title
stringlengths
4
162
content
stringlengths
0
186k
author
stringlengths
0
173
teasertext
stringlengths
16
1.92k
created_at
unknown
first_published_at
unknown
url
stringlengths
43
158
__index_level_0__
int64
0
92.1k
Datenschutzbedenken ausräumen
Das gesamte Interview können Sie im Bereich Audio on Demand nachhören.
null
Digitale Konzepte im Gesundheitswesen machen – das zeigt die Erfahrung anderer Länder – die Verarbeitung medizinischer Daten oftmals nicht einfacher, wie eigentlich gewünscht, sondern erst einmal komplexer. Woran das liegt, erläutert Computerjournalist Peter Welchering im Interview.
"2011-09-24T16:30:00+02:00"
"2020-02-04T02:15:55.792000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/datenschutzbedenken-ausraeumen-100.html
838
ExoMars schon fast am Ziel
In wenigen Tagen soll der ExoMars Spurengas Orbiter den Lander Schiaprelli (Mitte) ausklinken (Zeichnung) (ESA) Ein Hitzeschild schützt die Kapsel vor dem Verglühen, später bremsen sie Fallschirme und Bremsraketen ab. Es geht bei Schiaparelli vor allem darum, die Landetechnik zu erproben. An Bord befindet sich nur eine Art Wetterstation, die für einige Tage unter anderem Windgeschwindigkeit, Temperatur, Feuchte und den Staubgehalt der Atmosphäre misst. Schiaparelli hat nur eine kleine Schwarz-Weiß-Kamera an Bord, die während des Abstiegs genau fünfzehn Fotos zur Erstellung eines 3D-Modells der Landegegend macht. Die Kapsel verfügt jedoch nicht über eine Kamera, die Panoramabilder der Oberfläche aufnimmt. Dies ist umso erstaunlicher, als Schiaparelli Ballastgewichte enthält, um auf die gewünschte Masse zu kommen. Wäre ExoMars eine NASA-Mission, hätte man wohl kaum die wunderbare Chance vergeben, die Öffentlichkeit mit Marsbildern zu begeistern. Mars ist der äußere Nachbarplanet der Erde (NASA/ESA) Nach dem Aussetzen des Landers muss der ExoMars-Orbiter seinen Kurs ein wenig ändern. Mittwoch soll die Sonde dann in eine Umlaufbahn um den Mars einschwenken. Im Laufe des nächsten Jahres senkt der Orbiter durch Reibung an der Atmosphäre allmählich seine Bahnhöhe. Ab Ende 2017 untersucht ExoMars die Zusammensetzung der Marsatmosphäre, insbesondere das Vorkommen von Methan.
Von Dirk Lorenzen
Seit Mitte März ist die ESA-Mission ExoMars unterwegs zum roten Planeten. Jetzt steht die Ankunft unmittelbar bevor. Schon am Sonntag klinkt der ExoMars Spurengas-Orbiter die Landekapsel Schiaparelli aus. Die soll Mittwoch mit mehr als 20.000 Kilometern pro Stunde in die Marsatmosphäre eindringen.
"2016-10-14T02:57:00+02:00"
"2020-01-29T18:59:19.495000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-esa-vor-der-marswoche-exomars-schon-fast-am-ziel-100.html
839
Serbien soll Geheimdienstakten öffnen
Branka Prpa sitzt rauchend auf dem Sofa ihres mondänen Hauses in einem Belgrader Vorort. Bis vor kurzem war sie Direktorin des Belgrader Historischen Archivs. An der jüngsten Geschichte des Landes hat sie vor allem ein persönliches Interesse: Am 11. April 1999 wurde ihr Lebensgefährte Slavko Æuruvija ermordet – auf offener Straße, niedergestreckt durch einen Kopfschuss. Der kritische Journalist und Herausgeber einer unabhängigen Zeitung gehört zu den bekanntesten Opfern der autoritären Miloševic-Zeit. "Ich war dabei damals, als die Schüsse ihn getroffen haben. Ich selbst wurde verletzt und habe auf dem Boden neben ihm gelegen. Wir reden über einen politischen Mord in Serbien, der bis heute leider keine juristischen Folgen hat. Es ist vor 13 Jahren passiert, und bis heute gibt es keinen Gerichtsprozess."Branka Prpa, eine elegante Frau Anfang 60 mit blondem Kurzhaarschnitt, hatte im Jahr 2001 Gelegenheit, Einsicht in ihre eigene Akte zu erhalten. Was sie da erfuhr, erfüllt sie bis heute mit Abscheu."Wir waren an dem Tag des Attentats in einem einfachen Restaurant. Und später erfuhr ich, das über 30 Spezialagenten vom Geheimdienst vor Ort waren. Alles war inszeniert wie in einem Hollywoodfilm. Es gab eine Parallelwelt, wie in einem Buch von George Orwell. Doch war diese Welt sehr real."Die Hintergründe und die Auftraggeber des Mordes liegen bis heute im Dunkeln. Das gilt für Hunderttausende weiterer Personen und Fälle, deren Akten in den Staatsarchiven schlummern. Zwar wurde im Jahr 2001, kurz nach dem Sturz Miloševiæs, eine Verordnung erlassen, die Interessierten wie Branka Prpa Einsicht in ihre persönliche Akte ermöglichte. Doch hob man sie wenige Monate später wieder auf, nur 380 Menschen hatten ihr Dossier tatsächlich zu Gesicht bekommen. 2003 schließlich wurde ein sogenanntes Lustrationsgesetz angenommen, das öffentliche Personen auf ihre Geheimdiensttätigkeit hin überprüfen sollte. Aber auch dieses trat nie in Kraft. Den Gesetzestext hat damals das Anwaltskomitee für Menschenrechte in Belgrad entworfen. Direktor Milan Antonijeviæ:"Den Begriff "politischer Wille" haben zwar nicht wir Serben erfunden, aber es ist der am häufigsten gebrauchte Begriff in Serbien. Es gab viele Initiativen, doch dass sie nicht umgesetzt wurden, liegt am fehlenden politischen Willen. Deswegen wird niemand verhaftet, deswegen gibt es keine Lustrationskommission, weil die Regierenden oder diejenigen, die im Hintergrund die Fäden ziehen, das nicht wollen."Die Versuche der Anwälte und anderer Nichtregierungsorganisationen, das Thema auf die politische Agenda zu bringen, scheitern seitdem unter jeder Regierung. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit gehört zu den wichtigsten Aufgaben der serbischen Gesellschaft, ist Antonijeviæ überzeugt."In der Öffentlichkeit gibt es immer noch keinen Konsens darüber, ob Ratko Mladiæ nun ein Held oder ein Kriegsverbrecher ist. Die Verantwortung Serbiens für die Kriegsverbrechen wird noch immer geleugnet. Wenn die Akten geöffnet werden, dann werden wir genau erfahren, welche Verbrechen im Krieg in unserem Namen begangen wurden."Die neue Regierungskoalition hat bereits angedeutet, sie werde die Öffnung der Akten vorantreiben. Dennoch, so befürchtet Sonja Biserko von der Menschenrechtsorganisation Helsinki Komitee – gelange die dunkle Vergangenheit so schnell wohl nicht ans Licht, Denn: Der neue Premierminister Ivica Daèiæ war Miloševiæs Pressesprecher und galt als sein enger Vertrauter. Und mit Tomislav Nikoliæ hat Serbien nun einen Präsidenten, der einst als Vizepremier unter Miloševiæ gedient hatte. "Wahrscheinlich wird die neue Regierung sich auf das Thema Korruption beschränken, und nur ein paar Fälle offen legen, die gegen die oppositionelle Demokratische Partei gerichtet sind. Ich fürchte, wir werden schwere Zeiten erleben. Serbien ist momentan nicht in der Lage, auf die Forderungen der EU zu reagieren. Die neue Regierung macht deutlich, in welch tief greifenden Problemen wir stecken."
Von Simone Böcker
Die EU macht die Aufarbeitung mit der Vergangenheit zur Priorität für den weiteren EU-Integrationsprozess Serbiens. Es geht dabei vor allem um die Verbrechen in der Ära Milosevic. Bisland sind die serbischen Geheimdienstakten dazu noch unter Verschluss.
"2012-07-24T09:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:18:03.229000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/serbien-soll-geheimdienstakten-oeffnen-100.html
840
Grummeln in Südwest
Der erste grün-schwarze Koalitionsvertrag einer deutschen Landesregierung (picture alliance/dpa/Bernd Weissbrod) "Zum vorgestellten Koalitionsvertrag: Also grundsätzlich bin ich der Meinung, man sollte einen Neuanfang starten. Das hat man versäumt, indem alte Mitglieder immer noch dabei sind. Konkret spreche ich jetzt von unserem 'Fast-Ministerpräsidenten' Wolf. Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, einen klaren Schritt zu tun: ein Rücktritt von Herrn Wolf und ein Neuanfang." "Die Knackpunkte sind einfach Sparen. Aber wo? Aber unsere Beamten dürfen wir nicht vergraulen. Dann geht’s auch nicht weiter." "Darf ich Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen." Hier Kritik am Ministeramt für den gescheiterten CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf, da Bedenken am vorgesehenen Sparkurs: Parteitag des CDU-Kreisverbandes Konstanz gestern Abend. "Der heutige Kreisparteitag ist ein historischer Kreisparteitag, weil er ganz im Zeichen steht der grün-schwarzen Koalitionsgespräche und seit heute Nachmittag dem vorliegenden Koalitionsvertrag, der mit grün-schwarzer Tinte unterschrieben ist." Als Kreisvorsitzender Willi Streit schon vor Monaten den Termin festlegte, konnte er nicht ahnen, dass der ausgerechnet mit der Bekanntgabe des ersten grün-schwarzen Koalitionsvertrages zusammenfallen sollte, bei dem die CDU ausgerechnet auch noch den Juniorpartner gibt. "Es gab für die CDU schönerer Zeiten als die nach dieser Landtagswahl." Ärger über Bildungspolitik Aufs Neue Wunden lecken, wie so häufig nach der Landtagswahl: Andreas Jung, Bundestagsabgeordneter, südbadischer CDU-Bezirksvorsitzender und Mitglied der Verhandlungsrunde, informiert die Basis darüber, was drin steht im Koalitionsvertrag: "Da gibt es Dinge, die es uns schwer machen - und andere, über die können wir uns freuen." Zum Beispiel über die innenpolitischen Passagen: "Es wird 1.5000 neue Polizeistellen geben, was angesichts der Haushaltskonsolidierung doppelt wiegt. In diesem Bereich, der ist mit schwarzer Tinte geschrieben." Allerdings: "Es gibt Bereiche, da ist es schwieriger gewesen." Zum Beispiel in der Bildungspolitik: Die Zahl der Gemeinschaftsschulen wird zum Missfallen der CDU aufgestockt; an manchen sogar mit gymnasialer Oberstufe. Gleichwohl appelliert Jung an diesem Abend an die Basismitglieder, nicht nur an die reine Lehre der Partei zu denken: "Was bringt uns voran als CDU und wo finden wir unsere Handschrift?" Und dennoch: In manchen Ressorts hätte sich so manches Basismitglied doch ein wenig mehr gerade die Handschrift der CDU gewünscht: "Ich möchte mal die Verkehrspolitik ansprechen, die offenbar weiter in grüner Hand bleibt: Spüren wir hautnah, Beeinträchtigungen der Anwohner, das alles nur für Krötentunnel." Ein anderer nörgelt ebenfalls an der Aufteilung der Ministerien herum: "Das Finanzministerium wird nicht von der CDU besetzt. Und das ist eine Schlüsselfunktion." Ein Dritter schließlich macht Grundsätzliches geltend: "Ich muss das ganz deutlich sagen: Man hat uns Mitgliedern zugesagt, dass wir auf Kreisparteitagen darüber abstimmen, ob sie das gut oder schlecht finden. Die Tagesordnung sieht keine Beschlussfassung über das Programm vor." Insgesamt einverstanden Zwar Grummeln am einen oder anderen Detail, aber: Insgesamt zeigen sich die meisten doch einverstanden mit dem Vertragswerk. Schließlich, so ein Basismitglied, mische die CDU jetzt endlich wieder "mit in der Regierung. So hat die CDU eine gewisse Handschrift dort hineingebracht und hat Schlimmeres verhindert." Zum Schluss lässt der Tagungspräsident dann doch noch abstimmen: Gerade vier Delegierte enthalten sich, der Rest ist für den Koalitionsvertrag - ein gutes Omen für den Landesparteitag Ende der Woche. Dass der "grünes Licht" für den Koalitionsvertrag mit den Grünen geben wird, gilt bereits jetzt so gut wie sicher. Und dann? Ja was ist dann? Christian Bäumler, Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse in Baden-Württemberg: "Wir werden es auf jeden Fall fünf Jahre miteinander schaffen, nicht immer ohne Konflikte. Und ab und zu werden wir viel voneinander lernen müssen. Aber im Ergebnis werden wir’s hinbekommen."
Von Thomas Wagner
Das Papier sei "mehr als der kleinste gemeinsame Nenner": So urteilte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der Vorlage des bundesweit ersten grün-schwarzen Koalitionsvertrages. An der CDU-Basis bleibt Unbehagen. Ein Besuch des Kreisparteitags der Partei in Konstanz.
"2016-05-03T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:27:31.761000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/cdu-basis-und-der-gruen-schwarze-koalitionsvertrag-grummeln-102.html
841
"Unsere Landschaft wurde total vergiftet"
Pestizide in der Landwirtschaft machten Insekten den Garaus, sagte Günter Mitlacher vom World Wide Fund For Nature (WWF) im Dlf (Sven Simon) Susanne Kuhlmann: Der Raubbau an der Natur geht ungebremst weiter, allen Artenschutz- und Klimakonferenzen zum Trotz. Heute Mittag stellt der Weltbiodiversitätsrat (IPBeS) in Paris seine globale wissenschaftliche Studie über den Zustand der Natur und der Ökosysteme vor. Voran ging die 7. Vollversammlung des Rates. Mit dabei in der französischen Hauptstadt ist Günter Mitlacher, zuständig für Biodiversität beim World Wide Fund For Nature (WWF). Guten Tag, Herr Mitlacher. Günter Mitlacher: Guten Tag aus Paris. Kuhlmann: Die Vielfalt der Ökosysteme, der Arten und der Gene, all das macht Biodiversität aus. Dass sie nicht nur ein Wert an sich ist, sondern unser Leben in engem Zusammenhang mit Artenvielfalt steht, das lässt sich am Beispiel der Insekten klarmachen. Knapp drei Viertel aller Tierarten in Deutschland sind Insekten. Welche Aufgaben, Herr Mitlacher, haben sie im ökologischen Gefüge? Mitlacher: Na ja. Insekten sind eigentlich eine Tiergruppe, die für diese Ökosysteme und die Funktionen, die wir von den Ökosystemen bekommen, sehr, sehr wichtig. Nennen Sie die Bestäuber: Jeder kennt Bienen, Hummeln, die Äpfel bestäuben, Blüten bestäuben, Kirschen, Birnen, Erdbeeren, alles das, was wir gerne essen im Frühjahr und im Sommer. Ohne die Insekten wäre das alles nicht da. Mitlacher: Menge an Insekten in Deutschland hat dramatisch abgenommen Kuhlmann: Wir hören ja seit längerem vom Insektensterben. Augenfällig für viele zum Beispiel nach längeren Autofahrten im Sommer: Auf der Windschutzscheibe kleben kaum tote Fliegen und Mücken. Welches Ausmaß hat das Verschwinden der Insekten mittlerweile? Mitlacher: Hier in diesem Bericht wird unter anderem das für ganz verschiedene Tiergruppen ausgemacht, auch für Säugetiere und für Amphibien. Was die Insekten betrifft, da haben wir auch in Deutschland jetzt ein paar Studien bekommen, die uns zeigen, dass die Biomasse, die Menge an Tieren, die es gibt, dramatisch abgenommen hat in den letzten Jahrzehnten. Ich kann mich auch als Kind erinnern, dass ich immer von der Windschutzscheibe die Insekten abgekratzt habe. Das ist heute nicht mehr so und das liegt einfach daran, dass unsere Landschaft total vergiftet wurde, durch Pestizide, Glyphosat und andere Insektizide, die natürlich diesen Tieren den Garaus machen. Kuhlmann: Das Bundesumweltministerium hat nun das "Aktionsprogramm Insektenschutz" ins Leben gerufen. Halten Sie das für ein nützliches Instrument? Mitlacher: Ja, natürlich! Das ist unbedingt notwendig und das ist eigentlich schon seit langem überfällig, dass das Bundesumweltministerium das tut. Das Wichtige ist jetzt, dass eigentlich alle Ressorts, die davon betroffen sind, insbesondere das Landwirtschaftsressort hier mitzieht. Das ist schon lange eine Forderung des WWF. Umweltpolitik kann nicht nur von der Umweltministerin gemacht werden. Umweltpolitik ist eine Politik, die auch von anderen Ressorts, insbesondere von der Landwirtschaft gemacht werden muss, und bei Insekten ist es ja ganz offenkundig. Blumen und Sträucher zur Förderung der Insektenvielfalt Kuhlmann: Was können Sie und ich als einzelne tun, um die Insektenvielfalt zu fördern? Mitlacher: Das ist eine schöne Frage. Sollten Sie einen Garten haben, dann können Sie natürlich viele insektenfreundliche Blumen und Sträucher anpflanzen. Sollten Sie keinen Garten haben, dann können Sie vielleicht auf Ihrem Balkon ein paar Blumen setzen. Und Sie werden sehen und erstaunlicherweise auch beobachten, wer da alles kommt. Sie können auch ein kleines Insektenhotel aufbauen, um zu beobachten, wie die Tiere das annehmen. Das ist natürlich etwas, was nur begrenzt Wirkung zeigt, weil in der Landschaft draußen, wo die Flächen sind, wo die Blühstreifen an den Äckern wieder entstehen müssen, oder wo ganz viele Flächen einfach mit insektenfreundlichen Pflanzen eingesät werden müssen, das sind eigentlich die Flächen, die wir brauchen. Es ist gut, wenn der Verbraucher auf seinem Balkon, in seinem Garten was tut, aber die Landwirtschaft ist eigentlich der große Verursacher. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Günter Mitlacher im Gespräch mit Susanne Kuhlmann
Die Zahl der Insekten in Deutschland habe in den letzten Jahrzehnten dramatisch abgenommen, sagte Günter Mitlacher vom World Wide Fund For Nature im Dlf. Das läge vor allem an der Landwirtschaft, beispielsweise am Pestizideinsatz. Ein Insektenschutzprogramm sei längst überfällig.
"2019-05-06T11:36:00+02:00"
"2020-01-26T22:50:28.326000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/insektensterben-unsere-landschaft-wurde-total-vergiftet-100.html
842
Die große Verhundung
Alexander Raskatovs Hundemusik kann zucken, knurren, winseln, wedeln, bellen und die Zuhörer mit den sprichwörtlichen Hundeaugen der scheinbaren Naivität anblicken.Am Anfang liegt da ein Häuflein Elend – allein auf der großen weiten leeren Bühne im Muziektheater an der Amstel: ein bißchen Haut und Knochen, Hundefell und Hundeskelett, das nicht einmal mehr seine Kette verlieren kann, weil es dergestalt aus dem sozialen Netz fiel, daß es keine mehr hat. Ein Hundführer-Sextett macht dem Objekt Beine, bringt es in Bewegung und verleiht ihm Stimme - eine angenehme und eine unangenehme. Professor Philipp Philippowitsch, eine international anerkannte Chirurgen-Koryphäe und von Sergei Leiferkus mit einer prächtig dazu passenden herrschaftsbewußten Stimme und gravitätischen Gesten ausgestattet, lockt den Köter mit einem Stück Krakauer. Die Wurst ist allerdings präpariert. Das diskret injizierte Medikament scheint das Tier gefügig zu machen. Es zieht ein in den Korb, den der Mediziner in seinem Studierzimmer aufstellen ließ. Das hochherrschaftliche Domizil deutet eine hohe Wand mit einer hohen Tür an, deren Klinke so hoch angebracht ist, dass das Stubenmädchen Zina immer ein wenig hochspringen muss, um sie niederdrücken zu können. Sie macht das allerliebts, diese Perle, der Nancy Allen Lundy die gertenschlanke Figur verleiht und die ein wenig zur Hysterie inklinierende Stimme.Während der Ordination des Medizinalrats, bei der sich russische Lust gleichsam von der Unterseite zeigt, beginnt der Hund zu gesunden (sein neuer Herr nennt ihn Scharik, ‚Kügelchen’, wiewohl er von der Kugelgestalt zu jener Zeit noch weit entfernt ist). Bei der Darstellung der Patienten hat Michail Bulgakow seine Erfahrungen als Arzt offensichtlich ohne viel Hang zur Übertreibung eingebracht. Zu grellen Farben der Groteske neigt eher der in Schostakowitsch- und Alfred-Schnittke-Nachfolge angesiedelte Tonsatz von Alexander Raskatov: da geistern drei Tenorhörner über die Bühne mit einer schrägen Erinnerung an "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" (die Melodie stammt vom russischen Arbeiterlied "Langsam bewegt sich die Zeit"); das Wohnblock-Komitee mit seinem musterproletarischen Lautsprecher versucht angesichts der allgemeinen Notlage die bourgeoisen Lebensbedingungen des Ärztestars ein wenig zu beschneiden, wird aber durch einen Anruf bei der Nummer 1 disqualifiziert; die Schreibmaschine Bulgakows klappert als Maschinenmusik dazwischen.Die Operation am offenen Hund wird nur als Schattenriß gezeigt: Dem Tier wird die Hypophyse eines frisch liquidierten Gauners implantiert. Und diese Hirnanhangsdrüse läßt das Tier rasch vermenschlichen, Scharik zu Scharikow mutieren: Ville Rusanen schlüpft virtuos in diese Rolle. Die Mutation bereitet dem Professor Alpträume und reale Schwierigkeiten, da das Geschöpf nun sprechen lernt (allerdings nur ordinär) und ihn mit Papa anredet. Der Bursche will und erhält Identität und Papiere, verdingt sich bei der Stadtreinigung als Spezialist für die Säuberung der Straßen von streunenden Katzen. An diesem Punkt erweist sich der Text von 1925 als wahrhaft visionär. Die mit surrealen Momenten spielende Inszenierung in den realistischen Versatzstücken von Michael Levines Ausstattung unterstreicht dies gebührend, auch der leibhaftige Auftritt der Nr. eins. Allerdings wirkt die vom Werk aufgeworfene Frage, wie ein gutmütiger Hund sich zu einem derartigen Scheusal entwickeln kann, heute allzu gemütlich. Dies scheint, liebe Theatermacher, an der hündischen Natur zu liegen!Die große Verhundung kann in Raskatovs erster Oper nach knapp drei Stunden vielfarbiger Musik aufgehalten und zurückgenommen werden. Das ist ein schöner Zug des Theaters - gegenüber der Wirklichkeit von unschätzbarem Vorteil. Die AmsterdamerInnen waren entzückt.
Von Frieder Reininghaus
Ein Straßenköter kommt ins Paradies. Glaubt er jedenfalls, als Professor Philipp Philippowitsch ihn in seine Wohnung in Moskau bringt und verköstigt. "Hundeherz" heißt die Erzählung von Michail Bulgakow, die Cesare Mazzoni fürs Theater umschrieb, und ein russischer Komponist machte daraus jetzt die Oper "A Dog’s Heart", die nun an der Niederländischen Staatsoper in Amsterdam zu sehen war.
"2010-06-09T17:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:07:08.422000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-grosse-verhundung-100.html
843
Welche Entscheidungen darf ein selbstfahrendes Auto treffen?
Zwei Grundsätze stehen laut Verkehrsminister Alexander Dobrindt schon fest: "Sachschaden geht immer vor Personenschaden. Und: Es darf keine Klassifizierung von Personen geben." (dpa) Zeitunglesen, E-Mails schreiben, Film anschauen: Irgendwann könnte das zu den normalen Beschäftigungen eines Autofahrers gehören. Dann nämlich, wenn der Computer übernimmt. Diese Technik aber wirft Fragen auf – rechtliche, um die sich die Politik kümmern muss. Etwa: Wer haftet bei einem Unfall mit einem autonom fahrenden Fahrzeug? Und ethische. Die soll eine 14-köpfige Expertengruppe unter Vorsitz des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio im Auftrag des Bundesverkehrsministers diskutieren. Diese Ethikkommission hat heute ihre Arbeit aufgenommen. Eins der Themen: Welche Entscheidungen darf das Auto treffen, während der Fahrer mit etwas anderem beschäftigt ist? Zwei Grundsätze stehen schon jetzt fest, sagt Verkehrsminister Alexander Dobrindt: "Sachschaden geht immer vor Personenschaden. Und ein weiterer Grundsatz heißt: Es darf keine Klassifizierung von Personen geben." Heißt zum Beispiel: Muss ein Fahrzeug ausweichen, darf es nicht so programmiert sein, dass es beispielsweise das Leben einer Frau mit Kinderwagen höher wertet als das einer älteren Person, die gerade alleine unterwegs ist. Für den Kommissionsvorsitzenden Di Fabio wirft das die grundlegende Frage auf: "Erlaubt man überhaupt eine Technik, die in ein solches Dilemma kommt?" Gehe man aber davon aus, dass diese Technik komme, dann stelle sich in der Tat die Frage: "Wie priorisiert man, wenn man nur noch die Wahl hat, verschiedene Schäden in Kauf zu nehmen?" Deutschland sei das erste Land weltweit, dass zur Klärung dieser Fragen eine solche Kommission eingesetzt habe, erklärte Verkehrsminister Dobrindt vor der Auftaktsitzung. Mitte nächsten Jahres soll die Kommission ihren ersten Zwischenbericht vorlegen.
Von Stefan Maas
Ein Auto fährt eine Straße entlang, es muss einem Hindernis ausweichen, links eine Frau mit Kinderwagen, rechts ein Rentner. Wie würden Sie entscheiden? Solche Fragen müssen autonom fahrende Autos in Zukunft selbst entscheiden. Den Rahmen dafür soll eine Ethik-Kommission abstecken. Sie hat heute ihre Arbeit aufgenommen.
"2016-09-30T17:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:56:46.684000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ethik-kommission-eingesetzt-welche-entscheidungen-darf-ein-100.html
845
Thüringen verbeamtet wieder
Berufsanfänger bekamen oft nur Teilzeitstellen in Thüringens Schulen, doch mit dem Auslaufen des Beamtenstatus für Lehrer soll es in Thüringen vorbei sein. (dpa / picture alliance / Marc Tirl) Zehn Jahre lang hat Thüringen seine Lehrer nicht mehr verbeamtet. Es gab zu viele Lehrer, Neulinge bekamen oft nur Teilzeitstellen. Allerdings gab es zunehmend Schwierigkeiten, die laut Koalitionsvertrag jährlich 500 neu zu besetzenden Lehrerstellen zu besetzen. Viele junge Absolventen ließen sich nämlich lieber in den benachbarten Bundesländern verbeamten. Zum Jahreswechsel hat die Bildungsministerin Birgit Klaubert nun verkündet, dass ab Sommer Lehrer wieder verbeamtet werden können. Rolf Busch, Vorsitzender des Thüringer Lehrerverbandes, meint, dass die Rot-Rot-Grüne Regierung gar keine andere Wahl hatte, auch wenn vor allem Linke und Grüne die Verbeamtung prinzipiell skeptisch sehen. "Die mussten auch pragmatisch, gegen alle ideologischen Überlegungen, dass sie das nicht wollen, müssen die das jetzt umsetzen. Wir sind keine Insel, und das heißt, wenn wir wirklich sehen, dass alle Länder nach Nachwuchs suchen und sich dann die jungen Menschen die attraktiveren Bedingungen aussuchen, dann ist die Verbeamtung ein wichtiger Punkt, aber das reicht natürlich längst nicht mehr. Man kann vielleicht darüber reden, wenn plötzlich alle Bundesländer sagen, wir machen das jetzt nicht mehr. Aber im Moment ist der umgedrehte Weg, und der Lehrerarbeitsmarkt ist in den vielen Fachkombinationen einfach leer gefegt." Mangel in Fächern wie Mathe, Physik, Musik Zwar hat Thüringen im vergangenen Jahr die versprochenen 500 Lehrer eingestellt, aber nur zur Hälfte in den Fächerkombinationen, die eigentlich benötigt wurden. Das verschafft den Schulen zwar neue Lehrer, behebt aber nicht den Mangel in Fächern wie Mathe, Physik, Musik. Rolf Busch zeichnet ein dramatisches Bild von der Situation an Thüringer Schulen: "Wir haben flächendeckend Probleme mit Stundentafel-Kürzungen, da gibt es eben nicht drei Stunden Englisch, sondern nur zwei oder eine; wir haben Klassenzusammenlegungen über lange Zeiten; wir hatten ja auch in Thüringen jetzt wiederholt einige Schulen, die befristet geschlossen worden und die Schüler auf eine andere Schule verteilt worden sind oder wo eigentlich nur noch ein Notprogramm läuft. Also, die Situation ist schwierig an vielen Schulen, und es sieht so aus, als ob sie nicht besser wird." Die Hälfte der Thüringer Lehrer geht in den nächsten 10 Jahren in Rente Denn den jährlich 500 neu eingestellten Lehrern stehen 800 ältere Kollegen entgegen, die pro Jahr in den Ruhestand gehen – und das bei steigenden Schülerzahlen. Die Hälfte der Thüringer Lehrer geht in den nächsten 10 Jahren in Rente. Die Linke würde gern schon heute mehr neue Lehrer einstellen, hat da aber SPD und Grüne gegen sich. So erhofft sich die Landesregierung mit der Verbeamtung neuer Lehrer zumindest eine bessere und größere Auswahl unter den möglichst passgenauen Bewerbern, die dann – so die Hoffnung – nicht nach Bayern oder Hessen abwandern. Auch den bereits angestellten und noch nicht verbeamteten Lehrern bis 47 Jahre will man die Verbeamtung anbieten. Daran gibt es aber auch Kritik: Die Träger der freien Schulen sind skeptisch, weil dadurch die Attraktivität der staatlichen Schulen steigt und diese ihnen Lehrer wegnehmen könnten. Und der Präsident des Landesrechnungshofes warnt, dass die Verbeamtung allein den Mangel an Fachlehrern nicht beheben werde, das Land müsse eine bessere Personalplanung machen. Genauen Modalitäten sollen bald geklärt werden Der Vorsitzende des Beamtenbundes, Helmut Liebermann, findet dagegen, dass das Land mit der Verbeamtung das Richtige macht, wenn auch aus den falschen Gründen. "Lehrer müssen nach unserer Überzeugung in jedem Falle Beamte sein, da gehören verschiedenste Argumente dazu, z. B. die Neutralität, die politische Neutralität, die gewahrt werden kann, sodass man also nicht irgendwie veranlasst werden kann, sich in eine bestimmte politische Richtung zu äußern, sodass man auch geschützt ist und auf diese Weise seinen Beruf eigenverantwortlich in politischer Verantwortung gegenüber dem Grundgesetz und nur dem Grundgesetz wahrzunehmen." Die genauen Modalitäten der Verbeamtung will die Bildungsministerin in den nächsten Wochen klären. Die Lehrer sehen es mit Hoffnung und Skepsis, denn Ankündigungen und Dementis sind sie aus ihrem Ministerium gewohnt.
Von Henry Bernhard
In Thüringen herrscht Lehrermangel, dabei ist das Problem zumindest teilweise hausgemacht: Denn vor zehn Jahren hat das Bundesland die Verbeamtung seiner Lehrer abgeschafft. Das soll sich ändern. Ab dem kommenden Schuljahr will man Neulingen und bereits angestellten Lehrern bis 47 Jahren die Verbeamtung anbieten.
"2017-01-11T14:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:27:47.155000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lehrermangel-beheben-thueringen-verbeamtet-wieder-100.html
846
Harter Kampf gegen Dealer
Mode-Droge Crystal Meth (picture alliance / dpa) Im Landeskriminalamt Dresden geht am späten Vormittag gerade ein Einsatz zu Ende. Obwohl fast zehn Beamte das Geschehen auf Bildschirmen verfolgen, herrscht konzentrierte Stille im Lagezentrum, nur hin und wieder klingelt ein Telefon. Einzelheiten sind nicht zu erfahren, aber die Wahrscheinlichkeit, dass der Einsatz etwas mit Crystal zu tun hat, ist hoch. Denn mehr als die Hälfte der Rauschgiftdelikte in Sachsen standen 2013 im Zusammenhang mit Amphetaminen und Methamphetaminen, zu denen auch Crystal gehört. 13 Kilo der Droge wurden in Sachsen im vergangenen Jahr gefunden. Und irgendwann landen die Funde dann im Labor im zweiten Stock. In einer Mühle von Thomas Paulick. Der Chemiker zerkleinert das Crystal und zieht eine Probe für das Kriminaltechnische Institut. Dann kommen sie in den Gaschromatographen. "Das Gerät trennt eine Mischung in Einzelkomponenten auf. Dort am Ende des Gerätes kommen die Komponenten raus und werden an einem Detektor untersucht. Das ist ein Gaschromatograph." Durchschnittlich acht Minuten lang wandert das Gas durch die dünnen Röhren, bevor die Apparatur das Ergebnis ausspuckt. Paulick scrollt noch ein bisschen nach vorn auf dem Bildschirm. Dort sind auf einer Linie verschieden hohe Ausschläge zu sehen, jeder Ausschlag steht für einen Stoff. "Hier haben sie einen großen Peak, von den Stoffen, die enthalten sind, das ist das typische Spektrum für Methamphetamin." Drogenanalyse zur Vorbereitung der Anklage Paulick muss beweisen, dass es sich tatsächlich um illegale Substanzen handelt und zeigen, wie hoch die Wirkstoffkonzentration ist. Beides ist später für eine mögliche Anklage wichtig. Doch der Versuch, über den chemischen Fingerabdruck der Droge Herstellungsorte oder Lieferwege herauszufinden, ist gerade bei Crystal sehr schwierig. Im Gegensatz zu Cannabis oder auch Heroin, die als Drogen pflanzlichen Ursprungs viel größere Unterschiede zwischen den Funden aufweisen. Wie wurde gedüngt, wie wurde gegossen, mit was wurde gestreckt? All das kann bei pflanzlichen Drogen Hinweise auf die Herkunft geben, bestimmte Chargen und Lieferwege können sich so zuordnen lassen. Beim chemisch erzeugten Crystal ist es oft nur der reine Wirkstoff Methamphetamin, der in den Proben zu finden ist. Es gibt kaum unterscheidbare Zusätze. Eine Massenware, sagt Paulick. Das hängt auch damit zusammen, dass die Herstellung sehr billig ist, es lohne sich gar nicht, da noch zu strecken, sagt Harald Schwab, Polizeilicher Leiter bei den Rauschgiftfahndern. "Sie können sehr viel Geld machen. Es ist so, dass ein Gramm Crystal auf dem Tschechenmarkt unter 20 Euro kostet. Und sie können in Leipzig das Gramm Crystal für 70 Euro verkaufen. Die reine Herstellung liegt bei etwa sieben Euro das Gramm." Polizisten sind "Breaking Bad"-Fans Die Labore auf tschechischer Seite gleichen mittlerweile Fabriken, der Verkauf sei fest in vietnamesischer Hand und laufe über die Asia-Märkte im Grenzgebiet, sagt Schwab. Und noch eine Zahl ist interessant: Laut tschechischer Polizei landen etwa drei Tonnen Crystal pro Jahr in Deutschland und Österreich. Doch gefunden wurden in Deutschland im vergangenen Jahr nur 75 Kilogramm. Die Differenz ist also riesig. Das lässt nur ungefähr erahnen, wie viel Crystal in Deutschland im Umlauf ist. Vielleicht braucht es da den schwarzen Humor von Walter White aus der Serie "Breaking Bad", um da als Drogenfahnder bei Laune zu bleiben. In der US-Serie entwickelt sich ein Chemie-Lehrer zum Crystal-Hersteller, um eine Krebsoperation zu finanzieren. Drogenfahnder Schwab schmunzelt ein bisschen und outet sich als Fan, seine Kollegen nicken zustimmend: "Ich hab alle DVDs, die es gibt. Es dient natürlich der Unterhaltung, hat mit der Realität zumindest in Sachsen oder in Bayern nichts zu tun. Aber es ist sehr unterhaltsam und sehr informativ." Ja, das findet er nach acht Stunden Ermittlungsarbeit in Sachen Crystal tatsächlich entspannend, sagt Harald Schwab. Und auch bei den Hausdurchsuchungen fällt ihm die Serie über den crystalkochenden Chemie-Lehrer immer wieder in die Hände. "Nein, es ist ein Spielfilm, das wissen wir schon. Wobei wir haben schon festgestellt, dass wir regelmäßig bei Hausdurchsuchungen bei unserer Klientel die DVD finden."
Von Nadine Lindner
Immer häufiger findet die Polizei bei Razzien die Droge Crystal Meth. Vor allem in Bayern und Sachsen macht der weiße Stoff den Beamten viel Arbeit. Auch wenn immer wieder Dealer geschnappt werden: Das Problem im Ganzen in den Griff zu bekommen, scheint unmöglich.
"2015-08-18T14:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:54:27.434000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/modedroge-crystal-meth-harter-kampf-gegen-dealer-100.html
847
Massenproteste und Intrigen
Doch in dieser kurzen Zeit schaffte er es, große Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Vor der Wahl genoss er einen untadeligen Ruf als Finanzfachmann – nun sehen viele Bürger in ihm und seiner Regierung nur noch Marionetten, die nach dem Wunsch von Oligarchen handeln, sagt die Politologin Antoaneta Zonewa: "Die Politiker weigern sich, das zu verstehen. Die Menschen geben ihnen nicht nur ein Zeichen, sondern eine klare Ohrfeige. Wenn man sich vom Volk abkoppelt und kein Feedback mehr annimmt, dann wird man eben bestraft."Den ersten Fehler beging Orescharski direkt nach der Wahl – er kassierte einen Großteil seiner Versprechen gleich wieder ein. Ein Kassensturz habe ergeben, dass kein Spielraum existiere für eine Anhebung des Mindestlohns, Zuschüsse für Schulkinder oder mehr Mutterschaftsgeld. Eine gewagte Aktion, wenn man bedenkt, dass die Vorgängerregierung im Februar nach tagelangen Protesten gegen die soziale Ungerechtigkeit hatte zurücktreten müssen. Vor einer Woche dann der nächste gravierende Fehler: In einer Eilabstimmung ließ er das Parlament einen neuen Chef für den bulgarischen Geheimdienst abnicken – einen Medienmogul mit angeblich besten Mafia-Kontakten. Sofort kam es zu Demonstrationen:"Die Menschen gehen auf die Straße, weil sich die politische Elite weigert, das Rückgrat der organisierten Kriminalität zu brechen. Diese Entscheidung hat gezeigt, dass die Regierung offenbar von außen gesteuert ist."Der Druck der Straße zeigte Wirkung: Der Geschäftsmann verzichtete auf den Posten, vorgestern nahm das Parlament die Nominierung offiziell zurück, Ministerpräsident Orescharski entschuldigte sich. Zurücktreten will er aber nicht:"Mir ist bewusst, dass mir viele Menschen nicht vertrauen, weil sie glauben, ich würde nicht selbstständig und unabhängig Politik machen. Aber für mich stellt sich die Frage nach einem Rücktritt nicht, auch wenn der Kreis der Leute, die mir nicht vertrauen, in den letzten Tagen größer geworden ist."Orescharski ist nicht der einzige Politiker, der momentan mit einem rapiden Ansehensverlust zu kämpfen hat. Auch Sergej Stanischew, Vorsitzender der regierenden Sozialisten, muss um sein Amt fürchten. Große Teile der Partei haben sich von ihm abgewendet, weil sie ihm Mauscheleien mit dem kleineren Koalitionspartner, der Partei der türkischen Minderheit, vorwerfen. Stanischew, der auch die Sozialdemokratische Partei Europas führt, erklärte sich inzwischen bereit, die Vertrauensfrage zu stellen. Vertrauen ist insgesamt rar geworden in Bulgarien, das innenpolitische Klima ist vergiftet. Ex-Premier Bojko Borissow sieht sich von einem Mordkomplott bedroht. Die radikale Rechte wirft Präsident Rossen Plewneliew Offshore-Konten vor. Die türkische Minderheit und ihre politischen Vertreter sehen sich Anfeindungen ausgesetzt. Da verwundert es nicht, dass immer mehr Bürger die Nase voll haben von Streit, Intrigen und Vetternwirtschaft. Zu sehen ist das derzeit jeden Tag auf den Straßen von Sofia, Plowdiw und Blagoewgrad.Neuwahlen, wie sie die Demonstranten fordern, sieht Alexander Kaschamow dennoch als falschen Weg. Er arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation, die sich für mehr Transparenz einsetzt."Dieses Parlament ist noch nicht am Ende seines Weges. Sobald wie möglich sollten die Abgeordneten beginnen, sinnvolle Gesetze zu schaffen, und zwar transparent und nach einer öffentlichen Diskussion. So können Gesetze verabschiedet werden, bei denen auch die Bürger beteiligt sind."Ob diese Bürger aber überhaupt noch so viel Geduld aufbringen wollen, das scheint derzeit äußerst fraglich.
Von Tim Gerrit Köhler
Seit einer Woche das gleiche Bild: Jeden Tag versammeln sich Tausende Menschen in Sofia und anderen Städten, um den Rücktritt von Plamen Orescharski zu fordern. Es ist ein Ansehensverlust im Rekordtempo: Erst vor drei Wochen hatte er die Regierungsgeschäfte übernommen.
"2013-06-21T09:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:23:17.775000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/massenproteste-und-intrigen-100.html
848
"Das ist Klartext gewesen"
Werner Schulz von den Grünen, von 2009 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments (dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler) Jasper Barenberg: Seit gestern wird das Bild vom Geduldsfaden bemüht, von dem der Kanzlerin, der Zusehens dünner werde. Angela Merkel hat sich in Sydney in einer Rede deutlich zu Russland und der Politik von Präsident Putin geäußert, deutlicher jedenfalls als in den vergangenen Monaten. Wie sind ihre Äußerungen zu bewerten? Darüber hat mein Kollege Jürgen Liminski mit Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen gesprochen, dem ehemaligen Europaabgeordneten und Kenner der Ukraine und Russlands. Jürgen Liminski: Was würden Sie der Kanzlerin für ihr nächstes Gespräch mit Putin raten? Mehr Geduld? Sie war vom letzten Gespräch ja offensichtlich etwas frustriert. Werner Schulz: Ich bin da selbst etwas ratlos. Ich glaube, das sind jetzt schon fast 40 Gespräche, die sie mit Wladimir Wladimirowitsch Putin geführt hat, und sie wird ja nach Strich und Faden von ihm vorgeführt oder an der Nase herumgeführt. Ich glaube, das Fazit, was sie jetzt gezogen hat, ist sehr verständlich: Das ist Klartext gewesen. Ich sehe die Situation eigentlich noch drastischer als sie, aber die Kanzlerin ist ja immer noch bemüht, diese Balance zu wahren, auf der einen Seite den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, was sicherlich sehr vernünftig ist, auf der anderen Seite deutlich zu machen, dass sich Europa und die übrige westliche Welt das nicht gefallen lässt, dass er einen derartigen Konflikt vom Zaun gebrochen hat, der uns alle betrifft letztlich. Liminski: Ist denn nicht doch etwas mehr Appeasement-Politik angebracht, wie man das aus der Linken und auch weniger direkt aus der SPD hört? Schulz: Na ja. Appeasement ist ja in der Geschichte nicht gerade positiv besetzt. Das hat ja dazu geführt, wie der Bundespräsident das auf der Westerplatte ja deutlich gesagt hat, dass das den Appetit von Aggressoren nur noch verstärkt, dass man ihnen Zugeständnisse macht und dass sie sich immer mehr holen, was sie sich vorgenommen haben. Es hat ja diese Appeasement-Politik gegeben. Wir sind ja sehr nachsichtig gegenüber der Aggression gewesen, die Russland gegen Georgien durchgeführt hat. Da hat man das so dargestellt, als ob die Georgier daran selbst schuld gewesen seien. Am Ende sehen wir, dass jetzt die Krim annektiert worden ist, dass die Ukraine destabilisiert wird, und das hat ja alles noch nicht aufgehört. Ich meine, russische Truppen stehen in Abchasien, in Ossetien, in Transnistrien, und es besteht die Gefahr, dass hier überhaupt eine Verbindung zwischen all diesen Enklaven gezogen wird, also dass die weitere Annexion in der Ostukraine nicht aufhört. "Das hätte man im Kreml sehr gut verstanden" Liminski: Um noch bei diesem Thema zu bleiben: Mit Putin mehr Klartext reden? Schulz: Ich glaube, dass man ihm deutlicher etwas entgegensetzen muss. Ich bin zwar kein Freund dieser Wirtschaftssanktionen gewesen, weil Wirtschaftssanktionen sehr langfristig wirken und auch in der Geschichte der Sanktionen sehr unterschiedliche Wirkung gehabt haben, mitunter keine, mitunter erst nach Jahren. Diese asymmetrische Maßnahmen, glaube ich, haben Putin nicht zum Einlenken gebracht. Was man versäumt hat ist, ihm vor Augen zu führen, was passiert, wenn man sich nicht ans Völkerrecht hält, und man hätte das Abkommen von Montreux, 1936 geschlossen, was die Durchfahrt von Schiffen, auch Kriegsschiffen durch den Bosporus regelt, das hätte man aufkündigen sollen. Das ist von der Sowjetunion noch unterzeichnet worden, es ist also nicht mehr aktuell. Man hätte Putin deutlich vor Augen führen müssen, dass er mit der Annexion der Krim und der auslaufenden Schwarzmeer-Flotte, die das dann nicht mehr könnte, gar nichts gewonnen hätte. Das wäre die entsprechende Antwort gewesen. Das hätte man im Kreml, glaube ich, sehr, sehr gut verstanden, und wir hätten uns alles Weitere ersparen können. Liminski: Die Außenminister haben ja keine Sanktionen gegen Russland beschlossen. Das kann später noch kommen. Was bringt denn mehr, ein sinkender Ölpreis, der Russland an den Rand der Pleite rückt, oder neue Sanktionen? Schulz: Beides hat sicherlich Wirkung, aber der sinkende Ölpreis noch viel stärker. Die russische Opposition hat immer gesagt, Putin hängt allein vom Ölpreis ab. Er konnte ja bisher diese sozialen Wohltaten, die er verteilt hat - natürlich nur wesentlich weniger an die Bevölkerung als an die eigene Machtelite und an die Oligarchen -, das konnte er sich ja nur leisten aufgrund des hohen Ölpreises. Ansonsten: Russland ist absolut abhängig von diesem Rohstoffexport und hat ansonsten keine anderen Einnahmequellen. Es ist eine gar nicht vorhandene Exportindustrie in diesem Land. "Ein aggressiver Nationalismus" Liminski: Sie haben nicht nur, Herr Schulz, wegen der Feiern in diesen Wochen, sondern vor allem als Bürgerrechtler eine gute Erinnerung an die Zeit, da die Sowjetsoldaten das Gebilde Namens DDR besetzt hielten. Erinnert Sie Putins Verhalten an die alte Sowjetunion? Schulz: Es ist etwas Neues. Während die Sowjetunion ja so einen vermeintlichen Internationalismus verkündet hat, ist das hier eher ein aggressiver Nationalismus, ein völkischer Nationalismus. Aber woran ich mich sehr gut erinnere, ist, dass sogar, als der Mauerdurchbruch am 9. November passiert ist, man noch mal versucht hatte, die friedliche Revolution mit Hilfe der Roten Armee aufzuhalten. Daran war wahrscheinlich auch Wladimir Putin beteiligt. Denn am 28. Dezember gab es Schmierereien am Treptower Ehrenmal, am 28. Dezember 1989: faschistische Parolen und Schmierereien. Wir am Runden Tisch hatten damals die Information, oder zumindest alle Indizien deuteten darauf hin, dass es die Stasi selbst war, die das gemacht hat, und eine Spur führte nach Dresden, woher der neue Ministerpräsident Modrow kam. Putin hat in Dresden als KGB-Chef alle Akten verbrennen lassen, der Stasi-Chef Böhm hat sich das Leben genommen. Am 3. Januar 1990 gab es eine große Demonstration in Treptow, nach dem Motto, der antifaschistische Schutzwall ist gebrochen, die Neonazis aus dem Westen kommen und wollen die DDR jetzt übernehmen. Das heißt, man hat versucht, die Rote Armee noch mal zu provozieren, dass sie ähnlich wie am 17. Juni '53 noch mal solch einen Aufstand, solch eine Erhebung niederschlagen. Das ist die Art und Denkungsweise eines KGB-Offiziers wie Wladimir Putin. Ich meine, wer die Auflösung der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts bezeichnet, nicht den Holocaust, nicht den Holodomor, nicht den Ersten oder Zweiten Weltkrieg, sondern den Verlust von, wenn man es genau betrachtet, Kolonien, die man erobert hat, der hat eine ganz andere Sicht auf den Verlauf der Dinge. Barenberg: Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen im Gespräch mit meinem Kollegen Jürgen Liminski. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Werner Schulz im Gespräch mit Jürgen Liminski
Der Westen muss Russland mehr entgegensetzen, findet der ehemalige grüne Europaabgeordnete Werner Schulz. Im Deutschlandfunk sagte er, eine gute Sanktion sei es, russischen Schiffen die Fahrt durch den Bosporus zu verweigern. Schulz begrüßte es, dass Kanzlerin Merkel gegenüber Präsident Putin erstmals Klartext geredet habe.
"2014-11-18T05:45:00+01:00"
"2020-01-31T14:14:09.824000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/merkels-kritik-an-putin-das-ist-klartext-gewesen-100.html
849
"Das Problem muss gelöst werden"
"Die griechische Regierung hat noch ziemliche Probleme zu bewältigen", sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. (Wolfgang Kumm, dpa picture-alliance) Geers: Herr Schäuble, das Finanzministertreffen der sieben wichtigsten Industriestaaten steht vor der Tür, nächste Woche in Dresden. Deutschland hat den Vorsitz in der G7 und damit haben Sie den Vorsitz in der Runde der Finanzminister der G7. Und wenn man sich jetzt anschaut, was Sie sich für diesen Vorsitz vorgenommen haben, dann ist das unter anderem der Kampf gegen die Steuertricksereien großer internationaler Konzerne. Reden wir also mal zu Beginn über Google, über Amazon, über Starbucks oder über Ikea, also über Konzerne, die sich systematisch arm rechnen, anstatt angemessen Steuern zu zahlen. Vor einem Jahr haben Sie jetzt angekündigt, dass genau das nicht mehr oder zumindest nicht mehr so leicht möglich sein soll. Wie weit sind Sie denn gekommen in diesem Punkt? Schäuble: Wir sind in einer Reihe von Punkten dank der Arbeiten der OECD gut voran gekommen. Ich glaube, wir werden bis Ende dieses Jahres diese Punkte in den G20 – da sind ja nicht nur die führende Industriestaaten des Westens, sondern auch die anderen großen Teilnehmer der Weltwirtschaft beteiligt –, da werden wir das verabschieden. Da geht es dann zunächst einmal darum, dass man unfairen Steuerwettbewerb reduziert. Wir haben ja einen ganz großen Erfolg erzielt, indem wir zusammenarbeiten, Informationen über Kapitaleinkünfte automatisch austauschen, sodass die illegale Steuerhinterziehung in der Zukunft sehr viel schwieriger wird. Und jetzt geht es eben darum, Niedrigsteuer, also sogenannte Steueroasen in ihren Wirkungsmöglichkeiten zurückzuführen. Das machen wir zunächst einmal in Europa, indem wir Transparenz schaffen. Transparenz soll heißen, dass sie nicht mehr gemacht werden und dass man darüber hinaus eben bestimmte Regelungen, die es erleichtern steuerpflichtiges Einkommen in andere Länder zu verlagern, wo niedrigere Steuern sind, ein Stück weit reduziert. Hundertprozentig schaffen wir das nicht, aber wir kommen ganz gut voran. Geers: Haben Sie denn schon die ersten Euros an Steuermehreinnahmen aus dieser Initiative erzielen können? Schäuble: Es sind die Möglichkeiten, innerhalb Europas in andere Länder steuerpflichtiges Einkommen zu verlagern, geringer geworden. Irland hat ja sein besonderes Modell beendet durch seine irische Gesetzgebung. Aber das kann man nicht in Euros bemessen, sondern das ist ein andauernder Prozess und er führt eben dazu, dass die Steuern, die geschuldet werden, auch gezahlt werden. Dann haben wir insgesamt Spielraum, um sie für alle nicht zu erhöhen, sondern eher begrenzt zu halten. "Kein Steuerpflichtiger muss freiwillig Steuern bezahlen" Geers: Herr Schäuble, nun sagen ja die Konzerne, dass sie selber als Konzerne gar nichts Verbotenes tun. Die Konzerne sagen: 'Wir nutzen nur die niedrigen Steuersätze aus, die die Staaten bewusst so ansetzen, damit wir – die Konzerne – uns in diesen Staaten ansiedeln' und das Armrechnen ist aus der Sicht dann ganz legal. Aber wenn man jetzt das Verhalten von diesen großen Konzernen nimmt, also wenn man auf Google, wenn man auf Amazon und Co. guckt, ist das nicht doch irgendwie unanständig? Weil sie alles, was ein Staat so bietet, dankend in Anspruch nehmen, aber selber zahlen sie keinen angemessenen Anteil zu dem, was dieser Staat braucht. Schäuble: Na ja, kein Steuerpflichtiger muss freiwillig Steuern bezahlen. Deswegen haben die Konzerne insoweit schon Recht, und genau deswegen machen wir ja die Zusammenarbeit. Im Grunde geht es darum, dass wirtschaftliche Aktivitäten dort besteuert werden, wo sie auch erfolgen. Das ist das Prinzip. Das ist natürlich bei Konzernen, wie Google oder Amazon, die im Internet tätig sind, noch einmal schwieriger, aber ganz unmöglich ist es nicht. Und deswegen bewegen wir uns schrittweise in diese Richtung. Geers: Also der Satz, dass Konzerne, die hier in Deutschland Geschäfte machen, hier auch angemessen Steuern zahlen, der gilt schon? Schäuble: Der gilt, aber er kommt noch nicht uneingeschränkt zum Tragen. Und genau das ist der Gegenstand unserer Bemühungen. Geers: Sind Sie und die anderen Finanzminister nicht auch so ein bisschen mit schuld an diesem Zustand? Wenn ich mir so Steuersparmodelle wie Patentboxen anschaue, also Modelle, bei denen verschachtelte Konzerne in Irland, in den Niederlanden, in England Patentboxen einrichten, die dann mit extrem niedrigen Steuersätzen arbeiten können, wo dann diese Patente und Lizenzen gebündelt werden und wenn dann ein deutsches Tochterunternehmen diese Patente oder Markenrechte nutzt, dann muss es dafür Gebühren an die Niederlande zum Beispiel überweisen und dann führt das dazu, dass man hier in Deutschland im Zweifel gar keine Steuern zahlt und in Holland vielleicht nur zehn oder fünf Prozent. Wenn das jetzt auch noch abgestellt werden soll – es gibt ja Überlegungen dahin –, dann sieht man plötzlich, da gibt es Übergangsfristen, die reichen bis 2021. Also das wirkt jetzt nicht unbedingt so, Herr Schäuble, als ob da richtig "Zug im Kamin" wäre. Schäuble: Na ja, gut, zunächst einmal haben Sie zurecht gesagt: 'Das gerade stellen wir ab in Europa'. Und im Übrigen muss man ja sehen – was heißt, die Finanzminister sind schuld an diesen Dingen –, wenn eben Forschungstätigkeit in einem europäischen Land weniger stark besteuert wird als in einem anderen europäischen Land, ist es ja nicht verboten, diese Forschungstätigkeit dort auszuüben. Und deswegen versuchen wir durch Zusammenarbeit den Spielraum dafür auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Geers: Trotzdem nochmal gefragt, Herr Schäuble: Viel "Zug im Kamin"? Schäuble: Doch, da ist ziemlich viel Zug dahinter. Auch die Vereinbarung – das muss natürlich in europäisches Recht umgesetzt werden –, dass die Patentboxen nicht mehr in einer unfairen Weise missbraucht werden dürfen, ist sehr schnell zustande gekommen. Aber sie müssen natürlich den Steuerpflichtigen, die sich auf bestimmte Regelungen eingestellt haben, schon auch die Zeit lassen, dann ihre Forschungsaktivitäten ein Stück weit wieder anders in ihrem Unternehmen zu gruppieren, sonst können die Unternehmen ja keine vernünftige Planung machen. Geers: Sagt Bundesfinanzminister Schäuble im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Schäuble, ein anderer Aspekt: Auch in Dresden beim G7-Treffen wird es wieder um die richtige Finanzpolitik gehen. Also das Spiel lief bisher so ab: Sie als deutscher Finanzminister werden aufgefordert, zum Beispiel von den USA, Deutschland solle mehr investieren, solle mehr fürs Wachstum tun, seiner Verantwortung gerecht werden für die Eurozone und Sie verweisen dann immer wieder darauf, dass weniger Schulden, solide Haushalte viel besser seien und viel wirkungsvoller. Wird denn diese Kritik der anderen in Dresden wieder an Ihnen abperlen? Schäuble: Na ja, ganz so einfach ist auch die Diskussion nicht. Ein bisschen intelligenter diskutieren wir schon. Im Übrigen haben wir ja bei unseren Treffen auch die Notenbanker dabei. Das macht diese G7-Treffen besonders wertvoll, weil wir als Finanzminister die Gelegenheit haben, mit den für die Geldpolitik verantwortlichen Zentralbankern gemeinsam über die Fragen zu diskutieren: Wie stimmen wir Finanzpolitik und Geldpolitik – also das eine machen die Regierungen, das andere machen die unabhängigen Notenbanken – so aufeinander ab, dass wir neue Krisen möglichst vermeiden, aber zugleich dafür sorgen, dass wir nachhaltiges Wachstum haben? Insoweit besteht im Übrigen eine ganz breite Übereinstimmung, dass solide Finanzen, Innovation – gerade haben wir über steuerliche Forschungsförderung geredet –, Infrastrukturinvestitionen, dass das die beste Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum sind. Und deswegen, auch die Notenbanker sagen ja immer: 'Wir dürfen das nicht alles der Geldpolitik überlassen, da ist die Gefahr, dass wir durch ein Übermaß an Liquidität und durch ein Übermaß an Schulden – öffentlichen wie privaten Schulden – nur die nächste Krise herbeiführen'. Das muss man sorgfältig balancieren. Und die Diskussion führen wir, und da werden wir in Dresden einen vertieften Meinungsaustausch nicht nur zwischen den Finanzministern, den Notenbankern führen, sondern wir haben ja auch bewusst eine Reihe der weltweit führenden Ökonomen und Geldpolitiker zu diesen Diskussionen eingeladen, damit wir gemeinsam nachdenken und noch bessere Lösungen finden. "Solide Finanzpolitik ist nicht die Alternative zu solidem Wachstum, sondern die Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum" Geers: Glauben Sie eigentlich, Herr Schäuble, dass Staaten, denen – ich sage es jetzt mal etwas salopp – die schwarze Null vielleicht nicht so wichtig ist, wie das hierzulande in Deutschland der Fall ist, dass es für solche Staaten nochmal so eine Art böses Erwachen geben könnte? Schäuble: Zunächst einmal haben wir ja in Europa klare Regeln. Und die besagen, dass alle Staaten versuchen sollten oder anstreben müssen, dass sie in absehbarer Zeit ihre gesamte Verschuldung auf höchstens 60 Prozent der wirtschaftlichen Leistungskraft begrenzen. Deutschland liegt übrigens auch noch deutlich darüber. Wir liegen zur Zeit irgendwo bei 70 Prozent. Und deswegen haben wir ja gesagt, wir werden das erfüllen, indem wir so lange, bis wir diese 60-Prozent-Grenze erreicht haben, keine neuen Schulden machen. Dann haben wir immer noch unendlich viele Schulden – es ist ja nicht so, dass wir einen Mangel an Schulden haben –, aber dann sind eben diese Schulden tragbar, weil sie aus dem laufenden Wachstum einer normal wachsenden Volkswirtschaft – wir müssen ja immer daran denken, wir haben eine nicht einfach demografische Entwicklung – finanziert werden können. Das heißt, sie sind dann nachhaltig. Und das ist die Voraussetzung. Wir können ja beweisen: Wir in Deutschland haben mit dieser Politik seit der Finanzkrise, in der wir einen starken Einbruch unserer Wirtschaft hatten 2009, minus 5,6 Prozent unserer gesamtwirtschaftlichen Leistungskraft, mit einer hohen Neuverschuldung als Folge davon, das haben wir nun in fünf Jahren abgebaut, mit höheren Wachstumsraten als andere Länder in Europa. Das heißt, eine solide Finanzpolitik ist nicht die Alternative zu solidem Wachstum, sondern das ist die Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum und den Menschen lohnt es am Arbeitsmarkt. Wenn Sie unsere Zahlen am Arbeitsmarkt sehen, dann können Sie sehen, das ist die beste Politik für soziale Sicherheit. Und deswegen haben wir ja auch im Gegensatz zu anderen in Europa zum Glück das Problem der Jugendarbeitslosigkeit nicht. Geers: Trotzdem nochmal gefragt nach dem bösen Erwachen, Herr Schäuble. Sie haben betont, Deutschland verhält sich vertragskonform, bewegt sich wieder mit der Schuldenstandquote auf die 60 Prozent zu. Bei anderen Ländern – Frankreich zum Beispiel – geht es stramm auf die 100 Prozent zu, da ist nicht von 60 Prozent die Rede. Italien liegt weit drüber, die USA – gut, nicht Mitglied der Eurozone – sind auch bei 100 Prozent Verschuldungsquote. Also ist da nicht doch eine gewisse inhärente Gefahr, die irgendwann mal zum Problem werden könnte? Schäuble: Wissen Sie, auch Frankreich hat seine Neuverschuldung deutlich gesenkt. Frankreich ist auch auf dem richtigen Weg. Italien übrigens auch. Die durchschnittliche Neuverschuldung in der Eurozone hat sich in den letzten Jahren halbiert. Also wir sind in Europa schon auf einem guten Weg. Die USA haben eine sehr erfreuliche Entwicklung in den letzten Jahren genommen. Sie haben ja auch wieder eine solide wirtschaftliche Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Und die Zentralbank hat ja auch gesagt – die in Amerika nach ein wenig anderen Regeln arbeitet, als wir das in Kontinentaleuropa gewohnt sind –, dass sie allmählich vorsichtig, behutsam – die USA haben ja eine große Verantwortung für die Weltwirtschaft insgesamt, weil alles am Dollar oder vieles am Dollar hängt, dass sie vorsichtig aus dem Übermaß an Liquidität sich zurückziehen werden –, dass sie das langsam abbauen werden. Und sie haben auch ihre Haushaltsdefizite natürlich immer wieder unter Kontrolle bekommen. Geers: Also keine Gefahr? Schäuble: Na ja, Gefahren sind immer. Aber man beugt am besten den Gefahren vor, wenn man eben in Zeiten, wo es einigermaßen gut läuft – wie es zur Zeit in Deutschland ist – nicht über seine Verhältnisse lebt. Deswegen ist genau diese Wirtschaftspolitik die richtige, die Wirtschafts- und Finanzpolitik, um Vorsorge für die Zukunft zu leisten, um das Wachstum nachhaltig zu machen. Schäuble: Abschaffung des Bargeldes würde Geldpolitik erleichtern, dafür Freiheit und Privatsphäre einschränken Geers: Herr Schäuble, Hintergrund all dieser Debatten ist ja immer die Frage, wie man überhaupt zu mehr Wachstum kommen kann. Und nun haben ja beide Denkschulen, sage ich jetzt mal, derzeit so ein gewisses Problem. Also Regierungen, die gerne mehr Geld in die Hand nehmen würden, haben das Geld oft nicht – Stichwort: hohe Schulden, auch wegen der Finanzkrise – und andere wiederum, ich sage mal jetzt die EZB mit ihrer Geldpolitik, hat ihr Pulver auch weitgehend verschossen, der Leitzins ist schon in der Nähe von null, und Herr Draghi pumpt jetzt zwar noch Milliarden jeden Monat in die Finanzmärkte an frischem Zentralbankgeld, aber bislang ist auch das nicht so richtig von durchschlagendem Erfolg gekrönt. Jetzt gibt es plötzlich eine dritte Idee, man sollte das Bargeld abschaffen. Und die dahinter stehende Idee lautet: Wenn alle nur noch bargeldlos zahlen und das Geld auf den Konten hin und her geschoben wird, dann könnte eine Notenbank sogar Negativzinsen beschließen. Das heißt, für Guthaben müsste ein Sparer Zinsen an die Bank zahlen und weil das niemand will, gibt dann jeder sein Geld gerne aus, die Nachfrage steigt, das Wachstum stellt sich ein. Ein verlockender Gedanke eigentlich. Was sagt denn der Bundesfinanzminister zu dieser Idee, das Bargeld abschaffen zu können? Schäuble: Darf ich zunächst eine Bemerkung machen: Niemand fordert nachhaltiger die Regierungen auf, eine solide Finanzpolitik zu treiben, nicht immer nur neue Schulden zu machen, Strukturreformen für Wachstum zu machen als der Präsident der Europäischen Zentralbank. Der wieder und wieder sagt: 'Ich kann kurzfristig mit der Geldpolitik die größten Schwierigkeiten in Europa ein Stück weit mildern', – was er sehr erfolgreich tut – ‚'aber ich kann nicht die politischen Entscheidungen ersetzen.' Die Geldpolitik der EZB ist ja keine Alternative zu einer vernünftigen Haushalts- und zu einer vernünftigen Wirtschaftspolitik. Nun zur Frage "Bargeld". Es gibt kluge Ökonomen – einer davon Rogoff, wird auch in Dresden sein. Ich schätze Rogoff sehr, und er sagt: Ja, da sowieso ein Großteil des Geldkreislaufes heute ja nicht mehr mit Bargeld sich vollzieht, sondern durch Überweisungen beziehungsweise dadurch, dass man im Internet die Positionen hin und her verschiebt – es ist ja der Großteil schon bargeldlos –, daraus könnte man ableiten, dass man das stärker kontrolliere könnte, dass man bestimmte Formen von kriminellem Missbrauch von zu viel Bargeld unterbinden könnte und im Übrigen hätte man eine bessere Steuerung der Möglichkeiten der Geldpolitik. Dafür gibt es ein paar Argumente, es gibt auch ein paar Argumente dagegen. Geers: Welche? Schäuble: Na ja, ich meine, das erste Argument ist, wir wollen ja ganz generell nicht in allen Punkten unseres Lebens in jeder Weise kontrollierbar sein, wir haben es ja sonst auch mit Datenschutz und mit dem Recht auf Privatheit. Und deswegen muss ja nicht, also wenn ich ein paar Euro in meiner Geldbörse habe oder so, dann müssen Sie das nicht wissen, ich muss das auch nicht im Deutschlandfunk erläutern, es muss auch nicht kontrolliert werden, es muss auch nicht alles erfasst werden. Der Verkehr zwischen den Banken, der wird ja kontrolliert durch die Notenbanken, durch die Bankenaufseher und so weiter, aber eine totale, eine völlige Abschaffung des Bargeldes, so lange die Menschen auch Geld anfassen wollen, das, finde ich, sollten wir wirklich nicht machen. Geers: Wenn es denn also mit so, ich sage mal jetzt, revolutionären Beschlüsse – Wiederabschaffung des Bargeldes – so schnell nichts wird, dann bliebe es ja bei dem Instrumentenkasten, den wir jetzt haben, um für mehr Wachstum zu sorgen. Und da muss man ja so ein bisschen feststellen, so ein bisschen gehen Sie ja schon auch auf die Forderungen ein, Deutschland solle mehr ausgeben. Es gibt ja die 23 Milliarden Euro aus dem Koalitionsvertrag, da haben Sie dreimal was draufgesattelt, inzwischen ist man bei knapp 40 Milliarden Euro angekommen, mit denen Sie auch diesen Kritikern so ein bisschen versuchen, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber die Frage ist: Geht da eigentlich noch mehr? Kommt da vielleicht noch mehr? Die Steuereinnahmen bei Ihnen sprudeln ja weiter. Schäuble: Wir haben vor der Wahl – meine Partei – und nach der Wahl im Koalitionsvertrag gesagt: Wir werden die Steuern in dieser Legislaturperiode nicht erhöhen – das halten wir ein. Wir haben gesagt: Wir werden ab 2015 keine neuen Schulden mehr machen – das halten wir ein. Wir haben gesagt: Ab 2015, wenn wir diesen Zustand erreicht haben, können wir so viel die Ausgaben erhöhen, wie wir Mehreinnahmen haben. Und dann haben wir auch gesagt: Wir werden jeden Euro, den wir an zusätzlichem Spielraum gewinnen … anfangs der Legislaturperiode haben wir gesagt: 23 Milliarden und dann haben ich aber gesagt, schon beim ersten Haushalt: Alles, was wir zusätzlich an Handlungsspielraum gewinnen, werden wir zur Verstärkung der Investitionen insbesondere in der öffentliche Infrastruktur nutzen. Wir halten Wort, wir machen genau das, was wir gesagt haben. Die Menschen können sich darauf verlassen. Das schafft Verlässlichkeit, sorgt für nachhaltiges Wachstum. Schäuble: Hoffe, dass die Abschaffung der Kalten Progression diesmal nicht im Bundesrat blockiert wird Geers: Trotzdem nochmal nachgefragt, Herr Schäuble. Die Reihenfolge haben Sie gerade beschrieben: Erst kam der ausgeglichene Haushalt, dann, was übrig blieb, ging in die Investitionen, und Kurzem, Anfang des Monats, haben Sie auch zum ersten Mal so ein bisschen den Deckel gelüftet, was eine Entlastung der Steuerzahler betrifft, indem Sie angekündigt haben, es könnte vielleicht mal 1,5 Milliarden Euro Entlastung geben bei der kalten Progression. Das weckt Appetit auf mehr. Schäuble: Ich bin derjenige, der schon Anfang 2010 – da war ich gerade frisch Finanzminister geworden – gesagt hat, wir sollten eigentlich die kalte Progression beseitigen. Wir haben auch ein Gesetz verabschiedet 2012, das ist allerdings am Bundesrat gescheitert. Und jetzt haben wir gesagt, jetzt ist die Gelegenheit günstig, zumal alle es gefordert haben. Jetzt hat es auch die SPD gefordert, die CDU/CSU hat es gefordert, sie hat es auf ihrem Parteitag beschlossen, wieder und wieder. Ich habe allerdings darauf hingewiesen: Im Augenblick haben wir eine sehr geringe Inflationsrate, da ist der Effekt der kalten Progression nieder. Und deswegen habe ich jetzt gesagt: Okay, dann ist diese Debatte damit erledigt, wir machen das, so haben wir es immer versprochen. Jetzt sagen natürlich manche: Oh, das ist ja ganz wenig. Dann sagte ich: Ja, das habe ich immer gesagt, wenn die Inflationsrate nahe bei null ist, ist logischerweise auch die kalte Progression sehr nieder. Trotzdem, ich hoffe, dass das durch den Bundesrat geht. Also jetzt machen wir erst mal die Gesetzgebung im Bundestag und dann sind wir wieder da, wo wir Ende 2012 schon waren, als es der Bundesrat blockiert hat. Ich hoffe, dass es diesmal nicht blockiert wird. Aber ich bin noch nicht sicher. Geers: Dennoch nochmal nachgefragt, Herr Minister: Bisher gibt es "nur" eine Steuerentlastung von 1,5 Milliarden für die Steuerzahler. Schäuble: Das ist ja keine Steuerentlastung, das ist der Verzicht auf heimliche Steuererhöhungen. Geers: Können wir auch so ausdrücken – d’accord. Das Problem ist nur, ich sagte vorhin, es weckt Appetit auf mehr. Und einen Vorschlag will ich jetzt mal gerne aufgreifen, die Rede ist von dem extrem ungerechten, weil ziemlich steilen Anstieg des Steuertarifs in der Mitte des Tarifs, also da, wo der Durchschnittsverdiener angesiedelt ist. Sie kennen das, das Ganze heißt Mittelstandsbauch. Das jetzt zu ändern, ist das für Sie vorstellbar? Ist das finanzierbar? Schäuble: Das ist bei den Vorgaben, die wir uns für diese Legislaturperiode genommen haben, nicht finanzierbar. Das weiß jeder, der sich damit beschäftigt. Geers: Und danach? Schäuble: Das muss man sehen. Ich bin ein großer Anhänger eines anderen Verlaufs unseres Einkommensteuertarifs. Der hat in der Tat das Problem, dass die Progressionszone zwischen dem unteren, also dem Eingangssteuersatz, und dem oberen, dem Spitzensteuersatz, diese sogenannte Progressionszone ist sehr schmal, deswegen gerät man relativ früh in den Bereich des Spitzensteuersatzes. Umgekehrt zahlen über 50 Prozent der Bevölkerung überhaupt keine Einkommenssteuer, weil sie unterhalb der Zone sind, wo der Eingangssteuersatz überhaupt einsetzt. Da muss man insgesamt eine durchgehende Tarifreform machen – die ist aber sehr anspruchsvoll, und die wird auch nicht gehen, ohne dass man sehr viel größere Finanzvolumina verschiebt. Da wird man einen Teil Netto-Entlastungen machen müssen. Da muss man einen Teil auch anders zuordnen in der Besteuerung, weil der Staat natürlich seine Ausgaben ja auch finanzieren muss. Schauen Sie, wir haben jetzt gerade die Debatte über die Bezahlung der Kindergärtnerinnen, um ein aktuelles Thema zu nehmen, und alle sind einig: Die Kindergärtnerinnen sollen besser bezahlt werden. So kann ich endlos weiter machen. Und wenn man das alles zusammen nimmt, dann weiß man, dass die Erwartungen der Menschen in unserem Lande an die Leistungen des Staates, die werden ungefähr in der Höhe bleiben, deswegen haben wir keinen allzu großen Spielraum, die Gesamtsteuerbelastung deutlich zu senken. Sie liegt im Übrigen in Deutschland zwischen 22 und 23 Prozent unserer gesamten Wirtschaftskraft, und da können wir uns durchaus sehen lassen. Deswegen ist ja Deutschland so ein Platz, wo viele Investoren gerne kommen, aber wo natürlich auch viele Menschen gerne in Deutschland leben. Schäuble: Griechische Regierung hat im Wahlkampf versprochen, im Euro zu bleiben, Programm aber nicht zu erfüllen - das geht nicht zusammen Geers: Was geht nach 2017? Schäuble: Schauen Sie, CDU und SPD haben sehr unterschiedliche Vorstellungen. Wenn Sie sich an den letzten Wahlkampf erinnern, dann hat die SPD massiv für Steuererhöhungen im Wahlkampf geworben und die CDU/CSU hat unter maßgeblicher Beteiligung ihres Finanzministers gesagt: 'Keine Steuererhöhungen!' Die Wähler haben darüber ... Geers: … So, und herausgekommen ist im Koalitionsvertrag, dass man in dieser Wahlperiode … Schäuble: Keine Steuererhöhung! Geers: … gar nichts macht. Schäuble: Nein, nicht gar nichts macht, sondern die CDU/CSU hat die Wahlen gewonnen und deswegen hat auch die SPD akzeptiert, dass die Wählerinnen und Wähler das so entschieden haben. Für den nächsten Wahlkampf wird man sich das dann anschauen, dann wird jede politische Gruppe ihre Programmatik vorlegen. Aber wir sind nun im Mai 2015 – die nächste Wahl ist im Herbst 2017. Ich bin Finanzminister für diese Legislaturperiode und deswegen fange ich doch jetzt nicht an, über Wahlprogrammatik für 2017 zu reden – ich bitte Sie! Geers: Herr Schäuble, kein Interview in diesen Tagen, das man mit Ihnen führt, kommt um das Thema Griechenland herum. Deshalb kommen wir zum Abschluss noch mal kurz auf Dresden und das G7-Finanzministertreffen zurück. Sie werden gleich sagen: Das steht gar nicht auf der Tagesordnung – geschenkt –, aber es ist schlechterdings auch nicht vorstellbar, dass wenn Sie, wenn die Finanzminister, wenn die Notenbankchefs, wenn IWF-Chefin Christine Lagarde zusammenhocken, dass Sie dann nicht über Griechenland reden. Es ist andererseits auch schon wieder alles gesagt über Griechenland. Das heißt, die Zeit wird knapper, die Regierung in Athen kratzt die letzten Reserven zusammen, um Rückzahlungen zu leisten, es kommen keine Reformzusagen rüber, das Ganze ist sehr zähflüssig. Haben Sie eigentlich, wenn Sie an die Regierung Tsipras/Varoufakis in Athen denken, haben Sie eigentlich das Gefühl, dass Sie dieser Regierung noch trauen können, dass die die Kurve noch kriegt? Schäuble: Also zunächst einmal werden wir natürlich … in Dresden ist es sicher auf der Tagesordnung. Das ist kein Problem, das die G7 lösen kann, aber es wäre in der Tat lebensfremd zu erwarten, dass wir da nicht auch darüber reden, dass uns unsere Kollegen und Partner aus den USA, aus Kanada, aus Japan nicht auch fragen werden: Wie sieht’s denn aus?. Und außerdem, Frau Lagarde ist da, Herr Draghi ist da, der Herr Dijsselbloem, der Chef der Eurogruppe, ist auch da, wir sind ja alle zusammen, wir werden natürlich auch darüber reden. Aber gelöst werden muss das Problem in Griechenland, das ist wahr, denn die griechische Regierung hat ja zuletzt am 20. Februar in der gemeinsamen Erklärung der Eurogruppe wieder bestätigt, dass sie das vereinbarte Programm im Wesentlichen erfüllen will. Und das ist die Voraussetzung, dass wir dieses Programm erfolgreich abschließen können. Und der erfolgreiche Abschluss des Programms ist die Voraussetzung für alles, was danach kommen kann oder auch nicht kommen kann. Und davon sind wir leider noch ein ganzes Stück entfernt. Und deswegen hat die griechische Regierung, die natürlich einen Wahlkampf geführt hat, wo sie ihrer Bevölkerung versprochen hat, man bleibt im Euro, man erfüllt aber das Programm nicht. Was so ganz nicht einfach zusammen geht, weil es eine Aussage war, die andere finanzieren sollen, und das geht dann auch in Griechenland nicht so einfach. Die griechische Regierung hat noch ziemliche Probleme zu bewältigen. Ich wünsche ihr dazu viel Kraft, und natürlich hat sie dafür jede Unterstützung, aber um der Lösung dieses Problems kommt sie nicht herum. Schäuble: Griechen müssen irgendwann aus eigener Kraft erwirtschaften, was sie sich leisten wollen Geers: Die Frage ist nur: Trauen Sie ihr das zu? Sie haben gerade den 20. Februar erwähnt – heute haben wir den 24. Mai. Schäuble: Wir müssen im internationalen Verkehr immer respektieren: Die Griechen haben gewählt; das ist die von den Griechen gewählte Regierung; die hat ihre Verantwortlichkeiten. Ich würde übrigens die Aufgabe meines griechischen Kollegen nicht mit meiner eintauschen wollen. Der hat es schwerer als ich. Aber er hat Anspruch daraufhin, dass wir ihn ernst nehmen, die ganze Regierung, und deswegen trauen wir ihnen auch zu, dass sie das machen, was sie machen müssen, aber das verlangen wir auch. Sie müssen allerdings umgekehrt von uns auch erwarten können, dass wir zu dem stehen, was wir immer gesagt haben. Geers: Würden Sie eine Warnung aussprechen an Griechenland, das Spiel nicht zu übertreiben, nicht zu weit zu treiben? Schäuble: Dazu besteht keine Notwendigkeit. Ich weiß auch gar nicht, ob die Griechen heute unser Interview hören werden. Die Griechen wissen, was auf dem Spiel steht, und sie sagen es ja selber, dass sie in einer angespannten Situation sind. Deswegen brauchen sie keine weiteren Warnungen. Die Probleme haben ihre Ursachen in Griechenland. Griechenland hat mehr Hilfe bekommen, als jedes andere Land. Auch das müssen die Verantwortlichen in Griechenland dem griechischen Volk sagen. Und nun muss Griechenland halt das auch umsetzen, wozu es sich verpflichtet hat. Weil Hilfe ist immer ein Stück weit auch Hilfe zur Selbsthilfe. Irgendwann müssen die Griechen auf einen Weg kommen, wo sie aus eigener Kraft sich das erwirtschaften, was sie sich leisten wollen. Geers: Ist eine abermalige Verlängerung des laufenden Programms nochmal eine Option? Schäuble: Ich habe jetzt nicht die Absicht, mit Ihnen im Interview Verhandlungen zu führen. Griechenland selbst hat sich zuletzt am 20. Februar auf die Erfüllung dieses Programms verpflichtet und deswegen brauchen wir nicht über Alternativen zu reden. Geers: Wenn Sie – Stand heute – Griechenland verorten müssten zwischen nah an einer Lösung und näher an einer Staatspleite, wo würden Sie Griechenland verorten? Schäuble: Na jedenfalls hat Griechenland noch ziemlich viele Anstrengungen vor sich, um das zu erfüllen, wozu es sich verpflichtet hat. Geers: Danke schön, Herr Schäuble. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Schäuble im Gespräch mit Theo Geers
Finanzminister Wolfgang Schäuble ist nicht bereit, Griechenland mit einer Verlängerung der Fristen beim laufenden Hilfsprogramm entgegenzukommen. "Griechenland selbst hat sich zuletzt am 20. Februar auf die Erfüllung dieses Programms verpflichtet und deswegen brauchen wir nicht über Alternativen zu reden", sagte Schäuble im DLF.
