzt ist es nicht, denn wenn unsere Klosterschwestern ihre normale Haube aufhaben, hat niemand was dagegen. Die Frage ist, ob jemand sich unkenntlich macht. "Wir interessieren uns gegenseitig nicht mehr" Müller: Imame müssen Deutsch reden, noch mal darauf zurückzukommen. Mir ist gerade eingefallen und ein Kollege hat mich auch darauf hingewiesen. Es gibt ja schon ganz viele Imame, die Deutsch sprechen. Goppel: Da haben wir ja auch nichts dagegen. Ist ja in Ordnung. Müller: Wir kennen ja auch radikale Islamisten. Das heißt, es bringt ja vielleicht nicht viel. Pierre Vogel nenne ich da oder Sven Lau, das sind ja ganz umstrittene Prediger, Imame, Hassprediger nennen sie viele. Da reden ja schon viele Deutsch, ändert nichts am Problem. Goppel: Das ändert schon was am Problem, denn die Verfolgung wird aufgenommen in dem Augenblick, wo ich weiß, was der andere getan hat. Wenn ich etwas nicht kenne, kann ich ja überhaupt nirgends und an keiner Stelle ihm zu nahe treten oder so nahe treten, dass daraus keine Folgerungen entstehen. Die Schwierigkeit besteht doch in unseren Tagen darin, dass wir uns gegenseitig nicht mehr interessieren, den anderen tun lassen, und wenn er uns dann überfällt und uns schwierig wird, dann meinen wir, jetzt hätten wir aber ein Recht, was zu tun. Wehret den Anfängen ist kein Satz, den ich erfunden habe. Müller: Dann halten wir das mal fest, Herr Goppel, und gehen gleich weiter. Das heißt, die Imame müssen demnächst Deutsch sprechen und sie dürfen auch nicht mehr vom Ausland finanziert werden. Wie sollen sie sich dann finanzieren? Goppel: Das wird man in der Form sicherlich so nicht realisieren können. Aber dass insgesamt der saudische Oberchef anfängt, bei uns hier Kirchen zu bauen, und dabei auch außer Kontrolle all die Dinge wahrzunehmen, halte ich für eine diskutable und wichtige Ansatzweise, in der Diskussion ein Stück weiterzukommen. Ob wir das zur Regel machen, weiß ich jetzt noch nicht, steht in der Diskussion. Müller: Meinten Sie jetzt Kirche oder Moschee? Goppel: Nein, wir reden von den Moscheen. Und davon abgesehen: Ich bitte um Nachsicht. Aber wenn man selber eine Kirchenvorstellung hat, in der Staat und Kirche getrennt sind, ist das was anderes. Wenn die Kirche über der Moschee den Staat ersetzt, reden wir von zwei unterschiedlichen Schuhen zwar ein und desselben Paares, aber einer völlig anderen Entwicklung. Weil Sie das wissen, finde ich die Frage schofel. Vorschlag von Scheuer: "Eine richtige Ansatzdiskussion" Müller: Dann stelle ich noch eine schofelige Frage, wenn Sie mir gestatten. Goppel: Nur zu! Müller: Sie sagen, die Saudis dürfen das nicht. Dürfen das denn die Türken nach wie vor, DITIB, die Vereine? Dürfen die ihre Moscheen finanzieren? Goppel: Sie können alles so differenzieren in einem Telefonat, dass man am Ende an der einen Seite angegriffen werden kann, weil man zu einseitig ist, und an der anderen, weil ich zu großzügig wäre. Dass die Frage diskutiert werden muss, ob Kirche politische Zielsetzungen bei sich zum Hauptthema ernennt und die Politik der Kirche unterordnet, ist eine Frage, die jeder von uns zu erörtern hat. Wenn unser Generalsekretär, mein Nachfolger, wenn Sie so wollen, Nach-, Nach-, Nach-, Nachfolger, wenn der Generalsekretär sagt, er will nicht, dass Kirche an die Stelle des Staates tritt und umgekehrt, dann ist das eine richtige Ansatzdiskussion. Und wenn sie geführt werden muss, dann wollen wir sie differenziert ausführen und nicht so pauschal von vornherein sagen, oh, da geht einer zu weit. Müller: Ja, ja. Deswegen wollte ich ja fragen, um von der Verallgemeinerung, wie Sie ja gleich zu Beginn unseres Interviews gesagt haben, ein bisschen wegzukommen. Goppel: Ich bitte um Entschuldigung. Müller: Auslandsfinanzierung könnte man, sollte man verbieten. Da würden Sie noch mitgehen. Dann meine Frage: Wie können sich Moscheen, wie können sich die Gemeinden dann finanzieren? Vielleicht mit einer Moscheensteuer, ähnlich der Kirchensteuer, oder wie soll das funktionieren? Goppel: Nein, da bin ich genau derselben Meinung. Eine Sache, die wir auf der Basis unseres Grundgesetzes vereinbart haben, sagt genau, welche Form der Kirche eine staatliche Hilfestellung bei ihrer Finanzierung bekommt. Es geht nur um eine Hilfestellung. In dem Moment, wo die kirchliche Seite von sich aus sagt, sie sei wichtiger als der Staat, kommt sie unter dieser Überschrift auf jeden Fall nicht in den Genuss einer entsprechenden staatlichen Hilfe. Das ist meine Überzeugung. "Ein Prinzip, das nicht in unsere demokratische Rechtsordnung passt" Müller: Wenn die Moscheen das tun würden und sagen, wir unterstehen dem Primat des Staates, dann müssen wir überlegen, ob wir ein bisschen finanziell helfen? Goppel: Nein, nein. Wir müssen da ja vom Prinzip ausgehen, das was Sie im Koran und Suren und was weiß ich was überall zu lesen kriegen, bedeutet immer das, was bei uns ja früher durchaus auch war, dass der Kardinal oder der Bischof gleichzeitig dann auch der staatliche Herrscher und Chef war, dass das dann wieder eingeführt wird, wobei nicht die Wahl entscheidet, sondern die vorherige Ernennung. Dieses ist ein Prinzip, das in unsere demokratische Rechtsordnung nicht passt. Sie können auch sagen, nicht mehr, schon lange nicht mehr. Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der CSU-Politiker Thomas Goppel. Danke, dass Sie Zeit gefunden haben, und vielen Dank für die offenen Worte. Goppel: Gern, Herr Müller. Eine gute Zeit, Servus. Müller: Gleichfalls. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Thomas Goppel im Gespräch mit Dirk Müller
Der frühere CSU-Generalsekretär Thomas Goppel hat der AfD vorgehalten, Positionen seiner Partei zu übernehmen. Das sei aber kein Beleg dafür, dass die beiden Parteien gleich dächten, sagte Goppel im Deutschlandfunk. So habe sich die CSU als erste dafür ausgesprochen, dass Imame auf Deutsch predigen sollten.
"2016-04-20T08:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:25:02.377000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/haltung-zum-islam-goppel-csu-und-afd-denken-nicht-gleich-100.html
709
Finnlands Experiment mit dem Grundeinkommen
Arbeitslose in Finnland verlieren ihren Anspruch auf Hilfen bei einer Anstellung - auch bei nur kurz dauernder und schlecht bezahlter Beschäftigung (picture alliance / John Eveson) Es war ein weltweit beachtetes, teils bewundertes, teils aber auch kritisch gesehenes soziales Experiment, das die liberal-konservative Regierung in Finnland aber nicht nur aus Neugier oder Fortschrittsglauben beschlossen hatte, sondern auch aus blanker Not: Denn Finnland hat die Wirtschaftskrise nicht wirklich überwunden. Die Arbeitslosigkeit ist relativ hoch, der Arbeitsmarkt im radikalen Umbau und das Sozialsystem kompliziert und unflexibel. Deshalb der Gedanke mit dem Grundeinkommen. Zuversicht wurde gestärkt Es sollte helfen, die großen Verdienstunterschiede in der Bevölkerung zu verkleinern, das Sozialsystem zu verschlanken und die Menschen zu motivieren, sich erst einmal auch schlechter bezahlte oder Teilzeitarbeit zu suchen, am besten gleich ein kleines Unternehmen selbst zu gründen. 2.000 per Zufall ausgewählte Arbeitslose im Alter zwischen 25 und 58 Jahren haben also bis Ende 2018 kein Arbeitslosengeld mehr bekommen, sondern 560 Euro Grundeinkommen monatlich – keine Steuern, keine Fragen, keine Bedingungen. Jeder konnte, oder um ehrlich zu sein, sollte ohne Abzüge dazuverdienen. Gut einen Monat nach dem Ende des Experiments hat die finnische Sozialversicherung KELA nun die ersten Untersuchungsergebnisse vorgelegt und eine durchwachsene, allerdings auch nur vorläufige Bilanz gezogen. 560 Euro im Monat hätten das Leben der Bezieher tatsächlich verbessert, sagte Sozialministerin Pirrko Mattila: "Ohne ins Detail zu gehen, kann man feststellen, dass das Experiment einen positiven Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden der Teilnehmer hatte. Ihre Zuversicht, dass sie die eigene Zukunft und wirtschaftliche Situation selbst beeinflussen können, wurde gestärkt." Beschäftigungseffekt kaum messbar So weit, so gut: 2.000 Mal mehr Sicherheit, weniger Sozialbürokratie, damit weniger Stress und eine bessere Gesundheit. Aber kaum jemand von ihnen hatte nach dem Experiment einen festen Job. Also, Wohlfühleffekt bestätigt, Beschäftigungseffekt? Kaum messbar! Fast alle Teilnehmer sind inzwischen wieder im schwerfälligen System der finnischen Sozialhilfe. Ein harter Schlag vor allem für Leute, die sich nicht mehr so einfach selbst helfen können. Aila Jeskanen, zum Beispiel, eine schwer kranke Frau: "Mein Leben hat sich zum Schlechten verändert. Jetzt werde ich wieder wie Abschaum behandelt wie vor zwei Jahren. Um alles muss man betteln, alles verzögert sich, jetzt muss man wieder auf sein Geld warten." Auch wenn sich die Auswertung des Versuches bis ins kommende Jahr hinzieht, dürfte damit feststehen, dass Finnland sein Sozialsystem wenn, dann auf andere Weise reformiert. Fachleute erwarten am Ende einen Kompromiss als Ergebnis des Versuches. Denn das Grundeinkommen für alle wäre wohl doch zu teuer für die finnische Gesellschaft. Wahrscheinlicher ist, dass der Staat das bisher sehr komplizierte System der sozialen Sicherung seiner Bürger deutlich vereinfacht, mehr mit Pauschalbeträgen für einzelne Empfängergruppen arbeitet und finanzielle Sonderleistungen nur für Leute anbietet, die auch aus eigenem Antrieb etwas für die Gemeinschaft tun. Dieses Modell wird zurzeit als Alternative zum bedingungslosen Grundeinkommen im kleinen Rahmen ausprobiert.
Von Carsten Schmiester
Das bedingungslose Grundeinkommen wirkt sich positiv auf die Gesundheit von Arbeitslosen aus, beschleunigt aber nicht deren Rückkehr auf den Arbeitsmarkt: Zu diesem Ergebnis kommt ein zweijähriges Forschungsprojekt in Finnland. Das Land bereitet sich damit auf eine Reform seines Sozialsystems vor.
"2019-02-08T17:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:37:04.820000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sozialpolitik-finnlands-experiment-mit-dem-grundeinkommen-100.html
710
Schäuble plant ab 2015 ohne Neuverschuldung
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist stolz auf seine Finanzplanung bis 2018 - bereits ab 2015 will er ohne neue Schulden auskommen. (dpa picture alliance / Wolfgang Kumm) Sichtlich stolz ist Wolfgang Schäuble - auf den Bundeshaushalt 2014, mehr aber noch auf seine Finanzplanung bis 2018. Denn in dieser Finanzplanung steht die eine elektrisierende Zahl - die Null bei der Neuverschuldung. "Wir halten Wort, wir haben gesagt, wir wollen in dieser Legislaturperiode ohne neue Schulden im Bundeshaushalt auskommen. Wir werden im Jahre 2014 noch eine geringe Neuverschuldung haben. Sie wird nach dem verabschiedeten Haushaltsentwurf bei 6,5 Milliarden liegen. Und ab 2015 kommen wir ohne neue Schulden aus." Schäuble: Alles solide finanziert Zweifel an dieser Prognose hat der Finanzminister nicht. Alles sei solide finanziert, ohne dass diese Null gefährdet sei: Etwa die zusätzlichen Ausgaben von 23 Milliarden Euro, welche die große Koalition bis 2017 in Verkehrswege, Kitas, Schulen und Hochschulen stecken oder als Hilfen an die Kommunen auszahlen will. Gedeckt bis zu einem gewissen Grad sind aber auch das Risiko wieder steigender Zinsen oder ein höheres Kindergeld. "Wenn wir diese Entscheidung treffen, ist dafür im Haushalt Vorsorge getroffen. Haushaltsrisiken sind mit der Debatte nicht verbunden." Und trotz wachsender Sorgen in der Wirtschaft bleibt der Finanzminister auch mit Blick auf die Krise um die Ukraine gelassen. "Wir schätzen die finanz- und wirtschaftspolitischen Risiken aus der schwierigen Situation im Zusammenhang mit der Ukraine sehr ernst ein, glauben aber, dass die wirtschafts- und finanzpolitischen Auswirkungen beherrschbar sind und beherrschbar bleiben. Ich glaube, das gilt für Deutschland, das gilt für Europa insgesamt - bei einem einigermaßen noch rationalen Verlauf der Entwicklungen in den kommenden Jahren wird die Haushalts- und Finanzplanung davon nicht negativ berührt." Schäuble bestreitet "Tricksereien" Tatsächlich hat es Schäuble geschafft, in den letzten Jahren vor allem die Ausgaben in der Nähe von 300 Milliarden Euro im Jahr zu halten. Das – so sagt er selbst – war sein Erfolgsrezept, mit Tricksereien habe das nichts zu tun: "Wenn Sie bei wachsenden - moderat, aber nachhaltig wachsenden - Einnahmen die Ausgaben nicht steigern, dann kommen Sie, wenn Sie das konsequent machen, Sie müssen es nur ein paar Jahre durchhalten, tatsächlich auf null Verschuldung." An diesem Konzept hält Schäuble auch 2015 erst einmal fest. Danach sollen weiter steigende Steuereinnahmen mit den Ausgaben deckungsgleich bleiben, was dazu führt, dass beim Bund - Stand heute - die Ausgaben bis 2018 auf 327 Milliarden Euro anwachsen. Als zukunftsvergessen, unsolide und ungerecht kanzelt Sven-Christian Kindler, Sprecher für Haushaltspolitik bei den Grünen, den Etatentwurf ab. Schäuble erkaufe sich seine weiße Weste durch den dreisten Griff in die Sozialkassen bei Rente und Gesundheit. Das kritisiert auch die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Gesine Lötzsch von den Linken: Schäubles Null bei der Neuverschuldung sei keine ehrliche Null: "Es gibt ja noch andere Griffe in die Sozialkassen: Zum einen ist der Zuschuss für die Gesundheitskassen gekürzt worden und zum zweiten die Mütterrente. Diese Mütterrente ist ja etwas Zusätzliches, das müsste also aus dem Steueraufkommen bezahlt werden, wird aber aus den Sozialkassen bezahlt."
Von Theo Geers, Hauptstadtstudio
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat seine Finanzplanung bis 2018 vorgestellt. Bereits ab nächstem Jahr will er ohne Schulden auskommen - alles sei solide finanziert, ohne dass die Null gefährdet sei. Die Opposition nennt den Etat dagegen zukunftsvergessen und ungerecht.
"2014-03-12T17:05:00+01:00"
"2020-01-31T13:30:32.669000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/haushaltsentwurf-schaeuble-plant-ab-2015-ohne-100.html
711
"Unbestimmter gehts nicht"
Demonstranten fordern Schutz für die Luxleaks-Whistleblower (EPA/ JULIEN WARNAND ) Firmen und Behörden ab einer bestimmten Größe sollen zum Aufbau eines internen Meldesystems verpflichtet werden. Dieses muss klare Ansprechpartner für potenzielle Whistleblower nennen und dafür sorgen, dass ihre Identität vertraulich bleibt. Drei Monate hätten die Firmen oder Behörden Zeit, um auf Meldungen zu reagieren. Wenn diese Frist verstrichen ist, kann sich der Whistleblower an den staatliche Stellen wenden. Nur wenn die einzelne Behörde oder Firma keinen internen Meldeweg hat oder dieser versperrt ist - etwa weil das Management selbst in den Missstand verwickelt ist - soll sich der Informant auch gleich an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden wenden können, díe wiederum innerhalb von drei bis sechs Monaten reagieren müssen. Die Veröffentlichung der Gesetzesverstöße durch die Whisteblower selbst oder über die Presse oder Nichtregierungsorganisationen sieht die EU-Kommission als "letzten Ausweg". Er solle erst beschritten werden, wenn Firma, Behörde und Staat dem Missstand nicht abhelfen.So solle "ungerechtfertigter" Rufschaden verhindert werden. Kritik: Information der Öffentlichkeit steht nicht im Mittelpunkt Annegret Falter von der Selbsthilfeorganisation Whistleblower-Netzwerk e.V. zeigte sich im dlf zufrieden damit, dass die Politik nun "Einsicht" zeige, dass "Straftaten und Missstände häufig nur durch Insider erlangt werden" könnten. Allerdings kritisierte sie die Aussage von Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans, Informanten seien für Journalisten wichtig, damit diese ihre grundlegende Rolle in der Demokratie spielen könnten, als "reine Augenwischerei". Die Öffentlichkeit zu informieren, sei im Vorschlag der EU-Kommission eben nur die "Ultima Ratio" für den Whistleblower. Die von der EU geforderte Stufenregelung ist in ihren Vorgaben für Annegret Falter zu schwammig. "Unbestimmter gehts nicht!", meinte das Vorstandsmitglied des Whistleblower-Netzwerks. Sie kritisierte auch, dass die Möglichkeiten für Whistleblower, mit Journalisten Kontakt aufzunehmen durch den EU-weiten Ausbau von Überwachungssystemen erschwert werde. Ein umfassendes Whistleblower-Gesetz für Deutschland hält Falter für notwendig. Es brauche klare Vorgaben, "dass gravierende Rechtsbrüche nicht dem Geheimschutz unterliegen".
Annegret Falter im Gespräch mit Stefan Koldehoff
Die EU-Kommission hat heute einen Gesetzentwurf zum Schutz von Whistleblowern vorgestellt. "Eine grundsätzlich gute Entscheidung", meint Annegret Falter vom Whistleblower-Netzwerk im dlf-Interview. Doch das Papier bleibe hinter den Erwartungen zurück.