"2015-05-24T08:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:38:27.293000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kein-entgegenkommen-fuer-griechenland-das-problem-muss-100.html
850
Grenzen der Menschlichkeit
Der Erste, der sich gleich nach dem Schiffsunglück vor Lampedusa mit schonungsloser Kritik zu Wort meldete, war ausgerechnet ein Mann aus Argentinien, Papst Franziskus."Ich komme nicht umher, mit tiefer Bestürzung der zahlreichen Opfer des erneuten Unglücks heute Morgen vor der Insel Lampedusa zu gedenken. Dazu fällt mir nur ein Wort ein: Schande."Franziskus war schon drei Monate zuvor auf Lampedusa gewesen und hatte das Drama an der Immigrationsfront angeprangert:"Viele Immigranten suchen nur einen besseren Ort zum Leben für sich und ihre Familien. Und wie oft haben sie dabei den Tod gefunden. Und wie oft stoßen die Überlebenden auf Unverständnis und Ablehnung statt auf Solidarität."Damals hatten einige konservative, zum Teil auch fremdenfeindliche, Regierungspolitiker in Italien, sarkastisch auf die Mahnung des Pontifex reagiert: Über Immigration zu reden sei leicht, die Lösung der Probleme dagegen eine ganz andere Sache. Auf gut Deutsch: Lieber Papst, kümmere dich nicht um Dinge, die du nicht verstehst. Nach der Tragödie und den über 300 Todesopfern vor Lampedusa in der vergangenen Woche wird das Wort Schande nun allerorten gebraucht. Die Katastrophe hat die Weltöffentlichkeit erschüttert, es werden Schuldige gesucht und Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. Italiens Parlamentspräsidentin Laura Boldrini, die frühere Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissars empörte sich:"Wir haben heute 28 Staaten in der EU. Und jeder hat seine eigenen Asyl- und Immigrationsgesetze. Wenn die Mitgliedsstaaten weiter daran festhalten wollen, brauchen wir auch nicht über ein geeintes Europa zu reden."Italiens Regierung, die schon seit Langem das Problem der Anlandung von Flüchtlingsbooten nicht in den Griff bekommt, schob die Verantwortung für das Massensterben zumindest teilweise nach Brüssel ab. Italiens Innenminister Angelino Alfano: "Europa muss stärker mithelfen bei der Rettung von Menschenleben. Wir liegen genau im Mittelmeer und haben bereits Tausende von Menschen gerettet. Wir möchten, dass uns Europa dabei mehr unterstützt." Särge auf Lampedusa (picture alliance / dpa / Lannino) "Kann nicht nur auf italienischen Schultern ruhen" Es sah zunächst so aus, als wäre der Schock über Hunderte von Todesopfern vor den Toren Europas endlich ein Grund, das Thema Immigration zur gesamteuropäischen Chefsache zu erklären. Italiens Innenminister Angelino Alfano jedenfalls kam hoffnungsvoll aus der eilends einberufenen Innenministerkonferenz in Brüssel Anfang der Woche:"Italien hat erreicht, dass die Grenzschutzbehörde Frontex mehr unternehmen muss, um die Meeresgrenzen effizienter zu überwachen. Vor allem hat Italien aber erreicht, dass das Problem von Lampedusa, das heißt, das Problem der Außengrenze im Mittelmeer, ein europäisches Problem ist, das nicht nur auf Italiens Schultern ruhen kann. Außerdem haben wir durchgesetzt, dass wir umgehend eine Mannschaft zusammenstellen aus allen interessierten Ländern, die sich des Problems der Immigration annehmen wollen. Unsere Vorschläge wurden positiv aufgenommen, sogar von Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern."Doch was sich so hoffnungsvoll anhörte, erwies sich am Ende als wenig ergiebig. Eine weitere Gesprächsrunde zum Thema Immigration zieht das Problem in die Länge. Die Grenzschützer von Frontex sind nicht unumstritten und seit Langem mit eher bescheidenem Erfolg im Einsatz. Italiens eigentlicher Wunsch nach einer günstigeren Verteilung der ankommenden Flüchtlinge auf andere Länder wurde vor allem von deutscher Seite knallhart abgelehnt. Mit klaren Zahlen an der Hand: Deutschland hat bisher 570.000 Flüchtlinge aufgenommen, Italien knapp 60.000. Zumal Italien bereits seit Jahren Hilfe in Sachen Immigration aus Brüssel erhält, wie Michele Cercone, Sprecher der EU-Außenkommissarin Cecilia Malmström, erklärt:"Wir haben viel getan und werden das auch weiterhin tun. Wir haben zum Teil die humanitären Organisationen finanziert, die in den Asyllagern tätig sind. Wir stehen in Kontakt mit den italienischen Behörden und sind jederzeit bereit einzugreifen; mit Finanzmitteln, aber auch mit Personal und Ausrüstung. Auch im Rahmen von Frontex. Ich glaube, es ist wirklich nicht sehr sinnvoll, einerseits ständig auf Brüssel zu schimpfen und andererseits zu meckern, dass keine Hilfe kommt."Italien sei ein Sonderfall, insistierte der römische Verteidigungsminister Mario Mauri, und werde im Ernstfall von der EU nicht genügend unterstützt."Wenn man Europa um Hilfe in Sonderfällen bittet, stößt man meist auf Ablehnung. Dabei geht es gar nicht darum, dass wir unsere Verantwortung abwälzen wollen. Natürlich wissen wir, dass andere Länder eine größere Anzahl von Immigranten als wir aufnehmen. Jüngst sind in Bulgarien 11.000 Syrer angekommen. Aber man muss bedenken, dass vor allem jene ihr Leben riskieren, die auf dem Seeweg von Afrika nach Sizilien kommen." EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bei einer Pressekonfernez anlässlich seines Besuchs auf Lampedusa (picture alliance / dpa / Corrado Lannino) Gesamteuropäische Verantwortung Dass man Europa nicht die Schuld für den Tod der Immigranten vor Lampedusa geben kann, hat der italienische Ministerpräsident Letta inzwischen zugegeben:"Ich will mich hiermit entschuldigen für den mangelhaften Einsatz meines Landes, diese und andere Tragödien abzuwenden."Im Gegenzug kassierte er das Bekenntnis von Kommissionspräsident José Barroso zu einer wie auch immer gearteten gesamteuropäischen Verantwortung. "Europa kann nicht wegschauen, wenn Flüchtlingsboote untergehen und Hoffnungen und Leben zerstört werden."Doch was bedeutet das konkret? Die Grenzschutzorganisation Frontex soll künftig verstärkt eingesetzt werden, die über 100 Schiffe und etwa 50 Flugzeuge und Hubschrauber werden das Mittelmeer noch besser überwachen, unterstützt von dem soeben in Straßburg verabschiedeten Grenzüberwachungssystem Eurosur. Die EU hat dafür über 200 Millionen Euro bewilligt. Eurosur sieht eine Vernetzung sämtlicher Grenzüberwachungssysteme sowie eine lückenlose Überwachung der EU-Außengrenzen vor. Nach dem Unglück von Lampedusa weisen Befürworter auf die lebensrettende Funktion der Grenzüberwachung hin. Skeptiker wie Holger Koop von der Menschenrechtsorganisation "Kein Mensch ist illegal”, halten das für Augenwischerei: Dauerhafte Überwachung der Grenzen "Das große Projekt, das Frontex maßgeblich mitbetreibt, ist Eurosur, also European Surveillance, sozusagen eine Vernetzung, Koordinierung, Anpassung der ganzen Grenzüberwachungsregime an den ganzen Außengrenzen. Das sozusagen mit extremer Hochtechnologie, militarisierter Technologie, mit Drohnen, mit Satelliten ganze Grenzen zu scannen und darüber auch wiederum Nachbarstaaten, die Regierungen der Nachbarstaaten zu beteiligen und einen neuen Fuß reinzubekommen, um das zu schaffen, einen neuen Ring, um Watchdog-Staaten, also Wachhundregierungen, dort zu installieren."Hauptaufgabe von Frontex und Eurosur wird die dauerhafte Überwachung der Grenzen sein, offiziell, um sie sicherer zu machen. Und es werde helfen, grenzüberschreitende Verbrechen, wie Menschen- und Drogenhandel, besser zu verhindern, so die Innenkommissarin Cecilia Malmström. Durch die künftig unter allen Ländern vernetzte Information mithilfe von Überwachungssatelliten, könnten Angaben über die Bewegung von Flüchtlingsbooten rasch EU-weit verbreitet werden. Somit werde Eurosur auch die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot erleichtern."Das war ja schon der Fall mit EU-Geldern auch in Libyen und Tunesien. Weil das sind natürlich permanent die Versuche, wo Frontex sich zumindest bemüht, dort entsprechende Stellen auch zu schaffen, Liasonbeamte heißt das, als Verbindungsbeamte dort hinzuschicken, um zu Kooperationen zu kommen, dass sie ihnen ermöglicht, Deutschland Zugriff auf Daten auf Untersuchungen zu Fluchtbewegungen zu kommen, aber auch das Grenzverschieben noch weiter nach Süden zu verlagern, in Richtung der Wüsten, in Richtung der Routen, die dann durch die Sahara gehen."Welchen Sinn es allerdings macht, die bevorstehende Anlandung eines Bootes an der italienischen Küste an Spanien oder gar an Deutschland zu melden, erschloss sich daraus allerdings nicht. Auch die viel gepriesene Seenotrettung ist nur ein willkommenes Nebenprodukt, um Kritikern der "Festung Europa” den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber nicht erklärtes Ziel. Die Passage ist erst auf Druck des Europaparlaments in die Eurosur-Verordnung aufgenommen worden. Außerdem ist fraglich, ob sich der Migrationsfluss dadurch wirklich stoppen lässt. Deshalb muss eine Lösung für das Problem gefunden werden, das neben der Vermeidung von Tragödien und dem Tod von Menschen auf der Flucht mindestens ebenso wichtig ist: die Versorgung und Integration derer, die Europa lebend erreichen. Doch die italienische Realität sieht oft anders aus. Die Zustände sind fast überall unzumutbar. Griechische Frontexbeamte überwachen mit einem Hightech-Fernrohr die griechisch-türkische Grenze in der Nähe der Stadt Orestiada. (picture alliance / dpa - Nikos Arvanitidis) Im Regen auf Schaumgummimatratzen Tumult am Tor des Lagers von Lampedusa. Polizei und Lagerleitung drängen Journalisten ab, um zu verhindern, dass die verheerenden hygienischen Zustände publik werden. Es sollen auch keinerlei Fotos in Umlauf kommen, die die Überlebenden des Schiffsunglücks vergangener Woche zeigen, wie sie im Regen auf Schaumgummimatratzen liegen müssen. Derzeit sind etwa 1000 Menschen in dem Erstaufnahmelager, das eigentlich nur 280 beherbergen kann. Darunter 200 Jugendliche und Kinder und die Überlebenden des jüngsten Schiffsunglücks. Raffaella Milano von der gemeinnützigen Organisation "Save the Children": "Seit Beginn des Jahres sind etwa 4000 Kinder und Jugendliche nach Italien eingereist, davon 3000 alleine, ohne Begleitung der Eltern oder eines Erwachsenen. Wir brauchen dringend ein Gesetz, das sofortige Aufnahme und Schutz für alle Minderjährigen garantiert, die nach Italien kommen. Da muss Italien endlich einen Schritt nach vorne machen." "So kann man doch nicht leben" Erstaufnahmelager und Lager für Asylbewerber, sowie Unterkünfte für Minderjährige, werden von Privatfirmen geführt. Um zu sparen, werden die Konzessionen an jene Unternehmer vergeben, die das billigste Angebot machen. Sie erhalten pro Person und Tag zwischen 25 und 30 Euro. Je dichter die Immigranten sich drängen und je länger sie bleiben müssen, umso besser das Geschäft für die Betreiber. Schon seit geraumer Zeit sind die Einrichtungen für Neuankömmlinge und Asylbewerber unzureichend. Jetzt platzen sie aus allen Nähten. Sharif sitzt im Schatten der hohen Mauer, die das Asylantenlager von Marina Grande in Westsizilien umgibt. Der junge Mann ist aus Somalia geflohen."Wir haben große Probleme. Es ist Krieg. Und keiner weiß, wie lange der noch dauert. Also immer noch besser hier, als in meinem Land."Sharif, der wie die meisten Migranten lieber keinen Nachnamen nennt, wartet schon seit einem Jahr vergebens auf seinen Asylbescheid. Lang halte er es nicht mehr aus. Das Leben im Lager sei die Hölle:"Ich schlafe in einem Raum mit mehr als einhundert anderen Männern. Und alle haben sie Probleme, da sind Kranke und Leute, die durchdrehen. Alle hassen einander. So kann man doch nicht leben."Aus den italienischen Lagern fliehen oft Hunderte Einwanderer auf einmal. Die wenigen Polizisten, die diese umzäunten Behelfsheime bewachen, sind hoffnungslos in der Minderzahl und deshalb völlig machtlos, wie sie selber zugeben. Fünf Meter hohe Zäune umgeben das geschlossene Abschiebelager in Trapani-Milo, aber auch sie halten die dort Eingesperrten nicht davon ab, das Weite zu suchen. Eine schwierige Situation, auch für die Anwohner, die hin und hergerissen sind zwischen Mitleid und Überforderung. Seit das Lager vor einigen Monaten direkt neben seinem Haus in Betrieb genommen wurde, hat Francesco Rossi keine Ruhe mehr."Grade eben sind wieder ein paar geflohen, zehn zwölf sind den Zaun hochgeklettert und wupps waren sie verschwunden."Trotz all der Gitter?""Ja, Sie hauen einfach ab, sie sind richtige Kletteraffen, solange sie uns hier nichts tun. Sind arme Hunde da drinnen eingesperrt. Soweit ich weiß werden sie dort identifiziert. Aber sie hauen ab, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Inzwischen kann man hier nachts nicht mehr schlafen.""Sie können nicht mehr schlafen?""Sie machen einen ziemlichen Krawall. Sie rebellieren. Die einen hauen ab, die anderen proben den Aufstand."In Italien können illegale Einwanderer bis zu eineinhalb Jahre lang eingesperrt werden, und sie versuchen deshalb, so schnell wie möglich unterzutauchen und das Land zu verlassen. Denn, so Italiens Innenminister Angelino Alfano: "Sie kommen doch nicht, um sich bei uns an die Strände zu legen, sondern sie wollen weiter in andere europäische Länder." Manche Asylbewerber wollen zurück in die Heimat Die europäischen Vorschriften, die dieses verbieten und damit in vielen Fällen auch durchaus wünschenswerte Familienzusammenführungen verhindern, sind der Hauptgrund, warum sich viele Immigranten gegen die Identifizierung wehren und aus den Abschiebelagern fliehen. Sind ihre Daten erst einmal erfasst, erhalten sie zwar möglicherweise Asyl, können aber Italien nicht mehr verlassen. Andere, wie der Senegalese Ibrahim, verlassen die Lager aus Angst vor Abschiebung und bereuen es schon nach kurzer Zeit. Er verdingte sich als Erntehelfer, als Arbeitssklave auf den Orangenplantagen der Mafia. Jetzt ist er krank, lebt unter einer Plastikplane in einem Barackenlager in Kalabrien und wünscht sich sehnlichst, man würde ihn wieder zurück in seine Heimat schicken."Sie können sich das Leiden hier nicht vorstellen. Alle sind krank. Ich auch, hatte aber kein Geld für Medikamente, musste mir was leihen. Viele würden hier gerne abhauen, aber es gibt keine Möglichkeit."Kein Geld, keine Arbeit, krank und alleine gelassen: das Schicksal vieler, die nicht aus Italien geflohen sind. Nur ab und zu besuchen Freiwillige von der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" die verschiedenen Camps der illegalen Landarbeiter. Sie haben festgestellt, dass nicht wenige Immigranten bei bester Gesundheit in Italien ankommen, aber bereits nach sechs bis zwölf Monaten erhebliche Gesundheitsschäden vorweisen, wegen Unterernährung, Überarbeitung und der katastrophalen hygienischen Verhältnisse, in denen sie leben müssen und die oft schlimmer sind, als in den Herkunftsländern. Hilfsmaßnahmen für Rückkehrwillige scheitern bislang an mangelnder finanzieller Unterstützung. Dagegen werden Milliardenbeträge für zweifelhafte Hilfsaktionen aus dem Fenster geworfen. So geschehen vor gut zwei Jahren, als etwa 35.000 Flüchtlinge aus Nordafrika vom Staat in überteuerten drittklassigen Hotels untergebracht wurden, die zum Teil von der Mafia betrieben werden. Von den angekündigten und bereits bezahlten Integrationsmaßnahmen keine Spur. Eine Gruppe von Flüchtlingen auf der Insel Lampedusa (picture alliance / dpa / Franco Lannino) Lagerkapazitäten müssten verdoppelt werden Diese Zustände sind in Italien hausgemacht, galten aber bisher bei den eher fremdenfeindlichen römischen Regierungsvertretern aus dem Lager von Silvio Berlusconi und der Lega Nord als notwendiger Teil einer Abschreckungsstrategie. Nach dem Unglück von Lampedusa will Italiens Regierung nun aber einlenken. Schon im Dezember sollen 210 Millionen Euro für neue Aufnahmelager bereitgestellt werden. Italien will die Bilder der überfüllten Lager von Lampedusa vor den Augen der Weltöffentlichkeit schnellstmöglich wieder loswerden."Darin wird, wie ich jetzt schon verraten darf, ein wichtiger Posten von 20 Millionen Euro für die Betreuung von Minderjährigen enthalten sein."Ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Lagerkapazitäten müssten mindestens verdoppelt werden, um die bisherigen Zustände zu verbessern. Im Asylbewerberlager Mineo etwa, einem ehemaligen Wohnkomplex amerikanischer Soldaten im Herzen von Sizilien, leben derzeit 4000 Menschen, obwohl es eigentlich nur 1000 aufnehmen kann. Eine Situation, die sich eher verschlechtern wird, wie Italiens Staatspräsident Napolitano in dieser Woche erklärte: "Das Recht auf Leben ist bedroht von Kriegen, von Konflikten und von Unterdrückung in zahlreichen Ländern, weshalb derzeit eine regelrechte Welle von Flüchtlingen zu uns schwappt, alles Menschen, die Asyl suchen. Wir müssen eine gemeinschaftliche Anstrengung unternehmen, angesichts dieser gravierenden Notsituation jenseits der europäischen Südgrenzen, die ein grundsätzliches Problem auch für Europa, seine Sicherheit und seinen Fortschritt darstellt." Papst: Solidarität als Schimpfwort Viele Menschen werden auch weiterhin das Weite suchen und ungeachtet aller europäischen Vorschriften ihren eigenen Weg gehen, Richtung Frankreich, nach Skandinavien, Deutschland oder England. Auf der Suche nach einem besseren Leben und in der Hoffnung auf die auch von Papst Franziskus dringend beschworene Solidarität."Solidarität: Dieses Wort macht in der Welt der Reichen Angst. Man will dieses Wort gar nicht mehr aussprechen. Als wäre es ein Schimpfwort."
Von Karl Hoffmann
Nach der Schiffskatastrophe vor Lampedusa ist die Debatte um die Flüchtlingsproblematik an den Außengrenzen Europas neu entfacht. Italien wehrt sich gegen die alleinige Verantwortung für die Flüchtlinge. Menschenrechtler fürchten die geplante umfassende und technisierte Grenzüberwachung.
"2013-10-11T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:39:45.606000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grenzen-der-menschlichkeit-100.html
851
Steinmeier sieht Chancen für Ende der Krise
In St. Peterburg hat Frank-Walter Steinmeier mit seinen Amtskollegen aus Russland und Polen, Sergej Lawrow (links) und Radoslaw Sikorski, über die Ukraine-Krise beraten. (dpa / Denis Vyshinsky) Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sieht eine mögliche Wende im Ukraine-Konflikt: "Ich hoffe, dass der Einfluss, den Russland hat, genutzt wird, um in entsprechender Weise auf die Separatisten einzuwirken", sagte er am Dienstag nach einem Treffen mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow und dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski in St. Petersburg. Durch direkte Gespräche zwischen Russen und Ukrainern gebe es nun eine Chance, die genutzt werden müsse. Erster Besuch in Russland seit Krim-Annexion Es war Steinmeiers erster Besuch nach dem vom Westen als Völkerrechtsbruch kritisierten Anschluss der Krim an Russland. Wegen der jüngsten Entspannungssignale war das im Januar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz vereinbarte Dreier-Treffen nicht abgesagt worden. Mit dem Format sollen auch historische Konflikte aus der Hitler-Stalin-Zeit dauerhaft überwunden werden. Der polnische Minister Sikorski sagte, dass Kiews neuer Präsident Petro Poroschenko in der Lage sei, die Ukraine zusammenzuhalten. Er betonte: "Wir sehen keine Gefahr für Russland, die sich ergeben würde durch eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union." Lawrow für Hilfskorridor Russlands Außenminister Lawrow befürwortete die Pläne Poroschenkos, einen humanitären Hilfskorridor für Flüchtlinge in der Ostukraine einzurichten. "Ich gehe fest davon aus, dass es kein ausgefuchster militärischer Schritt ist, um den Regierungstruppen freie Hand zu geben", sagte er. Durch den Korridor könnten Menschen aus den umkämpften Gebieten Lugansk und Donezk Zuflucht in anderen Regionen suchen. Steinmeier war zunächst mit Sikorski zusammengekommen, um das Treffen mit Lawrow vorzubereiten. Der deutsche Außenminister betonte, der jüngste Prozess der Deeskalation müsse unumkehrbar gemacht werden. Von einer Lösung der Krise seien die Seiten noch weit entfernt, aber die Tonlage von russischer Seite habe sich merklich gewandelt. (tzi/ach)
null
Erstmals seit der Annexion der Krim ist Außenminister Steinmeier wieder in Russland. Er sieht Chancen, die Ukraine-Krise zu überwinden. Zusammen mit seinem polnischen Amtskollegen Sikorski forderte er Russland auf, seinen Einfluss auf die Separatisten geltend zu machen.
"2014-06-10T17:50:00+02:00"
"2020-01-31T13:46:26.785000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-steinmeier-sieht-chancen-fuer-ende-der-100.html
852
Zwischen Baum und Burka
Die Bühne hat eine Klappe. Manchmal öffnet sie sich wie von Geisterhand; ein Vorgang, den man begrüßt, denn dann entsteigt die Priesterin Norma ihrer unterirdischen Bunkerbehausung. Es handelt sich aber um die Sopranistin Edita Gruberova. Die amtierende Primadonna assoluta kreiert in München zum ersten Mal die Norma auf einer Opernbühne, und wenn die Klappe aufgeht und sie auf dieser Bühne steht, hat der Abend seine relevanten Stellen.Im Zuschauerraum Tumulte nach "Casta diva". Es gibt tausend Arten, ein piano zu singen, la Gruberova beherrscht wahrscheinlich neunhundertachtundneunzig davon, und eine faszinierende Sammlung daraus schenkt sie ihrer Norma. Für diese Partie ist eine seltene, beinah unmögliche Spezies gefordert: ein soprano drammatico d’agilità: mit Beweglichkeit und dramatischer Kraft also, und welchen Respekt Gruberova vor dieser Aufgabe hat, wird deutlich, wenn ihr Forte zuerst etwas scharfkantig wirkt, oder wenn sie die für sie zu tiefen Töne nach unten wegstößt. Frappierend aber ihre Kontrolle der dynamischen Nuancen, das frei gestaltete An- und Abschwellen der Töne, zu Perlenketten gereiht in ständig neu changierenden Farben: große Kunst. Und ein kräftiger Schluck aus der Pulle für die allzu oft darbenden Melomanen. Bellinis Druidenoper nur als Anlass zu Schöngesang zu begreifen, heißt, ihre dramatische Sprengkraft zu übersehen. Felice Romanis gern geschmähtes Libretto erzählt eine Dreiecksgeschichte: gallische Priesterin liebt (und hat heimlich Kinder) mit dem römischen Besatzer-Anführer Pollione, der sich in die Novizin Adalgisa verliebt; hinter der Konvention aber wird in erstaunlicher Dichte das gesamte Konfliktpotential des 19. Jahrhunderts entfaltet: Normas verbotene Liebe zum Kriegsgegner steht gegen die Treue einerseits zum "Vaterland", andererseits zur Religion – und drittens zur "Familie": schon hebt sie den Dolch, um die beiden Kleinen zu töten. Gleich zweimal tötet sie, was sie liebt, nicht. Die Lösung der italienischen Romantik aus solchen Lagen ist das Selbstopfer: Selten wurde ein Opernfinale als Menschenopfer so grausam exponiert: Norma betritt den Scheiterhaufen unter dem Gesang von Priester und Volk: "verdammt bis in den Tod". Wagner, spätere Liebes- und Erlösungstode im Sinn, hat sich aus guten Gründen sehr dafür interessiert.Jürgen Rose, in München, umgeht das Ungeheuerliche, indem er Norma einfach nach hinten abgehen lässt. Der Regisseur und Bühnenbildner hat bekannt, das Stück habe ihm Albträume gemacht. Doch so brav das Ganze arrangiert ist, hätte er eigentlich ruhig schlafen können. Vor allem den Chor der Gallier stellt er oft einfach zu schönen Bildern nur hin. Dabei ist er hier der zentrale Deutungs-Träger, denn die Frauen tragen Burka und Schnellfeuergewehre, und die Herren schließlich diese grässlichen Mützenmasken der Terrorkämpfer. Guerra, guerra, singen sie, und zielen ins Parkett.Bellinis Explosivgemisch aus Politik und Religion nicht auf nahöstliche Besatzungs-Verhältnisse zu aktualisieren, scheint kaum möglich. Roses Kurzschlüssigkeit schlägt aber keine Funken, zwischen Baum und Burka bleibt das Ganze eine Art Bedeutungsdekoration: Es gruselt nur ein bisschen. Was bleibt, ist Musik: Die wunderbar dunklen Schattierungskünste der Adalgisa von Sonia Ganassi, und ihre perfekten Terzenläufe mit Gruberova. Zoran Todorovich als Pollione: ein Poseur der Breitbeinigkeit, viril, zuverlässig, aber eindimensional. Das Bayerische Staatsorchester unter Friedrich Haider braucht einige Zeit, bis es zum richtigen Mitatmen kommt, manchmal war es zu laut, der Kontakt zur Bühne bisweilen wacklig. Was soll’s: München hatte sein Sängerfest, und solange nur Gruberova aus der Klappe kommt, ist der Abend gerettet.
Von Holger Noltze
Vincenzo Bellinis "Norma" war bisher besetzt durch die unvergessene Stimme der Maria Callas. Und lange hat die Operndiva Gruberova diese Rolle gemieden; gestern wurde sie umjubelt für ihre "Norma", als nach der Premiere an der ausverkauften Bayerischen Staatsoper der Vorhang fiel. Der Regisseur Jürgen Rose allerdings konnte es sich nicht verkneifen, die gallisch-keltischen Bezüge der Oper ins grelle Licht modernen Guerilla-Krieges zu setzen.
"2006-01-22T17:30:00+01:00"
"2020-02-04T13:17:36.808000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-baum-und-burka-100.html
853
Der Protest der "Gelbwesten-Frauen"
Die Gelbwesten-Frauen gehen auf die Straße (Deutschlandradio / Christiane Kaess) Vor dem imposanten Rathaus des elften Pariser Bezirks im Osten der Stadt blickt Cherifa etwas sorgenvoll auf die etwa 40 Versammelten in gelben Signaljacken. Die dunkelhaarige Frau mittleren Alters glaubt, die Gewalt der vergangenen Demonstrationen mache es schwieriger, die Gelbwesten zu mobilisieren. "Ich merke, dass es eine derartige Unterdrückung gibt. Die Leute bekommen Angst. Bei einer Demo wurden wir von der Polizei angegriffen. Man hat uns umzingelt, wir konnten nicht einmal raus. Man besprüht uns mit Gas. Das ist dramatisch, was hier passiert." Cherifa glaubt nicht, dass die von Präsident Macron angekündigten Reformen vor einer Woche die Protestbewegung überzeugt haben. "Gar nicht – er hat es ja gemacht wie immer – er hat überhaupt nicht auf unsere Forderungen geantwortet. Er will bis zum Ende seines Mandats bleiben und einfach seine kapitalistische Politik fortsetzen." Anderen Frauen helfen An diesem Vormittag wollen sich die "Femmes Gilets Jaunes" wie sie sich nennen, also die Gelbwesten-Frauen, solidarisch zeigen mit Bewohnerinnen einer Sozialeinrichtung in der Nähe. Der Institution werfen sie vor, Frauen, die eigentlich vor Gewalt geflohen sind – sei es aus Ländern, in denen Krieg herrscht, vor Prostitution oder gewalttätigen Ehemännern - in der Einrichtung ebenfalls zu unterdrücken und sich nicht um ihre Belange zu kümmern. Oriane, Mitte 30, die roten Haare streng nach hinten gekämmt, hat zusammen mit Cherifa die Gelbwesten-Frauengruppe gegründet und spricht aus eigener Erfahrung. "Als ich in dem Frauenhaus angekommen bin, hat man mir gesagt, ich müsse zwei Jahre auf eine richtige Wohnung warten. Aber ich war 7 Jahre dort. Weil sie nichts für einen tun. Ich hatte das Privileg, das Französisch meine Muttersprache ist. Ich konnte mir helfen. Aber es gibt dort Leute, die für 20 oder 24 Jahre in provisorischen Unterkünften wohnen." Sie selbst hat davor auf der Straße gelebt, erzählt Oriane, habe Prostitution ertragen – so sagt sie. Aber auch in der Sozialeinrichtung gebe es Gewalt, vor allem seitdem man dort auch Männer aufnimmt. Seit zwei Jahren ist Oriane weg von dort und hat heute eine Wohnung und einen Job in einer Druckerei. Zwar in einem prekären Arbeitsverhältnis, meint sie, aber es gehe ihr nun viel besser. Jetzt will sie den anderen Frauen helfen. Die haben sich mittlerweile in einem Kreis auf dem Platz vor dem historischen Gebäude des Rathauses aufgestellt. Oriane greift entschlossen zu einem Megaphone: Die Frauen würden ab jetzt zweimal die Woche Lärm vor dem Rathaus machen, ruft Oriane in Richtung des Sitzes des Bezirks-Bürgermeisters von der sozialistischen Partei. "Das ist nicht normal! Sie sind Gewählte der Linken! Wir haben Ihnen Briefe geschrieben und jeden Fall dieser Frauen erklärt! Wir haben die Schnauze voll! Wir lassen Sie nicht mehr in Ruhe bis die Frauen aus dieser Einrichtung würdevoll woanders untergebracht werden!" Nicht von Macron überzeugt Etwa 30 Meter weiter schlendern aus der gläsernen Eingangstür des Rathauses die Gäste einer Hochzeitsgesellschaft. Sie sind festlich gekleidet und lachen der Braut in einem schicken kurzen weißen Kleid und dem Bräutigam im dunklen Anzug zu. Eine Sektflasche knallt und kleine goldene Konfettischnipsel fliegen zu den Frauen der Gelbwesten hinüber. Die wollen jetzt auch näher ans Rathaus. "Sexuelle Gewalt, soziale Gewalt – der gleiche Kampf gegen das Kapital!", skandieren die Frauen und tragen ein Plakat vor sich her. Ihr Protest-Slogan prangt in großen rosa Buchstaben prangt. Zwei grauhaarige Männer laufen auch mit. Sie gehören zu einer lokalen Gelbwesten-Gruppe im Pariser Süden, erzählen Pierre-Jacques und Luc, und sie wollen die Frauen unterstützen. Die beiden Lehrer diskutieren über die Wut der Demonstranten auf den Kundgebungen der vergangenen Wochen. Sie können sie nachvollziehen. "Zuerst ist da ja eine Gewalt der Gesellschaft - durch Elend, soziale Unsicherheit und mangelnde Zukunftsperspektiven. Und das empört die Menschen!" Auch Luc lässt sich von Emmanuel Macron nicht überzeugen. Von dessen Vorgänger, Francois Hollande, hielt er allerdings auch nicht mehr. "Sagen wir, er war vielleicht lustiger." Kein Empfang beim Bürgermeister Aber die Gelbwesten als alternative neue Partei? Pierre-Jacques schüttelt den Kopf. "Ich sehen die Gelbwesten eher als Gegenbewegung zur Macht. Es gibt durch sie ja schon kleine Veränderungen. Und man sieht hier heute: die Bewegung gibt den Leuten eine Möglichkeit, sich zu organisieren, miteinander zu diskutieren. Das ist neu und das sollte man unterstützen. Mehr als die politischen Parteien." Unterdessen ist ein Sicherheitsmann aus dem Rathaus gekommen. Er will, dass die Gelbwesten-Frauen Platz machen für die nächste Hochzeitsgesellschaft. "Kann ich etwa heiraten?" – hält ihm Oriane entgegen. "Ich bin 35, habe kein Kind – und warum? Weil meine Lebensumstände prekär sind! Respektieren Sie uns einfach!" Noch während der Sicherheitsmann versucht, sich Gehör zu verschaffen, fangen zwei andere junge Frauen an, in das Megaphon zu singen. "Herr Bürgermeister!" - schmettern die Beiden - "hören Sie uns an – uns die prekären Frauen – die Frauen im Krieg !" Der Sicherheitsmann gibt auf und geht kopfschüttelnd ins Rathaus zurück. Der Bürgermeister hat die Frauen an diesem Tag nicht mehr empfangen. Aber sie wollen ja wieder kommen.
Von Christiane Kaess
Seit Monaten demonstrieren in Frankreich die "Gelbwesten". Unter den Demonstrierenden sind auch die sogenannten "Gelbwesten-Frauen", die den Aufstand prägen. Auch ihnen gehen die Reformvorschläge Emmanuel Macrons nicht weit genug. Daher wollen sie vorerst weiter auf die Straßen ziehen.
"2019-05-02T05:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:49:50.391000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-der-protest-der-gelbwesten-frauen-100.html
854
Korallen widerstandsfähiger als gedacht
Sogar unter sauren Bedingungen haben die Korallen jede Farbe des Regenbogens, von Taublenblau bis zum leuchtenden Rot oder Orange. (picture alliance / dpa - AUSTRALIAN INSTITUTE OF MARINE ) Wenn die Ozeane durch die Aufnahme von Kohlendioxid in den nächsten Jahrzehnten immer saurer werden, könnte es für eines der wichtigsten Ökosysteme im Meer eng werden: Korallen, so haben bereits unzählige Studien gezeigt, können in einer sehr sauren Umgebung nicht überleben. Und doch haben amerikanische Wissenschaftler im Westpazifik Korallenriffe entdeckt, die sich anscheinend sehr gut an den dort vorherrschenden niedrigen pH-Wert angepasst haben. Palmen, weißer Sandstrand, türkis funkelndes Wasser - der Südseestaat Palau sieht schon auf den ersten Blick verlockend aus. Doch der eigentliche Schatz der Inselgruppe liegt unter Wasser, schimmert in den unterschiedlichsten Farben und dürfte der Theorie zufolge eigentlich gar nicht existieren: "Es ist diese unglaubliche Vielfalt, die einen überwältigt. Diese fantastischen Farben und das vibrierende Leben dort. Sogar unter diesen sauren Bedingungen haben die Korallen jede Farbe des Regenbogens, von Taublenblau bis zum leuchtenden Rot oder Orange. Wir haben tatsächlich die ersten Korallenriffe gefunden, denen es anscheinend auch bei einem niedrigen pH-Wert im Wasser gut geht. Das ist wirklich ein Fund, der hoffen lässt." Das Meer als eine Art Zeitmaschine Hannah Barkeley von der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts, hat die Korallen von Palau genauestens untersucht. Schließlich herrschen hier Bedingungen, wie sie im Rest der Ozeane am Ende des Jahrhunderts erwartet werden. Das Meer, das die Inselgruppe umgibt, ist also eine Art Zeitmaschine, die einen Blick in die Zukunft ermöglicht: "Wir sehen gar keine Änderung in der Dichte des Korallenriffs. Im Gegenteil: Die größte Dichte sehen wir in den Gebieten mit dem niedrigsten pH-Wert. Wir sehen keine Änderung bei der Anzahl der Algen, oder bei der Vielfalt der Arten. Es sind einfach unglaublich vielfältige Ökosysteme." Doch dieses Ökosystem, so gibt die Meereswissenschaftlerin zu bedenken, hatte vermutlich sehr viel mehr Zeit sich an die saure Umgebung anzupassen, als es bei der von den Menschen verursachten Ozeanversauerung der Fall sein wird. "Der pH-Wert ist in Palau so niedrig, weil es sehr wenig Wasseraustausch gibt. Und das Wasser, das in den Lagunen steht, wird durch bestimmte Prozesse wie das Atmen oder die Kalzifizierung von Meereslebewesen immer saurer. Diese natürliche Versauerung gibt es wahrscheinlich schon Hunderte bis Tausende Jahre lang so. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Korallen sehr viel Zeit hatten, um sich an diese Bedingungen zu gewöhnen." Diese Anpassung scheint aber auch Grenzen zu haben. Die sogenannte Bioerosion, also der Angriff auf Korallen durch Würmer, Schwämme oder Algen, ist in den sauren Meeresgebieten in Palau sehr viel stärker als gewöhnlich. Sie führt zwar nicht dazu, dass die Dichte der Korallen abnimmt, aber sie verleiht ihnen teilweise das Aussehen eines Schweizer Käses und könnte ein Anzeichen sein, dass die Welt der Korallen auch in Palau nicht ganz in Ordnung ist. Insofern meint Hannah Barkley, sollte Palau Hoffnungsschimmer und Warnung zugleich sein. "Die Wahrheit ist, dass Palau ein ungewöhnlicher Fall ist. Wir glauben nicht, dass die meisten Korallenriffe unter der zukünftigen Ozenaversauerung überleben können. Aber weil wir nun diese eine Artengemeinschaft gefunden haben, versuchen wir mehr zu finden. Wir wollen diese pH-toleranten Gemeinschaften beschützen, weil sie die besten Chancen haben, in sauren Ozeanen zu überleben."
Von Tomma Schröder
Die Ozeane werdem durch die Aufnahme von Kohlendioxid in den nächsten Jahrzehnten immer saurer - eine Herausforderung für Korallen. Denn die können in einer sehr sauren Umgebung nicht überleben. Nun haben US-amerikanische Wissenschaftler im Westpazifik jedoch Korallenriffe entdeckt, die sich sehr gut an den niedrigen pH-Wert angepasst haben.
"2015-06-08T16:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:01.872000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/saure-ozeane-korallen-widerstandsfaehiger-als-gedacht-100.html
855
"Denkt auch an die Menschlichkeit"
Sterbebegleitung muss auch in Corona-Zeiten möglich sein, meint der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus (picture alliance / dpa / Felix Kästle) Die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland bedroht zunehmend Menschen in Alten- und Pflegeheimen. Deshalb setzen die Bundesländer mittlerweile auf ein Besuchsverbot, damit Angehörige das Virus nicht einschleppen. Trotzdem häufen sich die Todesfälle in solchen Einrichtungen, die Infektionen nicht nur unter Bewohnerinnen und Bewohnern, sondern auch beim Pflegepersonal steigen rasant. Pflegeheime hätten sich zu hochgefährlichen Orten für Pflegekräfte und alte Menschen entwickelt, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Familien sind in Sorge und wollen ihre Angehörigen aus Heimen holen. Und Vertreter der Altenpflege fordern eine bessere Ausstattung der Alten- und Pflegeheime im Kampf gegen das Coronavirus. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, sprach im Dlf-Interview von einer schwierigen Situation, da man momentan nicht einschätzen könne, wie die unterschiedlichen Einrichtungen betroffen seien. Er machte aber darauf aufmerksam, dass fast 14.000 stationären Pflegeeinrichtungen und damit der größte Teil in Deutschland derzeit nicht vom Coronavirus betroffen seien. Dies sei ein Ergebnis von gut durchdachten Schutzmaßnahmen. Besuchssperren in Heimen - "Viele Angehörige befürchten einen Schub in der Demenz"Für Bewohner von Pflegeheimen sei es bitter, wegen der Coronakrise keinen Besuch mehr zu bekommen, sagte Ulrike Kempchen vom BIVA-Pflegeschutzbund. Besuchsverbote seien rechtens, gefragt seien aber auch kreative Problemlösungen. Dass es in Pflegeheimen zu Infektionsketten kommen könne, sei nicht auszuschließen, sagte Westerfellhaus. Die jetzt verhängten strikten Besuchsverbote seien jedoch der richtige Weg, um die Menschen dort zu schützen. Für Menschen, die im Sterben lägen, müsse es jedoch möglich gemacht werden, dass sie von ihren Angehörigen in den letzten Stunden ihres Lebens begleitet werden könnten - ohne dabei jedoch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner zu gefährden. Senioren und das Coronavirus - "Wegsperren macht krank"Auch wenn das Coronavirus theoretisch jeden treffen kann, gelten ältere Menschen als besonders gefährdet. Die meisten Pflegeheime erlauben deswegen aktuell keine Besuche. Einige warnen vor den katastrophalen Folgen der Isolation. _________________________________ Lesen Sie hier das vollständige Interview. Dirk-Oliver Heckmann: Mit wieviel Sorge, mit wieviel Optimismus sehen Sie in die kommenden Tage? Andreas Westerfellhaus: Zunächst auch auf jeden Fall mit Optimismus. Wir sind unbestritten in einer schwierigen Situation, da wir nicht einschätzen können, wie die unterschiedlichen Bereiche von Corona betroffen sind, sowohl in den stationären Krankenhauseinrichtungen als auch der Langzeitpflege. Aber ich glaube, dass bei dem, was wir zu erwarten haben, auch der Optimismus mit dem Umgang dieser Erkrankung im Vordergrund stehen muss. Wir müssen sorgfältig sein, wir müssen vorsichtig sein, aber wir brauchen auch zum Leben die notwendige Portion Optimismus. Lungenkrankheit COVID-19 - Ansteckung, Gefährlichkeit und Schutz Wie gefährlich ist das Coronavirus? Wie kann man sich damit anstecken – und wie schützt man sich am besten? Was sollte man tun, wenn man glaubt, sich infiziert zu haben? Und wie steht es um Medikamente und Impfstoffe. Ein Überblick. Heckmann: Das ist schon klar. Der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sagt allerdings: Pflegeheime, um mal dabei zu bleiben, die hätten sich zu hoch gefährlichen Orten für Pflegekräfte und alte Menschen entwickelt. Was macht Sie optimistischer? Westerfellhaus: Eins muss man natürlich feststellen, das ist uns allen klar, dass dort gerade in den stationären Pflegeeinrichtungen Menschen leben mit Vorerkrankungen, Menschen, die schon pflegebedürftig sind - übrigens nicht nur alte Menschen, sondern auch junge Menschen -, und dass sie anfälliger sind, an einem solchen Virus zu erkranken, ist klar. Deswegen werden zahlreiche Vorkehrungen letztendlich getroffen. Ja, wir haben erkrankte Menschen, aber man muss auch sagen, dass der größte Teil, nämlich fast 14.000 stationäre Einrichtungen in Deutschland bislang nicht betroffen sind. Ich glaube, auch das ist ein Ergebnis von gut durchdachten Schutzmaßnahmen. Übertragungsketten können nicht ausgeschlossen werden Heckmann: Es soll ja alles unternommen werden, dass das Virus nicht in Pflegeheime und Krankenhäuser eindringt. Allerdings konnte das diese Fälle auch nicht verhindern: Wolfsburg, Würzburg, Köln-Rodenkirchen. Und es werden wahrscheinlich nicht die letzten sein. War das unvermeidlich? Westerfellhaus: Ich denke, in den individuellen Herausforderungen, weil Sie Wolfsburg ansprechen, entzieht sich meiner Kenntnis, was genau letztendlich im Detail dazu geführt hat. Aber noch mal: Wo Menschen sind, die Vorerkrankungen haben, wo andere Menschen tagtäglich hinein- und rausgehen, in der Pflege, im Bereich der Hauswirtschaftlichkeit und so weiter und so fort, da kommt es zu Kontakten Denn diese Menschen müssen dort, wo sie wohnen und leben, ja versorgt werden. Dass es da zu Übertragungsketten kommen konnte und kommen kann, ist nicht ausgeschlossen. Allerdings muss ich sagen, durch jetzt auch strikte Besuchsverbote sehe ich einen richtigen Weg, genau diese Menschen zu schützen. Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) Heckmann: Sie haben die Besuchsverbote angesprochen. Was bedeutet das denn für die Lage der zu Pflegenden? Was hören Sie denn so aus den Pflegeheimen? Westerfellhaus: Ja, es ist natürlich für die Menschen, für alle Beteiligten schwer, gerade auch für die betroffenen alten Menschen, denen man erklären muss, warum der liebe Angehörige, der sonst jeden Tag kam, nicht mehr kommen darf, oder auch dem Angehörigen dies zu erklären, und auch für diejenigen, die in der Pflege arbeiten, dieses zu erleben. Aber bei der Abwägung von Gütern ist es dringend notwendig, diese Menschen zu schützen, denn sie wohnen dort, sie leben dort und sie brauchen für diese Zeit, in der sie gefährdet sind, unsere ganze Unterstützung. Menschen im Sterbeprozess nicht alleine lassen Heckmann: Aber ist es nicht auch unmenschlich, die Menschen ohne Besuch zu lassen? Westerfellhaus: Das ist eine Frage von Abwägung von Gütern. Unmenschlich ist es, denke ich, auch, sie einer solchen Infektionskette auszusetzen. Ich mache ja deutlich Abstriche, dass ich sage - das haben wir in den Ausnahmefällen auch extra vorgesehen -, dass gerade in Sterbeprozessen es möglich sein muss, diese Menschen nicht alleine zu lassen, alles dafür zu tun, dass sie am Ende ihres Lebens dann auch durch ihre Liebsten, ihre Angehörigen begleitet werden können. Heckmann: Aber das ist derzeit nicht Realität, oder? Westerfellhaus: Das ist Realität. Diese Ausnahmemöglichkeiten gibt es. Ich will nicht beschwören, dass der eine oder andere das möglicherweise nicht ganz so in der Einrichtung umsetzt. Deswegen mahne ich immer, denkt auch an die Menschlichkeit, wenn es am Ende des Lebens darum geht, und wenn ich einem Angehörigen einen Schutzkittel anziehen muss, ihm die Handschuhe gebe, dass ich die Hand meines Vaters halten kann in den letzten Minuten seines Lebens, dann ist das etwas, wo ich glaube, was den Menschen ganz, ganz, ganz wichtig ist, die auch Angst davor haben, in einer solchen Situation alleine zu sein. Das ist eine Ausnahmesituation. Die ist geregelt, als Ausnahme definiert, und da fordere ich alle auf, auch diese Kreativität dann einzusetzen und zu nutzen, wie man, ohne andere Bewohnerinnen und Bewohner zu gefährden, letztendlich hier dieses unter Achtung der Menschenwürde möglich machen kann. Heckmann: Kommen wir zurück auf das Besuchsverbot in Seniorenheimen beispielsweise. Was bedeutet das denn für die Pflegenden auf der anderen Seite, die ja ohnehin schon immer am Limit arbeiten? Westerfellhaus: Zugegeben: Das bedeutet zunehmende Belastung. Man muss einfach daran denken, dass pflegende Angehörige sehr wohl einen Teil der Betreuung, einen Teil an Leistung dazu beigetragen haben, zu dem Pflegende möglicherweise nicht gekommen sind. Es ist zugegebenermaßen eine wahnsinnig schwierige Zeit, eine wahnsinnig schwierige zusätzliche Belastung nicht nur der Pflegenden selber, sondern auch der Assistenten, des Hauswirtschaftspersonals, des Hausmeisters und so weiter und so fort, die dort arbeiten. Aber eine andere Alternative zum Schutz der Menschen, die dort leben und dort wohnen - da gibt es aus der Sicht der Bundesregierung und auch aus meiner Sicht derzeit keine Alternative. Schutzkleidung: "Es gibt Engpässe in vielen Bereiche gibt" Heckmann: Der Norddeutsche Rundfunk, der Westdeutsche Rundfunk und die Süddeutsche Zeitung, die haben mal versucht herauszukriegen, wie viele vom medizinischen Personal mittlerweile schon vom Virus infiziert sind, und sie berichten, dass das Robert-Koch-Institut bereits mindestens 2.300 infizierte Ärzte und Pfleger meldet. Wahrscheinlich seien es aber deutlich mehr. Sind wir dabei, medizinisches Personal in Lebensgefahr zu bringen, weil Schutzanzüge und Masken beispielsweise fehlen? Westerfellhaus: Unbestritten ist das, was Sie an Schutzanzügen und den fehlenden Schutzanzügen oder nicht genügend vorhandenen Schutzanzügen ansprechen, auch bei dem Mund- und Nasenschutz ansprechen, etwas, was sich dringend ändern muss und woran wir auch mit Hochdruck arbeiten, die Beschaffung, die Produktion zu verändern. Aber auch da gilt: Diese Pandemie ist etwas, was wir vorher in dieser Form niemals üben konnten. Hier sind Dinge in der Entwicklung auf uns zugekommen, wo eine ganze Welt nach Schutzanzügen, Schutzmaterialien sucht. Nun muss man auch konstatieren, dass es Engpässe in vielen Bereichen gibt. Aber ich glaube, dass das, was wir im Rahmen der Bundesregierung und auch jetzt zentral im Bundesministerium für Gesundheit auf den Weg gebracht haben, genau diese Engpässe schnellstmöglich zu beheben – da sind wir auf dem richtigen Weg. Ja, das eilt ohne Wenn und Aber. Heckmann: Aber hätte man da nicht vorsorgen müssen für so einen Fall? Westerfellhaus: Na ja. Wissen Sie, aus meinem Kenntnisstand war es bislang gar nicht transparent, wieviel Vorrat wird übrigens in den einzelnen Einrichtungen überhaupt vorgehalten. Dass das eine solche Dynamik entwickelt, hat sich im Prozess gezeigt. Niemand von uns hat geglaubt, dass es auf dem Weltmarkt so schwierig ist, den Nachschub zu besorgen, der übrigens in anderen internationalen Staaten mit Maschinen in Deutschland produziert wird und an die wir jetzt nur schwierig herankommen. Deswegen eilt es, die Produktion hochzufahren, und ich kann Ihnen versprechen und versichern, dass wir das mit Hochdruck tun, um genau diesen Engpass sicherzustellen. Heckmann: Kann die Situation so bleiben, wie sie vor der Krise gewesen ist, oder muss man da nicht umsteuern, solche Dinge in Europa, in Deutschland zu produzieren? Westerfellhaus: Ich glaube, wir sind schon in vielen Bereichen dabei, und es ist auch erkannt, dass hieraus natürlich am Ende der Krise Lehren gezogen werden. Lassen Sie mich auf eines hinweisen: Wir bekommen im Bundesministerium für Gesundheit und auch in meiner Funktion so viele gute durchdachte und innovative Lösungsangebote, was können wir heute tun, was können wir morgen tun und was danach. Wir haben uns entschieden, ab Montag eine Seite freizuschalten, www.zusammengegencorona.de um genau diese Dinge zu bündeln, um denjenigen Hilfreichungen zu geben, die tagtäglich in dieser Situation nach neuen Lösungen suchen, aber letztendlich auch Veränderungen für die Zukunft einlaufen zu lassen. Heckmann: Zusammengegencorona.de, sagen Sie. Wann wird die freigeschaltet? Westerfellhaus: Ich denke, spätestens am Montag. Ausländische Pflegekräfte sollen wieder einreisen dürfen Heckmann: Das betrifft dann ja auch die Pflege zuhause. Über zwei Millionen Menschen werden zuhause betreut, vielfach von Familienmitgliedern, aber natürlich auch von Pflegern. Der Verband Häusliche Betreuung und Pflege sagt, nach Ostern würden 100.000 bis 200.000 Menschen, zu Pflegende alleine dastehen, weil viele Kräfte aus Osteuropa in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Was rollt da auf uns zu, wenn die Krankenhäuser voll sind und die Pflegeheime niemanden mehr aufnehmen? Westerfellhaus: Wir sind hier zusammen in ganz verschiedenen Lösungsvorstellungen unterwegs, wie wir auch andere Kapazitäten in der Versorgungsstruktur, zum Beispiel Rehabilitationseinrichtungen, mit in den Prozess einziehen können. Aber lassen Sie mich ansprechen, was die Rückkehr von ausländischen Pflegefachkräften angeht. Wir haben in einzelnen Gesprächen mit den Ländern geregelt – ich spreche gerade über Polen -, dass alle die, die einen Arbeitsvertrag in Deutschland haben, natürlich auch zurückkehren können und dass die auch durchgelassen werden. Dafür gibt es extra Formulare, die ihnen diesen Grenzverkehr möglich machen. Das wird zusätzlich gerade mit Rumänien und Tschechien ausgehandelt. Das passiert leider Gottes mit allen einzelnen Staates. Aber bei allem muss man auch sagen: Man darf die Rechnung dabei auch nicht ohne die Beteiligten machen. Wir erfahren von vielen Pflegekräften, die zwar zurückkommen können, die aber aus Angst zuhause bleiben und sagen, ich bleibe jetzt bei meiner Familie, wer weiß, was mich dort letztendlich erwartet. Ja, wir beobachten diese Situation sehr, sehr, sehr genau und müssen dann gucken, wie wir auch im häuslichen Bereich Entlastung schaffen können. Aber das muss immer individuell vor Ort in den Ländern, in den Kommunen entschieden werden, weil wir auch sehen, dass die Belastungssituation regional sehr, sehr, sehr, sehr unterschiedlich ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen seien dringend notwendig, um die Menschen in den Einrichtungen zu schützen, sagte der Pflegebeauftragter der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, im Dlf. Zugleich sprach er sich dafür aus, Sterbenden die Begleitung durch ihre Angehörigen zu ermöglichen.
"2020-04-03T07:15:00+02:00"
"2020-04-04T09:13:48.145000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/besuchsverbote-in-pflegeheimen-wegen-coronavirus-denkt-auch-100.html
856
Fillon stemmt sich gegen zunehmenden Druck
Der Rückhalt im eigenen Lager bröckelt: François Fillon, konservativer Präsidentschaftskandidat. (dpa / picture-alliance / Thomas Padilla / MAXPPP) "Mes amis, vous avez devant vous un combattant." "Meine Freunde, ihr habt einen Kämpfer vor euch", ruft François Fillon der Menge zu und die jubelt zurück. Für den konservativen Präsidentschaftskandidaten geht der Wahlkampf weiter. Während in Paris seine Wohnung durchsucht wird, wirbt er am Abend im südfranzösischen Nîmes um Stimmen. "Ich habe nicht die Absicht, klein beizugeben und ich spreche nicht nur für mich, sondern auch für sie, denn ihnen gehört die Demokratie!" In Paris stellt sich derweil die Frage, für wen François Fillon noch spricht. Denn seit seiner Ankündigung, an seiner Kandidatur festhalten zu wollen, obwohl ihm ein Ermittlungsverfahren droht, bröckelt der Rückhalt im eigenen Lager. Nun hat auch noch sein Sprecher Thierry Solère seinen Rücktritt erklärt. Inzwischen haben Fillon über 60 Abgeordnete, Bürgermeister, Angestellte der Wahlkampfzentrale ihre Unterstützung aufgekündigt. Aus dem Lager von Bruno Le Maire, aber auch von Nicolas Sarkozy und am Ende vor allem: aus dem Lager von Alain Juppé. Jenem Mann, gegen den sich François Fillon in den republikanischen Vorwahlen durchsetzen konnte. "Als Bürgermeister sage ich den Leuten, dass man die Institutionen achten muss. Wie soll man die Autorität des Staates wiederherstellen, wenn man die Justiz dieses Landes kritisiert?", fragt sich etwa der republikanische Abgeordnete Franck Riester. Er hat in den sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, Unterschriften für Alain Juppé zu sammeln – jene 500 Unterschriften von Paten, die ein jeder bis zum 17. März benötigt, um kandidieren zu können. Und er ist nicht der einzige. Und Alain Juppé? Der stets beteuert hatte, nicht zur Verfügung zu stehen? Der würde es machen, glaubt seine ehemalige Sprecherin Fabienne Keller. Die Entscheidung aber müsse Fillon treffen und sie müsse von einer Mehrheit getragen werden. Das ist auch aus Juppés Umfeld zu hören. Die Zeitung "Le Parisien" berichtet unter Berufung auf einen Juppé-Vertrauten, dass dem Bürgermeister von Bordeaux übel geworden sei, als er gehört habe, wie François Fillon die Unabhängigkeit der französischen Justiz angezweifelt hat. Er würde sich also nicht drücken, heißt es. "Die Basis hält zu Fillon" Doch auch im Lager François Fillons sollen die Reihen wieder geschlossen werden, mit einer Großveranstaltung am kommenden Sonntag. Zehntausende sollen aus ganz Frankreich zusammengetrommelt werden, sagt die Abgeordnete Valérie Boyer: "Wir möchten uns würdevoll versammeln, um François Fillon und sein Programm zu unterstützen. Die Basis hält zu ihm. Bei der Wahl geht es um das Aufeinandertreffen eines Mannes mit den Franzosen." Doch es wächst die Sorge, dass diese Veranstaltung zu einer Veranstaltung gegen die Institutionen, gegen Polizei und Justiz werden könnte. Der amtierende Präsident François Hollande hat sich bereits entsprechend geäußert. Valérie Boyer kontert: "Hollande hat nichts unternommen, als die Vorstädte brannten oder gegen die Polizei demonstriert wurde. Es kann nicht sein, dass man am Ende die Wahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen hat." Doch im Moment sieht es ohnehin danach aus, denn glaubt man den aktuellen Umfragen, würde François Fillon nicht in die Stichwahl einziehen. 7 von 10 Franzosen finden es falsch, dass er weitermachen will.
Von Anne Raith
Sieben von zehn Franzosen finden es einer aktuellen Umfrage nach falsch, dass der konservative Präsidentschaftskandidat François Fillon trotz einer Scheinbeschäftigungsaffäre weitermachen will. Zahlreiche Parteifreunde haben sich bereits von ihm abgewandt. Der frühere Premierminister Alain Juppé könnte wohl einspringen.
"2017-03-03T12:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:17:34.204000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/franzoesische-praesidentschaftskandidatur-fillon-stemmt-100.html
857
"Sie kamen als Idealisten"
Der Publizist Günther Bernd Ginzel (picture alliance / dpa - Henning Kaiser) Rüdiger Achenbach: Herr Ginzel, wenn nach 1945 jüdische Rückkehrer nach Deutschland kamen, gingen sie vorzugsweise in die DDR oder zunächst noch in die sowjetische Besatzungszone. Wie ist das zu erklären? Günther Ginzel: Ich denke mir, dass ist damit zu erklären, dass es vor allen Dingen politisch Motivierte waren, die zurückkamen, die sich als im Exil befindlich empfanden – und zwar nicht nur weil sie als Juden verfolgt wurden, sondern weil sie eben auch als Antifaschisten Gegner des Dritten Reiches waren – und in der sowjetisch besetzten Zone nunmehr die deutsche Alternative zum deutschen Nationalsozialismus gesehen haben. Mit anderen Worten: sie sind in die SBZ und spätere DDR gegangen, was oftmals auch mit vielen Problemen verbunden war, weil sie glaubten, dort herrschen die Antifaschisten, dort herrschen die ähnlich wie sie gelitten haben, die Gegner waren, die jetzt ein anderes neues Deutschland aufbauen, nämlich das Deutschland, das die Antwort auf das Dritte Reich bietet. Achenbach: Also viele sahen in der DDR so etwas wie eine deutsche Antwort auf Auschwitz. Ginzel: Das kann man so verkürzt sagen. Wir müssen ja sehen. Es kamen verschiedene Rückkehrer-Ströme. Das waren zum einen diejenigen, die in der Illegalität im deutschen Herrschaftsbereich des Dritten Reiches geblieben waren. Das waren in Berlin noch immerhin drei-, vier-, fünftausend jüdische Menschen, die da versteckt waren - etwa auf dem dann Ost-Berliner jüdischen Friedhof Weißensee. Dann jene, die als Kommunisten in die Sowjetunion gegangen sind, dort oftmals verfolgt waren. Nicht wenige waren im Gulag. Trotzdem sind sie zurückgekehrt. Für sie symbolisierte Moskau und Russland sozusagen die Speerspitze des Kampfes gegen das Dritte Reich. Vor diesem Hintergrund, vor der Faszination eben auch der Treue zu den Idealen – um es mal pathetisch auszudrücken – der Arbeiterbewegung, weit über die Kommunisten hinaus, ist sozusagen das links-intellektuelle deutsch-jüdische Potenzial – so es zurückgekehrt ist – vor allen Dingen dorthin gegangen, wo sie das Gefühl hatten: Da sind wir zu Hause. Achenbach: Das heißt also, sie wollten ein anderes Deutschland mit aufbauen, ein Deutschland mit einer anderen Gesellschaftsordnung. Obwohl man ja ab 1948 dann auch die Chance gehabt hätte, in Israel mit aufzubauen. Ginzel: Das ist schon vollkommen richtig – dieser Hinweis. Aber ich kenne nicht wenige, die auch in Israel nie Fuß gefasst haben. Es sind diejenigen, die in den Westen, also in die Bundesrepublik gekommen sind, wie der wirklich wundervolle Rabbiner Raphael Geis, der dann in Düsseldorf war, der hier eine zentrale Figur für ein neues jüdisch-christliches Verhältnis wurde. Da sind andere, wie mein verstorbener Freund Helmut Eschwege, einer der wichtigsten jüdischen DDR-Historiker. Der saß in Palästina im Exil. Das war nicht sein Land, es war nicht die Wüste, es war nicht seine Sprache. Es hat ihm alles nicht gefallen. Das erste Schiff, das zurück fuhr, war sein Schiff. Achenbach: Es war nicht das kulturelle Umfeld, was er gewohnt war - Mitteleuropa. Der kulturelle Beitrag der Re-Immigranten Ginzel: Ja. Sie waren nicht die Mehrheit. Sie waren eine Minderheit, aber eine enorm qualifizierte Minderheit, die für die DDR von ganz entscheidender Bedeutung in den ersten 10, 20 Jahren waren, weil es natürlich außerordentlich viele Wissenschaftler, viele Kulturschaffende waren. Das Kulturleben, die Bühnen in der DDR waren geprägt von diesen Re-Immigranten. Auch die nicht-jüdischen wie Bertold Brecht - sie kamen als Idealisten. Das war ein Riesenproblem auch für die SED später. Dieses Potenzial war nicht gezwungen dort zu leben. Sie sind nicht von der SED überrollt und sozusagen gefangen worden, so nach dem Motto friss oder stirb. Sondern sie hatten sich frei entschieden und haben von dorther zu einem beträchtlichen Teil sich auch ein Stückchen innerer Freiheit behalten – bei aller unverbrüchlichen Treue tatsächlich zur DDR, die manchmal auch in Blindheit ausartete. Achenbach: Kann man denn auch sagen, dass jetzt wieder so etwas wie ein jüdisches Leben dort entstanden ist in der DDR? Also mal abgesehen von dem Aufbauwillen für eine neue Gesellschaftsordnung. Ginzel: Man muss sehen, dass die überwiegende Mehrheit derer, von denen wir jetzt gerade gesprochen haben, von den Re-Immigranten, nicht religiös gebunden war. Das Jüdische war für sie irrelevant. Die meisten waren Atheisten, zumindest standen sie der Religion distanziert gegenüber. Nun muss man ja sehen, die Sowjetunion mit ihren Basalen-Staaten war der größte Unterstützer für die Gründung des jüdischen Staates. Das heißt, man hatte die Hoffnung gerade weil es diese sozialrevolutionären Bewegungen gab. Ob die nun jetzt religiös gespeist waren wie bei Martin Buber, dessen religiöser Sozialismus durchaus kompatibel war mit kommunistischen Ansätzen, nämlich mit einer Gesellschaft der Gleichen unter Gleichen. Als der Staat Israel gegründet wurde, war der größte Arbeitgeber die Gewerkschaft. Alle schweren Industrieunternehmen gehörten der Gewerkschaft. Das war sozusagen einer der großen Träume. Die Sowjetunion hatte die Hoffnung gehabt, dass der Staat Israel sozusagen ihr Vorposten in der arabischen Welt wird. Als die dann registrierten – man hat Israel mit Waffen unterstützt, ganz anders als die USA, die dem Experiment jüdischer Staat gegenüber skeptisch standen – als sie dann merkten, das wird ein unabhängiger Staat, der – wenn überhaupt – eher der freiheitlich westlichen Demokratie zugeneigt ist und nicht der kommunistischen Diktatur, veränderte es sich. Es kam nach diesen anfänglichen Unterstützungen zu einem heftigen anti-zionistischen Kampagnen-Wettbewerb in den Ostblock-Staaten. Es gab Schau-Prozesse, es gab öffentliche Verfolgungen. Achenbach: In diesem Zusammenhang kann man ja dann auch 1952 den Slansky-Prozess erwähnen. Rudolf Slansky war ein Jude, ehemaliger Generalsekretär der kommunistischen Partei. Er wurde hingerichtet, weil man ihn eben auch beschuldigte ein Spion für den Westen zu sein. Mit ihm wurden elf andere Juden verhaftet und als Spione oder Verräter verurteilt. Von Prag aus ging diese Verhaftungs- und Verfolgungswelle über den gesamten Osten. "Sie wurden plötzlich auch wieder zu Sündenböcken" Ginzel: Ja. Es gab ein vergleichbares Prozess-Ritual in Ungarn, in Rumänien. In Polen war die Verfolgung außerordentlich. Sie müssen sich vorstellen, dass jetzt in den Ostblock-Staaten – und dazu gehört ja jetzt auch die DDR – die jüdisches Klientel, um es mal so zu sagen, die jetzt nach der Befreiung, zum Teil auch gefreite KZ-ler oder Re-Immigranten, die waren konform mit dem dortigen System und mussten jetzt erleben, dass sie von den kommunistischen Parteien und Regierenden mit einer ähnlichen Argumentation verfolgt wurden, wie etwas vorher vom katholischen Faschismus in Ungarn und Polen oder aber auch von den Nazis. Das heißt, sie wurden plötzlich auch wieder zu Sündenböcken. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es generell große Zweifel an der Reformierbarkeit des Kommunismus in den Ostblockstaaten. Es gab Freiheitsbestrebungen, es gab die Überlegungen, natürlich ist Sozialismus wunderbar, aber wir wollen einen demokratischen, einen freiheitlichen Sozialismus und nicht einen, der unter der Diktatur von Moskau, die jedes Denken, jedes Empfinden erstickt, steht. Von daher brauchte man sozusagen diesen Sündenbock, um stellverstretend die Unterdrückung der Vasallenstaaten durchzuexerzieren. Die DDR war der einzige Staat, in dem es nicht zu Todesurteilen kam. Trotzdem wurden auch führende jüdische Funktionäre entlassen. Es hat die fürchterlich gequält und enttäuscht und in Verzweiflung getrieben. Aber es gab einen großen Unterschied zwischen der DDR und den übrigen. Es gab eben die da noch offene, mehr oder weniger offene Grenze zur BRD, zur Bundesrepublik. In dieser Situation hat der damalige Rabbiner, der damals noch in Berlin war, später in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nathan Peter Levinson, der in Amerika überlebte, der als amerikanischer Offizier und Armee-Rabbiner dann wieder nach Deutschland kam, der dann hier später geblieben ist, der hat dann gesagt: Hier muss etwas geschehen. Die jüdischen Menschen sind extrem gefährdet. Und der hat über den RIAS Berlin die jüdische Leitungsgremien aufgefordert, die Chance zu nutzen und zu flüchten. Achenbach: Was ja dann wohl auch überwiegend geschehen ist. Ginzel: Es ist praktisch die gesamte Leitungselite der jüdischen Gemeinden aus der DDR in den Westen geflohen. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt. Die einen sprechen von 500, andere sprechen von mehreren tausend. Jedenfalls – es hat einen regelrechten Exodus gegeben. Achenbach: Auch bekannte Leute wie Ernst Bloch, der Philosoph. Ginzel: Ernst Bloch, Hans Mayer. Aber Herr Achenbach, allein die Tatsache, dass so viele flüchten mussten, weist ja noch auf ein anderes Phänomen hin. Hier haben wir natürlich genau diejenigen, die das Gefühl hatten, hier bauen wir etwas Neues auf. Wir kommen nicht irgendwie zurück und haben ein gutes Leben, sondern nach dieser schrecklichen Nazi-Zeit bauen wir gemeinsam mit allen Gutwilligen und richtig Gesinnten eine neue Gesellschaft auf. Für die war das alles eine riesige Enttäuschung. Die jüdischen Gemeinden sind ganz klein geworden. Sie waren auch vorher schon nicht groß. Man schätzt die Zahl der Gemeindemitglieder dann in den 1980er-Jahren auf vielleicht 500 bis 800 Menschen, mehr nicht. Achenbach: Für das gesamte Gebiet der DDR? Ginzel: Für das gesamte Gebiet. Also Menschen, die auch im religiösen Kontext sich einer jüdischen Gemeinde angeschlossen haben. Und man schätzt die Zahl derer, die sozusagen einen jüdischen Hintergrund hatten, ohne dass sie selbst sich zum Judentum bekannten, auf etwa 5.000 – also eine wirklich verschwindende Minderheit.
Rüdiger Achenbach im Gespräch mit Günther Bernd Ginzel
Viele der Juden, die nach dem Holocaust aus dem Exil wieder nach Deutschland zurückkehrten, entschieden sich bewusst für die DDR. "Weil sie glaubten, dort herrschen die Antifaschisten", sagte der Publizist Günther Bernd Ginzel im DLF. Bei diesen Re-Immigranten habe es sich um eine enorm qualifizierte Minderheit gehandelt, die nicht religiös gebunden war.
"2014-12-01T09:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:16:25.665000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/publizist-guenther-bernd-ginzel-sie-kamen-als-idealisten-100.html
858
Babys nach Maß, auch in Deutschland?
Mit der Genschere CRISPR kann das Erbgut in kleinsten Schritten gezielt verändert werden (imago / Keith Chambers) Einzig die FDP-Fraktion im Bundestag hat schon einmal vorgelegt. Mit einem Antrag, der darauf abzielt, bei der Genschere CRISPR die Forschung in Deutschland nicht durch Überregulierung zu behindern. Sprich: Statt ewiger ethischer Bedenkenträgerei sollten die Chancen und Möglichkeiten der neuen Technologie mehr in den Vordergrund gerückt werden, so die Liberalen. Schließlich gehe es auch um den Forschungsstandort Deutschland. "Ich glaube wirklich, dass wir mehr Potential damit abwürgen. Innovation lässt sich nicht unterdrücken. Und Innovationen sind Landesgrenzen auch egal." ...erklärt der Bundestagsabgeordnete Mario Brandenburg. Deutschland habe schon bei der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz international den Anschluss verpasst, findet er, das Gleiche dürfe jetzt nicht auch mit CRISPR passieren. "Und bei dem Anderen geht es ja im Prinzip im Zweifelsfall um Heilung, oder darum, wer die Konditionen für diese Heilung diktiert. Also wer diese Medikamente letztendlich patentiert, herausgibt." Der 35-jährige Informatiker ist ein Newcomer im deutschen Bundestag, ein Junge vom Land, wie er sagt, der an die Zukunft glaubt. "Mein Name ist Mario und ich leide an einer heimtückischen Kombination: Neugierde gemischt mit Hyperaktivität!", beschreibt er sich selbst auf seiner Abgeordnetenwebsite. Auf seine Initiative hin hat die FDP einen Antrag in den Bundestag eingebracht mit dem Titel: "Technologischen Fortschritt nicht aufhalten - Neue Verfahren in der Gentherapie einsetzen". Übrige Parteien sind skeptisch Nach einer kurzen Debatte Ende November wurde er an den zuständigen Ausschuss verwiesen. Dass der Antrag viel Unterstützung von den andern Parteien bekommt, ist unwahrscheinlich. Eingriffe in die menschliche Keimbahn sind in Deutschland streng verboten. "Für uns ist klar, dass der Schutz des Menschen an erster Stelle steht. Das heißt wir wollen keine Designerbabys. Wir wollen nicht, dass Menschen nach irgendwelchen Idealwünschen auf die Welt kommen, sondern jeder Mensch ist einzigartig nach unserem christlichen Menschenbild, und so soll das auch bleiben." Wehrte Albert Rupprecht, forschungspolitischer Sprecher der CDU/CSU kürzlich im ZDF ab. Und auch sein SPD-Kollege René Röspel konstatiert im Bundestag: "Was unsere Nation am dringendsten braucht, sind jetzt glaube ich nicht Designerbabys, die so zum Glück auch noch gar nicht möglich sind, aber wir wollen Krankheiten heilen, und zwar mit Methoden, die wir ethisch und gesellschaftlich verantworten können." Gemeint sind sogenannte somatische Gen-Therapien, das sind rein therapeutische Anwendungen der Genschere in der Krebstherapie oder bei bestimmten Erbkrankheiten wie Chorea Huntington. Wenn Wissenschaftler hier CRISPR einsetzen, könnten sie unter Umständen einem erkrankten Menschen helfen. Die Veränderungen bleiben aber auf diesen Menschen beschränkt, werden also nicht über die Keimbahn an die Nachkommen weitergegeben. Anders ist es bei Genmanipulationen bei Embryonen. Diese sind vererbbar - ein Eingriff ist hier in seinen Folgen bislang kaum zu kalkulieren. Naiver Fortschrittsglaube? Die Grüne Kirsten Kappert-Gonther, selbst Medizinerin und gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, bezeichnet deshalb den Antrag der FDP als voreilig und auf unreflektierte Art fortschrittsgläubig. "Die ganze Frage der Keimbahneingriffe befindet sich in einem solchen frühen Stadium, wo wir überhaupt nicht wissen, welche Risiken und Nebenwirkungen damit verbunden sind. Und das jetzt ungelenkt freizugeben, nur weil es möglichen Fortschritt verspricht, das finde ich äußerst naiv." Die FDP hat ihren Antrag am 23. November eingereicht, nur wenige Tage, bevor die Geburt der chinesischen CRISPR-Zwillinge weltweit Furore machte. Doch der Fall in China ist für die Liberalen nur ein negativer Ausrutscher– und kein Grund, ihre Forderung nach Deregulierung zu überdenken. Im Gegenteil, der Fall belegt in ihren Augen nur die Dringlichkeit einer politischen Debatte, die bislang noch nicht stattgefunden hat. Mario Brandenburg: "Ich persönlich kann nicht sagen, dass wir das niemals machen werden oder sollten. Das will ich mir genauso nicht anmaßen, die Hoffnungen, die Chancen derer, die darauf hoffen, zu zerstören, wie im umgekehrten Fall zu sagen, wir machen es jetzt gleich, weil alles ist super." Kritik vom Deutschen Ethikrat Klar ist: Die Politik droht, von der Wirklichkeit überholt zu werden. Technisch ist die Wissenschaft in der Lage, die menschliche DNA umzuschreiben - dank der Erfindung der CRISPR/Cas-Technologie vor rund sieben Jahren. Doch die Wissenschaftswelt war sich international einig, dass der Einsatz der Genschere am Embryo noch viel zu risikobehaftet ist. Auch die Medizinethikerin Alena Buyx, Sprecherin der zuständigen Arbeitsgruppe im Deutschen Ethikrat, kritisiert das Vorgehen des chinesischen Forschers daher scharf. "Also das war in verschiedener Hinsicht ausnehmend unethisch, und da würde ich denken, zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürfen solche Versuche an menschlichen Embryonen mit dem Ziel, genveränderte geborene Menschen zu zeugen, nicht stattfinden." Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht stattfinden – oder grundsätzlich nicht stattfinden? Nach dem 30 Jahre alten Embryonenschutzgesetz in Deutschland werden Ärzte, die Eingriffe in die menschliche Keimbahn vornehmen, mit Gefängnis bestraft. Ebenso, wenn sie überzählige Embryonen aus der künstlichen Befruchtung für die Grundlagenforschung nutzen. Problem des "Schwarzfahrens" Die Forschung selbst ist aber eigentlich nicht verboten – etwa an importierten Embryonen. Für den Rechtsphilosophen Reinhard Merkel, ebenfalls Mitglied des Ethikrates, liegt darin ein wissenschaftspolitisches Dilemma. "Wenn wir uns an der Grundlagenforschung nicht beteiligen, dann müssen wir uns mit der Frage konfrontieren lassen: Wollen wir denn dann die Anwendung der etwa erzielten Ergebnisse in Deutschland auch blockieren? Das wäre hoch unvernünftig. Und damit haben wir ein unerledigtes moralisches Problem. Das Problem des moralischen Free-Ridings - Schwarzfahrens, auf den Leistungen, die anderswo erbracht werden, und die wir hier für verwerflich halten." So Merkel im ZDF. Der Ethikrat sieht durchaus neuen Regulierungsbedarf der Politik – und will noch in diesem Frühjahr eine Stellungnahme veröffentlichen zu der Frage ob die Forschung auf dem Gebiet der Keimbahn liberalisiert werden müsste. Noch gibt es keine abschließende Position im Gremium. Alena Buyx stellt für sich persönlich fest: "Aus meiner Sicht gibt es keine fundamentalen Einwände gegen diese Art von Keimbahn-Eingriffen. Allerdings muss sehr genau darüber nachgedacht werden, welche dieser Einsatzgebiete hochrangig genug sind. Natürlich dürfte es keine andere Möglichkeit geben, die Erkrankung zu vermeiden oder zu heilen, und es müsste sichergestellt werden, dass es ein vernünftiges Nutzen-Risiko-Verhältnis gibt. Gegenwärtig ist das in keinem Szenario der Fall." Notwendige politische Debatte CRISPR könnte die Dinge schneller verändern, als vielen Politikern lieb ist. Mit dem Thema Gentechnik und Designerbabys lässt sich bei den Wählern allerdings kein Blumentopf gewinnen – das wissen die Parteien. Die Grüne Kappert-Gonther glaubt dennoch, dass das Embryonenschutzgesetz überarbeitet werden muss. "Diese Forschung im Graubereich, das halte ich für die Wissenschaft für nicht glücklich. Es ist ja notwendig, dass Forscherinnen und Forscher einfach wissen, in welchem Regelwerk sie agieren und da ist die Politik in der Verantwortung, Klarheit zu schaffen." Anders als bei der Anwendung der Genschere in der Krebstherapie stehe bei Eingriffen in die Keimbahn allerdings der Beweis noch aus, dass sie die medizinischen Heilsversprechen bringen, die behauptet werden. Ob es je tatsächlich zum genetisch optimierten Menschen kommt? Kappert-Gonther bezweifelt das. Bislang seien die unerwünschten Nebeneffekte solcher Eingriffe so groß, dass sie kaum zu bewältigen seien. "Und ich wünsche es mir auch nicht. Weil ich meine, dass es uns allen gut tut, als Menschen auch die Schönheit anzuerkennen dessen, wer wir sind, mit unseren Stärken und unseren Schwächen. Und dazu gehört auch die menschliche Unvollkommenheit. Und dass wir das mal irgendwann überwinden, also ich zumindest finde das eher eine Dystopie als eine positive Utopie."
Von Christiane Habermalz
Die Geburt genmanipulierter Zwillinge in China hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Eingriffe in die menschliche Keimbahn gelten vielen als Tabubruch, in Deutschland sind sie verboten. Die FDP hingegen möchte deregulieren. Doch eine entsprechende politische Debatte lässt auf sich warten.
"2019-01-24T19:15:00+01:00"
"2020-01-26T22:34:51.554000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/genschere-crispr-cas-babys-nach-mass-auch-in-deutschland-100.html
859
75 Jahre nach Auschwitz: Verblasst die Erinnerung?
Am 27.1.1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die in Auschwitz Inhaftierten (picture alliance/Ria Novosti/Sputnik/dpa) Die letzten lebenden Zeitzeugen des Holocausts waren bei der Befreiung noch Jugendliche und sind heute hochbetagt. Wird die Erinnerung verblassen, wenn auch sie kein Zeugnis mehr ablegen können? Sebastian Engelbrecht, langjähriger Deutschlandfunk-Israel-Korrespondent, hat keine Sorgen: "Es hat noch nie so viele gesicherte Zeitzeugenberichte gegeben wie heute", sagt er. Er hält die Erinnerungskultur rund um den Holocaust für sinnvoll, allerdings hat er den Eindruck: "Dieses Gedenken haben vor allem wir als Nachfahren der Täter quasi als Dauertherapie nötig, um nicht zurückzufallen in alte Schemata des Hasses." "Hintern hoch!" Das ist für ARD-Rom-Korrespondent Jörg Seissenberg die Botschaft für alle Salvini-Gegner nach der Regionalwahl in der Emilia Romagna. Denn besonders die hohe Wahlbeteiligung habe für die Wahlniederlage der rechten Lega gesorgt. Allerdings könne man die Verhältnisse in der traditionell linken Emilia Romagna nicht auf ganz Italien übertragen, wo es deutlich besser für Salvini aussehe.
Von Philipp May
75 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz sind die letzten Zeitzeugen hochbetagt. Wie ändert sich dadurch die Erinnerung an den Holocaust? Außerdem: Salvinis Schlappe bei den Regionalwahlen in Italien.
"2020-01-27T17:00:00+01:00"
"2020-02-12T14:49:20.148000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-75-jahre-nach-auschwitz-verblasst-die-erinnerung-100.html
860
Duisburg, der Fall Amri und die Frage nach Videoüberwachung
Eine temporäre Videoanlage überwacht den Weihnachtsmarkt in Frankfurt am Main (Hessen). (picture alliance / Arne Dedert / dpa) Kurz vor Weihnachten geht es für viele Sicherheitsbeamten in Deutschland alles andere als ruhig und besinnlich zu: Polizisten sind im Dauereinsatz, bewachen Weihnachtsmärkte und andere Orte, die im Fokus von Anschlagsplänen stehen könnten. Ermittler fahnden landesweit nach dem Tatverdächtigen von Berlin, Anis Amri, oder arbeiten daran, weitere Attentate zu verhindern. Im Fall von Duisburg offenbar erfolgreich. In der Nacht auf Freitag nahmen in der niederrheinischen Großstadt Spezialeinheiten zwei Männer fest. Die beiden 28 und 31 Jahre alten, im Kosovo geborenen Brüder stünden im Verdacht, einen Angriff auf das "Centro", ein Einkaufszentrum im benachbarten Oberhausen, vorbereitet zu haben. Es gebe aber "keinen Zusammenhang mit dem Fall Amri außer dem terroristischen Hintergrund", betont die Polizei wenig später. Es werde "mit Hochdruck" ermittelt, wie weit die Vorbereitungen fortgeschritten und ob noch weitere Verdächtige beteiligt gewesen seien. Am Vorabend hatte die Polizei ihre Präsenz in dem Einkaufszentrum mit rund 250 Geschäften und dem angrenzenden Weihnachtsmarkt deutlich erhöht. Auf Twitter nahmen die Beamten Bezug auf den Anschlag am Breitscheidplatz: Diskussion um Videoüberwachung Unterdessen dauert die Debatte über Hintergründe und Konsequenzen des Berliner Attentats an. Ein zentrales Thema hierbei: die Frage nach einer Ausweitung der Videoüberwachung. Dazu sagte die Linken-Abgeordnete Martin im Deutschlandfunk, "keine Videoüberwachung hätte den Anschlag verhindert". Der Berliner SPD-Abgeordnete und Innenexperte Tom Schreiber dagegen befürwortet eine Ausweitung, zumindest für die Bundeshauptstadt. Im Koalitionsvertrag habe man verabredet, die Sicherheit in Berlin zu erhöhen, und für ihn gehöre dazu mehr Videoüberwachung, sagte Schreiber verschiedenen Zeitungen. Der Berliner Senat sprach sich bislang dagegen aus. Und auch über die Grenzen Berlins hinaus wird das Thema innerhalb der SPD diskutiert, wie dieser Dialog zwischen der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Eva Högl und dem Neu-Sozialdemokraten Christopher Lauer zeigt: Eva Högl und Christopher Lauer, beide SPD, diskutieren auf Twitter über das Thema Videoüberwachung. (Twitter) Am Mittwoch hatte das Bundeskabinett Teile des Sicherheitspaktes, etwa eine Ausweitung der Videoüberwachung, beschlossen. Im Umgang mit sogenannten Gefährdern (als solcher wurde Amri eingeordnet) befürwortet der SPD-Vizevorsitzende Ralf Stegner Änderungen. Zum einen müsse es mehr Personal geben, um die Überwachung zu verstärken, sagte Stegner im Deutschlandfunk. Außerdem müsse für "Gefährder", deren Asylverfahren abgeschlossen sei, die Abschiebehaft verlängert werden. Stegner warnte vor einer Verknüpfung der Themen Sicherheits- und Flüchtlingspolitik. "99,9 Prozent der Flüchtlinge haben mit Terrorismus genauso wenig zu tun wie 99,9 Prozent der Deutschen." (bor/tj)
null
In Duisburg werden zwei Männer verhaftet, sie sollen einen Anschlag auf ein Einkaufszentrum geplant haben. Mit dem Lkw-Angriff von Berlin verbinde sie "außer dem terroristischen Hintergrund" nichts, betont die Polizei. Doch um die Debatte um schärfere Sicherheitsmaßnahmen weiter zu befeuern, dürfte das reichen.
"2016-12-23T10:11:00+01:00"
"2020-01-29T19:09:53.162000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-anschlag-von-berlin-duisburg-der-fall-amri-und-die-100.html
861
Modell Bodensteuer: Wundermittel gegen Wohnungsnot?
Kann ein neues Modell die Wohnungsnot bessern? Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über eine Reform der Grundsteuer (dpa / Wolfram Steinberg) Monatliches Treffen der Bezirksgruppe Wedding der Berliner Mietergemeinschaft. Philipp, Jonas, Lisa, Heinz und Josi sind trotz des strömenden Regens gekommen. Alle Fünf wohnen in dem traditionellen Arbeiterviertel mit seinen rund 170.000 Einwohnern. Philipp ist Experte, denn er ist Mitarbeiter beim Mieterecho, einer Zeitung der Mietergemeinschaft. "Wir haben hier eine Arbeitslosenquote von 12 Prozent. Wir haben die größte Kinderarmut in ganz Berlin von 76 Prozent und insgesamt ist es eigentlich ein recht armer Stadtteil, aber der Stadtteil ist halt schon auch im Wandel: Also, wir sehen den Zuzug von neuen Bewohnergruppen, Studierenden, aber genauso auch von Leuten, die beispielsweise aus dem Prenzlauer Berg verdrängt werden. Die Mietpreise seit 2009 bis heute, dann haben wir durchschnittlich eine Mietsteigerung in den Angebotsmieten von etwa 70 Prozent." Jonas erzählt von Protesten im Kiez. "Derzeit in der Amsterdamerstraße 65, wenn sie da an dem Haus vorbeigehen, aus jedem Balkon hängen Transparente raus. Es gibt öffentliche Veranstaltungen, die aus dem Haus organisiert werden. Aber ganz, ganz viele Fälle verschwinden einfach, ohne das sich Proteste geregt haben." Drastisch steigende Bodenwerte Vor allem in den Metropolen ächzen Bewohner, weil die Miete einen immer größeren Anteil des Einkommens frisst. Gleichzeitig ist es für immer mehr Menschen unerschwinglich, sich eine Immobilie zu kaufen. Steigende Mieten und Immobilienpreise haben wesentlich etwas mit den drastisch steigenden Bodenpreisen zu tun. Anleger reiben sich die Hände. Dirk Löhr, Ökonom an der Universität Trier, spricht von einer ungerechten "Umverteilungsmaschinerie" zugunsten der Grundstückseigentümer. "Die Standortqualität wird ja auch durch öffentliche Investitionen überhaupt erst hervorgerufen." Wie beim Bau von U-Bahnen, Schulen oder Parks – bezahlt von der Kommune und damit von allen Bürgern. "Der Punkt ist, diese Bodenerträge entstehen so oder so, nur heute werden sie eben in die privaten Taschen geleitet." Um das zu ändern, hat der engagierte Wissenschaftler mit dem Naturschutzbund Deutschland 2012 die Initiative "Grundsteuer:Zeitgemäß" gegründet. Zeitgemäß wäre für sie die Einführung einer Bodenwertsteuer. Damit könnte man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die öffentliche Hand würde einen Teil der immensen Gewinne privater Bodenbesitzer abschöpfen, womit die Spekulation mit Grundstücken unattraktiver und Bauland günstiger würde. Gefallen an der Idee finden Ökonomen gleichermaßen beim arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft wie auch beim gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie. Die Befürworter sehen einen guten Zeitpunkt für die Einführung der Bodenwertsteuer. Denn an diesem Dienstag findet beim Bundesverfassungsgericht eine mündliche Verhandlung zu den Einheitswerten statt, auf deren Basis die heutige Grundsteuer berechnet wird. Ulrich Kriese, Bau- und siedlungspolitischer Sprecher beim Naturschutzbund Deutschland. "Der Bundesfinanzhof hat gesagt, dass die Einheitswerte nicht verfassungsgemäß sind, weil sie dem Gleichheitssatz widersprechen und allgemein wird erwartet, dass das Bundesverfassungsgericht sich dieser Auffassung anschließen wird." Überfällig: Reform der Grundsteuer Für die alte Bundesrepublik stammen die Einheitswerte aus dem Jahr 1964, für die neuen Bundesländer aus dem Jahr 1935. Ursprünglich wollte die Politik sie alle sechs Jahre neu berechnen lassen. Aber davon sah man dann ab, zu aufwendig, hieß es. Diese Praxis wurde lange Zeit höchstrichterlich gebilligt. Aber mittlerweile haben sich die Wertrelationen deutlich verändert: So wurden etwa ehemals industrielle Bereiche in Städten zu exklusiven Wohnbereichen aufgewertet, manche ländlichen Immobilien verloren in Relation an Wert. In den veränderten Wertrelationen sieht der Bundesfinanzhof nun einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Artikels 3 im Grundgesetz. Ein erster Anlauf für eine Reform der Grundsteuer ist vor der Bundestagswahl gescheitert. Bislang spielte die Bodenwertsteuer in den Reformplänen der Politik keine Rolle. Dabei wirbt selbst das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in einer Studie für die Idee. "Angesichts der mittlerweile erreichten Dringlichkeit der wohnungspolitischen Aufgaben und der weithin anerkannten Vorteile einer Bodenwertsteuer sollte ein neuer Anlauf unternommen werden, ein überzeugendes Konzept für die Bodenwertsteuer zu erarbeiten." Sollte das Bundesverfassungsgericht die Einheitswerte wie erwartet als verfassungswidrig einstufen, muss die Politik handeln. Gewöhnlich gewähren die Richter dem Gesetzgeber in solchen Fällen für eine Verbesserung einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren. Ansonsten droht der Grundsteuer die Aussetzung. Das wäre ein harter Schlag für die Kommunen, weil die Grundsteuer nach der Gewerbesteuer die zweitwichtigste kommunale Einnahmequelle ist - mit zuletzt mehr als 13 Milliarden Euro. Wohnen wird zur sozialen Frage Zurück in Berlin Wedding. Auch an Kleinigkeiten beobachtet der stellvertretende Bürgermeister des Bezirks Mitte, Ephraim Gothe, die Veränderungen im Kiez. Gentrifizierung von Wohnvierteln - nicht nur in Berlin Kreuzberg ein Problem, sondern in allen großen deutschen Städten (imago ) "Wir haben hier im Rathaus Wedding einen Coffeeshop, da gibt es den Milchkaffee für 2,20. Und jetzt haben wir hier gegenüber am Leopoldplatz seit einigen Wochen einen neuen Coffeeshop, da kostet der Milchkaffee vier Euro, und die ganze Aufmachung des Ladens macht klar, dass die Kundschaft der Hipster ist, auf den man jetzt hier wartet." Im Büro des SPD-Politikers hängt ein riesiger Stadtplan von Berlin an der Wand und einige Zettel, auf einem steht rot herausgehoben: "Die Stadt muss für alle Einkommensschichten offenbleiben." Bezirksstadtrat Gothe: "Die Frage der Stadtentwicklung in den Metropolen immer mehr die soziale Frage wird, nämlich die Frage, wer darf in der inneren Stadt wohnen und ist das nur noch etwas, was sich über den Geldbeutel regelt oder bekommt man es als Stadt hin, das gemischte Quartier eben auch in der inneren Stadt lebendig zu halten." Eine riesige Aufgabe. In Berlin habe es die Politik noch in der Hand, das zu erreichen, findet Gothe. Noch verschärft sich aber die Lage in der Spree-Metropole. Viele Mieter rücken unfreiwillig zusammen. So ist im Bezirk Mitte, zu dem der Wedding gehört, die Bevölkerung in den vergangenen sechs Jahren um 50.000 Einwohner gewachsen, wovon jedoch nur ein geringer Teil in neu gebaute Wohnungen eingezogen ist. "Der Bestand verdichtet sich stärker. Das heißt, eine Familie im Wedding, die ein zweites Kind kriegt und früher dann umgezogen wäre, weil noch ein weiteres Kinderzimmer notwendig wird, macht das nicht, weil sie sich sagen, wenn wir hier rausgehen, finden wir keine Wohnung, die wir uns leisten können. Wir behalten lieber unseren alten Mietvertrag und nehmen in Kauf, dass sich die beiden Kinder dann ein Kinderzimmer teilen müssen." Fachleute sprechen von innerer Verdrängung. Angst haben viele Mieter auch vor einer Modernisierung ihrer Wohnung, weil anschließend die Mieten steigen. Dies ist auch Thema beim Treffen der Mietergemeinschaft Wedding. Mieter unerwünscht Heinz: "Es gibt durchaus Mieterhöhungen von 400, 500, 600, 700 Euro monatlich, Erhöhungsbeträge, nicht Endbeiträge, die dann zu der alten Miete draufzuschlagen wären. Das ist für die Bevölkerung nicht mehr tragbar und das ist für uns Anlass und einer unserer Hauptanliegen auch diesen Modernisierungsregelungen entgegenzuwirken und eine Abschaffung herbeizuführen." Manchem Investor sind die bisherigen Bewohner anscheinend völlig egal. Einer schrieb an seine Mieter: "Ich teile Ihnen mit, dass Sie als Mieter massiv unerwünscht sind, da wir ihre Wohnung anderweitig nutzen wollen". Unter dem langjährigen SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit hat Berlin in großem Stil Grundstücke der öffentlichen Hand verkauft und Mitarbeiter in der Verwaltung eingespart. So konnten Schulden abgebaut werden. Aber heute fehlen Mitarbeiter in der Bauverwaltung und Grundstücke im Besitz der öffentlichen Hand. Reiner Wild, Geschäftsführer des Mieterbundes in Berlin: "Innerhalb des S-Bahn-Rings, also im eigentlichen Innenstadtkern, sind lediglich 15 Prozent der Flächen im Besitz der öffentlichen Hand, 85 Prozent sind in privater Hand und das macht schon mal deutlich wie schwierig es sein wird diese Flächen zu generieren und vor allen Dingen sie zu generieren für einen preisgünstigen Wohnungsbau. Denn durch die Knappheit an Grundstücken ist das Preisniveau bei bebaubaren Grundstücken dramatisch angestiegen. Der Grundstücksmarktbericht Berlins weist Steigerungen zwischen 30 bis 50 Prozent per anno aus. Und da kann man sich vorstellen, dass sozialer Wohnungsbau innerhalb des S-Bahnringes so gut wie nicht mehr möglich wird." Öffentliche Hand kann nicht mehr mithalten Jetzt will die öffentliche Hand wieder Flächen erwerben. Stadtrat Gothe: "Das ist eben ein ganz schwieriger Punkt. Unsere städtischen Wohnungsbaugesellschaften sind ja gehalten, selber auch bebaubare Grundstücke zu akquirieren auf dem freien Markt. Und die sind da absolut an Grenzen gestoßen, weil sie sagen, wenn wir zu den Preisen erwerben müssen, dann können wir da nicht mehr Wohnungen bauen, die dann noch breite Schichten der Bevölkerung erreichen." Bodenpreise verdoppelt und verdreifacht Die ehemalige Postbank am Halleschen Ufer im Berliner Stadtteil Kreuzberg ist ein Hochhaus. Die CG Gruppe - auf die Umwandlung von Büros in Mietwohnungen spezialisiert - hat das Gebäude gekauft. Entstehen sollen kleine Zweizimmerapartments für Singles, junge Paare oder Rentner. Christoph Gröner, Gründer und Mehrheitseigentümer des Projektentwicklers: "Die Baupreise sind nicht an der Mietentwicklung schuld, die haben sich vielleicht um fünf, sechs oder sieben Prozent nach oben bewegt. Lassen wir es zehn Prozent sein, dann hat das auf die Miete eine Auswirkung von 10,20,30 Cent." Je Quadratmeter! "Aber tatsächlich haben sich die Bodenpreise verdoppelt oder verdreifacht. Wir bezahlen heute irgendetwas zwischen 1.000 und 2.000 Euro pro Quadratmeter." Bodenpreise von bis zu 6.000 Euro je Quadratmeter - beispielsweise in Städten wie München und Hamburg (imago / Sven Simon) In Berlin. In München oder Hamburg könnten es auch 3.000 bis 6.000 Euro je Quadratmeter sein. "Die Städte sind auch noch einmal weit vor Berlin, da ist auch so, da ist dann sozusagen der Grundstückspreis der Löwenanteil der Miete, weil der Baupreis bleibt auch in München irgendwie dann zwischen 2.000 und 3.000 Euro hängen, weil die Steine kosten halt Steine und der Putz obendrauf kann mal ein bisschen teurer abgerechnet werden, weil die Leute da mehr verdienen, aber insgesamt ist der Baupreis relativ stabil – allerdings auf sehr hohem Niveau." Spekulanten lassen Grundstücke ungenutzt Der Unternehmer ärgert sich über Spekulanten. "Ich als Unternehmer habe kein Problem, wenn Besteuerung von Spekulanten, in welcher Weise auch immer, erhöht werden. Die Spekulanten sind für uns die Preistreiber und für uns wirklich die Problemfälle und auch so, wenn ich dann erlebe, das wir unterlegen sind im Bieterverfahren, weil wir eben nicht damit rechnen, die Grundstücke aufzuteilen, meistbietend zu verkaufen, sondern weil wir die schlichte Bebauung unserer Grundstücke vorhaben und deswegen können wir nicht mithalten, dann geht einem schon das Messer in der Tasche auf." Zumal Spekulanten nach dem Erwerb Grundstücke oft brach liegen lassen. Typisch ist das Gelände neben den Uferhallen im Berliner Wedding, früher ein Busparkplatz der städtischen Verkehrsgesellschaft BVG. Gothe: "Dieser Busparkplatz, der ist zusammen mit den Uferhallen vor, ich weiß nicht, 12 Jahren erworben worden, für – ich sage mal - anteilig von unter einer Millionen diese Fläche. Die ist dann vor drei, vier Jahren weiterveräußert für fünf Millionen Euro. Und der neue Eigentümer hat sich bisher nicht darum gekümmert, da jetzt ein Wohnungsprojekt zu realisieren, sondern bietet es jetzt einem anderen Erwerber für einen Preis an, der noch einmal weit über doppelt so hoch ist wie diese fünf Millionen." Überall in der Bundesrepublik lassen Spekulanten Grundstücke ungenutzt. Steigen die Preise für das Bauland schneller als für neu errichtete Wohnungen, rechnet sich dies für sie. In knappem Bauland in gefragten Lagen sieht das Deutsche Institut der Wirtschaft einen wesentlichen Grund dafür, warum der Bauboom in Deutschland bald enden dürfte. Einsicht des 19. Jahrhunderts: Den Boden besteuern Wedding. Anfang November. Eine umgebaute Fabrik. Tagung zum 120. Todestag des US-amerikanischen Ökonomen Henry George. Der Saal ist gut gefüllt. Ottmar Edenhofer, Ökonom an der Technischen Universität Berlin, erwähnt in seinem Vortrag eine neue Untersuchung über Wohnkosten in den Industriestaaten. "Wo einfach mal gezeigt worden ist, das 80 Prozent des Anstiegs der Wohnkosten in den OECD-Ländern zurückzuführen sind auf den Anstieg der Bodenpreise und sie sehen, welche enorme Bedeutung die Bodenpreise für die wirtschaftliche Entwicklung haben." Die Tagung mitorganisiert hat der Ökonom Dirk Löhr, auch Herausgeber einer jüngst neu erschienen deutschen Auflage von "Fortschritt und Armut", dem wichtigsten Werk von Henry George. Darin beschäftigte er sich mit der Frage, warum im 19. Jahrhundert die Produktivität der Industrie in den USA enorm steigen konnte und gleichzeitig die Armut überhandnahm. Eine wichtige Rolle spielt bei seinem Erklärungsansatz der Boden. Steigen die Kosten für Wohnen dauerhaft schneller als die Löhne, sinkt der Lebensstandard in der Breite der Bevölkerung, konzentriert sich der Reichtum bei den Bodenbesitzern. George lehnte das Privateigentum an Grund und Boden ab, wollte es aber aus politisch-pragmatischen Gründen beibehalten. Aber der Staat sollte die Bodenerträge gewissermaßen wegsteuern. Dirk Löhr: "Eigentlich ist es eine ganz alte Idee von den Physiokraten, von denen hat dann Adam Smith gelernt und letztlich hat Henry George, der amerikanische Bodenrefomer, diese Idee wieder aufgegriffen." Was kaiserliche Beamte schon wussten Kurz nach dessen Tod griffen Beamte des Deutschen Kaisers die Idee in Quingdao auf - von 1898 bis 1914 war Quingdao eine kleine deutsche Kolonie in China. Die deutschen Besatzer führten eine Bodenwertsteuer ein. "Das Reichsmarineamt, nicht irgendwelche Sozialisten und so weiter, diese Steuer einführten in einer Höhe von sechs Prozent, um spekulativen Exzessen, wie es sie in anderen Kolonien, englischen und französischen gab, einen Riegel vorzuschieben von vorneherein. Und dieses Modell war offensichtlich diesbezüglich sehr erfolgreich." Nach der roten Revolution in China war das Experiment vorbei. Die Idee beeinflusste jedoch Regierungen in Asien, vor allem in den beiden wichtigsten Stadtstaaten der Region. Die Idee der Grundsteuer hat Stadtstaaten wie Hongkong und Singapur beeinflusst (dpa-Zentralbild / Peter Jähnel) "In Singapur und Hongkong nimmt man einen Großteil des notwendigen Aufkommens an öffentlichen Mitteln aus dem Land. Dafür hat man die Besteuerung von Kapital und Arbeit sehr stark reduziert. Aufgrund dieses Modells war es diesen Staaten überhaupt möglich, das waren vor hundert Jahren noch ganz unbedeutende Ansiedlungen und mittlerweile haben sie die ehemaligen Kolonialherren überholt durch solche Modelle, also nicht Kapital und Arbeit besteuern, damit Zusatzlasten erzeugen, die Menschen entmutigen und so weiter, sondern den Boden besteuern, der auch nicht fliehen kann und bei dem sich sozusagen alles was an Produktivität erzeugt wird, letztlich niederschlägt in der Bodenrente." Heute wird die Grundsteuer in Deutschland auf Grundstück und Bebauung erhoben. Eine Bodenwertsteuer bezöge sich dagegen nur auf den Grundstückswert, was wettbewerbsgerechter wäre. Schließlich hängt der Wert der Gebäude von der Höhe der Investitionen und guten Ideen des Eigentümers ab. Dagegen richtet sich der Grundstückswert nach Faktoren wie der Lage, der Erschließung und der Nachfrage. Darauf hat der Eigentümer keinen Einfluss. Verändern sich diese Faktoren, steigt der Wert des Bodens, ohne dass der Eigentümer selbst dafür etwas getan hat. Ökonomen sprechen von leistungslosen Bodenrenten. In Bayern ist die Grundlage für eine Bodenwertsteuer bereits in der Verfassung angelegt. "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen." Eine Bodenwertsteuer könnte einfach anhand der sogenannten Bodenrichtwerte ermittelt werden. Amtliche Gutachter ermitteln sie schon heute auf Basis der in den zurückliegenden zwölf Monaten gezahlten Preise für Grundstücke. Sie sind aktuell, ganz anders als die veralteten Einheitswerte. Wer wären die Gewinner und Verlierer einer Bodenwertsteuer? Dirk Löhr hat Berechnungen durchgeführt, bei denen der Umfang der Steuereinnahmen aus der Grundsteuer für die Kommunen gleich bleiben würde. Es gäbe aber erhebliche Verschiebungen, ganz im Sinne der Verfechter einer Bodenwertsteuer: Auf Reihenhausgrundstücke in mäßiger Lage würde etwa weniger, auf Villengrundstücke in teuren Lagen spürbar mehr Grundsteuer fällig. Deutlich um das Vier- bis Fünffache würde die Grundsteuer für unbebaute, aber bebaubare Grundstücke ansteigen. Privates oder öffentliches Interesse? Eine Besteuerung der leistungslosen Bodenrenten hätte nach Ansicht ihrer Befürworter weitere positive Effekte. Dies war auch Thema bei der Tagung über den Bodenreformer Henry George. Ottmar Edenhofer: "Wenn wir das Wegsteuern würden, dann würden vor allem in den Städten die Bodenpreise und damit auch die Immobilienpreise sinken. Wir würden dafür sorgen, dass das Kreditvolumen weniger stark ausgedehnt werden würde und wir würden der Zentralbank gegenüber Handlungsspielräume schaffen für entsprechende Zinserhöhungen. Wir würden dann eben auch aus solchen Nullzinsphasen, aus der Deflation herauskommen." Ephraim Gothe rollt im Rathaus Wedding eine alte Karte auf mit der Überschrift "Ankaufspolitik seit 1920." Blau markiert sind die von den Stadtvätern damals erworbenen Flächen. "Das ist einfach gigantisch, was die da alles zusammenkaufen konnten und da haben die einfach wahnsinnig weit gedacht." Gebaut wurde darauf vor allem in großem Stil bezahlbarer Wohnungsraum. Einen großen Wurf brächte es wohl auch heute, um die Probleme auf dem Wohnungsmarkt zu lösen. Es geht um die Frage, ob der Boden zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören sollte und ob nicht privaten Verwertungsinteressen gegenüber sozialen Bedürfnissen viel öfter dem Einhalt geboten werden müsste. Wie Lisa beim Treffen der Mietergemeinschaft schon sagte: "Das Thema Wohnen ist deswegen so bewegend, weil es einfach so viele Leute betrifft, es ist ein super existenzielles Thema."
Von Caspar Dohmen
Mieten und Immobilienpreise in Deutschland steigen rasant. Das liegt zu einem großen Teil am Anstieg der Bodenpreise - was Spekulanten anlockt und es den Kommunen erschwert, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Initiativen fordern daher, die Grundsteuer durch eine Bodensteuer zu ersetzen. Der Zeitpunkt scheint günstig.
"2018-01-15T18:40:00+01:00"
"2020-01-27T17:35:02.225000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reform-der-grundsteuer-modell-bodensteuer-wundermittel-100.html
862
Wer bringt Licht ins Theaterdunkel?
Innovation in der Leuchtmitteltechnik löste auf den Theater- und Opernbühnen eigene ästhetische Moden aus (imago / blickwinkel / M. Gann) "Was ist denn ein Theaterbau? Ich weiß es wirklich sehr genau;Man pfercht das Brennlichste zusammen, Da stehts denn alsbald in Flammen." Das schrieb Goethe in einer seiner Xenien über die Theater seiner Zeit. Die wurden tatsächlich oft Opfer der Flammen, denn in ihnen versammelten sich: Bretter, Latten, grobes Leinen, Tüll und anderes leichtes Gewebe, mit Firnis getränktes Papier, Stricke, Kleider, Requisiten. Um Licht in das Theater zu bringen, beleuchtete man mit offenem Kerzenlicht, Talg- und Öllampen. Und all das befand sich in den engen Kulissen der Bühne in unmittelbarer Nähe zu Brennbarem. In diesen Theatern huschten Lampenputzer und Lichtaufstecker gelegentlich auch während der Aufführung möglichst elegant über die Bühne, um niedergebrannte Leuchtmittel zu erneuern oder rußende Talglichter aufzubessern. Die Geschickten von ihnen bekamen für ihre Auftritte Szenenapplaus, andere erntete derbe Beschimpfungen. Offenes Licht überall Bei einer Aufführung etwa des Münchner Residenztheaters in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brannten1.300 offene Flammen. Die Kosten für die brandgefährliche Beleuchtung lastete schwer im Budget der Theatertruppen; manche mussten bis zu vierzig Prozent ihrer Ausgaben fürs Licht bereithalten. Derweil waren Ohnmachten in Theatern nicht selten, nicht weil das Gezeigte so skandalös wäre, sondern weil die offenen Flammen, der Ruß und Rauch dem Publikum den Atem raubten. Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärtPostdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären die Begriffe und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern. An der desaströsen Statistik der durch die Bühnen- und Theaterbeleuchtung ausgelösten Theaterbrände änderte die Erfindung des Gaslichtes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig. Zwar wurde es nun möglich, in gewissem Ausmaß die Helligkeit von Beleuchtungseffekten aus der Entfernung zu regeln, aber erst die Einführung der elektrischen Bogenlampe änderte die Ästhetik von Dekor, Kostüme und Spiel nachhaltig. Aus der Funzelbeleuchtung rückten Schauspielerinnen und Schauspieler ins helle, kalte Licht des Lichtbogens und aus dem groben, überzeichneten Spiel in feinere Figurenzeichnung. Unzählige Theaterbrände Technisch war dies ab der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, aber das Gaslicht blieb noch Jahrzehnte gebräuchlich, bis zu einigen Brandkatastrophen mit Hunderten von Toten: zum Beispiel im Wiener Ringtheater, der Komischen Oper, wo unmittelbar vor dem Beginn der Aufführung von "Hoffmanns Erzählungen" im Dezember 1881 eine Flamme auf einen Tüllhänger übersprang, wenig später das gesamte Theater in Flammen stand und völlig ausbrannte. Knapp 400 Tote meldeten die Behörden, andere sprachen von rund eintausend Todesopfern. Ein Chronist hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 460 Theaterbrände innerhalb der letzten hundert Jahre gezählt. Es dauerte noch bis 1910, bis das Gaslicht per Gesetz verboten wurde. Die Bühnen werden in dem gerne als das "Jahrhundert der Theaterregie" bezeichneten 20. Jahrhundert elektrisch beleuchtet. Diese Technik erlaubt genauere Kontrolle über die Lichtcharakteristik jedes einzelnen Scheinwerfers. Jede Innovation in der Leuchtmitteltechnik löste auf den Theater- und Opernbühnen eigene ästhetische Moden aus. So übernahmen die Theater der 1980er-Jahre vom Film die HMI-Scheinwerfer mit ihrer hohen Lichtausbeute und dem tageslichtähnlichen Spektrum. Und pfiffige Techniker lösten das knifflige Problem der Regelung dieser Scheinwerfer ebenso wie die von Leuchtstoffröhren. In der Kombination gelangen flächig ebenmäßige Grundstimmungen mit scharf hineingeworfenen Lichtkegeln und harten Schatten. Bilder wie im Kino oder fotorealistisch anmutende Nachtlandschaften, hingehauchte Dämmerungen, hyperrealistische Interieurs. Lichtgestaltung wird zum Beruf Der traditionelle Beleuchtungsmeister bekam nun den Lichtdesigner an die Seite gestellt, hochbezahlte Künstler mit eigenen Handschriften und Stilen, die quer über den Globus für Hochglanzproduktionen engagiert wurden. Schon längst liefen alle Fäden der Lichtgestaltung im digitalen Lichtmischpult zusammen. Auch die LED-Technik setzt sich im Theater immer mehr durch: Bis zu motorisierten Scheinwerfern, "Moving Heads", die ihre Richtung, Lichtfarbe, Stärke und Charakteristik während der Aufführung beliebig ändern können. Und doch ist die Voraussetzung für all das, dass die Bühne selbst ein schwarzer Kasten ist. Ein inszenierender Autor sagte einmal, er schreibe mit dem schwarzen Stift auf weißes Papier und dann mit dem Licht des Scheinwerfers ins Dunkel der Bühne.
Von Eberhard Spreng
„Es werde Licht! Und das Theater brannte“. Über die Geschichte des Lichts im europäischen Schauspiel von der katastrophenbehafteten Gasbeleuchtung zum modernen computergesteuerten LED-Scheinwerfer.
"2020-12-25T17:30:00+01:00"
"2020-12-26T11:47:15.195000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/endlich-mal-erklaert-wer-bringt-licht-ins-theaterdunkel-100.html
863
Auf der Suche nach exotischer Materie
Fast 18 Jahre hat es gedauert, bis die Ergebnisse vorlagen. Samuel Ting, Physik-Nobelpreisträger und Professor am MIT in Boston, brauchte einen langen Atem, ebenso sein Team: 500 Experten aus 16 Ländern. Doch die Geduld hat sich gelohnt. Denn die Ergebnisse, die Samual Ting gestern Abend am Europäischen Teilchenforschungszentrum CERN in Genf präsentierte, haben es in sich."Unsere Messungen beweisen die Existenz eines unerwarteten neuen Phänomens. Und wir hoffen bald herauszufinden, was hinter diesem Phänomen steckt." Doch um was geht es? Und warum hat es fast 20 Jahre gedauert, um dieses unerwartete Phänomen aufzuspüren? Nun, die Geschichte beginnt 1995 mit einem verwegenen Plan. Samuel Ting schlug damals vor, einen Teilchendetektor, wie man ihn sonst an Großbeschleunigern findet, ins All zu schießen – oder genauer gesagt, an die ISS anzuschrauben, die Internationale Raumstation. AMS, so heißt das Projekt, Alpha Magnetic Spectrometer. 1,5 Milliarde Dollar teuer, ein Gemeinschaftsprojekt von NASA und CERN."AMS ist so groß wie ein Kleinlaster und wiegt siebeneinhalb Tonnen. Verglichen mit den riesigen Detektoren am CERN ist das nichts." AMS soll kosmische Strahlung einfangen und präzise vermessen – winzige Teilchen, die mit enormen Geschwindigkeiten durchs All rasen. Speziell hat es AMS dabei auf Teilchen aus Antimaterie abgesehen. Antimaterie ist so etwas wie die gespiegelte Version unserer gewohnten Materie und scheint im Universum lediglich in Spuren vorzukommen. Erzeugt werden kann Antimaterie etwa dann, wenn pfeilschnelle Wasserstoffkerne durch den Weltraum jagen und dabei zufällig auf interstellares Gas treffen. Bei diesen Kollisionen können Positronen entstehen, die Antiteilchen der Elektronen. Und genau nach diesen Positronen sucht AMS, der Teilchendetektor an Bord der ISS.Ins All gebracht wurde AMS am 16. Mai 2011 mit dem letzten Flug der Raumfähre Endeavour. Zuvor hatten die Experten den Detektor nicht nur gebaut, sondern über Jahre wieder und wieder getestet. Der Grund: Das Experiment muss extrem zuverlässig sein, schließlich lässt es sich im Weltraum nicht mal eben so reparieren. Und das war für Samuel Ting und seine Leute nicht die einzige Herausforderung."Eines der heikelsten Probleme war die Elektronik: Sie muss zehnmal schneller sein als die Elektronik, die üblicherweise von der NASA im Weltraum benutzt wird. Außerdem muss sie 20 Jahre halten, solange nämlich soll AMS laufen. Aber das ist ziemlich schwierig: Da unser Detektor nicht durch die Atmosphäre geschützt wird, ist er komplett dem Bombardement durch kosmische Strahlung ausgesetzt." Da half nur der Einbau einer speziellen, strahlenresistenten Elektronik, die außerdem auch große Temperaturunterschiede verkraften muss. Doch zum Glück für die Forscher funktioniert die Technik. Seit 2011 nimmt AMS zuverlässig Daten. Und diese Daten hat Samuel Ting nun mit sichtlichem Stolz präsentiert:"In den ersten 18 Monaten unserer Mission haben wir rund 25 Milliarden kosmische Teilchen aufgefangen. Mehr als 400.000 davon waren Positronen." Und das sind deutlich mehr, als zu erwarten wären, wenn man davon ausgeht, dass Positronen im All allein dadurch entstehen, dass schnelle Wasserstoffkerne auf interstellares Gas treffen. Zwar hatten schon frühere Experimente auf diesen Positronen-Überschuss hingedeutet. Aber erst AMS hat nun den schlüssigen Beweis geliefert: Ja, durchs Weltall geistern mehr Positronen als erwartet. Nur: Was verursacht diesen merkwürdigen Überschuss? Die Fachleute halten zwei Mechanismen für möglich. Nummer eins: Es sind Pulsare, rotierende Neutronensterne, die Überbleibsel längst erloschener Sterne, sagt Professor Stefan Schael von der RWTH Aachen, eines der Teammitglieder von AMS."Wir gehen davon aus, dass die Pulsare starke Magnetfelder haben. In diesen Magnetfeldern würden Elektronen Photonen abstrahlen. Und diese Photonen würden konvertieren in Elektron-Positron-Paare. Und das würde zu diesem Überschuss führen können."Ein indirekter Mechanismus zwar. Aber er würde dafür sorgen, dass Pulsare beträchtliche Mengen an Positronen erzeugen und wegschleudern. Der zweite Mechanismus klingt sogar noch exotischer: "Die andere Möglichkeit ist, dass wir neue Teilchen haben. Wir suchen schon lange nach Dunkler Materie. Eine Möglichkeit ist, dass Dunkle-Materie-Teilchen, wenn die aufeinandertreffen, sich gegenseitig vernichten. Dabei entstehen dann Positronen – was eine andere Möglichkeit wäre, den Positronen-Überschuss zu erklären."Dunkle Materie – das ist eine rätselhafte Materieform, von der viele Experten glauben, sie würde die Galaxien zusammenhalten wie ein unsichtbarer Klebstoff. Der Positronen-Überschuss von AMS könnte ein Zeichen dafür sein, dass es diese Dunkle Materie wirklich gibt und dass sie aus neuartigen, ganz und gar exotischen Teilchen besteht. Dafür, und nicht für die Pulsar-Theorie, spricht laut Samuel Ting noch ein weiteres Detail:"Wenn der Positronen-Überschuss durch Dunkle Materie verursacht wird, sollten Positronen aus allen Richtungen auf unseren Detektor treffen. Denn wir glauben, dass Dunkle Materie allgegenwärtig ist. Sollten sie hingegen von Pulsaren stammen, müssten aus manchen Richtungen mehr Positronen kommen als aus anderen. Schließlich sind Pulsare nicht gleichmäßig im All verteilt. Unsere Messungen aber weisen bislang darauf hin, dass die Positronen nicht aus bestimmten Richtungen kommen, sondern von überall her." Und das scheint für die Dunkle Materie als Ursache zu sprechen – was einer physikalischen Sensation gleichkäme, die Samuel Ting glatt einen zweiten Nobelpreis einbringen könnte. Doch bevor es soweit ist, wird AMS noch deutlich mehr Daten sammeln, sprich mehr Antimaterie aus dem All auflesen müssen. Erst dann werden die Forscher herausfinden können, warum es im All so viele Positronen gibt.
Von Frank Grotelüschen
Es ist eines der aufwendigsten Experimente an Bord der Internationalen Raumstation ISS: Seit Juni 2011 sucht ein Detektor im Weltall nach Spuren von Antimaterie. Jetzt stellten die Entwickler des Geräts die ersten Resultate vor. Und die haben es in sich.
"2013-04-04T16:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:13:17.860000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auf-der-suche-nach-exotischer-materie-100.html
864
Frankreich geht beim Glyphosat-Ausstieg voran
Viele Ackerflächen in Europa werden nach wie vor mit Glyphosat bearbeitet. Die EU hat die Zulassung für das Mittel bis 2022 verlängert. (picture alliance/ dpa/ Steven Lüdtke) Nur noch bis Jahresende dürfen Hobbygärtner und Privatleute in Frankreich beim Kampf gegen Unkraut und Ungeziefer zur chemischen Keule greifen. Ab 1. Januar 2019 dann ist ihnen der Einsatz von Pestiziden verboten. Selbiges gilt für die Kommunen schon seit zwei Jahren: Für die Pflege von öffentlichen Grün- und Sportanlagen mussten sie auf umweltschonendere Methoden umsatteln. Das Pestizid-Verbot geht zurück auf ein Gesetz der vorigen Regierung unter dem Sozialisten François Hollande. Und die aktuelle Regierung setzt diesen Kurs fort, sagt Françoise Weber, bei der staatlichen Agentur für Lebensmittelsicherheit, ANSES, zuständig für den Bereich reglementierte Produkte. "Der französische Staatspräsident wünscht, dass Frankreich bis 2020 komplett den Glyphosat-Ausstieg schafft. Mit Ausnahme der Anwendungen, bei denen es wirklich keine Alternative zum Glyphosat gibt." Bauern sollen unterstützt werden Knapp 9000 Tonnen Glyphosat werden jährlich auf französischen Äckern ausgebracht. Für den Ausstieg braucht es also einen gewissen politischen Willen. Der Staat wolle die Bauern nicht allein lassen, sondern begleiten, versprach Christophe Castaner, damals noch Regierungssprecher, vor einem guten Jahr im Radio. "Wir werden bis 2022 massiv investieren, knapp fünf Milliarden Euro, für die Modernisierung unserer landwirtschaftlichen Praktiken. Wir wollen den Bauern und den Forschern Mittel geben, um Glyphosat-Produkte ersetzen zu können." Dennoch läuft der größte Bauernverband im Land, die FNSEA, Sturm, mit Schlagworten wie "Den Einsatz von Glyphosat reduzieren: Ja – ihn verbieten: Nein!" Im Februar, bei der internationalen Landwirtschaftsmesse in Paris, hatte die FNSEA einen Pakt vorgestellt, um den Pestizideinsatz in der konventionellen Landwirtschaft deutlich zu senken. Generell gegen ein Glyphosat-Verbot ist der zweitwichtigste Bauernverband, die Coordination rurale. Der gehört Philippe Motheron an: "Eigentlich gäbe es derzeit im Land doch wichtigere Themen. Wir vom Verband haben selbst Tests durchgeführt. Die ergeben, dass unsere Agrarprodukte keine Glyphosat-Rückstände enthalten. Dass wir uns also keine Sorgen machen müssen und weiterhin Glyphosat einsetzen können." Einsatz von Glyphosat wird teurer Zwar wurde das Glyphosat-Verbot nicht, wie Umweltschützer in Frankreich gehofft hatten, im neuen Agrargesetz verankert. Dennoch zieht die Regierung die Schrauben an; sie machte den Einsatz teurer. Für das Ausbringen von potenziell umweltgefährdenden Stoffen wie Pestiziden in der Landwirtschaft müssen die Urheber Abgaben zahlen. Deren Höhe wurde im kürzlich verabschiedeten Finanzgesetz für 2019 deutlich angehoben: von maximal 5,70 Euro pro Kilo auf neun Euro. Zum Entsetzen vieler Bauern. Derweil überprüft die staatliche Agentur für Lebensmittelsicherheit, welche Pestizide auf Glyphosat-Basis wirklich unersetzlich sind – nur die können in Frankreich noch eine Marktzulassung erhalten. Den entsprechenden Antrag müssen die Produzenten stellen. Deren Interesse am französischen Markt jedoch ist nun drastisch gesunken, stellt Françoise Weber von der ANSES fest. "Bislang waren 190 glyphosathaltige Produkte in Frankreich zugelassen. Doch lediglich für 58 Produkte wurde ein Antrag auf Verlängerung oder Neuausstellung der Marktzulassung gestellt." Soll heißen: Mindestens drei Viertel der in Frankreich lange Jahre genutzten Glyphosat-Produkte dürfen ab Mitte Juni 2019 nicht mehr ausgebracht werden.
Von Suzanne Krause
Das Pflanzengift Glyphosat ist umstritten - in der EU aber nach wie vor erlaubt. Frankreich will nun bis 2020 komplett auf den Unkrautvernichter verzichten. Hobbygärtner dürfen es schon ab Januar nicht mehr verwenden. Das hat deutliche Auswirkungen auf die Hersteller.
"2018-12-27T11:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:27:17.841000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pestizid-verbot-frankreich-geht-beim-glyphosat-ausstieg-100.html
865
"Ich erwarte mehr Einsatz für die Jugend"
Das Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit zeige sehr gut, dass Europa Geld zur Verfügung stellen kann, um bestimmte Projekte anzustoßen, sagte Selle im DLF. Umsetzen müssten es jedoch die Mitgliedsstaaten (picture-alliance / dpa / Maurizio Gambarini) Anne Raith: Das Fundament der Europäischen Union bröckelt. Weil der Brexit noch lange nicht verdaut ist und auch bei den bleibenden Mitgliedsstaaten der Widerstand groß ist. In Ungarn oder Polen etwa, aber auch in Ländern wie Frankreich, wo bei den Wahlen immerhin gleich zwei Kandidaten mit ihrer Kampagne gegen das, was sie "Brüssel" schimpfen, punkten konnten. Nicht von ungefähr will die EU-Kommission das wackelnde Konstrukt nun mit einer neuen, stabilen Säule absichern und sich nach den Krisenjahren auf den "sozialen Fortschritt" konzentrieren. Das sind die Vorschläge der EU-Kommission: Die EU-Kommission hat ihre Vorschläge für eine "soziale Säule" der Europäischen Union sorgfältig vorbereitet. In einem öffentlichen Konsultationsverfahren wurden Mitgliedsstaaten, Sozialverbände und Arbeitgeber ausführlich befragt. Parallel dazu gab es zahlreiche Fachkonferenzen. Immerhin geht es um die vermeintlich letzte Chance, um auch die sozialen Ambitionen der EU "zum Fliegen zu bringen", wie es Anfang des Jahres EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker formuliert hat. Doch wer auf ein konkretes Maßnahmenpaket für ein sozial gerechteres Europa gehofft hat, dürfte heute enttäuscht werden. Zwar umfasst das Papier insgesamt 20 Punkte, doch vieles darin ist eher von grundsätzlicher Natur. Die konkreten Auswirkungen dürften daher überschaubar bleiben, was allerdings im Sinne vieler Mitgliedsstaaten ist. Die Sozialpolitik soll auch in Zukunft in der Hand der Nationalstaaten bleiben, fordert nicht zuletzt die Bundesregierung. Und so heißt es auch in der Erklärung zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge zum Stichwort "Soziales Europa" ausdrücklich: Die Union werde die unterschiedlichen nationalen Systeme nicht in Frage stellen. Also plädiert Brüssel ganz allgemein für faire Arbeitsbedingungen, für die Sicherstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für ein Mindesteinkommen in Europa. Konkrete Vorgaben aber, etwa über die Höhe eines solchen Mindestlohnes soll es nicht geben. Immerhin will die Kommission überprüfen, ob die Mitgliedsstaaten ihre Versprechen auch erfüllen. Dazu wird es einen Katalog mit verschiedenen Indikatoren geben, mit denen wiederum die Maßnahmen der Nationalstaaten bewertet werden sollen. Parallel dazu will Brüssel dann auch Handlungsempfehlungen veröffentlichen, etwa wenn es darum geht, die Jugendarbeitslosigkeit weiter zu verringern. Hier knüpft die Kommission mit ihren Vorschlägen an die bereits bestehende so genannte Jugendgarantie an. Junge Leute, so heißt es jetzt in den Vorschlägen als Empfehlung, sollten nicht länger als vier Monate ohne Beschäftigung oder Ausbildung sein. Mehr als nur ein neues Arbeitspapier? Was taugen die Vorschläge? Anne Raith: Wie kann, wie sollte ein sozialeres Europa aussehen, vor allem für die Jugend? Darüber wollen wir auch mit Linn Selle sprechen, sie sitzt für den Jugendverband "Junge Europäische Föderalisten" im Vorstand der Europäischen Bewegung Deutschland, das ist das größte Netzwerk für Europa-Politik hierzulande. Die 30-Jährige engagiert sich also für Europa, das ist nicht zu überhören, ohne aber an Kritik an der EU zu sparen. Und sie wurde für ihre Arbeit auch schon ausgezeichnet. Was hält sie von diesem neuen Vorstoß? Ist das mehr als nur ein neuer Appell? Linn Selle: Also, ich glaube, man kann schon sagen, dass in den letzten Jahren das Vertrauen in die Europäische Union und, ich glaube, auch in politische Institutionen insgesamt stark gelitten hat. So ein bisschen hat sich der Gedanke bei vielen Bürgerinnen und Bürgern verfestigt, dass irgendwie die Banken gerettet werden, aber sie selber in prekären Arbeitsverhältnissen zum Teil verfangen sind. Und deswegen ist dieser Vorstoß und vor allem auch diese Debatte total wichtig, weil sie im Grunde zeigt: Wir sind nicht nur der Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion, sondern Europa hat auch Vorteile für den Einzelnen, für die Einzelne. Man muss aber auch sagen und das ist ja im Bericht eben auch schon angeklungen, dass gerade bei der Sozialpolitik die EU natürlich nur so stark ist, wie die Mitgliedsstaaten sie lassen. Und das hat in vielen Bereichen auch der Jugendpolitik ganz konkrete Probleme. Und aus meiner Sicht müsste es eigentlich so sein, dass es das gemeinsame Ziel geben muss, dass junge Menschen einfach eine bessere Perspektive in Europa haben und dass daran dann sowohl die Europäische Union, aber auch die Mitgliedsstaaten dran mitarbeiten. "Sonntagsreden bringen uns nicht weiter" Anne Raith: Lassen Sie uns den Punkt mal rauspicken: Die Kommission will ja an die Jugendgarantie aus dem Jahr 2013 anknüpfen, also dass junge Leute nicht länger als vier Monate ohne Beschäftigung sind. Viel mehr steht da nicht drin, kann da vielleicht auch nicht drinstehen, weil es eben nationale Angelegenheit ist. Aber reicht das mit Blick auf die vergangenen vier Jahre Jugendarbeitslosigkeit? Selle: Ja, das ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. Denn wir haben sehr viele schöne Sonntagsreden gesehen, dass das ein wichtiges Thema ist, dass es fatal ist, dass so viele junge Menschen ohne Arbeit sind. Aber letztlich die Implementierung der Jugendgarantie hat sehr lange gedauert, auch weil viele Mitgliedsstaaten da nicht mitgezogen haben, und es ist auch immer noch nicht abgeschlossen. Und ich glaube, das Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit zeigt sehr gut, dass Europa Geld zur Verfügung stellen kann, um bestimmte Projekte anzustoßen, aber dass die Mitgliedsstaaten das letztlich umsetzen müssen. Und da fehlt dann zum Teil letztlich auch die Verbindlichkeit. Also, was ist, wenn ein junger Mensch in Bulgarien länger als diese vier Monate arbeitslos ist? Hat er ein Recht darauf, das dann auch einzuklagen zum Beispiel? Und da ist dann sozusagen die Frage der Verbindlichkeit, woran es dann oft mangelt. Raith: Den Anspruch, sagen Sie, kann die Europäische Union formulieren, bei der Umsetzung liegt es dann an den Mitgliedsstaaten. Warum hapert es gerade auch bei den sozialen Fragen da an so einer Art, wie Sie das sagen, grenzüberschreitender Solidarität? Was ist der Hauptgrund dafür, dass es da nicht funktioniert? Selle: Na ja, man muss schon zugeben oder zugestehen, dass die Regeln in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr, sehr unterschiedlich sind. Und dass es natürlich schwierig ist, da ein gemeinsames Recht zu setzen, wenn man sozusagen anerkennt, dass diese sozialen Systeme auch Teil der europäischen Vielfalt sind. Und die Europäische Union kann dann oft nur sozusagen Geld zur Verfügung stellen und so ein bisschen den Ball anschieben. Was wir aber in den letzten Jahren auch im Zuge der Euro-Krise beispielsweise auch ganz stark gesehen haben, ist, dass es ein bisschen so dieses Sentiment gibt, dass sich jeder selbst der Nächste ist in den Mitgliedsstaaten, also, dass der Wille für größere Kompromisse, für das große Ganze fehlt. Ich glaube, dass auch zum Beispiel heutzutage eine Vertiefung der Europäischen Union, wie es sie damals mit der Währungsunion gab, heute kaum noch möglich wäre, weil einfach diese Sichtweisen sehr eng sind. Und das ist besonders schlimm für junge Menschen, die im Grunde sehr überragend für Europa einstehen und für die europäische Einigung sind, aber gleichzeitig oft von diesem System, von der Integration nicht wirklich profitieren. "Wir brauchen verbindliche Regeln, da müssen alle über ihren Schatten springen." Raith: Was bedürfte es dann für diese jungen Menschen, wenn es kein neues Papier einer EU-Kommission ist? Selle: Na ja, ich glaube, wir müssen uns alle die Frage stellen, was es für langfristige Folgen hat, wenn die Prioritäten für junge Menschen im Grunde so sind, wie sie heute sind, also, dass es so ist, dass viele junge Menschen arbeitslos sind, nicht dieselben Chancen haben wie ihre Eltern, und was das auch langfristig für unsere politischen Systeme, für sozusagen Institutionenvertrauen und so bedeutet. Ich glaube, es ist schon ein wichtiger Punkt, dass man das einfach anerkennt auch als Zukunftsaufgabe und dass die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten hier gemeinsam einfach eine bessere Politik machen müssen. Ich glaube, da muss man einfach mal auch über seinen eigenen Schatten springen und sagen: Hey, wir müssen uns verbindliche Regeln geben, die wir dann vielleicht individuell in den Mitgliedsstaaten umsetzen. Und im Übrigen, ein weiterer Punkt, der für viele Jugendverbände ein wichtiges Thema ist: Ob nicht einfach auch jüngere Menschen wählen dürfen sollten, einfach um sozusagen Politik mitzubestimmen und auch zu sehen, dass sie auch eine Stimme in diesem System haben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Linn Selle im Gespräch mit Anne Raith
Die EU-Kommission stellt in Brüssel ihre Ideen für ein sozialeres Europa vor. Nach den Krisenjahren ist das der richtige Weg, glaubt Linn Selle von den "Jungen Europäischen Föderalisten". Bloße Bekundungen reichten jedoch nicht aus: "Wir müssen uns verbindliche Regeln geben", sagte Selle im Dlf.
"2017-04-26T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:59.697000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-union-ich-erwarte-mehr-einsatz-fuer-die-jugend-100.html
866
Ende der Willkommenskultur
Kinder aus Afghanistan an der deutsch-österreichischen Grenze bei Salzburg (picture alliance / dpa / Andreas Gebert) Im österreichischen Schärding, an der Grenze zu Deutschland, stranden täglich bis zu 200 Flüchtlinge. Ein Dolmetscher übersetzt, was einer von ihnen erzählt: "Nach Österreich, nach Deutschland, wieder nach Österreich. Zwei Mal sind sie hin und her geschickt worden. Drei Mal!" Österreichischer Polizist: "Slowenien würde in zwei Tagen untergehen" Die österreichische Polizei rechnet in den kommenden Wochen damit, dass Deutschland noch mehr Flüchtlinge zurückschickt. Der Landespolizeidirektor von Oberösterreich, Andreas Pilsl geht von bis zu 400 Menschen am Tag aus. Dass auch Österreich beginnen will im Süden, an der slowenischen Grenze, Menschen zurückzuschicken, ist für ihn keine Lösung: "Deutschland ist Zieldestination für 90 Prozent der Menschen. Österreich ist es für 10 Prozent der Menschen, das heißt 90 Prozent wollen Österreich durchqueren und zehn Prozent wollen Deutschland durchqueren. Das heißt, wenn Deutschland die Erfassten zurückschickt, ist das leicht möglich. Wenn Österreich das macht, wird Slowenien untergehen - innerhalb von zwei Tagen. Das heißt, man verlagert die Probleme nur innerhalb Europas." Kontroverse in der Regierung Seine Dienstherrin, die konservative Innenministerien Johanna Mikl-Leitner, teilt diese Bedenken nicht. Sie will eine Obergrenze für Flüchtlinge festlegen, die es faktisch gäbe und abschieben: "Schauen Sie, was haben wir derzeit für eine Situation an der deutsch-österreichischen Grenze? Dass nun mehr jene durchgelassen werden, die in Deutschland Asyl wollen. Und jene die weiterziehen wollen, werden zurückgewiesen. Und die werden wir ab Ende nächster Woche direkt an unserer Südgrenze stoppen." Nach dem Vorbild Schwedens sollen nur noch Asylanträge angenommen, aber nicht mehr bearbeitet werde. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann hält nichts von alldem. Nachdem Dänemark und Schweden ihre Grenzen dicht gemacht haben, ist Österreich jedoch das einzige Land in der EU, neben Deutschland, das noch die Politik der offenen Grenze beibehält. Noch steht der Sozialdemokrat an der Seite der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und stellt sich damit nicht nur gegen seinen Koalitionspartner ÖVP: "Die Grenzsicherung, und das ist entscheidend. Kann ja nur funktionieren an den Außengrenzen plus Schengen-Grenzen und das Mögliche an unseren Grenzen. Wer da die europäische Ebene aufgibt, gibt die Lösungsmöglichkeit der Flüchtlingsfrage auf. Also: stärkere Kontrollen überall, auch an der österreichischen Grenze. Ausnützen jener Möglichkeiten, die wir haben. Aber nie aus den Augen verlieren: Wer wirklich etwas lösen möchte, muss eine europäische Lösung anstreben, alles andere ist ein Irrweg und eine Sackgasse." Mehr Grenzkontrollen Österreich war der erste EU-Mitgliedsstaat, der Polizistinnen und Polizisten zu Grenzkontrollen an die europäische Außengrenze entsandte. Rund 150 Männer und Frauen unterstützen die EU-Grenzagentur Frontex, unter anderem in Griechenland. Seit einem halben Jahr sind österreichische Beamte auch an der ungarisch-serbischen und mazedonisch-serbischen Grenze entlang der Schlepperrouten im Einsatz. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner strebt eine engere Kooperation mit Deutschland, Kroatien und Slowenien an. Viele Flüchtlinge bleiben derweil auf der Strecke und Preise auf den Schlepperrouten Richtung Deutschland haben sich vervielfacht.
Von Karla Engelhard
Die österreichischen Regierungsparteien SPÖ und ÖVP wollen beide weniger Flüchtlinge ins Land lassen. Über die Vorgehensweise sind sie jedoch uneins. Die konservative Innenministerin Johanna Mikl-Leitner plädiert für Abschiebungen an der Grenze zu Slowenien, Bundeskanzler Werner Feymann fordert dagegen eine europäische Lösung.
"2016-01-15T18:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:08:53.596000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/oesterreich-ende-der-willkommenskultur-100.html
867
Mitarbeiter mit Doping-Vergangenheit
Die Büchse der Pandora soll erst Montagfrüh geöffnet werden. Dann stellt die Reformkommission der UCI ihren Bericht über die Dopingvergangenheit im Radsport vor. Mehr als zwölf Monate lang untersuchte die Kommission Dopingvorfälle seit dem 1. Januar 1998. Doch die erste Prise schlechter Luft gibt es schon vorab. Servais Knaven, sportlicher Leiter von Team Sky, war offenbar als Profi des TVM-Rennstalls mindestens 1998 ein eifriger Epo-Kunde. Das ist pikant. Denn Team Sky behauptet eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Doping. Die Mannschaft der Toursieger Bradley Wiggins und Chris Froome trennte sich in der Vergangenheit immerhin vom Doping belasteten Teamarzt Geert Leinders und von den sportlichen Leitern Steven De Jongh und Bobby Julich. Sie gestanden Doping ein. Die Trennung von Knaven verpasste das Team bei dieser Gelegenheit. Noch heute stellt sich Sky-Boss David Brailsford vor seinen Angestellten. Der sei "weiterhin ein geschätztes Teammitglied, das in den letzten fünf Jahren einen wichtigen Part bei den Erfolgen von Team Sky gespielt" habe, erklärte er in einer Pressemitteilung. Er behauptet: "Es wurde niemals Anklage gegen Servais erhoben." Keine Anklage, aber positiver Test Anklagt wegen Doping war Knaven tatsächlich nicht. Das lag aber nur daran, dass die französische Richterin Odile Madrolle in einem Prozess gegen den Rennstall TVM die Fahrer lediglich als Zeugen vernahm. Auslöser war im März 1998 ein Fund des französischen Zolls von 104 Ampullen Epo in einem Teamfahrzeug von TVM. Im Juli, während der Tour de France, wurden Fahrer und Betreuer von TVM verhaftet. Ihnen wurde Blut und Urin abgenommen. Die Analysen wiesen bei allen Fahrern Spuren von Wachstumshormon und Kortekoiden auf. Zum Tourteam gehörten auch Knaven sowie der später geständige De Jongh. Bei vier Fahrern wurde Epo festgestellt. Unter ihnen war ebenfalls der aktuelle Sky-Mitarbeiter Knaven. Dass so eine Analyse schon drei Jahre vor der offiziellen Einführung des Epo-Testverfahrens und gar dreizehn Jahre vor dem Verfahren für Wachstumshormon möglich war, ist der Courage der Richterin und der Kenntnis der Ärztin Francoise Bressolle zu verdanken. Sie stellte bereits 1996 eine Studie zu Epo und anderen Dopingmitteln bei Ausdauersportarten vor. Hätten die Sportverbände zu diesem Zeitpunkt Kontrollen auf Epo und Wachstumshormon durchgeführt, sähen die Ergebnislisten vieler Sportarten wohl ganz anders aus. Bestrebungen, sauber zu werden Der Radsport wenigstens räumt mittlerweile auf. Der für Montag erwartete Kommissionsbericht sollte weitere Details offenbaren. Ob dies Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Betreuerstäbe der Rennställe hat, bleibt abzuwarten. Wer vor der Kommission aussagte, durfte mit Straferlass rechnen. Der Fall Knaven ist übrigens auch für den deutschen Radsport relevant. Trotz des Gerichtsverfahrens gegen TVM, das 2001 mit der Verurteilung dreier Betreuer zu Ende ging, wurde der Epo-positive Knaven als Fahrer von T-Mobile und dessen Nachfolgerennstall Highroad sowie Team Milram angeheuert. Bei Milram war Knaven sogar in der sportlichen Leitung tätig. Entschlossene Schritte zum Verlassen einer Dopingkultur sehen anders aus.
Von Tom Mustroph
Das britische Radsport-Team Sky behauptet eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Doping. Doch Skys sportlicher Leiter Servais Knaven hat in seiner Zeit als Profi offenbar gedopt. Das schafft ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
"2015-03-08T19:24:00+01:00"
"2020-01-30T12:25:27.767000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anti-doping-radrennstall-sky-mitarbeiter-mit-doping-100.html
868
"Der Reformationstag ist eine wunderbare Scharnierstelle"
"Die Reformation ist ja nicht nur eröffnet worden durch diesen Thesenschlag eines Einzelnen, sondern auch durch ganz, ganz viele Disputationen", sagt Johann Hinrich Claussen (dpa/Peter Endig) Ute Meyer: Heute vor 501 Jahren, am 31. Oktober 1517, soll Martin Luther seine 95 Thesen zu den Missständen in der Kirche an die Schlosskirche in Wittenberg genagelt haben – die Reformation und damit die Gründung der evangelischen Kirche nahm ihren Lauf. Protestanten in aller Welt feiern am 31. Oktober den Reformationstag, und seit diesem Jahr ist er in den norddeutschen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen zum ersten Mal auch gesetzlicher Feiertag. Dieser neue Feiertag, der in den meisten protestantisch geprägten Bundesländern begangen wird, er ist eingeführt worden auch um das Ungleichgewicht auszugleichen zu den katholisch geprägten Bundesländern, die deutlich mehr Feiertage haben. Über den neuen Feiertag möchte ich sprechen mit Johann Hinrich Claussen, dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche Deutschland und ehemaliger Hauptpastor in Hamburg. Herr Claussen, ist der Reformationstag für die Menschen in Norddeutschland mehr als nur ein weiterer arbeitsfreier Tag? Johann Hinrich Claussen: Das will ich doch stark hoffen. Natürlich ist es auch für manche Menschen ein Ausschlaftag, dagegen ist auch nichts zu sagen. Da ziehen wir mal ein bisschen gleich zu den Katholiken im Süden, aber es ist natürlich auch eine wunderbare Chance, ein ganz zentrales Ereignis unserer Geschichte noch mal neu zu bedenken und dazu einen gesetzlich geschützten Feiertag zu haben und nicht nur einen kirchlichen Feiertag, weil es nicht nur die evangelische Kirche und die Christen angeht, sondern, ich denke, die gesamte Gesellschaft. Anfang der heutigen Gedenk- und Erinnerungskultur Meyer: Inwiefern die gesamte Gesellschaft, weil es gibt ja zum Beispiel auch Kritik, zum Beispiel einige jüdische Gemeinden üben Kritik an dem Feiertag Reformationstag und verweisen auf antisemitische Schriften von Luther. Also inwiefern für die gesamte Gesellschaft? Claussen: Der Reformationstag, was man gar nicht so richtig weiß, ist einer der Anfänge unserer heutigen Gedenk- und Erinnerungskultur. Also, es gibt ja für uns in der Kirche das sogenannte Kirchenjahr mit den großen Festen Weihnachten, Ostern und Pfingsten, und daneben hat sich ein säkulares Gedenkjahr entwickelt mit der Erinnerung an die Befreiung Ausschwitz’, Kriegsanfang, Kriegsende und all diese wichtigen Termine, 9. November zum Beispiel. Der Reformationstag war eigentlich der erste Versuch, ein historisches Ereignis gesamtgesellschaftlich zu erinnern, und der Reformationstag ist eigentlich so eine wunderbare Scharnierstelle zwischen dem Kirchenjahr und diesem allgemeinen säkularen Gedenkjahr und ist deshalb wichtig natürlich für evangelische Christen sowieso, aber auch für die gesamte Gesellschaft. Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD. (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel) Wir haben ja ein Riesenorientierungsbedürfnis bei uns, und das kann dadurch auch bearbeitet werden, dass wir uns zum Beispiel an dieses große historische Ereignis und seine Folgen erinnern und diskutieren – da gibt es Licht und da gibt es Schattenseiten – und dieses gemeinsam. Was ich besonders schön finde, gerade also in Niedersachsen weiß ich das, aber auch in Hamburg, in Schleswig-Holstein wird er gerade von den Kirchen immer ökumenisch mit katholischen Gästen und auch mit vielen Vertretern jüdischer Gemeinden gemeinsam gefeiert. Das ist neu, und das, finde ich, zeigt die Bedeutung weit über die evangelische Kirche hinaus. Keine Abnickveranstaltung von Obrigkeitswegen Meyer: In mehreren Landtagen hat es aber auch im Vorfeld Debatten darüber gegeben, ob es wirklich der Reformationstag sein sollte, der neuer Feiertag wird oder nicht, vielleicht auch der Weltfrauentag oder der Jahrestag der Märzrevolution. Wie blicken Sie auf solche Debatten? Claussen: Also Debatten sind ja immer gut. Protestanten streiten sowieso immer miteinander, und die Reformation ist ja nicht nur eröffnet worden durch diesen Thesenschlag eines Einzelnen, sondern auch durch ganz, ganz viele Disputationen. In vielen Städten wurde die Reformation eingeführt nach langen Debatten. Insofern passt der zivile, parlamentarische und gesellschaftliche Streit oder die Debatte um diesen Tag wunderbar dazu und zeigt, dass jetzt nicht einfach sozusagen eine Abnickveranstaltung von Obrigkeitswegen ist, sondern dass man diesem Tag sich auch reiben kann, und das, finde ich, passt dazu. Meyer: Die christlichen Kirchen, auch die evangelische, beklagen Mitgliederschwund, unsere Gesellschaft verweltlicht. Warum ist dann ein Tag, der an die Reformation erinnert, noch zeitgemäß? Claussen: Es gibt ja auch eine christliche Form der Verweltlichung, und das ist die Reformation. Die Reformation selber ist ja auch ein Akt von Säkularisierung gewesen, also eine Unterscheidung von Kirche und Staat und Gesellschaft. Die Säkularisierung ist jetzt nicht nur einfach sozusagen die Feindin des Christentums, sondern es gibt auch bestimmte Formen, in einer Verweltlichung eine Form von christlicher Freiheitsentwicklung zu sehen. Insofern gehört die heutige Säkularisierung mit ihren Licht- und Schattenseiten da auch in die Wirkungsgeschichte der Reformation. Meyer: Dennoch beklagen sie ja auch einen Schwund an Bedeutung. Kann die evangelische Kirche durch so einen Feiertag wieder mehr Bedeutung gewinnen für die Menschen im Land? Claussen: Ich bin sehr gespannt. Ich darf heute Abend zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder in meiner allerersten Gemeinde predigen. Unbeliebtester Gottesdienst im ganzen Kirchenjahr Meyer: Wo? Claussen: Hier in Reinbek bei Hamburg, und ich erinnere mich genau, als ich als junger Pastor anfing, der Reformationstag war der unbeliebteste Gottesdienst im ganzen Kirchenjahr, der schlechtbesuchteste, und man musste auch immer nicht richtig, was muss ich, was soll ich da eigentlich machen. Meyer: Warum unbeliebt? Claussen: Kam halt keiner. Er war sehr wenig besucht, und man war als Pastor immer so oder als Prediger immer irgendwie etwas hilflos vor der Frage, muss ich jetzt die gesamte Theologie Martin Luthers erklären, muss ich die ganze Reformationsgeschichte erklären, wie bringe ich dieses Thema an die Leute ran. Ich habe auch das gute Zutrauen, dass das inzwischen anders ist, weil wir sehen, dass es hier jetzt nicht nur ein theologisches Sonderfest ist und Martin Luthers Rechtfertigungslehre ausgelegt werden muss, sondern etwas, ein Datum ist, das die gesamte Gesellschaft angeht. Das hat das Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr durchaus gezeigt. Insofern erlebe ich jetzt alleine schon im Vorfeld, wie viele Gemeinden sich auf den Weg gemacht haben mit ganz kreativen und schönen Ideen, diesen Tag neu zu begehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Johann Hinrich Claussen im Gespräch mit Ute Meyer
Der Reformationstag ist in den Fokus gerückt, weil vier Bundesländer ihn als gesetzlichen Feiertag anerkannt haben. Zurecht, sagt Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD, denn der Tag sei wichtig als Verbindung von Kirchenjahr und säkularem Gedenkjahr.