"2018-04-23T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:49:15.047000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schutz-fuer-whistleblower-unbestimmter-gehts-nicht-100.html
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Das Geschäft mit dem Abhören
Manfred Kloiber: Über diese Schwachstellen müssen sich natürlich auch die Beamten in der Regierung im Klaren sein, die von Amts wegen dafür zuständig sind, technische Risiken einzuschätzen. Dass sie die Risiken gut kennen, das zeigt die Klassifizierung auch des neuen, speziell gesicherten Handys der Kanzlerin. Es ist nämlich nur für Verschlusssachen, nur für den Dienstgebrauch zugelassen – also eine der schwächsten Geheimhaltungsklassen. Doch wie ist nach Handy-Gate die aktuelle Bedrohung technisch insgesamt einzuschätzen? Darüber habe ich kurz vor der Sendung mit Professor Dr. Hartmut Pohl gesprochen, der den Präsidiums-Arbeitskreis Datenschutz und IT-Sicherheit bei der Gesellschaft für Informatik leitet. Hartmut Pohl: Ich gehe davon aus, dass die Sicherheitsbehörden wissen, dass alle in der Bundesrepublik Deutschland vollständig abgehört werden, dass diese aufgefangenen Gespräche – hier Telefon, Festnetz, Handy, was immer Sie als Beispiel nennen – vollständig gespeichert werden. Und gleichermaßen – ob so ein Gespräch übers Internet geht oder nicht – ebenfalls im Internet alle Dienste, alle Daten vollständig gespeichert werden und irgendwann bei Bedarf, vielleicht auch sofort, ausgewertet werden. Das ist nichts Neues. Kloiber: Sie haben gerade "alle" gesagt. Wer ist "alle"? Pohl: Ich gehe davon aus, dass alle Deutschen vollständig abgehört werden. Kloiber: Das hört sich ja dann nach einem gigantischen Aufwand an. Nun wissen wir ja aus dem bisherigen Verlauf der NSA-Affäre, dass die Geheimdienste tatsächlich einen sehr, sehr großen Aufwand treiben. Sind es eigentlich nur die Geheimdienste, oder meinen Sie, dass die Überwachung umfänglicher ist? Pohl: Sie sagen ganz richtig "die Geheimdienste". Es ist beileibe nicht nur die NSA, es ist GCHQ, es sind die Franzosen – es ist ja alles veröffentlicht. Es sind die Schweden, es sind die Luxemburger, es sind also die Mitgliedsstaaten der EU. Es sind alle die Staaten weltweit, die es sich finanziell leisten können. Das sind mindestens die G20 oder die 35 finanzstärksten Staaten dieser Welt. Kloiber: Wie sieht es eigentlich aus mit nicht-staatlichen Stellen, sind die auch aktiv? Pohl: Ich gehe davon aus, dass die Techniken, die ja seit über zehn Jahren veröffentlicht sind, die hier von den Geheimdiensten genutzt werden, gleichermaßen von der organisierten Kriminalität genutzt werden, dass sie von Wirtschaftskriminellen genutzt werden, wo ja unmittelbar viel mehr Geld zu 'verdienen' ist als bei dieser politischen Spionage, die wesentlich ist für Verträge – zum Beispiel Aushandlung der Freihandelszone. Kloiber: Zur Wirtschaftsspionage, aber auch zur wirklich gefährlichen Spionage gehört ja auch dazu, dass die Geheimdienste nicht nur eben halt lauschen, was zum Beispiel Regierungsvertreter miteinander zu besprechen haben, sondern auch, dass sie versuchen, in strategische IT-Anlagen reinzukommen, die eben halt nicht nur zu belauschen sind, sondern eventuell auch zu kapern sind. Können Sie da Beispiele nennen? Pohl: Es ist veröffentlicht, dass die NSA bis zum Jahresende 85.000 Server weltweit gekapert haben will und Hintertüren nachhaltig eingebaut haben will, sodass diese Server jederzeit von ihr wieder kontaktiert und die angeschlossenen Netze ausgelesen und auch manipuliert werden können. Kloiber: Wenn man das alles weiß, so wie Sie das sagen – welche Geheimdienste da unterwegs sind, mit welchen Methoden sie unterwegs sind –, dann müssen doch die Staatsschutzorgane das auch alles wissen. Pohl: Ich gehe davon aus, dass das Wissensniveau der deutschen Sicherheitsbehörden nicht nur angemessen ist, sondern sehr hoch ist. Kloiber: Aber warum werden zum Beispiel dann Firmen nicht in die Lage versetzt, mit diesem Wissen, was die Staatsschutzbehörden vermutlicher Weise haben, ihre Rechner vernünftig zu schützen? Pohl: Das ist eine politische Frage. Der Gesetzgeber hat zum Beispiel beim BSI-Gesetz klar entschieden, dass Sicherheitslücken, also unveröffentlichte Sicherheitslücken, Zero Day Vulnerabilities, die dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bekannt sind oder bekannt geworden sind, von ihm nicht veröffentlicht werden müssen. Das macht einen begrenzten Sinn, weil natürlich das BKA für die heimliche Online-Durchsuchung und der BND im Ausland gleichermaßen derartige unveröffentlichte Sicherheitslücken unverzichtbar benötigen, um ihrem gesetzlichen Auftrag nachzukommen. Allerdings muss man auf der anderen Seite sehen, dass diese unveröffentlichten Sicherheitslücken fremden Nachrichtendiensten, der organisierten Kriminalität bekannt sind und von denen ausgenutzt werden können – zu Lasten deutscher Unternehmen, zu Lasten deutscher Arbeitsplätze. Kloiber: Heißt das dann, dass Sicherheitsbehörden relevante, also für die Sicherheit von Firmen zum Beispiel relevante Informationen unterdrücken, nur, um sie selbst nutzen zu können? Pohl: Ja, das ist der Fall und das will der Gesetzgeber auch so. Kloiber: Über Sicherheitslücken und Geheimdienstaktivitäten in deutschen IT-Netzen war das Professor Hartmut Pohl von der Gesellschaft für Informatik. Danke. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr zum Thema:"Kontrolle ist ja kein Misstrauen" - Der frühere BND-Präsident Hansjörg Geiger plädiert für klare Grenzen bei der GeheimdienstarbeitBosbach: Merkel ist "wirklich im Mark erschüttert" - CDU-Innenpolitiker empört über offensichtliches Abhören des Kanzlerinnen-HandysMerkel und Hollande sollen NSA-Affäre aufklären - EU-Gipfel ringt um Antwort auf US-SpähangriffeGöring-Eckardt: Brauchen eine öffentliche Debatte über NSA-Skandal - Spähaffäre: Grünen-Fraktionschefin fordert Sitzung des Bundestages
Hartmut Pohl im Gespräch mit Manfred Kloiber
"Ich gehe davon aus, dass alle Deutschen vollständig abgehört werden", sagt Professor Hartmut Pohl, Fachmann für IT-Sicherheit bei der Gesellschaft für Informatik. Zudem überwache längst nicht nur die NSA in großem Stil, sondern alle Staaten, die es sich finanziell leisten können.
"2013-10-26T16:30:00+02:00"
"2020-02-01T16:42:03.126000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-geschaeft-mit-dem-abhoeren-100.html
713
Der Meister des Lichts, wissenschaftlich enträtselt
Wie hat er das bloß gemacht? Diese Frage stellt sich bei Caravaggio besonders oft. Eine Ausstellung in Mailand fasst die Erforschung des Künstlers zusammen. Hier sein Bild "Salome mit dem Haupt Johannes' des Täufers" (Deutschlandradio / Tilmann Kleinjung) Vor Schmutz starren die Füße von Pilgern, die die "Madonna von Loreto" anbeten. In dem Gemälde "Salome erhält das Haupt des Täufers" schweben die Figuren in einem geheimnisvollen Dunkel. Und aus tiefen Schatten tritt uns auch das "Bildnis eines Malteserritters" entgegen und wirkt doch zugleich ungeheuer plastisch. Wie hat Caravaggio das bloß geschafft? Bereits Künstlerkollegen fragten sich neidisch, wie der Maler aus der Lombardei unter oft ungünstigen Umständen so präzise und meist auch schnell arbeiten konnte. Selten hatte der Einzelgänger Geld, um Modelle zu bezahlen, die er für seine realistischen Darstellungen brauchte. Und immer wieder war er auf der Flucht vor der Rechtssprechung. Verurteilungen wegen nicht bezahlter Rechnungen, unerlaubten Waffenbesitzes, gar wegen Mordes trieben ihn von Mailand nach Rom und bald weiter kreuz und quer durch Süditalien bis nach Malta. Über 50 bekannte Meisterwerke sind innerhalb von nur zwölf oder dreizehn Schaffensjahren entstanden. Dazu kommen verschollene Arbeiten. Caravaggio wird seit den 50ern geröntgt "Wissenschaftler sind schon länger dabei, sich zu fragen, welche Kniffe und Techniken er wohl bei seinen Arbeiten benutzt haben könnte. Zum Beispiel hatte man an Spiegel gedacht, mit denen er Abbilder auf die Leinwand projizierte. Andere Hypothesen sprachen von Kartonvorlagen wie bei der Freskotechnik." Claudio Falcucci ist ein Nuklearwissenschaftler, der sich auf die Untersuchung von Kunstwerken mit Strahlungsmethoden spezialisiert hat. Caravaggio war man bereits in den 1950er-Jahren mit ersten, noch rudimentären Röntgenbildern auf den Leib gerückt. "Inzwischen spielen Multispektraltechniken wie die Infrarotstrahlung eine Hauptrolle. Sie erlauben, ins Innere des Werkes vorzudringen und Informationen über einzelne Details zu geben, die mit der Röntendignostik nicht möglich sind." Keine kalte technische Ausstellung Die Mailänder Ausstellung versucht, die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Untersuchungen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Doch ist das keine kalte technische Ausstellung. In den einzelnen, ganz rot ausgeschlagenen Räumen werden die Gemälde auf Stellflächen gezeigt, die den Besuchern zugewandt sind. Eine geschickte Lichtregie entgeht der Gefahr, Bildern wie etwa dem "Malteserritter" von 1608 ihre von innen leuchtende Kraft zu nehmen. Auf den ersten Blick ist das also eine prächtige Ausstellung, die mit 20 Leihgaben von Museen aus den USA, England, Spanien und natürlich Italien in chronologischer Folge einen Querschnitt durch das Gesamtwerk von Caravaggio bietet. Die Kunsthistorikerin Rossella Vodret hat sie eingerichtet. Auf der Rückseite der Stellwände aber werden in einem Schattenbereich mit multimedialen Installationen zu jedem einzelnen Bild Beispiele der jüngeren Forschung präsentiert. Sie bestätigen etwa, dass Caravaggio etwa die Technik des "Abozzo" benutzte, eine Vorzeichnung mit Farbe und Pinsel für seine Figuren. Gut zu erkennen sind in den Infrarotaufnahmen auch die sogenannten "Pentimenti", also die Änderungen, die der Maler während der Arbeit an seinem Bildaufbau vornahm. So wanderte der Engel in dem Gemälde "Ruhe auf der Flucht nach Ägypten" vom rechten Bildrand in die Mitte. Caravaggio plante genau, was er malte Claudio Falcucci hatte in einer konzentrierten Untersuchung zwischen 2009 und 2012 alle in Rom vorhandenen Arbeiten des Malers unter die Lupe genommen: "Dadurch, dass wir in einem kurzen Zeitraum eine große Zahl von Arbeiten analysieren und vergleichen konnten, haben wir uns auch auf Aspekte konzentriert, die bislang eher vernachlässigt wurden. Ganz wichtig wurde etwa die Rolle der Grundierung." Es gehörte, von Caravaggios Romaufenthalt angefangen, zur Grundcharakteristik seiner Maltechnik, dass er nicht vom Hellen ins Dunkle, sondern vom Dunklen ins Helle malte. Bislang hatte man angenommen, dass die Grundierung für die einzelnen Arbeiten uniform sei. Jetzt aber stellt sich heraus, dass der Maler in einem Bild nebeneinander liegende, verschieden getönte Flächen anlegte. Unterschiedliche Grundierungen also für die entsprechenden Gegenstände und Personen des Bildes. Damit wird auch eine beliebte These widerlegt, Caravaggio habe seine Bilder in einer Art genialen Ekstase aus dem Stand ohne präzise Vorarbeiten geschaffen. Er kannte also im Gegenteil bereits bei der Anlage der Grundierung ganz genau den Aufbau des Bildes. Caravaggio, eigentlich Michelangelo Merisi, hatte nach einem unsteten Leben bis zu seinem frühen Tod 1610 im Alter von nur 38 Jahren ein Werk geschaffen, das die Kunst revolutionierte. Realistische Szenerien, schräg einfallendes Licht, und weite Schattenflächen verbanden sich zu einer nie gesehenen Plastizität. Über die Techniken seiner Malweise wurde lange und gerne gerätselt. Die Mailänder Ausstellung, die noch bis zum 28. Januar im Palazzo Reale zu sehen ist, fasst nun den aktuellen Stand einer Enträtselung zusammen und fasziniert zugleich mit den Originalen.
Von Henning Klüver
Wenn Caravaggio kommt, strömen die Besucher. 85.000 Vorbestellungen waren bereits eingegangen, als am Freitag in Mailand die Ausstellung "Dentro Caravaggio" eröffnet wurde. Der Titel - deutsch: "Caravaggio von innen" - weist auf eine Besonderheit hin: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse spielen eine Rolle.
"2017-10-02T17:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:54:03.153000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/caravaggio-ausstellung-in-mailand-der-meister-des-lichts-100.html
714
Der wachsende Einfluss von Hasspredigern
Es sind erschreckende Meldungen, die seit Monaten aus der Zentralafrikanischen Republik dringen: Mehr als eine Million Menschen sind aus Angst um ihr Leben auf der Flucht, die Zahl der Toten geht in die Tausende. Und immer wieder spielt Religion eine Rolle. Muslimische Rebellen brennen die Häuser von Christen nieder, christliche Milizen vertreiben Muslime. Der Hass auf die jeweils Andersgläubigen wird bewusst geschürt, glaubt der kamerunische Anwalt Bernard Acho Muna, der derzeit gemeinsam mit zwei weiteren Experten im Auftrag der UNO Menschenrechtsverletzungen in dem Land untersucht. "Wir hoffen, dass unsere Anwesenheit und unsere Untersuchungen ein Signal an alle Hassprediger sein wird, aufzuhören und niemanden mehr aufzuhetzen – sie müssen wissen, dass sie sich andernfalls vor Gericht verantworten müssen." Das Schüren von religiösem Hass ist nicht nur ein Problem in der Zentralafrikanischen Republik. Das Phänomen nehme weltweit zu, warnt der UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, der Deutsche Heiner Bielefeldt. Dabei sei besonders wichtig, religiösen Hass nicht losgelöst von der Gesamtsituation zu betrachten. "Ich habe Überschriften gesehen, zum Teil auch in deutschen Zeitungen: Konflikt zwischen den Religionen – das erweckt den Eindruck, als seien die Konfliktursachen gleichsam in der Ferne zu suchen, in ewigen Differenzen zwischen Islam und Christentum. Und das führt ganz und gar in die Irre." Im Falle der Zentralafrikanischen Republik macht Bielefeldt zunächst ein umfängliches Staatsversagen für die Krise verantwortlich. Die Menschen hätten dadurch ihr Vertrauen in die öffentlichen Institutionen verloren. "Es entsteht ein Klima von Paranoia, wo Menschen sich sehr an bestimmte Gruppen halten und eine Gesellschaft zerfällt in Stämme, die es nie gab. Das gilt übrigens nicht nur für afrikanische Gesellschaften. Die Tribalisierung der Gesellschaft läuft dann teilweise unter religiösen Vorzeichen." Religiöse Gewalt bricht jedoch nicht plötzlich aus wie ein Vulkan. Das ist eine der Kernbotschaften des Berichts zum Thema Religionshass, den Heiner Bielefeldt jetzt dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt hat. Religionshass sei immer menschengemacht. Staaten müssten ihm aktiv entgegen treten. "Es geht darum, Hass-Rede zu bekämpfen. Staaten haben dafür eine Verantwortung. Und die Verantwortung hat zwar auch ihre repressive Seite – Strafrecht – aber sie ist vor allem eine eher kreative Seite, also nicht durch Verbote zu reagieren, sondern durch bessere Kommunikation, faire Berichterstattung, interreligiöse Verständigung, Projekte, wo Menschen Grenzen überwinden." Wo Staaten religiöse Toleranz zulassen und fördern, so Bielefeldts Überzeugung, da wird Religionshass und Extremismus automatisch Einhalt geboten. Vorausgesetzt, die religiösen Führer nutzen ihre Freiheit verantwortlich. Denn dass auch sie eine Verantwortung dafür haben, Hassprediger in die Schranken zu weisen und radikale Strömungen in den eigenen Reihen zu bekämpfen, ist für Bielefeldt klar. "Das ist schon wahr, dass natürlich Religion auch ein aktiver Faktor des Konfliktgeschehens sein kann. Und deshalb ist es auch nicht gleichgültig, wie Religionsgemeinschaften ihre Botschaft formulieren – als eine der Inklusion oder der Ausgrenzung. Das ist keinesfalls gleichgültig." Religiöser Hass hat viele Gesichter – das hat Bielefeldt nicht zuletzt auf seinen Reisen feststellen müssen. Etwa in Indien, wo aus seiner Sicht religiöse Minderheiten systematisch eingeschüchtert werden: mit Übergriffen bis hin zu gezielten Massenmorden, an denen auch staatliche Institutionen beteiligt sein sollen. "Es gibt schon Teile des Staatsapparats, die aktiv mitmachen bei Hassakten oder zumindest eine Art Sympathie zeigen. Und das wird mir auch in Ägypten berichtet. In Gewaltakten gegenüber Minderheiten, das können Christen oder Bahais oder liberale Muslime sein – wo dann auch wieder Teile des Staatsapparats doch erstaunlich spät reagieren, wo dann doch der Eindruck manchmal entsteht, wir haben nicht nur Staatsversagen, sondern auch Stillschweigen oder halb zugestandene Sympathie mit Gewaltakten." Doch es gibt auch positive Beispiele. In Sierra Leone etwa, jenem westafrikanischen Land, das in den 1990er-Jahren einen der blutigsten Bürgerkriege auf dem Kontinent erlebt hat. Heute arbeiten Muslime wie Christen gemeinsam daran, die Gräuel der Vergangenheit zu überwinden – in interreligiösen Räten etwa, die Toleranz predigen und gemeinsame Friedens-Strategien schmieden. "Mehrheitlich Muslime, Minderheit Christen, aber auch die verschiedenen muslimischen Gruppen, Schiiten, Sunniten, Ahmadis, verschiedene christliche Gruppen arbeiten zusammen, um das Land wieder auf die Beine zu bringen, und haben durchaus auch immer mal die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass solche negativen Tendenzen – also religiöser Radikalismus – auch die Gesellschaft in Sierra Leone infizieren könnte." Schließlich liegt Nigeria mit seinen religiös motivierten Unruhen nicht weit entfernt. Doch die Strategie in Sierra Leone zeigt Wirkung und könnte auch für die Zentralafrikanische Republik hilfreich sein. Der UN-Menschenrechtsexperte Acho Muna jedenfalls setzt auch auf Gespräche mit Religionsführern. "Wir warten nicht darauf, dass es einen Völkermord gibt, sondern wir werden jeden Versuch darauf hinzuwirken, unterbinden. Wir werden dafür mit Religionsführern sprechen und mit Menschen in den Dörfern, mit jedem, der uns Informationen geben und helfen kann." Dass manche Imame und Bischöfe in der Zentralafrikanischen Republik inzwischen gemeinsam zu einem Ende der Gewalt aufrufen, darf als erstes positives Signal gewertet werden.
Von Marc Engelhardt
Muslime ermorden Christen, Christen töten Muslime: Die Zentralafrikanische Republik ist das derzeit bedrückendste Beispiel dafür, wie brutal Anhänger verschiedener Religionsgemeinschaften gegeneinander vorgehen.