"2018-10-31T14:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:18:18.009000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/claussen-ekd-der-reformationstag-ist-eine-wunderbare-100.html
870
DDR: Leuchtend rot sollte die Zukunft sein
Leuchtend und rot sollte die Zukunft sein. Und in jeder Hinsicht sorgenfrei. Schließlich wähnten sich die Genossen der Einheitspartei ohnehin schon in der besten aller Welten und arbeiteten nun tatkräftig an ihrer weiteren Perfektionierung. Und das hieß: Die sozialistische Gesellschaft in der DDR sollte umfassend modernisiert werden, natürlich ganz nach den Vorgaben aus Moskau. Auf dem XXII. Parteitag der KPDSU im Herbst 1961 hatte Nikita Chruschtschow einen akkuraten Zeitplan für die Einführung des Kommunismus vorgestellt. In nicht einmal 20 Jahren sollte demnach niemand mehr Miete zahlen oder Geld für Grundnahrungsmittel ausgeben. Mehr noch: es sollte überhaupt kein Geld mehr geben. In Ostberlin dachte man nicht minder euphorisch, zeigt der Historiker Stefan Wolle in seinem neuen Buch über Alltag und Herrschaft in der DDR in den sechziger Jahren. "Das hört sich heute wie ein Scherz an, das heißt, es war die Vorstellung, in den Kaufhallen gibt es so viel, dass sich jeder einfach das mitnehmen kann, was er haben möchte. Und das ist nicht nur ein ökonomisches Modell gewesen. Sondern diese Überfülle an Produkten, die im Kommunismus herrschen sollte, sollte sich auch so auswirken, dass es keinen Neid mehr unter den Menschen gibt, keine Missgunst, keine Kriminalität natürlich. Warum soll man noch etwas klauen, wenn man alles haben kann? Und das wurde datiert auf das Jahr 1980. Und jeder der die Sowjetunion im Jahr 1980 kennengelernt hat, der kann ihnen versichern, das war nicht so, dass da eine Überfülle in den Kaufhallen geherrscht hätte."Unmittelbar nach dem Mauerbau lag das Jahr 1980 noch in weiter Ferne. Trotzdem reifte in der SED-Spitze allmählich die Vorstellung, man könne mit einem gewaltigen, allumfassenden Modernisierungsschub das Trauma der Eingeschlossenheit der Untergebenen angemessen kompensieren. Stefan Wolle zeigt, gestützt auf einen breiten Quellenfundus – etwa auf Zeitungsartikel, Stasi-Berichte, DEFA-Filme oder literarische Zeitanalysen –, wie sehr die Genossen um Walter Ulbricht von der Modernisierungswut erfasst worden waren und einen groß angelegten Aufbruch nach Utopia planten. Die Zentren in den Bezirkshauptstädten sollten völlig neu gestaltet werden, die chemische Industrie, einer damaligen Parole folgend, sollte nicht nur Brot, Wohlstand und Schönheit bringen, sondern auch pflegeleichtes Plastikgeschirr und bügelfreie Kleider für Mutti. Zudem erlebte das Land hinter der Mauer auch in kultureller Hinsicht eine zaghafte Liberalisierung. Die Songs der Beatles etwa galten plötzlich als Lieder von vier Arbeiterjungs aus Liverpool, nicht mehr als dekadentes Gejaule. Und so vieles andere mehr. Die ehrgeizigen Versprechen der Genossen, vorwärts zum Kommunismus zu stürmen, fielen gerade bei Intellektuellen und Künstlern auf fruchtbaren Boden. Viele nahmen die Zeitprognosen ernst, zeigt Stefan Wolle. In manchen Fällen war das auch mit deutlicher Kritik an der realsozialistischen Wirklichkeit verbunden."Peter Hacks hat das damals in die Formel gebracht in einem Theaterstück: die Sorgen und die Macht. Er sagte, wenn ihr euch den Kommunismus vorstellen wollt, dann macht die Augen zu und stellt euch das Gegenteil von dem vor, was ihr jetzt habt. Das war ernst gemeint. Und das wollte sicherlich nicht die Mehrheit der Leute – die haben mit den Schultern gezuckt und drüber gegrinst und drüber ihre Witze gemacht. Aber es gab doch eine Menge Leute, die sagten: Okay, wir wollen es mal versuchen. Und besonders auf wirtschaftlichem Gebiet tat sich dann auch einiges."Vor allem wurde versucht, die starre Planwirtschaft zu liberalisieren, eine Art Marktwirtschaft ohne marktwirtschaftliche Strukturen zu etablieren. Beim berühmt-berüchtigten elften Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 erfolgte dann die Abrechnung mit den moderaten Wirtschaftsreformern in der Partei, gepaart mit einem beispiellosen kulturellen Kahlschlag, etwa dem Verbot der gesamten DEFA-Produktion des Jahres 1965. Bis dahin – zwei, drei Jahre lang – wurde heiter und fröhlich die Idee des sozialistischen Zeitgeistes beschworen und einem recht sonderbaren ideologischen Gemisch gehuldigt. Für Stefan Wolle äußerte sich diese Aufbruchstimmung unter anderem in dem unreflektierten Glauben an den stetigen Fortschritt von Wissenschaft und Technik, der Idee, der Kommunismus sei das teleologische Ende der Geschichte und dem propagandistisch überhöhten Kampf um den Frieden in der Welt. Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall und ein Sowjetbürger, war der große reale Held der Zeit. Der große mythische war Goethes Prometheus."Bedecke deinen Himmel Zeus mit Wolkendunst und so weiter – dieser Prometheus war immer die Symbolisierung, eine Metapher für den sich selbst erschaffenden Menschen. Das hatte eine ganz deutliche antireligiöse, atheistische Spitze. Denn auch das spielt in der DDR eine sehr große Rolle: die kirchenfeindliche atheistische Propaganda. Der Mensch erobert das Weltall. Der Mensch stürmt den Himmel. Der Mensch fliegt zu den Sternen. Das war natürlich ein Himmel ohne Gott, ein Sternenhimmel ohne Gott."Und ein Himmel, unter dem es nur ein machtpolitisches Gesetz gab: die Allmacht der Partei. Dem ersten schweren Schlag gegen alle Liberalisierungstendenzen, dem elften Plenum, folgte im Sommer 1968 der nächste: das gewaltsame Ende des Prager Frühlings. Stefan Wolle schildert dieses dramatische Ereignis als zweite große Zäsur in der Geschichte der DDR in den sechziger Jahren, als Schlusspunkt des kurzen Aufbruchs nach Utopia. Es folgte eine lähmende Zeit, voll von Apathie und Stagnation, die auch durch den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker nicht mehr überwunden werden konnte. Unter den insgesamt 1,8 Millionen Genossen der SED gab es vereinzelte kritische Köpfe. Insgesamt aber kein Potenzial, mit dem eine Rückkehr zu liberaleren Tendenzen hätte erreicht werden können. Die Parteidisziplin stand über allem, urteilt Stefan Wolle. Und damit die Diktatur."Es wird jetzt oft gesucht nach dem Anfang vom Ende der DDR. Das ist so Unsinn. Die Diktatur ist immer der Anfang vom Ende und hat keine wirkliche Basis in der Bevölkerung. Das Schlimme war nur, dass es die DDR, obwohl sie ja irgendwie die Chance hatte in den 60er-Jahren, es nie verstanden hatte, wirklich die große Mehrheit der Bevölkerung für ihre Ideen und für ihr System zu begeistern. Es war die ganzen Jahre hindurch immer ein Zwangssystem, was nur künstlich stabilisiert war, natürlich nicht zuletzt auch durch die weltpolitische Konstellation. Auch das ist ein Faktor, der nicht zu vergessen ist."Stefan Wolles Geschichte der DDR-Gesellschaft zwischen Repression und Modernisierungswut richtet sich – implizit – auch gegen eine Deutung, nach der der zweite deutsche Staat nicht mehr als eine sowjetische Satrapie gewesen sein soll. Eben diese Formel hatte der renommierte Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler im letzten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte verwendet. Machtpolitisch war die DDR natürlich nichts anderes als ein Anhängsel Moskaus. Dennoch wurde Wehlers These, dass man die Geschichte der DDR gerade deswegen auch nicht weiter ernst nehmen müsse, völlig zu Recht kritisiert.Stefan Wolles Buch ist das beste Beispiel gegen eine solche Ausblendung. Der Berliner Historiker schreibt anschaulich von den überzogenen Versuchen, den besten und modernsten Sozialismus der Welt zu errichten. Und überhaupt ist der Autor ein brillanter Erzähler. Das Buch über den Aufbruch nach Utopia ist geschickt komponiert und weder langatmig oder gar dröge. Auch wenn kein grundsätzlich neues Bild der DDR-Gesellschaft gezeichnet wird, gehört diese erfrischende Synthese von Herrschafts-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu den unverzichtbaren Büchern zum Thema. Wer sich eingehend mit der Geschichte der DDR befassen will, findet in "Aufbruch nach Utopia" einen wichtigen und ernst zu nehmenden Wegweiser. Nils Beintker über Stefan Wolle: "Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971",erschienen im Christoph Links Verlag, ISBN 3861536196, 320 Seiten, 29, 90 Euro. Stefan Wolles Bestseller und Vorgängerband "Die heile Welt der Diktatur" ist ebenfalls bei Ch. Links erschienen.
Von Niels Beintker
Stets wollte die DDR mehr als ein Anhängsel Moskaus sein und glaubte fest an den stetigen Fortschritt durch Technik und Modernisiserung. Der Berliner Historiker Stefan Wolle schreibt anschaulich über den den gescheiterten Versuch einer modernen sozialistischen Gesellschaft.
"2011-03-14T19:15:00+01:00"
"2020-02-04T02:09:48.160000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ddr-leuchtend-rot-sollte-die-zukunft-sein-100.html
873
Der Monteverdi Choir blickt zurück
Der Dirigent Sir John Eliot Gardiner beim Bachfest 2018 in Leipzig (Gert Mothes) Mit seiner jüngsten CD "Love is come again" erfüllt sich John Eliot Gardiner, Elder Statesman der britischen Alte-Musik-Szene, einen lang gehegten Wunsch. Er kehrt zurück in seine Zeit als Jungstudent, als seine Mutter ein Osterspiel für die heimatliche Dorfkirche in der Grafschaft Dorset zusammenstellte und er die Musik dafür auswählte. In fünf Szenen und einem Epilog spielte man damals Geschehnisse aus dem Neuen Testament nach, von der Kreuzigung Jesu bis zu der Erzählung, in der er nach seiner Auferstehung einigen Jüngern am See Genezareth erscheint. Die Handlung begleitete man mit meist a cappella vorgetragenen Gesängen, vornehmlich von Komponisten aus der Renaissance und dem Frühbarock wie William Byrd und Heinrich Schütz. Das musikalische Programm des "Springhead Easter Play" hat der inzwischen 75 Jahre alte John Eliot Gardiner nun mit seinem Monteverdi Choir und einigen Instrumentalisten der English Baroque Soloists für sein eigenes Label "Soli Deo Gloria" aufgenommen. Musik: Anonym/Traditional (Herefordshire), The Seven Virgins Angharad Rowlands sang das englische Volkslied, mit dem das von der Familie Gardiner organisierte Osterspiel von Springhead immer begann. Das Lied handelt vom Besuch der Jungfrau Maria beim gekreuzigten Jesus und von seinen Worten an sie. Eine Traditionslinie bis ins Mittelalter Geistliche Spiele haben eine viele Jahrhunderte zurückreichende Tradition. Sie entwickelten sich aus der christlichen Liturgie und dienten dazu, die Glaubensinhalte in dramatischer Form und für jeden leicht nachvollziehbar darzustellen. Sie fanden in der Fastenzeit, an Ostern und Weihnachten statt, ursprünglich in Latein, dann auch in der Volkssprache. Die große Zeit der Liturgischen Spiele war das Mittelalter, aber manche Nachfolger gibt es bis heute — hierzulande am berühmtesten sind die Passionsspiele in Oberammergau. Die Familie Gardiner fing mit einem weihnachtlichen Krippenspiel im heimischen Anwesen Springhead im Südwesten Englands an, 1963 kam dann ein Osterspiel hinzu. John Eliot Gardiner war damals 20 Jahre alt und Jungstudent in Cambridge — ein Jahr später gründete er dort den Monteverdi Choir. Das Osterspiel, das von Gardiners Mutter Marabel initiiert wurde, fand in der Dorfkirche von Fontmell Magna statt. Ein gemischtes Ensemble von Laien und Profi-Nachwuchssängern trug eine selbst kreierte Mischung aus Liedern, Motetten und Chorälen vor, in denen biblische Erzählungen von den Ereignissen nach der Kreuzigung Jesu vertont wurden. Dazu stellten kostümierte Nachbarn der Gardiners die Szenen pantomimisch dar. Zur Musik gehörten auch kurze Ausschnitte aus der ins Englische übertragenen "Historia der Auferstehung" von Heinrich Schütz. Den Part des Evangelisten darin übernahm in Fontmell Magna John Eliot Gardiner selbst. In der neuen Aufnahme ist es Hugo Hymas — in der nun folgenden Szene erscheint der auferstandene Jesus Maria Magdalena. Musik: Heinrich Schütz / John Eliot Gardiner, Historia der Auferstehung Jesu Christi: But Mary stood without the sepulchre weepingund Anonym/Traditional, Bless’d Mary Magdalene Am Ende des Ausschnitts aus der "Auferstehungshistorie" von Schütz erklang hier ein kurzes englisches Loblied auf Maria Magdalena aus dem 15.Jahrhundert. Die beiden Stücke aus unterschiedlichen Epochen harmonieren wunderbar. Und dies demonstriert die Sorgfalt, mit der John Eliot Gardiner und seine Mutter das "Springhead Easter Play" zusammenstellten. Marabel Gardiner, deren Andenken die neue CD "Love is come again" gewidmet ist, war eine Kunsthistorikerin, die 1933 mit ihrem Mann Rolf in die ehemalige Mühle Springhead zog. Die beiden waren Pioniere der Bio-Landwirtschaft mit ganzheitlichem Ansatz, waren kirchlich engagiert und interessierten sich für Musik und Philosophie — mit einem gewissen Hang zum Esoterischen. Die Leidenschaft einer nonkonformistischen Familie Marabel Gardiner führte sorgfältig und mit großer Begeisterung Regie im Osterspiel von Springhead, das bis 1984 gut 20 Jahre lang stattfand. Nach Aussage ihres Sohnes zeichnete sich ihr Theaterstil durch eine "würdevolle, ritual-artige Reinheit" aus, was sich in ihrer Inszenierung von Geistlichen Spielen in "einer bewegenden Mischung aus feierlichen, stilisierten und naiven Elementen" niederschlug. Musik: William Byrd / John Eliot Gardiner, Alleluia. And it came to pass (Motette) "Und es geschah, als Jesus mit ihnen am Tisch saß", so beginnt die von John Eliot Gardiner ins Englische übersetzte Motette "Cognoverunt discipuli Dominum" von William Byrd. Sie bezieht sich auf die Erscheinung Jesu bei seinen Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, wie sie im Lukasevangelium geschildert ist. Das musikalische Tableau, das den Inhalt der szenischen Bilder des Osterspiels von Springhead vermittelt, ist sehr vielfältig. Die durchgehend geistlichen Stücke stammen vor allem aus England, aber auch aus Frankreich, Italien und Deutschland. Dank diverser Übertragungen ins Englische bleibt der sprachliche Gesamteindruck dennoch recht einheitlich. Hinzugefügte Klangpracht Beim Aspekt der Instrumentalbegleitung unterscheidet sich die Neu-Realisation von den Wochenenden in der Grafschaft Dorset vor drei bis fünf Jahrzehnten, als nur Orgel und Cello zur Generalbassbegleitung genutzt wurden. Auf der CD wird die große Mehrzahl der Kompositionen vom Monteverdi Choir a cappella vorgetragen. Bei den Ausschnitten aus der "Auferstehungshistorie" von Heinrich Schütz wirken ein Gambenconsort und eine Laute mit, bei einigen anderen Stücken sind Continuo-Instrumente dabei. Nur an zwei Stellen ließ sich John Eliot Gardiner die Gelegenheit nicht entgehen, mit den Bläsern seiner English Baroque Soloists etwas mehr Pracht zu entfalten. Insbesondere bei der Osterkomposition "Surrexit pastor bonus—Auferstanden ist der gute Hirte" vom Venezianer Giovanni Gabrieli an vorletzter Stelle der Platte ist die Wirkung enorm. Musik: Giovanni Gabrieli, Surrexit pastor bonus (Motette) Mit seiner neuen CD "Love is come again—Die Liebe ist wieder da" hat sich John Eliot Gardiner nicht nur einen Herzenswunsch erfüllt. Das Programm mit Musik zum Osterspiel von Springhead, das vor 35 Jahren zum letzten Male stattfand, überzeugt von sich aus mit einer geglückten Abfolge von besinnlichen und dramatisch-intensiven Stücken, wobei fließende Motetten aus der Renaissance den Kern bilden. (Ein paar thematisch passende Stücke, die nicht in Springhead erklangen, ergänzen die Aufnahme.) Der zwei Dutzend Sängerinnen und Sänger starke Monteverdi Choir singt in der von ihm gewohnten und typisch englischen Weise: sehr intonationssicher, homogen und schnörkellos. Auch die Solisten aus dem Chor, die in mehreren Stücken zum Einsatz kommen, lösen ihre Aufgabe bestens. Die klanglich exzellente Aufnahme entstand in der Saffron Hall etwa 60 Kilometer nördlich von London, einem noch nicht sechs Jahre alten, akustisch vorzüglichen mittelgroßen Konzertsaal. Booklet gibt nostalgische Einblicke Einen bemerkenswerten Kontrast zum "modernen" Klang auf der CD bilden die nostalgisch angehauchten Fotos aus den 1960er und 80er Jahren im Booklet, die einen guten Eindruck von der Atmosphäre bei den "Springhead Easter Plays" vermitteln. Das Osterspiel endete immer mit einem Kanon, den der Komponist John Linton Gardner auf der Basis einer anonymen Vertonung des "Psalm 115" schuf, "Non nobis, Domine—Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre". Während der Kanon gesungen wurde, verließen die Mitwirkenden prozessionsartig die Kirche. John Eliot Gardiner, so ist es im Booklet zu lesen, will mit dem Programm dieser CD "in diesen aufgewühlten Zeiten einen Augenblick der Besinnung" bieten. Musik: Anonym / John Linton Gardner, Non nobis, Domine (Ps. 115) Love is come againMusic for the Springhead Easter PlayWerke von Gesualdo, Cornysh, Taverner, Morley, Schütz, Rheinberger, Byrd, Tallis, Gabrieli u.a.Monteverdi ChoirEnglish Baroque SoloistsLeitung: John Eliot GardinerSoli Deo Gloria SDG731
Am Mikrofon: Rainer Baumgärtner
John Eliot Gardiners Familie besitzt ein Anwesen im Süden von England, in dem auch Konzerte veranstaltet wurden. Das Osterspiel, das in "Springhead" 1963 ins Leben gerufen wurde, erscheint jetzt beim eigenen Label SDG und präsentiert geistliche Musik aus Renaissance und Barock.
"2019-03-31T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:38:53.942000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alte-musik-fuer-die-osterzeit-der-monteverdi-choir-blickt-100.html
874
"Mental bin ich viel stärker geworden"
Angelique Kerber sieht in ihrer mentalen Stärke den Schlüssel zum Erfolg. (DPA / Picture Alliance / CJ Gunther) Marina Schweizer: Sie haben selbst gesagt: Ein Traum, oder viele Träume sind wahr geworden in den vergangenen Wochen. Da stellt sich natürlich die Frage, was für Sie jetzt eigentlich noch kommen kann. Sie haben sich Ihr ganzes Leben lang Ziele gesetzt. Angelique Kerber: …und alle Ziele sind bisher in Erfüllung gekommen. Ich habe meine Grand Slams gewonnen, ich habe jetzt die Nummer eins erreicht, aber es gibt natürlich noch einige Ziele, die ich auch nächstes Jahr erreichen möchte. Es gibt ja noch zwei andere Grand Slams, die ich noch nicht gewonnen habe, und ich möchte so lange wie möglich dort oben auf der Nummer eins bleiben. Also das wird auf jeden Fall eine Challenge, die ich gerne annehme, und die Herausforderung wird nicht einfach, aber ich freu mich auf jeden Fall auf alles, was jetzt noch kommt. "Ich habe immer an mich geglaubt" Schweizer: Es wurde viel über das Mentale gesprochen. Es ist ja auch eine mentale Sache, diese Geschichte mit den Zielen. Würden Sie sagen, dass die mentale Stärke, so wie Sie sich zum Beispiel im zweiten Satz bei den US Open präsentiert haben, dass das mittlerweile das ist, was ihr bester Punkt ist? Kerber: Auf jeden Fall, also mental bin ich viel stärker geworden als noch vor einigen Monaten, und das war auch der Schlüssel in dem Finale jetzt in New York. Also, ich habe immer an mich geglaubt. Ich kämpfe bis zum Schluss, und ich weiß, dass ich auf meine Stärken vertrauen kann. Und das ist das, dass ich auch viel positiver jetzt bin und nicht mehr so viele negative Emotionen auf dem Platz zeige, was mir auch jetzt geholfen hat, so ein unglaubliches Jahr hinzulegen. "Ich weiß, dass ich noch auf jeden Fall an meiner Leistung arbeiten kann" Schweizer: Jetzt wird in der Presse immer wieder geschrieben: Sie hat die beste Kombination aus allem, aber nicht so den einen Schlag, den vielleicht Steffi Graf hatte, der so besonders ist. Nervt Sie das? Und was antworten Sie darauf? Kerber: Es nervt mich nicht, aber ich bin froh, dass ich so bin, wie ich bin. Weil mit dieser Stärke und mit diesem Talent und mit dieser Leistung bin ich an die Weltspitze gekommen. Und ich weiß, dass ich noch auf jeden Fall an meiner Leistung arbeiten kann. Es wäre schlimm, wenn nicht. Deshalb ist es für mich eigentlich gar nicht so die Frage, dass ich irgendeinen unglaublichen Schlag haben muss, sondern ich kann alles ganz gut. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Angelique Kerber im Gespräch mit Marina Schweizer
Seit kurzer Zeit ist sie die beste Tennisspielerin der Welt, aber Angelique Kerber hat schon neue Ziele. Im DLF sagte sie, der Schlüssel zum Erfolg sei die mentale Stärke gewesen. Und es macht ihr auch nichts, dass sie vielleicht nicht den einen unglaublichen Schlag hat wie Steffi Graf: "Ich kann alles ganz gut."
"2016-09-13T22:55:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:17.888000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/angelique-kerber-mental-bin-ich-viel-staerker-geworden-100.html
875
Raus aus der spirituellen Wüste
Und der HERR zog vor ihnen her, des Tages in einer Wolkensäule, dass er sie des rechten Weges führte, und des Nachts in einer Feuersäule, dass er ihnen leuchtete zu Reisen Tag und Nacht. [2. Mose 13, 21] Dieses urbiblische Motiv ist heute das Leitbild eines Angebotes der Evangelischen Kirche, das immer mehr an Bedeutung gewinnt: Die Geistliche Begleitung. Eine Urgestalt der Seelsorge, wie Astrid Giebel sagt, Theologin im Vorstandsbüro der Diakonie Deutschland. "Gott erleben wir oft als verborgenen Gott. Der geredet hat in früheren Zeiten, das haben Menschen aufgeschrieben, daraus ist die Bibel entstanden. Aber sie erleben es manchmal nicht in ihrem eigenen Leben, im Alltag, in Fragen, die sie beschäftigen." Geistliche Beziehungsarbeit Im Unterschied zur klassischen Seelsorge, wo der Ratsuchende mit seinen ganz persönlichen Sorgen und Nöten im Mittelpunkt steht, gehe es bei der geistlichen Begleitung um die Vertiefung der Gottesbeziehung. "Vielleicht ist das ähnlich wie bei unserer katholischen Schwesterkirche, dass diese geistliche Trockenheit gespürt wird. Dass die Einzelnen in ihrem Glaubensleben ein bisschen Wüste erleben. Oder dass sie auch in ihrer Kirchengemeinde das als Wüste erleben. Dass der Nachwuchs ausbleibt, dass die Gottesdienste jetzt nicht brummen und gut besucht sind und dass sie für sich selber einfach neu nach Orten, nach Quellen suchen, wo das Ursprüngliche, das Lebendige am christlichen Glauben wieder emporquillt sozusagen." Tatsächlich geht die Krise der Kirchen als Institution, die dramatisch an Mitgliedern verlieren, auch an den evangelischen Christen nicht vorbei. Wo ist Gott in dieser Welt, fragen sich manche Christen, die mit den althergebrachten, institutionalisierten und starren Formen des kirchlichen Alltags nicht selten ihre Schwierigkeiten haben. Mirjam Appel: "Es ist tatsächlich so, dass mir in den letzten Jahren Schweigen, meditative Vertiefung, Gebet, aber auch Gesänge immer wichtiger geworden sind. Vieles, was ich so im traditionellen Gottesdienst nicht automatisch finde. Und damit ich mich tatsächlich auch in kleineren Gemeinschaften, die viel meditieren, die viel schweigen und vielleicht nicht so wortlastig sind, wie vielleicht oft die Gemeinde oder ein Sonntagsgottesdienst ist, mich tatsächlich wohler fühle." Seelsorge und Meditation Einen solchen Ort hat Mirjam Appel, die bei Brot für die Welt arbeitet, im Berliner Stadtkloster gefunden. In diesem evangelischen Backsteinbau an der Schönhauser Allee erlebte sie Gottesdienste, die etwas mehr Raum lassen für eigene Gedanken. Die Angebote des Stadtklosters finden viel Anklang. Es gibt die Möglichkeit von Seelsorge und Meditation. Viel Wert wird auf Musik und Gesang gesetzt. Inzwischen macht Appel selbst eine Ausbildung zur geistlichen Begleiterin. "Weil ich Menschen, ohne es vielleicht so genannt zu haben, ja schon geistlich begleitet habe. Also wirklich Menschen, die in einer spirituellen Krise waren, die etwas sehr Schlimmes erlebt haben und jemanden brauchten, um darüber zu reden, aber auch zum Beten. Und ich hatte dann gedacht, als ich dieses Angebot gesehen habe, das wäre doch etwas, um noch Werkzeug an die Hand zu bekommen." Eine Geistliche Begleitung trägt ganz unterschiedliche Elemente in sich. Es ist zunächst ein Gespräch zwischen Begleiter und Begleiteten. Es geht um Glaubensfragen, um spirituelle Praxis. Viel Raum wird der Stille eingeräumt, dem Gebet. Wie lang der Prozess einer geistlichen Begleitung läuft, ist dabei individuell. Eine Begleitung kann einige wenige Male stattfinden oder sich über ein Jahr hinziehen. Matthias Linke ist Pastor der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde im Berliner Szenebezirk Bergmannkiez. Er hat sich ausbilden lassen zum Geistlichen Begleiter. "Der Begleitungssuchende, er bringt seine Themen mit, er stellt seine Fragen und darauf geht der geistliche Begleiter angemessen ein, indem er dem Begleitsuchenden das Wort, die Auswahl der Thematik überlässt und immer wieder versucht, wo Gott ins Spiel gebracht werden kann. Durch Rückgriff auf persönliche Erfahrung in der Vergangenheit und Gegenwart. Dass man einfach auch Stille einbaut und sagt, wir sind jetzt mal still und gucken, was passiert und was da hochkommt." Einige Male im Jahr trifft sich Pastor Linke für einen halben Samstag mit einer kleinen Gruppe im Kloster Lehnin. Aus der Bibel wird ein bestimmter Text gemeinsam gelesen, man tauscht sich darüber aus. Auch für Astrid Giebel ist das Kloster westlich von Berlin ein wichtiger Rückzugsort: "Dass ich zur Ruhe kommen kann, da sind Räume, wo ich tatsächlich Erfahrung mit Gott mache." Wiederentdeckte Tradition Als im Jahr 2013 im Raum der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz die Ausbildung erstmals angeboten wurde, war das, genau genommen, die Wiederentdeckung einer verschütteten Tradition. Die katholische Kirche kennt es von jeher. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben auch in der evangelischen Kirche nach und nach kommunitäre Formen und klösterliches Leben neuen Raum gefunden. Alte geistliche Traditionen, an die man anknüpfen konnte. Schon Martin Luther habe schließlich in Johann von Staupitz einen geistlichen Begleiter gehabt, sagt Andrea Richter, Landespfarrerin für Spiritualität. Der Reformator habe auch ganz klar in der mystischen Tradition gestanden und davon gesprochen, dass Gott im Herzen des Menschen lebendig sei. Richter: "Das ist ja eigentlich der Wesenskern der reformatorischen Entdeckung, dass da keine Kirche dazwischen passt und kein Ablasshandel dazwischen muss. Sondern dass Luther ganz klar sagt, also Gott ist ein ganzer Backofen voller Liebe und Gott ist mir näher als meine eigene Halsschlagader. Und dass das etwas ist, diese Innerlichkeit, diese Unmittelbarkeit, die er für sich neu entdeckt hat." Die Suche nach Innerlichkeit, nach Rückzug aus einer Welt der permanenten Überforderung und Lautstärke, die Suche nach Besinnung, Achtsamkeit, all das sind Elemente, die viele Menschen in den westlichen Gesellschaften in fernöstlichen Spiritualitätsformen finden. Andrea Richter weiß um die Parallelen und doch sieht sie in der christlichen Form der Innerlichkeit noch ein anderes Motiv. Es gehe nicht um Weltvergessenheit oder Weltabgewandtheit. Im Gegenteil. "Ora et labora bei den Benediktinern. Kontemplation und die Weltverantwortung. Das Beten und das Tun des Gerechten bei Martin Buber. Bei Dorothee Sölle, der feministischen Theologin, ist es das Begriffspaar der Mystik und des Widerstandes. Also eine Spiritualität, eine Mystik, ein geistlicher Weg, der nicht immer wieder an der Seite der Armen, der Geschändeten, der notleidenden Welt und der Kreatur auftaucht, wird in der christlichen Tradition ganz klar als ein Holzweg beschrieben. Mystik ist nicht dazu da, dass ich mich dauerhaft in mich selbst und in Gott versenke. Sondern es ist wie das Einatmen und das Ausatmen. Die Systole und Diastole. Das gehört zusammen." In diesem Sinne, so Richter, sei die Reformation im Grunde die Wiederentdeckung der verschütteten, auf den biblischen Quellen basierenden mystischen Tradition, die wiederum in der Folge der Reformation nicht in dem Maße zum Tragen gekommen sei, wie Luther es gewollt hätte. Die Evangelische Kirche werde mit Elementen wie der geistlichen Begleitung ein Stück frommer, spiritueller, ist sich Richter sicher. "Wir werden mit der geistlichen Begleitung nicht neukatholisch, sondern aufs Neue biblisch. Also wir gründen uns in der geistlichen, spirituellen Schrifttradition, die vom ersten Buchstaben an da ist, die sich in der Kabbala entfaltet hat. Also das ist keine Re-Katholisierung, sondern das ist, 'sola scriptura', ein neu sich gründen im göttlichen Wort." Bislang sind in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz mehr als 50 Geistliche Begleiter ausgebildet worden. Als Andrea Richter vor mehr als sieben Jahren ihr Amt als Spiritualitätsbeauftragte antrat, war das mit dem ausdrücklichen Wunsch der Landeskirche verbunden, dies in die Ausbildungsstrukturen zu implementieren. Stärkere Formen der Spiritualität wurden lange beargwöhnt und für viele Gemeindemitglieder ist diese urchristliche Tradition, die ihre Wurzeln im Judentum hat, noch unbekanntes Terrain. Die Ausbildungskurse finden unter anderem im Kloster Lehnin und im katholischen Kloster Birkenwerder statt - und das aus gutem Grund, denn die geistliche Begleitung ist auch ein Ausdruck gelebter Ökumene. Andrea Richter leitet ihren Kurs gemeinsam mit Pater Reinhard. Für sie ist das Konzept der geistlichen Begleitung zukunftsweisend.
Von Carsten Dippel
Die evangelische Kirche werde in Deutschland zum verlängerten Arm politischer Parteien, sagen Kritiker. Aber es gibt auch einen anderen Trend: Evangelische Christen setzen immer mehr auf "geistliche Begleitung". Werden sie frommer? Oder lassen sich Politik und Gebet nicht trennen?
"2019-10-30T09:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:16:50.836000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geistliche-begleitung-in-evangelischer-kirche-raus-aus-der-100.html
876
Rechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse
Buchmessendirektor Juergen Boos verteidigt die Präsenz von rechten Verlagen in Frankfurt am Main. (picture alliance / dpa / Arne Dedert) Mitwirkende: Christian Rabhansel, Literatur-Redakteur Deutschlandfunk Kultur Florian Kellermann, Russland-Korrespondent des Deutschlandradio
Von Barbara Schmidt-Mattern
"Reconnect" lautet das Motto der diesjährigen Frankfurter Buchmesse – dabei driftet gerade gehörig etwas auseinander. Unter anderem die schwarze Autorin Jasmina Kuhnke hat ihre Teilnahme abgesagt. Der Grund: Eine Diskussionsrunde mit ihr sollte direkt neben dem Stand eines rechten Verlags stattfinden. Und: Die Afghanistan Konferenz in Moskau: Welche Motive hat der Kreml?
"2021-10-20T17:00:00+02:00"
"2021-10-27T11:29:31.526000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-rechte-verlage-auf-der-frankfurter-buchmesse-100.html
877
Wie raffiniert die DDR Privatsammlungen plünderte
Viele der von der Stasi kassierten Kunstwerke sind bis heute verschollen. (picture alliance / Daniel Kalker ) Schon in den 1960er-Jahren litt die DDR unter chronischer Devisenknappheit. Kunstwerke und Antiquitäten erzielten im Westen gute Preise, also plünderte die Stasi nicht nur Museen, sondern spionierte auch wertvolle Sammlungen in Privatbesitz aus und kassierte die Werke ein, um sie zu verhökern. Der Kunstraub von Staats wegen spülte jährlich etwa zehn Millionen D-Mark in die klammen Kassen, schätzt der Berliner Rechtsanwalt Ulf Bischof: "Es gab schon in den 70er-Jahren eine eigene Abteilung innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit, die sich um diese Sammler, um Kulturgut, kümmerte, und auch inoffizielle Mitarbeiter an den richtigen Stellen platzierte, um herauszufinden, wo es solche Objekte gab, und die dann auch im Zusammenwirken mit den Steuerbehörden, man sprach sich dann ab, die Kunstsammlungen übernahm und exportierte. Da gab es eine eigene Abteilung innerhalb der Stasi, die das machte." Sammler landeten im Gefängnis oder in der Psychiatrie Die Steuerbehörden waren wichtig für den auch nach damaligen DDR-Gesetzen illegalen Kunstentzug, erklärt Ulf Bischof. Der Anwalt hat über den Kunstraub in der DDR nicht nur ein 500 Seiten dickes Buch geschrieben, er vertritt auch einige der Erben der schätzungsweise 200 Beraubten: "Man hat ihnen dann vorgeworfen, dem Staat Steuern zu schulden, also Steuerforderungen zu Unrecht kreiert, und hat dann an Zahlungs statt, weil diese Summen nicht aufgebracht werden konnten, die Kunstgegenstände übernommen." Wenn die Sammler aufmuckten, wurden sie zudem noch inhaftiert oder landeten in der Psychiatrie, berichtet Bischof. Wie Helmuth Meissner aus Dresden, dessen Sammlung Anfang der 80er-Jahre dem Stasi-Offizier Schalck-Golodkowski in die Hände fiel – und dessen Abteilung "Kommerzielle Koordinierung" im Außenhandel der DDR. Gemälde, wertvolles Porzellan, antike Möbel, seltene Glasarbeiten und Münzen landeten in geheimen Lagerhallen, zum Beispiel in Mühlenbeck im Norden von Berlin. Die "Kunst und Antiquitäten GmbH" verkaufte sie dann über Strohmänner und Scheinfirmen an Händler und Auktionshäuser aus dem Westen. Die standen Schlange nach den Schnäppchen aus dem Osten – und waren an der Herkunft der Kunstwerke nicht allzu interessiert. Ulf Bischof: "Ich meine auch, dass man sich die Frage hat stellen müssen, wo diese Dinge herkommen. Und wer die Frage nicht laut gestellt hat, der wollte die Antwort nicht wissen." Verbleib der allermeisten illegal beschlagnahmten Kunstschätze ist unbekannt "Ich will da gar nicht auf Einzelne mit dem Finger zeigen, aber jetzt nach der Wende gibt's gar nichts: Man muss Transparenz herstellen. Und das heißt, man muss einfach die Dinge aufklären", fordert Isabel Pfeiffer-Poensgen, die Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder. Das wird schwierig, denn die Sammlungen sind damals in alle Winde und viele Länder verstreut worden. Das bedeutet juristische Schwierigkeiten, und außerdem steht die Frage der Verjährung im Raum. Eines der wertvollsten Öl-Gemälde aus der Sammlung Meissner beispielsweise hängt einem Bericht der "Neuen Züricher Zeitung" zu Folge heute in New York. Das Stillleben mit vier Kastanien von Adriaen Coorte aus dem Jahr 1705 gelangte dorthin über eine Auktion bei Christie's in Amsterdam. Die Erben des New Yorker Käufers weigern sich, das Bild heraus zu geben. Doch der Verbleib der allermeisten illegal beschlagnahmten Kunstschätze ist bislang unbekannt. 25 Jahre nach dem Mauerfall steht die Provenienzforschung der DDR-Raubkunst noch ganz am Anfang, bedauert Isabel Pfeiffer-Poensgen: "Das Problembewusstsein ist jetzt inzwischen, ich sage jetzt mal ironisch, auch dank Gurlitt, was die Nazi-Zeit und die Nazi-Enteignungen anging, vielleicht mehr da. Was dieses ganze Thema der DDR-Enteignungen angeht, glaube ich, ist das im Westen überhaupt nicht im Bewusstsein. Und deswegen ist es wohl höchste Eisenbahn, das auch mal einfach offenzulegen." Galerien, Aktionshäuser und Museen müssten ihre Archive öffnen Und falls möglich den Erben der rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben oder sie zu entschädigen. Dafür müssten Galerien und Auktionshäuser ebenso wie die Museen im Falle der NS-Raubkunst ihre Archive öffnen, fordert die Chefin der Länder-Kulturstiftung. Für die Sammler sei es eine Katastrophe gewesen, betont der Anwalt Ulf Bischof, wenn die Stasi morgens an die Tür hämmerte, die Kunstgegenstände einpackte und auf der Straße schon die LKW für den Abtransport parkten: "Wie das ja heute und auch zu allen Zeiten schon immer so gewesen ist, haben die Sammler oft über Jahrzehnte ihre Objekte zusammengetragen und haben auch wirklich daran gehangen und gerade vielleicht in der ehemaligen DDR, wo vielleicht das Umfeld auch ein bisschen grauer war, auch als Rückzugsort ihre Sammlungen verstanden. Das war für die Betroffenen also sehr, sehr dramatisch."
Von Vanja Budde
Etwa zehn Millionen D-Mark spülte der Kunstraub jährlich in die klammen Kassen der DDR. Dabei plünderte die Stasi nicht nur Museen, sondern auch Privatsammlungen. Doch nun ist Bewegung in die Aufarbeitung des systematischen Kunstraubs in der DDR gekommen - dabei geht es auch um die rund 200 Beraubten und ihre Erben.
"2015-05-05T17:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:35:22.910000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kunstraub-wie-raffiniert-die-ddr-privatsammlungen-pluenderte-100.html
878
"Die Besatzung muss enden"
Die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser (dpa/picture alliance/Horst Galuschka) Sumaya Farhat-Naser: Guten Morgen, Frau Heuer! Heuer: Was hören Sie aus Gaza? Farhat-Naser: Ich höre nur Schreckliches, ich sehe nur Schreckliches und habe große Ängste, dass das weitergeht. Leider ist es unvorstellbar, was geschieht. So was haben wir nie erlebt. Anscheinend sind die Toten noch zu wenig, um eine Intervention von außen zuzulassen. Und das tut so weh. Es ist nicht nur eine Intifada, es ist ein Krieg, ein Krieg, was sich seit sechs Jahren alle zwei Jahre sich wiederholt, und von Mal zu Mal ist es brutaler, ist schmerzlicher, und diesmal anscheinend es geht um Leben und Tod für viele Menschen. Heuer: Es gibt neue Anläufe, auch ganz aktuell, einen Frieden zu vermitteln. Ägypten macht offenbar einen neuen Versuch. Was müsste Kairo vorschlagen, damit die Palästinenser ernsthaft verhandeln können und wollen? Farhat-Naser: Kairo und die ganze Welt muss wissen: Die Besatzung muss enden. Die Palästinenser haben gesehen: Jedes Mal gibt es einen Waffenstillstand, eine Beruhigung - und dann bleibt das Alte beim Alten. Warum gibt es einen Kampf zwischen Palästina und Israel? Weil die Israelis Besatzer sind, die Menschen unterdrücken, die Lebensräume eingrenzen - und wir brauchen Freiheit, wir brauchen Souveränität und Unabhängigkeit. Also so lange die Besatzung da ist, wird es niemals Sicherheit geben, weder für Israel, noch für Palästina. Kairo leider, mit dem politischen System von heute, ist in Feindseligkeit mit Hamas als politische Partei, und deshalb haben sie bis jetzt gezögert. Man muss all diese Feindseligkeiten beiseite tun. Es geht um die Menschen. Im Gaza leben 1,8 Millionen Menschen. Über die Hälfte sind unter 16 Jahren. Man kann nicht Gaza bombardieren, Menschen töten und sagen: Jetzt wollen wir die Rücken der Hamas und der anderen Kämpfer brechen. Mit Brechen, mit Töten schaffen wir keine politische Lösung. Wir brauchen eine politische Lösung. Heuer: Aber, Frau ... Farhat-Naser: Es muss sofort Waffenstillstand sein. Es müssen alle die Waffen niederlegen. Es muss Garantien geben, dass die Belagerung von Gaza aufhört, dass Flughafen aufgemacht wird, dass Verhandlungen wirklich in Richtung Freiheit und Ende der Besatzung müssen stattfinden. "Die Sache glitscht aus den Händen" Heuer: Frau Farhat-Naser, diesen Frieden und diese sofortige Waffenruhe, das werden sicher die allermeisten Menschen auf der Welt unterschreiben, dass sie das auch wollen. Die Frage ist aber doch auch, ob die Hamas wirklich Frieden mit Israel will. Ich spreche jetzt nicht über die Zivilisten in Gaza, die Opfer dieser Angriffe werden - und das sind schreckliche Bilder, die wir jeden Tag sehen -, aber was ist mit der Hamas? Sie schießt weiter Raketen auf Israel. Farhat-Naser: Ja, Hamas schickt Raketen auf Israel. Hamas hat mehrere Male gesagt: Wir sind bereit, Israel anzuerkennen und in Gespräche zu kommen, wenn Israel auch uns anerkennt und die Besatzung wird zu Ende gehen. Also ich bin nicht verteidigen auf Hamas, auf keinen Fall. Aber es ist nicht ein Konflikt, weil Hamas Raketen schickt und Israel tötet zurück. Das ist nicht so. Heuer: Aber, Frau Farhat-Naser, die Hamas bleibt bei ihrer Gründungscharta zum Beispiel, in der die Zerstörung Israels und die Ermordung von Juden als Ziel genannt wird. Wie kann man da von Israel erwarten, dass es mit der Hamas Frieden schließt und der Hamas auch glaubt? Farhat-Naser: Also zunächst einmal: Es stand auch so in der PLO-Charta. Das haben wir geschafft, dass es weg ist, weil ein Entgegenkommen da war und man hat sich geeinigt: Nur durch Verhandlungen wollen wir das erreichen. Über 20 Jahre hat man verhandelt - es kam nichts raus. Und das ist die Reaktion beziehungsweise die Folge, dass die Hamas-Leute sagen: Erst sagen wir ja zu Verhandlungen der Anerkennung Israels, wenn Israel auch sagt: Wir wollen mit Hamas - Hamas ist nur eine politische Partei -, mit Hamas kämpfen in Gaza für andere Bewegungen. Und selbst, wenn Israel es schafft, Hamas und die anderen, die jetzt in Gaza leben und kämpfen, ich meine kämpfen, die Kämpfer zu zerstören - in zehn Jahren haben wir andere, ganz fanatische Gruppierungen, die Israel mit Sicherheit töten wollen, und das ist zum Beispiel (unverständlich) wie wir es sehen in Irak und Syrien und so weiter. Die Sache glitscht aus den Händen. Israel darf nicht weiter eine Politik machen, die denken, mit Gewalt können sie ihre Politik durchsetzen. Nur mit Frieden kann man eine Sicherheit schließen. Und wenn Israel sagt jetzt, Schluss, wir schauen, wir werden über Ende der Besatzung, über Freiheit und so weiter ... Guck mal, in der Westbank haben wir es geschafft, dass hier keine Kampfhandlungen stattfinden. Heuer: So, aber Frau Farhat-Naser, in der Westbank hat es die Fatah geschafft. Wäre es denn eine Lösung, ... Farhat-Naser: Ich weiß, aber... "Hamas akzeptieren als Teil dieser Regierung" Heuer: Aber jetzt im Moment ist das Problem ja erst mal Gaza, übers Westjordanland möchte ich gleich noch kurz mit Ihnen sprechen. Aber wäre es nicht eine Lösung für Gaza, wenn die Fatah die Kontrolle über Gaza übernimmt? Würde das nicht einen Frieden erleichtern mit Israel? Die Fatah und die Hamas sind ja in einer Einheitsregierung. Insofern könnte die Fatah ja auch die wichtigere Rolle spielen vielleicht. Farhat-Naser: Ja, das wäre ... Aber man kann es nicht, auch nicht mit Gewalt machen. Man muss auf die Forderung der Hamas auch eingehen. Und natürlich - diese Linie wäre gut. Aber jetzt ist es fast zu spät. Und deshalb müssen wir etwas anderes machen. Man muss Hamas akzeptieren als Teil dieser Regierung, als mitbestimmend, und Wege finden, wie man auf sie wirken kann. Heuer: Aber kann nicht vor allen Dingen die Fatah auf die Hamas einwirken? Ist das nicht vor allen Dingen eine Sache der Fatah? Farhat-Naser: Ja, aber Fatah hat gescheitert, was Verhandlungen angeht, und deshalb sind sie zu schwach. Sie sind gut, sie wollen, aber sie sind zu schwach. Und deshalb wir wissen ganz genau, dass dieser Krieg auch so regional verwickelt ist. Und leider müssen dann andere Gruppierungen, andere Länder mitwirken, die Einfluss auf Hamas haben. Und das sehen wir auch in den Verhandlungen, die jetzt stattfinden, hoffend, es wird eine Lösung kommen. Iran ist ganz tief drin in der Sache, Katar auch tief drin, Saudi-Arabien ist tief drin. Heuer: Ob diese Staaten das besser machen, ist aber sehr fraglich. Farhat-Naser: Wie bitte? Heuer: Ob gerade diese Staaten die Lage verbessern, ist sehr fraglich. Farhat-Naser: Nein, es geht nicht um verbessern, es geht um Macht ausüben, damit dieser Krieg aufhört, damit keine Waffen geliefert werden, damit kein Geld zur Verfügung gestellt wird. Das meine ich. Aber eigentlich - es muss von uns aus, von ... Wir Palästinenser müssen wir zueinander finden. Es war ein sehr guter Schritt, dass wir eine Einheitsregierung haben, dass Hamas-Leute in der Regierung sind. Das sind gute Leute, und darauf müssen wir bauen. Aber dieser Krieg hat nicht die Chance gegeben, dass es sich entwickelt in Richtung Weiterwirkung von der Fatah-Linie auch auf den Gazastreifen. Westjordanland: "Die Stimmung ist sehr schwer" Heuer: Wir schauen immer auf Gaza. Sie selbst haben das Westjordanland, wo wir Sie ja auch erreichen, gerade angesprochen. Wie ist die Stimmung dort? Farhat-Naser: Es ist katastrophal. Wir haben vorgestern zuletzt mit einer Freundin des (unverständlich) gesprochen, die hier studiert hat, und sie sagt, sie rennen von einem Haus zum anderen mit ihren Kindern, und jetzt ist die Lage noch schlimmer, weil das Wasser ... Es gibt kaum Wasser, das Elektrizitätswerk ist bombardiert worden, deshalb können wir auch nicht... Heuer: Im Westjordanland? Farhat-Naser: Nein, in Gaza. Heuer: Ich fragte nach dem Westjordanland. Wie ist die Stimmung dort? Farhat-Naser: Die Stimmung ist auch sehr, sehr schwer. Die Leute sind vor allem ... abends, gehen auf die Straße und wollen protestieren, sie gehen überall hin, wo Begegnungsmöglichkeiten mit israelischen Soldaten sind, um dort Steine zu werfen und zu rufen, zu protestieren. Die Menschen sind dabei, zu sammeln - an Kleidung, an Decken, an Bettwäsche. Überall sind (unverständlich) überall sind volontäre Leute, die all das machen. Und vor allem, gestern wurde von überall vom Minarett aufgerufen: Jede Familie soll mindestens zehn Flaschen Wasser spenden, die Leute haben kein Wasser in Gaza und so weiter. Viele Leute gehen zum Krankenhaus, um Blut zu spenden, damit es nach Gaza geht. Und es ist wirklich ... wie ein Kessel, was kocht. Viele Menschen haben ihre Leute, viele Leute sagen, wir sind demnächst dran, die Angst ist sehr groß, dass es ausbreitet bei uns. Und wir sehen leider, dass das Leben der Menschen nicht mehr zählt, und deshalb - die Angst ist sehr groß, dass es auch bei uns ausbricht. "Die Angst ist groß" Heuer: Frau Farhat-Naser, ganz kurz zum Schluss, wirklich nur noch 20 Sekunden: Wenn Sie sagen, das ist wie ein Kessel, der kocht - wie groß ist die Gefahr einer dritten Intifada? Farhat-Naser: Es wird nicht eine Intifada sein, es wird ein Krieg sein. Intifada ist immer verbunden mit gewaltlosen Mitteln, was die erste war, die zweite war schwieriger, aber wenn es jetzt kommt, dann ist es noch brutaler, und die Angst ist groß, die Angst ist groß, dass auch gegen die politische Richtung von Mahmud Abbas angegangen wird und das wäre noch mal eine Katastrophe. Heuer: Sumaya Farhat-Naser, palästinensische Friedensaktivistin. Vielen Dank, Frau Farhat-Naser, für das Gespräch, zu dem Sie sich sehr schnell bereit erklärt haben heute früh. Einen guten Tag! Farhat-Naser: Ja, danke! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sumaya Farhat-Naser im Gespräch mit Christine Heuer
Die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser fordert eine sofortige Waffenruhe im Gaza-Konflikt sowie die Aufnahme von Verhandlungen über ein Ende der israelischen Besatzung des Gazastreifens. "Wir brauchen eine politische Lösung," sagte sie im Deutschlandfunk.
"2014-07-31T07:15:00+02:00"
"2020-01-31T13:55:33.335000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gaza-krieg-die-besatzung-muss-enden-100.html
879
"Die USA haben alles viel gefährlicher gemacht"
"Das Iran-Nuklearabkommen war ein Lichtblick. Dass das durch die USA aufgekündigt wurde, das war ein Riesenfehler", sagt der Linken-Politiker Stefan Liebich. (imago stock&people) Stefan Heinlein: Vor exakt einem Jahr, am 8. Mai 2018 kündigte Donald Trump das Atomabkommen mit dem Iran. Zeitgleich verhängte die US-Regierung weitreichende Sanktionen, unter anderem einen vollständigen Öl-Boykott, besonders kritisch für den Iran, der dringend auf die Einnahmen aus dem Energiegeschäft angewiesen ist. In den Folgemonaten versuchten insbesondere die Europäer, das Abkommen doch noch zu retten. Alle Bemühungen jedoch liefen ins Leere. Heute nun verkündete Präsident Rohani den schrittweisen Rückzug des Iran aus allen Verpflichtungen des Abkommens. Er gibt eine letzte Frist von 60 Tagen, doch schon jetzt droht eine gefährliche Eskalation am Golf. Am Telefon begrüße ich jetzt den außenpolitischen Sprecher der Linkspartei, Stefan Liebich. Der Iran will den Atom-Deal retten und nicht zerstören – so heute die Kernbotschaft des iranischen Präsidenten. Wie glaubhaft ist diese Aussage von Rohani? Stefan Liebich: Das konkrete Handeln beweist erst einmal das Gegenteil. Wenn man etwas retten will, dann beschuldigt man ja nicht die Vertragspartner, die sich an den Vertrag halten, nämlich Russland, China und die Staaten der Europäischen Union, ihn zu brechen, denn das haben wir ja nicht getan. Die anderen Vertragsparteien haben sich daran gehalten, außer die Vereinigten Staaten von Amerika. Das muss man kritisieren, das haben wir auch kritisiert. Aber Iran ist hier nicht der Unschuldsengel. "Ultimaten waren noch nie geeignete Mittel" Heinlein: Es ist nun ein Ultimatum des Iran an die Unterzeichnerstaaten. 60 Tage Zeit gibt der iranische Präsident. Wie sollte Berlin, wie sollte Brüssel, wie sollten die anderen Vertragsstaaten nun darauf reagieren? Liebich: Erst einmal halte ich Ultimaten in der internationalen Politik nie für geeignete Mittel. Ich kann mich auch an wenig Fälle erinnern, wo es danach zu einer einvernehmlichen und guten Lösung gekommen ist. Das was ich jetzt gehört habe ist, dass der Iran mit den verbleibenden Vertragsparteien reden möchte. Das sollte man immer tun und das finde ich jetzt auch nicht schlimm. Zu sagen, der Iran hat hier Diskussionsbedarf, das finde ich legitim, das ist nachvollziehbar, dem sollte man nachkommen. Aber trotzdem finde ich die Entscheidung, die aus Teheran kommen, falsch. Damit wird eine ohnehin gefährliche Entwicklung weiter angeheizt mit bisher nicht absehbaren Konsequenzen. Der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich von Die Linke (imago / Die Linke) Heinlein: Sie fordern, Herr Liebich, weitere Diskussionen, weitere Verhandlungen. Nun haben aber gerade die Europäer ja in den vergangenen Monaten mit allen Mitteln versucht, dieses Abkommen doch noch in irgendeiner Form am Leben zu halten. Muss man im Nachhinein sagen, diese Absichten sind jetzt gescheitert? Hat Brüssel, hat Europa in dieser Frage versagt? Liebich: Die Frage, die ich auch dem Iran und seiner Regierung stellen würde, ist, was sie sich denn eigentlich von Deutschland erwarten, oder von der Europäischen Union, oder von Russland und China. Wie gesagt: Wir haben die Absprachen bisher eingehalten. Natürlich: Man kann schon sagen, dass die Kompensationen durch den Ausstieg der USA durch die EU und die anderen Staaten jetzt nicht erfolgt sind. Aber ich wüsste jetzt auch kein Mittel, wie wir das hinbekommen sollen. Deswegen wäre ich gespannt, was Iran jetzt vorschlägt. Zu sagen, kommt mal und redet, das ist immer gut, aber anzudrohen, dass man dann tatsächlich aus dem Abkommen aussteigt, das kann tatsächlich eine Eskalation nach sich ziehen in der Region, die viele, viele Opfer kosten könnte. "Schäden durch den Ausstieg der USA so gering wie möglich halten" Heinlein: Dennoch, noch einmal mit Blick auf Europa, mit Blick auf Deutschland: Hat die EU da die eigene Rolle ein wenig überschätzt? Spielen wir überhaupt eine Rolle in diesem Konflikt? Der abgesagte Besuch von Pompeo zeigt ja das Übrige. Liebich: Wir haben das hier im Auswärtigen Ausschuss immer sehr realistisch eingeschätzt. Wir wussten, dass der falsche und völkerrechtswidrige Ausstieg der Vereinigten Staaten aus diesem Abkommen dramatische Konsequenzen haben wird und dass es sehr schwer möglich sein wird, genau genommen überhaupt nicht möglich sein wird, das zu kompensieren. Aber was wir auch gesagt haben – und das finde ich auch richtig, da unterstütze ich auch die Bundesregierung: Solange sich der Iran an das Abkommen hält, werden wir es auch tun und alles versuchen, was geht, die Schäden durch den US-Ausstieg so gering wie möglich zu halten. Da weiß ich nicht, wo jetzt der Vorwurf von der iranischen Seite bestehen sollte. Und wie gesagt: Wenn die Iraner ihrerseits aus dem Abkommen aussteigen sollten, dann verdient das jede scharfe und deutliche Kritik. Heinlein: Der Iran ist kein Unschuldsengel. Das haben Sie in Ihrer ersten Antwort, Herr Liebich, gesagt. Hat Donald Trump Recht, wenn er behauptet, der Iran habe in den vergangenen Monaten permanent das Atomabkommen verletzt? Liebich: Nein, damit hat Donald Trump nicht recht. Da herrscht ein großer Irrtum vor, denn es gibt Dinge, die der Iran in der Region tut, die absolut kritikwürdig sind. Ich finde, das Agieren im Libanon, bezogen auf die Hisbollah, in Syrien, im Jemen, das verdient alle Kritik. Aber man muss auch sagen, dass alles das nicht Teil des Iran-Nuklearabkommens gewesen ist. Der Deal bestand darin, dass der Iran gesagt hat, wir verzichten darauf, eine Atombombe zu entwickeln, und im Gegenzug hat der Westen gesagt, wir verzichten auf bestimmte, darauf bezogene Sanktionen. Das war der Deal und an diesen Deal hat sich der Iran gehalten. Dass es darüber hinaus viel Kritik am Iran gibt und man da auch über Konsequenzen nachdenken kann – einverstanden! Aber das ist keine Verletzung des Atomabkommens. Ganz aktuell sagen die Vereinigten Staaten, dass sie mit Angriffen des Iran rechnen würden. Da haben wir heute im Auswärtigen Ausschuss erfahren, dass die Bundesregierung dazu keine eigenen Erkenntnisse hat. Ich finde, wenn die USA solche harten Anschuldigungen in den Raum stellen, dann müssen sie die auch belegen. Wir haben zu oft erlebt, dass die US-Regierung mit Lügen Staaten in Kriege geführt hat. "Erkenntnisse den Verbündeten vorlegen" Heinlein: Glauben Sie, dass Donald Trump in dieser Sache ebenfalls lügt? Liebich: Donald Trump zu glauben, ist nun tatsächlich sehr schwierig, wenn man sich seine Quote an Lügen in seiner bisherigen Amtszeit anschaut. Ich weiß es nicht. Aber wenn es Erkenntnisse gibt, dann muss er sie seinen Verbündeten vorlegen. Unsere Bundesregierung hat bisher keine Erkenntnisse vorliegen und deshalb kann ich da keine Glaubwürdigkeit in solchen Aussagen erkennen. Heinlein: Der Nahost-Experte Michael Lüders hat heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk gewarnt, diese gesamte Entwicklung, diese aktuelle Entwicklung am Golf, das macht ihm Sorge, das könne zum Krieg führen in der Region. Teilen Sie diese Besorgnis? Liebich: Niemand möchte gerne dramatisieren und die meisten Menschen haben natürlich schon genug Sorgen. Aber eines ist doch wahr: Wenn der Iran tatsächlich den verhängnisvollen Weg geht, eine Nuklearwaffe zu entwickeln, und man seine Rhetorik gegenüber dem Staat Israel berücksichtigt, dann darf man einkalkulieren, dass mit militärischen Mitteln Israel dies zu verhindern versuchen wird und dass dann Verbündete, zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika, Israel zur Seite stehen würden. Das wäre ein richtig heißer Krieg in der Region, das fehlt uns gerade noch. "Die Aufkündigung war ein Riesenfehler" Heinlein: Wie nah ist denn nach Ihren Erkenntnissen der Iran an der Entwicklung einer Atombombe? Liebich: Es war gefährlich genug, dass es zu den harten Sanktionen der Weltgemeinschaft gekommen ist. Aber es gab dann auch ein Einfrieren des Prozesses und auch die Zusage von Kontrollen, und das hat ja funktioniert. Die Zeitalter, wo man gegenseitig vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungskontrollen durchgeführt hat, die scheinen ja vorbei zu sein. Aber da war das Iran-Nuklearabkommen ein Lichtblick. Dass das durch die USA aufgekündigt wurde, das war ein Riesenfehler. Wenn man jetzt die Kontrollen verliert, dann wissen wir nicht, was der Iran tut und wie schnell er zur Bombe kommt. Heinlein: Es droht eine gefährliche Entwicklung in der Region. Sie haben ebenfalls, wenn ich Sie richtig verstanden habe, durchaus Sorge vor einer möglichen militärischen Eskalation. Nun haben die USA ja einen Flugzeugträger und wohl auch ein Bombengeschwader in die Region entsandt. Wie gefährlich sind diese Drohgebärden, oder könnte das umgekehrt auch die Situation beruhigen, indem die USA jetzt am Golf Muskeln zeigen? Liebich: Nein. Ich glaube, dass hier das Gegenteil der Fall ist. Die Operation maximaler Druck, die von der neuen US-Administration vorangetrieben wird, die hat nichts besser gemacht, sondern alles viel gefährlicher. Und das Schlimme ist: Man darf bei Donald Trump und seinen Unterstützern vermuten, dass es sich vor allen Dingen um innenpolitische Fragen handelt und gar nicht in erster Linie um die Situation in Israel oder in der Region, und das ist das Traurige. Um innenpolitisch Punkte zu machen, werden in anderen Teilen der Welt riesige Risiken eingegangen. Ich halte diese Politik für einen großen, großen Fehler. Heinlein: Wie könnte denn Donald Trump mit einem Krieg, mit einer militärischen Auseinandersetzung am Golf innenpolitisch Punkte sammeln? Liebich: Das ist interessant, denn er selber hat ja eher damit Wahlkampf gemacht, dass er gesagt hat, die USA sind in viel zu viele Kriege verstrickt, hat aber gleichzeitig gesagt, man muss den Druck auf den Iran erhöhen. Da kann er ungewollt in eine Situation hinein geraten, wo ein Funke genügt und der Krieg da ist, und da hätte er sich dann mit seiner Politik ordentlich verkalkuliert. Ich glaube, sein innerer Wunsch, hier etwas, was er für einen Fehler von Obama gehalten hat, zu korrigieren, bringt ihn in eine Situation, dass er vielleicht einen Krieg riskiert, ohne ihn tatsächlich haben zu wollen. Das mag bei anderen in der US-Administration ganz anders sein. Da gibt es durchaus Leute, die sagen, dass ein Militäreinsatz gegen den Iran sinnvoll ist. Ich glaube, Donald Trump selber meinte das schon ganz ernst mit der Kriegsmüdigkeit in der US-amerikanischen Bevölkerung. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Liebich im Gespräch mit Stefan Heinlein
Der schrittweise Rückzug des Iran aus dem Atomabkommen sei falsch, sagte der außenpolitische Sprecher der Linkspartei, Stefan Liebich, im Dlf. Donald Trump fehle aber die Glaubwürdigkeit. Er und seine Unterstützer gingen vor allem aus innenpolitischen Gründen "riesige Risiken" ein.
"2019-05-08T07:15:00+02:00"
"2020-01-26T22:50:57.401000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konflikt-iran-usa-die-usa-haben-alles-viel-gefaehrlicher-100.html
880
Die verschwundenen Kinder von Istanbul und Ankara
Menschenhandel ist weltweit ein lukratives Geschäft. (dpa / Jan-Philipp Strobel) Fröhliche Kinderstimmen von der Straße schrecken Cevher Küpsi immer noch auf. Dabei wäre sein Sohn Bayram heute ein Teenager. Sieben Jahre ist es her, dass der Erstklässler beim Spielen vor dem Haus der Familie Küpsi in einem Istanbuler Armenvorort verschwand. Spurlos. "Eigentlich wollten wir längst von hier fortziehen. Aber was wäre, wenn unser Junge eines Tages zurückkommt und dann niemanden von uns vorfindet?" Zeugen wollen ein verdächtiges Auto gesehen haben. Der Spur wurde nie ernsthaft nachgegangen, beklagen die verzweifelten Eltern. Kinder prominenter Eltern würden mit Helikoptern gesucht, in ihrem Fall seien nicht einmal Spürhunde eingesetzt worden, beklagen Cevher Küpsi und seine Frau Hüsnah: "Wir haben zu spüren gekriegt, dass wir arm sind. Es wird ein Unterschied gemacht. Dabei ist ein Kind doch ein Kind!" "Wir wollen unser Kind zurück. Und wenn es nur die sterblichen Überreste sind. Die kann man wenigstens beerdigen und das Grab auf dem Friedhof besuchen." Auch Zafer Özbilicis älterer geistig behinderter Bruder war vor 21 Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden, Zeugen sahen, wie er in ein Taxi gezerrt worden war. Kurz darauf gründete Özbilici mit anderen Betroffenen den Verein der Angehörigen Verschwundener. Seit 20 Jahren fährt er mit einem Kleinbus durch's Land auf der Suche nach den rund 1.000 Kindern, die jährlich in der Türkei verschwinden. Bei etlichen Fällen konnten sie zur Aufklärung beitragen. Etwa, wenn es sich bei den Verschwundenen bloss um Ausreisser handelte. "Zu Beginn waren wir nur unterwegs, um unsere eigenen Angehörigen zu finden. Heute geht es uns vor allem um Aufklärung. Wir müssen die Eltern vor den Gefahren warnen." Auch Organhandel wird vermutet An diesem Vormittag ist der Bus der Verschwundenen am Goldenen Horn, einer Bucht in Istanbul unterwegs. Am Ufer entdecken die Mitarbeiter eine unbeaufsichtigte Gruppe von Kindern beim Baden. Als Özbilici und seine Kollegen sie vor den Gefahren warnen wollen, werden die Kinder misstrauisch und laufen fort. Eigentlich die richtige Reaktion, sagt Özbilici. Viele verschwundene Kinder könnten entführt und einem furchtbaren Verbrechen zum Opfer gefallen sein. "Es gibt illegale Organtransplantationen in der Türkei und offenbar auch eine Mafia, die mit den Organen Entführter Handel treibt. Aber klare Beweise konnte unsere Polizei und Justiz dafür bis heute nicht erbringen." Nächster Halt des Verschwundenen-Busses: Ein Stadtteilspielplatz. Die meisten Kinder verschwinden in den Millionenstädten des Landes, vor allem in Istanbul und Ankara. Auf diesem Spielplatz scheinen die meisten Kinder ohne ihre Eltern gekommen zu sein, manche nicht älter als drei oder vier Jahre alt. Eine der Mütter wundert das nicht: "Manche lassen ihre Kinder bis Mitternacht hier alleine spielen. Ihre Eltern sehe ich hier nur selten. Hauptsache die Kinder sind aus dem Haus." Zafer Özbilici spricht gerade Zugezogene aus Anatolien immer wieder an und warnt sie davor zu meinen, es sei hier so sicher wie in ihrem Dorf: "Gerade die Armen wissen nicht wohin mit ihren Kindern, wenn sie tagsüber arbeiten müssen. Einen Kindergarten können sie sich nicht leisten. Dann sind die Kinder stundenlang allein auf der Straße und werden somit leicht ein Opfer von Entführungen. Wir hören jeden Tag, dass Kinder von Fremden angesprochen werden." Pädophile, Drogenhändler, Organmafia: Die Warnungen des Verschwundenen-Vereins kommen inzwischen auch bei den Kindern an. Mich wollte mal ein Mann mit Geld fortlocken, erzählt ein Schulmädchen. Aber ich bin schnell fortgelaufen. Bravo, weiter so, sagt der Aktivist, passt gut gegenseitig auf euch auf. Dann geht es weiter zum nächsten Stadtteil. Die Porträts der Verschwundenen sollen demnächst nicht mehr nur auf dem Bus zu sehen sein. Eine Werbefirma will sie auf Plakatwände im ganzen Land kleben lassen.
Von Gunnar Köhne
Pädophile, Drogenhändler, Organmafia: In der Türkei warnt ein Verein Kinder vor den Gefahren, mit Fremden zu gehen. Jedes Jahr verschwinden in dem Land rund 1.000 Kinder, die meisten in Millionenstädten. Gerade ärmeren Familien gelingt es kaum, eine Betreuung zu organisieren.
"2014-10-21T09:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:09:26.285000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-die-verschwundenen-kinder-von-istanbul-und-ankara-100.html
882
Die Zukunft der Vergangenheit
Blume auf einem Grab des KZs Bergen-Belsen: Ringen um den richtigen Umgang mit Rechtspopulisten (dpa / Peter Steffen) Im Plenarsaal des Thüringer Landtages versammeln sich am 25. Januar dieses Jahres die Abgeordneten und viele Gäste zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. Der Hauptredner, der Historiker Götz Aly, erinnert an die Bemerkung des AfD-Chefs Alexander Gauland, dass man das Recht habe, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen. Aly zitiert daraufhin aus den Kriegstagebüchern eines Wehrmachtssoldaten, der im Plauderton von Massenerschießungen und Plünderungen berichtet. "Möchte jemand in diesem Plenarsaal auf diesen ansonsten durchschnittlichen, gewiss gut und menschenfreundlich erzogenen Wehrmachtssoldaten stolz sein? Der stehe auf!" Niemand steht auf, keiner im Saal rührt sich, alle blicken zur AfD-Fraktion. Deren Kollegen im Bayerischen Landtag haben nur zwei Tage zuvor fast geschlossen die dortige Holocaust-Gedenkstunde verlassen, als die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, die AfD als – so wörtlich - "nicht auf dem Boden unserer demokratischen Verfassung" stehend kritisierte hatte. Die AfD im Thüringer Landtag bleibt auch sitzen, als Götz Aly an Alexander Gaulands Worte erinnert, die Zeit des Nationalsozialismus sei nur ein "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte. "Dazu passend behauptet der rechtsradikale Ideologe und Fraktionsvorsitzende der AfD in diesem Haus, Björn Höcke, "die brutale Verdrängung der Deutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet" sei "heute Teil der Demografiestrategie der Bundesregierung". Aus dem "nationalen Sozialismus" und der "Volksgemeinschaft" wird bei ihm "solidarischer Patriotismus"." Der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly (picture alliance / dpa / Sophia Kembowski) Viel Beifall für Alys Rede Der Beifall nach Alys Rede ist groß. Alle erheben sich. Außer die AfD-Abgeordneten. Die blieben sitzen – und fühlen sich zu Unrecht kritisiert. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Stefan Möller: "Die Rede war unsäglich von Herrn Aly. Das war politische Instrumentalisierung vom Feinsten; damit hat er das Gedenken missbraucht." In einer Presseerklärung wenig später schreibt die AfD-Fraktion: "Die Chance der Versöhnung, die in einem aufrichtigen gemeinsamen Gedenken liegt, hat Götz Aly heute im Thüringer Landtag mit den Füßen getreten." Stefan Brandner, Thüringer AfD-Abgeordneter im Bundestag, vorher im Erfurter Landtag, bleibt dem Holocaust-Gedenken in den Parlamenten lieber fern, weil er sich nicht ohne Recht auf Gegenrede angreifen lassen möchte: "Was ja auch völlig unbegreiflich ist, dass sich Überlebende des Holocaust oder der Shoah hinstellen und ihr Leid, was sie ja zweifelsohne erfahren haben, und ihre Erfahrungen dazu missbrauchen, heutige Parteien oder Fraktionen anzugreifen. Möglicherweise verzerren sie da auch was aufgrund des Alters inzwischen. Sie haben das Rederecht vor einem Parlament, um an konkrete Ereignisse zu erinnern, und nicht, um in die heutige Politik sich plumpst einzumischen." Ein Holocaust-Überlebender, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, Reinhard Schramm, ist anderer Meinung: "Ich finde, es war sicherlich gut, dass Vertreter der AfD dabei waren. Ich habe da nichts dagegen. Sie haben bestimmt was lernen können. Und ich hoffe, sie tun es." Zur Kranzniederlegung in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald am Nachmittag aber ist die AfD ausdrücklich nicht erwünscht. Die Buchenwald-Stiftung halte es für geboten, "dass Vertreter der AfD an einer Gedenkveranstaltung an diesen Orten nicht teilnehmen, solange sie sich nicht glaubhaft von den antidemokratischen, menschenrechtsfeindlichen und geschichtsrevisionistischen Positionen in ihrer Partei distanzieren." Radikale Äußerungen aus der AfD Die prägnantesten und radikalsten Äußerungen aus der AfD zur Erinnerungskultur in Deutschland stammen noch immer von Björn Höcke, der im Januar 2017 in Dresden vor Parteifreunden sprach: "Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand, immer noch der eines total besiegten Volkes. Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß’ Zeiten. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad." Das vor zwei Jahren vom Bundesvorstand der AfD angestrengte Parteiausschlussverfahren gegen Höcke wegen parteischädigenden Verhaltes hat das Thüringer Landesschiedsgericht niedergeschlagen. Seitdem gilt das Hausverbot in der Gedenkstätte Buchenwald an Gedenktagen nicht mehr nur für Höcke selbst, sondern für alle offiziellen Vertreter seiner Partei. Der Präsident der Buchenwald-Stiftung, Volkhard Knigge, begründet das so: "Weil wir hier natürlich aufgrund der Programmatik der Partei oder der Duldung dieser Programmatik sagen können: Wer an einem Tag wie dem Befreiungstag des Lagers hier hinkommt und sagt, ich gedenke ehrlich und anständig lauteren Herzens dieser Opfer, dem kann man das nicht glauben, weil dann dürfte er das Programm dieser Partei weder teilen, noch befördern, noch dulden." Die Arbeit in den Gedenkstätten, die sich mit der NS-Geschichte befassen, habe sich mit dem Aufkommen des Rechtspopulismus in den vergangenen Jahren geändert, meint Knigge. "Es gibt gezielte Störungen von Führungen; es gibt gezieltes Verunsichern-Wollen von den Besucherinnen und Besuchern, die in einer Führung sind, zum Beispiel im Krematorium, wo man dann sagt, die Zahlen stimmen nicht. Oder: Die ganzen Sachverhalte, die hier geschildert sind, stimmen nicht!" Der AfD-Politiker Björn Höcke (imago / Jacob Schröter) Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben In der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen hat Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, ähnliche Erfahrungen gemacht. "Wir merken schon in der Auseinandersetzung mit Gruppen, die zu uns kommen, dass die Fragen anders werden. Die Grenzen des Sagbaren haben sich deutlich in Richtung rechts verschoben. Das ist eine Folge des gesellschaftlichen Diskurses, der auch mit einem Erstarken des Rassismus, auch des Antisemitismus, aber auch der Islamfeindlichkeit zu tun hat. Fragen, von denen wir wissen, dass sie vorher einstudiert, eingeübt wurden und das Ziel haben, eine Betreuung in der Gedenkstätte von Beginn an mit Provokationen zu stören." Auch Axel Drecoll, Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, kann ähnliche Veränderungen erkennen. "Also, wir können glücklicherweise sagen, dass wir zwar einen sehr gravierenden Vorfall hatten bei einer Führung, die wir abbrechen mussten aufgrund tatsächlich leugnender und verharmlosender Aussagen bezüglich des Holocaust. Aber wir haben das Glück, dass das wirklich bisher Einzelfälle sind. Das bedeutet, wir haben in etwa 10.000 pädagogische Programmpunkte pro Jahr, die durchgeführt werden, bei etwa 700.000 bis 750.000 Besucherinnen pro Jahr. Und wir können vielleicht drei bis vier Vorfälle verzeichnen." Der gravierende Vorfall in Sachsenhausen ereignete sich im Sommer vergangenen Jahres. Die Provokationen kamen aus einer Gruppe, die auf Einladung der AfD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Alice Weidel, unter anderem Sachsenhausen besuchte. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Neuruppin wegen Verdachts auf Volksverhetzung und Störung der Totenruhe stehen vor dem Abschluss. Die Reaktion der Gedenkstätten auf Provokationen ist aber überall ähnlich. "Das prägt und verändert auch den Alltag der Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die natürlich ähnliche Befürchtungen hegen und deshalb beispielsweise auch Fortbildungsangebote wahrnehmen, die sich beschäftigen mit rechter Symbolik, mit möglicherweise revisionistischen Äußerungen, wie man darauf reagieren kann." "Ziel ist es, wissenschaftlich fundiert und auch ethisch fundiert rechtspopulistischen vereinfachenden Parolen argumentativ etwas entgegensetzen zu können. Und das funktioniert eigentlich auch ganz gut. Wenn wir aber merken, dass jemand tatsächlich nur kommt, um zu provozieren, dass er gar nicht an einem Austausch interessiert ist, dann wird dem auch deutlich eine Grenze gesetzt und eine Betreuung in der Gruppe dann auch abgebrochen. Und das hat deutlich zugenommen!" Schulklasse an der Gedenkstätte, Konzentrationslager Sachsenhausen (picture alliance / Imagebroker) Auch mehr junge Leute interessieren sich nun für die Gedenkstätten Aber es gibt auch einen weiteren Effekt auf die Gedenkstättenarbeit, wie sie Volkhard Knigge von der Gedenkstätte Buchenwald wahrgenommen hat. Nicht nur die Zahl der Provokationen, sondern auch die der interessierten Besucher steige seit dem Erfolg der Rechtspopulisten. "Er macht sie – und das wird den Rechtspopulisten nicht gefallen – für viele, auch junge Leute, wieder aufregender, wichtiger, relevanter und nachhaltiger, weil die Geschichte und die historische Erfahrung, die wir hier wachhalten und vermitteln, eben nicht mehr nur wie etwas aussieht, was in einer weit entfernten Vergangenheit stattgefunden hat und ein für alle Mal erledigt ist, sondern man erkennt die Virulenz: Davon ist noch etwas da, das lebt noch, und das will unser Land und unsere Gesellschaft in den Griff kriegen und dann massiv verändern." Erinnerungskultur mit Bezug zur Gegenwart, zur politischen Realität und mit der permanenten Frage, was man aus der Geschichte lernen kann – das ist für die beteiligten Historiker eine Selbstverständlichkeit. Für den AfD-Politiker Stephan Brandner ist sie ein Stein des Anstoßes. "Also, die Gedenkstätten mutieren leider alle zu so politischen Bildungseinrichtungen. Ich sag' mal, es gibt authentische Plätze, an denen Schlimmes passiert ist; und ich halte es für wichtig, an solchen authentischen Orten dann auch authentisch zu gedenken und zu gucken: Was war hier los und warum? Und ich muss nicht aus jedem Ort eine Veranstaltung machen, die dann umfassend die Geschichte von 1933 bis 1945 beleuchtet. Dafür sollte man dann Museen einrichten, die das umfassend betrachten. Aber die authentischen Orte, die werden auch entwertet und überfrachtet mit solchen Ansätzen." Der Historiker Volkhard Knigge dagegen verteidigt die aktuell-politische Verantwortung der NS-Gedenkstätten. "Gedenkstätten sind ja nicht dazu da, die Geschichte einer Diktatur oder eines Menschheitsverbrechens oder unsäglichen Leids einfach nachzuerzählen. Da würde uns auch jeder, der Lager erlitten hat, zu Recht eine Ohrfeige geben, wenn wir uns darauf beschränken. Sondern wir sind auch dazu da, sie ethisch und moralisch zu bewerten; wir sind dafür da, aus dieser Erfahrung gesellschaftliche und politische Konsequenzen zu ziehen und zu sagen: Was müssen wir denn tun, damit sich das nicht wiederholt, nicht im Ansatz und auch nicht im Ganzen. Und insofern gehört Demokratie-Erziehung auch immer dazu." Die Überlebenden der Konzentrationslager formulieren die Forderung nach Gegenwärtigkeit oftmals noch radikaler. So der serbische Schriftsteller Ivan Ivanji, der als 15-jähriger erst nach Auschwitz, dann nach Buchenwald kam. Vor drei Jahren sagte er bei der Eröffnung einer neuen Ausstellung in Buchenwald. "Ein Kind aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak klammert sich vertrauensvoll an seine Eltern und besteigt mit ihnen ein Boot. Genauso vertrauensvoll Hand in Hand mit seinen Eltern ist ein jüdisches Kind in Auschwitz in die Gaskammer gegangen. Das erste hat im Meer nicht mehr atmen können, das andere im Gas. Das eine ist ertrunken, das andere verbrannt worden. Nicht auf die Zahlen kommt es an – wie viele, wo, weshalb, wann? Bitte keine Statistik! Sondern Trauer für ein jedes totes Kind. Das eine war vor mehr als sieben Jahrzehnten, das andere geschieht jetzt, vielleicht in diesem Augenblick. Hier möchte ich, so laut ich kann, sagen: Wenn es irgendwo, irgendwann keine Ausstellung über die Flüchtlingstragödie unserer Zeit gibt, dann hat die Menschheit versagt." "Und so haben Überlebende immer auch gesagt: Erst dann nehmt ihr unsere Erfahrung ernst! Wir wollen doch von euch nicht irgendeinen Trauerkranz um den Hals gehängt bekommen, sondern wir möchten, dass ihr unsere Erfahrung ernst nehmt und mit den Mitteln, die ihr habt, an eurer Gegenwart und Zukunft arbeitet, damit Menschen unsere Erfahrung nicht mehr machen müssen." Jens-Christian Wagner von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten sieht allerdings auch Gefahren bei dieser Herangehensweise: "Ich halte nichts davon, den Gedenkstätten eine Heilslehre im Sinne einer sehr allgemeinen Form von Demokratie- und Menschenrechtserziehung gewissermaßen aufzustülpen, weil wir damit im schlimmsten Fall die Gedenkstätten und die Opfer der Verbrechen für heutige politische Zwecke – so gut sie auch gemeint seien und so ethisch fundiert sie auch sein mögen - im schlimmsten Fall instrumentalisieren. Aber: Wenn wir aus der Geschichte der Orte sauber herausarbeiten, wie die NS-Gesellschaft funktioniert hat, wer Opfer der Verbrechen gewesen ist, welche Motivation die Täter gehabt haben, dann kommen diese Aktualitätsbezüge ganz automatisch." Frauen im KZ Bergen-Belsen nach der Befreiung durch die US Army. (imago/Reinhard Schultz) Björn Höcke spricht von "dämlicher Bewältigungspolitik" Björn Höcke sagte in seiner Dresdner Rede, dass die – so wörtlich - "dämliche Bewältigungspolitik" Deutschland lähme. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner, der angibt, die Rede nur in Ausschnitten zu kennen, sich aber voll hinter Höcke gestellt hat, sieht durchaus die deutsche Schuld im Nationalsozialismus, kann aber daraus keine Verantwortung für die Gegenwart erkennen. Das Wort "Schuldkult" würde er wohl nicht verwenden, kann es aber verstehen: "Kann man so sagen. Also, sehen Sie mal, mit welcher Leichenbittermine Heiko Maas durch die Gegend fährt! Diese Selbstkasteiung von manchen deutschen Politikern ist manchmal schon peinlich. Verantwortung – ja, was heißt Verantwortung? Ich meine, ich darf, aus meiner Sicht, meine heutige Politik – die richtig ist – nicht dadurch bestimmen lassen, was irgendwann mal in deutscher Geschichte schiefgelaufen ist." "Ich glaube, eben weil die NS-Verbrechen die Negativfolie sind, an der wir uns abarbeiten, deshalb ist Deutschland in Vergleich mit anderen europäischen Ländern eines der am stärksten weltoffenen, liberalen und demokratischen Länder." Sagt der Historiker und Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner. "Und wer daran etwas ändern will – und das wollen die Rechtspopulisten, sie wollen einen autoritären Staat, sie wollen einen völkischen Staat, sie wollen einen Staat, der sich abgrenzt –, der muss die Axt an die Erinnerungskultur setzen. Und das ist der Grund, weshalb Höcke eine 180-Grad-Änderung in unserer Erinnerungskultur braucht. Er will sozusagen die leuchtende deutsche Vergangenheit zeigen, sagt, wir dürfen uns nicht auf diese zwölf Jahre begrenzen – was übrigens ja niemand tut: Gucken Sie sich die Curricula im Geschichtsunterricht an." KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen bewirkte die Lex AfD Als 2017 die AfD in Niedersachsen in den Landtag einzog, hätte ihr nach dem Gesetz ein Sitz im Stiftungsrat der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten zugestanden, die unter anderem für die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen verantwortlich ist. Dagegen protestierten Überlebendenverbände in den USA, in Frankreich, in Israel. Jens-Christian Wagner suchte daraufhin das Gespräch mit der AfD-Fraktion. "Ich hatte mich ganz gut vorbereitet, weil mir klar war, dass die Argumentation in die Richtung gehen würde: Die geschichtsrevisionistischen, holocaustleugnenden Positionen würden ja nur in den ostdeutschen AfD-Verbänden vertreten. Und hier in Niedersachsen sei man doch die saubere, die gemäßigte AfD. Deshalb hatte ich mir vorher Beispiele aus Niedersachsen herausgesucht, die deutlich machen, dass auch die niedersächsische AfD der Gedenkstättendidaktik und der Erinnerungskultur in diesem Lande feindselig bis ablehnend gegenübersteht." Verschiedene AfD-Gruppierungen in Niedersachsen hatten unter anderem Fördergelder für NS-Gedenkstätten streichen wollen und auch immer wieder vom "Schuldkult" gesprochen, den man beenden müsse. "Und daraufhin bekam ich zur Antwort: Ja, diese Positionen finden wir nicht gut. Aber wir werden uns öffentlich auf keinen Fall davon distanzieren, so, wie wir uns auch nicht von den 30 Prozent Neonazis in unserer Partei distanzieren werden, weil wir diese Leute brauchen für das erste Ziel. Und das erste Ziel, das wir haben, ist, die Merkel-Diktatur niederzuringen und Deutschland zu retten." Wagner organisierte daraufhin eine breite parlamentarische Mehrheit im niedersächsischen Landtag, die das Stiftungsgesetz dahingehend änderte, dass nicht mehr zwingend Vertreter aller Parteien im Stiftungsrat sitzen müssen. Eine Lex AfD also, die manche problematisch finden. Volkhard Knigge von der Gedenkstätte Buchenwald dagegen unterstützt den niedersächsischen Weg. "Es gibt Grenzen, die man dem antidemokratischen Denken und Handeln setzen muss, die muss man rechtsstaatlich setzen, die muss man legitimieren können im Sinne des eigenen Verfassungs- und Rechtssystems. Aber sich vor sich hertreiben lassen, bis es zu spät ist, das sollte man nicht. Früher nannte man das mal wehrhafte Demokratie." Eine Frage aber, die sich viele stellen, die mit Gedenken, mit Erinnerungskultur, mit der Aufarbeitung und Vermittlung der NS-Vergangenheit zu tun haben, ist, ob es sich nicht manche in den vergangenen Jahrzehnten zu leicht gemacht haben, ob Argumente und nüchterne Sachlichkeit nicht nur durch Pathos ersetzt wurden. Der Historiker Axel Drecoll meint: "Es mag sein, dass wir uns zu sicher waren in den letzten Jahren, dass zumindest diese Stoßrichtung der Erinnerungskultur ganz gut funktioniert. Wir sehen jetzt, wie fragil das gesellschaftliche und politische System im Sinne eines friedlichen, demokratischen und auf den Menschenrechten zu der Menschenwürde basierenden Systems tatsächlich ist." Noch schärfer formulieren es Volkhard Knigge und Jens-Christian Wagner. "Wir loben uns immer alle gegenseitig für unsere ach so tolle Erinnerungskultur in Deutschland. Ich habe da so meine Probleme mit in mehrfacher Hinsicht. Und das fängt schon an mit dem Begriff des Erinnerns an. Für einen 16-Jährigen, der in eine Gedenkstätte kommt, wirkt der Apell, sich erinnern zu sollen, erstens als Überforderung und zweitens als etwas moralisch Aufgeladenes. Und mit so etwas kann man Schülerinnen und Schülern schon überhaupt nicht kommen." "Und da fallen dann tatsächlich Pathos und der Versuch zu sagen, ja, die Bundesrepublik hat gelernt, und wir sind ganz anders, auf schlechte Weise zusammen. Denn es geht ja immer um den doppelten Blick: Wie anders ist die Bundesrepublik im Vergleich zu dem, woher sie kam. Und wo gibt es noch Nähen? Wir haben zum Glück immer noch das Recht, zu sagen, ja, die Bundesrepublik ist anders und ganz anders und hat sich abgesetzt. Aber das heißt nicht, es ist für alle Zeiten gebannt. Dem müssen wir uns weiter entgegensetzen. Da kommen wir einfach nicht herum." Jens-Christian Wagner ist Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. (dpa)
Von Henry Bernhard
Die AfD erringt regelmäßig mit Aussagen zur deutschen NS-Vergangenheit Aufmerksamkeit, bezeichnet zum Beispiel die Beschäftigung damit als "Schuldkult". Geschichtsdidaktiker und Gedenkstätten reagieren mittlerweile mit dem Abbruch von Führungen - oder mit dem Ausschluss der AfD von Veranstaltungen und Gremien.
"2019-05-08T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T22:51:01.533000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erinnerungskultur-in-zeiten-des-rechtspopulismus-die-100.html
883
Es geht auch ohne Klischees
Charlize Therons Rolle als Megyn Kelly im Film "Bombshell" ist eine der wenigen realitätsnahen Darstellungen von Journalistinnen im aktuellen Kino, meint Samira El Ouassil. (imago images / ZUMA Press) Glaubt man einigen stereotypen Darstellungen von Journalistinnen aus aktuellen Serien, dann habe ich heute mit mindestens einem Politiker gesextet, um an Bundestagsinterna zu gelangen, habe mit mindestens einer Quelle geschlafen, um ein geheimes Passwort zu erhalten, habe später noch ein Arbeitstreffen in einer dunklen Tiefgarage - und werde am Ende des Tages vermutlich aufgrund meines Wissens von einem Bürogebäude gestoßen - um schließlich von einem gutaussehenden Alien mit Cape gerettet zu werden. Nicht selten werden Journalistinnen in Serien als berechnende Opportunistinnen und verführerische Manipulatorinnen präsentiert. Man denke beispielsweise an die ambitionierte Reporterin Zoe Barnes aus "House of Cards", an die komplexe und autodestruktive Camille Preaker aus der HBO-Serie "Sharp Objects" oder auch an die Neu-Auflage der "Gilmore Girls", wo Rory Gilmore bei ihrer Recherche mit einer Quelle schläft. Das Kino zeigt, wie's geht Ob damit das Vertrauen in einen ethisch handelnden, professionellen Journalismus gestärkt wird? Und in die Professionalität weiblicher Berichterstatter? Wohl eher nicht. Glücklicherweise gibt es auch realitätsnähere Darstellungen - vor allem im Kino. Aktuell ist hier der Film "Bombshell" zu nennen, dessen Hauptdarstellerin Charlize Theron für ihre bemerkenswerte Verkörperung der Journalistin Megyn Kelly für die kommende Oscarverleihung nominiert ist. Auch andere Oscarnominierte und Oscargewinner der letzten Jahre zeichnen sich durch starke, aufrechte und vor allem professionell gezeichnete Medienfrauen aus, die in ihrer Arbeit ohne das vermeintlich obligatorische Hochschlafen auskommen. Samira El Ouassil ist Kommunikationswissenschaftlerin, Schauspielerin und politische Ghostwriterin. 2009 war sie die Kanzlerkandidatin für DIE PARTEI. Seit September 2018 schreibt sie für das Medienkritikmagazin Übermedien die Kolumne "Wochenschau". Mit Gedächtniskünstlerin Christiane Stenger beantwortet sie außerdem im Audible-Podcast "Sag Niemals Nietzsche" Fragen der Philosophie. Zum Beispiel das 2018 erschienene biografische Drama "The Post", "Die Verlegerin", von Steven Spielberg, in welchem Meryl Streep als Chefin der Washington Post entscheiden muss, ob die Pentagon-Papiere, also geheime Dokumente des US-Verteidigungsministeriums über den Vietnamkrieg, veröffentlicht werden sollen oder eben nicht - wobei die Gefahr besteht, dass sie wegen Hochverrats angeklagt wird. Oder der Journalismusthriller "Spotlight" von 2015, in welchem Rachel McAdams unaufgeregt die Journalistin Sasha Pfeiffer verkörperte, die mit ihren drei Kollegen einen Kindesmissbrauchsskandal der Kirche aufdeckte. Je mehr sich Filme einer naturalistischen Darstellung verpflichtet fühlen, beispielsweise weil ihre Geschichten auf wahren Begebenheiten basieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Figuren der Journalistinnen ganz ohne Sexismus auskommen. "Bombshell" entlarvt Journalistinnen-Klischees Im bereits genannten Drama "Bombshell" lässt sich eine besonders interessante Inbildsetzung dieses Archetyps der verführerischen Journalistin beobachten - denn hier handelt es sich um eine Art Dekonstruktion, die den Sexismus dieses Klischees entlarvt. Nach wahren Begebenheiten arbeitet der Film den Skandal um den Fox-News-Chef Roger Ailes auf, der - ähnlich wie Harvey Weinstein - seine Macht missbrauchte, um mehrere Frauen zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Die Präsentation der Fox-Moderatorinnen als blonde durchfeminisierte Infotainment-Sexbomben, also als "Bombshells", wird hier zu einer Reflexion über das Äußere der Vamp-Journalistinnen. In einer Schlüsselszene wird die Garderobe der Moderatorinnen gezeigt, in welcher es ausschließlich Minikleider gibt, jedoch keine einzige Hose. Der Glastisch vor der Nachrichtenmoderatorin - so wird jemand im Film zitiert - sei transparent, damit man ihre Beine sehen kann. Die Journalistinnen müssen verführerisch sein, weil der Fernseh-Zuschauer das schließlich so wolle. Und so schließt sich der Kreis zu uns, das heißt, zum Film-Zuschauer: Obwohl Hollywood zeigt, dass hochkarätige Erzählungen keine Berufsklischees bedienen müssen, werden Journalistinnen in Serien immer noch gerne als Räkel-Reporterinnen inszeniert - weil Drehbuchautoren offenbar denken, dass die Zuschauer das schließlich so wollen.
Von Samira El Ouassil
In Serien werden Journalistinnen immer wieder als verführerische Manipulatorinnen dargestellt, findet unsere Kolumnistin. Offenbar seien Drehbuchautoren der Meinung, die Zuschauer würden das so wollen. Dabei laufe das in Kinofilmen oft deutlich besser.
"2020-02-05T15:35:00+01:00"
"2020-02-12T14:50:43.285000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/journalistinnen-in-film-und-fernsehen-es-geht-auch-ohne-100.html
884
Afghanistan, die Taliban und der Westen
Kabul, Masud-Platz, Botschaftsviertel. AnMit seinem militärischen Engagement in Afghanistan wollte der Westen die Voraussetzungen für Frieden und Demokratie schaffen. Doch die Lage am Hindukusch hat sich in den vergangenen Jahren nicht grundlegend verbessert. Im Gegenteil: Die Taliban gewinnen wieder an militärischer und politischer Bedeutung. einer Filiale der Kabul Bank sind alle Fensterscheiben geborsten. Hilfskräfte kehren mit stoischen Mienen die Glassplitter auf und schaufeln sie in einen Container. Auf der Straße hat sich eine riesige Blutlache ausgebreitet. Mitten darin steht ein zerfetztes Taxi. Siddiq, ein etwa 25-jähriger Anwohner beschreibt, was soeben hier passiert ist:"”Das war ein Selbstmordanschlag. Ein US-amerikanischer Diplomat wollte in die Botschaft hineinfahren, als der Attentäter auf ihn zusteuerte. Von den Amerikanern wurde keiner getötet oder verletzt. Aber Passanten, der Fahrer dieses Taxis hier und ein paar Leute auf der anderen Straßenseite.""Vier Tote melden kurz darauf die Nachrichtenagenturen – Bilanz eines Morgens in Kabul.Anschläge dieser Art ereignen sich etwa einmal pro Woche, sagt Zubair Babarkarchail, Kabul-Korrespondent der unabhängigen afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok ... Immer enger, so der Journalist, zögen die Taliban ihren Gürtel um die Hauptstadt."”Wir haben sie auch schon in unmittelbarer Nähe Kabuls registriert. Auf der Straße in die Logar-Provinz, auf der Straße in die Wardak-Provinz hatten sie Sperren errichtet und hielten Autos an. Es gibt Tore an allen vier Straßen, die aus Kabul herausführen. Befahrbar ist nur die Route durch das Nordtor, die Richtung Panjir Tal und über den Salang-Pass führt.""Damit die einzig sichere Straße, die aus Kabul herausführt, auch sicher bleibt, soll Lieutenant Fricaz sie bewachen. Der 24-jährige Offizier weist seine Männer in die Lage ein, warnt vor dem erhöhten Risiko, auf Straßenbomben zu stoßen. Dann gibt er den Befehl zum Aufbruch.Stabil und ruhig wäre die Lage hier wahrscheinlich auch ohne französische Patrouillen. Entlang der Straße, die auf den Salang-Pass führt, der Durchfahrt zum afghanischen Norden, leben, wie auch in der Nordregion selbst, hauptsächlich Tadschiken. Im Bürgerkrieg unterstützten sie mehrheitlich die Nordallianz um Ahmed Schah Masood, die gegen die Taliban anging. Dennoch, sagt Lieutenant Fricaz, gebe es vereinzelt Gemeinden, in denen die Taliban zu agitieren begännen. Aber in solchen Fällen betreibe die französische Armee hier eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung. Wie die funktioniert, erklärt er bei einem Zwischenstopp:"Dasselbe Konzept haben wir schon im Algerienkrieg während der Schlacht um Algier angewendet. Im Prinzip haben wir heute genau denselben Ansatz: Zuerst rein in die Gegenden, wo die Aufständischen sind. Sich auf dem Schlachtfeld mit geballter Übermacht durchsetzen. Anschließend nimmt man Schritt für Schritt Kontakt zur Bevölkerung auf. Verbessert ihre Lebensumstände, führt zivilmilitärische Projekte durch, baut Krankenhäuser, gräbt Brunnen."Rezepte aus dem französischen Algerienkrieg als Vorbild für Afghanistan? Eine solche Übertragung dürfte bei deutschen Politikern höchstwahrscheinlich Empörung auslösen."PRT", so heißt die Zauberformel für die zivilmilitärischen Maßnahmen, die heute in Afghanistan angewendet wird, - das Kürzel für "Provincial Reconstruction Team" – das "Provinzwiederaufbauzentrum", in dem zivile Helfer und Soldaten gemeinsam am Aufbau des Landes zusammenarbeiten sollen. Folgt man der Bundesregierung, dann handelt es sich dabei um einen wirklich gelungenen Ansatz. "Das Konzept insgesamt ist eigentlich so gut, dass auch in den anderen Regionen Afghanistans die anderen Teilnehmer an den ISAF-Aktivitäten dieses Konzept übernommen haben und das zeigt auch, dass dieses Konzept ein guter Ansatz ist."... sagt Thomas Kossendey, parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Andererseits räumt er ein, dass nichts mehr so ist wie noch vor sechs Jahren:"Als das PRT-Konzept eingeführt wurde, war es eigentlich gedacht, um den zivilen Aufbau um ein PRT herum zu koordinieren, zu schützen und voranzubringen. Dieser Auftrag ist, wenn ich an das PRT in Kundus denke, in den letzten Monaten etwas zurückgetreten zu Gunsten – oder zu Lasten – der Eigensicherung des PRTs."Für manche der deutschen Soldaten in Kundus dürfte sich das wie ein Euphemismus, wie eine Beschönigung bestehender Missstände, anhören. Denn, Raketenangriffe gibt es dort inzwischen ungefähr einmal pro Woche. "Überall auf den Dächern: tong-tong-tong-tong, überall kamen die Steine runter. Wir befanden uns im anderen Bereich, wollten dann halt zu den Unterkünften, zu den Schutzbauten. Und auf dem Weg hierher schlug dann schon die zweite Rakete ein, da hatten wir Deckung genommen hinten an den Fahrzeugen. Ja – die zweite Detonation kam, dann wollten wir weiter im Sprung und dann kam auch schon der dritte Abschuss und dann hörten wir nur noch: (pfeift). Es wurde immer lauter und wir waren Luftlinie vielleicht ... ich war ungefähr 50 Meter entfernt, aber es waren noch fünf Kameraden vor mir."Die zunehmenden Angriffe vonseiten der Taliban und ihr Machtzuwachs in Afghanistan scheinen darauf hinzudeuten, dass der Bezug auf Algerien, wie er vom französischen Lieutenant formuliert wurde, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Ob in Französisch-Nordafrika, Vietnam oder anderswo - zivilmilitärische Konzepte sind bereits an vielen Orten angewendet worden. Zu scheitern begannen sie immer dann, wenn die Bevölkerung das militärische Vorgehen als repressiv und ungerecht wahrnahm. Und dieser Zustand könnte mittlerweile auch in Afghanistan erreicht sein. Denn seitdem die Kämpfe an der pakistanischen Grenze zunehmen und die Angriffe der US-geführten "Operation Enduring Freedom" immer mehr auch Opfer unter der paschtunischen Zivilbevölkerung einfordern, mobilisiert sich Gegenwehr, büßt in der Paschtunenregion um Kundus nun auch die Bundeswehr an Legitimität in der Bevölkerung ein. Die Folge: Das Ziel der Aufbauhilfe weicht dem Gebot, sich selbst zu schützen. "Hört sich blöd an, aber auf Codewort 'Ottermuchte' einfach ruhig bleiben, dann wissen wir Bescheid: irgendwas ist. Entweder drehen wir uns dann und gehen wieder raus oder biegen links oder rechts ab. OK? Wichtig ist: ruhig bleiben. So. Fragen? Keine? Schili, Bibo hier vorne – vorwärts, marsch."Wenn Offiziere der Bundeswehr oder zivile Mitarbeiter des Provinzwiederaufbauzentrums aus ihren gepanzerten Fahrzeugen aussteigen, um afghanische Gesprächspartner zu treffen, tun sie das heute nur noch umringt von einer umfangreichen Schutztruppe aus Fallschirm- oder Gebirgsjägern, inmitten von Gewehrträgern mit pittoresken bajuwarischen Rauschebärten, die jede Annäherung der Bevölkerung im Radius von fünf Metern abwehren. Besonders suspekt sind Rad- oder Mofafahrer. Denn die könnten potentielle Selbstmordattentäter sein. "Ruhig. Mach ihm klar, er soll anhalten und fertig. Fingerspitzengefühl!""Ja – entweder er bleibt stehen oder er bleibt nicht stehen.""Er bleibt stehen. Geht noch `n Stück weiter vor. Bissel Abstand gewinnen.""Schön ruhig bleiben, geht immer weiter."Für ihre eigentliche Aufgabe, im Gespräch mit den zuständigen afghanischen Funktionsträgern Aufbauprojekte einzufädeln, bleiben oft nur wenige Minuten. In einem Dorf unweit der tadschikischen Grenze soll der "Verbindungsoffizier für Aufbau" zusammen mit afghanischen Ansprechpartnern den Neubau einer Schule konzipieren. "”We can try to manage a contact with th GTZ. And that’s what we can do. No promise that they will start next month or at the beginning of the next year.”"Kaum hat man sich die Hände geschüttelt, drängt die Schutztruppe zum Aufbruch. Der deutsche Offizier drückt dem afghanischen Schuldirektor rasch einen Antrag der GTZ, der "Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" in die Hand und gibt dann das Signal zum Aufbruch. Zurück im sicheren Panzerfahrzeug sagt er:"Wir hätten ihn jetzt gerne noch eingewiesen in das Ausfüllen dieses Antrags, das machen wir dann halt am Telefon mit ihm."Aus Sicht von Citha Maass, Afghanistan-Expertin bei der "Stiftung Wissenschaft und Politik" ist das bestehende, von der Bundesregierung so favorisierte, zivilmilitärische Konzept gescheitert: "Gespräche sind notwendig. Und Gespräche setzten auch voraus, dass man viele Tassen Tee mit den lokalen Vertretern trinkt. Und wenn das nicht geschieht, dann wird die Kluft zur Bevölkerung immer größer und dann bekommt man auch keine Hinweise, wo Bomben an einer Brücke gelegt werden, wie es früher noch im PTRT Kundus der Fall war. Früher – das heißt: vor zwei Jahren noch. Das heißt, je gepanzerter man fährt desto stärker ist man abgeschirmt und kann noch weniger Vertrauen aufbauen und kann deswegen auch noch weniger einen Schutz für zivilen Aufbau leisten."Ein neues PRT-Handbuch, herausgegeben von der ISAF, soll den jüngsten Entwicklungen jetzt Rechnung tragen. In diesem Handbuch wird eine Sichtweise formuliert, die erstaunt. So wird das einst favorisierte Ideal einer afghanischen Zivilgesellschaft zur Disposition gestellt – zugunsten sogenannter "traditioneller" Strukturen.In der Broschüre, die auch dem deutschen PRT als neue Handlungsanleitung dient, ist zu lesen:"Wahlen abzuhalten, egal wie fair oder frei sie sein mögen, macht eine Regierung nicht notwendigerweise legitim. Legitimität entsteht, wenn eine Regierung den allgemeinen Konsensus der Bevölkerung repräsentiert. Um ihre Legitimität zu fördern, könnte (die Regierung) traditionelle Strukturen einbinden."Was aber ist unter "traditionellen Strukturen" zu verstehen? Und wer verkörpert, repräsentiert sie? Da wären in erster Linie die Milizenführer, die ehemaligen Kämpfer aus dem Bürgerkrieg gegen die Taliban oder die antisowjetischen Mudschaheddin zu nennen. Inzwischen seien sie zu Distriktchefs oder Gouverneuren aufgestiegen, sagtPeter Ptassek, ziviler Leiter des Wiederaufbauzentrums Kundus, das den Deutschen untersteht."Nehmen wir die Provinz Balkh. Da haben wir einen Gouverneur namens Atta, der ein großes politisches Gewicht hat aus alter Machtfülle heraus. Also er hat Möglichkeiten sehr konventioneller Weise: bewaffnete Leute und hat Einfluss."Und das mit dem "Einfluss" ist noch untertrieben. In und um Mazar-e Sharif kommt es einem Todesurteil gleich, öffentlich auch nur Kritik an Gouverneur Atta Mohammed Nur zu üben. In einem Dorf rund 20 Kilometer von Mazar- e Sharif entfernt, haben sich einige von Attas politischen Gegnern versammelt. Unter ihnen sind viele Warlords, ehemalige Kämpfer gegen die Sowjets, hochgewachsene knorrige Gestalten. Einige zittern vor Nervosität. "Bitte keine Fotos!" Und vor allem: "Keine Namen nennen", sagen sie im Flüsterton. Dann liest einer von ihnen dem ausländischen Reporter die Namen all derer vor, die der Gouverneur in den letzten Monaten angeblich durch seine Todesschwadronen hat ermorden lassen. Vielleicht, so ihre Bitte, könne die deutsche Regierung ja bei der Aufklärung der mutmaßlichen Morde helfen. Hätten sie Staatssekretär Kossendey gehört und dessen Meinung über Gouverneur Atta vernommen, dann hätten sie wohl kaum diese Hoffnung gehegt. Ohne Gouverneur Atta, so nämlich machte Thomas Kossendey deutlich, laufe gar nichts: "Im Norden wäre insgesamt die vergleichbar ruhige Situation nicht möglich, wenn wir nicht mit dem Gouverneur und mit den administrativen Spitzen gut zusammenarbeiten könnten. Ich glaube, die verbesserte Sicherheitslage ist ein beredtes Zeugnis dafür. Das konnten wir nur gemeinsam schaffen, das konnte ISAF gar nicht alleine schaffen."Doch nicht nur an die Adresse Gouverneur Attas richten sich Vorwürfe schwerer Menschenrechtsvergehen. Auch an die von Gouverneur Mohammed Omar von Kundus.Laut Informationen des "Institute for War and Peace Reporting", einer Nachrichtenagentur, die von Kanada und der EU gesponsert wird, betreiben der Gouverneur und seine Distriktchefs Menschenhandel und Kindesmissbrauch. Yacub Ibrahimi:"”Es gibt verschiedene Verbrechen. Zum Beispiel die in diesem Milieu verbreitete Praxis, Kampfhunde gegen minderjährige Mädchen einzutauschen. Einige haben eine Vorliebe für Minderjährige, andere für Kampfhunde – und so tauschen sie gelegentlich. Es werden illegale Steuern eingezogen, die sogenannten Lebenssteuern. Das heißt: du lebst in diesem Dorf. Ich kontrolliere es. Also zahlst du mir monatlich eine Steuer dafür. Sie können straflos morden, vergewaltigen. Weder die afghanischen Gerichte, noch die NATO-Kräfte kontrollieren das.""Peter Ptassek, ziviler Leiter des deutschen Wiederaufbauzentrums Kundus, zuckt die Achseln:"Wir haben ein Mandat, das sich darauf konzentriert, den Wiederaufbau voranzubringen, Stabilität und Sicherheit nach Afghanistan zu bringen. Wir haben kein Mandat, die Bevölkerung zu einem neuen Glauben zu bekehren, sie mit unseren Vorstellungen von Glück und Wohlstand zu impfen und wir haben auch kein Mandat, in konkreten Fällen, auch nur auf Provinzebene einen Regierungswechsel herbeizuführen."Ist also die Garantie auf ein Minimum an Menschenrechten, etwa die körperliche Unversehrtheit, aus Sicht des deutschen Repräsentanten auf einmal naiv, weltfremder Idealismus? Wo doch ursprünglich genau das propagiert wurde?!Tillmann Schmalzried, Afghanistan-Koordinator der "Gesellschaft für bedrohte Völker", wirft der Bundeswehr vor, dass sie sich allmählich in das klassische Fehlverhalten von Mandats- oder Besatzungsmächten hineinziehen lässt – Kungelei mit den Mächtigen betreibt, dem Prinzip "Teile und Herrsche" folgt – Stabilität um beinahe jeden Preis erkauft. "Die Bundeswehr ist laut ISAF-Mandat in Afghanistan, um die lokalen Strukturen dabei abzusichern, einen Rechtsstaat zu bilden. Wenn sie dazu verkommt, die Strukturen darin zu unterstützen, einen Rechtsstaat zu verhindern, dann hat sie ihren Auftrag verfehlt. Man kann nicht einfach sagen: Das sind nun mal die Leute, mit denen wir zu verhandeln haben, deshalb können die machen, was sie wollen. Auf diese Weise kriegen wir keinen Rechtsstaat in Afghanistan hin."Das "Zurück zur Tradition", wie es im neuen Handbuch der ISAF gefordert wird, lässt sich bereits am afghanischen Justizsystem festmachen. Besser gesagt: ein "Zurück" zu dem, was manche als afghanische Tradition ansehen. Weiß Peter Ptassek, der zivile Leiter des deutschen Provinzwiederaufbauzentrums, auf Grundlage welcher Rechtsordnung die Strafjustiz basiert, die in der Provinz, in der er Verantwortung trägt, zum Einsatz kommt? "Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass bei Gouverneur Omars Sicherheitskonferenz die Mullahs die Einführung der Scharia forderten, woraus ich entnehme, dass es nicht in dem Maße der Fall zu sein scheint, wie sie sich das wünschen."In der Nachbarprovinz von Balkh ist man offensichtlich bereits weiter. Shamsurrahman Mohmand, Vorsitzender des Provinzgerichts in Mazar-e-Sharif:"Dies ist ein hundertprozentig islamisches Gericht. Das bedeutet: Jedes Gesetz entspricht der Scharia, auch das Strafgesetz.Wenn wir beispielsweise einer Person einen Diebstahl hundertprozentig und ohne Zweifel nachweisen könnten, dann würden wir entscheiden, dem Betreffenden die Hand abschlagen zu lassen.""Sollen wir wirklich gehen, wenn es schwierig ist? Wir reden über ein Land, meine Damen und Herren, in dem vor sieben Jahren noch Menschen gesteinigt worden sind."... hatte Ende Bundesaußenminister Steinmeier noch Ende 2008 im deutschen Bundestag gesagt. Doch den Extremismus, den zu bekämpfen die Bundeswehr in Afghanistan eigentlich die Aufgabe hat, definiert die Bundesregierung inzwischen anders: Kossendey: "Wir müssen aufpassen, dass wir den Afghanen nicht etwas überstülpen, was weder zu deren Kultur, noch zu deren Religion passt. Wir haben in der Region ja durchaus andere Länder – Sie nannten Saudi Arabien – die Rechtssysteme haben, die mit unseren nicht vergleichbar sind. Und ich glaube nicht, dass es Aufgabe von ISAF ist, hier Vormund zuspielen."Tatsächlich ist die Rechtsauffassung, die in Berlin als "Bestandteil afghanischer Kultur" betrachtet wird, in Afghanistans offizieller Rechtsprechung und Tradition nie zuvor angewendet worden. Sie geht zurück auf die in Saudi-Arabien verankerte wahhabitische Lehre, eine extrem konservative, puritanische Auslegung des Islam, die erst in den 80er Jahren mit den saudisch unterstützten antisowjetischen Mudjaheddin an den Hindukusch gelangte. Verfochten wird sie heute insbesondere von der islamistischen Hekmatyar-Fraktion, die in den Augen Präsident Karzais heute ein wichtiger Verbündeter ist. Von einem Zurück zur afghanischen Tradition könne also keine Rede sein, so Tillmann Schmalzried, Afghanistan-Koordinator der "Gesellschaft für bedrohte Völker". Die derzeitige Entwicklung sei von Abdul Rasul Sayyaf angestoßen worden, einem der neuen Verbündeten von Präsident Karzai.Schmalzried: "In Wirklichkeit hat Sayyaf, der alte große Warlord Afghanistans, der noch übrig ist, und in der Politik eine wichtige Rolle spielt, Druck auf Karzai ausgeübt und so ist Shinwari reingekommen. Shinwari war bis 2006 oberster Richter. Er hat relativ schnell Hunderte von Mullahs und fundamentalistische Moslems in oberste Richterpositionen gebracht."Und diese beiden Alt-Mudjaheddin Sayyaf wie Shinwari waren beide langjährige enge Verbündete Osama Bin Ladens.Afghanistan heute: Im Jahr Sieben des Bundeswehr-Mandats.
Von Marc Thörner
Mit seinem militärischen Engagement in Afghanistan wollte der Westen die Voraussetzungen für Frieden und Demokratie schaffen. Doch die Lage am Hindukusch hat sich in den vergangenen Jahren nicht grundlegend verbessert. Im Gegenteil: Die Taliban gewinnen wieder an militärischer und politischer Bedeutung.
"2009-02-14T18:40:00+01:00"
"2020-02-03T10:08:49.378000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-die-taliban-und-der-westen-100.html
885
104 Renntage in 100 Tagen
Die Tour de France soll im August nachgeholt werden. (AFP / Marco Bertorello) Am 1. August soll es los gehen. Innerhalb von nur Hundert Kalendertagen sollen 104 Renntage untergebracht werden, darunter die drei großen Rundfahrten Tour de France, Giro d'Italia und Vuelta a España, aber auch kleinere Rundfahrten und insgesamt 15 Eintagesrennen. Auch sein Kollege Roger Kluge war erleichtert: "Ja, jetzt hat man schwarz auf weiß etwas, mit dem man puzzeln kann und zurechtschieben kann, was geht denn überhaupt, welche Rennen kann man bestreiten, die man sonst eigentlich bestreiten würde." Giro-Veranstalter ist sauer Diese Puzzlearbeit ist nicht leicht. Mehr Renntage als Kalendertage zwischen Anfang August und Anfang November - das führt zwangsläufig zu vielen Überschneidungen. Unter denen leidet vor allem der Giro. RCS, der Veranstalter der Italien-Rundfahrt reagierte säuerlich. Man habe dem Weltradsportverband UCI Alternativen vorgeschlagen, die aber nicht angenommen wurden, hieß es in einer Pressemitteilung. Auch Ralph Denk, Chef des deutschen Rennstalls Bora hansgrohe, sieht den Giro schlecht platziert. Zur zeitlichen Entzerrung hätte er Rennen bis Ende November befürwortet, teilte er Deutschlandfunk mit. Denk bestätigte aber auch, seine Fahrer nicht eigenmächtig von Rennen zurückziehen zu wollen. Radsport in der Coronakrise - Dicht gedrängter RennkalenderIm Radsport hat mitten in der Coronakrise bereits das Planen für die Zeit danach begonnen. Verhaltener Optimismus herrscht, seitdem der Start der Tour de France um zwei Monate auf den August verschoben wurde. Er nimmt damit eine Gegenposition zu David Brailsford ein. Der Chef des britischen Rennstalls Ineos hatte gewarnt, bei zu großen Risiken seine Fahrer auch dann aus den Rennen zu nehmen, wenn Veranstalter und Gastgeberländer sie noch für machbar halten. Dort liegt Konfliktpotential. Physisch immerhin ist das ambitionierte Programm machbar. "Klar, es ist dicht, aber es fährt ja nicht jeder alles", meinte Lotto Soudal-Profi Kluge. "Man kann jetzt nicht Giro und Klassiker fahren. Das war eigentlich so angedacht bei uns dieses Jahr." Er rechnet mit etwa 30 Renntagen für sich selbst. Er geht auch davon aus, dass die Teamleitung auf Bedenken von Fahrern hören wird, die Rennen nicht fahren wollen, weil ihnen das Risiko aufgrund der Pandemie zu groß erscheint. Deutsche Rennen nicht auf UCI-Liste Nikias Arndt vom deutschen Rennstall Sunweb glaubt dies auch von seinem Arbeitgeber. "Ich weiß, dass unser Team uns zuhört, dass sie uns fragen, wie sehen wir die gesamte Situation, dass sie individuell auf die Fahrer eingehen." Arndt schätzt aber auch ein: "Ansonsten, wenn das Renngeschehen wirklich wieder losgehen sollte, und dann auch zwei- oder dreigleisig, ist es natürlich so, dass alle Fahrer auch gebraucht werden." Wenn es überhaupt wieder losgehen sollte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Rennkalender vor allem ein Produkt der Hoffnung für Teams, Rennveranstalter und Fahrer. Deutsche Rennen haben es übrigens gar nicht auf die Wunschliste der UCI geschafft. Der Bund deutscher Radfahrer hat international wenig Gewicht. Und auch der wichtigste Veranstalter von Rennen auf deutschem Boden ist das französische Unternehmen Amaury Sport. Das denkt primär an die Rennen in Frankreich, vor allem natürlich an die Tour de France.
Von Tom Mustroph
Am 1. August soll laut Weltverband UCI die Radsport-Saison wieder starten, unter anderem mit der Tour de France. Der Kalender ist straff, vor allem der Giro d'Italia leidet unter Überschneidungen. Das birgt Konfliktpotential.
"2020-05-07T22:57:00+02:00"
"2020-05-08T09:22:53.421000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radsport-104-renntage-in-100-tagen-100.html
886
Viele Tests, wenig Auskünfte
Ersatzspieler von Eintracht Frankfurt auf der Tribüne mit Mundschutz. (Fotoagentur Sven Simon) Es ist die Grundlage dafür, dass in der Bundesliga wieder der Ball rollt: das Hygienekonzept von DFL und DFB. Aber auch drei Wochen nach dem Restart ist oft nicht klar, wer kontrolliert, dass die Vorgaben auch eingehalten werden. Laut Bundesregierung stehen "zuallererst die Vereine der Bundesliga und 2. Bundesliga und ihre Hygienebeauftragten" in der Verantwortung, das Konzept umzusetzen und Verstöße zu sanktionieren – der Profi-Fußball soll sich also selbst kontrollieren. Bereits vor drei Wochen haben wir die Deutsche Fußball-Liga gefragt, wie genau diese Selbstkontrolle aussieht – bis heute haben wir keine Antworten auf unsere Fragen erhalten. In der Antwort auf eine Anfrage von Grünen-Sportpolitikerin Monika Lazar verweist die Bundesregierung zudem auf die örtlichen Behörden. Eine Deutschlandfunk-Abfrage bei allen 36 Profi-Vereinen aus der 1. und 2. Bundesliga und den zuständigen Gesundheitsämtern zeigt aber nun, dass nur an manchen Standorten staatliche Behörden Kontrollen durchführen – und das die Zahl der benötigten Corona-Tests höher liegt, als ursprünglich von der DFL geplant. Die Antworten auf unsere Fragen haben wir unten zusammengefasst. Bis jetzt (Stand: 11. Juni, 18 Uhr) haben 27 Vereine (14 Erstligisten und 13 Zweitligisten) und 17 Gesundheitsämter auf unsere Anfrage geantwortet. Wir haben sie am Ende des Artikels aufgelistet. Sollten uns weitere Antworten erreichen, werden wir diese nachträglich in den Artikel einpflegen.* Gab es seit dem Restart der Bundesliga positive Corona-Tests? Von den 13 Erstligisten, die uns geantwortet haben, geben elf an, dass es keine oder keine dem Verein bekannten Coronafälle gegeben habe. RB Leipzig schreibt, dass man zu diesem Thema "generell keine Auskunft" gebe. Werder Bremen gibt an, dass es einen positiven Fall im Umfeld eines Spielers gegeben habe. Der Spieler sei in Quarantäne gegangen, sei aber bei allen Tests negativ gewesen und nun wieder im Training. Diesen Fall hatte Werder am 15. Mai, also am Tag vor dem Restart, selbst öffentlich gemacht. Aus der 2. Liga schrieben acht der 13 Vereine, die uns geantwortet haben, dass es bei ihnen keine positiven Fälle gegeben habe. Fünf Vereine machen dazu keine Angaben: VfL Bochum, Hannover 96, FC St. Pauli, SSV Jahn Regensburg, VfB Stuttgart. Der VfL Bochum verweist auf einen zu kurzen Antwortzeitraum und die Zuständigkeit der Deutschen Fußball-Liga. Hannover 96 bittet um Verständnis, "dass wir keine Auskunft zu gesundheitlichen Daten unserer Spieler und deren Familien sowie sonstiger Mitarbeiter geben." Von den Gesundheitsämtern teilen 13 mit, dass es in ihrem Zuständigkeitsbereich keine positiven Covid-19-Tests in den Vereinen gegeben habe. Aus vier Rückmeldungen geht nicht eindeutig hervor, ob es im abgefragten Zeitraum Coronafälle gegeben hat: Düsseldorf, Hamburg-Altona (für den HSV zuständig) und Wolfsburg. Der HSV und der VfL Wolfsburg haben nicht auf unsere Umfrage geantwortet. Fortuna Düsseldorf teilt uns mit, dass es beim Verein "bisher keinen bekannten Corona-Fall" gegeben habe. Dem Gesundheitsamt Dresden teilte mit, dass ab besagtem Zeitraum ein positiver Fall gemeldet wurde. Die Coronafälle bei Dynamo Dresden sind öffentlich bekannt. Quarantäne für alle in Berlin? Der für Hertha BSC zuständige Bezirksstadtrat für Soziales und Gesundheit kündigte im Dlf an, die komplette Mannschaft in Quarantäne zu schicken, sollte ein Spieler bei Hertha BSC mit Corona infiziert sein und auf dem Platz stehen. Wie viele Tests wurden bislang im Auftrag des Vereins durchgeführt? Vier Erstligisten machen hierzu keine Angaben: Der FC Augsburg, Fortuna Düsseldorf, der SC Freiburg und RB Leipzig. Der FC Augsburg verweist in dieser Frage an die DFL. Drei Vereine antworten allgemein, dass sie sich an die von der DFL vorgegeben Testungen hielten: Hertha BSC, 1. FC Köln und SC Paderborn. Borussia Dortmund teilt mit, dass man "keine Statistik über die Gesamtzahl" der Tests führe. Drei Vereine werden konkreter. Die TSG Hoffenheim berichtet von rund 600 Tests, die alle negativ waren. Mainz 05 schreibt: "Es gab bisher 11 Testreihen, unsere Testgruppe besteht aus 51 Personen." Multipliziert ergibt dies 561 Tests, allerdings ohne die im Hygienekonzept vorgesehenen freiwilligen Tests für Angehörige. Eintracht Frankfurt ergänzte, bei der Zahl der Tests handle es sich um die DFL-Testreihe "zuzüglich zwei notwendig gewordener Testreihen aufgrund der damaligen Infektionen." Bei Eintracht Frankfurt hatte es vor dem Saison-Wiederbeginn mehrere Coronafälle gegeben. Bayer Leverkusen teilte mit, dass es dort bisher 550 Coronatests inklusive des Kaders der Frauen-Bundesliga gegeben habe. Borussia Mönchengladbach teilte mit, dass rund 300 Tests durchgeführt worden seien. Corona-Tests in der Bundesliga - Keine Extrabehandlung?Mitten in der Hochphase der Coronakrise im März wurde die ganze Mannschaft von Eintracht Frankfurt inklusive Betreuerstab und Trainerteam auf COVID-19 getestet. Zu einer Zeit, als Tests in Deutschland noch Mangelware waren. Das sorgte für Unmut. Werder Bremen teilt mit, dass dort eine Testreihe 55 Menschen umfasse und bereits zehn Testreihen durchgeführt worden seien. Zudem seien 80 Angehörige einmalig getestet worden. Dies ergibt eine Summe von 630 Tests bis zum 30. Spieltag. Rechnet man die Zahlen von Bremen auf alle Profi-Vereine hoch, ergibt das eine Test-Anzahl von etwa 35.000 bis zum Ende der Saison. Das sind 10.000 Tests mehr, als die DFL in ihrem ersten Entwurf für das Hygienekonzept vorgesehen hatte – die DFL hatte gegenüber Zeit Online bereits bestätigt, dass mehr Tests benötigt werden. Zum Vergleich: In der vergangenen Woche hat es in Deutschland laut der der "Vereinigung der Akkreditierten Labore" 340.000 Tests gegeben, weitere 500.000 wären möglich gewesen. Die Zweitligisten verweisen nahezu allesamt darauf, dass sie sich an die von der DFL vorgeschriebenen Testungen hielten. Der VfL Bochum und Arminia Bielefeld machen keine Angaben. Der 1. FC Nürnberg teilt mit, es seien 14 Testreihen absolviert worden. Greuther Fürth schreibt, dass zusätzlich zu den vorgeschriebenen Test vor der Wiederaufnahme des Kleingruppentrainings schon "eigeninitiativ zwei Testdurchläufe mit unserer Mannschaft" gemacht worden seien, um das Risiko zusätzlich zu minimieren. Wie wurde die Einhaltung des DFL-Hygienekonzepts kontrolliert? Die Erstligisten Augsburg, Düsseldorf und Leipzig machen keine Angaben. Mainz 05 und der SC Paderborn sprechen von einem engen Austausch mit den örtlichen Behörden. Eine Kontrolle bejaht haben Hertha BSC, Werder Bremen und die TSG Hoffenheim (alle durch Gesundheitsamt und Ordnungsamt), der SC Freiburg (keine weitere Angabe) und der 1. FC Köln (durch Gesundheitsamt und DFL), Bayer Leverkusen (durch die Gesundheitsämter Köln und Leverkusen) sowie Eintracht Frankfurt, Borussia Mönchengladbach (durch das örtliche Gesundheitsamt, durch den arbeitsmedizinischen Dienst Mönchengladbach und durch die Task Force der DFL) und Borussia Dortmund (beide Gesundheitsamt). Das Gesundheitsamt Dortmund gibt gegenüber dem Deutschlandfunk allerdings an, dass es keine Kontrolle geben würde, weil die Überprüfung der Einhaltung des Hygienekonzeptes gesetzlich nicht vorgesehen sei. "Da das Gesundheitsamt keine durch den Trainings- oder Spielbetrieb verursachte erhöhte Infektionsgefahr für die Bevölkerung sieht, gibt es aus medizinischer Sicht für Kontrollen auch keine Notwendigkeit", so die Behörde. Zu diesem Widerspruch erklärt BVB-Sprecher Sascha Fligge, dass es zwei Besuche durch das Gesundheitsamt gegeben habe – einen vor Wiederbeginn der Saison und einen in der vergangenen Woche. Dabei seien Abläufe und die Testungen der Spieler überprüft worden, allerdings habe es keine Abnahme des Gesamtpakets gegeben. So seien die unterschiedlichen Aussagen einzuordnen. Eintracht Frankfurt teilte uns mit, das Gesundheitsamt habe sich ein Bild von der "Umsetzung des DFL-Hygienekonzepts machen" können und "es gab für unsere Umsetzung durchweg positives Feedback." Das Gesundheitsamt der Stadt teilte mit, das Hygienekonzept an sich sei überprüft und für gut befunden worden. Die Umsetzung von Hygienekonzepten im Sportbereich werde aber vom Gesundheitsamt nicht kontrolliert. Dazu fehle die gesetzliche Grundlage. Das Stadion des SC Freiburg blieb beim Spiel gegen Borussia Mönchengladbach ohne Zuschauer. (Avanti/Ralf Poller) Die Gesundheitsämter in Freiburg, Heidelberg (zuständig für Hoffenheim und Sandhausen), Köln, Leipzig und Darmstadt geben dem Deutschlandfunk gegenüber an, dass sie Kontrollen durchgeführt hätten. Dabei seien keine Beanstandungen festgestellt worden, beziehungsweise "keine Beanstandungen, die den Wettbewerbsbetrieb verhindern", wie die Kölner Behörde schrieb. Auch das Gesundheitsamt in Darmstadt meldet, bei Kontrollen vor Aufnahme des Mannschaftstrainings und des Heimspielbetriebs habe man "geringe Mängel" gefunden, die "dann umgehend vom Verein abgestellt wurden." Die Kontrollen bei den Heimspielen seien dann ohne Beanstandungen gewesen. Berlin-Charlottenburg (zuständig für Hertha BSC) teilte mit, das Hygienekonzept sei überprüft worden, es habe keine Beanstandungen gegeben und die Einhaltung überwache das Ordnungsamt. Das Gesundheitsamt Dresden teilte mit, das Konzept sei in einer gemeinsamen Beratung inhaltlich erörtert worden. Zwischen dem Verein und dem Gesundheitsamt gebe es einen intensiven Informationsaustausch. Bei den Zweitligisten sprechen Bielefeld, Greuther Fürth, Heidenheim, St. Pauli und Jahn Regensburg von einem engen und regelmäßigen Austausch, bleiben aber vage, ob es Kontrollen gegeben hat. Dass es Kontrollen gegeben habe, teilen folgende Vereine mit: Darmstadt 98, 1. FC Nürnberg (beide durch das Gesundheitsamt), SV Wehen Wiesbaden (durch das Gesundheitsamt sowie das Hessische Amt für Soziales). Aue, Bochum, Hannover und Stuttgart machen keine Angabe. Unterschiedliche Rückmeldungen Der VfL Osnabrück teilt mit, es habe Kontrollen gegeben, unter anderem durch das zuständige Gesundheitsamt. "Teilweise proaktiv durch den VfL Osnabrück initiiert. Es gab keine Beanstandungen, nur positive Resonanz." Das Gesundheitsamt hingegen schreibt, es "überprüft nicht das Hygienekonzept der DFL, das fällt in deren eigene Zuständigkeit." Der Verein präzisiert auf Nachfrage, dass das Gesundheitsamt nicht die 1:1-Kontrolle des DFL-Hygienekonzepts übernehme. Nichtsdestotrotz sei man im ständigen Austausch und habe auch über das Hygienekonzept hinaus Maßnahmen ergriffen. Diese sei man gemeinsam durchgegangen. Die Gesundheitsämter Karlsruhe und Hannover geben an, sie hätten keine Kontrollen durchgeführt. Anders die Gesundheitsämter in Bielefeld und Kiel. In Bielefeld habe es bereits eine Kontrolle gegeben und weitere seien geplant, das Kieler Amt kontrolliere Holstein regelmäßig. Das Konzept werde bislang eingehalten, schreibt das Gesundheitsamt. Vom Verein selbst hat die Deutschlandfunk-Sportredaktion keine Rückmeldung erhalten. * Update am 6.6., 21 Uhr: In unserer ersten Version des Artikels hatten wir die Antwort der TSG Hoffenheim unterschlagen, die tatsächlich mit als erstes geantwortet hatte. Die Angaben sind nun in den Artikel integriert. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen. Update am 7.6., 12:30 Uhr: In einer früheren Version sprachen wir von einem Widerspruch zwischen den Angaben von Eintracht Frankfurt und dem Gesundheitsamt. Dies haben wir präzisiert. Ebenso konnten wir die Zahl der Testreihen ergänzen. Update 7.6., 13 Uhr: Die Angaben von St. Pauli wurden ergänzt. Update 8.6., 11.30 Uhr: Die Angaben von Bayer Leverkusen wurden ergänzt. Update 8.6., 19 Uhr: Die Angaben von Borussia Mönchengladbach wurden ergänzt. Update 8.6., 20 Uhr: Die Angaben des Gesundheitsamts Berlin-Charlottenburg wurden durch den Stadtrat für Soziales und Gesundheit, Detlev Wagner, ergänzt. Eine Ergänzung des Gesundheitsamts Dresden wurde eingefügt. Update 11.6, 18 Uhr: Die Angaben des Gesundheitsamtes Darmstadt wurden ergänzt. Geantwortet haben (in alphabetischer Reihenfolge): 1. Bundesliga: FC Augsburg, Hertha BSC, Werder Bremen, Borussia Dortmund, Fortuna Düsseldorf, Eintracht Frankfurt, SC Freiburg, TSG Hoffenheim, 1. FC Köln, RB Leipzig, Bayer Leverkusen, Mainz 05, Borussia Mönchengladbach, SC Paderborn. 2. Bundesliga: Erzgebirge Aue, Arminia Bielefeld, VfL Bochum, Darmstadt 98, Greuther Fürth, Hannover 96, FC Heidenheim, 1. FC Nürnberg, VfL Osnabrück, FC St. Pauli, Jahn Regensburg, VfB Stuttgart, SV Wehen Wiesbaden. Geantwortet haben nicht: Union Berlin, Bayern München, FC Schalke 04, VfL Wolfsburg (1. Liga), Dynamo Dresden, Hamburger SV, Karlsruher SC, Holstein Kiel, SV Sandhausen (2. Liga). Folgende Gesundheitsämter haben geantwortet: Bielefeld, Darmstadt, Dortmund, Düsseldorf, Dresden, Frankfurt, Freiburg, Hamburg-Altona (HSV), Hannover, Heidelberg (zuständig für Hoffenheim und Sandhausen), Karlsruhe, Kiel, Köln, Osnabrück, Leipzig, Wolfsburg.
Von Victoria Reith und Maximilian Rieger
Die Wiederaufnahme des Spielbetriebs der Fußball-Bundesliga und die damit verbundenen Coronatests haben für eine Menge Diskussionen gesorgt. Seit der Ball wieder rollt, ist es still geworden um die Zahl der Tests und die Ergebnisse. Wir haben bei den Vereinen und den Gesundheitsämtern nachgefragt.
"2020-06-06T17:00:00+02:00"
"2020-06-08T20:58:50.739000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-und-fussball-bundesliga-viele-tests-wenig-auskuenfte-100.html
887
Im Zweifel für die Forschung
Wenn das Team von Ron Fouchier zur Arbeit kommt, heißt es erst einmal: Umziehen. Die Forscher schlüpfen in einen Schutzanzug, streifen sich Handschuhe und Schutzmaske über. Erst dann geht es durch eine Schleuse ins Labor."Es ist ein Labor der biologischen Schutzstufe 3 plus plus. Im gesamten Labor herrscht Unterdruck, so dass keine Luft nach draußen dringt - die gesamte Abluft wird durch Virenfilter geleitet. Die Käfige mit den Frettchen stehen noch einmal in extra gesicherten Kästen, so dass das Virus gar nicht erst in den Raum gelangt."Der Aufwand ist berechtigt: Die Forscher von der Erasmus Universität in Rotterdam arbeiten mit dem Vogelgrippevirus H5N1. Sie haben das Virus im Labor so verändert, dass sich Frettchen gegenseitig damit anstecken können – über Tröpfcheninfektion. Frettchen sind Säugetiere, sie reagieren auf Grippeviren ganz ähnlich wie Menschen."Wir haben die Studie gemacht, um eine wichtige Frage zu klären: Könnte die Vogelgrippe H5N1 eine Pandemie auslösen? Und die Antwort ist: Ja, theoretisch kann dieses Virus eine Pandemie auslösen."Monatelang wurde darüber diskutiert, ob die Studie überhaupt veröffentlicht werden soll. Einige Politiker und Wissenschaftler aus den USA waren dagegen: Sie hatten Angst, dass Terroristen das Virus dann nachbauen könnten oder dass das Virus aus einem Labor entwischt und eine Pandemie auslöst. Ron Fouchier und sein Team haben daraufhin ihre Forschung erst einmal ruhen lassen. Heute erscheint die Studie im Fachmagazin "Science" - mit allen Details. Die Forscher beschreiben, wie und an welchen Stellen sie das H5N1-Virus verändert haben. Ihr Fazit: Gerade einmal fünf Mutationen reichen aus, um die Vogelgrippe von Frettchen zu Frettchen springen zu lassen. Das veränderte Virus kann besser in Säugetierzellen eindringen und sich in den oberen Atemwegen vermehren. "Wir haben jede einzelne dieser Mutationen schon einmal bei Grippeviren in der Natur gesehen; manchmal auch Kombinationen von zwei Mutationen. Die Frage ist: wie wahrscheinlich ist es, dass alle fünf Mutationen auf einmal im H5N1-Virus auftauchen. Das kann ich noch nicht sagen. Aber nach allem, was wir generell über Viren wissen, kann das passieren. Und wir sollten darauf vorbereitet sein."Für Grippeforscher sind diese Informationen sehr wichtig: Wenn sie die Mutationen kennen, können sie unter anderem die Viren in der Natur besser überwachen."Ich hoffe, dass wir jetzt der breiten Öffentlichkeit besser erklären können, warum wir daran arbeiten, und dass wir sicher arbeiten, und den Menschen einige ihrer Sorgen nehmen."Das größte Missverständnis, das vor allem in den Medien kursiert ist: Die Forscher aus Rotterdam hätten ein tödliches Virus geschaffen, das Frettchen und wahrscheinlich auch Menschen reihenweise dahinrafft. Das stimmt so nicht: Die Frettchen haben sich zwar gegenseitig angesteckt, sie sind aber nicht gestorben. "Dieses ansteckende H5N1-Virus ist sicherlich nicht harmlos. Alle pandemischen Grippeviren können Menschen töten. Wenn ich unser H5N1-Virus auf einer Skala einordnen müsste, dann würde ich es schon gefährlicher einstufen als die Schweinegrippe oder die saisonale Grippe. Aber es würde sicherlich nicht die halbe Weltbevölkerung umbringen – wie die Presse berichtet hat."Die gute Nachricht ist: Die Weltgesundheitsorganisation hat schon vor Jahren Impfstoffe gegen die normale Vogelgrippe entwickeln lassen. Und die schützen offenbar auch vor dem Virus aus Rotterdam. "Unser übertragbares H5N1-Virus reagiert sogar noch viel empfindlicher auf die Impfantikörper als normale H5N1-Viren. Wir könnten uns möglicherweise besser davor schützen als vor der normalen Vogelgrippe."Die Virologen aus Rotterdam sind alle gegen die Vogelgrippe geimpft. Sollten sie sich im Labor infizieren, können sie das Virus nicht weiterverbreiten. Und für den Ernstfall gibt es auch noch eine Quarantänestation. Das Labor sei noch einmal überprüft und für sicher befunden worden, sagt Ron Fouchier. Jetzt hoffen alle, dass sie so bald wie möglich weiter an den Viren arbeiten können.
Von Marieke Degen
Forscher um den Virologen Ron Fouchier haben das H5N1-Virus im Labor so verändert, dass sich auch Säugetiere gegenseitig damit anstecken können und damit gezeigt: H5N1 könnte auch eine Pandemie beim Menschen auslösen. Monatelang wurde darüber gestritten, ob so eine Forschung überhaupt stattfinden und veröffentlicht werden darf. Heute schließlich erscheint die umstrittene Studie im Fachblatt "Science".
"2012-06-22T16:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:14:18.377000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/im-zweifel-fuer-die-forschung-100.html
888
Bundeswirtschaftsministerium erwägt neues Kartellrecht
Deutsche Kartellwächter könnten in Zukunft leichter gegen Internetkonzerne wie Google vorgehen (picture alliance / Christoph Dernbach) Dirk-Oliver Heckmann: Wirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU will sich Google und Co. vorknöpfen – und das Kartellrecht für die Digitalwirtschaft verschärfen. Sina Fröhndrich, was hat der Minister vor? Sina Fröhndrich: Das wissen wir noch nicht genau: Denn es geht zunächst mal nur um eine Studie. Die hat Peter Altmaier in Auftrag gegeben – diese Studie wird heute übergeben – und wir haben sie vorab bekommen. Tenor ist: Die Wettbewerbshüter sollen künftig früher aktiv werden können – nämlich bevor ein Konzern marktbeherrschend ist. Zum Beispiel, wenn sich schon andeutet, dass ein Unternehmen mit unfairen Mitteln versucht den Markt zu beherrschen. Das sollte dann auch schon ein Fall für die Wettbewerbshüter sein. Heckmann: Was könnten das für unfaire Mittel sein? Fröhndrich: Zum Beispiel, wenn ein Anbieter versucht zu verhindern, dass Kunden auch andere Dienste nutzen, Konkurrenzanbieter, solche, die nicht zum eigenen Haus gehören. Oder: Wenn große Unternehmen kleine Startups aufkaufen, sollten solche Fusionen vielleicht auch mal untersagt werden können, fordern die Studienautoren. Ich musste da sofort an Facebook denken, das erst Instagram und dann Whatsapp übernommen hat. Und damit seine Datenmacht vergrößern konnte. Studienautor Justus Haucap von der Universität Düsseldorf, der frühere Vorsitzende der Monopolkommission, beschreibt das so: "Eine Sorge, die viele haben ist, dass kleine Unternehmen systematisch aufgekauft werden von den Großen. Eigentlich Unternehmen, die durchaus sich zu Wettbewerbern hätten entwickeln können, aber doch so eine Gesamtstrategie der großen Anbieter zu geben scheint, den Wettbewerb vom Markt wegzukaufen." Und die Studie greift noch eine andere interessante Frage auf: Sollte ein Konzern, der den Markt beherrscht, seine Daten offenlegen. Sollte es ein Daten-für-Alle-Gesetz geben, so wie es zuletzt die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles gefordert hat. Mehr Wettbwerber durch Datenfreigabe? Heckmann: Interessanter Vorschlag, aber wie soll das gehen, Daten freigeben? Fröhndrich: Stellen wir uns vor, Google muss seine Daten offenlegen – das könnte anonymisiert passieren. Vorteil laut Ökonom Haucap wäre, man würde erfahren, worauf ein typischer Verbraucher klickt, wie er sucht – und wenn jetzt jemand selbst eine Suchmaschine entwickeln möchte, könnte er auf diese Daten zugreifen – und wäre im besten Fall ein weiterer Anbieter: "Dann kann man sicherlich nicht alle Wettbewerbsprobleme der Welt damit lösen, aber man kann ein Puzzleteil dazu beitragen, dass dann auch Unternehmen es einfacher haben in den Wettbewerb zu kommen." Soweit zumindest die Theorie. Heckmann: Wenn wir über Google sprechen, dann denke ich ehrlich gesagt eher an die EU-Kommission – was können deutsche Wettbewerbshüter eigentlich ausrichten? Fröhndrich: Berechtigte Frage: denn vielfach führt die EU solche Verfahren, denken wir an die Milliardenstrafe gegen Google allein in diesem Jahr. Trotzdem, sagt die Studie, könne auch Deutschland durchaus aktiv werden - Beispiel Bundeskartellamt gegen Facebook - man müsse keineswegs alles der EU überlassen, sagt Justus Haucap. "Und es hat vielleicht sogar Vorteile zu sagen, man führt so ein Verfahren erstmal in einem Land, weil das ja eben auch teils noch neuere Phänomene sind, denen wir uns da ausgesetzt sehen, ich will nicht sagen, wo man experimentieren, aber doch gewisse Lernprozesse durchleben muss." Das Bundeswirtschaftsministerium setzt hier auf jeden Fall eine Priorität: Geplant ist eine Kommission zum Kartellrecht in der Digitalwirtschaft – das steht auch schon im Koalitionsvertrag, die Studie ist der Aufschlag dazu. Ob übrigens Studienautor Justus Haucap Mitglied in der Kommission sein wird – das konnte er nicht beantworten, nur so viel: Er stünde bereit.
Dirk-Oliver Heckmann im Wirtschaftsgespräch mit Sina Fröhndrich
20 Jahre Google: Zum Geburtstag wartet Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit einem besonderen Geschenk für den Suchmaschinenkonzern auf. Er will das Kartellrecht für die Digitalwirtschaft verschärfen – Ökonomen haben im Auftrag des Ministeriums dazu ihre Vorschläge vorgelegt.
"2018-09-04T08:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:09:15.562000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/google-facebook-und-co-bundeswirtschaftsministerium-erwaegt-100.html
890
Wie wichtig ist heute noch korrekte Rechtschreibung?
Alle Buchstaben in Reih und Glied? Oder alles durcheinander? Was im Kontakt mit Freunden noch durchgeht, kann spätestens beim Umgang mit dem Arbeitgeber zum Problem werden. (imago / Ikon Images /Gary Waters)
Köster, Bettina
Rechtschreibung? Erledigt die Autokorrektur! Studien bestätigen bereits: Immer mehr junge Leute können kaum noch richtig schreiben. Aber ist das ein Problem? Und wenn ja, wie lösen wir es? Wir haben nachgefragt! Bei Experten, Schülern – und Bäckern.
"2023-03-16T20:10:00+01:00"
"2023-03-16T14:12:49.960000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wie-wichtig-ist-rechtschreibung-100.html
891
"Ein unstrategischer, symbolischer Einsatz"
Martin Zagatta: Die Bundeswehr hat heute ein Vorauskommando von zwei Dutzend Soldaten für den Einsatz des Raketen-Abfangsystems Patriot in die Türkei verlegt. Das erklärte Ziel: den NATO-Partner Türkei vor möglichen Angriffen aus Syrien zu schützen.Verbunden sind wir jetzt mit Markus Kaim, dem Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, die gerade eine Studie auch zu dem Einsatz erstellt hat. Guten Tag, Herr Kaim.Markus Kaim: Ich grüße Sie.Zagatta: Herr Kaim, vorne weg vielleicht gleich die Frage, die im Bundestag ja auch heftig diskutiert worden ist: Besteht denn aus Ihrer Sicht – Sie kennen ja die Einzelheiten dieses Einsatzes – da jetzt irgendeine Gefahr für die deutschen Soldaten, in eine Auseinandersetzung hineingezogen zu werden?Kaim: Nach aktueller Lage ist das nicht erkennbar. Die syrische Führung ist in der Vergangenheit weder mit Luftangriffen, noch mit Raketenangriffen, ist weder mit dem einen, noch mit dem anderen gegen die Türkei vorgegangen, hat das auch nicht angekündigt oder gar angedroht. Das gäbe politisch auch wenig Sinn. Von daher beruht der ganze Einsatz auf einem Szenario, was hochgradig unwahrscheinlich ist, und damit ist die Frage letztlich beantwortet. Ich sehe nicht, dass deutsche Soldaten auf absehbare Zeit in Gefahr geraten.Zagatta: Aber es hat ja auch schon Tote auf türkischem Gebiet gegeben, das hat ja die türkische Regierung offensichtlich zum Handeln veranlasst und zu dieser Bitte.Kaim: Nach alle dem, was wir wissen, handelt es sich dabei aber eher um, so bedauerlich das ist, zufällige Opfer. Es ist nicht erkennbar, dass das syrische Regime gezielt auf türkisches Territorium geschossen hätte, sondern dass es sich eher um die Streuung von Granatmunition gehandelt habe, als die syrische Armee auf Stellungen der Aufständischen am Rande oder im türkisch-syrischen Grenzgebiet geschossen hat. Die NATO ist ja auch bei ihren Beratungen im vergangenen Jahr immer sehr vorsichtig gewesen, angesichts dieser Vorfälle von einem Verteidigungsfall nach Artikel fünf des NATO-Vertrages auszugehen, und hat das aus, wie ich finde, völlig richtigen Gründen eben nicht als Angriff auf die Türkei gewertet.Zagatta: Wenn Sie sagen, es ist relativ unwahrscheinlich, dass deutsche Soldaten dort in Kampfhandlungen hineingezogen werden, heißt das, der Einsatz ist nicht sonderlich sinnvoll, aber er schadet auch nicht?Kaim: Das ist, glaube ich, eine sehr zutreffende Beschreibung. Er schadet nicht unter technischen Aspekten. Ich habe eben angesprochen, es ist nicht erkennbar, dass das eigentliche Einsatzszenario, nämlich die Abwehr eines Luftangriffes auf die Türkei oder die Abwehr von ballistischen Raketen, die auf die Türkei fliegen, wirklich in den nächsten Wochen erkennbar würde. Das ist ja in der Vergangenheit auch nicht der Fall gewesen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dann hätte die syrische Führung mit einer Vergeltung der NATO zu rechnen, die das Ende des syrischen Regimes bedeuten würde. Was ich damit sagen will: Sie hat eigentlich überhaupt kein Interesse daran.Er schadet nicht und er ist Ausdruck einer Solidaritätsbekundung der deutschen Regierung, die, glaube ich, zwei Gründe hat. Erstens geht es darum, die Türkei davon abzuhalten, unilateral, das heißt auf eigene Faust gegenüber Syrien vorzugehen, angesichts des Aufflammens auch der Kurden-Problematik. Und zum Zweiten, auch wenn das keiner so ganz offen hier in Berlin sagt, hat es natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Bundesrepublik sich nicht am Libyen-Einsatz der NATO im vergangenen Jahr beteiligt hat. Hinter vorgehaltener Hand wird das so eher eingeräumt. Das heißt, man kompensiert etwas, was man im vergangenen Jahr verpasst hat.Zagatta: Jetzt haben Sie uns vorhin gesagt, die NATO hätte da Bedenken gehabt, wollte da auch den Bündnisfall gar nicht ausrufen. Kann sich aber die NATO denn diesem Einsatz oder könnte sich auch Deutschland einem solchen Einsatz entziehen, wenn sich ein Bündnispartner – die Türkei sagt das ja – derart bedroht sieht?Kaim: Es hat ja auch in der Vergangenheit andere Mechanismen gegeben oder andere Beispiele gegeben, wo Bündnispartner sich bedroht gefühlt haben, egal ob das die Bundesregierung für zutreffend gehalten hat. Konkret denke ich zum Beispiel an einige Staaten des baltischen Raumes, die auf eine potenzielle Bedrohung durch Russland verwiesen haben. Das ist in der Sache hier in Berlin nicht geteilt worden, aber gleichzeitig hat man dann zum Beispiel durch gemeinsame Übungen und durch gemeinsame Luftpatrouillen im baltischen Raum versucht, dieser Bedrohungswahrnehmung die Spitze zu nehmen. Ich glaube, das ist tatsächlich auch ein Teil dieser Patriot-Stationierung. Es geht weniger um die Situation in Syrien selber, dann läge auch ein anderes militärisches Handeln nahe, sondern es geht eher darum, Solidarität gegenüber der Türkei Ausdruck zu verleihen, um die Türkei davon abzuhalten, alleine gegenüber Syrien vorzugehen.Zagatta: Würden Sie denn – Sie kennen ja die Region – ein anderes politisches Handeln da für sinnvoll halten, um dem Morden ein Ende zu machen?Kaim: Das ist mein Hauptkritikpunkt an dem Einsatz. Ich halte ihn insofern für unstrategisch, weil das überwölbende politische Ziel der deutschen Politik ist doch, wie wir aus den letzten knapp zwei Jahren wissen, das Morden in Syrien zu beenden, und das hat gar nichts mit der Situation in der Türkei zu tun. Und der Einsatz der Patriot-Raketen in der Türkei sorgt jetzt dafür, so eine gewisse Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit unter Berliner Entscheidungsträgern auszulösen, dass man jetzt doch militärisch etwas getan habe. Aber dem überwölbenden Ziel, nämlich dem Morden in Syrien ein Ende zu bereiten, sind wir damit keinen Schritt näher gekommen. Deshalb halte ich das eher für einen unstrategischen symbolischen Einsatz.Zagatta: Richtet sich die Kritik jetzt an Berlin, an die Bundesregierung, oder an die NATO auch, oder an die internationale Staatengemeinschaft? Da gibt es ja auch große Widerstände.Kaim: Konkret muss man natürlich sagen, die Beratungen der NATO halte ich hier nicht für zielführend. Es gibt ja durchaus Vertreter in der NATO, die andere Planungen bevorzugt haben, nämlich tatsächlich für ein mögliches militärisches Engagement des Westens, der NATO in Syrien selber, so unbequem das in vielfältiger Perspektive auch sein mag und so risikoreich das sein mag. Ich will das gar nicht hier kleinreden. Nur das ist eine Perspektive, die ich der Situation angemessener finde, weil es um den Kern des Problems geht, nämlich wie man den syrischen Bürgerkrieg einhegen kann oder gegebenenfalls einer politischen Lösung zuführen kann, und dafür leistet die Stationierung der Patriot-Abwehrraketen in der Türkei nun gar keinen Beitrag.Zagatta: Markus Kaim, der Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Kaim, herzlichen Dank für das Gespräch.Kaim: Gerne!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Kaim im Gespräch mit Martin Zagatta
Nicht sonderlich sinnvoll, aber auch nicht schädlich sei der Patriot-Einsatz der Bundeswehr in der Türkei, meint der Sicherheitsforscher Markus Kaim. Die Bundesregierung kompensiere damit auch Versäumnisse während des Bürgerkriegs in Libyen.