"2014-03-26T09:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:47.130000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/religioeser-fanatismus-der-wachsende-einfluss-von-100.html
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Was Deutsche und US-Amerikaner voneinander halten
Aus Sicht vieler Deutscher nicht gerade beste Freude: Angela Merkel und Donald Trump (AFP / Nicholas Kamm) US-Präsident Donald Trump ist meist nicht gut auf Deutschland zu sprechen: Deutschland verkaufe zu viele Autos in den USA, exportiere generell zu viel und kaufe zu wenig. Die Zinsen in Deutschland seien zu niedrig. Deutschland gebe zu wenig Geld für die Ukraine und für die NATO. Trumps Vorwurf: Deutschland und die anderen europäischen Länder hätten die Europäische Union gegründet mit dem Ziel, den USA zu schaden. Im Februar sagte Trump wieder, die USA würden von vielen Ländern ausgenutzt, besonders von Alliierten. Manchmal seien Alliierte dabei besser als der Feind. Mehrheit der Amerikaner meint, das Verhältnis sei gut Trumps Stänkerei gegen den Alliierten Deutschland beeinflusst die Amerikaner allerdings nur wenig. Eine Umfrage von Körber-Stiftung und Pew-Research-Center zeigt, dass 75 Prozent der befragten Amerikaner das Verhältnis beider Länder als "gut" einschätzen. Der Wert ist während Trumps Präsidentschaft sogar gestiegen. Pew-Umfragenexperte Jacob Poushter sagte, auch wenn man sich die Parteien in den USA getrennt ansehe: Sie hätten nicht festgestellt, dass das grundsätzliche Deutschland-Bild bei Trumps Republikanern besonders negativ sei. Poushter verwies auf den Streit, wie viel NATO-Mitglieder für Verteidigung ausgeben sollen. Trump fordert ja mindestens zwei Prozent, Deutschland ist weit davon entfernt. 2017 meinte fast die Hälfte der Amerikaner, die europäischen Alliierten sollten ihre Ausgaben steigen. Jetzt ist das Thema nicht mehr so prominent in der öffentlichen Debatte – und die Hälfte meint, es reiche, wenn sie ihre Ausgaben beibehielten. Das zeige, was es für die öffentliche Meinung bedeutet, wenn über ein Thema besonders gesprochen werde. Besonders ein Thema, dass in den USA parteilich gesehen werde. Beim Thema Verteidigungsausgaben waren demokratische Wähler den Europäern nämlich schon immer nachgiebiger als die Republikaner. Mehrheit der Deutschen meint, das Verhältnis sei schlecht Was amerikanischen Außenpolitik-Experten Sorgen macht: Während die US-Amerikaner das Verhältnis zu Deutschland grundsätzlich positiv sehen, ist es bei den Deutschen andersherum. 64 Prozent halten das Verhältnis für schlecht. Bei vielen Sicherheitsfragen liegen die öffentlichen Meinungen auseinander. Ist es manchmal nötig, militärische Gewalt einzusetzen? Bei den Amerikanern sagten 78 Prozent ja, bei den Deutschen 47 Prozent. Sollte das eigene Land ein NATO-Mitglied verteidigen, das von Russland angegriffen wird? 60 Prozent der Amerikaner sagten ja, 60 Prozent der Deutschen – nein. Über die Hälfte der Deutschen würde den Verteidigungsetat verdoppeln, wenn sie damit mehr Unabhängigkeit von den USA bekommen könnten. Umfragen aus den vergangenen Jahren zeigen, dass das Amerika-Bild der Deutschen maßgeblich auch vom aktuellen Präsidenten bestimmt wird. Die Amerikaner sind in ihrem Deutschland-Bild konstanter, was auch daran liegen mag, dass sie die deutsche Politik bei weitem nicht so aufmerksam verfolgen wie die Deutschen die US-Politik. Pew-Umfragenexperte Jacob Poushter verweist auf die 35.000 US-Soldaten, die in Deutschland stationiert sind: 85 Prozent der Amerikaner sagten, die Truppen in Deutschland seien sehr wichtig für die amerikanische Sicherheit. Das zeige eine Verbundenheit, die über den Alltag hinausgehe.
Von Jan Bösche
Wie gut Deutschland und die USA sich verstehen, darüber gehen die Meinungen in den beiden Ländern doch erheblich auseinander. Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, sind sich Deutsche und US-Amerikaner unter anderem uneins in verteidigungspolitischen Fragen.
"2020-03-10T05:05:00+01:00"
"2020-03-17T08:59:29.312000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umfrage-was-deutsche-und-us-amerikaner-voneinander-halten-100.html
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"Erdogan ist nicht die Türkei"
Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfolgen fahnenschwingend eine seiner Wahlkampfreden. (dpa / Oliver Weiken) Christoph Heinemann: Den politischen Begriff Kohabitation kennt man aus Frankreich: wenn ein Präsident mit einer gegnerischen Parlamentsmehrheit leben muss. Darauf könnte das Ergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei hinauslaufen: Erdogan hat die Wahlen wegen der schweren Wirtschaftskrise um ein Jahr vorgezogen, in der Hoffnung, dass der Verfall der Währung und die wachsende Arbeitslosigkeit noch nicht bei den Menschen angekommen sind. Sind sie aber. Gewählt wird nach originellen Regeln: Als Wahlzettel gelten auch solche, die nicht offiziell abgestempelt wurden. Dass bei solchen Bedingungen Zuschauer unerwünscht sind, ist verständlich: Deshalb ist Andrej Hunko von der Linkspartei, als Wahlbeobachter der OSZE in der Türkei nicht erwünscht. Gestern habe ich mit Sevim Dagdelen gesprochen, sie ist stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke und Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Wahlkreis Bochum I. Trotz aller Widrigkeiten: Erdogan erfährt immer noch große Unterstützung in der Bevölkerung. Deshalb habe ich sie gefragt, was ihr Positives zu Erdogan einfällt. Sevim Dagdelen: Positives fällt mir ein, dass er anfangs tatsächlich einen Anspruch hatte, nicht die Politik zu machen, die seine Vorgänger gemacht haben, Korruption, tiefen Staat und vor allen Dingen auch den Rechtsstaat abzubauen. Das war ein Anspruch, aber diesem Anspruch ist er nicht gerecht geworden. Heinemann: Warum sehen so viele Türkinnen und Türken das anders? Dagdelen: Wir haben ein Problem in der Türkei: Beispielsweise dadurch, dass viele Journalistinnen und Journalisten in Haft sind, oder es auch eine Gleichschaltung gibt in der Presse, gibt es keine Meinungsvielfalt, keine Pressevielfalt und dadurch natürlich auch keine Informationsfreiheit. Viele Menschen nehmen nur das wahr, was vor allen Dingen regierungsparteinahe oder ihr zugeordnete Medien berichten und unterrichten. Und deshalb ist ja beispielsweise auch jetzt der Wahlkampf in keinster Weise fair oder frei, weil die Präsidentschaftskandidaten der anderen Parteien kaum in den Medien vorkommen. Heinemann: In Deutschland gibt es Meinungsvielfalt und Pressefreiheit. Dennoch: Viele Menschen mit türkischer Herkunft unterstützen Erdogan. Wie erklären Sie sich das? Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion (dpa) "Wirtschaftswachstum war auf Pump gebaut" Dagdelen: Es gibt ja auch nicht nur Negatives. Die AKP hat gerade in den ersten Regierungsjahren einen relativen Wohlstand für Millionen Menschen geschaffen. Sie haben durch Infrastrukturmaßnahmen eine Anbindung der städtischen Bevölkerung an die Landbevölkerung, flächendeckende Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt. Es gab schon Verbesserungen. Aber das, was an Wirtschaftswachstum in diesen ersten Regierungsjahren vor allen Dingen war, lange Zeit auch ging, war beispielsweise auch, dass dieses Wirtschaftswachstum, was den relativen Wohlstand mit begründet hat, eines war, was auf Pump aufgebaut war, eine Schuldenblase vor allen Dingen, durch Auslandschulden, durch Direktinvestitionen aus dem Ausland. Das bleibt jetzt aus und deshalb kriselt es auch immer mehr und deshalb bröckelt auch die Unterstützung für die Regierungspartei und den amtierenden Präsidenten. Heinemann: AKP und MHP steht ein Wahlbündnis gegenüber aus Säkularisten, Nationalisten und Islamisten. Was verbindet die drei außer ihrer Abneigung gegen Erdogan? Dagdelen: Zum ersten, was Sie gesagt haben, die Säkularität, dass der politische Islam … Heinemann: Nun gut, die Islamisten ja vielleicht nicht. Dagdelen: Nein, die Saadet-Partei nicht, obwohl sie ja auch heute noch mal erklärt haben, der Vorsitzende der Saadet-Partei, dass sie schon den Rechtsstaat wiederherstellen wollen, der abgebaut worden ist durch die Regierungspartei AKP und den Präsidenten Erdogan, und dass sie beispielsweise doch aber für einen säkularen Staat stehen. Durch die Zunahme des politischen Islam, durch die Muslim-Brüder selbst, Präsident Erdogan und seiner ganzen islamistischen Regierungspartei AKP gab es ja einen enormen Wandel in der Türkei seit der Staatsgründung, nämlich dass es eine Trennung von Staat und Religion geben sollte. Dieser Laizismus ist es, was viele verbindet, auch die, die religiös sind in der Saadet-Partei. "Insofern kann man nicht von freien und fairen Wahlen sprechen" Heinemann: Sie haben es eben schon mal angesprochen. Unter welchen Umständen findet diese Wahl statt? Wie fair und frei kann sie noch sein? Dagdelen: Wir haben den Umstand, dass der Ausnahmezustand seit dem Putschversuch im Sommer 2016 immer noch gilt, dass Präsidentschaftskandidaten wie der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, hinter Gittern in Untersuchungshaft ihren Präsidentschaftswahlkampf machen müssen. Und es gibt keinen einzigen, wirklich nachvollziehbaren Grund, warum er weiterhin in Untersuchungshaft bleiben soll, auch bei diesem Wahlkampf. Dutzende Journalistinnen und Journalisten sind in Haft. Es sind Hunderte, Tausende Mitglieder, Funktionäre, Amtsträger, Mandatsträger der HDP, aber es gibt auch Mandatsträger der Sozialdemokratischen Partei CHP im Knast. Es gibt eine Gleichschaltung in der Presse. Man kommt nicht vor in der Presse. Presse wie CNN Türk bricht einfach die Berichterstattung ab bei der Wahlkampfrede des sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince, weil der Inhalt nicht mehr konform ist mit der Staatsmeinung. Insofern kann man nicht von freien und fairen Wahlen sprechen, auch beispielsweise dadurch, dass die Wahllokale ganz besonders in den von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebieten im Südosten des Landes ja sehr weit angelegt worden sind, dass Menschen eigentlich entmutigt werden sollen, an der Wahl teilzunehmen, und das macht vielen Menschen in der Türkei Sorge. "Bundeskanzlerin Merkel sollte nicht immer mit Erdogan ein Kaffeekränzchen im Palast abhalten" Heinemann: Diese ganzen Missstände, die Sie jetzt aufgeführt haben, Frau Dagdelen, hindern viele Menschen nicht daran, trotzdem Erdogan zu unterstützen und diese Umstände hinzunehmen. Ist die parlamentarische Demokratie vielleicht dann einfach nicht die richtige Regierungsform für die Türkei? Dagdelen: Das bezweifele ich. Wir haben ein Problem natürlich, dass Menschen auch in Deutschland, gerade in Deutschland ist es ja erschreckend, dass Menschen, die in einer Demokratie leben, in einem Rechtsstaat leben, von hier aus eine Partei unterstützen, die den Rechtsstaat abbaut, die die Türkei in einen islamistischen Unterdrückungsstaat umbaut, die deutsche Staatsangehörige aus politischen Gründen in Haft nimmt mit absurden Vorwürfen, Journalisten, Menschenrechtler aus Deutschland, und dass diese Menschen, die in Deutschland ja seit Jahren und Jahrzehnten leben, diese Partei wählen. Das ist etwas, was besonders für Soziologen offensichtlich ein Untersuchungsgegenstand sein sollte. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Türkei. (dpa / Carsten Rehder) Erdogan ist nicht die Türkei. Erdogan steht für eine Minderheit in der Türkei. Und die türkische Nationalversammlung, die besteht nicht nur aus der Regierungspartei AKP oder seinen nationalistischen reaktionären Bündnispartnern der MHP. Da sind auch andere Kräfte, auch in der Türkei in der Gesellschaft. Und wichtig wäre es, ihnen eine Stimme zu geben, ihnen ein Gehör zu geben, und natürlich auch, sie zu unterstützen. Dazu gehört, wenn Frau Bundeskanzlerin Merkel die Türkei besucht, dass sie nicht nur immer im Palast vorbeischaut, mit Erdogan dort ein Kaffeekränzchen abhält, sondern auch die demokratische Öffentlichkeit in der Türkei trifft. Heinemann: Zu dem zurück, was Sie eben gesagt haben. Viele Menschen mit türkischen Wurzeln hierzulande unterstützen Erdogan. Andere mit kurdischen Wurzeln unterstützen die Terrororganisation PKK. Was sagt das aus über die Integration dieser Menschen? Man kann ja nicht behaupten, dass die die Werte des Grundgesetzes verinnerlicht hätten. Dagdelen: Wir haben zwei Probleme, was Sie damit ansprechen. Das eine ist, dass wir die Polarisierung in der Gesellschaft in der Türkei eins zu eins wiedererleben auf deutschem Boden. Das hat auch damit zu tun, dass die Organisationen und Verbände sehr stark hier organisiert sind, sich hier auch mobilisieren, was auch teilweise gefördert wird vom deutschen Staat - Stichwort das Netzwerk, der lange Arm von Erdogan in Deutschland durch die deutsch-türkische Moschee-Vereinigung DITIB, die ja als gemeinnützig anerkannt ist in Deutschland, obwohl sie gemeingefährlich ist, beispielsweise durch die Spionage, die die Imame hier getätigt haben gegenüber Andersdenkenden, oder durch die Verrohung, durch die Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen in den Moschee-Vereinigungen für die politischen Zwecke in der Türkei, oder die Lobby-Organisation UETD, die Schlägerbanden Osmanen Germania, gegen die ja in Stammheim jetzt der Prozess gemacht wird. Die lassen sich hier nieder, organisieren hier tatsächlich eine Neben-Außenpolitik der türkischen Regierung, eine Diaspora-Politik zur Unterstützung ihrer Fünften Kolonne, und dann hat man die andere Seite. Und das Problem ist, dass die deutsche Bundesregierung und auch die Landesregierungen das lange einfach dulden und das gewähren - mit dem falschen Verständnis von, wir lassen die einfach unter sich das ausmachen. Das ist aber keine aktive Integrationspolitik. Unser Ziel muss es sein, diese Menschen für unsere Gesellschaft zu gewinnen. Heinemann: Aber die Menschen, die sich entschlossen haben, hier zu leben, in zweiter, dritter Generation, die müssten doch eigentlich sagen: Okay, wir sind jetzt hier in Deutschland, für uns gelten auch die Werte des Grundgesetzes, wir sind im Prinzip immun gegen all diese Einflüsse. Sind sie aber nicht. Dagdelen: Nein, sind sie nicht. Aber wir als deutsche Politikerinnen und Politiker, wir als die Verantwortlichen können auch etwas dazu beitragen, dass das passiert. Heinemann: Müssen die nicht erst mal selber was dazu beitragen? Dagdelen: Selbstverständlich sollten sie das tun. Aber wir dürfen nicht diese Verbände hier fördern, mit Millionen von Steuergeldern auch noch aufpimpern. Beispielsweise die Deutsch-Türkische Moschee-Vereinigung: Wieso müssen Imam-Importe stattfinden? Wieso können wir das nicht selber erledigen und dadurch natürlich auch besser kontrollieren, dass das nach unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, nach unseren Werten tatsächlich passiert, was da für eine Vermittlung auch von Inhalten stattfindet? Das wird nicht gemacht. Das Zweite ist: Wenn es um Integrationspolitik der türkischsprachigen Bürgerinnen und Bürger geht, sagt die Bundesregierung, dass die türkische Regierung ihr Ansprechpartner sei. Das ist doch eine vollkommen absurde Integrationspolitik. Warum soll ein Präsident in einem fremden Staat, einer fremden Regierung der Ansprechpartner sein, der Vertreter sein von hier lebenden Menschen! "Ich fand das Verhalten von Özil und Gündogan ein sehr, sehr grobes Foul" Heinemann: Apropos mein Präsident. Wir müssen reden (Fußball-Weltmeisterschaft) über Mesut Özil und Ilkay Gündogan. Deren Besuch bei Erdogan, die peinliche Widmung des Trikots hat viele Menschen hierzulande extrem verärgert. Verstehen Sie diese Heftigkeit der Reaktionen? Dagdelen: Ich fand das Verhalten von Özil und Gündogan ein sehr, sehr grobes Foul. Während Demokraten, Journalisten in der Türkei in Haft sitzen aufgrund ihrer Meinung, haben sie sich in einem Londoner Luxushotel mit dem Präsidenten der Türkei getroffen und ihn als ihren Präsidenten bezeichnet. Recep Tayyip Erdogan (r.), Staatspräsident der Türkei, zusammen mit den deutschen Fußball-Nationalspielern Ilkay Gündogan (l.) und Mesut Özil. (Uncredited / Pool Presdential Press Service / AP / dpa) Das finde ich schon völlig daneben. Ich finde, Spieler der deutschen Nationalmannschaft sollten für Fair Play stehen - nicht nur auf dem Rasen, sondern auch in der Gesellschaft. Sie sind Vorbilder und sollten sich dieser Funktion eigentlich bewusst sein. Insofern halte ich die Kritik für völlig berechtigt an Özil und Gündogan. Das heißt aber nicht, dass jetzt diejenigen, die sowieso türkenfeindlich sind oder einen Hass haben auf Menschen, die irgendeiner anderen Herkunft angehören, dass sie nicht auch ein grobes Foul jetzt begehen. Das erinnert mich auch an die AKP-Politik. Diejenigen, die Gündogan und Özil jetzt kritisieren, vermeintlich wegen einer Gefühlslage - Özil würde sich nicht im Trikot wohlfühlen … Heinemann: Lothar Matthäus hat das gesagt. Dagdelen: Ja, ein Pseudopsychologe jetzt, der interpretiert, ob sich jemand in einem Trikot wohlfühlt oder nicht. Das ist ja eigentlich die gleiche Art der Diffamierung, der Denunziation, der Verleumdung von Menschen, wie sie die AKP-Regierungspartei in der Türkei auch macht mit Andersdenkenden, und das sollte nicht der Umgang sein, den wir Demokraten in Deutschland haben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sevim Dagdelen im Gespräch mit Christoph Heinemann
Am Sonntag wählt die Türkei einen Präsidenten und das Parlament. Da es in der Türkei keine Informationsfreiheit gebe, nehmen viele Menschen nur das wahr, was regierungsparteinahe Medien berichten, sagte Sevim Dagdelen von der Linkspartei im Dlf. "Insofern kann man nicht von freien und fairen Wahlen sprechen."
"2018-06-22T06:50:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:17.488000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/praesidentschaftswahl-in-der-tuerkei-erdogan-ist-nicht-die-100.html
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Nicht ohne meinen Politberater!
In "Die Lobbyistin" wechselt Eva Blumenthal (Rosalie Thomass) die Seiten, um eine Schmutzkampagne zu beenden (ZDF und Christoph Assmann) "Wann kommen Sie denn jetzt zu uns, Frau Blumenthal?" "Bieten Sie mir gerade ernsthaft einen Job in Ihrer Lobbyagentur an?" "Sagen wir doch Beratungsagentur." "Die Lobbyistin" läuft noch nicht einmal zwei Minuten, da wundert sich der Zuschauer das erste Mal. So plump soll es also laufen in Berlin? Lobbyisten werben charismatische Jungpolitikerinnen ab, indem sie ihnen einen Espresso Macchiato spendieren und einen Platz in ihrer Luxuslimousine anbieten. Das Getränk ist fast so überholt wie die platten Sprüche. "Ich bin Politberater geworden, weil ich gestalten will, weil ich verändern will." Eine Politikerin wechselt die Seiten Die aufstrebende Politikerin Eva Blumenthal wirkt zunächst standfest, engagiert für die Umwelt und keinesfalls käuflich. Eva Blumenthal - gespielt von Rosalie Thomass - wird Opfer einer Intrige; und um ihre Unschuld zu beweisen, wechselt sie rasch die Seiten. Denn sie vermutet den Übeltäter in den Reihen der Lobbyisten. Ihr erster Arbeitstag in der größten Lobbyagentur - oder wie es so schön heißt: "im Politberaterbüro" - bedient jedes Klischee. "Ah ja, er hier war früher im Verkehrsministerium. Er hat damals die Abwrackprämie eingetütet. Übrigens eine Idee der Autobranche." "Hat er auch bei Dieselgate mitgemischt?" Diese Szenen sind genauso hanebüchen wie der plötzliche Tod eines Ministers, die Figur des psychisch stark gestörten Bruders der Protagonistin und die Tatsache, dass ihr neuer Chef sie nicht feuert, obwohl sie ständig querschießt. "Hat nicht die Gegenseite die besten Argumente? Die Gesundheit unserer Kinder." "Wie lange soll das noch so gehen? Sie kommen mir vor wie eine 15-jährige Göre, die ständig Widerworte gibt. Sie wollten diesen Job. Dann machen sie ihn doch auch." Alle Lobbyisten sind böse Lobbyismus ist ein äußerst komplexes Thema, wie man augenblicklich wieder an den CO2-Verhandlungen beim Weltklimagipfel in Bonn verfolgen kann. Die ZDFneo-Serie simplifiziert: Alle Lobbyisten sind böse, ob auf Seiten der Umweltaktivisten oder auf Seiten von Energieriesen. Eine Plattitüde reiht sich an die nächste. Die politischen Bezüge sind so zäh und unverständlich wie eine Gesetzesvorlage. Dazu eine Bildästhetik, die ebenso konventionell ist wie die Kameraführung. Die Schöner-Wohnen- und Schöne-Menschen-Optik gleicht einer uninspirierten Vorabendserie, während die Story wilde Kapriolen schlägt. Wie schon bei der kürzlich gescheiterten ZDFneo-Serie "Zarah - Wilde Jahre" rund um eine mutige Journalistin im Deutschland der 70er-Jahre steht auch hier eine vermeintlich emanzipierte, toughe Frau im Mittelpunkt. Emanzipiert heißt im Fall der Serienmacher: Eva Blumenthal hat mit Wissen ihres Freundes Sex mit wem sie mag und wenn kein anderer Mann zur Hand ist, dann befriedigt sie sich selbst zwischen zwei Terminen auf der Damentoilette. "Diese Talkerin steht doch auf Frauen. Lassen Sie ihren Charme spielen." Nicht so gut wie "Die Erfindung der Wahrheit" Spätestens bei solchen Sätzen sinkt die Betrachterin vor Fremdscham tief in den Sessel. Gleiche Rechte für Frauen - aber bitte mit mehr Tiefgang erzählt und ohne dumme Sprüche. Wie man es deutlich besser machen kann, zeigte der Politthriller "Die Erfindung der Wahrheit" mit Jessica Chastain, die eine Lobbyistin im Machtzentrum Washingtons vielschichtig verkörpert hat. In einem Film, der Waffen-Lobbyarbeit in all seiner kaltschnäuzigen Dimension präsentiert. Natürlich ist es nicht fair, eine ZDFneo-Serie mit kleinem Budget mit einer teuren Hollywood-Produktion zu vergleichen, aber es liegt sicher nicht nur am Geld, dass dieses neueste ZDF-Serienproduktes so ärgerlich ist. Wie schon bei "Zarah - Wilde Jahre" und bei dem weiteren Serienneustart "Bruder - Schwarze Macht" wollen die Macher zu viel und lösen zu wenig ein. "Ich hab's versaut, Lea." "Dann beweist Du deine Unschuld eben anders. Ich kann sowieso nicht glauben, dass Du dafür die Seiten wechselst." An "Lobbyistin"-Hauptdarstellerin Rosalie Thomass liegt es allerdings nicht, dass die Serie nicht funktioniert. Sie schafft es zumindest hin und wieder, mit ihrer Kamerapräsenz und ihrem ausdrucksstarken Minenspiel den Zuschauer zu fesseln. Leider kann das die Serie auch nicht retten. "Die Lobbyistin" - ab Mittwoch den 15.11.2017 um 21:45 Uhr bei ZDFneo und im Anschluss dann in der Mediathek mit allen sechs Folgen.
Von Susanne Luerweg
Eine erfolgreiche Politikerin wechselt in eine Lobbyagentur, ein unliebsamer Minister landet tot in der Spree und Politik wird bei Champagner und Hummer gemacht: Die neue ZDFneo-Serie "Die Lobbyistin" versucht sich an der komplexen Darstellung des Politbetriebes - und scheitert auf ganzer Linie.
"2017-11-14T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T11:00:58.657000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zdfneo-serie-die-lobbyistin-nicht-ohne-meinen-politberater-100.html
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"Grundatmosphäre für Eishockey so gut wie selten"
Spielszene vom 1. Spieltag der Eishockey-Saison 2019/20: Eisbären Berlin gegen Grizzlys Wolfsburg. (dpa / picture alliance / Andreas Gora) Zum Saisonauftakt der DEL blickte Geschäftsführer Gernot Tripcke erst noch einmal zurück: Auf die Champions League Finalteilnahme des EHC Red Bull München im Februar 2019 sowie auf den 6. Platz des deutschen Nationalteams bei der WM im Mai. "Die Grundatmosphäre für Eishockey ist so gut wie selten", sagte Tripcke in der Sendung "Sport am Sonntag". "Wir sind ein Zuschauer-Sport" So spüre er etwa auch eine stärkere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und freue sich über mehr Live-Übertragungen - wenn auch zu einem großen Teil im Pay-TV-Bereich. Man müsse "in kleinen Schritten immer weiter gehen", so Tripcke, da Eishockey in Deutschland "nicht auf Fußball-Niveau kommen" werde: "Eishockey spielen keine 20.000 Menschen in Deutschland - das heißt, wir sind ein Zuschauer-Sport." Geldverdienen mit Eishockey sei in Deutschland nach wie vor schwer, "wenn man nicht Spieler ist oder Funktionär", sagte Tripcke. "Da ist viel Enthusiasmus, Euphorie und Spaß dabei." Die Nachricht von Anfang August über den Rückzug des Hauptsponsors der Nürnberger Ice Tigers beunruhigt den DEL-Geschäftsführer nicht: "Natürlich freuen wir uns nicht, wenn ein starker Partner verloren geht. Aber wir hoffen, dass der ein oder andere neue Partner kommen wird oder es sich auf mehrere Schultern verteilt." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gernot Tripcke im Gespräch mit Matthias Friebe
Zum Start der neuen Eishockey-Saison blickt Gernot Tripcke optimistisch in die Zukunft: Die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit werde stärker, es gebe mehr Live-Übertragungen. "Da ist eine Aufbruchstimmung", sagte der Geschäftsführer der Deutschen Eishockey Liga (DEL) im Deutschlandfunk.
"2019-09-15T19:42:00+02:00"
"2020-01-26T23:10:42.730000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/del-geschaeftsfuehrer-gernot-tripcke-grundatmosphaere-fuer-100.html
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Keine Lösung für Hongkong
Ein Problem der Protestbewegung: Es gibt niemanden, der Verantwortung übernimmt (AFP / Lillian SUWANRUMPHA) Seit Monaten hallen die Rufe durch die Straßen von Hongkong: "Kämpft für die Freiheit, steht zu Hongkong." Mal auf Englisch, mal auf Kantonesisch. Und der andere Schlachtruf der Protestbewegung: Fünf Forderungen, keine weniger.Was im Juni als Protest gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz mit China begonnen hatte, ist heute eine breite, teils diffuse Protestbewegung – gegen die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, gegen den Einfluss der kommunistischen Pekinger Führung in Hongkong, für mehr Demokratie und eine Aufarbeitung des von vielen als brutal empfundenen Vorgehens der Polizei. Wo steht die Protestbewegung nach sechs Monaten? Wieviel Rückhalt hat sie in der Bevölkerung? Gibt es Chancen für einen Dialog oder wird Peking doch noch eingreifen? Und warum sorgt ausgerechnet diese Protestbewegung für Schlagzeilen in der ganzen Welt? Systemkonflikt im Brennglas Hongkong In Hongkong geht es um große Fragen: Um Freiheit und Nationalismus, um Grundwerte, um die ideologischen Gräben zwischen den liberalen westlichen Gesellschaften und dem autoritär-diktatorischen Gesellschaftsmodell der Kommunistischen Partei Chinas. Im Brennglas Hongkong nimmt dieser Systemkonflikt Gestalt an. Was am besonderen Status der Stadt liegt, die weitgehend autonom regiert wird, aber doch Teil Chinas ist: Sie liegt genau am Schnittpunkt der Systeme. Anders als die Menschen in Festlandchina genießen die Hongkonger viele Bürgerrechte, fürchten aber um genau diese Freiheiten. Auf den Straßen der Stadt hört man das immer wieder, viele Demonstranten haben, so wieder dieser Mann, Angst vor der Zukunft: "Wir müssen die Freiheiten Hongkongs verteidigen. Man kann ja jetzt schon sehen, dass Hongkong immer mehr wie das kommunistische China wird. Noch können wir uns frei äußern. Aber wie lange noch? Wir wollen frei sein von Angst." Dabei hat es nicht mit großen politischen Fragen angefangen, sondern mit einem Mord. Vergangenes Jahr soll der damals 19-jährige Chan Kong-tai in Taiwan seine schwangere Freundin getötet haben. Anschließend floh er zurück in seine Heimat Hongkong. Da es zwischen Hongkong und Taiwan kein Auslieferungsabkommen gibt, kann Chan bis heute nicht nach Taipeh überstellt und dort vor Gericht gestellt werden. "Glory to Hongkong" - Eine Hymne wird zum Symbol der ProtestbewegungTausende Hongkonger singen aus Protest. Den Song hat ein Unbekannter komponiert, übers Internet wurde der Text kollektiv verfeinert. Die Botschaft: nicht aufgeben, weiter kämpfen für Demokratie und Freiheit. Unter Berufung auf diesen Mordfall wollte Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam ein Gesetz durchdrücken, das erstmals die Auslieferung von Verdächtigen nach Taiwan, Macau und Festlandchina ermöglich hätte. Doch nach Jahren der schleichenden Aushöhlung des Prinzips "Ein Land, zwei Systeme" war der Gesetzentwurf für viele Hongkonger das Symbol für den übergriffigen langen Arm aus Peking. Chinas Gerichte werden von der Kommunistischen Partei kontrolliert, Hongkong hat eine unabhängige Justiz. Mit diesem Gesetz, so die Angst, würden Hongkongs Bürger der chinesischen Willkür ausgeliefert. Demonstrant: "Wir machen weiter bis zum Ende" Es gab Widerspruch, Proteste, ab Juni Großdemonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmern. Ein Misstrauensvotum der Straße gegen die Regierung. Carrie Lam legte das Gesetz auf Eis, zog es später ganz zurück. Doch das war zu wenig und zu spät. Die Menschen protestieren jetzt im siebten Monat – für viel weitergehende Forderungen nach politischen Reformen: "Wir machen weiter, wir machen weiter bis was passiert, bis Peking und die Hongkonger Regierung nachgeben. Und selbst wenn nicht, auch dann machen wir weiter. Wir werden unsere Anliegen weiter vorbringen. "Ich habe Vertrauen in die Menschen in Hongkong, dass wir weitermachen, bis die Regierung auf unsere Forderungen eingeht. Nicht wie 2014 –als wir gescheitert sind. Wir machen weiter bis zum Ende." Dass Anfang Dezember erneut Hunderttausende friedlich auf die Straße gingen, zeigt: Die Protestbewegung hat viel Rückhalt. Trotz der schweren Zusammenstöße der vergangenen Monate, trotz der Gewalt und des Chaos, das die Aktionen eines radikalen Kerns der Aktivisten zeitweise angerichtet haben. Es flogen Steine und Brandsätze, Geschäfte wurden zertrümmert, Straßenbarrikaden gingen in Flammen auf. U-Bahnen fuhren nicht mehr, die Schulen blieben zu. Zeitweise lagen Tränengas-Schwaden über ganzen Straßenzügen. Mehrere Hochschulen, zuletzt die Polytechnische Universität, wurden unter den Augen der internationalen Medien besetzt, eingekesselt, dann geräumt. Konflikt spaltet Familien und Generationen Hongkong hat harte Monate hinter sich – und bleibt doch eine gespaltene Stadt. Der Riss geht durch Familien, durch Generationen. Die Stadt ist polarisiert. Denn es gibt auch harsche Kritik. Regina Ip etwa, eine der führenden Konservativen und Vorsitzende der Peking-treuen New People’s Party ist empört über die Gewalt auf den Straßen der sonst so friedlichen Wirtschafts- und Finanzmetropole. Sie wirft den radikalen Demonstranten eine faschistoide Haltung vor "Es ist eine Schande, dass diese Leute, die vorgeben für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, unsere Universitäten zerstören. Sie machen aus unseren Universitäten Waffenlager, stellen tödliche Brandsätze her. Auf den Campus gibt es einen neuen Faschismus. Ich meine damit die Angriffe auf chinesische Studenten vom Festland und die Zerstörung von Geschäften, die Verbindungen mit China haben. Das ist eine Schande und ist das Gegenteil der demokratischen Werte, die die diese Demonstranten vorgeben zu vertreten." Harte Vorwürfe, die andere so nicht übernehmen wollen. Deutlich gemäßigter die Kritik von Händlern und Gewerbetreibenden. Sie fürchten vor allem um ihre Geschäfte. Wegen des verlangsamten Wachstums in China läuft die Hongkonger Wirtschaft nicht rund, aber wegen der Proteste bleiben seit dem Sommer auch die Touristen weg, vor allem die Festlandchinesen. Zu spüren bekommen das nicht nur die Luxusläden im Zentrum – Gucci, Versace, Armani – sondern auch Händler an der Peripherie. Zum Beispiel im Stadtteil Sham Shui Po: Gleich neben einem kleinen Straßenmarkt, wo Billigklamotten und Kurzwaren gehandelt werden, verkaufen der alte Herr Wu und sein Sohn seit Jahren Hochzeitsschmuck: breite Armreifen aus Gold, große Geschmeide mit Schweinemotiven – ein Symbol für reichen Kindersegen. Doch seit die Proteste im Sommer auch Sham Shui Po erreichten, sind die Umsätze eingebrochen. "Es kommen viel weniger chinesische Kunden. Das Geschäft läuft nicht gut. Vor den Protesten war es viel besser." Auf die Proteste der vor allem jungen Hongkonger angesprochen, gerät sein Sohn Patchy, immerhin auch schon 60, in Fahrt: "Was diese Kids machen, ist doch Blödsinn. Die können doch gar nicht selbstständig denken, die werden vom Ausland angestiftet, von den USA, die werden bezahlt um Unruhe zu stiften. Diese Kids haben völlig falsche Vorstellungen." Für seine Behauptungen gibt es keine Beweise, aber in den Staatsmedien in Festlandchina wird dem Ausland, vor allem den USA, regelmäßig vorgeworfen, die Proteste in der Sonderverwaltungszone organisatorisch und finanziell zu unterstützen. Manche Hongkonger Politiker argumentieren ähnlich. Demonstranten in Hongkong verbrennen Holz und Abfälle, um eine Straße zu blockieren. (AP Photo/Kin Cheung) Protestbewegung will anonym bleiben Aber Fakt ist – das Peking-freundliche Lager kann nicht im gleichen Maße mobilisieren wie die Protestbewegung. Besonders augenfällig: die Peking-Befürworter sind eher älter, die Demokratiebewegung von jungen Leuten geprägt – Schüler, Studierende, junge Angestellte. Angehörige der Mittelschicht. Demonstriert wird im pro-demokratischen Lager mit Gesichtsmasken, die Nase und Mund verdecken. Ein zeitweiliges Vermummungsverbot wird ignoriert. Die Anonymität der Bewegung ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Es gibt keine Führungspersonen, keine identifizierbaren Sprecher. Zwar halten Vertreter der Protestbewegung regelmäßig sogenannte "Bürger-Pressekonferenzen" ab – Anfang Dezember etwa sprach im Zentrum Hongkongs ein Vermummter über die Gefahren von Tränengas, redete über eine "humanitäre Krise" und bezeichneten die Stadt als "Gaskammer". Für Fragen stand er nicht zur Verfügung. Die Anonymität hat einen Grund: 2014, nach den Regenschirmprotesten für mehr Demokratie, wurden im Anschluss zentrale Figuren vor Gericht gestellt. Aus diesen Erfahrungen hat die neue Protestbewegung gelernt. Bekannte Gesichter, wie der 22-jährige Joshua Wong, 2014 einer der prominentesten Vertreter der Demokratiebewegung, sind eine Ausnahme. Er tritt zwar oft öffentlich auf – aber findet im Ausland mehr Beachtung als in Hongkong, wo er eine Randfigur bleibt. Hongkonger Aktivist Joshua Wong - Das Gesicht der Demokratie-BewegungDer Hongkonger Demokratie-Aktivist Joshua Wong ist seit seiner Rolle bei den "Regenschirm-Protesten" 2014 weltberühmt. Auch in Berlin hat er bereits um politische Unterstützung für die Massenproteste in seiner Heimat geworben. "Die Protestierenden sprechen für sich selbst, ich spreche nur als Hongkonger Bürger und hoffe, dass die Stimme Hongkongs auch international gehört wird." Ein Problem der Protestbewegung: Es gibt niemanden, der Verantwortung übernimmt oder die Demonstrationen in politisches Handeln überführen könnte. Das Spektrum reicht von radikalen, gewaltbereiten Aktivisten bis zu gemäßigteren Kräften, die in den pro-demokratischen Parteien aktiv sind, aber nicht für die gesamte Bewegung sprechen können. Das ist auf der Seite der Kontrahenten, die Hongkonger Regierung, die Polizei und die Führung in Peking anders. Sie haben eine klare Strategie: Was Regierungschefin Carrie Lam politisch nicht lösen kann oder will, lässt sie auf den Straßen Hongkongs ausfechten. Die Polizei greift hart ein Die Statistik der örtlichen Polizeibehörde liest sich ernüchternd: 6.000 Festnahmen seit Juni. Knapp 1.000 Anklage-Erhebungen. 