"2013-01-08T12:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:03:45.726000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-unstrategischer-symbolischer-einsatz-100.html
892
Die Abschaffung der Gene
Welche Bedeutung haben Gene noch für die moderne Biologie? (imago / Science Photo Library) Wer schlau ist, besitzt das Intelligenz-Gen, schwul wird man durch das Homosexualitäts-Gen, und auch wer übergewichtig ist, macht seine Gene verantwortlich. Krebsgene verursachen Krebs und der Fußballverein Bayern München hat das Sieger-Gen. Wer das besitzt, kann gar nicht verlieren.Alle reden von Genen. Nur in der Wissenschaft, wo das Gerede von den Genen einst begonnen hat, weiß heute niemand mehr so genau, was ein Gen eigentlich ist. Einer, der es ganz genau weiß, ist Prof. Hans-Jörg Rheinberger, Direktor Emeritus vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. "Ich würde sagen, dass das Gen in diesem Sinne, wie es charakteristisch war für das 20. Jahrhundert, dass es diese Rolle in der Biologie des 21. Jahrhunderts nicht mehr spielen wird." Die Abschaffung der Gene. Von Gregor Mendel zur Systembiologie. "Gene" wurden nicht entdeckt; sie wurden erfunden. In einigen gelehrten Köpfen entstand im Laufe des letzten Jahrhunderts eine Vorstellung, wie Vererbung abläuft und wie so ein Gen als Einheit der Vererbung aussehen könnte. Die Vorstellung wurde mit der Zeit immer konkreter. Sie half dabei, neue Erkenntnisse über die Vererbung zu gewinnen, erläutert der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, Direktor Emeritus am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. "Die Frage, was ein Gen ist und was nicht, hängt immer auch mit den Manipulationen zusammen, die wir mit diesem Material durchführen können. Das ist ja die Art und Weise, wie wir darüber etwas lernen." Gene lassen sich heute lesen wie ein Buch. Biologen haben sogar gelernt, die Einheiten der biologischen Vererbung künstlich zusammenzubauen und von einer Art auf eine andere zu übertragen. Sie manipulieren Gene oder programmieren sie wie einen Computer.Dabei dringen sie immer tiefer vor - bis auf die Ebene einzelner Moleküle. In den Lehrbüchern besitzt das Gen seit den 1970er Jahren eine wissenschaftliche Definition. Aber nun stellt sich heraus: Alles ist komplizierter, erklärt Prof. Rheinberger: "Das Gen im Sinne einer solchen rigiden Definition hat sich aufgelöst. Es hat sich regelrecht verflüssigt." Um zu verstehen, warum es dem Gen jetzt an den Kragen geht, ist es wichtig, seine Geschichte zu kennen. Seinen Aufstieg und seinen Niedergang. Es begann vor 150 Jahren. Der "Vater der Genetik": Gregor Johann Mendel Gregor Johann Mendel ( imago/United Archives International) Am 8. Februar 1865 trat ein großgewachsener, kräftig gebauter Mönch Mitte vierzig mit Nickelbrille vor die naturforschende Gesellschaft der Stadt Brünn. Einigen der anwesenden Honoratioren war Gregor Johann Mendel bereits bekannt als Lehrer für Naturwissenschaften am Gymnasium der mitten in der Stadt gelegenen Augustiner-Abtei. "Wir wissen, dass mehr als 60 Personen zuhörten, als Mendel seine Ergebnisse vortrug und die Zeitungen in Brünn berichteten darüber." Ondrey Dostàl leitet das Mendel-Museum in Brünn. Heute heißt die Stadt Brno und ist die zweitgrößte Stadt Tschechiens. Sie liegt auf halber Strecke zwischen Prag und Wien. "Mendel ging als Augustiner-Mönch zum Studium nach Wien, weil er unter Prüfungsangst litt und beim Examen für den Lehrerberuf durchgefallen war. Für Mendel erfüllte sich ein Traum. Er studierte bei dem renommierten Physiker Christian Doppler, damit er in Brünn Lehrer werden durfte", so der Museumsdirektor Dostàl. Beten und Lehren. Das war dem naturwissenschaftlich interessierten Mönch nicht genug. Er wollte selber forschen. Da er sich im Kloster ohnehin um den Garten kümmern sollte, züchtete er dort Erbsenpflanzen. "Als Mendel mit seinen Experimenten begann, suchten viele Wissenschaftler nach den Prinzipien der Vererbung. Die meisten beschränkten sich auf die Beobachtung. Mendel jedoch hatte im Physikstudium gelernt, wie man aus Experimenten Schlüsse zieht, und wie man Experimente statistisch auswertet. Er suchte nach zählbaren Einheiten der Vererbung, die er im Innern der Pflanzen vermutete." Der Garten und die Grundmauern eines Treibhauses sind heute in Brno hinter den Klostermauern zu besichtigen. Unter einem Baum steht ein lebensgroßes Mendel-Denkmal. Die nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Augustiner sind in das Kloster zurückgekehrt. Und in der Klosterkirche wird die Messe auf Tschechisch gefeiert. Was der Mönch bei seinem Vortrag berichtete, steht heute in den Schulbüchern. Mendel hat herausgefunden: Wenn er weißblühende mit rotblühenden Erbsen kreuzte, waren alle Pflanzen der nächsten Generation rotblühend. Die weißen Blüten waren anscheinend verschwunden. Das besagt heute die erste Mendelsche Regel: die Uniformitätsregel. Dann kreuzte Mendel die Pflanzen erneut, und die bereits verschwundenen weißen Blüten tauchten wieder auf - bei einem Viertel der Pflanzen. So lautet die zweite Mendelsche Regel, die Spaltungsregel: "In dieser Generation treten nebst den dominierenden Merkmalen auch die rezessiven in ihrer vollen Eigentümlichkeit wieder auf, und zwar in dem entschieden ausgesprochenen Durchschnitts-Verhältnisse 3:1." Die Gelehrten, die von Mendels Ergebnissen erfuhren, hielten sie für eine Kuriosität der Erbsenzüchtung. Sie erkannten nicht, dass darin erstmals die materielle Natur der Erbanlagen deutlich wurde. Rückblickend ist klar: Mendel hat grundlegende Gesetze der Vererbung nachgewiesen. Mehr noch: Er hat Erbanlagen zählbar gemacht. Mendel hatte die Wirkung der Gene entdeckt, auch wenn er den Begriff noch nicht kannte. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger formuliert Mendels damaligen Wissensstand so: "Da muss es etwas geben, irgendwo in den Tiefen der Zelle verborgen, das die Ausprägung dieser Merkmale steuert, aber nicht nur das. Dieses etwas muss auch von einer Generation zur nächsten Generation in mehr oder weniger unveränderter Form weiter gegeben werden." "Genetikos": Hervorbringung Mendel war längst gestorben, da wurden um 1900 seine Schriften von vier europäischen Wissenschaftlern aufgegriffen. Sie begründeten die Wissenschaft von der Vererbung, die Genetik. Den Mönch aus Brünn erklärten sie posthum zum Gründervater ihrer Wissenschaft. Was noch fehlte, war ein Name für die Einheiten der Vererbung. Einige Forscher sprachen einfach von Anlagen, andere von Biophoren. Dazu Professor Rheinberger: "Hugo De Vries, ein holländischer Forscher, der an der Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln beteiligt war als einer der wesentlichen Akteure, nannte sie Pangene. Dem dänischen Biologen Wilhelm Johannsen ist dann die etwas kürzere Version zu verdanken, dass man diese Einheiten als Gene angesprochen hat. Und der Begriff hat sich dann eben auch durchgesetzt." Der Name der Wissenschaft "Genetik" war bereits vorher entstanden. Als Vorlage diente das altgriechische Wort "genetikos": Hervorbringung. Und 1909 leitete der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen davon den Begriff "Gen" ab. Gene waren demnach die Einheiten, die einzelne Merkmale hervorbringen. Ein Gen bestimmt die Blütenfarbe der Erbse, ein anderes die Augenfarbe eines Menschen und so weiter: Ein Gen - ein Merkmal. Wie so ein Gen aussah, wussten die ersten Genetiker nicht. Sie verwendeten es wie die Variable X in einer mathematischen Gleichung. Das reichte, um die Forschung voranzutreiben. "Wenn wir davon ausgehen, dass es da etwas gibt, von dem wir nicht genau wissen, wie es materiell verfasst ist, dann können wir dennoch alle unsere Experimente damit wunderbar erklären. Und so blieb das zunächst eine vollkommen abstrakte Entität in der gesamten Epoche der klassischen Genetik bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein", so der Wissenschaftshistoriker Rheinberger. Der Begriff "Gen" erwies sich als Zugpferd für die neue Wissenschaft. Unterdessen entwickelten Physiker und Chemiker neue Methoden, um die Vererbung zu erforschen. In den vierziger Jahren konnte dann die Suche beginnen nach dem Stoff, aus dem die Gene gemacht sind. Die meisten Biochemiker tippten auf die Proteine, die Eiweiße, als Erbsubstanz. Ihre Vielfalt machte sie zu geeigneten Kandidaten. Dann jedoch, Ende der 1940er Jahre, mehrten sich die Hinweise, dass ein fadenförmiges Molekül im Innern des Zellkerns Träger der Gene sein könnte: die Desoxy-Ribo-Nukleinsäure, kurz DNA. Dann war auf einen Schlag alles klar. Am 28. Februar 1953 um die Mittagszeit stürmten zwei junge Männer aus dem benachbarten Labor in den Eagle, einen typisch englischen Pub in der Universitätsstadt Cambridge. Es sprudelte geradezu aus ihnen heraus. Sie hätten - so jubelten die beiden - das Geheimnis des Lebens entdeckt: "I knew Crick. He had a loud voice." Der damalige Doktorand und spätere Nobelpreisträger Aaron Klug erinnert sich gut an die beiden: Den Physiker Francis Crick, den Mann mit der lauten Stimme, der mit Mitte dreißig immer noch keinen Doktortitel hatte. Und den jungen Überflieger aus Amerika, der alles besser wusste: James Watson. "Watson habe ich dann über seine Schwester kennengelernt. Mit der waren wir befreundet. Er schien mir ein merkwürdiger Typ zu sein." Die beiden Außenseiter teilten sich ein Büro am Cavendish-Labor und dort bastelten sie an Molekülmodellen aus Holz und Metall. "Watson war es, der Crick dazu brachte, die DNA zu erforschen. Denn Crick arbeitete eigentlich mit Proteinen. Watson war in dieser Sache äußerst zielstrebig." James Watson war fest davon überzeugt, dass die DNA die Gene von Generation zu Generation trägt. Irgendwie musste die genetische Information darin gespeichert sein. Statt selbst Experimente zu machen, besorgte sich James Watson Messdaten anderer Forscher. So gelangte er an Röntgenbilder der DNA aus dem Londoner Labor von Rosalind Franklin. Ein Kollege hatte die entscheidenden Aufnahmen - ohne dass Rosalind Franklin davon wusste - an Watson weiter gegeben. Der brachte sie nach Cambridge und gemeinsam mit Francis Crick versuchte er, die Bilder zu interpretieren. Die beiden tüftelten ein paar Wochen und schließlich entstand das Molekülmodell der DNA: die Doppelhelix. "Die einzige Person, die die Daten auf Anhieb richtig interpretierte, war Francis Crick. Rosalind Franklin sagte mir einmal: Ich hätte mich treten können, dass ich die Lösung nicht erkannt habe. Aber sie konnte sich noch so treten, die Sache war gelaufen. Das war alles ein großes Drama", so Aaron Klug. Das Jahr 1953 gilt als Wendepunkt für die Biologie Model eines DNA-Moleküls (imago/Westend61) Am 28. Februar 1953 stand das fertige Modell der Doppelhelix auf dem Schreibtisch im Büro von Watson und Crick. Alles passte so gut zusammen, es musste einfach stimmen. Die beiden Stränge, die sich elegant umeinander wanden, und in der Mitte die Leitersprossen, die aus vier Basen bestanden: Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Die Schlussfolgerung war klar: Die Reihenfolge dieser Basen - A, T, G und C - codierte die Information des Lebens. Das war die Sprache der Gene. Heute gilt das Jahr 1953 als Wendepunkt für die Biologie. Die Zeit der klassischen Genetik war vorbei, die Zeit der Molekulargenetik hatte begonnen, erklärt auch der Wissenschaftshistoriker Prof. Rheinberger: "Nach dem für die Molekularbiologie zentralen Schlüsselerlebnis, der Aufdeckung der Struktur der Doppelhelix, wurde nahegelegt, dass Gene möglicherweise so etwas sind wie molekulare Informationsspeicher. Und die Information, die da gespeichert werden sollte, ließ sich darstellen wie eine lineare Bausteinfolge." In den sechziger Jahren stand dann endgültig fest: Drei genetische Buchstaben trugen die Information für eine Aminosäure. Und aus einigen oder auch sehr vielen Aminosäuren setzten sich die Proteine zusammen: die Enzyme, die Antikörper, die Hormone, die Muskelproteine - die wichtigsten Bausteine und Werkzeuge einer Zelle. Das Gen ist demnach ein Bauplan für ein Protein. Es besteht aus Dutzenden, Hunderten oder Tausenden genetischen Buchstaben und wird bei der Zellteilung immer weiter vererbt. Francis Crick formulierte 1959 das zentrale Dogma der Molekularbiologie: "Die Information des Lebens stammt aus der DNA. Sie fließt stets in eine Richtung über das Botenmolekül RNA zu den Proteinfabriken der Zelle, den Ribosomen. Dort entstehen nach den Bauplänen der Gene die Proteine." Was Mendel 1865 erstmals entdeckt hatte und was seine Nachfolger später Gene nannten, war nun keine vage Vorstellung mehr. Es gab eine Erklärung auf der Ebene der Moleküle, die die Forschung beflügelte. Jetzt hieß es nicht mehr "Ein Gen - ein Merkmal", sondern "Ein Gen - ein Protein". Das Gen löste zum zweiten Mal einen Forschungsboom aus. Daraus entwickelte sich in den 1970er Jahren die Gentechnik. Immer mehr Gene wurden entdeckt, wie die "Brustkrebsgene" BRCA 1 und BRCA 2. Eine kleine Veränderung in diesen Genen erhöht das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken erheblich. Ein Gen für blaue Augen haben die Forscher jedoch bis heute nicht entdeckt. Wie auch bei vielen anderen Merkmalen wirken mehrere Gene bei der Entstehung der Augenfarbe zusammen, und manchmal ändert sich die Augenfarbe im Laufe eines Lebens. Den Genforschern wurde langsam bewusst: Die Definition "Ein Gen - ein Protein" ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Mit dem größten Genetikprojekt aller Zeiten, dem "Human-Genom-Projekt" begann dann der Niedergang der Gene. "Die Sprache, in der Gott das Leben schuf" Am 26. Juni 2000 hatte US-Präsident Bill Clinton ins Weiße Haus geladen, und die Presse der Welt war erschienen, etwa zehn, Jahre nachdem das Human-Genom-Projekt seine Arbeit aufgenommen hatte. Das Ziel: die Entzifferung des menschlichen Erbguts Buchstabe für Buchstabe. In einer Mitteilung des Weißen Hauses hieß es: "Wir lesen jetzt die Sprache, in der Gott das Leben schuf." Zur Rechten von Bill Clinton stand ein kleiner, bulliger US-Forscher mit Glatze: Craig Venter, Präsident des Biotechnologie-Unternehmens Celera:"Diese Arbeit hat eine enorme Bedeutung für unser Wissen über Krankheiten; außerdem für unser Selbstverständnis als Menschen, wer wir sind und wie wir als Art entstanden sind." Die Sprache der Gene zu verstehen, erwies sich allerdings als schwierig. Das Ergebnis der Erbgut-Entzifferung war ein gewaltiger Datenberg, wie ihn die Biowissenschaftler bislang nicht kannten. Immer nur A, T, G und C. Ausgedruckt würden die Buchstaben des menschlichen Genoms mehr als tausend Telefonbücher füllen. Ein Stapel so hoch wie der Kölner Dom. "Hundert Jahre würde man brauchen, um alle Buchstaben des Genoms selbst zu lesen. Um diese riesige Informationsmenge zu verarbeiten, brauchen wir neue Werkzeuge, neue Computer, neue Software. Denn die Information allein sagt gar nichts. Wichtig ist die Interpretation", so der US-Forscher Craig Venter. Der Bioinformatiker Ewan Birney eröffnete damals eine Art wissenschaftliches Wettbüro im Internet. Er forderte seine Wissenschaftlerkollegen auf, Tipps abzugeben: Wie viel Gene sind wohl im Erbgut des Menschen verborgen? Die meisten Experten tippten eine Zahl zwischen 30.000 und 100.000. Gewonnen hat der niedrigste Tipp überhaupt: 26.000 Gene. Später wurde die Zahl weiter gesenkt: auf 22.000 Gene. Das war ein Schock: Der Mensch besitzt kaum mehr Gene als eine Maus. Selbst winzige Fadenwürmer bringen es auf eine ähnliche Anzahl. Viele Pflanzen haben sogar deutlich mehr Gene aufzuweisen als der Mensch. Statt Antworten zu liefern, schürte das entzifferte Genom Zweifel: War der Mensch doch nicht die Krone der Schöpfung? Oder stimmt mit unserer Definition vom "Gen" etwas nicht. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger bezeichnet die Jahre nach 2003, als das Genomprojekt offiziell beendet wurde, als Post-Genomik, eine Zeit der Ernüchterung: "Generell hat mit der Genomik, der Genom-Sequenzierung, eine gewisse Ernüchterung insofern eingesetzt, als man herausgefunden hat, dass das menschliche Genom etwa nur ein Fünftel so viel Gene hat, als man vermutete, sodass sich natürlich die Frage stellte: Also mit nur zwanzig Prozent, wie erklären wir jetzt die ganze Komplexität eines Organismus?" Die Antwort lautete: Die Zahl der Gene sagt kaum etwas aus über die Komplexität eines Organismus. Hatte man auf das falsche Zugpferd gesetzt? Der Bioinformatiker Martin Vingron, Direktor am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin, sieht die Schwierigkeiten, will aber wie die große Mehrheit seiner Kollegen auf den Begriff "Gen" nicht verzichten: "Es ist schon so, dass unser Denken nach wie vor strukturiert wird vom Genbegriff." Die Gene allein entscheiden nichts Die Vorstellung Gregor Mendels und des Dänen Wilhelm Johannsen, dass ein Gen im Innern der Lebewesen ein äußeres Merkmal bestimmt, haben die Genetiker längst hinter sich gelassen. Sie mag helfen, wenn man nach den Ursachen einer Blütenfarbe in Erbsen sucht. Bei den meisten vererbten Merkmalen sind es aber viele Gene, die zusammenwirken. "Man hat sich in den letzten Jahren bemüht, die genetische Grundlage für die Größe eines Menschen zu finden. Es hat sich dabei herausgestellt, dass wohl Hunderte Gene in irgendeiner Weise involviert sind, zu bestimmen, wie groß ein Mensch einmal wird", so der Bioinformatiker Vingron. Auch bei den meisten Krankheiten wirken zahlreiche Gene auf komplizierte Art und Weise zusammen; und dann kommen noch die Umweltfaktoren hinzu. So ist es zum Beispiel beim Brustkrebs. BRCA 1 und BRCA 2 erklären weniger als zehn Prozent der Brustkrebsfälle, meist wirken viele Gene und Umweltfaktoren zusammen. Das Gleiche gilt für fast alle wichtigen Volkskrankheiten. Als das erste Diabetes-Gen gefunden wurde, jubelte die Fachwelt noch. Das zweite fand schon weniger Interesse. Und nachdem über 20 Diabetes-Gene bekannt waren, blieb ein Schulterzucken. Heute heißt es: Die Gene tragen bei zur Erhöhung des Risikos für die Krankheit Diabetes Typ 2 - manche mehr, die meisten weniger, erklärt Martin Vingron: "Man hat erkannt, dass diese 1:1-Beziehung so nicht existiert, dass ein Merkmal von vielen Genen beeinflusst werden kann, dass ein Gen mit seinem Protein viele Merkmale beeinflussen kann, dass ein Gen ohnehin für verschiedene Proteine codiert, weil es viele Isoformen gibt. Also die Beziehungen sind viel komplexer und verschachtelter als man sich das am Anfang vorgestellt hat." Nun wackelte also auch die zweite, die molekulare Definition. Die Gene allein entscheiden nichts. Chemische Anhängsel kontrollieren sie und Proteine steuern das Geschehen von außen. Viele Ebenen wirken miteinander und gegeneinander. Die Faktoren jenseits der Gene werden unter dem Begriff Epigenetik zusammengefasst. Hier stoßen die Forscher täglich auf neue Fragen. Je mehr sie entdecken, umso weniger verstehen sie. Zeit, das "Gen" über Bord zu werfen? Das Human-Genom-Projekt war noch nicht abgeschlossen, da startete bereits eines der Nachfolgeprojekte. Es erhielt den Namen Encode-Projekt. Darin sollte erforscht werden, welche Bereiche im Erbgut aktiv sind. Waren das - wie man zunächst annahm - ausschließlich die Gene? Um das zu überprüfen, suchten die Forscher nach aktiven Bereichen im Erbgut des Menschen. Das sind Bereiche im Erbmolekül DNA, die abgeschrieben werden als RNA. Der vormalige genetische Buchmacher Ewan Birney vom Europäischen Bioinformatik-Institut koordinierte das Projekt und verkündete 2005 die ersten Ergebnisse: "Das war eine Überraschung. Wir fanden viel mehr Abschriften, mehr Aktivität, als wir erwartet hatten." Über neunzig Prozent des Erbguts erwies sich als aktiv, obwohl die Gene nur circa zwei Prozent des Genoms ausmachten. Der größte Teil der DNA bestand also nicht aus Genen, war aber dennoch kein Schrott, wie viele Forscher zuvor vermutet hatten. Aber was dann? Der Bioinformatiker Vingron erklärt es: "Man hat Dinge gefunden, die wie Gene aussehen, die aber scheinbar nur RNA und kein Protein codieren. Und das hat den Genbegriff fundamental erschüttert. Neben dem Erbmolekül DNA und den Proteinen gewann ein weiterer Mitspieler an Bedeutung. Ewan Birney vom Europäischen Bioinformatik-Institut: "Das Encode-Projekt offenbarte die Bedeutung der RNA. Das Boten-Molekül RNA wird nicht nur von der genetischen Information, der DNA, abgeschrieben, damit nach diesem Bauplan Proteine entstehen. Es gibt noch viel mehr RNA, die abgeschrieben wird, ohne dass dann Proteine entstehen. Das ändert unseren Blick auf das Genom von Grund auf. Wir wissen einfach nicht, was diese große Menge RNA macht, oder ob sie überhaupt irgendetwas Wichtiges macht." Die Teilnehmer des Encode-Projektes wurden aufgefordert, ihre Ergebnisse in Fachzeitschriften zu kommentieren. Aber sie konnten sich nicht einigen. Es gab zwei Fraktionen. Eine wollte "das Gen" behalten, und die Definition nach und nach anpassen. Die andere Gruppe forderte, "das Gen" über Bord zu werfen, um Platz zu schaffen, für neues Denken und neue Theorien. Das Gen hat seine Kraft als Zugpferd für die Genetik verloren. Die Experten fragen sich: Was ist überhaupt ein Gen? Ist jede RNA, die im Zellkern entsteht ein Gen, auch wenn sie keine bekannte Wirkung entfaltet? Sie suchen nach neuen Bildern und vergleichen Lebewesen mit Computern und Gene mit Programmen. Das ist naheliegend. Denn immer mehr Biowissenschaftler arbeiten heute mit Computern. Die DNA bezeichnen sie als die Software des Lebens, und die Programme schreiben sie selbst. Als Inspiration für Genetiker hat der Begriff "Gen" ausgedient. Genetische Programme sind an ihre Stelle getreten. Nicht alle Wissenschaftler sind davon begeistert. "Wenn sie das Wort Gen streichen, können sie gar keine Vorträge mehr über Genetik halten." Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer aus Heidelberg würde gerne zu den Ursprüngen des Wortes "Gen" zurückkehren: genetisch - hervorbringend. Schon vor über zweihundert Jahren, also vor Mendels Erbsenexperimenten, benutzte Johann Wolfgang von Goethe das Wort in diesem Sinne, erklärt Fischer: "Goethe wollte verstehen, wie sich Sachen bilden, wie sie Gestalt annehmen. Ich verstehe erst eine Pflanze, ein Lebewesen, wenn ich verstehe, wie seine Form zustande kommt. Und heute heißt die Frage: Wie kommt die Form zustande, wenn Gene in ihren Zellen eine Aktivität durchführen, und dann diverse variable Formen - bei Menschen sind das Finger, Nasen, Füße, Ohren - hervorbringen. Wie passiert das? Wie geht diese Differenzierung vor sich? Das ist nach wie vor die grundlegende Frage der Biologie. Und sie ist meiner Meinung nach so geheimnisvoll wie im 18. Jahrhundert." In seinem neuen Buch "Die Verzauberung der Welt" stellt Ernst Peter Fischer eine romantische Sicht auf die Wissenschaft vor. Wissenschaft ist dabei keine Erklärmaschine. Sie liefert große Rätsel statt einfacher Antworten. "Wenn Sie sich vorstellen - angenommen Sie wären so ein kleines Männchen - und Sie könnten mit Ihren Augen auf ein Gen gucken. Da sehen Sie nicht so ein Gen liegen, wie es im Lehrbuch dargestellt ist, sondern das wird umwirbelt von tausenden anderen Molekülen. Es ist umtost und umwoben - so stelle ich mir das jedenfalls vor. Und die Frage ist, wie diese ungeheure Dynamik so durchgeführt werden kann, dass zum Schluss doch etwas Stabiles herauskommt, wie ihr Körper oder meiner." Sorgt eine kreative Sprache für neue Ideen? Ernst Peter Fischer empfiehlt: Staunen statt Besserwisserei. Wenn einfache Antworten fehlten, sei das der beste Grund, um weiter zu forschen: "Klar ist nur, dass sie nicht hergehen können, eine Zelle aufmachen können und sagen können: Zeig mir das Gen für die blauen Augen! Das gibt es nicht. Zeig mir das Gen für die Blütenstände! Das gibt es nicht. Gibt es alles nicht. Es gibt da ein Gewusel von Molekülen, eine zelluläre Dynamik, bei der überraschender-, erstaunlicher- oder wunderbarerweise immer das entsteht, was man das Leben nennt. Das Leben ist insofern eine unentwegte neue Schöpfung. Es ist genetisch." Gene seien keine starren Programme, sie seien kreativ. Deshalb möchte Ernst Peter Fischer das Leben lieber mit Begriffen aus der Kunst beschreiben als mit Ausdrücken aus der Computertechnik. Eine kreative Sprache könne für neue Ideen sorgen, hofft er: "Wenn da Tigergene sind, kommt immer ein Tiger heraus. Wenn Sie Affengene nehmen, kommt immer ein Affe heraus. Wenn Sie Menschengene habe, kommen Menschen heraus. Ja, aber es ist in der Kunst genauso. Wenn van Gogh malt, kommt immer ein van Gogh heraus. Wenn Rembrandt malt, kommt immer ein Rembrandt heraus. Wenn Michelangelo malt, kommt immer ein Michelangelo heraus, kein Leonardo. Das ist zwar jetzt nur angedeutet, aber ich glaube, dass man die Sprache der Kunst, die Entstehung der Kunstwerke übertragen kann, um die Leistungsfähigkeit und die Kreativität des genetischen Materials zu verstehen. Ich glaube nicht, dass Gene programmieren. Gene schaffen. Gene bilden." Die meisten Wissenschaftler können mit dieser romantischen Betrachtung wenig anfangen. Statt wie Mendel oder Crick in einzelnen zählbaren Einheiten denken sie heute in Systemen. Ihr Credo: Wenn überhaupt, dann gelingt es mithilfe von Computern und Bioinformatik, das Durcheinander zu durchschauen und zu erklären. An die Stelle der Molekularbiologie tritt die Systembiologie. Die Gene spielen dabei zunehmend eine Nebenrolle. Sie sind nicht tot, aber ihre große Zeit geht 150 Jahre nach Mendel zu Ende. Der Wissenschaftshistoriker Prof. Rheinberger fasst zusammen: "Das wäre meine Voraussage: Der Begriff des Gens wird nicht mehr so im Zentrum der Erforschung des Lebendigen stehen im 21. Jahrhundert, wie das für das 20. Jahrhundert der Fall war."
Von Michael Lange
Die Gene sind das, was wir von unseren Vorfahren mit auf den Weg bekommen haben. Sie halten uns gesund, machen uns krank, sagen unsere Zukunft voraus, und sie haben im Essen nichts verloren. Jeder scheint zu wissen, was Gene sind. Nur die Wissenschaftler, die es am besten wissen müssten, die Genetiker, wissen es nicht mehr so recht.
"2015-02-08T16:30:00+01:00"
"2020-01-30T12:19:05.624000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/biologie-die-abschaffung-der-gene-100.html
893
Hoffnung in der Agonie
Das Bezirkskrankenhaus von Tsholotsho im Norden des simbabwischen Matabelelandes ist ein Ensemble aus hell gestrichenen Pavillons, gebaut in den 90er Jahren. Erst beim Betreten des Krankenhauses sieht der Besucher die Wracks zweier Krankenwagen, zerbrochene Fensterscheiben, die Leere hinter den Fassaden.Vor der Küche Stapel leerer Töpfe; Waschbottiche rosten vor sich hin. In drei Sälen liegen - auf nackten Matratzen - nur einige wenige Patienten: leise stöhnende, bis auf die Knochen abgemagerte Männer, den Tod vor Augen; apathisch wirkende Kinder, deren Mütter, am Boden sitzend, Maisbrei und Kohl zubereiten. Keine Krankenschwester ist zu sehen; der einzige Arzt, Bikita Solomon, hat erst vor einem Jahr sein Studium beendet. Der 27 Jährige wirkt ängstlich."Es fehlt uns an Medikamenten - insbesondere für unsere HIV-infizierten Patienten. Sehr oft haben wir auch keinen Strom und fast nie Nahrungsmittel für die Kranken."Er könne nicht operieren, weil er keine Anästhetika habe, sagt der junge Arzt achselzuckend. "In ganz Matabeleland gebe es nicht eine funktionierende Dialyseanlage. Sie hätten nicht einmal Wasser.""Wir haben Wasserleitungen, aber, wie gesagt, selten Strom für die Pumpen. Dann sind wir auf Wasser aus unseren Tanks angewiesen, das aber nur für kurze Zeit reicht.""Hisst die Flagge Simbabwes", heißt es in der Hymne des Landes, und: "Mögen unsere Führer Vorbilder sein." Der Führer Simbabwes, der in diesen Wochen erstmals die Macht teilen muss, heißt seit 28 Jahren Robert Mugabe. 1980 übernahmen er und seine Partei Zanu-PF eine Kornkammer Afrikas, ein Eldorado des Platin-, Gold- und Diamantenbergbaus; ein Paradies für Touristen.Heute liegt das Paradies im Koma, zerstört von seinem Führer: Mit der Enteignung fast aller weißen Farmer ab 1999 entzog Mugabe Simbabwe die wichtigste Nahrungs- und Devisenquelle; mit der Verpulverung der Staatseinnahmen für Rüstung und Korruption schürte er die Inflation; mit brutalen Übergriffen in allen Lebensbereichen jagte er drei Millionen Simbabwer ins Ausland - unter ihnen fast alle Ärzte, Lehrer und Ingenieure. Mittlerweile schrumpft die Wirtschaft im neunten Jahr hintereinander; 85 Prozent der Bevölkerung haben keine Arbeit; Schulen wie Gesundheitsstationen haben den Betrieb de facto eingestellt - desgleichen fast alle Geschäfte: Bei einer Hyperinflation von drei Milliarden Prozent und zugleich rabiaten Preis- und Devisenkontrollen ist Handel kaum noch möglich; man tauscht lieber wie in der Steinzeit.Die meisten Simbabwer überleben noch, weil Verwandte Geld aus dem Ausland schicken; fünf Millionen hängen am Tropf internationaler Nothilfe; und da jetzt, zu Beginn der Agrarsaison, weder Saatgut noch Dünger verfügbar sind, werden es 2009 acht Millionen sein.Unbeschreibliches Elend, in dessen Schatten die Zanu-PF-Elite sagenhaften Reichtum angehäuft hat. In der Innenstadt Harares, wo Tausende vor Banken Schlange stehen, lassen Hummer-Geländewagen der durch Korruption reich gewordenen ihre Lichthupe aufblitzen; in den Hügeln des Stadtteils Borrowdale-Brooke erheben sich hinter sieben, acht Meter hohen Mauern Schlösser, die jeden deutschen Banker erblassen lassen.Rund 30 Prozent von jedem ins Land kommenden Dollar, so schätzen Fachleute, hat die Partei-Elite abgeschöpft; ein Drittel des simbabwischen Brutto-Sozialprodukts wanderte auf ihre Konten. Im September flog Präsident Mugabe mit 53 Begleitern einmal mehr nach New York, um vor der UN-Vollversammlung die Industrienationen des Westens abzukanzeln. Geschätzte Kosten: zwei Millionen Dollar.Totentanz eines implodierenden Regimes. Zwischen März und Juni dieses Jahres ließ Mugabe in gewohnter Manier über hundert Oppositionelle umbringen und Tausende verprügeln - um sich im zweiten Gang einer manipulierten Wahl erneut zum Präsidenten wählen zu lassen. Dann jedoch erkannten nicht einmal die Staaten der "Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft" SADC den selbst ernannten Präsidenten an; der freie Fall der Wirtschaft beschleunigte sich noch und Mugabe musste, um nicht von der eigenen Partei aus dem Amt gefegt zu werden, ein Koalitionsabkommen schließen mit seinem schärfsten Widersacher - mit Morgan Tsvangirai, dem Chef der "Bewegung für demokratischen Wandel, MDC.Ein höchst fragiles Abkommen, angesichts dessen mehrere um ihre Pfründe fürchtende Generäle beinahe geputscht hätten; ein Abkommen auch, in dessen Kontext Innenminister Emerson Mnangagwa derart mit Mugabe aneinander geriet, dass er von dessen Leibwache krankenhausreif geschlagen wurde.Das Regime wankt. Das spüren seine Opfer. Nun fassen sie neuen Mut und melden sich zu Wort.Im Nebenraum einer protestantischen Kirche in Harare warten nach dem Gottesdienst ein junger Mann, der die Narbe eines Axthiebs im Gesicht trägt; eine Frau, der die Fußsohlen verbrannt wurden, und Memory Shiri, Mitarbeiterin der renommierten Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Epworth, Harare. Memorys Fall zeigt, wie leicht auch internationale Hilfsorganisationen in den Strudel politischer Gewalt in Simbabwe geraten können."Am 11. Juni kamen Mitglieder der ZANU-PF-Jugend zu meiner Arbeitsstelle und zwangen mich, mit ihnen zu ihrem Camp zu fahren, wo sie mich dreimal vergewaltigten und drei Tage lang festhielten. Anschließend plünderten und zerstörten sie meine Hütte. Als sie mich dann frei ließen, ging ich zum "Harvest House", der Zentrale des MDC. Helfer einer christlichen Organisation brachten mich von dort in ein Frauenhaus nach Newlands. Als ich später zu meiner Arbeitsstelle bei "Ärzte ohne Grenzen" zurück kam, hörte ich, dass ich meinen Job verloren hatte - wahrscheinlich, weil einige der Männer, die mich vergewaltigt hatten, meine Kollegen waren." Die deutsche Sektion der "Ärzte ohne Grenzen" reagierte schockiert auf den Bericht des Autors über diese Vorgänge in einer Gesundheitsstation, wo die Organisation mit der simbabwischen Gesundheitsbehörde HIV-Opfer betreut. Die "Ärzte ohne Grenzen" betonen, dass keiner ihrer Mitarbeiter Memory Shiri vergewaltigte; beteiligt war vermutlich ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde.Die "Ärzte ohne Grenzen" teilen weiter mit, Memory Shiri sei nicht entlassen, sondern, als Angehörige der politischen Opposition, aus Sicherheitsgründen lediglich vorübergehend freigestellt worden - ohne finanzielle Einbußen. Dem gegenüber steht die Aussage Memorys, die sich zitternd und mit eitrig verquollenen Augen an einer Stuhllehne festhält."Jetzt weiß ich nicht, wie ich meine drei Kinder noch ernähren soll. Die gehen auch nicht mehr zur Schule. - Weil ich auch HIV-positiv bin, müsste ich eigentlich bei der Gesundheitsstation an meinem Arbeitsplatz regelmäßig Tabletten abholen. Sobald ich aber dorthin komme, rufe meine Kollegen: "Du gehörst zum MDC. Hau bloß ab." Deshalb hole ich jetzt keine Tabletten mehr. Und es geht mir inzwischen sehr schlecht."Das deutsche Büro der "Ärzte ohne Grenzen" erklärt, nach den Unterlagen der Gesundheitsstation in Epworth habe Memory Shiri regelmäßig ihre Tabletten bekommen; die junge Frau dürfe zudem, sobald es ihre Gesundheit erlaube, wieder für die Organisation arbeiten. - Das könnte jedoch dauern, denn kurz nach dem Gespräch kollabierte die junge Frau und musste erneut ärztlich versorgt werden.An einem Samstagmorgen fährt der Besucher von Harare aus hundert Kilometer nach Süden, biegt kurz vor Chegutu rechts ab und landet nach weiteren 20 Kilometern auf einem Feldweg. Dann plötzlich eine Linkskurve; und der Besucher glaubt, er befinde sich im Märchen.Gebettet in einen traumhaft schönen Park aus uralten Bäumen, bunt blühenden Sträuchern und Blumenrabatten steht dreistöckig ein prachtvoller Hüttenpalast: Hellrot verputzte Ziegelwände, durchbrochen von kleinen Fenstern, gekrönt von kunstvoll gearbeiteter Grasbedachung, umschließen ellipsenförmig einen reich begrünten Innenhof, in dem vier blonde Kinder spielen.Gebaut haben das Haus Ben Freeth, dessen Vater, ein britischer Offizier, beim Aufbau der simbabwischen Armee half, und Bens Frau Laura, deren Familie seit fast 300 Jahren Farmen im südlichen Afrika betreibt."Das Haus ist sehr einfach gebaut. Die Ziegel sind aus Ton, den wir aus Termitenhügeln gewinnen, in der Sonne trocknen und schließlich in großen Öfen brennen. Sämtliche Pfosten und das Dachgebälk sind aus Holz von eigenen Eukalyptus-Plantagen, das Dach selbst besteht aus Gras. Ja, buchstäblich alles in unserem Haus verbaute Material - außer Glas, Beschlägen, Strom- und Wasserleitungen - stammt von unserer Farm; natürlich auch das Holz der Fensterrahmen."Ben, der jetzt sehr ernst wirkt, deutet auf der Fahrt zu den Obstplantagen der Farm, die seinem Schwiegervater gehören, auf in der Ferne sichtbare verlassene Häuser und Lastwagenwracks."All diese Farmen sind zugrunde gerichtet. Es wird nichts mehr produziert dort; die Infrastruktur verfällt; Pumpen werden verkauft; die Maschinen sind kaputt oder verschwunden. Es ist tragisch. Was über so viele Jahre aufgebaut wurde, ist nun binnen kürzester Zeit zerstört worden. - Die Bäume hier, an denen wir gerade vorbeifahren, sind Mangobäume, in denen viele Jahre Arbeit stecken. Mein Schwager hatte eine Farm bei Kadoma - mit 50.000 Orangenbäumen. Dann kamen die Besetzer, kümmerten sich nicht um die Bäume, bewässerten sie nicht; jetzt sind all diese Orangenbäume tot. Und wenn ich von hier wegginge, würde das gleiche meinen Mangobäumen geschehen. Sie würden vielleicht schon dem ersten Buschfeuer zum Opfer fallen. Diese Bäume, wissen Sie, überleben nur, wenn man sie pflegt, und liebt und sich um sie kümmert."Stolz zeigt Ben die in endlosen Reihen stehenden 40.000 Mango- und 20.000 Orangenbäume der Familien Campbell und Freeth. Bislang ist es ihnen gelungen, mit den Exporterlösen Dünger und Sprit zu finanzieren. Dieses Jahr jedoch droht eine Krise. Die öffentliche Stromversorgung, mit der Ben die Bewässerungspumpen betreibt, ist zusammengebrochen. Ein Generator rentiert sich nicht; die Früchte drohen auf den Bäumen zu verdorren.Ben Freeth ist Schwierigkeiten gewohnt. Seit Jahren will ein ehemaliger Minister seine Farm übernehmen; seit Jahren führt er deshalb Prozesse. Anders als viele Kollegen und bislang nicht ohne Erfolg stellt Freeth dabei die Rechtsstaatlichkeit der simbabwischen Enteignungsgesetze grundsätzlich in Frage. Und er klagt nicht nur vor einheimischen Gerichten, sondern auch vor dem von Robert Mugabe mit ins Leben gerufenen Gerichtshof der "Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft", SADC. Dieser Gerichtshof nahm gerade rechtzeitig für Freeth seine Arbeit auf."Eine Woche nach der Verhandlung am Obersten Gerichtshof Simbabwes begann in Windhuk, Namibia, der Gerichtshof mit seiner Arbeit. 15 Jahre, von 1992 bis 2007, hatte man gebraucht, diesen Gerichtshof zu etablieren. Und dann war er plötzlich da - genau, als wir ihn brauchten. Und unser Fall war der erste, der dort verhandelt wurde. Viermal waren wir bisher in Namibia; und der Gerichtshof hat verfügt, dass wir unsere Farm zumindest solange behalten dürfen, bis die Richter entschieden haben, ob Simbabwes Enteignungsgesetze mit dem Vertrag vereinbar sind oder nicht."Murrend akzeptierte das Regime diese einstweilige Verfügung, setzte zugleich jedoch seine Terrortrupps in Marsch. Am 29. Juni 2008 wurden Ben Freeth und seine Schwiegereltern Mike und Angela Campbell entführt, krankenhausreif geschlagen und irgendwo im Busch aus einem Auto geworfen. Der 76jährige Mann schwebte über Tage in Lebensgefahr.Dessen ungeachtet ließ das jüngste Koalitionsabkommen zwischen Staatschef Mugabe und seinem Widersacher Morgan Tsvangirai auch bei Ben Freeth Hoffnung aufkeimen. Die beiden haben keine Alternative, meint er, als sich zusammen zu raufen. Mugabe braucht ein Minimum an Legitimität und Wirtschaftshilfe, um seine Position überhaupt zu behaupten; Tsvangirai hat - wie die letzten Jahre zeigen - keine Chance, die äußerst friedliebenden Simbabwer zu einer Revolution zu überreden.Das Koalitionsabkommen sieht eine Übergangsregierung für zwei bis drei Jahre vor, die eine Verfassung erarbeiten und schließlich freie Wahlen organisieren soll. Zu den Kernvereinbarungen zählt auch die Abschaffung der Sicherheitsgesetze, die jahrzehntelang die öffentliche Meinung geknebelt haben - erklärt in Harare der Verhandlungsführer des MDC Elton Mangoma."Hier handelt es sich um Schlüsselfragen, die in unserem Abkommen entsprechend gewürdigt werden. Wir alle glauben fest an die Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit, heißt es dort. Und die Medien, die in den letzten Jahren verboten wurden, müssen rasch eine neue Lizenz erhalten. Darüber hinaus brauchen wir mehr Medien und mehr Offenheit, um eine wirklich freie Diskussion zu ermöglichen. Diesbezüglich hat es, wenn Sie sich das Dokument anschauen, keinerlei Meinungsunterschiede gegeben."Schwieriger sieht es bei anderen Fragen aus. So ist, laut Abkommen, die so genannte "Landreform" Mugabes unumkehrbar; andererseits wird das Rechtsstaatsprinzip bei Eigentumsfragen betont. Was das für die vertriebenen weißen Farmer bedeutet, bleibt abzuwarten.Unangenehm für so manchen Nutznießer des bisherigen Regimes dürfte die notwendige Sanierung der Wirtschaft werden, die für den MDC der Finanzberater Eddie Cross aus Bulawayo konzipiert."Als erstes müssen wir die Preiskontrollen aufheben. Dann müssen wir den Wechselkurs des Sim-Dollars freigeben; und der Staat muss zurückfinden zu strikter Haushaltsdisziplin. Sobald wir diese eigentlich einfachen Dinge getan haben, wird die Inflation schnell zurückgehen. - Natürlich brauchen wir für die Finanzierung eines solchen Stabilisierungsprogramms Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Die aber wird, wie unsere Gespräche mit multilateralen Institutionen zeigen, zur Verfügung stehen."Eddie Cross unterhält gute Beziehungen zur so genannten Gebergemeinschaft, die jetzt schon 50 Millionen Dollar monatlich nach Simbabwe pumpt; gute Beziehungen pflegt er auch zur "Deutschen Welthungerhilfe", die in großem Stil Ernährung sichert in hungergefährdeten Dörfern. "Welthungerhilfe"-Mitarbeiter Jochen Hertle hofft, dass eine neue Regierung die Helfer helfen lässt, anstatt ihnen immer wieder bürokratische Knüppel zwischen die Beine zu werfen."Das jüngste Projekt, das jetzt gestartet hat am ersten September, beinhaltet die Reparatur, Instandsetzung von Wasserversorgungssystemen in Gesundheitsinstitutionen, sprich Hospitälern, Kliniken - also alles, was der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung dient. Wir sprechen über Zentren, die von Quellen versorgt werden, mit kilometerlangen Leitungen; wir sprechen über Diesel-Generatoren, über Pumpen; über Bohrungen. Also ganz unterschiedliche Aufgaben stellen sich uns da."Auch die Gemeinschaft der Geber wird sich bald recht kribbligen Fragen stellen müssen; zum Beispiel der, was mit den über 200.000 Sicherheitskräften in Simbabwe geschehen soll. "Wir müssen an die Demobilisierung sehr besonnen herangehen. Wir können nicht einfach, wie die Amerikaner im Irak, die Armee auflösen. Nein, es wird eine Menge Geld kosten, all diese Uniformierten zu entwaffnen und ihnen neue berufliche Perspektiven zu vermitteln." Beschäftigung zu finden für Millionen arbeitsloser Simbabwer - das, meint Eddie Cross, wird die wichtigste Aufgabe einer neuen Regierung sein. "Die kommerziellen Farmer, bis vor wenigen Jahren wichtigste Arbeitgeber im Land, werden so schnell keine neuen Jobs schaffen, ist sich Eddie Cross sicher. "Die beiden Sektoren, die nach einem Regimewechsel relativ schnell expandieren können, sind der Bergbau und der Tourismus. Allein der Tourismus kann in den nächsten zwei Jahren 200.000 neue Jobs schaffen - eine enorme Menge, wenn man berücksichtigt, dass derzeit insgesamt nur 600.000 Simbabwer in ordentlichen Arbeitsverhältnissen stehen. Auch im Bergbau, der momentan 50.000 Menschen beschäftigt, steckt ein gewaltiges Wachstumspotential. Allein die Impala-Platinmine bei Chegutu wird 18.000 Menschen Arbeit geben. Und es sind eine Menge weiterer Bergbau-Projekte geplant. - Bergbau und Tourismus werden also vorläufig die Wachstumsträger sein. Der Rest wird sich eher langsam entwickeln. Aber ich glaube auch nicht, dass uns allzu viele Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Wir haben ein Drittel unserer Bevölkerung verloren. Und der größte Teil wird so schnell nicht zurückkehren. Das heißt: Wir könnten, nach einer Wende am Arbeitsmarkt, recht bald einen Mangel an Arbeitskräften haben."
Von Thomas Kruchem
Der Führer Simbabwes, der in diesen Wochen erstmals die Macht teilen muss, heißt seit 28 Jahren Robert Mugabe. 1980 übernahmen er und seine Partei Zanu-PF eine Kornkammer Afrikas, ein Eldorado des Platin-, Gold- und Diamantenbergbaus; ein Paradies für Touristen. Heute liegt das Paradies im Koma, zerstört von seinem Führer.
"2008-10-20T18:40:00+02:00"
"2020-02-04T14:16:01.733000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hoffnung-in-der-agonie-100.html
894
Eine Gesetzesänderung mit Folgen
Katja ist zwölf Jahre alt, Nadja ist elf, Anja und Ira sind beide zehn Jahre alt: Die Fotos auf dem Regal im Kinderzimmer zeigen die Mädchen lachend im Sommerferienlager: Urlaub auf Staatskosten, der ihnen als Waisenkindern zusteht. Doch auch zu Hause, verraten die Vier, gibt es eine Attraktion: Die Schäferhündin Laila hat drei Welpen bekommen. Das Schicksal der Mädchen scheint sich zum Guten gewendet zu haben, nachdem das Sozialamt ihren leiblichen Eltern wegen Vernachlässigung das Sorgerecht entzogen hat. Heute leben sie zusammen in dem kleinen Haus der Lehrerin Lina Naumova, in einer Vorstadt von Perm. Diese hat ihre Berufstätigkeit aufgegeben, um sich ganz ihren Pflegekindern widmen zu können."Ich komme aus einem Dorf, in dem es damals keine ordentlichen Männer gab – alle waren Alkoholiker. 2001 habe ich mich entschlossen, ein Mädchen aus dem Waisenhaus bei mir aufzunehmen. So kam zuerst Katja zu mir, und danach habe ich Nadja geholt. Aber auch zu dritt ist uns bald langweilig geworden, wir haben also zwei weitere Mädchen bei uns aufgenommen. Und jetzt haben wir hier unser eigenes, weibliches Zarenreich: Sogar unsere Hunde sind alle Weibchen!""Mama", so nennen die vier Mädchen Lina Naumova. Das Sozialamt zahlt ihr allmonatlich umgerechnet 70 Euro Unterhalt für jedes Pflegekind. Zusammen mit der Rente der Großmutter, die ebenfalls in dem Haus wohnt, kommt die sechsköpfige Patchwork-Familie gut über die Runden. Das Modell Pflegefamilie macht gerade Schule in Russland: Denn für 128.000 Kinder wird akut eine Adoptivfamilie gesucht – aber seit Anfang des Jahres verbietet die russische Gesetzgebung Auslandsadoptionen in die USA, und in Russland selbst gibt es nur 18000 adoptionsbereite Paare. Da ist eine Pflegevormundschaft - als unbürokratisches Versorgungsmodell auf Zeit – eine gute Kompromisslösung für die Kinder und für Leute wie Lina Naumova. "Ich musste meine Meldebescheinigung vorlegen, ein ärztliches Attest und ein polizeiliches Führungszeugnis – das wars! Die Mädchen in Pflege zu nehmen, das lief ohne jede Komplikation durch die Behörden, die Formalitäten waren schnell erledigt."Doch die forcierte Familieneinbindung hat auch Kritiker. Diese kommen unter anderem aus einem Berufsstand, der in den vergangenen Monaten unter Beschuss der staatsgelenkten Medien geraten ist: zwischenstaatliche Agenturen, die Auslandsadoptionen vermitteln. Interviews wollen die meisten nicht geben: Die Stimmung im Land ist zu aufgeheizt. Eine Vermittlerin aber ist zu einer anonymen Stellungnahme in einem Café bereit. Sie arbeitet im aufrag des Staates Italien. "Viele Leute nehmen Pflegekinder auf, um selbst nicht arbeiten gehen zu müssen. Und nur sehr wenige verfolgen das Ziel, die Kinder zu erziehen wie ihre eigenen. Warum sollten sie eine Adoption in Betracht ziehen, wenn sie dann auf das Unterhaltsgeld verzichten müssen? Als Pflegeeltern können sie das Kind anprobieren wie einen Stiefel – und wenn es nicht passt, dann geben sie es zurück -- das Gesetz erlaubt so etwas! Und das ist schrecklich."Gesund, möglichst jung und am liebsten weiblich - so sieht das Kind aus, von dem kinderlose Paare in Russland träumen, berichtet die Vermittlerin. Tatsächlich aber hätten viele Waisen durch den Alkohol- oder Drogenmissbrauch ihrer Eltern körperliche oder psychische Schäden davongetragen. In Russland, sagt sie, hätten sie damit so gut wie keine Vermittlungschancen - nicht, solange der russische Staat den Eltern behinderter Kinder keine bessere Unterstützung bietet. Ihnen bleibt die Hoffnung auf Eltern aus Europa - solche, die sich auch durch verlängerte Wartezeiten und erhöhte Bürokratie nicht schrecken lassen. "Die Kinder, die unser Büro vermittelt, haben Tuberkulose, genetische Erkrankungen und teilweise schwere Entwicklungsverzögerungen. Doch jetzt heißt es ja bei uns, dass Auslandsadoptionen eine nationale Schande sind – und das, obwohl russische Familien solche Kinder nie und nimmer aufnehmen würden! Im Ausland ist die medizinische Versorgung besser, darum haben die Paare weniger Berührungsängste: Die Amerikaner nehmen Kinder mit HIV und Hepatitis C. Auch die Deutschen nehmen Kinder mit Hepatitis C, die hier keiner haben will. Und die Italiener, das weiß ich aus Erfahrung, nehmen jedes einzelne Kind an wie ihr eigenes: Sie machen eine weite Anreise, und dann nehmen sie jedes Kind, das ihnen angeboten wird."
Von Andrea Rehmsmeier
Paare aus den USA dürfen seit Anfang 2013 keine Waisen aus Russland mehr adoptieren. Beobachter befürchten nun, dass auch Paaren aus Europa die Adoption erschwert werden könnte. Aktuell setzt man in Russland darum vermehrt auf Pflegefamilien.
"2013-09-27T09:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:37:38.688000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eine-gesetzesaenderung-mit-folgen-100.html
895
Konkurrenten der gelben Post
Die Gewerkschaft Verdi hat die Post-Mitarbeiter zu unbefristeten Streiks aufgerufen. (picture alliance / dpa/ Malte Christians) Zwei Schriftstücke lagen dieser Tage im Briefkasten: Von der Post eine Marktstudie über die Briefpreise in Europa. Mit 62 Cent je Inlandsbrief liege die Post im Mittelfeld, weit abgeschlagen von den 1,34 Euro, die in Dänemark genommen werden. Das andere Schriftstück: Eine Klage des Bundesverbandes Paket, Express, Logistik, in dem sich die Konkurrenten der Post zusammengeschlossen haben. Die Bundesregierung, noch mit rund 20 Prozent an der Post beteiligt, habe die "Post-Entgeltregulierungsverordnung" verabschiedet. Die ermögliche es der Post, das Briefporto weiter heraufzusetzen. Die erste Botschaft: Die Post sei nicht zu teuer. Die zweite: Aber sie verhindere mit staatlicher Hilfe Wettbewerb. Das bringt den Geschäftsführer des Logistikverbandes zum Schäumen. Marten Bosselmann: "Der Wettbewerb ist sehr hart. Die Post nutzt alle Mittel und Wege, dem Wettbewerb zu schaden. Da spielt natürlich eine Rolle die Beteiligung des Bundes an der Post." Bosselmann vertritt die großen Paketdienstleister: DPD, GO, Hermes, TNT und UPS. Sie sagen, der Platzhirsch Deutsche Post DHL besetze 50 Prozent des Paketmarktes. Andere wollen von 43 Prozent wissen. Auch das bedeutet Marktführerschaft. Dennoch werde sie bedrängt, sagt ihr Vorstandsvorsitzender Frank Appel, "weil wir erhebliche Wettbewerbsnachteile haben bei unseren Lohnkosten." Niedriger Lohn, mehr Service Die Wettbewerber der Post versuchen, nicht nur mit niedrigeren Lohntarifen, sondern auch mit mehr Service zu punkten: vier Zustellversuche, wählbare Zustellzeit zum Beispiel. Der Preiswettbewerb verläuft in engen Grenzen: Ein Päckchen kostet bei Hermes 3,89 Euro, in der Postfiliale 3,95 Euro. Ohne diesen Wettbewerb, so Marten Bosselmann vom Logistikverband, wären die Postpreise sicher höher: "Als die Post allein auf dem Paketmarkt existierte, hat ein Paket von der Abgabe zur Zustellung drei, vier, eher fünf Tage gebraucht. Mittlerweile reden wir beim Standardpaket von eine Regellaufzeit von 24 Stunden." Im Briefgeschäft hat die Post ihre Monopolsituation nahezu vollständig behalten. Als vor Jahren Konkurrenten wie die PIN Group auftauchten, hatte sich die Post für Mindestlöhne in der Branche eingesetzt. Sie konnte sie zahlen, die Mitbewerber sagten, sie nicht. So kam es etwa bei der PIN Group zu Massenentlassungen und Schließungen. Im Briefgeschäft gibt es folglich für die Post nur wenig Konkurrenz, die Citipost in Hannover etwa, die ihre Briefmarken in Pennymärkten verkauft. Oder die Pin Mail AG in Berlin oder die Main-Postlogistik in Unterfranken. Die Deutsche Post beherrscht aber immer noch gut 90 Prozent des Briefmarktes. Der schrumpft zwar wegen der elektronischen Konkurrenz, gilt aber als hochprofitabel. Ihre Profitabilität wolle die Post auch im Paketgeschäft verbessern, weiß Zafer Rüzgar von Independent Research. Die Frage, warum die Kosten runtermüssten, beantwortet er so: "Ein wesentlicher Grund sind die genannten Ergebnisziele für das Jahr 2020. Man möchte durchschnittlich um acht Prozent beim operativen Ergebnis zulegen."
Von Michael Braun
Bei der Post wird gestreikt - unbefristet. Wer auf einen Zustellerdienst in diesen Tagen nicht verzichten kann, könnte auf Konkurrenten der Post zurückgreifen. Doch auf welche? Denn die gelbe Briefpost hat auch mehr als sieben Jahre nach Auslaufen des sogenannten Postmonopols noch immer eine marktbeherrschende Stellung.
"2015-06-09T17:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:17.949000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/post-streik-konkurrenten-der-gelben-post-100.html
896
Neue Vorwürfe gegen BAMF-Außenstellen
Gab es auch in anderen Außenstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Unregelmäßigkeiten? (imago) Gab es auch in anderen BAMF-Außenstellen Unregelmäßigkeiten? Diese Frage wirft die "Augsburger Allgemeine" heute auf. Besonders betroffen seien die Standorte in Gießen, Karlsruhe und Bingen am Rhein – das zuständige Bundesinnenministerium wollte der Zeitung dies jedoch weder bestätigen noch dementieren. Stephan Harbarth, Vize-Chef der Unionsfraktion, fordert eine Aufklärung "ohne Tabus", warnt im Interview mit dem Deutschlandfunk aber vor Pauschal-Urteilen: "Man sollte jetzt hier nicht in einen Vorverurteilungsmodus verfallen, in den anderen Standorten hat man festgestellt, dass die Anerkennungsquoten höher sind als im Durchschnitt der Fall ist. Das muss man jetzt hinterfragen." Stephan Thomae, Fraktionsvize der Liberalen, sieht "Ungereimtheiten": "Der Sache muss man nachgehen. Es wäre aber wünschenswert, dass man Derartiges auch tatsächlich auf offiziellem Wege erfährt, etwa vom BAMF selber, von dessen Präsidentin oder aber vom Bundesinnenminister. Und nicht auf verschlungenen Wegen." Sondersitzung des Innenausschusses möglich Die FDP-Fraktion hatte in dieser Woche bereits einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestags gefordert, um die Vorgänge beim BAMF aufzuklären. Weil die Grünen zögerlich sind und Linken ablehnen, wird das nötige Quorum von 25 Prozent der Bundestagsabgeordneten nicht erreicht. Die AfD ist nach eigenen Angaben nicht gefragt worden, ob sie sich beteiligen will. Unions-Fraktionsvize Harbarth verweist auf eine mögliche Sondersitzung des Innenausschusses in einigen Tagen, in der die Bundestagsabgeordneten detaillierter über das BAMF informiert werden. Unterdessen werden neue Details über die ehemalige Bremer BAMF-Chefin Josefa Schmid bekannt, die die Missstände ihrer Vorgängerin aufklären wollte und später gegen ihren Willen nach Bayern versetzt wurde. Schmid habe nur unter Aufsicht mit der Staatsanwaltschaft sprechen können, berichtet heute die "Passauer Neue Presse". Bei ihrer Vernehmung in den Bremer Räumen des BAMF sei ein Referatsleiter dabei gewesen, sie habe das als hemmend empfunden. Zudem sollen in Bremen – neben den bekannten Manipulationen - auch Straftäter positive Asylbescheide bekommen haben. Debatte über Ankerzentren Die Chefin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Jutta Cord, hatte gestern Aufklärung mit Hochdruck angekündigt: "Es werden weiterhin alle positiven Entscheidungen der Außenstelle in Bremen geprüft. Das sind rund 18.000 Verfahren." Neben der Debatte um das BAMF sorgen auch die geplanten Ankerzentren für Kontroversen. Sowohl zwischen den Koalitionspartnern SPD und Union als auch zwischen Bund und Ländern. Ursprünglich wollte Innenminister Horst Seehofer, CSU, bis zum September sechs Modell-Standorte für Ankerzentren einrichten. Dies ist nur in Kooperation mit den Ländern möglich, bislang haben aber alle Bundesländer bis auf Bayern dies abgelehnt. Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder erhöhte gestern den Druck: Wenn die Ankerzentren nicht funktionierten, müsse es an der Grenze Zurückweisungen von Schutzsuchenden geben. Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth hält wenig von dieser Tonlage aus München: "Wir respektieren wirklich die großen Leistungen, die Bayern hier erbracht hat. Aber es bringt jetzt nichts, wenn wir alle paar Wochen die Dinge, die wir gemeinsam verabredet haben, verändern. Sondern wir arbeiten unseren Plan Schritt für Schritt ab." Wichtiger sei es jetzt, die konkreten Schritte aus dem Koalitionsvertrag wie Ankerzentren oder schneller Abschiebungen umzusetzen.
Von Nadine Lindner
Nicht nur in Bremen, sondern auch in anderen Außenstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll es zu Unregelmäßigkeiten bei der Anerkennung von Flüchtlingen gekommen sein. Für einen von der FDP geforderten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss gab es bislang aber keine Mehrheit.
"2018-05-19T12:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:53:02.868000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anerkennung-von-fluechtlingen-neue-vorwuerfe-gegen-bamf-100.html
897
700 Millionen Euro für Flüchtlingshilfe
Der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar, Christos Stylianides (picture alliance/dpa/Olivier Hoslet) Staaten wie Griechenland sollen in den nächsten drei Jahren bis zu 700 Millionen Euro für die Bewältigung der Flüchtlingskrise bekommen. Das schlug der zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides in Brüssel vor. Man dürfe keine Zeit verlieren bei der Bereitstellung aller "erforderlichen Mittel, um humanitäres Leid innerhalb unserer Grenzen abzuwenden". Es sei nun an den europäischen Regierungen und dem Europäischen Parlament, den Vorschlag dieses Nachtragshaushalts zu unterstützen. Die ersten 300 Millionen sollen so schnell wie möglich schon im laufenden Jahr fließen; je 200 Millionen Euro sind für 2017 und 2018 vorgesehen. Das neue Finanzinstrument könnte "den Mitgliedstaaten nutzen, deren eigene Hilfskapazitäten angesichts eines dringenden Bedarfs und außergewöhnlicher Umstände, wie durch den plötzlichen Flüchtlingszustrom oder andere ernsthafte Notfälle, überlastet sind", erklärte die Kommission. Wie viel Geld genau für das derzeit am stärksten betroffene Griechenland und für andere Länder ausgegeben werden soll, war zunächst unklar. Brüssel warnt vor "humanitärer Krise" Damit reagiert Brüssel auf die dramatische Lage im Südosten der EU. Nachdem Mazedonien kaum noch Flüchtlinge über die Grenze lässt, stauen sich in Griechenland immer mehr Menschen. Brüssel warnte bereits vor einer "humanitären Krise" in dem Land. Alleine im griechischen Grenzort Idomeni sitzen nach Angaben der örtlichen Behörden inzwischen etwa 10.000 Flüchtlinge unter miserablen Bedingungen fest, darunter Tausende Kinder. Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras hatte jüngst im deutschen Fernsehen auf Hilfe gedrungen. "Die Flüchtlingskrise kann nicht ein Land allein bewältigen", sagte er im ZDF Österreich: Deutschland soll Flüchtlinge direkt aufnehmen Griechenland erhält zwar schon Unterstützung von der EU, doch die aktuellen Instrumente lassen sich laut EU-Kommission nicht schnell genug einsetzen. Bisher kommt humanitäre Hilfe nur außerhalb der Europäischen Union zum Einsatz. Bei der Verwendung der Mittel etwa für Unterbringung oder Nahrung will Brüssel zum Beispiel mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Österreich verstärkt unterdessen den Druck auf Deutschland: Das Nachbarland solle Asylsuchende aus Griechenland, der Türkei und Jordanien direkt aufnehmen, verlangte Bundeskanzler Werner Faymann. Österreich könne und dürfe nicht zur Verteilstation für die Menschen werden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kritisierte ihrerseits das Vorgehen Österreichs. (bor/tzi)
null
Man dürfe Griechenland und andere von der Flüchtlingskrise betroffene Länder nicht alleine lassen: Europas Politiker hatten das zuletzt immer wieder betont. Die EU-Kommission will für Hilfe nun Millionen bereitstellen, teilte der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides mit. Doch vorher müssen noch die Regierungen der Mitgliedstaaten zustimmen.
"2016-03-02T13:58:00+01:00"
"2020-01-29T18:16:39.762000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/plan-der-eu-kommission-700-millionen-euro-fuer-100.html
898
Bundesrat stimmt Lockerung des Kooperationsverbots zu
Der Bundesrat beschloss auch BAföG-Erleichterungen für die Länder. (picture alliance / dpa / Rainer Jensen) "Sachsen - ja. Sa-Anh - ja. Schleswig-Holstein - ja. Thüringen - Ja." "So, damit stelle ich fest, dass das Haus einstimmig der Änderung des Grundgesetzes zugestimmt hat, und wir damit eine lange Debatte jedenfalls insoweit zum Abschluss geführt haben." Alle Bundesländer stimmten heute der Änderung von Artikel 91b des Grundgesetzes zu, mit der das sogenannte Kooperationsverbot gelockert wurde. Allerdings nur für den Hochschulbereich. Für SPD und Grüne war heute daher auch nur ein erster Schritt getan, langfristig müsse der Bund den klammen Ländern auch bei der Finanzierung der Schulen beispringen können. "Wir beschließen heute die längst überfällige Korrektur eines Fehlers, der meines Erachtens nicht ernsthaft bestritten werden kann. Aber das kann noch nicht alles gewesen sein. Konsequent und gut wäre es, das Kooperationsverbot insgesamt zu streichen", formulierte der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil heute die Position der meisten rot-grün regierten Länder. Doch dagegen stemmten sich nicht nur die CDU/CSU, Bundesländer wie Sachsen, Bayern und Hessen, sondern auch der grüne Ministerpräsident Wilfried Kretschmann. Mit der heutigen Grundgesetzänderung ist es dem Bund ab 2015 möglich, langfristig in die Förderung von Hochschulen einzusteigen - bislang war dies nur über kurzfristige Vereinbarungen und Pakte möglich, die mühsam, alle paar Jahre zwischen Bund und Ländern neu ausgehandelt werden mussten. Für die chronisch unterfinanzierten Universitäten jedes Mal eine Zitterpartie. Lob aus dem Hochschulbereich "Jetzt ist die Möglichkeit, dass es anders gehen kann. Das bedeutet zum Beispiel, wenn wir über die Fortsetzung der Exzellenzinitiative sprechen, über die Ausgestaltung, dann kann man jetzt ganz anders darüber nachdenken, nicht wieder neuer Wettbewerb, kurze Zeit, sondern überlegen, wo geht der Bund langfristig hinein", verkündet Bundesbildungsministerin Johanna Wanka, CDU. Lob für die Grundgesetzänderung kam umgehend aus dem Hochschulbereich. Hochschulrektoren-Präsident Horst Hippler sprach von einem "Sieg der Vernunft", es sei ermutigend, dass eines der größten Hemmnisse für eine auskömmliche Finanzierung der Universitäten nun endlich beseitigt sei. Auch Bernhard Kempen vom Deutschen Hochschulverband begrüßte die Entscheidung. Ob sich nun tatsächlich für die Hochschulen viel ändere, müsse abgewartet werden. "Jetzt müssen diese Pakte noch mit Leben gefüllt werden. Und ehrlich gesagt, da liegen ja eigentlich die Probleme. Die liegen nicht so sehr auf der rechtlichen, sondern auf der inhaltlichen Ebene. Und da hätte ich schon noch einiges auf dem Wunschzettel stehen, wo ich denke, das müssten Bund und Länder mal anpacken." Klar ist: Einfach wird es nicht Was das genau sein könnte, da gehen die Erwartungen weit auseinander. Klar ist: Einfach wird es nicht. Denn künftige gemeinsame Förderprogramme müssen "überregionale Bedeutung" haben - und sie müssen die Zustimmung aller 16 Bundesländer finden. Manche befürchten daher jetzt schon eine Förderung nach dem Gießkannenprinzip, nach dem Motto: Jeder will was abhaben vom Kuchen. Bildungspolitiker der großen Koalition sehen für die Zukunft vor allem ein wichtiges Aktionsfeld: den wissenschaftlichen Nachwuchs und den meist prekär bezahlten universitären Mittelbau. "Das Befristungsunwesen werden wir uns noch mal genauer anschauen, und ich sag jetzt schon: Dort wo wir Geld geben, werden wir das nicht mehr auf Dauer akzeptieren", so der bildungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Albert Rupprecht. Bundesbildungsministerin Wanka sieht jetzt aber erst mal die Länder am Zug: Die hatten sich ihre Zustimmung im Bundesrat einiges kosten lassen: Ab Januar 2015 übernimmt der Bund die Kosten für das BAföG, die Ausbildungsförderung für Schüler und Studierende, allein. Dadurch werden in den Ländern Mittel von insgesamt 1,2 Milliarden Euro frei für Investitionen in Bildung, insbesondere in Hochschulen. Damit könnten über 10.000 Dauerstellen geschaffen werden, sagte Wanka.
Von Christiane Habermalz
Bund und Länder dürfen bei der Förderung der Hochschulen künftig enger zusammenarbeiten. Das entsprechende Gesetz passierte heute den Bundesrat in Berlin. Die Grundgesetzänderung zur Lockerung des sogenannten Kooperationsverbotes beschloss die Länderkammer einstimmig.
"2014-12-19T14:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:50.928000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochschulpolitik-bundesrat-stimmt-lockerung-des-100.html
899
"Es geht darum, den Sozialstaat zu verteidigen"
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, Fabio de Masi (dpa / Daniel Reinhardt) Dirk-Oliver Heckmann: Sahra Wagenknecht hat geschrieben, seit der Bundestagswahl klaffe zwischen Politikern und deren Wählerschaft eine solche Vertrauenslücke, dass Wahlen zur Farce und demokratische Rechte substanzlos würden. Weshalb, Herr de Masi, beteiligt sich die Linke daran, Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland schlechtzureden. Ist das nicht purer Populismus? Fabio de Masi: Nein. Es ist so, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung sich für bezahlbare Mieten, für gute Pflege, gegen Armutsrenten, für eine Steuergerechtigkeit und auch gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr ausspricht, dass diese Mehrheiten aber keine Mehrheiten im Parlament haben. Und das kann die Linke eben allein nicht verändern. Heckmann: Wenn die Wähler halt anders wählen und eben nicht der Linken beispielsweise ihre Stimmen geben, ist das nicht Demokratie? de Masi: Das Problem ist ja, dass viele Menschen sich von der Demokratie auch daher abwenden, weil sie keine Erwartungen an die Parteien mehr haben. Das heißt, sie gehen erst gar nicht mehr zur Wahl, oder sie werden eben von den Demagogen der AfD angesprochen. Und das erkennen wir daran, dass ja zum Beispiel kurzzeitig beim Antritt von Martin Schulz ein Umfragehoch da war und all diese Wählerinnen und Wähler sind wieder verschwunden. Die sind auch nicht zur Linken gekommen. Das heißt, da wurden offenbar Erwartungen geweckt, die dann aber wieder enttäuscht wurden, als die Wählerinnen und Wähler erkannt haben, dass dort kein Wechsel bevorsteht. "Wir leisten einen großen Beitrag zur Demokratie" Heckmann: So ist es in der Demokratie, dass Wählerinnen und Wähler sich überlegen, mal die eine Partei, mal die andere zu wählen. Sie stellen das Ergebnis demokratischer Wahlen infrage. de Masi: Nein, ich stelle nicht das Ergebnis demokratischer Wahlen infrage, sondern wir haben ja erlebt, zum Beispiel in den USA mit der Bewegung um Bernie Sanders, wir haben erlebt mit den Entwicklungen in der Labour Party in Großbritannien und Jeremy Corbyn, dass sich wieder Tausende für Politik begeistern, wenn man ihnen ein überzeugendes Angebot macht. Insofern leisten wir einen großen Beitrag zur Demokratie. Und entscheidend ist nicht, was Frau Baerbock sagt, entscheidend ist übrigens auch nicht, was Herr Stegner sagt, zu 'Aufstehen' Herr Stegner. Der hat auch die Auswechslung von Toni Kroos gegen Schweden gefordert, kurz danach machte der ein Tor. Das ist dann eher ein gutes Omen. Entscheidend ist, was die Taxifahrer, Krankenschwestern oder Leiharbeiter sagen, die uns täglich auf diese Bewegung ansprechen. Wir haben in drei Tagen mehr Beitritte zu dieser Bewegung verzeichnet als die AfD an Mitgliedern hat. Das ist ein gutes Zeichen für die Demokratie. Heckmann: Jetzt sagen Sie, entscheidend ist nicht, was Annalena Baerbock sagt. Trotzdem möchte ich sie zitieren. Sie hat nämlich gesagt, die Linke solle sich erst mal klar machen, ob sie auf nationalistische Töne verzichten will. Will das die Linke? de Masi: Ich weiß nicht, was Frau Baerbock damit meint. Ich erlebe, dass wir eine Europapolitik beispielsweise haben, die dazu führt, dass durch Kürzungen von Löhnen und Renten Europa und der europäische Zusammenhalt zerfällt, dass die deutsche Wirtschaftspolitik gegenüber Griechenland beispielsweise eine Katastrophe war. Das nenne ich eine Form des Nationalismus. Da haben sich übrigens auch führende Grüne an diesen europapolitischen Entscheidungen beteiligt. Wenn man aber sagt, wir möchten keine Armutsrenten in Deutschland, wir möchten zum Beispiel, dass es eine bestimmte Zahl an Pflegekräften in den Krankenhäusern gibt, die vorgehalten wird, wie in anderen europäischen Ländern, dann ist das nicht nationalistisch, sondern es geht einfach darum, den Sozialstaat zu verteidigen, und auch die Demokratie. Und mit solchen Kampfbegriffen kann ich leider nichts anfangen, und das ist auch etwas lächerlich. Wer zum Beispiel meine Familiengeschichte kennt, als Enkel eines italienischen Widerstandskämpfers – da habe ich überhaupt keine Bringschuld gegenüber Frau Baerbock. "Das sind Begriffe, die die politische Kultur vergiften" Heckmann: Haben Sie sicherlich nicht, aber es ging ja jetzt um Äußerungen von Sara Wagenknecht beispielsweise auch. de Masi: Auch Sara Wagenknecht ist keine Nationalistin. Heckmann: Ja, aber würden Sie in Abrede stellen … de Masi: Das sind Begriffe, die die politische Kultur vergiften. Man sollte sich doch mal um jene kümmern, die beispielsweise wie die Alternative für Deutschland Menschen gegeneinander aufbringen. Aber indem man Menschen, die sagen, wir stehen für eine andere Politik, wir wollen Parteispenden von Unternehmen verbieten, wir finden den Abstieg, den jemand durch Hartz-VI machen kann – Hartz-IV war ja auch ein Beitrag zum Drücken der Löhne –, dass das den sozialen Zusammenhalt in Deutschland gefährdet, dann ist man doch bitte schön kein Nationalist, sondern das sind demokratische Forderungen. Heckmann: Herr de Masi, es gibt eine Äußerung beispielsweise von Sara Wagenknecht, sie hatte den Anschlag von Ansbach mit der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin in Verbindung gebracht und hat ja auch innerhalb ihrer eigenen Partei deutlichsten Widerspruch geerntet. Das ist doch nicht aus der hohlen Luft geholt. de Masi: Frau Wagenknecht ist der Überzeugung, wie übrigens auch Sozialdemokraten und Grüne, die sich unserer Bewegung derzeit anschließen, dass wir die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Mittelpunkt stellen müssen, nämlich deutsche Waffen, die überall in Spannungsgebiete exportiert werden, dass wir die unfaire Handelspolitik in den Mittelpunkt stellen müssen. Es ist ja keine gute Sache, wenn Menschen ihre sozialen Beziehungen, ihre Heimat aufgeben müssen. Und dass wir für die Menschen, die hier sind, gute Integration leisten müssen, daran ist überhaupt nichts rechts. Nur, dass man eben auch darüber sprechen muss, dass, wenn Menschen zu uns kommen, man Geld in die Hand nehmen muss, um in Schulen, in Krankenhäuser zu investieren, und dass das Frau Merkel nicht gemacht und dass sie damit mit dazu beiträgt, dass Menschen ohne Perspektive hier sind und soziale Ghettos entstehen, weil es eben nicht gelingt, Integration gut zu finanzieren, die Investitionen zu tätigen, die wir in Deutschland bräuchten. Das ist doch nicht rechts. "Man braucht eine hohe innere Toleranz" Heckmann: Und Sie spielen damit nicht die Interessen der Flüchtlinge gegen die der deutschen Bevölkerung, der einheimischen Bevölkerung aus? de Masi: Nein, im Gegenteil, denn sowohl die Flüchtlinge als auch die Menschen, die bereits hier leben, die haben ja ein Interesse daran, dass wir gute Schulen, gute Universitäten, gute Krankenhäuser haben. Und diejenigen, die dafür sorgen, dass zum Beispiel Flüchtlinge ausgebeutet werden zu geringen Löhnen und sie hier gegen die Beschäftigten ausspielen, die spielen Flüchtlinge aus. Deswegen hat ja zum Beispiel ganz schnell der Bundesverband der Deutschen Industrie Forderungen gestellt, dass bestimmte Lohnuntergrenzen für Flüchtlinge nicht mehr gelten sollten. Das sind doch die Leute, die das politische Klima vergiften, und nicht die Flüchtlinge selbst oder Menschen, die sich Sorgen um ihre Löhne machen. Heckmann: Herr de Masi, Sara Wagenknecht nimmt ja für sich in Anspruch, das linke Lager zusammenführen zu wollen. Faktisch tut sie genau das Gegenteil, kann man jedenfalls beobachten oder zumindest so interpretieren, denn sie stellt ja die Vorbedingung, dass die SPD beispielsweise ihren Agenda-2010-Kurs ändern müsse. Das heißt, das ist das Gegenteil von Zusammenführen, oder? de Masi: Die Frage ist, was ist denn das linke Lager? Wenn man eine Politik wie die Agenda 2010 macht, die zu Leiharbeit, zu Befristung ohne sachlichen Grund, zu Hartz-IV geführt hat, wenn man die Rentenformel in Deutschland zerstört, dann gehört man ja nicht mehr dem linken Lager an. Ansonsten sind ja Begriffe wie "links" oder "rechts" völlig bedeutungslos. Und deswegen geht es eben darum, die vielen Tausende anständige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die nicht mit dem Kurs sagen wir von Olaf Scholz oder Andrea Nahles einverstanden sind, dass die eine Möglichkeit haben, sich gemeinsam mit Mitgliedern der Linken, mit Mitgliedern von Grünen, aber auch Parteilosen in einer Bewegung zu engagieren, bei der es nicht darum geht, ob man jetzt einen Schriftführer wählt in einem verrauchten Hinterzimmer einer Kneipe, sondern in der man sich für Themen engagiert. Denn Parteien sind ja kein Selbstzweck. Und wir wollen all die vielen Menschen gewinnen, die sagen, wir haben hier Gemeinsamkeiten. Das schließt übrigens nicht aus, dass man zu Europa oder auch in der Flüchtlingspolitik im Detail unterschiedliche Auffassungen hat. Man braucht eine hohe innere Toleranz. Aber wir sind uns einig, dass wir diese sozialen Themen wieder in den Mittelpunkt der Politik stellen müssen, und von daher ist es mir relativ egal, ob dies Projekt Herrn Scholz passt. Solange es dem Handwerker, der Krankenschwester, dem Taxifahrer passt, und das zeigen die Reaktionen, bin ich sehr glücklich. Heckmann: Der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Fabio de Masi, war das live hier im Deutschlandfunk. Danke Ihnen für Ihre Zeit, Herr de Masi! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Fabio de Masi im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Viele Menschen fühlten sich mit ihren Sorgen von den Parteien nicht mehr vertreten, sagte Fabio de Masi (Die Linke) im Dlf. Tausende würden sich für Politik begeistern, wenn man ihnen ein überzeugendes Angebot mache. In drei Tagen habe es mehr Mitgliederanträge für die Sammlungsbewegung gegeben als die AfD Mitglieder habe.
"2018-08-06T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:04:55.303000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/linke-sammlungsbewegung-aufstehen-es-geht-darum-den-100.html
900
Unisextarife in der Versicherungswirtschaft
Es ist einmal mehr eine Grundsatzentscheidung, die die Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg getroffen haben. Ab dem 21. Dezember 2012 darf es in der EU keine geschlechtsspezifischen Unterschiede mehr bei Versicherungstarifen für Männer oder Frauen geben. Bislang sind diese Unterschiede gang und gäbe. Begründet werden sie mit den statistisch nachweisbaren Unterschieden beider Geschlechter etwa bei der Lebenserwartung oder möglichen Krankheitsrisiken. Entsprechend fielen und fallen Versicherungstarife oder Leistungszusagen etwa bei Kranken- oder Lebensversicherungen immer noch unterschiedlich aus. Damit soll in spätestens zwei Jahren Schluss sein.Die belgische Verbraucherorganisation Test Achat, vergleichbar mit der deutschen Stiftung Warentest und zwei belgische Privatleute hatten gegen eine Ausnahmeklausel in der Antidiskriminierungsrichtlinie der EU geklagt. Diese Klausel hat den Mitgliedsländern erlaubt, geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Versicherungsprämien und Leistungen zuzulassen, wenn der Risikofaktor tatsächlich nachweisbar und durch genaue versicherungsmathematische und statistische Daten nachgewiesen werden kann. Sie wollten vor dem belgischen Verfassungsgericht erreichen, dass das belgische Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie gegen Geschlechterdiskriminierung für ungültig erklärt wird. Das belgische Verfassungsgericht wollte vor seiner Entscheidung vom EuGH wissen, wie das EU-Recht auszulegen sei.Diese Ausnahmeregelung, so die Luxemburger Richter heute, steht aber im Widerspruch zu den allgemeinen Gleichheitsgrundsätzen der EU Verträgen und der Grundrechtecharta der EU, in der der Grundsatz der Nichtdiskriminierung ein hohes Gut ist. Die Richter verweisen aber vor allem darauf, dass die in der Kritik stehende Ausnahmeregelung nicht befristet wurde. Damit bestehe die Gefahr, dass die Ausnahme von der Gleichbehandlung von Männern und Frauen unbefristet angewendet werde. Eine solche Bestimmung laufe jedoch der Verwirklichung des Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider. Jerzy Montag, der Rechtsexperte der Grünen im Deutschen Bundestag begrüßte die Entscheidung. Sie sei ein Sieg der Vernunft und des in der Charta der Grundrechte verbürgten Gleichheitsgrundsatzes von Frauen und Männern.Darüber hinaus habe der EuGH festgestellt, dass die rein statistisch errechnete höhere Lebenserwartung von Frauen unterschiedliche Tarife bei privaten Versicherungen nicht rechtfertigen kann. Die Versicherer haben nun zwei Möglichkeiten: Entweder sie bieten künftig gleiche Tarife und Leistungen für Frauen und Männer an – wie es in der Riester-Rente bereits vorgesehen ist – oder sie machen unterschiedliche Tarife an sonstigen verhaltensbedingten Risikofaktoren fest, die Auswirkungen auf Gesundheit und Lebenserwartung haben. Eine Stellungnahme des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft liegt zur Stunde noch nicht vor.
Von Volker Finthammer
Weil Frauen statistisch gesehen fünf Jahre länger leben als Männer, zahlen sie weniger für eine Lebensversicherung, private Altersvorsorge ist für sie dagegen teurer. Diskriminierend, findet der EU-Gerichtshof und urteilt gegen geschlechtsbezogene Unterschiede bei Versicherungstarifen.
"2011-03-01T11:35:00+01:00"
"2020-02-04T02:22:01.643000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unisextarife-in-der-versicherungswirtschaft-100.html
901
Militärökonom Keupp: Deutschland hat Probleme, Europa insgesamt nicht
Kampfpanzer Typ Leopard 2A6 der Bundeswehr: Marcus Keupp betonte, dass nach wie vor die USA das Logistikrückgrat in Europa stellten, insbesondere bei der Munitionversorgung auch für den Leopard. (picture alliance/dpa/Philipp Schulze)
Engels, Silvia
Die Ukraine könne bis zum Frühjahr mit 100 Leopard-Panzern versorgt werden, so der Militärökonom Keupp. Deutschland würde dabei nicht führen, sondern Länder mit stärkerem politischem Willen und besserer Logistik wie Polen, Finnland und Schweden.
"2023-01-25T12:17:00+01:00"
"2023-01-25T12:35:06.248000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-krieg-und-deutschland-interview-mit-militaeroekonom-marcus-keupp-eth-zuerich-dlf-77b0817c-100.html
902
Alles ist Vergleich. Vergleich ist alles.