16.000 Kanister Tränengas hat die Polizei seit dem Frühsommer abgefeuert und 10.000 Gummigeschosse. Demonstrationen verbieten, bekämpfen, weg knüppeln: Das Vorgehen der Polizei empfinden viele Hongkonger als skandalös, so wie dieser 30-Jährige: "Sie halten sich einfach nicht an die Gesetze. Sie verhaften willkürlich Leute; mit dieser Polizei gibt es weder Recht noch Ordnung in Hongkong." Eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt zählt zu den zentralen Forderungen der Protestbewegung. Aber ob es wegen der Polizeieinsätze wirklich Tote gegeben hat, wie viele Demonstranten behaupten, ist unklar. Auch der Fall Alex Chow ist ungeklärt. Chow wird von der Bewegung wie ein Märtyrer behandelt. Der 22-Jährige stürzte Anfang November vom Deck eines Parkhauses und starb später an seinen schweren Verletzungen. War er auf der Flucht vor der Polizei geschubst worden oder war sein Tod ein tragischer Unfall? Die genauen Umstände sind weiter im Dunkeln. Schon wegen des tiefen Misstrauens gegen die Polizei wäre eine unabhängige Untersuchung wichtig. Nur: Regierungschefin Carrie Lam mauert. Ende November stellte sie zwar ein Komitee in Aussicht, allerdings mit anderem Auftrag als von der Protestbewegung gefordert: "Um die Ursachen der sozialen Unruhen zu erkunden, die tieferliegenden sozialen, wirtschaftlichen, auch politischen Gründe. Und sie wird der Regierung Vorschläge unterbreiten." Klare Mehrheit für das demokratische Lager Regierungschefin Lam ist Teil des Problems. Sie hat keine politische Strategie, findet nicht den richtigen Ton, wirkt distanziert, wenig empathisch. Die Statthalterin Pekings hat ihre ohnehin geringen Spielräume nicht genutzt. Wo also steht die Stadt insgesamt politisch sechs Monate nach Beginn der Proteste? Das demokratische Lager sieht sich weiter im Aufwand. Zumal demokratische Parteien bei den einzig wirklich demokratischen Wahlen in Hongkong, den Bezirkswahlen Ende November, fast 90 Prozent der Sitze in den 18 Bezirksräten gewannen. Deren politischer Einfluss ist zwar gering, aber die Symbolkraft der Abstimmung war groß, sagt der neugewählte Bezirksrat Kelvin Lam, der keiner Partei, aber dem pro-demokratischen Lager angehört: "Die Bürger haben sehr deutlich gemacht, dass sie unzufrieden sind mit der Art und Weise wie die Regierung mit den Protesten der vergangenen Monate umgegangen ist. Die Menschen in Hongkong sollten das Wahlergebnis jetzt auch als Druckmittel nutzen um mehr Demokratie in der Zukunft zu fordern." Demokraten nach Wahlsieg - Hongkong bleibt gespaltenDer Sieg bei den Bezirkswahlen hat dem demokratischen Lager Auftrieb gegeben. Doch ihr Einfluss auf die Entwicklung der chinesischen Sonderverwaltungszone bleibt eher gering. Gleichzeitig wächst der Druck von mehreren Seiten. Die neuen Bezirksräte selbst haben nicht die Macht, politische Reformen durchzusetzen. Sie sind für lokale Angelegenheiten zuständig nicht für politische Grundsatzentscheidungen. In der Protestbewegung wurden die Ergebnisse der Bezirkswahlen daher zwar mit Jubel aufgenommen. Aber an ihren konkreten Forderungen nach Veränderungen des politisch-institutionellen Systems Hongkongs ändern die Wahlen nichts, sagt etwa diese junge Frau: "Denn es geht um die Probleme des gesamten politischen Systems, um die Wahlen zum Legislativrat, um die Wahl des Regierungschefs. Wir haben unsere Ziele noch lange nicht erreicht." Konkret geht es etwa um den Posten des Regierungschefs. Dieser wird in Hongkong nicht durch allgemeine Wahlen bestimmt – das macht ein Wahlkomitee. Die Kandidaten müssen zuvor von Peking abgenickt werden. Und im Legislativrat wird nur die Hälfte der Sitze frei gewählt. Ein militärisches Eingreifen gilt noch als unwahrscheinlich Dennoch haben die Bezirkswahlen neue Perspektiven eröffnet – auf lokaler Ebene, vielleicht sogar darüber hinaus. Das sagt zumindest Christine Loh. Sie selbst will sich weder vom pro-demokratischen noch vom Peking-freundlichen Lager vereinnahmen lassen. Inmitten der aufgeheizten, polarisierten Stimmung appelliert die frühere Abgeordnete im Legislativrat und Mitglied in der Vorgängerregierung Lams an alle Parteien jetzt zusammenzuarbeiten. "Wenn man an diesem besonderen Punkt ist, an dem so viel Energie freigesetzt wurde und die Leute darauf warten, dass etwas geschieht, vielleicht sogar Peking erkennt, dass es eine andere Strategie braucht, das sind Zeitpunkte, an denen sich neue Möglichkeiten auftun – diese Chancen darf man nicht durch Dummheiten verspielen." Loh setzt auf die Zivilgesellschaft, auf einen breiten Dialog über die Zukunft der Stadt – zunächst in Hongkong selbst, letztlich aber auch mit Peking. Was für eine Stadt will Hongkong sein? Noch ist sie wichtig für China – als Finanzplatz, als Scharnier zwischen dem chinesischen Staatskapitalismus und den Weltfinanzmärkten. Schon deshalb gilt ja ein Eingreifen Pekings – etwa militärisch – nach wie vor als unwahrscheinlich. Aber wie lange noch? "Ich denke, was die große politische Frage der Beziehung zwischen Hongkong und Peking angeht, müssen wir in Hongkong akzeptieren, dass ein Dialog mit Peking wichtig ist. Wir haben das System "Ein Land, Zwei Systeme". Wir in Hongkong schauen vor allem darauf, wie wir "Zwei Systeme" erhalten können. Peking legt die Betonung auf "Ein Land.". Wir kommen nur voran, wenn wir auch hier in Hongkong über "Ein Land" nachdenken." China will keine freien Wahlen in Hongkong Ein Land? Damit können die Demonstranten nichts anfangen. Kaum einer fordert die Unabhängigkeit Hongkongs, aber mit China identifizieren mag sich niemand. Vor allem aber: In der entscheidenden Grundsatzfrage gibt es keine Annäherung. China will keine freien Wahlen in Hongkong, will auch in Zukunft maßgeblich mitbestimmen, wer in der Stadt das Sagen hat. Ein allgemeines Wahlrecht sei völlig unrealistisch, warnte Carrie Lams Vorgänger C.Y. Leung kurz nach den Bezirkswahlen bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte – im Hongkonger Club der Auslandspresse: "Es ist sinnlos und unverantwortlich, wenn Politiker inner- und außerhalb Hongkongs Hunderttausende auf die Straßen treiben und glauben, damit könne man Peking zu Zugeständnisse zwingen und volle Autonomie – ohne Mitwirkung Pekings – durchsetzen." Auch Regina Ip, die Peking-freundliche konservative Politikerin im Legislativrat, schlägt in diese Kerbe. Bei Fragen nach der Zukunft bleibt sie jedoch wie viele Pro-Establishment-Politiker vage. Bis 2047, wenn die Übergangsfrist für "Ein Land, zwei System" ausläuft, habe man ja noch 27 Jahre Zeit. "Das ist noch eine sehr lange Zeit. Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" hat es noch nie gegeben, das ist ein Experiment. Wir müssen zusammenarbeiten um für Hongkong die beste Lösung zu finden und für China." Hongkong - Weltstadt im Protestmodus1997 übergab Großbritannien Hongkong an China. Das damals vereinbarte Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" wird von Peking aufgeweicht. Dagegen regt sich Protest: meistens friedlich, teils gewaltsam. Auf Zeit spielen, das kommt im demokratischen Lager nicht gut an. Viel zu lange schon habe man für mehr Demokratie gekämpft und sei doch immer wieder nur vertröstet worden, heißt es in den demokratischen Parteien und in der Protestbewegung. Zugleich dehnt Peking seinen Einfluss auf Hongkong aus – auf gesellschaftlich-wirtschaftlicher Ebene: in den Schulen bei der Gestaltung der Lehrpläne, an den Unis, in der Wirtschaft. Wir verlieren unsere Freiheit schleichend Stück für Stück, heißt es oft in Hongkong. Der Druck Pekings werde nach dem Protestjahr 2019 weiter steigen, fürchtet auch der neue Bezirksrat Kelvin Lam. "Die Eingriffe Pekings in die bürgerlichen Freiheiten Hongkongs könnten jetzt noch stärker werden. Ähnlich wie 2014 nach den Regenschirmprotesten. Die Kommunistische Partei hat sich ja nicht geändert – sie will Ordnung und Kontrolle. Mit demokratischen Ideen wird sie sich nicht anfreunden." So zeichnet sich für die Krise in Hongkong keine Lösung ab. Der Druck der Straße bleibt, die Proteste gehen weiter. Die Bezirkswahlen haben Hoffnungen geweckt, die jedoch schnell wieder in Frust, Wut und neue Gewalt umschlagen können. Wie lange die ungeliebte Carrie Lam noch im Amt bleibt, ist ungewiss. Aber einer politischen Lösung käme die Stadt selbst mit ihrem Rücktritt kaum näher – denn wer kommt dann? Letztlich laufen die Fäden immer in Peking zusammen. Und dort heißt es: Hongkong ist Teil von China. Was heißen soll: Keine Zugeständnisse. Egal, wie viele Menschen auf die Straße gehen.
Von Ruth Kirchner
Seit einem halben Jahr halten pro-demokratische Demonstrationen und Proteste Hongkong in Atem. Ausgelöst durch ein Auslieferungsgesetz, haben sich die Proteste inzwischen zu einer Massenbewegung entwickelt, die immer häufiger auch in Gewalt ausartet. Daran stoßen sich nicht nur Peking-Befürworter.
"2019-12-17T18:40:00+01:00"
"2020-01-26T23:24:15.173000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gespaltene-stadt-keine-loesung-fuer-hongkong-100.html
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Sparzwang treibt Menschen auf die Barrikaden
Griechische Bauern blockieren mit ihren Traktoren die Grenzen zu Bulgarien und der Türkei. (dpa/picture-alliance/Yannis Kolesidis) Unweit eines Straßenmusikanten stehen einige Rentner im Zentrum von Athen vor einem Kiosk. Sie lesen die Zeitungsüberschriften. Der 76-jährige Manolis hat als Goldschmied gut verdient, aber wie alle anderen griechischen Rentner hat er in den letzten Jahren eine Kürzung um 40 Prozent hinnehmen müssen. "Ich komme noch ganz gut zurecht. Ich brauche ja nicht viel. Aber zwei meiner drei Kinder sind arbeitslos. Was ich übrig habe, das gebe ich denen." Jannis ist 63 Jahre alt, vor zwei Jahren wurde er arbeitslos. Ein Jahr lang erhielt er 380 Euro Arbeitslosengeld. Danach beantragte er die Frühverrentung. Abschläge von 30 Prozent nahm er in Kauf, weil er keine Chance auf eine neue Anstellung sah. Übergangsweise erhält er nun 400 Euro Rente im Monat, nachdem er 40 Jahre als Fahrer gearbeitet hat. "Bis zur endgültigen Entscheidung muss ich noch mindestens ein Jahr warten, weil die Rentenkasse überlastet ist, sagte man mir. Selbst dann werde ich aber nicht viel mehr erhalten. Ich arbeite zwar seit meinem 14. Lebensjahr. Aber 20 Jahre lang haben meine Arbeitgeber mich nicht sozialversichert, sondern mich nur schwarz arbeiten lassen." Das sind einige Beispiele für das Rentnerdasein im Griechenland der Krise. Das desolate Rentensystem will die von der linken Partei "Syriza" geführte Regierung nun grundlegend reformieren. Sozialminister Giorgos Katrougalos: "Das erste Mal sollen jetzt gleiche Bedingungen für alle gelten, für Beschäftigte im öffentlichen Dienst und der Privatindustrie ebenso wie für Landwirte und Selbstständige. Und es wird sozial gerecht sein, weil die Belastung der Schwächeren geringer sein wird als die der Besserverdienenden. "Ein Eckpfeiler der Reform soll die Einführung einer Grundrente von 384 Euro im Monat sein. Das ist die Basis. Dazu kommen Zuschläge, die nach dem Lebensarbeitseinkommen bemessen werden." Internationale Gläubiger fordern weitere Sparmaßnahmen Gegen diese Rentenreform laufen allerdings sämtliche Bevölkerungsgruppen Sturm. Bauern blockieren seit Wochen immer wieder wichtige Verkehrsadern des Landes. Freiberufler gehen auf die Straße. Denn für diese Berufsgruppen soll der Sozialversicherungsanteil an ihren Einkommen von sieben auf 20 Prozent erhöht werden. Soviel zahlen jetzt schon Arbeiter und Angestellte. Selbständige - ob Syriza-Anhänger oder Unterstützer der konservativen und sozialdemokratischen Opposition - sind empört. Zum Beispiel Rechtsanwalt Giorgos Stamatojannis: "Es ist zwar gerechter, wenn alle entsprechend ihrem Einkommen in den Pensionsfond einzahlen. Aber in der Wirklichkeit wird das dazu führen, dass viele ihren Beruf an den Nagel hängen, weil sich arbeiten nicht mehr lohnt. Wenn von 20.000 Euro im Jahr 12.000 für Steuern und Sozialversicherung draufgehen, wie soll man vom Rest noch leben?" Die Regierung versucht zu beruhigen, nur jeder zehnte Selbstständige werde mehr zahlen müssen als bisher. Doch kaum jemand glaubt das. Auch die Gewerkschaften mobilisieren gegen den Gesetzentwurf. Wer 2016 in Rente geht, muss mit Einbußen von 15 bis 30 Prozent rechnen. Ein Hintergrund der Rentenreform ist, dass die internationalen Gläubiger weitere Sparmaßnahmen von Griechenland als Gegenleistung für neue Kredite verlangen. Die Gewerkschaften kritisieren, dass weitere Rentenkürzungen und andere Sparmaßnahmen die Wirtschaft in eine noch tiefere Rezession führen. Der Leiter des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften, Giorgos Argitis: "Natürlich ist das gegenwärtige Rentensystem ungerecht und muss grundlegend reformiert werden. Aber selbst durch größte Kürzungen wird es nicht tragfähig werden, solange nicht mehr Einnahmen in das System fließen. Und es gibt im Gesetzentwurf keinerlei Maßnahmen gegen die zunehmende Schwarzarbeit und die grassierende Hinterziehung von Sozialabgaben." Selbst die Gläubiger wie der Internationale Währungsfonds und die EU sind mit dem Reformvorhaben der Syriza-Regierung nicht zufrieden. Sie drängen auf größere Einschnitte. Sozialminister Katrougalos sind die Proteste der Bevölkerung deshalb sogar ein wenig willkommen: "Ich will, dass die Leute demonstrieren. Denn ich verhandele nicht mit der Bevölkerung, sondern mit den Gläubigern. Und die sollen wissen, dass die Menschen unzufrieden sind." Noch ist unklar, ob die Regierung im Parlament eine Mehrheit für ihre Rentenreform bekommt. Denn sie hat nur eine Mehrheit von drei Stimmen.
Von Jerry Sommer
Schon seit Anfang dieser Woche ist es schwierig, in Griechenland voranzukommen: Die Busfahrer streiken, das Fährpersonal ebenso, die Bauern versperren Autobahn- und Flughafenzufahrten. Heute haben die Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen. Die Sparpläne der Regierung sorgen für Frust und Wut bei den Menschen.
"2016-02-04T09:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:12:04.895000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechische-rentenreform-sparzwang-treibt-menschen-auf-die-100.html
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Transgender, Politik und Pop
Die vielseitige Künstlerin Anohni alias Antony Hegarty (Beggars Group) "Ich habe eine Menge sinfonische Musik gemacht. Doch die Zeiten ändern sich, und Sachen, die mir heute wichtig sind, waren es vor ein paar Jahren noch nicht - und umgekehrt. Ich höre zum Beispiel immer mehr Pop. Denselben, wie die meisten Leute. Insofern ist es nicht mehr wie früher, dass sich Vertreter der Subkultur bewusst vom Mainstream abgrenzen. Sondern heute genießen alle dieselben Stücke. Und die interessantesten Produzenten arbeiten mit den besten Pop-Acts. Von daher gibt es keine Distanz mehr zwischen Subkultur und Mainstream." Eine Erkenntnis mit Folgen: Als Anohni muss sich die 45-Jährige [von Red. geändert] aus New York nicht länger auf die Kunstwelt beschränken und ihr Heil in orchestrierter Musik suchen - sie kann endlich ein Popstar sein, moderne Songs schreiben und mit dem konkurrieren, was in den internationalen Charts passiert. Weshalb "Hopelessness" auf die Klang-Kreationen von Kanye West-Intimus Hudson Mohawke setzt, die mal minimalisch, mal sphärisch, mal opulent sind. Und womit Anohni ein breiteres Publikum zu erreichen hofft als in der Vergangenheit. Musik als bissiger Kommentar "Die Musik ist nicht unbedingt süß, aber sehr zugänglich. Im Sinne von: Sie ist leichter zu konsumieren, weil sie gut klingt. Bei den meisten Pop-Songs ist die Produktion ja so angelegt, dass sie den Hörer klanglich verführt. Und den Effekt wollte ich auch in meinen Stücken. Nämlich mit einer zeitgemäßen Form von Pop, die ich mit etwas anderen Inhalten ausstatte." Was der Schöngeist im Körper eines LKW-Fahrers unter "anderen Inhalten" versteht, macht den Unterschied zur konventionellen Popmusik aus: Keine Allerwelttexte über Liebe und Lust, und auch keine Hoffnungslosigkeit wie der Albumtitel nahelegt, sondern messerscharfe, bissige Kommentare zur Erderwärmung, zur Waffenlobby, Todesstrafe, zu Drohnenangriffen und zu zwei Legislaturperioden Barack Obama, von denen Anohni schwer enttäuscht ist. "Das Album versucht das einzufangen, was die US-Regierung als 'Kollateralschaden' bezeichnet. Und welche Folgen Obamas Drohnenkrieg im Mittleren Osten hat. Seine Kampagne zur Schließung von Guantanamo bedeutet im Grunde nur, dass er in Zukunft keine Verdächtigen mehr ins Gefängnis steckt, sondern sie aus der Luft exekutiert. Auf diese Weise wurden in den letzten acht Jahren Tausende getötet - während immer noch unschuldige Menschen in Guantanamo einsitzen." Pop als trojanisches Pferd Klare Worte, die vor allem eins unterstreichen: Auch wenn "Hopelessness" ein gelungener Vorstoß in die Popwelt ist: Anohni ist alles - nur kein Popstar. Schließlich nutzt sie die elektronische Musik wie ein trojanisches Pferd, um dem Mainstream ihre Ansichten und Botschaften unterzujubeln. Und die sind - obwohl die Musik durchaus massentauglich ist - viel zu anspruchsvoll und sperrig für den oberflächlichen Konsum. Weshalb das Publikum, das hier angesprochen werden soll, schlichtweg überfordert sein dürfte. Und auch alte Fans zeigen sich vom Stil- und Namenswechsel irritiert. Denn Anohni passt so gar nicht zu einer bulligen Erscheinung mit Dreitagebart und nackten Füssen. "Anohni benutze ich schon seit Jahren, vor allem privat. Aus dem einfachen Grund, weil ich einen wollte, der mich als Transgender reflektiert. Ich selbst habe mich zwar immer so gesehen, hatte aber nie den Mut, andere zu bitten, mich als Frau anzusprechen. Doch je älter ich werde, desto wichtiger wird mir das. Und deshalb habe ich mich nun entschieden, ihn öffentlich zu verwenden." Das gewaltige Medienecho, das mit den vielen Veränderungen einhergeht, nutzt Anhoni Ende Juni für eine seltene Deutschland-Tour. Aber auch, um weitere Seiten von sich und ihrem Schaffen in den Vordergrund zu rücken. So präsentiert sie demnächst Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Filmarbeiten in der Bielefelder Kunstgalerie und hofft auf weitere Ausstellungen im Bundesgebiet - eben als vielseitige, subversive Künstlerin, die Pop-Musik lediglich als Lockvogel nutzt.
Von Marcel Anders
Die letzten sechs Jahre hatte Antony Hegarty sich rar gemacht. Der Transgender-Künstler, der sich selbst als eine "Sie" bezeichnet, unterzog sich einer musikalischen wie persönlichen Metamorphose. Die ist nun abgeschlossen und umfasst einen neuen Namen - "Anohni" -, ein erstes Solo-Album sowie einen neuen Sound.
"2016-05-07T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:28:08.392000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anohni-alias-antony-hegarty-transgender-politik-und-pop-100.html
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"Abschaffung des Abseits werden wir nicht erleben"
Tobias Escher, Blogger von spielverlagerung.de (picture-alliance / dpa / Axel Heimken) Noch Luft nach oben hätten die Trainer-Neulinge von Darmstadt und Mönchengladbach, analysierte Blogger Tobias Escher von Spielverlagerung.de am 17. Spieltag. "Die Gladbacher sind offensiv sehr harmlos aus der Winterpause zurückgekehrt, hatten keinen Sprit nach vorne. Da hat es für Darmstadt mit einer defensiv stabilen Leistung gereicht. Da muss man noch mehr Arbeit leisten in beiden Fällen." Das Erfolgsrezept der noch immer ungeschlagenen Hoffenheimer sei deren Flexibilität: "Man hat mit Julian Nagelsmann einen sehr modernen Trainer, der sehr flexibel spielen lässt." Sein Team könne schnell umschalten von Ballbesitz- auf schnelles Vertikalspiel mit direktem Spiel vor das Tor. Einen gelangweilt wirkenden FC Bayern erlebte Escher beim knappen 2:1-Sieg gegen den SC Freiburg: "Die Ergebnisse geben Carlo Ancelotti Recht. Pep Guardiola hat sich sehr auf den Gegner eingestellt, egal, welcher es war. Ancelotti ist in diesem Punkt weniger flexibel." Ancelotti versuche, seine Taktik durchzubringen und fixiere eher die großen Spiele. "Gegen RB Leipzig hat man den ominösen Plan ausgepackt, während man gegen Freiburg oder gegen Darmstadt sehr gelangweilt wirkte im Spiel." Einführung einer Zeitstrafe interessant Die Regeländerungs-Vorschläge des neuen technischen Direktors der FIFA, Marco van Basten, wären - wenn sie umgesetzt würden - eine Revolution, werden aber so nicht eintreten, beschwichtigte Escher. "Man muss den Fußballfans ein bisschen die Angst nehmen." Van Basten habe keine Macht über den Regeländerungsprozess, das entscheide immer noch die International Football Association Board, "die hauptsächlich aus Briten besteht und die sind bekanntermaßen sehr konservativ. Eine Abschaffung des Abseits werden wir nicht erleben. Das wäre ein viel zu großer Eingriff in das Spiel." Interessant sei dagegen die Überlegung, statt einer Roten Karte eine Zeitstrafe einzuführen. "Weil man da eine Regelung schafft, unter der Roten Karte für Vergehen, wenn man denkt, das ist jetzt eigentlich zu viel für eine Gelbe, aber zu wenig für eine Rote Karte." Das vollständige Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Tobias Escher im Gespräch mit Matthias Friebe
Flexible Hoffenheimer und einen auf seine Taktik beharrenden Bayern-Trainer hat Blogger Tobias Escher von Spielverlagerung.de zum Bundesligastart 2017 beobachtet. Die Regeländerungs-Vorschläge von FIFA-Direktor Marco van Basten wären natürlich eine "Revolution", die so aber nicht eintreten wird. "Man muss den Fußballfans die Angst nehmen", sagte Escher im DLF.