Mehr als jeder dritte Arbeitnehmer findet seinen Lohn ungerecht (imago images │photothek) Dieser Essay ist der erste Teil unserer Reihe „Projekt Weltverbesserung” in „Feature“ und „Essay und Diskurs” im Deutschlandfunk. Man soll sich nicht vergleichen. Sich mit anderen zu vergleichen macht nur unglücklich, ist eine oft gehörte Binse. Zumal sich ohnehin immer einer findet, der schneller, schöner, reicher ist, kaum einer von uns gehört ja zu den oberen Zehntausend – ganz gleich in welcher Kategorie (von so was wie 'beste Sockenverliererin', 'Steuererklärungzuspätabgeberin' oder 'Urlaubsreisen in Unwetterregionen Buchende' vielleicht abgesehen). Und dieser ganze Wettbewerbsgedanke sei doch ohnehin abzulehnen. Wo kommt er denn überhaupt her, der Wunsch, immer schneller, schöner, reicher sein zu wollen als alle anderen? Das Christentum erklärte den Neid gar gleich zur Todsünde. Kein Wunder, ging es der Kurie doch in der Regel deutlich besser als dem gemeinen Volk, das nach der Unterweisung in die Zehn Gebote dann auch noch brav seine letzten Groschen für die Kollekte geben sollte. Tina Klopp, 1976 geboren in Hamburg, promovierte Künstlerin, Redakteurin im Feature des Deutschlandfunks, hat unter anderem als Lektorin und Ghostwriterin gearbeitet, sie schreibt Features, Hörspiele und Zeitungsartikel. Es ist verpönt, sich in Konkurrenz zu anderen zu stellen Auf der anderen Seite steht die Geschichte vom Fuchs und den Trauben. Ein Fuchs kommt nicht an die Trauben heran, die oben am Weinstock hängen, und redet sich daraufhin ein, dass sie ihm ohnehin nicht geschmeckt hätten, - bestimmt sind sie sauer. Die Fabel ist mehr als 2.000 Jahre alt. Der Verdacht: Auch die Anti-Wettbewerbsargumentation könnte so eine alte Geschichte, so ein alter Zopf sein, ein menschengemachtes Märchen in diesem Fall, mindestens zum Zwecke der Selbstberuhigung. Eine zutiefst menschliche Strategie ist es, sich das schlecht zu reden, was man ohnehin nicht haben kann. Aber nur weil diese Strategie schon so lange existiert, muss sie noch nicht gut sein, zumindest nicht für alle. Vielleicht wird diese Geschichte von den sauren Trauben auch absichtlich verbreitet, mit dem Ziel, möglichst viele Menschen davon abzuhalten, sich nach den Trauben zu strecken. Ein Ablenkungsmanöver im Sinne der Leiterbesitzer zum Beispiel, die sich die begrenzte Zahl an sonnennahen Trauben dann unter sich aufteilen. Wie gut für die Privilegierten, dass wir Füchse die Geschichte längst verinnerlicht haben. Und uns die Beute schon ausreden, bevor sie für uns in Frage kommt. Eine PR-Agentur im Auftrag der Leiterbesitzenden hätte es sich kaum besser ausdenken können. Auch die meisten Kritiker des Kapitalismus stören sich am permanenten Wettbewerb, am Kampf aller gegen alle, dem beständigen Höher, Schneller, Weiter. Aber was genau ist so schlecht am Wettbewerb, der zugespitzten Form des Vergleichs? Denn obgleich es verpönt ist, sich ständig in Konkurrenz zu anderen zu stellen, neidisch und kompetitiv zu sein, herrscht Wettbewerb ja überall, ob privat, politisch oder ökonomisch. Kinder laufen um die Wette, die Senioren-WG misst sich im Doppelkopf, Wissenschaftlerinnen, Romanautoren und Politikerinnen wetteifern um die besten Ideen, Firmen um die besten Produkte. Wettbewerb wird in der Regel mit großem Engagement und theoretisch auch mit großer Freude betrieben. Fußballweltmeisterschaften, private Wetten, Matheolympiaden – zu gucken, wer die oder der Bessere ist, scheint ein sehr menschliches Unterfangen. Beliebte Vergleichgrößen: Status, Gehalt, Privilegien Insbesondere im Privaten, im Zwischenmenschlichen, etwa in der Frage nach Status, Gehalt und Privilegien, haftet dem Vergleich ein schlechter Ruf an, Sozialneid gilt als besonders toxisch. Hier ergibt sich ein interessanter Zusammenhang. Denn zum einen weiß man aus Studien, dass es der direkte Vergleich ist, der den Menschen besonders schmerzt, dass man auf Freunde neidischer ist als auf Fremde – das zeigt etwa der Versuch der beide Spieltheoretiker Natalia Jiménez und Ramón Cobo‑Reyes von der Universität Granada: Zwei Freunde oder zwei Fremde sollten mehrmals eine beliebige Menge Geldes nach unterschiedlichen Regeln zwischen sich aufteilen. Überraschenderweise kamen die Fremden zu 100 Prozent über die insgesamt beste Verteilung überein, während das bei nur 60 Prozent der befreundeten Spieler der Fall war. Sie nahmen dabei in Kauf, dass sie selbst weniger Geld erhielten, – Hauptsache, die Freunde gingen nicht mit vollen Taschen nach Hause. Analog dazu sind die meisten Menschen auf Freunde, die ein paar lumpige 100 Euro mehr im Monat haben, vergleichsweise neidischer als auf schwerreiche Firmen- oder Immobilienbesitzer, die das 10.000‑fache verdienen. Dabei macht Neid einen guten Sozialisten. Wer sich eingesteht, dass er sich an einer unfairen Verteilung stört, denkt auch eher über Alternativen zum bestehenden System nach. Auf jeden Fall scheint es als Werkzeug der Erkenntnis unverzichtbar, sich mit anderen zu vergleichen. Die Frage ist: Welche Maßstäbe sollte man denn sonst anlegen, wenn nicht eine Orientierung an den anderen? Was ein Mensch können oder lassen sollte, ist ja keine absolute Wahrheit, das fällt ja nicht vom Himmel. In einer sozialen Gemeinschaft macht es Sinn, sich an anderen zu orientieren, womit auf gar keinen Fall gesagt werden soll, dass die Mehrheit immer Recht hat und die Minderheit nicht geschützt, gepflegt und gewertschätzt werden sollte, und schon gar nicht, dass man nicht nach seinen eigenen Werten suchen sollte, im Gegenteil. Aber die anderen bleiben am Ende der Bezugsrahmen, weil es sonst eben keinen anderen Rahmen geben kann, höchstens vielleicht so etwas wie einen Idealzustand. Es ist schlicht menschenfreundlich, sich an anderen Menschen zu orientieren und daher völlig zu unrecht verpönt. Was sollte wichtiger sein als Mitmenschlichkeit, worum sonst sollte es im Leben gehen? Permanentes Korrektiv Der Vergleich ist allerdings mehr als Verortung, mehr als eine persönliche Orientierung zum Zwecke der Selbsteinordnung, der Vergleich ist Ansporn und vor allem ein permanentes Korrektiv, ein Richtmaß für die Verteilung von Ressourcen, Bequemlichkeiten und Befugnissen in unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft könnte Jobs und Chancen auch nach dem Zufallsprinzip vergeben oder alle gleichmäßig bedenken, aber das würde sich zum einen nicht sehr selbstbestimmt und zum anderen keinesfalls gerecht anfühlen. Vor allem aber wäre es grob fahrlässig – spätestens, wenn es darum geht, wer am Steuer eines Flugzeugs sitzt, die Amtsgeschäfte führt, Brücken baut oder bei der Blinddarm-OP das Skalpell führt. Hier macht es ja über die Maßen Sinn, die Bewerberinnen zu vergleichen und die besten auszuwählen, etwa mit Hilfe von Schulen und Universitäten. Denn die dienen gar nicht primär der Bildung, auch wenn das wichtig und schön ist – sie stellen auch permanente Ausleseprozesse dar, sind der Versuch, die geeignetsten für die Posten und Verantwortungen innerhalb der Gesellschaft zu ermitteln. Der Mensch hat mindestens drei Grundmotivationen im Leben, die sich teilweise befördern und teilweise widersprechen: Er ist eitel, er ist ängstlich und er ist faul. Oder netter ausgedrückt: Der Mensch will geliebt werden, er will Unsicherheiten vermeiden und er hat es gerne bequem. Davon abgesehen mögen die meisten Menschen starke Gefühle, zumindest solange sie den Grundbedürfnissen etwa nach Sicherheit und Zuwendung nicht dauerhaft widersprechen. Sich durch Leistung hervortun Das Streben nach Anerkennung führt dazu, dass der Mensch sich gerne durch Leistungen hervortut, sein Wunsch, gemocht zu werden, treibt ihn außerdem dazu, seine liebenswerten Eigenschaften hervorzuheben. So erklärt sich, warum Menschen Erfinderinnen werden wollen oder Künstler oder Investmentbankerinnen, es erklärt auch, warum sie Kinder bekommen und sich für sie aufopfern, oder warum sie einen gemütlichen PKW gegen einen unbequemen, teuren Sportwagen eintauschen, ihre Wohnzimmer mit endlosen Bücherregalmetern oder überdimensionalen Marken-Flatscreens schmücken – je nachdem, was sie verrückterweise denken, was sie in ihrer persönlichen peer group nach vorne bringt. Gleichzeitig, und oft gegenläufig dazu, tun Menschen alles dafür, überflüssige Anstrengungen zu vermeiden. Das lässt sich nicht nur an wiederkehrenden Ehestreitigkeiten über Hausarbeit ablesen, – ja, vielleicht ist der Unwille zur Hausarbeit sogar einer der treibenden Faktoren zur fortwährenden Unterdrückung der Frau. Man sieht das auch daran, dass Menschen ständig etwas entwickeln, das ihnen die Arbeit abnimmt: Rolltreppen und Fahrstühle, Autos und Staubsaugerroboter, Wasch- und Geschirrspülmaschinen. Jede dieser Erfindungen birgt zunächst einen enormen Bequemlichkeitsvorteil, Beispiel: Handy. Man muss zum Nachbarn nicht mehr rüberstiefeln und lange im Kuhstall nach ihm suchen, man tippt einfach eine Nummer, wenn man ihn um etwas Milch bitten möchte. Doch der Bequemlichkeitsvorteil währt meist nur kurz. Denn wenn alle Handys haben und alle die dadurch eingesparte Zeit wieder mit etwas anderem füllen, zum Beispiel, um sich einen Anerkennungsvorteil zu verschaffen, ist der Zeitgewinn schnell verdampft und man fühlt sich am Ende noch gestresster, weil nun ständig das Handy klingelt oder weil Haushaltsgeräte heutzutage piepsen, wenn man ihnen nicht schnell genug Beachtung schenkt, oder weil die drei Millisekunden, die man auf den Fahrstuhl wartet, sich am Ende manchmal stressiger anfühlen als die 20 Minuten, die man früher mit Treppensteigen verbracht hätte. Viel erleben, aber am Ende nichts riskieren Auch das Streben nach Sicherheit ist ein wichtiger Faktor, führt nicht nur zum mittelalterlichen Burg- und neuzeitlichen Alarmanlagenbau, macht Versicherungen zu einer der reichsten Branchen überhaupt, mit dem Thema Sicherheit lassen sich am Ende sogar Wahlen gewinnen. Selbst Menschen, die von sich behaupten, besonders viel zu leisten im Job und eine hohe Verantwortung zu tragen, gehen oft lieber längerfristige Arbeitsverträge ein oder lassen sich zumindest finanziell für ihr Engagement so entschädigen, dass sie nach einem – in ihrem Fall meist unwahrscheinlichen – Jobverlust trotzdem weiter auf großem Fuß leben könnten. Ein weiteres Beispiel für die große Bedeutung, die Angstvermeidung für den Menschen spielt, ist die Institution der Ehe, denn – wenn man romantische Ideen einmal außer Acht lässt – ist sie nicht zuletzt dem Wunsch geschuldet, eine verlässliche, langfristige Beziehung einzugehen und nicht jeden Tag aufs Neue fürchten zu müssen, dass der/die Geliebte einen alsbald für eine bessere Partie zurücklässt. Menschen mögen zwar große Gefühle, aber am liebsten kontrolliert. Das erklärt Phänomene wie Extremsport, Tourismus, Seitensprünge und Horrorfilme. Viel erleben, aber am Ende doch nichts riskieren. Allerdings haben es nicht alle Menschen gleich sicher, gleich aufregend, gleich bequem in ihrem Leben, und schon gar nicht erhalten alle gleich viel positives Feedback für ihre täglichen Heldentaten. Der Supermarktkassierer arbeitet sehr viel für vergleichsweise wenig Geld. Er muss seine kleine, dunkle Wohnung alleine putzen und bekommt wenig Anerkennung für seine Leistung etwa im Ertragen eines monotonen Scannerpieptons oder selbstgerechter Kunden. Wenn in seinem Leben etwas Größeres kaputt geht oder er krank wird, steht schnell die Existenz auf dem Spiel. Er schläft schlecht, wenn größere Ausgaben anstehen, wenn nicht sowieso, weil er an einer lauten Straße wohnt, um seine Gesundheit ist es statistisch gesehen ohnehin schlechter gestellt, auch wenn solche Daten nicht allzu detailliert erhoben werden, um den sozialen Frieden nicht zu gefährden. Vergleich Kassierer und Kunsterbin Die reiche Erbin, Privatière und Kunstmäzenin hat für alles einen Bediensteten, putzt ihre riesigen Domizile an den hübschesten Flecken der Erde selbstverständlich niemals selbst, sie bekommt viel Ankerkennung für ihren erlesenen Geschmack, der sich auf dem Kunstmarkt praktischerweise immer wieder selbst bestätigt, weil alles, was sie kauft, inzwischen automatisch im Wert steigt, – was ihr dennoch ein Gefühl von Klugheit und Bedeutsamkeit verschafft, bestenfalls sogar die Chance auf Nachruhm und publizistisches Interesse, außerdem Zugang zu allerhand interessanten Menschen. Auch sie hat Ängste, aber die sind weit weniger existentiell. Fest steht: Kassierer und Kunsterbin leben vermutlich beide nur einmal, beide sind als Menschen, weit davon entfernt gleich zu sein, dennoch gleich viel Wert. Es geht nicht darum zu beurteilen, wer von beiden am Ende glücklicher ist, – zu Recht ist es nur "the pursuit of happiness", also das Streben nach Glück, das es zu beurteilen gilt, nicht aber der biochemische Zustand des Glücks an sich, den zu messen ohnehin unmöglich ist – und wenn, dann gehörte das ins Feld der Psychologie – während sich über die gleichen Möglichkeiten, dem Glück einen Platz in seinem Leben einzuräumen, tatsächlich streiten lässt, und zwar aus gesellschaftlicher und gerechtigkeitstheoretischer Sicht. Test, Bewerbung, Auswahl - der permanenter Vergleich So versucht unsere Gesellschaft die Frage nach dem Erfolg in der Glückssuche in der Regel mit Hilfe des Wettbewerbs zu lösen, in der Schule zum Beispiel durch die Empfehlung für das weiterführende Gymnasium, durch Abitur- und Examensnoten und generell mit Hilfe von Tests, Bewerbungsgesprächen und Auswahlverfahren, ein permanenter Vergleich also – oder eben mit Hilfe des Marktes, auf dem sich der Gründer oder Erbe einer Firma beweisen muss, wobei über den Nutzen der Produkte oder Dienstleistungen noch nichts gesagt ist, man kann auch sehr erfolgreich sein, wenn man Langstreckenraketen herstellt oder Zigaretten oder Asbest oder SUVs. Großen Erfolg kann man auch haben, wenn man sein Geschäftsmodell auf die Schwachstellen politischer Regelungen und Gesetze ausrichtet, im schlimmsten Fall, wie die Cum-Ex-Geschäfte, wenn man Millionen damit verdient, dass man sich auf Lücken im System stürzt, in diesem Fall, dass man sich im großen Stil Steuern erstatten lässt, die man nie gezahlt hat. Die aktuellen Instanzen regeln die Job- und Privilegienvergabe nicht besonders gut, es gibt zahllose Tricks und Möglichkeiten, sich an ihnen vorbeizumogeln. Dennoch – was wäre die Alternative? Immerhin sagt sogar der bekannte linke Philosoph Slavoj Žižek, ihm sei zur Verteilung von Ressourcen und Posten bislang leider auch noch kein besserer Mechanismus eingefallen als der Markt, und das heißt sicherlich nicht, dass er über diese Tatsache sonderlich erbaut wäre. Aber solange kein besserer Mechanismus gefunden ist, sollte zumindest alles dafür getan werden, dass er greift, so gut wie eben möglich. Dazu sind die Politik, die Justiz und im gewissen Maße auch die Medien da, letztlich also wir alle, als Mitglieder dieser Gesellschaft, in unserer Position nicht nur als Journalistinnen, Politiker oder Richterinnen, sondern schlicht als aktive Bürger. Und alle sollten ein Interesse daran haben, dass die Mechanismen zur Leistungsprüfung permanent überprüft und verbessert werden. Wie nützlich, erfolgreich, fleißig ist jemand? Wer denkt, dass es viel zu aufwendig wäre, zu beurteilen, wie nützlich und erfolgreich und fleißig jemand tatsächlich ist, dass der Vergleich eines viel zu hohen Maßes an Regulierung und Eingriff bedürfte, sollte bedenken: Genau das passiert ja schon die ganze Zeit. Ständig werden Ressourcen von den einen genommen, etwa in Form von Steuern, Mieten, Gebühren, Preisen, Verordnungen und zu anderen geschoben, in Form von Subventionen, Dividenden, Gewinnen und Einflussmöglichkeiten. Und genauso in die Irre führt der Einwand, dass es ja jedem frei stünde, den gleichen Weg zu wählen und gleichermaßen Erfolg zu haben, etwa als Erbin und Kunstmäzenin, - denn das würde zumindest Chancengleichheit und ähnliche Startmöglichkeiten voraussetzen, die existieren aber genauso wenig wie es einen neutralen Markt gibt. Es ist zwar umstritten, in welchem Maße man Intelligenz messen kann, aber zumindest kann man die Ergebnisse der Messungen am Ende vergleichen. Und während es so scheint, als wären gute Intelligenzwerte eher gleich verteilt innerhalb der Gesellschaft, also über alle Milieus hinweg, sind es die attraktiveren Lebenswege keineswegs. Die ballen sich auffällig bei denen, deren Eltern es auch schon besser hatten. Das Hauptproblem an der Leistungsgesellschaft ist, dass Leistung so schwer zu messen und der vermeintliche Erfolg oft nur konstruiert ist, der Markt als Argument nur vorgeschoben, um sich mit gutem Gewissen das größte Stück vom Kuchen einzupacken. Dass zum Beispiel die Kunstmäzenin gar nicht in dem Maße fleißiger, cleverer und nützlicher für die Gesellschaft ist als der Supermarktkassierer, dass ihr ein Leben in nicht nur 100‑facher, sondern etwa 10.000‑facher Komfortabilität gar nicht zustände. Glühende Anhänger des Wettbewerbsgedankens Die Autoindustrie etwa würde wohl niemals in Verdacht geraten, mit staatslenkerischen Alternativen zu liebäugeln, streicht aber gerne Staatshilfen und steuerliche Begünstigungen ein, auch wenn die mit marktwirtschaftlichem Verdienst wenig zu tun haben, eher mit guter Lobbyarbeit oder schlimmer noch: selbstverschuldeter Krise. So gibt es insgesamt viele glühende Anhänger des Wettbewerbsgedankens, die sich ihm selbst eher ungern aussetzen und die ersten sind, die für ihre Branche Steuererleichterungen, Subventionen oder Sicherheiten verlangen. Gar nicht erst zu sprechen von Preisabsprachen und Kartellen, oder dem Versuch, die Konkurrenz durch Dumpingpreise auszuschalten oder Monopole zu schaffen, letztere genießen derzeit nicht zuletzt Unternehmen wie google oder Facebook in vollen Zügen. Wenn da keiner so genau hinguckt und keiner sich vergleicht, bedient sich am Ende der, der die bessere Konstruktion zu bieten hat, der besser bei der Steuer tricksen kann oder das üblere Produkt vertreibt – oder der mehr Geld für einen think tank ausgibt, um seine Weltsicht zu verbreiten. Der Verdacht liegt nahe, dass es eher im Interesse der Reichen und Mächtigen liegt, die Geringschätzung des Vergleichs als gesellschaftliche Tugend zu lobpreisen und den Neid als Todsünde zu geißeln, und es an uns, den Machtlosen und Schlecht- bis Normalgutverdienern läge, sich die Situation nicht weiter schön zu reden. Viele Menschen denken etwa, es würde mit Kündigung bestraft, wer den Kollegen das eigene Gehalt offenbart. Das stimmt natürlich nicht. Selbst wenn es eine Verschwiegenheitsklausel dazu im Arbeitsvertrag gibt, ist diese in der Regel unwirksam. Die Sorge der Geldgeber beziehungsweise derer, die mehr verdienen als andere, ist natürlich berechtigt. Denn die Frustration, die bei denen auftritt, die weniger verdienen, ist groß. Und wenn es schon nicht gelingt, alle mit einem geringen Gehalt abzuspeisen, so sollen doch wenigsten die, die mehr kriegen, darüber schweigen. So sichert man sich Gefolgschaft. Gehaltsunterschiede machen krank Allerdings machen Gehaltsunterschiede krank: Von wegen Managerkrankheit Herzinfarkt, – es sind eher die, die schlechter verdienen, die an Herzkrankheiten leiden. Wer sich unfair bezahlt fühlt, hat der Ökonom Armin Falk in einer Studie herausgefunden, bei dem steigt die Wahrscheinlichkeit einer Herzerkrankung um ein Drittel. Und immerhin mehr als jeder dritte Arbeitnehmer findet seinen Lohn ungerecht. Das Institut zur Zukunft der Arbeit ermittelte gar, dass wer sich ungerecht bezahlt fühlt, gesundheitlich um rund zehn Jahre altert. Dass Ungleichheit besonders unglücklich macht, hat auch Hilke Brockmann von der Bremer Jacobs Universität untersucht. So macht mehr Wohlstand in der Regel zwar glücklicher. Aber wenn etwa in der chinesischen Gesellschaft, Brockmanns Untersuchungsgegenstand, vom wirtschaftlichen Aufschwung alle, aber einige sehr deutlich mehr profitieren, wächst im Gegenteil mit dem Wohlstand auch die Unzufriedenheit. Alles ist Vergleich, Vergleich ist alles. Sich zu vergleichen heißt übrigens nicht, dass man dafür unbedingt immer jemanden braucht, dem es schlechter geht. Ohnehin ist bei vielen das falsche Bild verankert, dass immer einer dafür bezahlen muss, damit es einem selbst besser geht. Gesamtgesellschaftlich macht dieses Denkmuster aber keinen Sinn. Einer Firma, die niedrigere Löhne zahlt als andere, mag das individuell einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Insgesamt würden aber alle Firmen profitieren, wenn sie mehr Lohn zahlten, weil die Arbeitnehmer dann auch mehr Geld für die Produkte der anderen hätten. Wie die Exportquote der deutschen Industrie zeigt, hängt auch der westliche Wohlstand vor allem vom steigenden Wohl der Entwicklungs- und Schwellenländer ab, und nicht von deren weiterer Ausbeutung. Der Mensch möchte mithalten können Eigentlich ja ein optimistischer Blick auf die Welt, allerdings lässt er die Ausbeutung der Natur außer Acht und ist noch in der Steigerungslogik beständig wachsender Nachfrage gefangen. Eine Utopie würde erst daraus, wenn endlich alle mit weniger auskämen – denn das Glück hängt ja wie gesagt nicht vom permanenten Mehr ab, sondern davon, wie gut man abschneidet beim Vergleich. So ist das Maß an Sicherheit und Bequemlichkeit auch in der westlichen Welt in der Vergangenheit stark gestiegen – eigentlich müsste es uns um ein Vielfaches besser gehen als den Menschen, die in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts gelebt haben. Tut es aber nicht. Denn das Maß, an dem wir uns messen, ist eben nicht der Mensch von 1920 und es sind schon gar nicht die über zwei Milliarden Menschen auf der Welt, die bis heute keinen Zugang zu Toiletten und Duschen haben, sondern es sind die Menschen in unserer Nähe, besonders also unsere Nachbarn, Kollegen, Familienangehörigen und Freunde. Es gibt kein absolutes Wohlstandsglück, über den weitaus größeren Teil der Geschichte konnten Menschen auch ohne Handy und Hubschrauber auskommen, es ist eher das Gefühl von aktueller Benachteiligung, von mangelnder Teilhabe an der jetzigen Gesellschaft, das für soziales Unglück sorgt. Das ist mehr als menschlich, der Mensch möchte schließlich mithalten können und dazu gehören. Wie kann man Leistung bewerten? Nach welchen Kriterien sollen zum Beispiel Jobs entlohnt werden? Müssen nicht besonders langweilige, eintönige Jobs ohne Aufstiegschancen und Verantwortung auch viel besser bezahlt werden als etwa die vergnüglichen Selbstverwirklicherjobs, um ein Beispiel zu nennen, in der Kulturbranche? Sollte man für Jobs, in denen man über andere bestimmen darf, nicht eher weniger Geld bekommen, als für die, die permanenten Gehorsam erfordern? Weil das Bestimmen an sich schon so viel Spaß macht, dass es dafür nicht auch noch mehr Gehalt bräuchte? Führungskräfte führen hier gerne die "Verantwortung" ins Feld, die tragen Kindergärtner und Kindergärtnerinnen allerdings auch. Und sollten nicht Jobs von großer gesellschaftlicher Tragweite, sollten nicht Lehrerinnen oder Politikerinnen zum Beispiel, noch viel, viel besser entlohnt werden, um wirklich die vermeintlich besten Köpfe anzuziehen? Was ist mit der Ökobilanz eines Jobs? Und dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen? Und muss nicht auch das gesundheitliche Risiko eines Jobs noch viel mehr in die Bezahlung einfließen? Wer sich nicht vergleicht, zementiert den Status quo Wer sich nicht vergleicht oder sich allzu leicht mit Worten wie "Verantwortung" oder "Unverzichtbarkeit" abspeisen lässt, zementiert den status quo. Ein bisschen mehr Neid aufeinander täte hier Not, und mehr und besserer Vergleich. Dann würde vielleicht auch den kaltherzigen Fremdenhassern etwa aus dem Umfeld von AfD und Pegida auffallen, dass sie ihre Missgunst auf die falschen Ziele konzentrieren. Anstatt die anzugreifen, die sich an ihnen bereichern, ihre Mieten in die Höhe treiben und die Steuerlast, greifen sie die an, die ohnehin schon viel schlechter dastehen, die Migranten und Flüchtlinge. Schäbiger geht es kaum. Natürlich schimpft die AfD auch auf Politiker und die sogenannten Eliten, aber auch die wären ja eigentlich des Neides kaum Wert, viel zu lumpig ihre Gehälter, viel zu beschränkt ihr Einfluss, verglichen mit denen, die die Gemeinschaft wirklich ausräubern, die Pharmakonzerne, die Versicherungsunternehmen, die Immobilienbesitzer oder Hedge Fonds, um nur einige ganz naheliegende Beispiele zu nennen. Auf der anderen Seite wird oft geklagt, dass man für bestimmte Aufgaben keine Mitarbeiter mehr findet. Fleischabfälle im Schlachthof wegfegen, alten Menschen die Windeln wechseln, sich bis zum nächsten Bandscheibenvorfall über den Erdbeer- oder Spargelacker bücken. Nach der Marktlogik müsste man sagen: Wenn sich für einen bestimmten Job niemand mehr findet, muss man eben mehr Lohn zahlen. Das passiert aber nicht. Eher wird gesagt, dass nicht mehr gezahlt werden kann für diese gering qualifizierte Arbeit, weil sich das wirtschaftlich nicht mehr lohnen, das Produkt am Ende zu teuer würde. Ganz anders im Fall von Managern und Vorstandsvorsitzenden. Die bekommen so hohe Gehälter und Boni, weil das gute Personal sonst nicht gehalten werden könnte und in besser dotierte Posten in die USA auswandern würde. In diesem Fall aber sagt interessanterweise niemand, dass sich das wirtschaftlich nicht mehr lohnt, so hohe Gehälter zu zahlen, weil dann am Ende die Produkte zu teuer würden. Es sind die gleichen Zusammenhänge, nur mit jeweils vertauschten Argumenten. Es wäre viel zu gewinnen, wenn endlich fair verglichen würde Das hängt am Ende mit der Globalisierung zusammen, oder viel mehr mit der fehlenden Globalisierung, – finden sich nicht ausreichend deutsche Erntehelfer, lassen sich halt günstigere aus dem Ausland beschaffen oder man verlagert gleich die ganze Produktion und hebelt damit die Lohnwünsche hiesiger Arbeitnehmer aus – die Unternehmen sind längst auf der ganzen Welt mobil, während die Arbeitnehmer eben nicht international organisiert sind. Dabei wären sie von der reinen Zahl her weit in der Mehrheit und hätten im Falle eines Streiks gute Chancen, die Bedingungen zu ihren Gunsten zu verändern. Es fehlt ein Weltbetriebsrat, eine Weltarbeitnehmervertretung. Und ob es sie je geben wird, ist die große Frage, – sie würde alles verändern, zu unser aller Vorteil. Bekanntlich werden auch Frauen in den klassischen Kümmerer-Berufen wie Altenpflege, Krankenpflege, Erziehung schlechter bezahlt, während typische Männerjobs mit ähnlichen Ausbildungszeiten, Anforderungen und Belastungen gewerkschaftlich viel schlagkräftiger organisiert sind und häufiger bestreikt werden. Das alles nur kurz angerissen als Beispiele dafür, wie viel noch zu gewinnen wäre, wenn endlich richtig hingeschaut und fair verglichen würde. Die Frage ist nicht nur, wer in Relation mehr oder weniger verdienen, sondern auch, wie groß das Gefälle dazwischen sein sollte. Die acht reichsten Männer der Welt besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit gemeinsam. Das ist absurd. Kein Mensch kann mehr als eine Million zum Leben brauchen. Im Gegenteil, er gefährdet damit alle anderen. Nicht nur, wie unlängst in der Zeit zu lesen war, weil sein Lebensstil im Vergleich zum Durchschnittsbürger extrem ressourcenverschwendend ist. Sondern auch, weil dieses zu viele Geld angelegt werden will, in hochriskante Papiere fließt und dabei zu den Verwerfungen auf dem Finanzmarkt führt, für deren Schäden dann wieder alle zur Kasse gebeten werden – wie damals bei den Auffangfonds für die Banken geschehen. Riesige Stiftungen entziehen zudem Milliardensummen der demokratischen Verfügbarkeit und überlassen es dem Stifter, sich für das eine oder andere hübsche Ziel zu begeistern, während ganz banale, aber umso dringendere Gemeinschaftsaufgaben nicht mehr geleistet werden können. Es wäre im Interesse aller, allzu große Macht- und Reichtumsüberschüsse in den Händen weniger zu verhindern. 100 Prozent Erbschaftssteuer, mit Bedingungen Nicht zuletzt, indem man Erben so besteuert, dass ein Großteil der über Generationen angehäuften Reichtümer endlich wieder an die Gemeinschaft zurückfließt. Dass Menschen erben und damit mit sehr ungleichen Chancen ins Leben starten, störte schon den keinesfalls sozialistisch gesinnten Liberalen John Stuart Mill, denn die Aussicht auf ein Erbe widerspräche nicht nur dem Leistungsgedanken, sie würde auch den Anreiz senken, durch eigene Anstrengungen zu etwas zu kommen und wäre daher schädlich für die ganze Gesellschaft. Sinnvoll wären zum Beispiel 100 Prozent Erbschaftssteuer auf alle Erbschaften über einem Freibetrag von 500.000, (oder notfalls auch 1.000.000 Euro, so dass wirklich niemand fürchten muss, dass er auf das Häuschen von Oma oder den Jonathan Meese von der Tante verzichten muss.) Diese Forderung ist politisch allerdings nicht durchzusetzen, und das nicht nur, weil die Vermögenden ihr Kapital dann angeblich in andere Länder abzögen. Das viel größere Hindernis auf dem Weg zu einer solchen Regelung ist witzigerweise die Mehrzahl der Menschen, die gar nicht oder kaum erben – wie gesagt, eine halbe Million dürften sie ja ohnehin behalten – und die offenkundig vollkommen unterschätzen, in welchem Maße sie von einer solchen Regelung profitieren würden. Warum? Sie vergleichen sich zu wenig. Sie sind viel zu wenig neidisch. Es geht nicht darum, wie viel man denn tatsächlich mit diesem Geld anfangen könnte, sondern vor allem darum, die ungerechten Startchancen zu mindern und der wachsenden Ungleichheit zu begegnen. Doch das wird wohl auf immer eine Utopie bleiben.
Von Tina Klopp
Sich zu vergleichen, heißt es immer, mache doch nur unglücklich. Wenn das mal kein Ablenkungsmanöver ist! Zugegeben ist es alles andere als einfach, sich zu vergleichen.
"2020-06-21T09:30:00+02:00"
"2020-06-23T09:20:48.287000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/projekt-weltverbesserung-alles-ist-vergleich-vergleich-ist-100.html
903
Adenauer verhandelt in Moskau über Kriegsgefangene
Der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Alexandrowitsch Bulganin (l.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) unterzeichnen im September 1955 in Moskau Dokumente: Beide Seiten sind übereingekommen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen. (picture-alliance / dpa) Als Bundeskanzler Konrad Adenauer am 8. September 1955 auf Einladung der sowjetischen Regierung nach Moskau reiste, blickte er voller Sorge auf die kommenden Tage. Er hatte sich auf die wenig realistische Linie festgelegt, ein sowjetisches Angebot zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen abzulehnen, solange die Russen freie Wahlen in der DDR verhinderten und noch deutsche Kriegsgefangene festhielten. Insofern war der protokollarisch hoch angesetzte Empfang mit militärischen Ehren am Flughafen Wnukowo durch seinen Amtskollegen Nikolai Bulganin für den Bundeskanzler kein Grund zu ungetrübter Freude. In Adenauers Dankesworten schwang Zurückhaltung mit: "Ich danke Ihnen, Herr Ministerpräsident, für die sehr freundliche Begrüßung, die Sie für mich und die Delegation gefunden haben. Ich hoffe sehr, dass der erste Kontakt, den wir mit unserer Anwesenheit in Moskau aufnehmen, die Herstellung normaler, guter Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion einleitet." Um eine bloße erste Kontaktaufnahme ging es der sowjetischen Führung um den Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, aber keineswegs. Sie forderte die sofortige Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen als Vorbedingung für Fortschritte in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Wie abzusehen, liefen sich die Gespräche in Moskau an diesem Punkt rasch fest. Adenauer drohte mit der Abreise der deutschen Delegation, doch dies war ein Bluff. Denn zu hoch war die Erwartung in Deutschland, der Kanzler werde die Freilassung der noch in Russland festgehaltenen Kriegsgefangenen erreichen, als dass er die Verhandlungen aus Prinzipientreue hätte abbrechen können. Adenauer war gewissermaßen in eine Falle getappt. Kriegsgefangene als Faustpfand in den Verhandlungen Die Russen spielten diesen Vorteil geschickt aus: Sie besaßen mit den deutschen Kriegsgefangenen ein Faustpfand, mit dem sie Adenauer in die Knie zwingen konnten. Ihre hartnäckige Weigerung, die durchweg als "Kriegsverbrecher" verurteilten Gefangenen freizugeben, war vorgetäuscht, denn das Zentralkomitee der KPdSU hatte bereits im Juni 1955 die Entlassung der Gefangenen nach Deutschland beschlossen. Das wusste in der deutschen Delegation damals allerdings niemand. Am 12. September standen die Verhandlungen vor dem Abbruch, als Adenauer die Verbrechen der Roten Armee in Deutschland zur Sprache brachte und damit Chruschtschow in Rage versetzte. Geistesgegenwärtig ergriff der zur erweiterten deutschen Delegation gehörende SPD-Abgeordnete Carlo Schmid das Wort: "Ich möchte vorausschicken, dass im Namen des deutschen Volkes am russischen Volke Verbrechen begangen worden sind wie vielleicht noch nie in der Weltgeschichte. Ich rufe darum nicht die Gerechtigkeit an, sondern die Großherzigkeit des russischen Volkes. Und wenn ich das tue, denke ich in erster Linie nicht an die Menschen, die noch hier zurückgehalten werden, sondern an ihre Frauen, an ihre Kinder, an ihre Eltern. Lassen Sie Gnade walten und lassen Sie diese Menschen zurückkehren zu denen, die auf sie warten – die seit mehr als zehn Jahren auf sie warten." Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid traf den richtigen Ton Damit hatte Schmid den richtigen Ton getroffen. Chruschtschow und Bulganin waren nun bereit, Milde walten zu lassen: Sie gaben Adenauer ihr Ehrenwort, dass 9626 Kriegsgefangene und eine größere Zahl von Zivilinternierten umgehend nach Deutschland zurückkehren würden, wenn der Bundeskanzler in die Aufnahme diplomatischer Beziehungen einwilligte und außerdem zusagte, dass Ermittlungen der deutschen Justiz gegen 450 der Überstellten, darunter auch KZ-Aufseher, aufgenommen würden. Am 13. September gab Adenauer nach und erklärte sich zu einem Botschafteraustausch bereit – um den außenpolitischen Schaden zu begrenzen, übergab man der sowjetischen Regierung einen Brief, in dem der Bonner Alleinvertretungsanspruch und ein Rechtsvorbehalt im Hinblick auf die deutsche Ostgrenze geltend gemacht wurden. Innenpolitisch war Adenauer der Gewinner der Moskauer Reise. Seine Popularitätswerte erreichten nie gekannte Höhen, seine Ankunft am Kölner Flughafen am 14. September wurde als Triumph inszeniert. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier war der erste Gratulant: "Herr Bundeskanzler, ich bin sicher, im Namen des ganzen deutschen Volkes zu sprechen, wenn ich Ihnen als Präsident des Deutschen Bundestages den herzlichen Glückwunsch und den Dank des deutschen Volkes dafür ausspreche, dass Sie die Kriegsgefangenenfrage im Osten glücklich gelöst haben. Wir danken Ihnen!"
Von Bert Oliver Manig
Der Besuch sollte historisch werden: Vor 60 Jahren reiste Bundeskanzler Adenauer nach Moskau. Die Russen verlangten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland. Doch mehr als 10.000 deutsche Kriegsgefangene waren noch in russischen Lagern.
"2015-09-13T09:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:59:04.635000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-60-jahren-adenauer-verhandelt-in-moskau-ueber-100.html
904
"Eine von Arroganz geprägte Kultur"
Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Oliver Krischer. (Wolf von Dewitz/picture alliance/dpa) Jochen Spengler: Der VW-Skandal weitet sich aus. Der Konzern selbst gab heute bekannt, dass 800.000 Fahrzeuge mehr Sprit verbrauchen und damit mehr CO2 ausstoßen, als offiziell angegeben, womit erstmals auch Benzinmotoren betroffen sind. Vor sieben Wochen hatte die US-Umweltbehörde die Diesel-Abgasmanipulation aufgedeckt und das Unternehmen in die Krise gestürzt. Es ging um elf Millionen Autos weltweit mit älteren Dieselmotoren zwischen 1,2 bis zwei Litern Hubraum. Jetzt aber behauptet die US-Behörde, dass auch neuere, größere Motoren der Oberklasse in Audi- und Porsche-Modellen zu niedrige Stickoxid-Werte vorspiegeln. VW widerspricht. Am Telefon begrüße ich nun Oliver Krischer, stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion. Guten Abend, Herr Krischer. Oliver Krischer: Guten Abend! Spengler: Wir haben es gehört: Aussage steht gegen Aussage. Die US-Umweltbehörde beschuldigt VW, auch bei Dieselmotoren der Oberklasse, neuen Motoren eine Manipulations-Software eingesetzt zu haben. Der Konzern hält dagegen, sagt, wir haben kein Programm installiert, um die Abgaswerte in unzulässiger Weise zu verändern. Herr Krischer, wem glauben Sie? Krischer: Ich glaube, die Glaubwürdigkeit von Volkswagen, die ist an der Stelle beschädigt, weil die haben die bisherigen Manipulationen ja lange Zeit nicht zugegeben und sind damit nicht an die Öffentlichkeit gegangen, haben das, obwohl es dann auch schon im Unternehmen breiter bekannt war, nicht veröffentlicht. Erst die EPA selber hat vor sechs Wochen ja dafür gesorgt, dass das Ganze öffentlich wird. Wenn jetzt die EPA wieder etwas veröffentlicht und Volkswagen sagt, das stimmt nicht, dann habe ich Zweifel, ob Volkswagen da die nötige Glaubwürdigkeit angesichts der Vorgeschichte hat, dass man das so einfach abtun kann. "VW hat es ganz schlimm getrieben" Spengler: Nun hat ja der Konzern einen neuen Chef, er hat einen Neuanfang versprochen, Aufklärung, Transparenz. Zählt das nicht? Krischer: Ja, aber das ist genau der Chef, der für die Porsche verantwortlich ist, die jetzt in Rede stehen, und das sind alles Leute, die Teil des Systems waren. Ein wirklicher Neuanfang ist das ja bei Volkswagen auch nicht gewesen. Sicherlich hat man am Anfang jetzt die Versäumnisse zugegeben, aber dieser sehr deutliche Widerspruch, den es jetzt gibt, obwohl die EPA ja sehr eindeutig und sehr klar ist und bei den bisherigen Enthüllungen zum Thema VW ja offensichtlich genau am Punkt gelegen hat und nichts Falsches gesagt hat, das lässt mich dann schon ein bisschen zweifeln an der Glaubwürdigkeit von VW. Und ich glaube, wenn sich herausstellen sollte - und ich befürchte das, dass die EPA recht hat -, dann wird es jetzt ganz, ganz schlimm für Volkswagen. Spengler: Wie kann man sich so was eigentlich erklären? Ich habe noch mal nachgelesen. Es gibt jede Menge Wirtschafts- und Autoexperten, die VW vorwerfen, dass der Konzern noch immer mauert, immer nur das Nötigste preisgibt, Probleme kleinredet, von Journalisten etwa verlangt, nur noch schriftlich eingereichte Fragen zu stellen. Wie erklären Sie sich das? Kann das sein, dass der Konzern den Ernst der Lage einfach nicht erkannt hat? Krischer: Wir haben in der Automobilindustrie - und das betrifft leider nicht nur VW - seit Jahren eine Kultur, dass es völlig selbstverständlich ist, dass die Grenzwerte auf der Straße nicht eingehalten werden, dass man auf irgendwelchen Prüfständen das dann nachweist und dass einen die Leute sogar aus der Automobilindustrie ganz entgeistert fragen, wie, ihr habt erwartet, dass wir die Werte auf der Straße einhalten, wie kommt ihr darauf. Das ist eine Kultur, die sich dort entwickelt hat, die meines Erachtens von Arroganz ein Stück weit geprägt war nach dem Motto, wenn es Regeln gibt, gut, dann müssen wir uns im Zweifelsfall nicht daran halten, man darf es dann nicht so besonders toll treiben. VW hat es jetzt ganz schlimm getrieben und deshalb ist man am Ende in den USA ja auch auf die Nase gefallen damit, weil sie dann wirklich auch in den illegalen Bereich gegangen sind. Aber das ist einfach das Problem, dass hier eine Branche unterwegs ist, die offensichtlich nicht in der Lage ist, substanzielle Selbstkritik zu üben und zu sagen, da ist bei uns grundsätzlich was schiefgelaufen. "Für eine klare und eindeutige Überwachung des Staates sorgen" Spengler: Angenommen, an den neuen Vorwürfen wäre was dran, was Sie vermuten, Sie haben schon angedeutet, das hätte schlimme Folgen. Welche denn? Krischer: Ich sage mal, wenn wir jetzt an dem Punkt sind, dass Volkswagen das jetzt abstreitet und nachher eingestehen muss, man wusste das auch schon und hat es dann nicht gesagt, dann ist die Glaubwürdigkeit ja nun endlich dahin. Welcher Käufer soll diesem Automobilunternehmen dann noch irgendetwas glauben? Wir dürfen auch nicht vergessen: Hier geht es um ein Thema, wo in Deutschland pro Jahr 7.000 Menschen dran sterben, an Emissionen aus dem Straßenverkehr, und das sind in wesentlichen Teilen die Stickoxide. Da finde ich es, ehrlich gesagt, ein bisschen zynisch, dass die ganze Branche offensichtlich nonchalante immer hingenommen hat, okay, da gibt es ein paar Grenzwerte, aber auf der Straße müssen die nicht eingehalten werden. Spengler: Nachgewiesen ist es im Augenblick nur bei VW. - Sie haben in einer Pressemitteilung davon gesprochen, dass es ein Armutszeugnis auch für die Bundesregierung sei. Wieso? Krischer: Wir hatten gestern eine Anhörung im Verkehrsausschuss im Bundestag und da ist deutlich geworden vom Präsidenten des Kraftfahrtbundesamtes, dass es überhaupt keine staatlichen Kontrollen gibt bei dem Thema Abgase. Man lässt die Automobilindustrie sich selber prüfen, die kommen dann mit irgendwelchen Prüfberichten und dann macht man einen Stempel darauf und dann war es das. Hier gibt es keine staatliche Überprüfung mehr, so wie wir das in anderen Bereichen kennen, und das ist meines Erachtens die tiefere Wurzel des Übels, dass man einfach hier den Staat quasi abgeschafft hat als derjenige, der eigentlich für die Einhaltung der Regeln sorgen muss, und das hat dazu geführt, dass die Automobilindustrie in diese Betrügereien gelaufen ist. Eigentlich müsste es jetzt das Zeichen der Zeit sein, die Konzerne vor sich selber zu schützen und ihren eigenen Machenschaften und für eine klare und eindeutige und auch strenge Überwachung des Staates zu sorgen. "Möglicherweise erst die Spitze des Eisbergs" Spengler: Nun hat doch Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt eine Expertenkommission einberufen. Er war letzte Woche in den USA. Er hat sich mit den dortigen Behörden auf eine Zusammenarbeit verständigt. Was denn noch? Krischer: Ja! Es ist ja interessant, dass Herr Dobrindt letzte Woche in den USA war, wir bis heute nichts wissen, was dort eigentlich besprochen und vereinbart worden ist. Das einzige, was ich auf der Internetseite des Verkehrsministeriums finde, ist, dass Herr Dobrindt im Google-Auto durch Kalifornien gefahren ist. Was nun die Ergebnisse dieser Reise waren, wissen wir nicht. Und dass die EPA gestern dann mit den neuen Enthüllungen rausgegangen ist, spricht ja nicht dafür, dass man mit Herrn Dobrindt besonders vertrauensvoll gesprochen hat. Insofern ist das ganze Handeln von Herrn Dobrindt mehr so ein bisschen auf Show angelegt. Wir haben eine Kommission, die seit mehreren Wochen arbeitet. Wir kennen nicht einmal ihren genauen Untersuchungsauftrag, geschweige denn irgendwelche Ergebnisse. Wir haben keinen einzigen Vorschlag sechs Wochen nach Beginn des Skandals, welche strukturellen Änderungen es denn geben soll bei der Kontrolle der Automobilindustrie und bei der Einhaltung von Stickoxid-Werten in unseren Städten. Angesichts der Enthüllung der EPA und der ganz neuen Geschichte von heute Abend, dass VW jetzt selber auch noch zugibt, dass bei den CO2-Werten, also bei den Kohlendioxid-Werten manipuliert worden ist, zeigt ja, dass die Geschichte nicht zu Ende ist, sondern wir möglicherweise es erst mit der Spitze des Eisbergs zu tun haben. Spengler: Das war die Meinung von Oliver Krischer, Verkehrsexperte der Grünen. Das Gespräch mit ihm haben wir am frühen Abend aufgezeichnet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Oliver Krischer im Gespräch mit Jochen Spengler
Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Oliver Krischer, fordert mit Blick auf die neuen Vorwürfe gegen VW im Abgas-Skandal eine staatliche Kontrolle der Automobilindustrie. Die Branche sei offenbar nicht in der Lage, Selbstkritik zu üben, sagte er im DLF. Er fürchtet, die bisherigen Enthüllungen könnten nur die Spitze des Eisbergs sein.
"2015-11-03T23:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:07:29.241000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-vorwuerfe-gegen-vw-eine-von-arroganz-gepraegte-kultur-100.html
905
Bye-bye Blech
Spart der Abschied vom Wagen Geld - und vielleicht sogar Zeit? (dpa / Arne Immanuel ) Vom Lastenrad mit E-Antrieb bis zum Bustaxi auf Abruf. Wie aber den Absprung schaffen ins autofreie Leben? Spart der Abschied vom Wagen Geld - und vielleicht sogar Zeit? Wie lässt sich ein Urlaub ohne eigenen Pkw planen? Diese und Ihre Fragen dazu beantworten Expertinnen und Experten im "Marktplatz" live im Gespräch mit Silke Hahne. Hörerfragen sind, wie immer, willkommen. Die Nummer für das Hörertelefon lautet: 00 800 - 44 64 44 64 und die E-Mail-Adresse: marktplatz@deutschlandfunk.de
Am Mikrofon: Silke Hahne
Verstopfte Straßen, dicke Luft, Parkplatznot: In deutschen Großstädten wird das eigene Auto zur Last. Auf dem Land hingegen sind Menschen oft darauf angewiesen: Lange Strecken und schlechter ÖPNV führen zur Abhängigkeit vom eigenen Wagen. Welche Alternativen gibt es?
"2018-05-17T10:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:49:15.888000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leben-ohne-eigenes-auto-bye-bye-blech-100.html
906
Wie dringend brauchen wir die USA?
Donald Trump in Washington am Tag vor seiner Inauguration als 45. Präsident der USA (Brendan Smialowski / AFP) Müssen sich die Europäer um ein eigenes Verteidigungsbündnis bemühen, nachdem der US-Präsident die NATO für obsolet erklärt hat? Wie soll die Exportnation Deutschland auf die Drohung mit Strafzöllen reagieren? Geht es auch ohne Amerika? Gesprächsgäste: Alexander Gauland, Vize-Vorsitzender der AfD Omid Nouripour, Sprecher für Außenpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Karl-Georg Wellmann, CDU-Bundestagsabgeordneter, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wir freuen uns auf Ihren Anruf oder Ihre Mail. Telefon: 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei) und E-Mail: kontrovers@deutschlandfunk.de
Moderation: Martin Zagatta
Donald Trump hat gleich nach seinem Amtsantritt deutlich gemacht, dass er umstrittene Wahlkampf-Versprechen tatsächlich umsetzen will. Besonders das Einreiseverbot für viele Muslime sorgt für Empörung. Doch kann eine EU, die ihre Außengrenzen abriegeln will, das ernsthaft kritisieren?
"2017-02-06T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:34:14.793000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trump-auf-abschottungskurs-wie-dringend-brauchen-wir-die-usa-100.html
907
Donald Trump geht erstmal in die Lehre
US-Präsident Obama und sein Stellvertreter Biden vor dem Weißen Haus. (Nicholas Kamm / AFP) Hillary Clinton am Tag danach – ihre Worte klingen sehr glaubwürdig. "I´m sorry." Sie bedauere es sehr, dass sie die Wahl nicht gewonnen habe, sagte sie vor ihren Anhängern, denen die Enttäuschung noch im Gesicht steht. Doch Hillary Clinton hält sich nicht lange mit ihrer Enttäuschung auf – sie setzt den Ton für die Zukunft. Das seien die Spielregeln der Demokratie, sagt sie. Man müsse dieses Wahlergebnis akzeptieren. Donald Trump sei der nächste Präsident – er habe die Chance verdient, jetzt die Führung zu übernehmen. Während Donald Trump kurz vor dem Wahltag noch angekündigt hatte, das Wahlergebnis im Falle seiner Niederlage nicht akzeptieren zu wollen, unterstreicht Hillary Clinton die Prinzipien der Verfassungsdemokratie und die hohe Wertschätzung für den friedlichen Übergang der Macht. Das macht wenig später auch Präsident Obama – es dürfe niemandem entgangen sein, sagt er in einer kurzen Ansprache, dass es einige Differenzen zwischen ihm und Donald Trump gebe. Nicht anders sei es vor acht Jahren gewesen, als er Nachfolger von George W. Bush wurde: Doch Bush habe für eine professionelle, glatte Übergabe gesorgt. Der Wechsel im Weißen Haus muss schnell gehen Eine störungsfreie Übergabe sagte Obama nun auch Donald Trump zu, für den er sich heute Zeit im Weißen Haus nimmt. Und auch Paul Ryan, der Sprecher der Republikaner im Repräsentantenhaus, setzt nun ganz auf Kooperation. Ryan hatte sich lange Zeit nicht recht entscheiden können, ob er Donald Trump als Präsidentschaftskandidaten seiner Partei akzeptieren und unterstützen kann oder nicht – nun sagt er dem president elect die ungeteilte Unterstützung der Republikaner im Kongress zu. Die Sache mit der Geschlossenheit der republikanischen Partei muss sich erst noch erweisen – dieser Wahlkampf unter Führung Donald Trumps hat in den Reihen der Republikaner schwere Wunden geschlagen. Doch jetzt, nach der gewonnenen Wahl, beginnt ein neues Kapitel: Das Projekt Übergabe der Macht. Es beginnt mit dem heutigen Gespräch zwischen Barack Obama und seinem Nachfolger – Donald Trump wird ab sofort bei den täglichen Besprechungen zur Sicherheitslage dabei sein und in einem Schnelldurchlauf nicht nur inhaltlich gebriefed, sondern auch in die Arbeits- und Wirkungsweise der Institutionen eingearbeitet. Bis zum 20. Januar, dem Tag der Inauguration, darf Donald Trump in die Lehre gehen, dann ist er der Chef im Oval Office.
Von Thilo Kößler
Die Niederlage bei der Präsidentenwahl schmerzt nicht nur Hillary Clinton, auch der amtierende Präsident Barack Obama hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wen er sich als Nachfolger gewünscht hätte. Aber er sicherte Wahlsieger Donald Trump auch zu, ihn schnell und umfassend einzuarbeiten - trotz aller Differenzen.
"2016-11-10T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:03:31.142000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/machtwechsel-in-den-usa-donald-trump-geht-erstmal-in-die-100.html
908
Putin und Obama streiten über Assad
US-Präsident Barack Obama und Russlands Staatsoberhaupt Wladimir Putin sprechen wieder miteinander. (ap/Harnik) Bei einem Treffen am Rande der UNO-Vollversammlung in New York haben US-Präsident Barack Obama und Russlands Präsident Wladimir Putin ihre Haltungen zum Bürgerkrieg in Syrien diskutiert. "Die heutige Diskussion war sehr bedeutsam, formell und überraschend offen", sagte Putin Reportern nach dem Treffen. Wir haben viele Gemeinsamkeiten gefunden, aber es gibt auch viele Differenzen." Russland schließt Luftschläge nicht aus Nach den USA und anderen Staaten wie zuletzt Frankreich erwägt auch Russland Luftschläge gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). "Wir denken darüber nach, und wir schließen nichts aus", sagte Putin. Russland werde allerdings keine Bodentruppen in den Kampf schicken. "Aber sollten wir handeln, dann nur im vollen Einklang mit dem internationalen Recht." Dies setze entweder die Erlaubnis der syrischen Regierung oder eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats voraus. Inzwischen beteiligt sich auch Frankreich am Militäreinsatz in Syrien. (THIBAULT CAMUS / POOL / AFP) Obama und Putin hatten sich das erste Mal seit längerer Zeit wieder getroffen. Die Beziehung zwischen Washington und Moskau ist wegen der Ukraine-Krise gespannt. In der ersten Hälfte des Gesprächs sei es um die Ukraine, in der zweiten um Syrien gegangen, verlautete aus dem Weißen Haus. Das Treffen sei produktiv gewesen. Aus US-Regierungskreisen hieß es weiter, dass Russland zwar die Bedeutung einer politischen Lösung für den Bürgerkrieg in Syrien verstanden habe. Allerdings gebe es große Unterschiede bei der Einbindung Assads in einen politischen Prozess. Die USA können sich keine Lösung in Syrien mit dem jetzigen Präsidenten Baschar al-Assad vorstellen, den sie dafür verantwortlich machen, dass das Morden vor viereinhalb Jahren begann. Obama habe Putin gesagt, er glaube weiterhin nicht daran, dass es einen Weg zu Stabilität in Syrien mit Assad an der Macht gebe, hieß es aus dem Umfeld des US-Präsidenten. Russland will hingegen unbedingt an dem engen Verbündeten und wichtigen Waffenkunden festhalten. Syriens Präsident Assad ist ein enger Verbündeter Putins. (picture alliance/dpa/Sana Handout/Handout) Putin für internationale Koalition Einem Sprecher des Weißen Hauses zufolge sehen die USA die russische Aufrüstung in Syrien nicht unbedingt als Problem für einen Kompromiss. Solange damit der IS und nicht das syrische Volk bekämpft werde, sei das hinzunehmen. Obama und Putin waren sich den Angaben zufolge einig, dass die Streitkräfte beider Länder im Kontakt bleiben. Zuvor hatten beide Staatsoberhäupter vor der UNO-Vollversammlung gesprochen. Während seiner ersten Rede vor der Vollversammlung seit zehn Jahren schlug Putin eine internationale Koalition im Kampf gegen den IS vor. Die sunnitischen Extremisten haben weite Teile Syriens und des Nachbarlandes Irak besetzt. Diese Koalition könne nach dem Modell der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg funktionieren, sagte Putin. Islamische Länder sollten eine Hauptrolle spielen. (fwa/bn)
null
Russlands Staatschef Wladimir Putin und US-Präsident Barack Obama haben offen über die Lage in Syrien diskutiert. Es war das erste Treffen der beiden Staatsoberhäupter seit langem. Es gebe viele Gemeinsamkeiten, aber auch viele Differenzen, hieß es anschließend. Vor allem die Zukunft von Syriens Machthaber Baschar al-Assad bleibt ein Streitthema.
"2015-09-29T05:56:00+02:00"
"2020-01-30T13:01:50.972000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gespraech-in-new-york-putin-und-obama-streiten-ueber-assad-100.html
909
Wirtschaftliche Auswirkungen in der ganzen Welt spürbar
Hamburger Hafen: Der Krieg in der Ukraine trifft auch die deutsche Wirtschaft hart (picture alliance/dpa) Die neuen Wirtschaftssanktionen des Westens wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigen Wirkung: Die russische Landeswährung Rubel fiel bereits auf ein Rekordtief. Die Reserven der russischen Notenbank sind weitgehend eingefroren. Außerdem sollen einige russische Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen werden, was ihnen praktisch sämtliche Geschäfte mit dem westlichen Ausland unmöglich machen würde.  Sorgen vieler Russen um ihr Erspartes haben Berichten zufolge bereits zu Schlangen vor Geldautomaten im Land geführt - auch die Sorge vor hohen Preisen für Lebensmittel und andere Güter des Alltags wachsen. Doch der Krieg und die Sanktionen haben auch Auswirkungen auf Deutschland und andere Länder. Ein Überblick: Welche ökonomischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs kommen in Deutschland an?Werden auch Produkte aus anderen Teilen der Welt teurer?Die Ukraine ist ein großer Getreidelieferant. Welche Auswirkungen hat der Krieg darauf? Welche ökonomischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs kommen in Deutschland an? Öl und Gas werden teurer. Der Ölpreis ist bereits deutlich gestiegen, obwohl Öl und Gasanlagen nicht sanktioniert wurden. Die Schockwellen erschüttern auch wieder die Lieferketten: Bei VW stehen in zwei Werken die Bänder still, da die Kabelbäume aus der Ukraine nicht mehr ankommen. Das liegt nicht nur daran, dass die Mitarbeiter in der Ukraine gerade ihr Land verteidigen, sondern es liegt auch daran, dass nicht mehr so viele Güterzüge durchkommen - auch keine Züge mehr aus dem Osten von China. Die kommen auch über die Ukraine. Auf dem Südstrang der sogenannten Eisernen Seidenstraße läuft es nicht mehr rund. Schiffe und auch große Containerschiffe fahren Häfen in der Ukraine nicht mehr an. Hinzu kommt: Die großen Reedereien laufen Russland nicht mehr an – weder zum beladen noch zum entladen - außer für Lebensmittel und Medikamente. Die putinfreie Strecke, so nennen Reeder das offenbar, führt nicht mehr über die Häfen an der Nordsee – und das trifft die Häfen hart, wie zum Beispiel in Hamburg. Es macht zum einen große Teile ihres Geschäfts kaputt, zum anderen trifft es aber auch die Konsumenten direkt. Wenn die großen Schiffe Umwege fahren müssen - so wie die Flugzeuge auch Umwege fliegen müssen wegen der Sanktionen - dann wird das, was beim Konsumenten ankommt, dadurch teurer. Werden auch Produkte aus anderen Teilen der Welt teurer – nicht nur die aus der Ukraine oder Russland? Ja, weil es auch um den Transport geht. Es kommt aber noch etwas Anderes dazu: Sehr viele Lkw-Fahrer kommen aus der Ukraine. Sie arbeiten bei Subunternehmen in Polen und Litauen. Viele von ihnen sind jetzt in der Ukraine. Mehr zu diesem Thema:Sanktionen - Wie der Westen Russland und Putin unter Druck setztAusschluss aus Banken-Netzwerk SWIFT als SanktionsmittelWie abhängig ist Deutschland von russischem Erdgas? Die Ukraine ist ein großer Getreidelieferant. Welche Auswirkungen hat der Krieg darauf? Die Ukraine ist die Kornkammer Europas. Die alte Ernte ist eingefahren. Aber die neue Ernte ist noch nicht ausgebracht. Normalerweise würden die Bauern Anfang März die Ausfahrt vorbereiten. Doch ob sie derzeit dafür die nötige Zeit, Diesel oder Düngemittel haben, kann man nicht sagen. Diesel zum Beispiel wurde für Armeefahrzeuge eingezogen oder die Tanklager sind in die Luft gegangen. 14 Länder weltweit beziehen nahezu ausschließlich Weizen aus der Ukraine, viele von ihnen auch große Teile ihrer Maisvorräte. Das wird auch preisliche Auswirkungen auf alles haben, wo Weizen drinsteckt. Einige Länder, wie der Libanon oder der Jemen, wird es noch stärker treffen, da sie bereits Versorgungsprobleme haben. Hinzu kommt, dass Russland Ammoniaknitrat liefert, das man zur Herstellung von Düngemittel benötigt. Dünger ist daher weltweit gerade Mangelware. Wenn weniger Getreide vorhanden ist, wird der Hunger weltweit größer werden.
Von Sandra Pfister
Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf die Wirtschaft vieler Länder weltweit. Nicht nur Öl und Gas werden teurer, 14 Länder weltweit beziehen nahezu ausschließlich ihren Weizen aus der Ukraine, viele von ihnen auch große Teile ihrer Maisvorräte. Dort könnte es zu Versorgungsengpässen kommen.
"2022-03-02T07:35:00+01:00"
"2022-03-02T13:35:16.404000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-ukraine-krieg-sanktionen-auswirkungen-wirtschaft-100.html
910
Gefährliche Unterversorgung
Professor Hans Konrad Biesalski, Direktor des Instituts für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim, über Gruppen, die ein vermehrtes Risiko der Unterversorgung haben. Sie können das Interview mit Professor Biesalski mindestens fünf Monate in unserem Audio-on-Demand-Player nachhören
null
Vitamin D kann der Körper selbst in der Haut mit Hilfe von UV-Strahlen aus dem Sonnenlicht herstellen. Doch die Deutschen leiden an einer Vitamin-D-Unterversorgung, das ist das Ergebnis einer Tagung an der Universität Hohenheim. Die Folgen werden auch von Ärzten immer wieder unterschätzt.
"2009-04-07T10:10:00+02:00"
"2020-02-03T10:07:24.134000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gefaehrliche-unterversorgung-100.html
911
"Manchmal geht mir die Political Correctness wirklich sehr viel zu weit"
Friedbert Meurer: Kinder lesen zu wenig, sie sitzen nur noch vor der Glotze oder hängen vor dem Computer herum, heißt es oft. Kinder sollen stattdessen lieber lesen, am besten gute und wertvolle Kinderliteratur, die die Fantasie anregt und die kindliche Seele anspricht. Eltern geben ihren Kindern da auch gerne das zu lesen, was ihnen selbst als Kind lieb und teuer war: "Der Räuber Hotzenplotz" zum Beispiel oder "Die kleine Hexe" von Otfried Preußler, "Pippi Langstrumpf" von Astrid Lindgren. Nach dem Oetinger-Verlag hat jetzt auch der renommierte Kinderbuchverlag Thienemann angekündigt, Preußlers kleine Hexe und andere Bücher "dem sprachlichen und politischen Wandel anzupassen. Nur so bleiben sie zeitlos, diese Begriffe sind nicht mehr zeitgemäß, entsprechen nicht mehr dem heutigen Menschenbild."Paul Maar ist Kinderbuchautor, berühmt geworden unter anderem mit "Das Sams". Das Sams ist ein kleines freches Wesen, das die Welt der Erwachsenen ordentlich aufmischt. Guten Morgen, Herr Maar.Paul Maar: Guten Morgen!Meurer: Wollen Sie, dass Ihre Texte sich so demnächst anhören?Maar: Nein. Bei meinen Texten ist das auch nicht nötig. Bei mir kommen weder Eskimo, noch Zigeuner, noch Nigger oder Neger vor, und ich finde, dass der Oetinger-Verlag Recht daran getan hat, schon vor vier oder fünf Jahren bei einer Neuübersetzung von Pippi Langstrumpf zum Beispiel den Begriff Negerkönig durch Südseekönig zu ersetzen. Denn das Wort Neger ist ja bei uns wirklich negativ belastet und außerdem ist es viel korrekter, von einem Südseekönig zu sprechen, denn in der Südsee, die Bewohner dort in Polynesien, die würde ich sowieso nicht als Neger bezeichnen, nicht als Schwarzafrikaner, sondern das sind Polynesier.Meurer: Sie schreiben selbst auch, publizieren selbst auch im Verlag Oetinger, sollte man hier kurz sagen. Was wäre denn, wenn der Verlag auf Sie zukäme, und würde sagen, Paul Maar, hör mal zu, Sie sind ein frauenfeindlicher Chauvinist, weil Ihre Vermieterin Frau Rotkohl heißt?Maar: Das würde ich natürlich nicht ändern. Da gibt es ja auch einen ganz bestimmten Hintergrund, den wahrscheinlich nur meine Kinder kennen. Als wir noch in – ich will gar nicht den Ort nennen – wohnten, im fünften Stock, die Kinder waren klein, da hatten wir eine Hausmeisterin, die Frau Rockohl, die immer den Kindern verboten hat, im Hof zu spielen, obwohl es ein großer Hof war, es einen großen Hof gab. Und kaum sah sie unsere Kinder im Hof, schon schrie sie raus: Auf dem Hof wird nicht gespielt, im Hof wird nicht gespielt, raus hier! Und meine Kinder haben sich fürchterlich gefreut, als es dann in meinem Buch eine Frau nicht Rockohl, aber Rotkohl gab, und haben sich vorgestellt, dass die aus dem Fenster ruft, weil sie ja das Gegenteil sagen muss von dem, was sie sagen will durch einen Wunsch: Ach, liebe Kinder, spielt im Hof, bringt auch bitte noch andere Kinder herein. Schon aus diesem persönlichen Hintergrund würde ich die Frau Rotkohl nie ändern wollen.Meurer: Sie verteidigen es, dass der Oetinger-Verlag und jetzt auch der Thienemann-Verlag Glättungen vornehmen. Wo soll das denn noch hinführen? Dann wird möglicherweise Otfried Preußlers Buch nicht mehr "Die kleine Hexe" heißen, sondern "Die kleine Göre", weil Hexe auch frauenfeindlich ist.Maar: Nein. Das ist ja eine absolut übertriebene Sache. So weit würde ich nie gehen. Ich würde wirklich einige Begriffe weglassen oder ersetzen, die die Betroffenen, die das lesen, einfach als unhöflich oder als ärgerlich empfinden würden. Wenn sich ein Schwarzafrikaner als Neger wiederfindet oder als Nigger, wird er sich wahrscheinlich nicht gerade erfreuen, und das kann man ja ersetzen. Wenn ein Inuit sich als Eskimo in einem Buch wiederfindet, findet er das auch nicht gut, weil Eskimo ja ein absolutes Schimpfwort ist, das die Indianer für die Eskimos oder für die Inuit genauer gesagt erfunden haben. Das könnte man ersetzen, das sind winzige, winzige Änderungen. Aber ich würde nicht anfangen, die ganzen Texte zu ändern.Meurer: Das sind literarische Werke der Literaturgeschichte, "Pippi Langstrumpf", "Die kleine Hexe". Darf man sich da vergehen an der Authentizität?Maar: Sie wissen ja gar nicht, wie das im schwedischen Original heißt. Vielleicht heißt es da gar nicht so. Es ist ja eine deutsche Übersetzung, und ich glaube, wenn ein einziges Wort geändert ist, wie bei Pippi Langstrumpf der Negerkönig zum Südseekönig gemacht wird, dann ist das überhaupt kein Eingriff in den Inhalt des Buches oder in die Geschichte selbst. Ich würde das nur nicht so weit treiben, wie ich das vor Kurzem erlebt habe. Vielleicht kann ich das noch schnell erzählen?Meurer: Ja, gerne!Maar: Es gibt hier im Fränkischen eine Nachspeise, ein Dessert, das nannte sich bis jetzt immer "Mohr im Hemd". Das ist ein brauner Schokoladenpudding, der umgestülpt wird und mit weißer Vanillesoße übergossen wird. Das ist der Mohr im Hemd. Und ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, weil ich in einem Restaurant jetzt gesehen habe, Dessert: "Farbiger im Hemd".Meurer: Aber das gibt es ja auch beim Negerkuss, das sagt keiner mehr. Der heißt jetzt Schaumkuss. Vor Kurzem gab es in Tübingen die Geschichte mit dem Mohrenköpfle, diese Begriffe gelten schon als anstößig.Maar: Manchmal geht mir die Political Correctness wirklich sehr viel zu weit. Auch wie Frau Schröder jetzt bei allen Märchen versucht, die zu ändern. Die Märchen haben eine tiefe symbolische Bedeutung, und die würde ich nicht ändern, indem ich jetzt plötzlich alles ändere. Mein Sohn hat ja sehr viel über Märchen geschrieben und hat nachgewiesen, dass die Stiefmutter, die im Märchen immer die Stiefmutter genannt wird, in Wirklichkeit die Mutter genannt wird, und dass es dieses ambivalente Mutterbild ist, das es auf der einen Seite die liebevolle Mutter ist und auf der anderen Seite auch die strafende Mutter, und dass das für das Kind symbolisiert wird in der normalen Mutter und in der Hexe. Das ist tiefenpsychologisch von großer Bedeutung für das Kind, und ich würde da jetzt nicht plötzlich die Hexe ändern.Meurer: Ganz kurz: Was würde das Sams dazu sagen?Maar: Mir fällt so früh am Morgen noch kein guter Reim ein. Ich bin gerade im Moment aufgestanden, sitze gerade bei meinem Morgenkaffee. Es würde wahrscheinlich irgendetwas reimen.Meurer: Gut. Wenn Sie dann Martin Taschenbier treffen, fragen Sie ihn nach dem Sams, was es sagen würde.Maar: Gut.Meurer: Paul Maar, der Kinderbuchautor, heute Morgen im Deutschlandfunk, …Maar: Noch ein bisschen verschlafen.Meurer: Danke, aber Ihre Meinung ist angekommen. Wir sprachen über sprachliche Glättungen in Kinderbüchern, wie jetzt zuletzt "Die kleine Hexe". Danke und auf Wiederhören, Herr Maar.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Paul Maar im Gespräch mit Friedbert Meurer
Nachdem beim Oetinger-Verlag schon vor Jahren der Negerkönig bei "Pippi Langstrumpf" zum Südseekönig wurde, kündigte nun auch der Thienemann-Verlag an, diskriminierende Sprache in Kinderbüchern auszutauschen. Ganze Texte würde er aber nicht ändern, meint Kinderbuchautor Paul Maar.
"2013-01-08T08:20:00+01:00"
"2020-02-01T16:03:45.587000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/manchmal-geht-mir-die-political-correctness-wirklich-sehr-100.html
912
Neustart in Europas kaltem Herzen
Hagen Oechel, Jakob Benkhofer, Jonas Steglich, Silvester von Hösslin in "Iggy - Lust for Life" am Schauspiel Hannover (© Katrin Ribbe) Berlin, 1977. Wir tauchen ein in den Kosmos einer wilden, kreativen Zeit. In der Mitte der Bühne ein Kubus, der unten Tonstudio, oben Arena für David Bowie ist. Mit roten, glatt gegelten Haaren und im spacigen Kostüm singt der von seiner Kunstfigur Major Tom. Unten flimmern bunte Leuchtreklamen der 70er Jahre vorbei, davor räkelt sich Iggy Pop mit nacktem Oberkörper. Für den Regisseur des Stückes, Sascha Hawemann, eine Erinnerung an seine eigene Jugend. "Ich bin zwar Jahrgang 66, aber 77 bin ich in Ost-Berlin aufgewachsen, habe die Mauer gesehen, mit ihr gelebt, bin dann 1980, also drei Jahre später, schon Punk geworden, also ich habe sozusagen relativ früh mich sozialisiert und eigentlich ist auch Iggy Pop etwas sehr autobiographisch Geprägtes." Flucht nach Berlin, in die Kreativität Zusammen mit Johannes Kirsten, Dramaturg am Schauspiel Hannover und ebenfalls in Berlin aufgewachsen, hat Sascha Hawemann die Künstlerfreundschaft von Iggy Pop von David Bowie zum Theaterstück gemacht. Dabei kreist alles um die Zeit, in der beide nach Berlin flüchten, um sich neu zu erfinden: Iggy, um nicht an Drogen zu krepieren, Bowie, um nicht in Rockstarattitüden zu erstarren. Neustart in Europas kaltem Herzen statt intellektuellem und physischem Tod in L.A. "Die Mauer, der kalte Krieg schufen eine großartige Insel, Schöneberg, die rote Insel, ist a-no-nym, ich bin a-no-nym, glücklich.." Hagen Oechel als Iggy Pop am Schauspiel Hannover (© Katrin Ribbe) Carolin Haupt gibt wunderbar androgyn den spacigen Bowie, Hagen Oechel ist die perfekte Kopie des gegenwärtigen Iggy Pop, mit strähnigen, langen Haaren und freiem Oberkörper. Wie ein Geist aus dem Heute taucht er immer wieder auf, wenn drei Kopien des 70er-Jahre Iggys die Zeit Revue passieren lassen: Besuch in Stammheim, Treffen mit Heiner Müller, Günter Grass, der sich mit Thomas Brasch unterhält. Stationen der Zeitgeschichte werden zu Spielszenen. "The Passenger" unterwegs zu Kleist "Passenger ist entstanden, weil Iggy Pop halt jedes Wochenende an den Wannsee gefahren ist zum Grab von Heinrich von Kleist. Und dann geht die Phantasie los, zu sagen: Was ist denn das? Also da fährt er mit dieser S-Bahn da hin, zum Kleist, liest seine Kleistliteratur, und dann entsteht dann zwangsläufig irgendwann eine Idee zu sagen: Die müssen sich begegnen, das muss eine Szene geben." Tontechniker: Also ich fand das schon erstaunlich, wie der Iggy und der David das hingekriegt haben, so ganz ohne Drogen, das war schon doll. Iggy: Kann ja auch sein, dass das Koks dabei manchmal n´bisschen geholfen hat, Ede. Die Aufnahmen zu "Fall in Love with me" für das Berliner Studioalbum "Lust vor Life" in den legendären Hansa-Studios mit Blick auf die Berliner Mauer: Iggy am Mikro, Bowie als Produzent. Als Band: das gesamte Theater-Ensemble und Multiinstrumentalist Tim Golla im Einsatz. Komponierte Soundatmosphären und Originaltitel all der Hits von Iggy und Bowie, an einer der Gitarren der Schauspieler Silvester von Hösslin: "Was ich schon sehr interessant finde, dass er eigentlich der Erste war - der erste Rock´n´Roller, der erste Punk und dass er so etwas wie Stagediving erfunden hat, dass er einfach so das erfunden hat: Rock ’n’ Roll kann eigentlich nie weniger sein, es geht eigentlich immer ums Leben, es gibt eigentlich immer 100 Prozent, er räumt den Schrank eigentlich immer aus."
Von Agnes Bührig
In der geteilten Stadt Berlin erlebten Iggy Pop und David Bowie Ende der 1970er-Jahre eine gemeinsame hochkreative Phase. Welthits wie "The Passenger" entstanden im Schatten der Mauer. "Iggy - Lust for Life" am Schauspiel Hannover reanimiert die düstere Frontstadt des Kalten Krieges.
"2018-12-06T15:23:00+01:00"
"2020-01-27T18:24:18.548000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/iggy-pop-lust-for-life-am-theater-neustart-in-europas-100.html
913
Sonderpreise zur Brexit-Abstimmung
Ein Flugzeug steht an einem Flughafen. (Deutschlandradio / Ellen Wilke) "Always getting better", so heißt das laufende Unternehmensziel Ryanairs - und der irische Billigflieger liefert tatsächlich immer bessere Zahlen und Gewinne. Der Umsatz klettert um 16 Prozent auf 6,5 Milliarden Euro – dank über 50 neu erworbener Boeing 737 und einem um 100 Verbindungen noch engeren Netz an Flugrouten. Ryanair-Chef Michael O'Leary: "Wir haben unsere Ergebnisse deutlich verbessert. Der Gewinn stieg um 43 Prozent auf 1,2 Milliarden Euro. Im abgelaufenen Bilanzjahr sind 106 Millionen Passagiere mit uns geflogen. Das bedeutet eine Auslastung unserer Maschinen von 93 Prozent." Der Ausblick auf das kommende Geschäftsjahr fällt aber nicht ganz so positiv aus. O'Leary geht davon aus, dass die niedrigen Kerosinpreise nahezu vollständig die Flugpreise reduzieren werden – im ganzen Markt. Die Airlines hatten früh Kerosin zu teuren Preisen eingekauft, erst jetzt spare Ryanair 200 Millionen Euro beim Treibstoff. Zur Freude der Kunden: allein von Januar bis März seien die Ticketkosten um sieben Prozent gesunken. "Wir geben das meiste oder alles von diesen 200 Millionen Euro an die Fluggäste weiter. Unsere Philosophie bleibt: Wir haben die günstigsten Preise in allen Bereichen. Unsere Kapazität wächst deutlich. Wenn andere Fluggesellschaften ihre Preise senken wollen, werden wir das auch tun. Wenn es zu einem Preiskrieg in Europa kommt, Ryanair wird ihn gewinnen." Eine Kampfansage des wegen seiner hemdsärmeligen Auftritte berüchtigten Michael O'Leary an die Wettbewerber wie zum Beispiel easyJet. O'Leary gegen einen Brexit Exakt einen Monat vor dem Referendum in Großbritannien über den Verbleib in der EU sprach sich O'Leary klar gegen einen Brexit aus. "Die Deregulierung der Luftfahrtbranche ist eine der großen Erfolgsstorys der EU. Ende der 80er-Jahre wurde das Hochpreis-Kartell beendet und wir führten die Revolution des preiswerten Fliegens in Europa an. Das schafft Arbeitsplätze. Ryanair wirbt entschieden für einen Verbleib in der EU beim Referendum am 23. Juni." Schon zuletzt hatte Ryanair darauf hingewiesen: Bei einem Brexit müssen sowohl mit der EU als auch mit den USA neue Verträge ausgehandelt werden, wer welche Routen fliegen und wo Standorte unterhalten darf. Diese Verhandlungen würden bei einem Brexit für Unsicherheit und weniger Wachstum sorgen. Für Briten im Ausland bietet Ryanair zum Verdruss der Brexit-Befürworter übrigens eine Sonderaktion an: für 20 Euro ein Flug zum Referendum am 23. Juni nach Großbritannien.