"2017-01-21T19:23:00+01:00"
"2020-01-28T09:30:38.378000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesligagespraech-abschaffung-des-abseits-werden-wir-100.html
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Streit um Spargelfelder unter Folie
In Brandenburg sind in diesem Jahr weniger Zugvögel gesichtet worden. Umweltschützer führen dies auf die plastinierten Spargelfelder zurück. (dpa / picture alliance / Ole Spata) Werner Christ wohnt in einer Idylle, eigentlich. Aus dem Wohnzimmer seines alten Bauernhauses blickt er auf den Oberen Beetzsee und die Möveninsel Buhnenwerder. Graugänse und Nordische Gänse rasten dort auf ihrem Zug Richtung Süden. Von der Haustür aus sieht er das Storchennest des Dorfes, aber darin wächst Unkraut: "Wir haben das erste Mal seit Menschengedenken keinen Storch in unserem Dorf sowie weitere 21 Brutvögel, die aus einem Vogelschutzgebiet verschwunden sind." Christ ist sauer, so sauer, dass er die Bürgerinitiative "Landschaft ohne Folie" mitgegründet hat, denn die Plastikfolie, die im Frühjahr zum Teil kilometerlang über die Spargelbeete gezogen wird, ist aus seiner Sicht schuld daran, dass die Zahl der Tiere in seiner Umgebung abgenommen hat. "In jedem Jahr müssen wir erkennen, dass der Spargel immer früher verkauft werden soll, deswegen die Folie. Aber wenn sie so eine große Fläche wie hier haben, auf diesem kleinen Raum hat das Auswirkungen, die auch der Laie versteht: Unsere Freunde, die Imker, die sagen mir, aus Plastikfolie können die Bienen keinen Honig herstellen." Brandenburg ist Spargelland: In den letzten Jahren ist der Spargelanbau in Brandenburg massiv angestiegen. 17. 000 Tonnen Spargel konnten in diesem Jahr geerntet werden. Hauptanbaugebiet ist die Region um Beelitz, im Ortsteil Schlunkendorf gibt es sogar ein Spargelmuseum. Manfred Schmidt, Vorsitzender vom Verein Beelitzer Spargel: "Saisonstart hatten wir Anfang der 90er-Jahre in der ersten Maiwoche, jetzt haben wir es fast in der ersten Aprilwoche. Folie heißt auch extreme Verfrühung." Denn die Folie wirkt bei Spargel wie ein Mini-Treibhaus und sorgt dafür, dass er schneller wächst. Dadurch kann die Saison des begehrten Stangengemüses verlängert werden. Das Argument, die Folie versiegele die Landschaft, will Manfred Schmidt nicht gelten lassen: "Ab Juli sind die Spargelfelder grün. Dann tummeln sich die Hasen, die kleinen Rehe drin, oder die Rebhühner. Und wenn der Sommer richtig trocken wird: Die Wiesen sind braun, die Spargelfelder grün." Nach dem ersten Frost wird das Kraut dann braun, abgemäht, bleibt aber auf den Feldern liegen und düngt den Boden. Aus Sicht des Brandenburger Umweltministeriums besteht kein Anlass zur Sorge. Bislang seien keine großen Beeinträchtigungen für Flora und Fauna durch Folien-Spargel festgestellt worden, heißt es auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Fraktion im Landtag. Auch größere negative Folgen für Brutvögel seien bislang nicht belegt. Allerdings heißt es in der Drucksache 5/6027 aus dem Jahr 2012 noch wörtlich: 'Großflächiger Spargelanbau unter Folie hat negative Auswirkungen auf die Tierwelt, da die direkt unter Folie verpackten Flächen praktisch keine Lebensraumfunktion haben.' Werner Christ verweist außerdem auf ein Gutachten, das das Landesumweltamt, dem Umweltministerium unterstellt, in Auftrag gegeben hat: 'Zur Erfassung der Brutvögel auf Anbauflächen mit Folienspargel'. Darin ist von Habitatzerstörung, Niedergang der Artenvielfalt auf Äckern und Verlusten an Biodiversität die Rede. "Dieses Gutachten in seinem Fazit sagt ganz klar, diese großflächige unter-Folie-Legung ist die Ursache für bestimmte Sachen, die hier eigentlich passieren, dass ein Zusammenhang zwischen großflächiger Plastinierung des Ackerbodens und Rückgang von Tieren, hier Brutvögeln erwiesen ist." Als Spargelgegner will sich der Mann mit dem charakteristischen weißen Schnauz- und Backenbart aber nicht bezeichnen lassen. Dazu isst er ihn zu gern: "Natürlich. Aber mein Spargel kommt aus Briest, von einem unserer Mitglieder, der das sehr wohl versteht, ohne Folie auszukommen. Und ich kann Ihnen sagen, was Schöneres, was Besseres gibt es nicht!"
Von Axel Flemming
Um Spargelpflanzen schneller ernten zu können, überzieht man die Felder häufig mit Plastikfolie. Diese wirkt wie ein Mini-Treibhaus. Umweltschützer kritisieren, dass die Folie die Böden versiegele. Sie befürchten, dass dies langfristig Folgen für die Tier- und Pflanzenwelt haben könnte.
"2014-10-02T16:52:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:37.473000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bedrohte-artenvielfalt-streit-um-spargelfelder-unter-folie-100.html
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Witze über die Muslimbrüder
Ein Ägypter besucht die Feier anlässlich des 100. Geburtstags von Gamal Abdel Nasser in Kairo (imago stock&people) Gamal Abdel Nasser, Ägyptens ehemaliger Staatschef, in den 50er Jahren ein Popstar der arabischen Welt, ist für viele am Nil auch heute noch ein Held. Obwohl ihm, nach großen Anfangserfolgen, in den 60er Jahren nicht mehr viel gelang. Nasser, Mitglied der freien Offiziere, hatte 1952 am 23. Juli den ägyptischen König Faruk gestürzt und wusste damals die islamischen Muslimbrüder an seiner Seite. Militärs und Islamisten kämpften gemeinsam gegen Königshaus und Briten – aber diese Allianz hielt nicht lange. Den genauso schwachen wie übergewichtigen König zu stürzen, dieses Ziel taugte, solange es noch nicht erreicht war. Nach Faruks Sturz war es mit den Gemeinsamkeiten vorbei. Nasser war mit der Absicherung seiner Macht und mit seinen großen Erfolgen beschäftigt, und die hatten wenig mit Religion zu tun. Etwa die Verstaatlichung des Suezkanals in einem Handstreich. Während Nasser eine flammende Rede in Alexandria hielt, übernahm das ägyptische Militär die damals wichtigste Wasserstraße der Welt. Nasser überschüttete die ehemaligen britischen Kolonialherren mit Häme: "Die Briten haben uns beschimpft und beleidigt, sie haben mich einen Hund genannt. Sie haben ihre Flotte geschickt und 100 Millionen Pfund verschwendet. Und sie haben nichts erreicht." Panarabismus vs. Panislamismus Nassers Prinzipen: Panarabismus, also die Einheit aller Araber in einem gemeinsamen Staat, Sozialismus, Blockfreiheit ließen keinen Platz für den Panislamismus der Muslimbrüder. Die verübten 1954 ein Attentat auf den Volkshelden Nasser. Es scheiterte, tausende wanderten hinter Gitter oder landeten am Galgen. Nasser sprach zwar noch vom Versuch eines Übereinkommens mit den Islamisten, aber die Rede des Charismatikers Nasser hatte da schon vor allem Unterhaltungscharakter: "Wir wollten Kompromisse mit den Muslimbrüdern, wenn sie denn zur Vernunft fähig gewesen wären. Ich habe mit dem Führer der Muslimbrüder zusammengesessen. Das Erste, was er forderte, war eine Pflicht zur Verschleierung. Alle Frauen sollten ihn auf der Straße tragen. Ein Schritt zurück in die Vergangenheit." "Soll der Muslimbruder doch selber den Schleier tragen", ruft ein Zuhörer. Nasser entgegnet: "Ich habe ihm gesagt, dass nicht einmal seine Tochter den Schleier trage. Ich soll zehn Millionen Frauen unter den Schleier zwingen und er kann nicht einmal seine Tochter überzeugen?" "Nasser hat die Hoffnungen aller Araber verkörpert" Nasser, ein arabischer Führer ohne große demokratische Anwandlungen, hatte für die Muslimbrüder und ihren fundamentalen Islamismus keinen Platz und keine Verwendung. Seine Enkelin Tahia Khaled Abdel Nasser, Literaturwissenschaftlerin an der Amerikanischen Universität in Kairo, über ihren Opa: "Nasser war ein verehrter Führer, er hat die Hoffnungen der Ägypter, aller Araber verkörpert, Träume von Unabhängigkeit und Freiheit, von arabischer Einheit und Gerechtigkeit." Erst als klar war, dass viele dieser Träume nicht zu realisieren sein würden, nach der Niederlage gegen Israel 1967 und der gescheiterten Militärintervention im Jemen, ließ Nasser tausend inhaftierte Muslimbrüder frei. Radio- und Fernsehsender wurden angewiesen Koranverse auszustrahlen. Nasser brauchte die Muslimbrüder wieder, um sein Ziel der nationalen Einheit doch noch zu erreichen. Die Religion war ihm da letztlich nur Mittel zum Zweck. Gamal Abdel Nasser starb 1970, sein panarabischer Sozialismus war gescheitert, ein religiöses Antlitz hatte dieser Sozialismus nie wirklich gehabt. Das Ende der panarabischen Idee hinterließ eine Lücke, eine Leerstelle, die die Muslimbrüder und der Islam zu füllen begannen. Der Islam ist die Lösung, diese Parole verfing in und außerhalb der Moscheen. Gamal Abdel Nasser aber blieb Volksheld. Und sein Eintreten für die Sache der Palästinenser, für den Kampf der PLO Yassir Arafats für einen eigenen Staat machte ihn auch zu einer Ikone der 68er Bewegung in Deutschland und Europa. In Ägypten ist er bis heute ein Held – im Januar dieses Jahres wäre er 100 Jahre alt geworden.
Von Udo Schmidt
Gamal Abdel Nasser, der Unabhängigkeitsheld der Ägypter, war als Verfechter des Panarabismus kein aufrechter Demokrat, aber wollte das Land modernisieren. Der Islam und die Muslimbrüder waren ihm da eher im Weg.
"2018-07-30T09:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:03:39.728000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gamal-abdel-nasser-witze-ueber-die-muslimbrueder-100.html
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Kein Platz für Kinder
"Kommunen haben neue Konzepte entwickelt, weg von reinen Spielplätzen, hin zu Mehrgenerationenplätzen“ sagt Ursula Krickl vom Deutschen Städte- und Gemeindebund (dpa/Jörg Carstensen) Mitten auf der Straße liefern sich ein paar Dreijährige ein Bobbycar-Rennen. Drei Mädchen haben einen Slalomparcours für Fahrräder aufgebaut. Autos fahren an diesem Mittwochnachmittag nicht durch die Böckhstraße im Berliner Bezirk Kreuzberg. Jede Woche einmal ist diese Straße von 14 bis 18 Uhr keine Autostraße, sondern eine temporäre Spielstraße. Nora, Lucie und Paula, zwischen sechs und acht Jahren alt, sind begeistert: "Ich finde das eigentlich toll, dass man halt hier auch, weil es eigentlich eine Straße ist, einfach hier rumlaufen kann. Man kann hier mit den Verkehrshütchen spielen, mit kleinen Fahrzeugen spielen und mit Kreide malen. Und da vorne machen die auch immer was mit Schnüren. Man kann hier mit vielen Geräten rumfahren, ohne dass die Autos einen stören." Anwohner müssen dafür sein Die Böckhstraße ist die erste funktionierende temporäre Spielstraße in Berlin. In Pankow war ein Projekt an den Anwohnern gescheitert - hier haben die Nachbarn nichts dagegen. Der Besitzer eines stehengebliebenen Wagens entschuldigt sich bei den Kindern: Sein Mitbewohner sei versehentlich mit dem Autoschlüssel verreist. Kein Problem, niemand holt den Abschleppwagen. Stefan Gelbhaar, Bundestagsabgeordneter für die Grünen, hat die Sache unterstützt: "Kinder brauchen nicht immer viel, aber Platz brauchen sie halt schon. Wenn wir jetzt auf dem Dorf wären, da wäre temporäre Spielstraße wahrscheinlich nicht so sinnvoll, oder wenn ein großer, schöner Spielplatz gleich nebenan wäre. Aber hier ist es halt so, hier sind Kinderläden und Kitas direkt nebendran, hier in Kreuzberg ist es ein bisschen enger, und das ist genau die Möglichkeit, dann den Raum anders zu nutzen." Weil Spielflächen für Kinder immer knapper werden, besonders in Innenstädten. Berlin zum Beispiel wächst, es werden mehr Kinder geboren - aber die Spielfläche für Kinder nimmt seit vielen Jahren kontinuierlich ab. 0,8 Quadratmeter pro Einwohner gab es im Jahr 2000, inzwischen sind es nur noch 0,6 Quadratmeter. Dabei schreibt das Berliner Spielplatzgesetz von 1979, ein deutsches Unikum, eigentlich einen Quadratmeter pro Einwohner vor. Eingehalten wird es allerdings nicht, beklagt Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilfswerk: "Und natürlich brauchen wir dieses Draußenspielen, weil Kinder, die draußen spielen, die sich richtig austoben können, die Flächen haben, um zu toben, auch zufällige Begegnungen draußen haben mit anderen Kindern, sich natürlich ganz anders entwickeln, als Kinder, die nur im Zimmer sitzen. Also wir haben auch einen starken Bewegungsmangel in Deutschland bei den Kindern, und da müssen wir einfach den Rahmen schaffen, und dazu gehört natürlich die Stadt- und die Verkehrsplanung." Barcelona schafft Spielflächen in den Straßen Die Konkurrenz um Flächen ist in den Städten besonders groß. Aussagekräftige Vergleichszahlen gibt es nicht. Die 3,5-Millionen-Stadt Berlin hat 1.840 Spielplätze, der dicht besiedelte Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat 170 davon. Die zuständigen Grünflächenämter haben Probleme mit Vandalismus, Müll und neuerdings auch mit dem Klimawandel, weil Holzspielgeräte viel häufiger von Pilzen befallen werden. Wenn es für Kinder nicht mal Schulen oder Kitas gebe, müsse ein neuer Spielplatz eben hinten anstehen, bedauert der grüne Kreuzberger Bezirksstadtrat Florian Schmidt. Raum zu Spielen könne nur gewonnen werden, wenn man ihn anderen Nutzern wegnehme, z.B. den Autos: "Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, dass man dann ganze Abschnitte einer Straße als Spielplatz darstellt. So eine Art Pocket-Spielplatz. Das haben wir in anderen Städten viel mehr. In Barcelona zum Beispiel gibt es ganz viele Kleinstspielplätze, die sehr gut auch abgesichert sind - aber die eben in den Straßen sind, nicht in der Baulücke oder im Park oder auf einem großen Platz." Bauherren nutzen Ausnahmeregelungen Bei Neubauprojekten auf Flächen, die dem Land gehören, will der Bezirksstadtrat künftig auf öffentliche Spielflächen achten. Ursula Krickl vom Deutschen Städte- und Gemeindebund will auch private Bauherren in die Pflicht nehmen. Fast in jeder Kommune gebe es Regeln, nach denen bei neu gebauten Wohnungen auch Spielplätze in bestimmtem Maß mitgeplant werden sollen. In Berlin müssen bei Projekten mit mehr als sechs Wohnungen je Wohneinheit vier Quadratmeter Spielfläche geschaffen werden: "Also seit einiger Zeit beobachten wir auch mit Sorge, dass insbesondere auch private Bauträger von Mehrfamilienhäusern ihre Pflicht zum Spielplatzbau nicht mehr in dem ausreichenden Maße nachkommen - was den Druck auf die verbleibenden öffentlichen Spielräume zusätzlich erhöht." Es gibt für Bauherren jede Menge Ausnahmeregelungen. Besser als neue Spielplätze seien sowieso spieltaugliche städtische Bereiche, meint Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilfswerk: "Spielen soll ja nicht nur auf Spielplätzen stattfinden. Also von daher wäre unser Ideal ein ganzes Netz von verschiedenen Räumen, die die Kinder und Jugendlichen nutzen können. Spielplätze, naturnahe Außenräume, Straßen, Gehwege, Plätze, Wäldchen, am Bachlauf, der Kletterbaum - all das soll zum Spielen einladen." "Auch alte Leute gehören auf die Straße" Kinder und Jugendliche müssten eine Rolle in der Stadt- und Verkehrsplanung spielen, meint der Kreuzberger Bezirksstadtrat Florian Schmidt. Die Flächen seien einfach ungerecht zugunsten der Autos verteilt. Mit mehr Personal könnten auch Schulhöfe nachmittags zum Spielen geöffnet werden. Ursula Krickl vom Deutschen Städte- und Gemeindebund: "Gerade in Wohngebieten, wo vor 20 Jahren junge Familien eingezogen sind, sind die Kinder heute vielfach aus dem Haus, und bestehende Spielplätze verwaisen. Viele Kommunen haben deshalb bereits heute neue Konzepte entwickelt, weg von reinen Spielplätzen, hin zu Mehrgenerationenplätzen, auf denen alle Familien, gerade auch Ältere, dann gerne Zeit verbringen." So wie in der Kreuzberger Böckhstraße. An diesem Spielstraßen-Mittwoch ist Helga Hartmann extra mit ihrem Rollstuhl auf die Straße gekommen: "Weil ich finde, dass alte Leute und Omas und Kinder auf die Straße gehören. Die alten Leute, weil sie so was vom Leben haben, und Kinder halten uns jung, und deswegen finde ich das obercool."
Von Anja Nehls
Die Menschen ziehen in die Städte - und das geht auf Kosten der Spielflächen für Kinder und Jugendliche. Berliner Zahlen zeigen einen Rückgang um ein Viertel in unter 20 Jahren. Bauherren drücken sich vor der Schaffung von Spielplätzen. Spielstraßen wären eine Lösung - doch dazu müssen die Autos weichen.
"2019-09-05T19:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:09:07.803000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verkehrs-und-stadtplanung-kein-platz-fuer-kinder-100.html
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17 Minuten für die Opfer des Schulmassakers
In Palm Beach in Florida haben bereits am 21. Februar Schüler mit einem sogenannten "Walkout" gegen Waffengewalt protestiert. Heute findet eine solche Protestaktion USA-weit statt. (imago stock&people) In den USA gedenken heute Schüler mit 17-minütigen Ausständen der Opfer des Amoklaufs an einer Schule in Florida. Einen Monat, nachdem ein 19-Jähriger 14 Schüler und drei Erwachsene an der Schule in Parkland erschossen hatte, wollen USA-weit Schüler ihre Klassenzimmer verlassen - je eine Minute für jedes Todesopfer. Mit den sogenannten "Walkouts" wollen die Jugendlichen neben dem Gedenken für striktere Waffengesetze werben. Organisiert wird die Aktion von der Jugendorganisation Empower. Ihren Angaben zufolge sind insgesamt 2.800 Walkouts angemeldet. Eine Nutzerin twitterte ein Schild mit den Namen der Opfer und schrieb dazu: "Jeder dieser Menschen war das Ein und Alles von Jemandem". Wie die Schüler die 17 Minuten gestalten, steht ihnen frei: Sie können der Toten still gedenken, aber auch gemeinsam singen, die Namen der Opfer rezitieren oder Menschenketten bilden. Einige Schulen untersagten ihren Schülern aufgrund von Sicherheitsbedenken und wegen der Störung des Unterrichts die Teilnahme an der Aktion. Der Schauspieler Dulé Hill echauffierte sich darüber, dass seine Highschool in New Jersey offenbar zu den Schulen gehört, die die Proteste unterbinden möchte und mit zweitägigem Schulverweis droht. Unter den Überlebenden von Parkland hatte sich direkt nach dem Amoklauf eine vehemente Protestbewegung geformt, die härtere Waffengesetze und ein Umdenken der Politik forderte. Der Vorsitzende der US-Waffenlobby NRA, Wayne LaPierre, hatte ihnen vorgeworfen, "Opportunisten" zu sein, die den Vorfall "zu politischen Zwecken" nutzen wollten. Ihm zufolge seien durch die Forderung nach dem schärferen Waffengesetz "alle persönlichen Freiheitsrechte bedroht" Hören Sie zu den heutigen Protesten einen Beitrag aus den "Informationen am Morgen" im DLF. (vic/jcs)
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In den USA gedenken heute Schüler mit 17-minütigen Ausständen der Opfer des Amoklaufs an einer Schule in Florida - jede Minute ist einem der Opfer gewidmet. Mit den sogenannten "Walkouts" wollen sie zudem für härtere Waffengesetze werben. Doch einige Schulen drohen mit Strafen.
"2018-03-14T08:29:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:15.547000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gedenkaktion-17-minuten-fuer-die-opfer-des-schulmassakers-100.html
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Pflanzenschutzgift beeinträchtigt Fruchtbarkeit
Imker klagen in den letzten Jahrzehnten vermehrt über eine verringerte Lebenserwartung ihrer Bienenköniginnen. Ist das Pflanzenschutzmittel Fipronil mit dafür verantwortlich? (picture alliance / dpa / Ingo Wagner) Um die sogenannten Systemischen Pflanzenschutzmittel gibt es seit Jahren Streit: Nicht darüber, ob auch nützliche Insekten wie Bienen oder Schmetterlinge damit in Kontakt kommen, sondern darüber, ob die Mengen in Nektar und Pollen ausreichen, diesen Tieren erheblichen Schaden zuzufügen. Denn Nektar und Pollen dienen vielen Insekten als Nahrung. Ein solches Systemisches Insektengift ist Fipronil. Forscher um Jean-Luc Brunet vom Institut national de la recherche agronomique im französischen Avignon haben es jetzt näher untersucht: "Wir haben Fipronil verwendet, weil bekannt ist, dass es im gesamten Tierreich Probleme bei der Fruchtbarkeit verursachen kann. Wir verwenden Fipronil als Referenzchemikalie, um festzustellen, ob Pestizide die Fortpflanzungsfähigkeit von Insektenmännchen beeinträchtigen." Fipronil tötet Insekten schon in niedrigen Dosen. Es kommt weltweit einerseits gegen Parasiten wie Flöhe oder gegen Kakerlaken zum Einsatz, andererseits aber auch gegen Ackerschädlinge. In Europa aber ist Fipronil seit Anfang 2014 im Pflanzenschutz nicht mehr zugelassen. Die Forscher des französischen Agrarforschungsverbunds haben für ihr Experiment Zuckersirup mit winzigen Mengen Fipronil versetzt, ein Zehntel Mikrogramm Gift pro Liter Zuckerlösung. Bei dieser Konzentration haben andere Forschergruppen bislang keine direkten Auswirkungen bei Bienen gefunden. Die Forscher aus Avignon haben aber nicht die Drohnen direkt gefüttert, denn die männlichen Bienen bleiben die meiste Zeit im Stock: "Die Sammelbienen haben von dem kontaminierten Sirup gefressen und ihn in den Stock gebracht. Dort haben sie die Drohnen entweder direkt mit dem Pseudo-Nektar gefüttert oder ihn als Honig eingelagert, den die Drohnen dann später gefressen haben." "Es liegt nahe, dass Königinnen, die Samen schlechter Qualität gespeichert haben, weniger fruchtbar sind" Die Versuche liefen unter großen Gaze-Tunnelzelten, die über nacktem Erdboden aufgeschlagen waren, sodass die Bienen tatsächlich nur den Fipronil-Sirup sammeln konnten. Äußerlich entwickelten sich die Drohnen gleich gut und lebten genauso lange wie in Vergleichsvölkern, die sich von Zuckerwasser ohne Fipronil ernährten. Auch die Menge der Samenflüssigkeit war identisch. Doch die Qualität war schlechter. Die Samenflüssigkeit der Fipronil-Drohnen enthielt insgesamt weniger Samenzellen und einen größeren Anteil toter Samenzellen. Die Auswirkungen auf die Königinnen ließen sich direkt messen, sagt Jean-Luc Brunet: "Wir haben Jungköniginnen mit diesem Samen befruchtet. Die Spermatheken, die Samenzellenspeicher, von Bienenköniginnen, die von Fipronil-Männchen befruchtet waren, enthielten 30 Prozent weniger Samenzellen als bei der Vergleichsgruppe." Das dürfte Konsequenzen für die gesamte Kolonie haben: Bienenköniginnen paaren sich nur während des Hochzeitsflugs zu Beginn ihres Lebens, dann aber gleich mit bis zu 20 Drohnen. Der Samenzellenvorrat in ihrer Spermathek reicht normalerweise für bis zu vier Jahre. "Wir haben die Auswirkungen auf die Kolonie nicht untersucht, aber es liegt nahe, dass Königinnen, die Samen schlechter Qualität gespeichert haben, weniger fruchtbar sind und das Gift darum die Bienenkolonie schwächt und vor allem die Lebenserwartung dieser Königin verkürzt." Über ähnliche Effekte hatten Forscher des Schweizer Bienenforschungszentrums in Bern bei anderen Systemischen Insektengiften, bei bestimmten Neonicotinoiden, berichtet. Diese Prozesse könnten erklären, warum Imker in den letzten Jahrzehnten vermehrt darüber klagen, dass die Königinnen ihrer Bienenvölker weniger lange leben als in früheren Zeiten, sagt Jean-Luc Brunet. Denn ist der Samenzellenvorrat aufgebraucht, tauschen die Arbeiterinnen die Königinnen aus.
Von Sonja und Joachim Budde
Für viele Lebensmittel sind wir darauf angewiesen, dass etwa Honigbienen, wilde Bienen oder Schmetterlinge Pflanzen bestäuben. Doch diese Insekten leiden unter der intensiven Landwirtschaft. Besonders in der Kritik stehen Pflanzenschutzmittel. Forschern zufolge können sie die Fortpflanzungsfähigkeit von Bienen beeinträchtigen.
"2016-12-08T16:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:47.560000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/honigbienen-pflanzenschutzgift-beeintraechtigt-fruchtbarkeit-100.html
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Braucht Crowdworking neue Regeln?
Für viele Crowdworker war Homeoffice schon vor der Pandemie Alltag (picture alliance/ KEYSTONE/ Christian Beutler) Irina Kretschmer sitzt vor der Kamera ihres Computers in ihrer Wohnung in der Nähe von Heidelberg. Im Hintergrund steht ein hohes, dunkles Regal mit Ablagesystemen für Unterlagen. "Im Moment arbeite ich hier, weil mein anderes Büro – das ist so die Kreativecke – da sitzt momentan meine Tochter, die im Homeoffice ist." Homeoffice war für Irina Kretschmer schon vor der Pandemie Alltag. Die 60-Jährige ist selbstständige Texterin. "Heute habe ich Webseitentexte geschrieben, ganz spannend, für ein Unternehmen, das Grundrisse digitalisiert." Das Besondere: Kretschmer erhält ihre Aufträge über Online-Plattformen. Sie ist eine so genannte Crowdworkerin. Die "Crowd", englisch für Menschenmenge, besteht aus Menschen, die ihre Arbeit über Internet-Plattformen anbieten. Auch der Begriff "Gig-Economy" wird verwendet – "gig", englisch für Auftritt, weil Menschen einzelne Aufträge online generieren. Oder auf Deutsch: Plattformarbeit. Umgangssprachlich ist damit gemeint, dass Privatpersonen Geld über Online-Plattformen verdienen, erklärt Andrea Herrmann. Sie ist Professorin für Innovationsstudien an der Universität Utrecht und forscht seit Jahren zur Gig-Economy. Unterschieden werden dabei vor allem Online- und Onsite-Arbeit: "Die Onsite-Arbeit, das sind Gig-Arbeiter, die zu ihren Kunden, zu ihrem Auftraggeber hingehen. Und die die Arbeit dann vor Ort durchführen. Das ist beispielsweise das Ausliefern von Essen oder das Säubern von einer Wohnung oder auch Babysitter-Aufgaben. Die Online-Gig-Arbeit sind Aufgaben, die mit Hilfe eines Computers gemacht werden. Also das Übersetzen von Texten oder das Programmieren von Webpages, jede Menge IT-Arbeit, Schreiben von Texten." Beachtliches Wachstum von Plattformen Je nach Definition variieren die Schätzungen zur Verbreitung von Gig-Arbeit. Etwa fünf Prozent der Erwerbstätigen in entwickelten Industrienationen erzielen regelmäßig einen Teil ihres Einkommens über Plattformarbeit, erklärt Herrmann. Einer EU-Erhebung zufolge bezogen 2018 etwa 2,7 Millionen Menschen in Deutschland mindestens die Hälfte ihrer Einnahmen aus Plattformarbeit oder arbeiteten mindestens zehn Stunden die Woche für eine Plattform. Andere Studien kommen zu höheren oder auch geringeren Zahlen. Beachtlich ist das Wachstum von Plattformen: Einem aktuellen Bericht der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, zufolge hat sich die Anzahl im letzten Jahrzehnt weltweit verfünffacht. Ein Großteil der Gig-Worker ist jung: Laut ILO unter 35 Jahre alt und gut gebildet. Für die große Mehrheit ist Crowdworking ein selbstständiger Nebenverdienst. Vorteile sind die Flexibilität und die niedrige Einstiegshürde. In der Pandemie ist die Nachfrage nach Gig-Work zwischenzeitlich um 40 Prozent gestiegen, berichtet Polit-Ökonomin Herrmann. Das Angebot von Menschen, die ihre Arbeit anbieten, habe sogar um bis zu 450 Prozent zugenommen. Häufig ist der Grund der Job-Verlust in der Coronakrise. Colin Crouch "Gig Economy" Viele Internetplattformen versprechen Dienstleistungen zum günstigen Preis. Dahinter verbergen sich oft prekäre Arbeitsbedingungen. Diese Spielart neoliberaler Wirtschaftsgestaltung ist für den Politikwissenschaftler Colin Crouch ein Symptom für das Ende des Normalarbeitsverhältnisses. Schneller, flexibler, kostengünstiger Für die Unternehmen bietet die Plattformarbeit schnelle, flexible Lösungen. Ihre Aufträge können sie an eine Fülle von Arbeitern und Arbeiterinnen vergeben – ohne sich dabei langfristig binden zu müssen. Die Geschwindigkeit, mit der Unternehmen Zugang zu Gig-Arbeitern haben, ist einer der großen Vorteile, erklärt Andrea Herrmann. "Zum Teil auch, wenn sehr spezielle Fähigkeiten gesucht werden, findet man die teilweise mittlerweile besser über Plattformen. Gerade im IT-Bereich, wo es ja jetzt auch ganz neue Programmiersprachen gibt, die eben nicht jeder beherrscht. Und dann sind es natürlich auch die Kosten. Also dadurch, dass Gig-Arbeiter häufig nicht sozialversichert sind, sind die Kosten von Gig-Arbeitern viel günstiger als von klassischen Arbeitnehmern." Crowdworking als Chance Die wachsende Bedeutung von Plattformarbeit führt dazu, dass auch auf politischer Ebene in Berlin und Brüssel über mögliche Regulierungen diskutiert wird. Die Schwierigkeit: Die Plattformökonomie ist keine homogene Branche. Tätigkeitsbereiche und Geschäftsmodelle variieren stark. Abhängig vom jeweiligen Modell stellt sich die Frage nach der Verantwortung von Plattformen gegenüber ihren Arbeiterinnen und Arbeitern. Und die Frage, inwieweit teilweise global agierende Plattformen überhaupt sinnvoll reguliert werden können. Denn: Zum Teil fungieren Plattformen lediglich als Marktplatz für Dienstleistungen, beispielsweise die Handwerksplattform MyHammer. Einige betonen, dass sie nur technische Infrastruktur stellten – so zum Beispiel die Putzkräfte-Vermittlung Helpling. Andere Plattformen, wie Clickworker, nehmen große Projekte an und zerteilen sie in Kleinstaufgaben, so genannte Microtasks, die sie an die Crowdworker verteilen. Die Tätigkeiten im Crowdworking können von simpler Kategorisierung von Bildern bis hin zu komplizierten Programmieraufgaben reichen. Berufsbild "Crowdworker" - Die digitalen Tagelöhnern Sie schreiben Texte, kategorisieren Fotos, testen Software - am Ende erhalten sie von ihren Arbeitgebern das Geld per Mausklick: Sogenannte Crowdworker bieten ihre Dienste über das Internet an und sitzen nicht fest in einer Firma. Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, sieht die Plattformökonomie zunächst als Chance: "Das so genannte Crowdworking oder Gig-Working ist ja erst mal ein Weg, wie Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenkommen und sich diese Bedürfnisse matchen. Und das ist grosso modo ganz eindeutig ein Fortschritt und eine der vielen Chancen, die die Digitalisierung für unser Leben bietet." Wichtig sei, Plattform-Monopole im Blick zu behalten und solche gegebenenfalls zu brechen. Bei einzelnen Anbietern stellten sich außerdem Fragen nach Scheinselbstständigkeit – hier brauche es aber keiner zusätzlichen Regulierung, sondern die Anwendung bereits bestehender Gesetze. Dass die Plattformökonomie viele Vorteile mit sich bringe, betont auch Martin Rosemann. Der zuständige Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion fordert jedoch, dass Plattformen auch eine gewisse Verantwortung übernehmen. "Dafür, dass diejenigen Plattformen, die eben nicht reine Vermittlungsplattformen sind, sondern, die eben tatsächlich sehr viel Einfluss nehmen darauf, wie ihre Plattformarbeiter, ihre Crowd- und Gig-Worker, wie die bewertet werden und damit auch eingreifen in diesen Markt, der da stattfindet. Damit die Chancen beeinflussen, wie wahrscheinlich es ist, dass ich einen neuen Auftrag kriege. Die auch eben in hohem Maße das regulieren, was da gemacht wird. Dass die dann auch entsprechend dieser Verantwortung gerecht werden." Die Gefahr der Scheinselbstständigkeit Das Bewertungssystem auf einigen Plattformen werde zum Teil auch von Crowdworkern kritisiert, erklärt Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall. Die Gewerkschaft setzt sich für die Rechte von Crowdworkern wie Irina Kretschmer ein. "Das ist wie bei Gamification, wie bei einem Spiel über die Konsole, dass Sie sich da sozusagen immer auf andere Level durch ihre Arbeitserbringung durcharbeiten können. Und da war so bei einigen das Thema, dass das nicht sonderlich transparent ist und einige auch nicht wussten, warum kriege ich jetzt bestimmte Aufträge nicht mehr, warum kriege ich andere Aufträge." Gerade aus solchen Steuerungselementen könne sich die Gefahr von Scheinselbstständigkeit ergeben, meint Martin Rosemann von der SPD. Über eine solche Statusfrage wurde kürzlich vor dem Bundesarbeitsgericht verhandelt. Ein Crowdworker fotografierte für eine Plattform im Einzelhandel und an Tankstellen, wo bestimmte Produkte in der Auslage platziert waren. Das Gericht in Erfurt entschied im Dezember: Der Crowdworker stand in einem Arbeitsverhältnis zur Plattform. Denn die Organisationsstruktur bei der Auftragsvergabe war darauf ausgerichtet, kontinuierlich Aufträge anzunehmen. Nur so erreichte der Crowdworker ein höheres Level auf der Plattform und somit de facto einen höheren Stundenlohn. Die IG Metall hatte den Crowdworker bei seiner Klage unterstützt. Christiane Benner: "Das Gericht hat festgestellt, das war eine weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Und das ist in der Digitalwelt wirklich ein historisches Urteil." Stark variierende Honorare Die IG Metall war auch an einer Überarbeitung eines so genannten "Code of Conduct" – eines Verhaltenskodexes – von Crowdworking-Plattformen beteiligt. Darin verpflichten sich große Plattformen in Deutschland und teilweise auch in Europa zu freiwilligen Standards für faire Arbeitsbedingungen. Dazu gehört auch faire Bezahlung. Die Honorare variieren bei der Gig-Arbeit stark, erklärt Christiane Benner. "Also es ist wirklich zum Teil, Solo-Selbstständige, die dann, obwohl es hauptberufliche Tätigkeit war, auf ein Monatsentgelt gekommen sind, das um die 1400 bis 1600 Euro liegt. Also wo man einfach ganz klar verstehen kann, damit komm ich nicht über die Runden. Wir hatten aber auch einfach Zahlen, die lagen in so einem Bereich, wo ich sagen würde, ja, das ist etwas, das bekommt auch ein Entwickler nach unserem Tarifvertrag." Der Mindestlohn gilt für Selbstständige nicht. Texterin Irina Kretschmer erhält in der Regel zwischen etwa vier und sieben Cent pro Wort, das sie schreibt. Der Texterverband, ein Fachverband für freie Werbetexter, beziffert als marktgerechten Stundenlohn für freiberufliche professionelle Werbetexterinnen und Texter 90 Euro. Eine Crowdworkerin wie Irina Kretschmer müsste knapp 1.300 Wörter die Stunde – also grob vier bis fünf Din-A-4-Seiten – schreiben, um diesen Betrag zu erreichen. Der Texterverband kritisiert Crowdworking unter anderem deshalb als disruptiv, also zerstörerisch, für die Branche. Die Plattformarbeit schaffe prekäre Lebenssituationen. Dass die Plattform für die Vermittlung etwa 30 Prozent erhält, stört Irina Kretschmer nicht. Für sie überwiegen die Vorteile bei der Plattformarbeit: "Ich kann mich auf meine Arbeit konzentrieren. Ich muss weder Akquise betreiben, noch muss ich mich um das Geld kümmern. Also wenn ich den Auftrag annehme, dann ist sicher, dass das Geld schon bei der Plattform ist." Längerfristig droht eine soziale Schieflage Hinzu kommt im Fall von Irina Kretschmer, dass die Plattform content.de Abgaben an die Künstlersozialkasse zahlt. Die Künstlersozialkasse sorgt dafür, dass Selbstständige in der Kreativbranche ähnlich wie Arbeitnehmer gesetzlich renten- und krankenversichert sind. Denn: Neben Entlohnung oder Möglichkeiten der kollektiven Organisation stellen sich bei Solo-Selbstständigen auch Fragen nach der sozialen Absicherung – nicht nur, aber auch in der Plattformökonomie. Probleme entstünden womöglich dann, genauso wie bei anderen Selbstständigen, wenn Gig-Arbeiter nicht mehr arbeiten können, erklärt Polit-Ökonomin Herrmann: "Dadurch, dass eben die Anzahl der Gig-Arbeiter jetzt stark anwächst, die nicht in die Sozialversicherung einzahlen, kommt es eben im Zweifelsfall dazu, dass wenn ein Gig-Arbeiter, der von Gig-Arbeit leben würde, was eben bisher auch noch nicht im großen Stil der Fall ist, letztlich Unterstützung bekommt von Sozialversicherungsbeitragenden, er aber selber darein nicht eingezahlt hat. Wenn man jetzt davon ausgeht, dass die Gig-Economy stark weiterwächst, dann ergibt sich daraus längerfristig gesehen eine soziale Schieflage." Das SPD-geführte Bundesarbeitsministerium will deshalb solo-selbstständige Plattformtätige unter anderem in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Arbeitsminister Hubertus Heil hat kürzlich ein Eckpunktepapier mit entsprechenden Plänen vorgestellt. Auf dem virtuellen Digitalgipfel im Dezember sagte Heil dazu: "Ich finde, Plattformökonomie ist eine tolle Sache. Für Verbraucher, für viele Beschäftigte, für neue Geschäftsmodelle, für viele Unternehmen. Aber auch da müssen wir ein bisschen drauf gucken, dass zumindest mal bestehende Rechte nicht unter die Räder kommen und dass wir auch einen vernünftigen, fairen Ordnungsrahmen schaffen." Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) (dpa/Danny Gohlke) Fehlende Definition von Plattformarbeit Das Arbeitsministerium sieht in der Plattformökonomie ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Arbeitsplattformen und Plattformtätigen gegeben, heißt es im Eckpunktepapier. Deshalb sollen sich Plattformtätige unter anderem organisieren können. Auch Mindestkündigungsfristen plant das Ministerium. Außerdem sollen Plattformtätige ihren Status leichter vor Gericht überprüfen lassen können. Und: Plattformbetreiber sollen zu Transparenz verpflichtet werden, um die Datenlage in der Plattformökonomie zu verbessern. Zuspruch erhält das Papier unter anderem von den Gewerkschaften, es greife wichtige Punkte auf, heißt es. Auch einige Plattformen begrüßen die Richtung der Initiative aus dem Arbeitsministerium grundsätzlich, zum Beispiel der Essenskurierdienst Lieferando, die Plattform CrowdGuru oder content.de. Der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland bemängelt jedoch die fehlende trennscharfe Definition von Plattformarbeit und fürchtet eine zu breite Auslegung von neuen Regeln. Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbands. "Zunächst wird noch über Pizzaboten gesprochen und dann sind es auf einmal alle Solo-Selbstständigen, oder alle Solo-Selbstständigen, die über das Internet einen Auftrag bekommen – und das sind die allermeisten –, die von diesen Regelungen betroffen sind. Und dann sind diese Regelungen wiederum sehr weitreichend. Dann sehen wir die Gefahr, dass auch hochqualifizierte Selbstständige, die gerne und freiwillig selbstständig sind, plötzlich zu Scheinselbstständigen erklärt werden." Ähnlich argumentiert auch der Deutsche Crowdsourcing Verband: Das Papier aus dem Arbeitsministerium beanstande Punkte, die in der Plattformarbeit keine ernsthafte Problematik darstellten. Man sehe es als einen weiteren Versuch, sowohl die unternehmerische Selbstbestimmung der Clickworker wie auch der Plattformen einzuschränken, erklärt der Verband auf Anfrage. Die Mehrzahl der Plattformen verhalte sich zudem fair und angemessen gegenüber ihren Auftragnehmern und werde daher ihrer Verantwortung gerecht. Auch Johannes Vogel von der FDP kritisiert das Papier des Arbeitsministers: "Ehrlich gesagt empfinde ich dieses Eckpunktepapier eher als Wahlkampfmove. Er stellt ein Problem in den Raum, was man mit Blick auf die deutsche Situation so schon als nicht zutreffend beschrieben darstellen kann und suggeriert dann eine Lösung, die sehr abstrakt ist und ja in der Koalition auch alles andere als geeint." Internationale Verdrängungseffekte müssen mitbedacht werden Die Unionsfraktion erklärt auf Anfrage, man begrüße das Eckpunktepapier aus dem SPD-Arbeitsministerium grundsätzlich. Eine bedachte Gesetzgebung sei aber einer überhasteten Neuausgestaltung vorzuziehen. Die Fraktionen von Linken und Grünen sehen großen Regulierungsbedarf. Die AfD-Fraktion lehnt eine Regulierung von Plattformarbeit grundsätzlich ab. Gerade bei der Online-Arbeit müssen bei Überlegungen zur Regulierung auch internationale Verdrängungsmechanismen mitbedacht werden, erklärt Polit-Ökonomin Andrea Herrmann: "Man kann Gig-Arbeit sehr gut regulieren, solange sie nur vor Ort und in Deutschland durchgeführt wird in dem Fall. In dem Augenblick, wo sie eben internationaler Konkurrenz ausgesetzt ist, muss man noch mal neu darüber nachdenken, was es denn bedeutet, wenn ich Gig-Arbeiter mehr schütze, wenn dadurch deren Kosten steigen und sie dadurch weniger wettbewerbsfähig international werden, wenn es dadurch dann zu Verdrängungseffekten führt. Das mag sehr wünschenswert sein zum Schutz der Gig-Arbeiter, es führt aber natürlich dann auch auf der anderen Seite zu dem Risiko, dass Deutsche weniger wettbewerbsfähig sind und von diesen Märkten dann verdrängt werden." Die Ebene der Globalisierung zeigt, wie schwer es werden dürfte, das Phänomen zu greifen und zu regeln. Beispiele und Äußerungen gibt es genug: Die Putzkräfte-Vermittlung Helpling erklärte, dass neue gesetzliche Regelungen in Deutschland je nach Ausgestaltung dazu führen könnten, dass sie sich vom hiesigen Markt zurückziehen müssten. Die Plattform CrowdGuru plädiert daher für europäische Regelungen. Die Textplattform content.de fürchtet, dass durch Pauschallösungen bei der Regulierung gut funktionierende Erwerbsmodelle in Europa vom Markt verdrängt und Anbieter aus den USA, China oder Russland gefördert würden. Diese Gefahr sieht auch der Deutsche Crowdsourcing-Verband. In der EU wurde bereits im Jahr 2019 eine Richtlinie verabschiedet, die Mindeststandards unter anderem für Plattformarbeiter vorsieht. Allerdings gilt die Richtlinie nur für reguläre Arbeitnehmer. Gleiche Marktchancen müssen gewahrt werden In diesem Jahr will die EU-Kommission darüber hinaus Pläne für den besseren Schutz auch von solo-selbstständigen Plattformtätigen vorlegen. Der erste Schritt dazu erfolgte diese Woche (24.2.) mit der formalen Konsultation der Sozialpartner. Allein um gleiche Marktchancen zu bewahren, sind Regelungen mindestens auf europäischer Ebene notwendig. Die entscheidende Frage ist, wie diese aussehen müssen, um zielgenau zu sein und Fairness und Wettbewerbsfähigkeit miteinander zu vereinbaren. Am Ende gehe es bei der Diskussion über Regulierungen der Plattformökonomie um eine grundsätzliche Zukunftsfrage, sagt die Polit-Ökonomin Andrea Herrmann: "Ist das tatsächlich ein Arbeitsmarkt der Chancen, die Selbstständige nutzen können und in dem sie in Anführungszeichen gute Jobs finden? Oder wird es ein Arbeitsmarkt der Verlierer, die es nicht mehr schaffen, ihre Arbeit in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen auszuführen? Und ich glaube, dass es sehr wichtig ist, entsprechend dem deutschen Sozialgedanken, die Gig-Economy dahingehend zu lenken und dann auch zu regulieren, dass sie zum Markt der Chancen wird und nicht zum Markt der Verlierer."
Von Katharina Peetz
IT-Spezialisten, Handwerker, Texter: Immer mehr Menschen erhalten Aufträge über Onlineplattformen als sogenannte Crowdworker. Ihre Zahl ist seit der Corona-Pandemie stark gestiegen. Doch während die einen Plattformarbeit als Chance sehen, sagen andere: Crowdworking droht zum Markt der Verlierer zu werden.
"2021-02-25T18:40:00+01:00"
"2021-02-26T14:38:22.794000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/plattformarbeit-braucht-crowdworking-neue-regeln-100.html
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Abschied von Afrin
Kurdendemonstration in Köln gegen türkischen Angriff auf Afrin (Deutschlandradio/Lena Gilhaus) Eine Sprachnachricht von Zozan: "Wir sind in Flughafen, wir wollen eine friedliche Demo machen und die Polizei haben uns gesagt, bitte vom Flughafen raus. Wir sind rausgegangen und dann die haben vor uns gesperrt. Können wir nicht weiter laufen, wir können nicht rechts, nicht links. Wir wollen nachhause gehen, die lassen uns nicht. Die wollen unsere Ausweise haben, die wollen uns alle bestrafen. Wir machen nichts, wir haben eine Demo einfach für Frieden gemacht!" Nichte Lodmela: "Ja, wegen den Kindern, die in Afrin sterben." Zozan: "Lena, wenn Du kannst, Journalisten hier schicken, bitte, wenn Du kannst, selber kommen, auch schön, aber Du bist weit, dann eine andere Journalistin von Düsseldorf schicken, die lassen uns nicht frei." Diese Whats-App-Nachricht erreicht mich am Mittag, des 11. März. Zozan Siydo und ihre Nichte Lodmela Khello sitzen seit fast drei Stunden mit der Familie am Düsseldorfer Flughafen fest. Sie rufen wieder an, ich höre, wie sie mit einem Polizisten sprechen. Die Kinder wollen trinken, zur Toilette gehen. Warum macht ihr das mit uns, fragen sie? Er lasse sie nur passieren, wenn er ihre Personalien aufnehmen und Fotos von allen machen könne, entgegnet der Polizist. Die Demo sei nicht genehmigt worden, in Deutschland gebe es Regeln, an die hätten sie sich zu halten. Und die Lage in Syrien werde sich dadurch auch nicht verbessern. Ich höre, wie Zozan Siydo wütend antwortet. Dass sie Deutsche sei, hier seit fast 30 Jahren lebe. Kurz darauf geben sie auf und lassen ihre Personalien aufnehmen. Dann schicken Zozan und Lodmela wieder eine Sprachnachricht: Zozan: "Gestern Nacht um zwölf Uhr ist Nachricht gekommen, Türkei und ISIS ist zwei Kilometer entfernt von Afrin, unsere Kinder sind dort, unsere Geschwister sind dort, müssen wir alle raus. Man kann in dieser Zeit nicht daran denken, ob Genehmigung ist da oder nicht da. Wenn die Kinder sterben, wie sollen wir ruhig sitzen und essen." Lodmela: "Das war doch früher in Deutschland auch so. Das weiß auch jeder." Zozan: "Ich glaube, jeder ist so, wenn Sterbefall in Familie kommt, man vergisst alles. Und man weiß nicht, was man tut und wir sind rausgegangen, aus diesem Grund. Danke euch, wir brauchen Unterstützung von euch, wir brauchen Hilfe von euch. Danke Tschüss." So verteidigen sich Zozan und ihre Nichte Lodmela. Mit Maschinengewehren gegen "Ungläubige" Zozan und ihre Verwandten sind syrische Kurden, gehören zur Glaubensgemeinschaft der Jesiden, die in zahlreichen islamisch geprägten Ländern seit Jahrhunderten verfolgt werden. 1989 erhielten Jesiden unter dem Status der Gruppenverfolgten bei uns das Bleiberecht. So wuchs über die Jahrzehnte eine große Gemeinde heran. Mittlerweile leben laut Schätzungen des Zentralrats der Jesiden rund 190.000 Jesiden in Deutschland. So wie Zozan Siydo, die hier zwar in Sicherheit ist, aber jeden Tag größere Angst um ihre Verwandten in Syrien bekommt. Sie fürchtet ein Massaker an Zivilisten, insbesondere jesidischen Kurden, durch den IS und die türkische Armee. Seit einigen Tagen erreicht sie ihre Schwester nicht mehr. Das erzählt sie mir Tags drauf. Zozan und ihr Mann Rozghar Siydo stehen bei der Montagsdemonstration auf der Kölner Domplatte. Reporterfrage: Wie habt ihr die letzten Tage erlebt, als ihr die Information erhalten habt, dass die Türkei vor Afrin steht? Welche Informationen habt ihr von euren Angehörigen? Zozan: "Die haben über 300 Dörfer vernichtet, dem Erdboden gleich gemacht. Steine. Bäume. Erde. Die brennen alles. Die Leute sind alle in der Stadt Afrin. Fast eine Million Menschen in Stadt Afrin gesperrt. Die haben die Talwassersperre bombardiert. Die haben das Wasser zugemacht, jetzt eine Million Menschen ohne Wasser. Raus, rein, nichts mehr." Reporterfrage: Von wem habt ihr das gehört? Zozan: "Meine Freundin hat mich angerufen heute morgen, ein Mann mit Schwiegertochter ist allein im Dorf geblieben und die haben die genommen, Schwiegervater ist 80 Jahre alt, haben sie getötet und Frau schwanger, 8 Monat, die haben Bauch geschnitten Kind rausgeholt, auch kaputt geschnitten und dann Frau. Alle Leute sind am Heulen. Leute können nicht essen, trinken, nur am Heulen." Alle rufen im Chor: "Hoch die internationale Solidarität." Keine validen Quellen Das deckt sich mit den Videos, die bei Facebook kursieren. Sie sollen Morde und Vergewaltigungen an "Ungläubigen" darstellen. Nackte Frauen und kleine Mädchen werden unter unvorstellbaren Schreien in Trucks gesperrt, wehrlose Menschen mit Maschinengewehren niedergeschossen. Es sind keine validen Quellen. Dass es bereits Morde oder Vergewaltigungen gegeben habe, kann der Zentralrat der Jesiden zum Zeitpunkt der Kundgebung nicht bestätigen. Auch nicht die Sprengung der Talwassersperre, wohl aber die anderen Berichte der Siydos: Vor dem Einmarsch hätten sich alle Bewohner der umliegenden Dörfer im Zentrum befunden, von der Armee eingekesselt, habe es keine Chance zur Flucht gegeben, Berichte, dass die Zivilbevölkerung habe fliehen können, seien falsch. Es habe an Nahrung, Trinkwasser und Medikamenten gefehlt. Durch die Verletzten seien die Krankenhäuser überfüllt gewesen. In Bildern und Videos hätten Djihadisten und Islamisten verkündet, in Afrin eine Gottesstadt zu errichten. An den Zentralrat sei nur eins aus Afrin gedrungen: "Helft uns!" Die Menschen dort hätten weder Unterstützung durch den syrischen Staat, noch Russland, Amerika oder Europäische Staaten erhalten. Zurück auf der Kundgebung in Köln. Ein syrischer Mann liest aus einer Nachricht, die ihm eine Freundin aus Afrin geschickt habe. Da steht: "Die zu erwartenden Opfer übersteigen alles Vorstellbare, denn der türkische Präsident, Erdogan hat erklärt, dass er Afrin säubern will. Dass er dabei den Gruß der grauen Wölfe zeigt, vergleichbar mit dem Hitlergruß der deutschen Nazis, spricht eine eigene Sprache. Die vorgeschobene Erklärung, die Verteidigung gegen terroristische Angriffe, erinnert fatal an die Erklärung der Nazis zum Überfall auf Polen im Jahr 1939." Gesänge: "Terrorist Erdogan!" An Erdogans Begründung, den Terror – konkret die Kurdenmiliz YPG - in Syrien zu bekämpfen, glaubt auch Rozghar Siydo nicht: "Sie meinen wegen YPG - die haben doch gegen ISIS gekämpft! Ganz Europa hat die unterstützt! Und ich wundere mich: Auf einmal, die ganze Welt stellt sich taub und blind." Demo-Chor: "Hoch die internationale Solidarität" Zentralrat der Jesiden: Keine unangemeldeten Demos Um das zu ändern hätten sie am Düsseldorfer Flughafen demonstriert, sagen die Siydos. Inzwischen hat die Polizei Anzeige gegen hunderte kurdische Demonstranten erstattet. Nico Held, IG-Metaller, steht jetzt am Mikrofon und verurteilt das Vorgehen der Polizei scharf: "Was der größte Skandal ist, dass hier in Deutschland, die Regierung und die Polizei immer mehr gegen die kurdischen Proteste hier in Deutschland vorgehen und die Kurden, die sich hier gegen das Massaker wehren und Aufmerksam machen, kriminalisiert. Das finde ich ist eine riesige Schweinerei." Der Zentralrat der Jesiden distanziert sich von solchen Vorwürfen, vertritt nicht die Meinung, dass Jesiden kriminalisiert würden. Irfan Ortaç, der Zentralratsvorsitzende, gibt eine Stellungnahme zu den Demonstrationen ab. Er sagt: "Wir können unsere Proteste kundtun, jederzeit und überall protestieren, wo wir wollen. Wir müssen sie allerdings vorher, wie es das Gesetz vorsieht, anmelden und wenn wir uns nach den Gesetzen verhalten, dann haben wir alle Rechte, so wie jeder Deutsche, jeder Bürger in Deutschland auch." Gewalt werde nicht legitimiert und gerechtfertigt und unangemeldete Demonstrationen auch nicht, so Ortaç weiter. Zozan Siydo fühlt sich von der Bundesregierung verraten. Wegen der millionenschweren Exportgenehmigungen deutscher Waffen für die türkische Operation "Olivenzweig" in Nordsyrien. Sie steht neben mir und weint. Reporterfrage: Wie ist das, hier in Deutschland zu sein und das zu wissen? Zozan: "Ich möchte gar nicht in Deutschland bleiben, ich will in meine Heimat zurück! Wenn Deutschland hat am Anfang YPG unterstützt und jetzt auf einmal verkauft an Türkei! (WIRD WÜTEND) Gegen was? Warum? Wir sind Menschen, wir wollen leben, wir wollen nicht unsere Kinder sterben! Wir wollen nicht unsere Mutter weinen, wir sind Menschen wie alle, wie Deutsche, wie Russen, wie jede!" Der Veranstalter der Montagsdemonstration Nico Held ruft jetzt zu unparteiischer Solidarität mit den Opfern der Kriege im Nahen Osten auf. "Wir als Bevölkerung, ob wir Deutsche sind, Türken sind, Kurden sind, können uns da auf keine Seite stellen, egal ob es die USA sind, die den Irak völkerrechtswidrig angegriffen haben oder ob es die Türkei ist, die jetzt Syrien angreift, ob das Russland ist. Wir müssen konsequent für Freiheit und Demokratie kämpfen." Aus 30 sind inzwischen 200 Kundgebungsteilnehmer auf der Domplatte geworden. Man wolle die Versammlung zu einer Demonstration ausweiten und sie nun korrekt bei der Polizei anmelden, sagen die Veranstalter. Zozan und Rozghar Siydo verabschieden sich, ziehen weiter, nach Bonn: zur nächsten Kundgebung. Sie biegen um den Dom, vorbei an den vielen Passanten, die hektisch Richtung Einkaufsstraße laufen. Der syrische Mann ergreift nochmal das offene Mikrofon: "Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde. Martin Luther King." "Wir haben alles verloren" Zwei Wochen später: Allen Protesten zum Trotz, hat die Türkei Afrin eingenommen. Aufnahmen aus dem Stadtzentrum zeigen Plünderungen der Häuser. Laut dem Zenralrat lassen die Eroberer Zivilisten Textlücken aus dem Koran ergänzen, um Nicht-Muslime zu identifizieren. Dr. Irfan Ortaç vom Zentralrat der Jesiden befürchtet ein Massaker an Andersgläubigen, das die Türkei unkontrollierbaren militanten Gruppen zuschieben könne. Die Lage ist sehr undurchsichtig. Die Menschen wollen keine Kontakt mehr mit uns aufnehmen. Sie befürchten, dass sie als Informant oder Spion bestraft werden. Jetzt kann die Türkei auch mal zeigen, das ihnen das Leben der Zivilisten der Jesiden und anderen Religionen wichtig ist und dort keine islamistischen Djihadisten angesiedelt sind. Von Zozan Siydos Verwandten fehlt weiterhin jedes Lebenszeichen. Von Freunden habe sie gehört, dass die Eroberer den Besitz der Menschen unter sich aufteilten. In einer kurzen Nachricht schreibt sie mir: "Wir haben alles verloren. Unsere Wohnung in Afrin, unsere Olivenbäume. Alles ist weg."
Von Lena Gilhaus
Rund 190.000 Jesiden leben in Deutschland, darunter auch Flüchtlinge aus der syrischen Stadt Afrin. Sie haben Angst, dass jesidische Kurden Opfer des IS und der türkischen Armee werden. Einige von ihnen demonstrieren gegen die Politik der Türkei. Unsere Autorin hat eine jesidische Familie begleitet.
"2018-03-26T09:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:44:44.738000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jesiden-in-deutschland-abschied-von-afrin-100.html
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