Von Friedbert Meurer
Ryanair-Firmenchef Michael O'Leary hält einen möglichen Brexit, einen Austritt Großbritanniens aus der EU, für falsch. Deshalb bietet er Briten im Ausland Sonderpreise an, damit sie zur Abstimmung fliegen können.
"2016-05-23T13:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:30:49.481000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/irischer-billigflieger-ryanair-sonderpreise-zur-brexit-100.html
914
"Viele Sammlungen sind extrem schlecht dokumentiert"
Jürgen Zimmerer - Afrika-Historiker und Genozid-Forscher. (privat) Uli Blumenthal: Ein reich verzierter Hocker aus Kamerun, eine männliche Holzfigur aus Tansania oder eine Halskette der Herero aus Namibia. Objekte wie diese gelangten während der deutschen Kolonialzeit in die Sammlungen des Übersee-Museums Bremen. In einem auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekt "Koloniale Spuren im Übersee-Museum Bremen. Afrika-Sammlungen als Gegenstand der Provenienz-Forschung" untersucht Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, Arbeitsbereich Globalgeschichte der Universität Hamburg, seit 2017 die Herkunft und Geschichte der Sammlungen aus Kamerun, dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika und ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Wie sieht die Arbeit beim Forschungsprojekt "Koloniale Spuren im Übersee-Museum Bremen. Afrika-Sammlungen" als Gegenstand der Provenienz-Forschung konkret aus? Jürgen Zimmerer: Wir haben ein Team von drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, davon zwei aus Deutschland, ein Kollege aus Kamerun, die eben drei Sammlungen unter die Lupe nehmen, aus Kamerun, Namibia und aus Tansania, und im Grunde die Sammlungen inventarisieren und dann versuchen, über Quellen traditioneller Art in Deutschland, aber eben auch über Interviews und Feldforschung in den ehemaligen Kolonialgebieten mehr über die Herkunft dieser Objekte zu erfahren und im Grunde über das reine Auffinden der Provenienz der Sammlungen Methoden zu entwickeln, wie man mit kolonialer Provenienz insgesamt umgeht. Weil die Frage der Provenienz kolonialer Objekte eine sehr drängende ist. Die europäischen Museen sind eigentlich voll, und es gibt praktisch kaum Überlegungen und Versuche, wie man das in den Griff bekommt, denn viele dieser Sammlungen sind extrem schlecht dokumentiert. Gespräche mit Menschen vor Ort Blumenthal: Mit diesem Ansatz, den Sie verfolgen betreten Sie Neuland in der Erforschung einer Sammlungsgeschichte. Worin besteht dieser neue Ansatz und dieses Neuland, das Sie jetzt gemeinsam betreten? Zimmerer: Dieses Neuland besteht darin, dass wir uns bewusst nicht nur auf die spektakulärsten Objekte, die Benin-Bronzen zum Beispiel, konzentrieren, sondern auf Sammlungen, die eben schlecht dokumentiert sind, weil diese Dokumente nie erfasst wurden oder verloren gingen. Und wir kombinieren im Grunde historische Quellenarbeit mit ethnologischen Ansätzen, um zu sagen, wenn wir ein Objekt oder ein Set von Objekten einer bestimmten Region zuordnen können, dass wir dann in diese Region reisen und praktisch im Gespräch mit Menschen dort, mit Nachkommen der Gebergesellschaften zu sagen, was ist eigentlich an lokaler Erinnerung bei euch noch da? Wisst ihr noch, wie das erworben wurde, wisst ihr noch, was diese Strafexpedition, die da 1907, 1909, 1904 oder wann auch immer, vor über hundert Jahren hier durchzog, was ist bei euch noch an Wissen da, und wie können wir rekonstruieren, wie diese Objekte im Grunde nach Europa kamen? Und hier interessiert uns eben nicht nur, was die klassische Provenienzforschung interessiert – wie hat das Museum es erworben, von einem Kaufmann, von einem Kapitän, sondern eben auch vor allem der Übergang aus afrikanischer Hand in europäische Hand, also der ursprüngliche Wechsel. Wie gewaltförmig war der, wie fair war der? Und das unter der Annahme, dass der Kolonialismus ein System extremer Ungleichheit auch ist und im Grunde die Freiheit der Agierenden, der Kolonisierten, einfach beschränkte, weil der koloniale Staat entweder Druck anwandte oder dieser Druck im Hintergrund einfach präsent war, und dann auch die Deutungshoheit hatte, ob etwas legal erworben wurde oder nicht. Blumenthal: Wie repräsentativ ist dieses Forschungsprojekt, das Sie die nächsten Jahre verfolgen, allgemein für die Provenienzforschung? Ist jedes Museum, ist jede Forschungseinrichtung, jede Sammlung, sind die in der Lage, solche Projekte zu stemmen, oder ist das so eine Art Pilotprojekt? Zimmerer: Ich würde sagen, es ist ein Pilotprojekt in zweierlei Hinsicht. Zum einen die Ressourcenfrage, zu sagen, Museen können das nicht selbst stemmen. Aber weit wichtiger für den Gesamtkontext, und der gewinnt ja an Bedeutung vor allem auch mit dem Humboldt-Forum und mit diesen großen Sammlungen, ist, dass das Museum im Grunde eine unabhängige Instanz, nämlich die Universität hier ranlässt, und nicht im Grunde sagt, wir erforschen das alles innerhalb des Hauses mit unseren eigenen Leuten. Denn es geht ja im Grunde darum, die Rolle auch der Museen insgesamt im Kolonialismus auszuloten und eben auch diesen Erwerbungskontext für ethnologische Museen generell in Frage zu stellen oder zu hinterfragen und hier eine unabhängige Stimme zuzulassen. Ist natürlich ein Schritt, der notwendig ist, denn in Analogie würde man sagen, man lässt ja auch nicht die Erben von Gurlitt selbst erforschen, wie der Erwerbungskontext von Sammlungen war. Und hier ist man also dann doch in Bremen weiter als in allen anderen Häusern, in denen überhaupt Provenienzforschung stattfindet. "Ich sehe da jetzt eine Bereitschaft, etwas aufzuklären" Blumenthal: Beim Zweiten Transnationalen Herero- und Nama-Kongress Anfang April in Hamburg hat Kultursenator Carsten Brosda die Volksgruppen der Herero und Nama um Vergebung gebeten. Wie steht die Politik zu dieser Form der Provenienzforschung des kolonialen Erbes? Was ist da an politischem Bewusstsein vorhanden, oder wo fehlt es an politischem Willen? Zimmerer: Das politische Bewusstsein wurde in den letzten Monaten, im letzten Jahr geweckt über die Diskussion vor allem über das Humboldt-Forum, sodass sich ja auch im Koalitionsvertrag jetzt die Erforschung der Provenienz als Aufgabe wiederfindet. Allerdings würde ich sagen, ist das immer noch auch sehr als Rettung für das Humboldt-Forum gedacht, das ja durch das lange Ignorieren dieses kolonialen Kerns ins Schlingern geraten ist. Ich sehe da jetzt eine Bereitschaft, etwas aufzuklären. Das Problem dabei ist eben diese Unabhängigkeit der Aufklärer, die auch im Grunde mit den Ergebnissen, die sie finden, frei an die Öffentlichkeit treten müssen oder die das können müssen. Und da ist im Grunde die Politik noch vage. Da sehe ich eher, dass man sagt, man verlagert Mittel in die Museen, um ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Aber wie gesagt, um Glaubwürdigkeit auch zu gewinnen, geht das eigentlich nur über unabhängige Aufklärer. Blumenthal: Schluss mit dem falschen Frieden. Diese Aussage stammt von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Der Kolonialismus, so sagt er, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine wahre Barbarei gewesen. Und in fünf Jahren, so sein Plan, sollen die Voraussetzungen geschaffen werden für zeitweilige oder endgültige Restitutionen. Ist das realistisch, dieser Anspruch, der hier in Frankreich nach vorn getragen wird? Zimmerer: Man wird sehen, ob in fünf Jahren das zu schaffen sein wird. Wahrscheinlich nicht, weil die Aufgabe gigantisch ist. Das Entscheidende an Macrons Äußerung ist, dass hier ein Regierungschef im Grunde diese Verantwortung und diese Problematik erkennt und ergebnisoffen zur Diskussion stellt – er sagt, ja, wir restituieren – und einen Beirat unabhängig einsetzt, der da Vorschläge erarbeitet. Während in Deutschland im Grunde man so weit ist, zu sagen, man verschiebt das auf eine europäische Kommission, wie der Präsident der Stiftung preußischer Kulturbesitz im Januar vorgeschlagen hat, weil man eine europäische Einigung braucht, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird, wenn man überhaupt alle europäischen Staaten an einen Tisch bringt und zu einer einheitlichen Position führt. Dass Macron einfach sagt, ich führe im Grunde durch gutes Beispiel, indem ich einfach mal beginne, das ist etwas, das auf jeden Fall hier auch die deutsche Politik unter Druck setzt. Und man hätte sich gewünscht, es wäre letztes Jahr im Zuge der Debatten um das Humboldt-Forum passiert. Man hätte das Humboldt-Forum von Haus aus stärker positioniert eigentlich auch als Welt-Diskussionsforum mit so einem Vorschlag. Also, es kann gar nicht überbewertet werden, auch wenn man sehen wird, wie das im Einzelnen dann aussieht und wie lange das dauert und auf welche Widerstände Macron da treffen wird. "Das wäre jetzt ein Paukenschlag" Blumenthal: Wäre es ein Paukenschlag, wenn man bei der Eröffnung des Humboldt-Forums nicht die Originale ausstellen würde, sondern die Kopien, und damit auch gleichzeitig sagt, selbst das Stadtschloss ist eine Kopie, und wir stellen auch sozusagen als Anerkennung der Ansprüche aus unserem kolonialen Erbe jetzt nur noch die Kopien aus und entscheiden dann über die Rückgabe der Originale. Wäre so was überhaupt realistisch? Zimmerer: Das wäre eine große Geste, weil man hat ja im Humboldt-Forum die absurde Situation, dass man einen Kult der Authentizität des Originals hat im Haus. Man will die Originale ausstellen in einem gefälschten Schloss, in einem Gebäude, das keine Authentizität hat. Das wäre jetzt ein Paukenschlag. Da, glaube ich, würde man auf einen Schlag die Diskussion in Deutschland fokussieren und sagen, ja, wir wollen jetzt nicht nur Preußentum verherrlichen, wir wollen nicht nur einen ethnologischen Blick irgendwie weitertransportieren und im Grunde ein Narrativ der Kulturgesellschaft Deutschland postulieren, sondern man würde tatsächlich sagen, wir führen die Debatte an, wir kennen sie, wir erkennen sie an, und wir stellen uns dieser Frage. Blumenthal: In Ihrem Forschungsprojekt "Koloniale Spuren" im Überseemuseum Bremen, gehen Sie da auch der Frage nach, wie kann oder wie muss man diese Provenienzforschung, die Sie treiben, in musealen Präsentationsformen für die Öffentlichkeit kommunizieren und transparent machen? Ist das auch ein Gegenstand Ihrer Forschung? Zimmerer: Grundlage des Projekts an sich ist die Überlegung, wir machen die Provenienzforschung, um sie eben auch darzustellen. Weil wir in der Provenienzforschung auch gesehen haben, dass die Provenienzforschung sehr tief in die Geschichte des Kolonialismus eingreift. Das heißt, man muss den Kolonialismus verstehen, um diese verschiedenen Erwerbungskontexte verstehen zu können. Und das ist im Grunde zurückzuspiegeln in die Ausstellung, weil die ethnologischen Museen vor allem eine Rolle hatten bei der Unterstützung des kolonialen Projekts im 19. und 20. Jahrhundert. Das muss eben mit reflektiert werden, und das kann man machen, indem man einfach sagt, die Objekte in den Museen haben einen problematischen Erwerbungskontext, und sie haben ihn, und das muss man eben hinschreiben, solange man nicht nachgewiesen hat, dass der Erwerbungskontext nicht problematisch ist. Man muss im Grunde die Beweislast umkehren, weil das Machtungleichgewicht im Kolonialismus so groß war, dass man eigentlich von einem unrechtmäßigen Kontext ausgehen muss, bis das Gegenteil bewiesen ist. Denn man kann auch nicht sagen, man zeigt gar nichts mehr. Das heißt, man zeigt es, weist auf den problematischen Kontext hin und lädt alle Herkunftsgesellschaften eben ein, in eine ergebnisoffene Diskussion über die Zukunft dieser Objekte zu gehen. Das heißt, man muss erst mal die Sammlungen der Welt zeigen, denn man weiß nicht, was in den Magazinen, was in den Museen eigentlich schlummert. Das heißt, niemand kann sich auch, keine Herkunftsgesellschaft kann sich dazu positionieren, wenn sie gar nicht wissen, was da ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jürgen Zimmerer im Gespräch mit Uli Blumenthal
Die Museen sind voll mit Figuren, Möbeln und Schmuckstücken, die während der Kolonialzeit nach Europa geschafft wurden. Oft nahm man sie den Besitzern gewaltsam weg. Es sei daher dringend, die Herkunftsgeschichte kolonialer Objekte zu erforschen, sagte der Historiker Jürgen Zimmerer im Dlf.
"2018-04-29T16:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:06.967000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/provenienzforschung-fuer-koloniale-objekte-viele-sammlungen-100.html
915
Keine Pralinen mehr aus der Ukraine
Russlands Präsident Wladimir Putin sagt es oft und deutlich: Die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union gefährde die Interessen Russlands und schade auch den betroffenen Ländern selbst. Putin bei einem internationalen Forum Mitte September:"Unser Problem ist folgendes: Wenn die Zollbestimmungen zwischen der Ukraine und der EU weiter gelockert werden, wird der ukrainische Markt mit qualitativ hochwertigen, relativ billigen Produkten aus Europa überschwemmt. Diese Produkte werden die ukrainischen Erzeugnisse verdrängen - und zwar wohin? Zu uns, nach Russland. Davor müssen wir unseren Markt schützen. Wenn die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet, werden wir die Einfuhren aus der Ukraine begrenzen müssen. Wir müssen einfach an unsere nationalen Interessen denken."Und wie um den Ukrainern einen Vorgeschmack darauf zu geben, hat Russland vor gut zwei Monaten die Einfuhr ukrainischer Pralinen gestoppt, wegen angeblicher Qualitätsmängel. Das Verbot trifft vor allem den milliardenschweren Süßwarenfabrikanten Petro Poroschenko. Er sitzt im Parlament der Ukraine und ist ein großer Verfechter der Westintegration.Russland will, dass die Ukraine der Zollunion beitritt. Bisher sind dort Russland, Kasachstan und Weißrussland Mitglied. Später soll daraus die Eurasische Union werden, eine Art Gegenstück zur EU, das die gesamte ehemalige Sowjetunion mit Ausnahme des Baltikums umfassen soll. Ein solches Bündnis verspreche Wettbewerbsvorteile für alle Mitglieder, so Putin, auch für die Ukraine."Wir gehen davon aus, dass, wenn die Ukraine der Zollunion beitreten und wir unsere Kräfte vereinigen würden, wir größere Chancen hätten, bei Verhandlungen mit der EU mehr für uns herauszuholen, in der Wirtschaft, im Handel."Doch die Ukraine sträubt sich. Ebenso die kleine Republik Moldau. Aus Putins Sicht ist das völlig irrational. Denn auch für die Republik Moldau seien die Vorteile einer Zollunion viel größer als die einer Assoziierung mit der EU, so der russische Präsident."Wohin soll denn bitte die Republik Moldau ihren Wein verkaufen? Etwa nach Frankreich? Die Franzosen lassen sicher keine einzige Flasche moldauischen Wein auf ihren Markt. Oder die Italiener: Die schnappen sich die Flaschen, schlagen sie kaputt und gießen den Inhalt in die Gosse. Der moldauische Wein kommt auf unseren Markt! Hundertprozentig."In Russland ist moldauischer Wein nach wie vor beliebt. Zurzeit müssen die Russen allerdings darauf verzichten. Russlands oberster Verbraucherschützer Gennadij Onnischtschenko hat den Import Mitte September verboten, bald nach dem Verbot ukrainischer Pralinen, gleichfalls aus Qualitätsgründen.Während die Regierungen in Kiew und in der moldauischen Hauptstadt Chischinau dem Druck aus Russland widerstehen, ist ein anderes Land der Östlichen Partnerschaft eingeknickt: Armenien im Südkaukasus. Anfang September kündigte Armeniens Präsident Sersch Sargsyan bei einem Besuch in Moskau an, sein Land wolle der Zollunion mit Russland beitreten. Sargsyan begründete das mit den nationalen Interessen Armeniens:"Armenien hat sich vor 20 Jahren entschieden, seine militärische Sicherheit im Rahmen der Organisation für Kollektive Sicherheit zu gestalten, in Partnerschaft mit Russland und anderen GUS-Staaten. Unsere Partner planen jetzt ein analoges Format für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es ist unmöglich und ineffektiv, in der militärischen Organisation Mitglied zu sein, sich aus der wirtschaftlichen aber herauszuhalten."Der Schritt kam überraschend. Armenien galt bis dahin gemeinsam mit der Republik Moldau und Georgien als einer der besseren Kandidaten für vertiefte Beziehungen mit der EU. Nun hat sich das Land für ein Assoziierungsabkommen mit der EU disqualifiziert, denn eine Mitgliedschaft in der Zollunion mit Russland und eine Assoziierung mit der EU schließen einander aus.Offenbar war der Druck aus Russland zu groß. Armenien hängt wirtschaftlich und militärisch an Moskau und hat aufgrund mangelnder diplomatischer Beziehungen zu seinen Nachbarländern Türkei und Aserbaidschan keine Chance, sich aus der Abhängigkeit von Russland zu befreien. Russlands Präsident Putin stellte dem Gast aus Armenien prompt weitere russische Investitionen in den Energiesektor des Landes in Aussicht, in die armenische Eisenbahn, in das Bankensystem. Moskau hält an seinem altbewährten Prinzip im Umgang mit den Nachbarn fest: Zuckerbrot und Peitsche.
Von Gesine Dornblüth
Beim Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft der EU Ende November in Vilnius will die Ukraine ein Assoziierungsabkommen unterzeichnen. Der russische Präsident Putin dagegen will, dass die Ukraine und andere Länder stattdessen der Zollunion mit Russland beitreten und übt Druck raus.
"2013-10-16T09:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:41:05.862000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/keine-pralinen-mehr-aus-der-ukraine-100.html
916
"In allererster Linie ist die Automobilindustrie gefordert"
Karl-Josef Laumann, Bundesvorsitzender des Arbeitnehmerflügels der CDU, glaubt nicht, dass die Autohersteller ungeschoren davonkommen werden (picture alliance / dpa / Michael Kappeler) Dirk-Oliver Heckmann: Das Thema betrifft natürlich auch hunderttausende Arbeitnehmer, die mit ihren Fahrzeugen in die Innenstädte fahren. Am Telefon ist deshalb jetzt Karl-Josef Laumann, Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Das ist der Arbeitnehmerflügel der CDU. Er ist außerdem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales im Land Nordrhein-Westfalen. Guten Morgen, Herr Laumann! Karl-Josef Laumann: Schönen guten Morgen. Heckmann: Verkehrsminister Scheuer von der CSU, der setzt ja vor allem auf Kaufprämien, und die Autohersteller haben sich jetzt nach einem Bericht der "Bild am Sonntag" darauf eingelassen. Bis zu 10.000 Euro soll ein Besitzer eines älteren Diesel erhalten. Ist das Ganze aber nicht eher ein Konjunkturprogramm für die Autohersteller? Laumann: Es ist ja nichts gegen Umtauschprämien zu sagen. Aber es muss auf der anderen Seite ja auch eine technische Nachrüstung geben. Schauen Sie, die Menschen haben oft jahrelang auf ein Auto gespart. Die brauchen das Auto, um zur Arbeit zu fahren. Wenn man heute im ländlichen Umfeld von Frankfurt wohnt, jeden Tag 70, 80 Kilometer zur Arbeit fährt, man arbeitet als Krankenschwester im Schichtdienst und man kann mit seinem Diesel, der immerhin 30.000 Euro gekostet hat, nicht mehr in die Innenstadt von Frankfurt fahren, dann ist das für diese Schwester eine schlimme Situation. Wir haben sehr viel Verunsicherung in der Arbeitnehmerschaft deswegen, aber bei allen Dieselfahrern, und deswegen ist es erst mal gut, dass heute Abend die Sache gelöst wird und man weiß, wo man dran ist. Aber das zweite ist: Man muss ja sehen, die Automobilindustrie hat einfach verkehrte Abgaswerte in die Kraftfahrzeugbriefe geschrieben, und das kann man auch Betrug nennen. Deswegen, finde ich, sind in allererster Linie natürlich diejenigen, die das gemacht haben, dran, auch ihre Kunden vor zu großem Schaden zu schützen. Das heißt, sie müssen nachrüsten und sie werden sehr viel Geld in die Hand nehmen müssen, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen. "Hier ist die Automobilindustrie selber gefordert" Heckmann: Die Automobilindustrie ist aber nur bereit, 80 Prozent der Kosten zu übernehmen. Laumann: Es ist ja nicht die Frage, wozu sie bereit ist, sondern es kommt entscheidend darauf an, dass man hier eine vernünftige Lösung findet, und ich bin ganz sicher, dass sie auch mit diesen 80 Prozent nicht durchkommen werden, denn man kann ja nicht jemanden, den man betrogen hat, auch noch an den Kosten beteiligen. Deswegen muss es hier schon, zumindest da, wo uns Fahrverbote drohen, da wo die Menschen in der Mobilität dann auch bemüht sind, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen, eine vernünftige Lösung geben. Und ich sage noch einmal: Hier ist in allererster Linie natürlich die Automobilindustrie selber gefordert, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Heckmann: Sie nennen das Betrug und dass die Automobilindustrie alleine gefordert ist und vor allem gefordert ist. Das sieht die Industrie etwas anders, weil man sich ja an die geltenden Regeln gehalten habe. Die Grenzwerte sind ja auf den Prüfständen eingehalten worden und die Regelungen waren ja doch etwas zu schlecht in Form gebracht. Laumann: Es ist ja so, es kommt nicht darauf an, was auf den Prüfständen passiert, sondern was in der Umweltbelastung passiert. Wir müssen ja auch daran denken, dass die Bürger in den Innenstädten natürlich gesunde Luft haben müssen und dass die Abgaswerte eingehalten werden. Jeder weiß, dass die deutsche Automobilindustrie in dieser Frage große Fehler gemacht hat, ich finde auch über die Automobilindustrie hinaus der ganzen Marke Made in Germany schweren Schaden weltweit zugeführt hat, und ich kann mir hier eine Lösung, und auch niemand in Deutschland vorstellen, wo die Automobilindustrie ungeschoren aus dieser Sache herauskommt. Heckmann: Dass die Arbeitnehmervertreter sich jetzt via "Bild"-Zeitung zu Wort melden und vor Arbeitsplatzverlusten warnen, das irritiert sie nicht? Laumann: Das muss man auch im Auge haben. Ich weiß auch, dass die Automobilindustrie in Deutschland über 800.000 Menschen beschäftigt, und natürlich hat keiner ein Interesse daran, einen Niedergang der Automobilindustrie herbeizuführen. Aber auf der anderen Seite lesen auch die Menschen Zeitung, sehen die Gewinnlagen der Automobilhersteller, und ich sage noch einmal: Sie werden in erheblichem Umfange sich selber engagieren müssen, ihre Kunden letzten Endes auch wieder zufriedenzustellen und wieder Vertrauen herzustellen. Denn ich glaube auch, dass Automobilfirmen doch ein hohes Interesse daran haben müssen, dass die Menschen sich nicht von ihren Marken abwenden. "Man muss den Menschen Sicherheit geben" Heckmann: Die Grünen haben schon immer Hardware-Nachrüstungen gefordert. Auch die SPD ist dieser Meinung. Die CDU stand da immer auf der Bremse, ebenso wie der Verkehrsminister von der CSU, Herr Scheuer. Jetzt gibt es offenbar Bewegung auf Seiten vor allem der CDU und auch bei der CSU, das Ganze aber erst jetzt, wenige Wochen vor den wichtigen Landtagswahlen in Bayern und in Hessen. Wir wissen, in Frankfurt drohen Fahrverbote, und Ministerpräsident Bouffier hat sich jetzt auch massiv in die Diskussion eingeschaltet. Ist das Ganze nicht ein ziemlich durchsichtiges Wahlkampfmanöver, das die CDU jetzt erst auf die Idee kommt, Hardware-Nachrüstungen zu fordern? Laumann: Es ist sicherlich so, dass das Verkehrsministerium sich in dieser Frage so verhalten hat, wie Sie es geschildert haben. Aber in der Partei hatten wir immer eine Diskussion, dass die Automobilindustrie hier in erster Linie selber gefordert ist. Man kann das kritisieren, dass das jetzt so lange hin und hergegangen ist, aber man muss einfach die Interessen der Bürger sehen. Der Automobilmarkt in Deutschland ist ja nun auch für die deutschen Hersteller nicht ganz unwichtig. Ich sehe das Problem und man merkt das doch auch, wenn man mit Dieselfahrern redet, dass es wirklich einen richtigen tiefen Vertrauensbruch zu ihren Marken gegeben hat. Es gibt Menschen, die fahren fast ein ganzes Leben lang die gleiche Automarke, und die sind schon schwer enttäuscht, dass so etwas möglich war. Deswegen noch einmal: Man muss den Menschen Sicherheit geben. Sie müssen wissen, woran sie sind. Man muss immer denken, wie lange man sparen muss, um ein Auto zu kaufen, wenn man Normalverdiener ist. Dann weiß man auch, um was für wirtschaftliche Überlegungen es in diesem Bereich geht. Heckmann: Herr Laumann, die CDU scheint jetzt bereit zu sein, auch Steuergeld zu investieren, um da einen Kompromiss mit der Automobilindustrie auf der einen oder anderen Weise hinzubekommen. Weshalb aber soll der Steuerzahler für schwere Fehler beziehungsweise Betrügereien, wie Sie es gerade auch genannt haben, der Autohersteller zahlen? Laumann: Ich persönlich habe ja deswegen auch jetzt heute Morgen wieder gesagt, und wir haben ja auch am Wochenende eine große Bundestagung der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, wo wir ganz klar gesagt haben, hierfür soll kein Steuergeld eingesetzt werden, sondern es ist eine Aufgabe der Automobilindustrie, hier eine Lösung zu finden. Und da gibt es nur die Möglichkeit, dass man die Hardware verändert, oder dass man Umtauschprämien anbietet oder beides. Heckmann: Das heißt, Steuermittel schließen Sie definitiv aus? Laumann: Ich schließe gar nichts aus. Ich sitze nicht im Koalitionskreis. Aber aus meiner Sicht ist nicht der Steuerzahler dafür da, diese Probleme zu lösen. Heckmann: Und wenn es dann zu keiner Einigung mit der Automobilindustrie kommt? Was dann? Laumann: Das werden wir dann mal abwarten. Man muss ja nicht sofort jetzt alles vorwegnehmen. Ich glaube auch, dass die Automobilindustrie weiß, dass sie hier schwer unter Druck steht und dass es eine Lösung geben muss. Heckmann: Eine Lösung, über die jetzt monatelang und man kann sogar sagen jahrelang gestritten wurde. Heute will man endlich zu Ergebnissen kommen. Herr Laumann, können es sich die sogenannten etablierten Parteien leisten, so um sich selbst zu kreisen? Denn die Umfragewerte, die wir in den letzten Wochen gesehen haben, die sind ja verheerend für CDU/CSU und SPD. Laumann: Ich sehe das so: Wir müssen einfach die Probleme aufgreifen und sie lösen. Es ist ja kein Geheimnis und es merkt ja auch jeder, dass der Start dieser Großen Koalition unter einem ganz schlechten Stern steht und dass wir große Probleme haben, nach einer schwierigen Regierungsbildung in eine normale Regierungsarbeit zu kommen. Da müssen alle, die daran beteiligt sind, jetzt auch wissen, dass hier sehr viel auf dem Spiel steht. Es steht am Ende auf dem Spiel, ob das etablierte Parteiensystem bei uns in Deutschland, dem wir ja auch vieles zu verdanken haben – schließlich haben wir jetzt seit 70 Jahren Frieden, Freiheit, relativ starken sozialen Wohlstand, wir haben Sicherheit. Das System hat ja eine gute Bilanz hingelegt und ich finde, es muss jetzt einfach nur in der Form, wie gearbeitet wird, wieder zu einer Arbeit gekommen werden, wo man auch in dieses System Vertrauen haben kann. Da hat natürlich auch jeder und jeder Parteivorsitzende in dieser Koalition, finde ich, eine hohe Verantwortung. "Merkel sitzt zwischen den Stühlen" Heckmann: Das Vertrauen ist im Moment ganz offenbar nicht da. Sollte Angela Merkel über einen Übergang im Parteivorsitz nachdenken? Laumann: Ich persönlich glaube, dass Angela Merkel in dieser Frage eigentlich diejenige ist, die sich am meisten Mühe gibt, dass es gut wird und dass es Vertrauen gibt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ihr Problem ist, dass sie oft auch als Parteivorsitzende der CDU eine vermittelnde Position haben muss, was die CSU angeht, was manchmal auch die SPD angeht, und sie da zwischen allen Stühlen sitzt. Heckmann: Aber sie müsste ja auch mal Dinge voranbringen, oder? Laumann: Ich glaube nicht, dass man Frau Merkel für diese Situation verantwortlich machen kann. Ich halte sie nach wie vor für einen Glücksfall. Ich glaube, dass es, auch wenn man an die außenpolitische Lage denkt, sehr, sehr gut ist, dass wir sie haben, und ich traue ihr auch innenpolitisch noch einiges zu. Heckmann: Und sie sollte auch weiterhin den Parteivorsitz innehaben? Laumann: Ich persönlich bin der Meinung, dass sie eine gute Parteivorsitzende ist. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Karl-Josef Laumann im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) sieht in der Diesel-Frage vor allem die Automobilindustrie in der Pflicht. Ihr Vorsitzender Karl-Josef Laumann sagte im Dlf, die Hersteller müssten nachrüsten und "sehr viel Geld in die Hand nehmen", um das Vertrauen der Kunden zurückzugewinnen.
"2018-10-01T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:24.740000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dieselgipfel-in-allererster-linie-ist-die-100.html
917
Besser als der Ruf
Rentenbescheide liegen auf einem Tisch mit Lesebrille und Kleingeldmünzen (imago stock&people) Wer kann sinnvoll riestern zu welchen Bedingungen? Wie hoch ist die staatliche Förderung? Was ist Wohnriestern? Lassen sich beide Förderkonzepte gewinnbringend verknüpfen? Wo entstehen Steuerpflichten? Antworten auf Ihre und unsere Fragen geben die von Jule Reimer eingeladenen Experten und Expertinnen. Gesprächsgäste: Manuela Makiola, Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund Peter Schwark, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. Hermann-Josef Tenhagen, Finanztip Berlin Hartmut Schwarz, Verbraucherzentrale Bremen Ihre Hörerfragen sind wie immer willkommen. Die Nummer für das Hörertelefon lautet: 00 800 - 44 64 44 64 und die E-Mail-Adresse: marktplatz@deutschlandfunk.de
Am Mikrofon: Jule Reimer
Kompliziert und schwer vermittelbar: Nicht nur die Riester-Rente hat diesen Ruf, auch ihr Ableger, die Riester-Förderung für den Eigenheimkauf gilt als bürokratischer Hürdenlauf. Doch beide staatlich geförderten Rentenkonzepte bieten durchaus Vorteile, wenn auch nicht für jede Lebenslage.
"2017-12-07T10:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:56:35.608000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/riester-rente-und-wohnriestern-besser-als-der-ruf-100.html
918
"Unheimliche Signalwirkung"
Eliud Kipchoge beim Zieleinlauf (dpa /AP/Michael Sohn) Auch wenn man "in der heutigen Zeit" an Rekorden immer zweifeln dürfe, zollte Arne Gabius dem neuen Weltrekordhalter über die Marathondistanz in der Sendung "Sport am Sonntag" großen Respekt: Der 33-jährige Olympiasieger aus Kenia, Eliud Kipchoge, habe beim Berlin-Marathon mit 2:01:39 einen perfekten Lauf mit einer "unheimlichen Signalwirkung" hingelegt. Wer knackt die Zwei-Stunden-Marke? Er gehe davon aus, dass ein Marathonlauf "unter zwei Stunden sicherlich in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten möglich sein wird", sagte Gabius, "und dann wird man sich irgendwo bei einer Stunde und 58 einpendeln." Die bisherige Bestmarke über 42,195 Kilometer lag bei 2:02:57 und wurde vor vier Jahren von dem Kenianer Dennis Kimetto aufgestellt. Arne Gabius hält seit 2015 mit 2:08:33 den Deutschen Rekord über die Marathondistanz. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Arne Gabius im Gespräch mit Matthias Friebe
Zwei Stunden, eine Minute und 39 Sekunden: Der neue Weltrekord, den der Kenianer Eliud Kipchoge beim Berlin-Marathon aufgestellt hat, sei eine "unvorstellbare Leistung", sagte der deutsche Rekordhalter Arne Gabius im Dlf: "Wir nähern uns langsam dem, was menschenmöglich ist."
"2018-09-16T19:11:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:12.990000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/marathon-weltrekord-von-eliud-kipchoge-unheimliche-100.html
919
Erst das Blatt und dann der Extrakt
Es ist ein wichtiger Zwischenschritt für die Anhänger der süßen Pflanze: Der EuGH hat mit seiner Grundsatzentscheidung heute den Weg frei gemacht für Stevia-Blätter in Teemischungen - zumindest im Prinzip. Nun muss noch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof endgültig entscheiden, ob er den süßen Blattzusatz tatsächlich erlaubt. Tut er das, könnten Steviafreunde das als ersten echten Etappensieg verbuchen in ihrem jahrelangen Ringen um die Zulassung der Pflanzen-Süßkraft. Doch egal, wie das Urteil im Freistaat lauten wird - die wirtschaftlich spannendste Frage in Sachen Stevia bleibt offen. Denn der Lebensmittel- und Getränkebranche geht nicht um ein paar getrocknete Blätter, sondern darum, dass um die extrahierten Inhaltsstoffe von Stevia in Europa erlaubt werden: Sie sind bis zu 300 Mal süßer als Zucker - und dabei praktisch kalorienfrei. "Stevia hat einen sehr guten Geschmack. Man kann es auf 200 Grad erhitzen, backen und in vielen Rezepten verwenden. Es hat keinerlei schädlichen Nebeneffekte - also nur Vorteile."Der belgische Biologieprofessor Jan Geuns war mit seinem europäischen Stevia-Verband der erste, der die EU-Zulassung beantragt hat. Doch im Alleingang konnte er die teuren Sicherheitsstudien nicht stemmen. Erst als auch das US-Unternehmen Cargill in enger Zusammenarbeit mit Coca-Cola eine Zulassung für seinen Stevia-Süßstoff beantragt und weitere wissenschaftliche Daten geliefert hatte, ließen sich die Sicherheitsbedenken der EU-Lebensmittelprüfer ausräumen. Jetzt steht das Zulassungsverfahren kurz vor dem Abschluss: Das grüne Licht für Stevia-Süßextrakte wird Ende 2011 erwartet. Europas Getränke- und Lebensmittelhersteller stehen bereits in den Startlöchern. Und nicht nur die. Heidrun Mund, Geschäftsführerin des deutschen Süßstoffverbands: "Wir gehen schon davon aus, dass es dadurch neue Impulse im Markt gibt, weil es einen weiteren Stoff gibt mit neuen Ansprechpunkten beim Handel, beim Verbraucher - und man hat natürlich dadurch auch in der Rezepturentwicklung weitere Möglichkeiten hat. Von daher sehen wir der Zulassung von Stevia sehr erwartungsvoll entgegen. "In den USA, in Japan, Australien oder Brasilien - überall darf Stevia schon süßen. Einigermaßen kurios: Obwohl die EU-Zulassung fehlt, können sich Verbraucher auch in Deutschland schon heute Stevia-Süßextrakt besorgen. In einer rechtlichen Grauzone, im Internet beispielsweise - oder in Bioläden. In Isabella Strucks Biomarkt in Offenburg tarnt sich Stevia als Kosmetikzusatz und steht nicht beim Zucker, sondern direkt neben den Waschmitteln. "Dann haben wir einen Extrakt, weißes Pulver, welches sich auch komplett auflöst, wo die Süßkraft 300- fach größer sein müsste als bei Rohrzucker oder normalem Zucker. Das gleiche haben wir in Tab-Form, dass man es gut portionieren kann. Ein Tab reicht dann für drei Tassen Kaffee. Und dann haben wir es auch noch in flüssiger Form in zweierlei Stärken."Vor allem Kaloriensparer und Diabetiker fragen Stevia bislang nach. Exakte Prognosen fehlen, doch das Potenzial der kleinen Pflanze in Europa ist riesig. In den USA, so eine Schätzung, könnte der Jahresumsatz mit der süßen Stevia auf 700 Millionen Dollar klettern.
Von Mirjam Stöckel
Süß, kalorienarm und absolut natürlich ist Stevia, einer Pflanze aus Südamerika. Praktisch überall auf der Welt darf man Steviasüßstoff verwenden, nur in der EU nicht. Doch nun hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass getrocknete Stevia-Blätter in Teemischungen enthalten sein dürfen.
"2011-04-14T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:22:15.641000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erst-das-blatt-und-dann-der-extrakt-100.html
920
Niersbach und Zwanziger im Visier der Ermittler
2006 war Theo Zwanziger (l.) noch Präsident des Deutschen Fußball-Bundes und Wolfgang Niersbach Generalsekretär (picture alliance/dpa/Fredrik von Erichsen) Es gehe um den Verdacht der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall, erklärte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main mit. Die Ermittlungen richteten sich gegen den "Präsidenten des DFB und einstigen Vizepräsidenten des Organisationskomitees, den im Jahr 2006 amtierenden DFB-Präsidenten und damaligen Schatzmeister des Organisationskomitees sowie den früheren DFB-Generalsekretär", also gegen den damaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger und dessen Nachfolger Wolfgang Niersbach und Ex-Generalsekretär Horst R. Schmidt. Im Fokus der Ermittler steht ein Geldtransfer von 6,7 Millionen Euro vom deutschen WM-Organisationskomitee an den Fußball-Weltverband FIFA. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, die Einreichung inhaltlich unrichtiger Steuererklärungen veranlasst und dadurch zu wenig Abgaben für das Jahr 2006 gezahlt zu haben. "Nach derzeitigem Erkenntnisstand soll eine durch das Organisationskomitee im Frühjahr 2005 geleistete Zahlung in Höhe von 6,7 Millionen Euro für eine Kostenbeteiligung an einem Kulturprogramm im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als Betriebsausgabe steuermindernd geltend gemacht worden sein, obwohl ihr tatsächlich ein anderer Zweck zugrunde lag und die Zahlung daher nicht als abzugsfähige Betriebsausgabe hätte geltend gemacht werden dürfen", erklärte die Staatsanwaltschaft. In einer ersten Reaktion auf die Durchsuchungen sagte der DFB der Staatsanwaltschaft "vollständige Kooperation" bei der Klärung der im Raum stehenden Vorwürfe zu. Grüne kritisieren fehlende Transparenz beim DFB "Ein klassischer Fall von Eigentor! Das kommt davon, wenn man keine Transparenz und Aufklärung schafft!", kommentiert Özcan Mutlu, Sprecher der Grünen-Fraktion für Sportpolitik, bei Twitter: 50 Beamte im Einsatz Auf Antrag der Staatsanwaltschaft habe der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Durchsuchungsbeschlüsse für die Geschäftsräume des DFB sowie die Wohnungen der Beschuldigten erlassen. Insgesamt seien bei den Durchsuchungen am Dienstagmorgen 50 Beamte der Frankfurter Steuerfahndung sowie der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen in Frankfurt am Main beteiligt gewesen. (bor/dk)
null
Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen den Deutschen Fußballbund aufgenommen. Dabei geht es nach Angaben der Behörde um die Vergabe der WM 2006. Die Untersuchungen richten sich gegen den damaligen und den heutigen DFB-Präsidenten.
"2015-11-03T10:14:00+01:00"
"2020-01-30T13:07:20.920000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vergabe-der-wm-2006-niersbach-und-zwanziger-im-visier-der-100.html
921
Newcomertreffen rund um den Kiez
Wie eine Minitour in einer Stadt: Beim Reeperbahn Festival im Hamburg treten viele Künstler mehrmals auf (Axel Heimken/dpa) Sascha Ziehn: Die Idee ist schon ziemlich grandios - statt, wie bei einem "normalen" Festival, wo jede Band nur einmal auftritt, ist das Reeperbahnfestival seit diesem Jahr für die Bands und Musiker quasi so etwas wie eine Minitour in einer Stadt. Viele Künstler treten mehrmals auf, in verschiedenen Clubs, zu verschiedenen Zeiten. Und das Reeperbahn Festival ist eben auch noch mehr als ein reines Konzertfestival: Es gibt Podiumsdiskussionen, Panels, Kunst und, und, und. Heute geht die 12. Ausgabe zu Ende - und für das Corso Musikmagazin ist Juliane Reil die Reeperbahn rauf und runter gelaufen, schönen guten Tag nach Hamburg! Juliane Reil: Guten Tag nach Köln. Ziehn: Diese Idee mit den Club-Konzerten -statt eben irgendwo auf einem Feld eine riesige Bühne aufzubauen - das ist ja schon super. Gibt es eigentlich irgendetwas Vergleichbares in Europa? Reil: In Europa, würde ich sagen, nein. Also das Reeperbahn Festival ist ja ein internationales Newcomer-Festival, das sich wirklich in den Dienst neuer Talente stellt. Wie Sie gerade gesagt haben, bekommen junge neue Band zum ersten Mal wirklich die Chance, sich mehr als einmal im Konzert zu präsentieren. Das Festival ist so ein richtiger Konzert-Marathon im positiven Sinne. Und damit ist es eigentlich am ehesten mit seinem Vorbild, mit dem South By South West Festival im Amerikanischen Austin, Texas, zu vergleichen. Auch weil eben Fachbesucher aus der Musikbranche mit ganz "normalen" Konzertgängern da zusammenkommen. Im Prinzip ist das die Frankfurter Buchmesse für die Musik. Neben dem Pop-Kultur Festival in Berlin und der c/o pop in Köln das wichtigste deutsche Musikfestival. "Das bedeutet, dass Kulturförderung eigentlich aber erst mal Wirtschaftsförderung ist" Ziehn: Auch der Bund findet dieses Reeperbahn Festival ziemlich gut und hat es deshalb mit 1,8 Millionen Euro aus dem Kultur-Topf gefördert. Wie wurde das Geld denn angelegt? Reil: Also ein Großteil ist in den Anchor Award geflossen. Letztes Jahr wurde der Preis - für den besten Newcomer des Festivals - aus der Taufe gehoben. Und die Idee hinter diesem Award hat mir der Geschäftsführer und Mitgründer des Festivals, Alexander Schulz, folgendermaßen erklärt. Alexander Schulz: Jeder Künstler kann sich eben bewerben für den Wettbewerb "Anchor". Das waren in diesem Jahr 52 Künstlerinnen und Künstler. Dann muss unser Job sein, nicht einen einzelnen Künstler zu fördern. Künstlerförderung machen wir eben nicht. Sondern: Ihn mit diesem Prädikat zu versehen, vielleicht auch nur mit diesem Nominierten-Prädikat, und das muss ihm oder ihr helfen am Markt ähnlich wie - keine Ahnung: Du stehst vor zwei Kino-Plakaten, beide Plakate sind für dich unbekannt, kommen aus Ländern, die nicht dein Land sind. Der eine hat da unten eine Palme drankleben, der andere nicht. Und du entscheidest dich für den entscheiden, der diese Palme führt. Und da müssen wir hin. Besucher beim Reeperbahn Festival 2017 (picture alliance/Axel Heimken/dpa) Reil: Der Anchor Award als Äquivalent also zur Goldenen Palme in Cannes. Das Reeperbahn Festival arbeitet also ziemlich zielgerichtet an sich selbst als internationaler Marke, die wirtschaftlich stark sein soll. Und das bedeutet, dass Kulturförderung eigentlich aber erst mal Wirtschaftsförderung ist. Welche Kultur dann von der Wirtschaft profitiert, das ist ein schwieriges Thema. Im schlechtesten Fall sind es die Künstler, die sich gut vermarkten lassen und die brauchen dann eigentlich keine Kulturförderung mehr. Insofern frage ich mich so ein bisschen, ob dieser Ansatz tatsächlich so gut gewählt ist, in einen Anchor Award zu investieren. Zumal das ganz konkret bedeutet, dass eine internationale Jury bezahlt wird. Also: David-Bowie-Produzent Tony Visconti ist in diesem Jahr dabei und auch Shirley Manson, Sängerin von Garbage. Und ja: Das sind keine Newcomer, sondern eben bereits etablierte Künstler. Diskussionsrunden zur Stärkung von Frauen in der Musikindustrie Ziehn: Es gibt jetzt eben nicht nur sehr viel Musik beim Reeperbahn Festival, sondern auch Diskussionsrunden und sogenannte Panels. Wo liegen da in diesem Jahr die Schwerpunkte? Worüber wurde besonders viel gesprochen? Reil: Ja, das ist ganz interessant. Ein Schwerpunkt war in diesem Jahr die Stärkung von Frauen in der Musikindustrie - auf der Bühne, aber auch hinter der Bühne. Und das ist eine starke Botschaft, die mehr als ein Symbol ist. Das Projekt "Keychange" wurde prominent vorgestellt. Das ist ein internationales Netzwerk, das Frauen unterstützen will - auch finanziell übrigens -, um die Männerdominanz in der Musik abzubauen. Musikerin Jade Bird live auf dem Reeperbahnfestival 2017 (imago stock&people/Future Image) Es gibt da auch ein erstes, schönes Ergebnis: Sieben Festivals - in Island, Spanien, Großbritannien, Schweden, Estland, Kanada und eben hier in Deutschland - die haben sich nämlich darauf geeinigt. Sie wollen darauf hinarbeiten, dass sie innerhalb der nächsten fünf Jahre 50 Prozent Frauen in ihrem Line-up vertreten haben. Und eine Unterstützerin von "Keychange", die bereits erwähnte Shirley Manson - gerade weil sie viel in ihrer Karriere erreicht hat, will sie junge Frauen durch ihr Vorbild ermutigen, wie sie sagt. Shirley Manson: I mean I don’t have nothing to gain or loose at this point. I have my career. I have a really great career. And I now see that I have an opportunity to enable women who are behind me to have an easier run than I did. You know I am aggressive, and I am articulate and well-educated and that has served me well in the music industry. I just think of myself as a woman in the world and I have a lot of young women in my life and I feel I can be their Jeanne d'Arc. And that's what I intend to do. Reil: Ja. Kämpferisch wie Jeanne d'Arc, so gab sich Shirley Manson auch in vielen Diskussionen. "Ein unglaublich weites Spektrum, was da präsentiert wurde" Ziehn: Sie haben sich jetzt so ganz viel Livemusik angehört, waren in ganz vielen Clubs unterwegs. Irgendetwas gefunden, was Sie so richtig überrascht und begeistert hat? Reil: Ja, das war natürlich wieder ein unglaublich weites Spektrum, was da präsentiert wurde. Aber mich hat eine Band aus Australien kalt erwischt: Gold Class heißen sie. Die haben gerade ihr zweites Album veröffentlicht. Das ist dystopischer Postpunk à la Joy Division. Live haben die unglaublichen Druck gemacht, ohne jemals abzufallen. Der Sänger blass und athletisch mit kurz geschorenen Haaren - ein bisschen wie "gefangen in eigenen schönen Körper". Zuckende Armebewegungen, manchmal hat er sich fast mit dem Mikrofonkabel erwürgt. Also wirklich deutlich gelitten. Sicherlich war das viel Show, aber der Sound entspricht eben dem Zeitgeist - da kam Unbehagen auf und Isolation. Und das hat mich beeindruckt. Ziehn: Schade, dass man das im Radio nicht sehen kann, wenn wir den song gleich hören. Juliane Reil aus Hamburg, ganz herzlichen Dank! Die 12. Ausgabe des Reeperbahn Festivals geht heute zu Ende. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Juliane Reil im Gespräch mit Sascha Ziehn
Das Reeperbahn Festival gilt als eine der größten und wichtigsten Plattformen für junge Künstler, Newcomer und die Musikindustrie. Es findet mitten in den Clubs von St. Pauli statt. Auch in diesem Jahr gab es zudem wieder viele Diskussionsveranstaltungen und Panels.
"2017-09-23T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:52:31.783000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reeperbahn-festival-2017-newcomertreffen-rund-um-den-kiez-100.html
922
Raus aus dem Burkini, rein in den Burkini
Eine Frau posiert in einem Burkini in einem Geschäft. (dpa/ picture-alliance/ Subel Bhandari) Ein Video auf YouTube zeigt sieben Frauen im Gemeinde-Schwimmbad von Grenoble, die Ende Juni im Freiluftbecken planschen und singen: "Wir baden!" Ihr Slogan klingt trotzig. Denn die Frauen tragen Burkini, den muslimischen Ganzkörper-Badeanzug. Das aber widerspricht der Schwimmbad-Hausordnung, die Frauen werden hinauskomplimentiert. Dann treten die Bademeister in Streik, das Freibad bleibt zwei Tage lang dicht. Während die Affäre in Frankreich hohe Wellen schlägt. Ganz wie vor drei Jahren, als Musliminnen im Burkini an Stränden im Süden des Landes gesichtet wurden. Mehrere Gemeinden hatten daraufhin das Zurschaustellen von Symbolen religiöser Zugehörigkeit am Strand explizit verboten. Hinter der Aktion im Schwimmbad von Grenoble nun steckt der Verein "Alliance Citoyenne", ein Zusammenschluss von Bürgern, die ungerechte Behandlung im öffentlichen Leben anprangern. Getreu dem US-amerikanischen Vorbild des "Community organizing". Taous Hammouti von "Alliance Citoyenne" erklärt im Privatradio RMC, warum sie und ihre Mitstreiterinnen im Freibad von Grenoble den Burkini anlegten. "Die Schwimmbad-Hausordnung ist diskriminierend und ungerecht. Sie verhindert, dass wir von den kommunalen Einrichtungen profitieren können. Im Schwimmbad wird uns traditionelle Badebekleidung aufgezwängt, das ist ungerecht." Verbot aus Hygienegründen? Die Mehrheit der Franzosen sieht das anders. Bei einer Meinungsumfrage im August 2016 sprachen sich 64 Prozent der Befragten gegen den muslimischen Ganzkörper-Badeanzug am Strand aus. Wobei: Knapp jedem Dritten war das Thema egal. Anlässlich der Burkini-Affäre in Grenoble verlangt der dortige Bürgermeister eine gesetzliche Regelung, entsprechend dem sogenannten Kopftuch-Erlass, der seit 2004 Jungen und Mädchen verbietet, in öffentlichen Schulen auffällige religiöse Symbole zu tragen. Ein gesetzliches Burkini-Verbot hält jedoch Sibeth Ndiaye für überflüssig. Die Regierungssprecherin erklärt im privaten TV-Nachrichtensender BFMTV, die Aktion der Musliminnen in Grenoble sei, "ein von einer politischen Minderheit instrumentalisierter Fall". Die Schwimmbad-Regeln seien klar. "Sie dürfen nicht oben ohne ins Wasser springen und auch nicht im Burkini. Und zwar aus Gründen der Hygiene und der Sicherheit. Diese Regeln wurden wirklich keineswegs aufgestellt, um Mitglieder dieser oder jener Religionsgemeinschaft vom Schwimmbad fernzuhalten." Ganz so klar ist die Lage allerdings nicht, meint Alain Jean. Jean arbeitet im Pariser Sportministerium und ist Präsident der UFOLEP, der 'französischen Union für das laizistische Werk bei der Leibeserziehung', wichtigster Sport-Verband im Land. Er sagt: "Vom französischen Gesetz wird keinerlei Sportkleidung verboten. Gesetzliche Grenzen gibt es nur betreffs Hygiene und Sicherheit. Beim Burkini geht es um dieselbe Debatte wie im Frühjahr rund um den sogenannten 'Hijab für den Laufsport', eine Kopfbedeckung für Musliminnen, die ein französischer Sportartikelhersteller auf den Markt bringen wollte. Wenn nun ein Burkini nicht gegen die Hygienevorschriften verstößt, ist er erlaubt. Und auf die Frage, ob er die Sicherheit der Trägerin und anderer Sportler gefährdet, lautet die Antwort: Nein." "Im Sport haben religiöse Kennzeichen nichts verloren" "Die freie Glaubensäußerung hat Vorrang, wenn dies nicht die öffentliche Ordnung stört." Daran erinnert eine neue Broschüre des Sport- und Jugendministeriums in Paris. Der Leitfaden im Bereich "Laizität und Sport" detailliert auf 64 Seiten, die rechtlichen Vorgaben und gibt konkrete Fallbeispiele. Ein Thema: Burkini im Gemeindebad. Dazu heißt es in der Broschüre, es stehe den Einrichtungen frei, das Thema in ihrer Hausordnung zu regeln. Im Streitfall solle die Direktion bei einem Gespräch die objektiven, hygienischen Gründe für das Verbot des Ganzkörper-Badeanzugs erläutern. Zur Burkini-Schwimmbad-Affäre hat sich Sportministerin Roxana Maracineanu nicht geäußert. Wohl aber zum 'Lauf-Hijab'. Der sorgte für solche Schlagzeilen, dass der Fabrikant zurückruderte. Obgleich die Sportministerin damals twitterte: "Ich möchte alle Frauen, Mütter, junge Mädchen, überall dort abholen, wo sie sind und egal, wie sie sind. Sie ermutigen, Sport zu treiben. Denn der Sport ist, und davon bin ich überzeugt, ein machtvoller Hebel der Emanzipation." Die Sportministerin, ehemals erfolgreiche Wettkampfschwimmerin, setzt auf das Motto "Sport für alle". Doch ihre Toleranz gegenüber Sportbekleidung nach muslimischem Schnitt wird von vielen Landsleuten nicht geteilt. Vor allem nicht von den Feministinnen, die für eine strikte Auslegung des Laizitäts-Prinzips sind. Linda Weil-Curiel kämpft seit langem gegen den Einfluss des politischen Islam im Sport. "Im Sport haben religiöse Kennzeichen nichts verloren. Natürlich geht es an erster Stelle um den islamischen Schleier. Wenn wir das durchgehen lassen, werden bald Katholiken ein Kreuz auf ihr Trikot nähen und Juden mit Kippa zum Sport kommen." Im Sportclub werden Probleme im Dialog geregelt Glaubensäußerungen in Worten, Symbolen und Textilien sind in Frankreichs Sportwelt ein Thema. Die UFOLEP, wichtigster Amateur-Sportverband, hat im März für ihre Mitglieder einen Leitfaden verfasst, eine Premiere. Dabei gibt Verbands-Präsident Arnaud Jean zu: "Mir ist kein Fall bekannt, dass einer unserer Sportclubs uns Verstöße gegen das Laizitäts-Prinzip gemeldet hätte. Das soll nicht heißen, dass es so etwas nicht gibt. Aber bis zu uns an der Verbandsspitze durchgedrungen ist nichts." Eventuelle Probleme würden lokal im Sportclub geregelt, im Dialog, meint auch Julien Gazille vom 'französischen Verband Sport für alle'. "Ein Beispiel: Eine Person jüdischen Glaubens konnte an gewissen Tagen wegen ihrer religiösen Praktiken nicht zu unserem Sporterzieher-Kurs kommen. Natürlich hat sie das Recht, ihren Glauben frei auszuüben, solange sie dabei niemanden stört. Aber bei der Ausbildung ist eine gewisse Stundenzahl vorgeschrieben. Der Club hat es der Person ermöglicht, die Kursstunden nachzuholen." Schulung in "republikanischen Werten und Laizität" Eine gütliche Einigung funktioniert nur, wenn das Laizitäts-Prinzip respektiert wird. Radikalisierte jedoch pfeifen darauf. Das weiß auch Julien Gazille. In seinem Sportverband ist er als 'Referent für staatsbürgerliche Fragen' tätig. Der Posten wurde nach den islamistischen Attentaten im Januar 2015 in Paris geschaffen, dank der von der damaligen Regierung angeordneten Präventionskampagne. Seither werden landesweit Sportclub-Mitarbeiter zum Thema 'Republikanische Werte und Laizität' geschult. Vor drei Jahren veröffentlichte das Sportministerium eine Broschüre zur Radikalisierung im Sportbereich. Denn laut polizeilichen Ermittlungen haben alle islamistischen Attentäter in Frankreich eines gemeinsam: Sie betrieben intensiv Sport - Boxen, Kampfsport, Fußball. Im November 2017 wurde der Fall von zwei radikalisierten Fußballtrainern in einem Verein im Pariser Großraum bekannt. Im privaten TV-Infosender BFMTV erklärte Rathaussprecher Pierre Tebaldini: "Wir wissen sicher von einem Gebet, das die beiden Trainer auf dem Fußballfeld veranstaltet haben. Als Vorsichtsmaßnahme haben wir sie aufgefordert, zu gehen." Das ist kein Einzelfall. Das Problem der Radikalisierung im Sportbereich sei nicht ausreichend durchleuchtet, heben zwei Abgeordnete der Nationalversammlung in ihrem kürzlich erschienenen Bericht zu 'Öffentlicher Dienst und Radikalisierung' hervor. Die Sportorganisationen verdoppeln ihr Engagement im Bereich Aufklärung. Doch einen Burkini als erstes Anzeichen einer Radikalisierung zu werten, erscheint wenig angebracht. Entwickelt hat diese keusche Bademode eine Muslimin in Australien, als praktische Sportbekleidung für gläubige Frauen. Während hingegen für Islamisten generell Frauen weder im Schwimmbad noch am Strand etwas verloren haben, ob nun im Bikini oder im Burkini.
Von Suzanne Krause
Frankreichs Prinzip der Laizität wird auch am Strand und im Schwimmbad verteidigt. Religiöse Kleidung ist oft unerwünscht. Doch Musliminnen protestieren dagegen. Die staatliche Broschüre "Laizität und Sport" stellt es den Schwimmbädern frei, den Ganzkörperbadeanzug zu erlauben.
"2019-07-16T09:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:01:46.668000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-raus-aus-dem-burkini-rein-in-den-burkini-100.html
923
Verlage entdecken neue Zielgruppen
Kaum ein Youtuber schreibt sein Buch selbst. Die Arbeit leistet meist ein Verlag. (dpa / picture alliance / Britta Pedersen) "What's up, my german bros'. Deutschland. As you may know I wrote a book. It's called "This Book Loves You". Ich liebe das book. Is that how you say it? I should know this. Haha." Kumpelhaftes Lachen, Kapuzenpullover, Dreitagebart. Wie der nette Student von nebenan sieht er aus, der erfolgreichste Youtuber der Welt: Felix Kjellberg, der sich PewDiePie nennt. Auf seinem Youtube-Kanal läd der 26-jährige Schwede regelmäßig lustige kurze Clips hoch, vor allem Let's Plays, in denen er Videospiele spielt und sie dabei kommentiert. "Dieses Buch liebt dich" heißt sein erstes Buch. "It's basicly a inspirational book, that will change your life forever. It's filled with pretty pictures. What else do you want?" Kjellberg verspricht nichts weniger als ein Buch, dass das Leben seines Lesers für immer verändern wird. Kaum Text, viele Fotos, Illustrationen und ein paar lustig gemeinte Sprüche finden sich darin: "Vergiss nie, du bist schön, verglichen mit einem Fisch" zum Beispiel. Dieses Buch liebt dich? "Ich glaube ich hab gelogen", steht auf der letzten Seite. Immerhin ehrlich. Es ist schneller durchgeblättert, als man eines von PewDiePies Videos anschauen kann, und bietet kaum Mehrwert. Der wird auch gar nicht erwartet, meint Katrin Baumer, Social Media-Expertin vom Mediennetzwerk Bayern. "Man muss bei Youtubern immer auch mitdenken, dass sie keine Autoren sind und dass sie auch einfach nicht aus der Verlagsbranche kommen. Ich glaube auch nicht, dass die Verlage wollen, das ein Youtuber dann tatsächlich einen Roman oder eine Biografie liefert. Ich glaube dass die Verlage versuchen, die Youtube-Channels in Buchform darzustellen. Und dass die Youtuber selbst eigentlich nicht so viel arbeiten." Das Potenzial der Youtuber sind die Fans Kaum ein Youtuber schreibt sein Buch selbst. Die Arbeit leistet meist ein Verlag. Der riva Verlag in München zum Beispiel arbeitet seit drei Jahren mit Youtuber-Autoren zusammen. Mit dem Beatboxer Alberto Trovato, dem Comedy-Duo Die Aussenseiter und der Beauty-Vloggerin Michelle Phan. "Hey guys I eave exciting news. I'm finally coming out with my own book. Tadaaa." Tina Nollau vom riva Verlag sieht das Potenzial der Youtuber vor allem in der schieren Masse der Fans. Ton Nollau "Die Reichweite ist natürlich enorm. Wir haben Autoren, die Youtuber sind, wie zum Beispiel Michelle Phan. Die hat 8 Millionen Abonnenten für ihren Kanal. Da erreicht man natürlich eine Menge potenzielle Leser oder Käufer für die Bücher." Der Kanal von PewDiePie hat sogar rund 40 Millionen Abonnenten - mehr als die großen Pop-Stars Beyoncé und Taylor Swift zusammen. Er ist selbst ein Star. Katrin Baumer vom Mediennetzwerk Bayern betrachtet Bücher von Youtubern dementsprechend vor allem als Merchandise-Artikel. "Also warum kaufe ich mir ein Buch von einem Youtuber oder warum kaufe ich mir einen Fanartikel? Ich will etwas physisches von dieser Person im Zimmer haben. Das stellt man sich dann ins Regal und dann fühlt man sich der Person näher." Sowohl die Youtuber als auch die Verlage können dabei nur gewinnen. Die einen können sich besser vermarkten, die anderen profitieren von der Bekanntheit der Stars. Der riva Verlag erhofft sich neben guten Verkaufszahlen aber auch eine ganz neue Zielgruppe. "Gerade die jüngeren Menschen, die leider immer weniger lesen, möchten wir auf diese Weise zum Buch zurückbringen. Indem wir ihre Helden, ihre Lieblinge, die Leute, die sie gut finden einfach auch in Buchform präsentieren." Ein großes Potenzial Daneben können die traditionellen Verlage auch von den crossmedial arbeitenden Youtubern lernen, meint Tina Nollau.. "Die kennen natürlich ihre Zielgruppe. Entweder weil sie selber in dem Alter sind oder weil sie sich sehr, sehr intensiv austauschen mit ihren Fans und mit der Zielgruppe, die sie ansprechen wollen. Da erfährt man dann ganz spannende Sachen, was bei jungen Menschen angesagt ist, worauf die wert legen. Das ist für uns immer ganz gut." Ob Verlage so wirklich dauerhaft eine junge Zielgruppe für sich gewinnen können, sei dabei erst mal gar nicht so wichtig, meint die Social-Media-Expertin Katrin Baumer. Das Ganze sei eher als großes Experiment zu verstehen. "Die wissen ja selber nicht, wo es hinführt. Wir wissen ja auch nicht, wo Youtube hinführt, was mit den Youtubern wird. Wie das mit den Fans ist, ob die wirklich auf Dauer bleiben. Ich sehe das als große Spielwiese, auch für die Verlage, die einfach Mut zeigen, die sich einfach in neue Richtungen bewegen wollen und ausprobieren wollen." PewDiePie: "Dieses Buch liebt dich"rororo, 2015, 240 Seiten, 9.99 Euro.
Von Isabelle Klein
Youtuber machen Videos - das allein stimmt schon lange nicht mehr. Youtuber machen auch Werbung für Firmen und einige schreiben Bücher. Klingt altmodisch, aber die Verkaufszahlen sprechen für sich. Heute erscheint nun auch das erste Buch des erfolgreichsten Youtubers der Welt, PewDiePie. Der bescheidene Titel: "Dieses Buch liebt dich".
"2015-10-30T15:05:00+01:00"
"2020-01-30T13:06:49.666000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buecher-von-youtubern-verlage-entdecken-neue-zielgruppen-100.html
924
Keine Kompromissbereitschaft der Russen oder des syrischen Regimes
Daniel Gerlach, Chefredakteur der Zeitschrift "Zenith" (Zenith) Peter Kapern: Eilmeldung aus Moskau heute Früh: "Wir sind bereit, in München über einen Waffenstillstand für Syrien zu sprechen." So zitierte die Nachrichtenagentur Reuters den stellvertretenden russischen Außenminister Gennadi Gatilow. Dieser Waffenstillstand wäre ja schon ein gutes Stück näher gerückt, wenn die russische Luftwaffe ihre Angriffe auf Aleppo einstellen würde. 50.000 Menschen sind bislang aus der Stadt geflohen, sagen die Vereinten Nationen. 300.000 sind noch dort und denen gehen jetzt auch noch die Wasservorräte aus. Keine Frage: Es steht viel auf dem Spiel heute Nachmittag in München. In unserem Hauptstadtstudio in Berlin ist Daniel Gerlach, Chefredakteur von "Zenith", der Zeitschrift für den Orient. Guten Tag, Herr Gerlach. Daniel Gerlach: Guten Tag. Kapern: Herr Gerlach, wenn Moskau nun signalisiert, über einen Waffenstillstand sprechen zu wollen, wie ist das zu bewerten? Gerlach: Na so, wie es vorher zu bewerten war. Die russische Regierung und ihre syrischen Verbündeten in Syrien werden meiner Meinung nach dann einen Waffenstillstand eingehen, wenn es ihnen gelungen ist, die Opposition soweit niederzukämpfen, dass de facto sich Waffenstillstandsverhandlungen eigentlich erübrigen. Man kann jetzt nicht davon ausgehen, dass die Russen oder das syrische Regime in irgendeiner Form kompromissbereit wären, und wir haben es hier ja auch mit einem sehr asymmetrischen Verhältnis zu tun. Wir müssen ja gucken, wer verhandelt hier eigentlich in München mit wem. Die eine Macht, nämlich Russland, ist militärisch offensiv aktiv. Das heißt nicht, dass Amerikaner und Europäer nicht aktiv wären in Syrien, aber sie greifen nicht auf diese Art und Weise in den Konflikt ein. Und das Szenario ist ganz klar: Russland wird versuchen, der syrischen Armee dazu zu verhelfen, an die türkische Grenze vorzudringen und die Nester der bewaffneten Opposition von ihrer Nachschublinie abzuschneiden und ein Korridor zu errichten, der von der Mittelmeerküste entlang der Grenze bis in die kurdischen Gebiete gehen soll. Das ist das Szenario, was Russland im Schilde führt, und da kann man jetzt viel verhandeln, aber bis das nicht durchgesetzt ist, wird man auch nicht mit einem Waffenstillstand rechnen können. "Was sind die Voraussetzungen dafür, das Blutvergießen zu verändern?" Kapern: Wie weit ist denn dieser Punkt noch entfernt, von dem Sie sagen, das sei der Punkt, an dem die Opposition im Prinzip niedergekämpft sei? Gerlach: Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es hängt auch davon ab, ob die Regime-Truppen und ihre Verbündeten es tatsächlich jetzt wagen werden, nicht nur Aleppo einzuschließen - Aleppo, die ehemals Millionenstadt, in der immer noch einige hunderttausend Menschen leben -, im Norden, eigentlich die zweitwichtigste Stadt Syriens, ob sie wirklich eindringen wollen in die Stadt und die Stadt versuchen werden zu kontrollieren, oder ob sie sie nur einschließen wollen, um dann im Grunde die Verbindungen in die Türkei zu kappen. Ich denke mal, das steht jetzt als erstes auf der Agenda, weil das mit weit weniger Aufwand und Risiken verbunden ist, denn eine Stadt wie Aleppo zu kontrollieren, das ist gefährlich und auch verlustreich. Ich denke, das hängt von verschiedenen Faktoren ab, aber theoretisch ist das Regime und sind seine Verbündeten von diesem Szenario nicht mehr sehr weit, und wir sehen ja auch, dass die sogenannten kurdischen Selbstverteidigungskräfte auch von dieser Situation profitieren und versuchen, diesen Korridor auch ein Stück weit zu schließen. Das ist im Grunde ein Szenario, was schon seit letztem Sommer diskutiert wird, und seit dem Eingreifen Russlands im Herbst, das dann ja auch ohne Gegenwehr stattgefunden hat, konnte man eigentlich sehen, dass dieses Szenario sich immer weiter verdichtet. Kapern: Könnte man denn verhindern, dass das russische Kalkül aufgeht? Oder anders gefragt: Sollte man, darf man überhaupt versuchen, das zu verhindern, oder würde das alles dann noch schlimmer machen? Gerlach: Die Frage, ob man das sollte oder ob man das darf, möchte ich Ihnen hier nicht beantworten. Ich kann Ihnen aber sagen, ob man es verhindern könnte, und ich denke, ja. Nur wir müssen uns über eines im Klaren sein: Was sind die Voraussetzungen dafür, nicht für eine politische Veränderung im Land oder für den Sturz des Regimes, sondern dafür, das Blutvergießen zu verändern? Die eine Möglichkeit ist, dass sich die verschiedenen Konfliktparteien auf einen Waffenstillstand einigen. Die andere ist, dass eine der Konfliktparteien mit Waffengewalt den anderen für sich in eine Position bringt, den anderen ihren Willen mit militärischen Mitteln aufzuzwingen und sie quasi gewaltsam zu entwaffnen. Die Russen sind der Ansicht, dass sie im Interesse einer Konfliktlösung handeln, wenn sie einer Seite, nämlich dem syrischen Regime, zu einem militärischen Sieg verhelfen, und ich habe schon den Verdacht, auch wenn es sehr heftig kritisiert wird, dass sich im Westen, auch in der westlichen Diplomatie, aber auch in einigen Regionalmächten vor Ort im Nahen Osten die Überzeugung durchgesetzt hat, wenn man nicht selber militärisch aktiv werden möchte, dann lässt man sich wohl oder übel auf dieses Szenario ein. Man kritisiert es zwar und wirft Russland vor, hier für die Flüchtlingsströme verantwortlich zu sein; letztendlich ist es aber vielleicht auch ganz opportun zu sagen, dann wird dieser Konflikt mit Gewalt beendet, in der Hinsicht, dass das Assad-Regime wieder errichtet wird und ihr Herrschaftsmonopol etabliert. Was dann mit dem sogenannten Islamischen Staat passiert, ist eine andere Geschichte. Ich weiß nicht, ob wir das noch Zeit haben, jetzt zu diskutieren. "Der sogenannte Islamische Staat legitimiert das Assad-Regime" Kapern: Das machen wir garantiert gleich noch anschließend. Aber zunächst muss ich Sie noch fragen, Herr Gerlach: Wer sind diese Regionalmächte, auf die Sie gerade angespielt haben, die sozusagen stillschweigend den militärischen Sieg der Seite Baschar al-Assads und Moskaus hinnehmen? Gerlach: Ich denke, dass zum Beispiel Ägypten eine solche Macht ist, eine arabische Führungsmacht, auch andere arabische Staaten, die ihre Haltung in dieser Angelegenheit geändert haben. Ich denke auch, dass selbst bei den Golf-Staaten man beobachten konnte, dass die uneingeschränkte militärische und finanzielle Unterstützung der bewaffneten Oppositionsgruppen in den letzten Wochen ziemlich abgenommen hat. Da geht es natürlich jetzt um die Glaubwürdigkeit. Saudi-Arabien möchte sich damit nicht abfinden, die Türkei eigentlich auch nicht. Aber mangels Alternativen muss man sich natürlich fragen: Entweder geht man jetzt ganz rein, oder gar nicht. Es gibt natürlich die Möglichkeit, seitens Saudi-Arabiens oder der Türkei die wenigen bewaffneten Rebellen, die es noch gibt, mit Luftabwehrgerät auszurüsten. Die Möglichkeit gibt es. Das haben aber meiner Beurteilung nach die Amerikaner und andere westliche Mächte, die mit diesen Mächten ja irgendwie im Bündnis stehen, insbesondere mit der Türkei, nicht zulassen wollen. Die Frage ist, ob das jetzt militärisch tatsächlich den Kriegsverlauf völlig verändert hätte. Dies steht jetzt noch außen vor. Aber es hätte durchaus die Möglichkeit gegeben, natürlich diese bewaffnete Opposition stärker aufzurüsten. Dafür hätte man ihr aber tatsächlich vertrauen müssen und das sehe ich trotz aller Loyalitäts- und Sympathiebekundungen derzeit eigentlich nicht gegeben. Kapern: Ja, Herr Gerlach, und jetzt haben wir noch knappe zwei Minuten, um zu erörtern: Was passiert mit dem IS, wenn tatsächlich das russische Kalkül eines Sieges über die Rebellen aufgeht? Gerlach: Ja. Der sogenannte Islamische Staat legitimiert das Assad-Regime und legitimiert auch andere politische Projekte in der Region. Das heißt, der Islamische Staat ist derzeit weder das, was dem Assad-Regime das größte Kopfzerbrechen macht, geschweige denn den Russen, sondern es ist im Grunde ein willkommener Feind, mit dem man sich später beschäftigen kann, denn wenn die Alternative da ist, entweder Daesch, dieser sogenannte Islamische Staat, dieses Terrorkalifat, oder das Assad-Regime, dann ist wohl völlig klar, für wen sich die internationale Diplomatie entscheiden wird, und dieses Szenario herzustellen, ist eines der Sekundärziele dieser derzeitigen Kampagne. Kapern: Das heißt, der IS verhilft Baschar al-Assad nun erst mal zum Überleben, und wie man dann mit dem Problem anschließend umgeht, das ist völlig unkalkulierbar bislang? Gerlach: Unkalkulierbar ist das nicht. Ich gehöre zu denjenigen, die auch schon seit 2014 behaupten, dass dieser sogenannte Islamische Staat militärisch schlagbar ist, dass nur die entsprechenden Weichen gestellt werden müssten und vor allem man zeigen müsste, dass man auch diesen Islamischen Staat schlagen will. Diesen Eindruck habe ich nicht, dass das tatsächlich in letzter Konsequenz geschehen ist in der vergangenen Zeit, und es ist auch keine Verschwörungstheorie zu sagen, dass dieser sogenannte Islamische Staat vielen Mächten in der Region, insbesondere aber dem Assad-Regime Legitimität verliehen hat und letztendlich dafür verantwortlich ist, dass sie überhaupt noch existieren. Kapern: … sagt Daniel Gerlach, der Chefredakteur der Zeitschrift "Zenith". Herr Gerlach, danke, dass Sie heute Mittag Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag! Gerlach: Ich danke Ihnen auch gleichfalls. Kapern: Tschüss nach Berlin! Gerlach: Tschüss! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Daniel Gerlach im Gespräch mit Peter Kapern
Russland hat sich bereit erklärt, über eine Waffenruhe für Syrien zu reden. Daniel Gerlach, Chefredakteur der Zeitschrift "Zenith" ist skeptisch. Moskau und seine syrischen Verbündeten würden erst dann einen Waffenstillstand eingehen, wenn es ihnen gelungen ist, die Opposition soweit niederzukämpfen, dass sich Waffenstillstandsverhandlungen "de facto erübrigen", sagte er im DLF.
"2016-02-11T12:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:13:15.154000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-den-syriengespraechen-in-muenchen-keine-100.html
925
Zwischen Gentechnik und Ökozucht
Landwirte müssen ihr Saatgut teuer bezahlen. (imago/ Joker/Erich Haefele ) Eine riesige Halle mit hoher Decke – bis auf ein paar Kisten mit Mohrrüben steht sie leer. An der rechten Wand läuft eine Arbeitsfläche aus Metall entlang, hier sortieren zwei Männer in Arbeitskleidung Möhren. Wir befinden uns im holländischen Nunhem, einem kleinen Ort an der Grenze zu Deutschland. Hier züchtet die Saatgutfirma Nunhems seit hundert Jahren Gemüse. Inzwischen gehört Nunhems zum Konzern Bayer aus Leverkusen. Uwe Dijkshoorn arbeitet hier als sogenannter Markenmanager: "Was wir hier machen, ist das Aussuchen von verschiedenen Sortierungen von neuen Sorten. Weil, wir möchten gerne wissen, wie viele gute Möhren die Sorte produziert." Uwe Dijkshoorn tritt an die Arbeitsfläche und hält eine Möhre in die Höhe: "Wie Sie hier sehen, das sind zum Beispiel Möhren, die haben einen Riss, das ist ein negativer Aspekt, wir möchten gerne nur Möhren haben, die eine glatte Haut haben, ohne Risse, dass die nicht gespalten sind, und auch ohne Grünkopf hier oben dran. Das wird später in die Evaluation mitgenommen: Wie gerade sind die Möhren, wie abgetropft sind sie am Ende - dass die rund sind und nicht in einer Spitze enden." Ein Mitarbeiter legt diejenigen Möhren, die alle diese Merkmale erfüllen, in eine Kiste und wiegt sie. Eine Sorte muss gleichbleibende, also homogene Merkmale haben, anhand derer sie sich von anderen Möhrensorten unterscheidet. Nur dann erteilt das Bundessortenamt ihr die Zulassung: Diese Möhre bekommt dann einen eigenen Namen, unter dem sie verkauft werden darf. Sämtliche Gemüsepflanzen werden durch klassische Züchtung gewonnen Jetzt packt der Mitarbeiter eine große Handvoll Karotten und schmeißt sie mit voller Wucht auf den Boden – etwa jede dritte zerbricht. "Alle Proben werden auch mit der Fallprobe getestet. Im Feld haben wir vielleicht 100 Versuchssorten ausgesät, und da möchten wir gerne den Agrarwert wissen. Das wird notiert, am Ende des Jahres werden die Resultate von verschiedenen Versuchsfeldern zusammengenommen, und dann müssen wir uns entscheiden, mit welcher Sorte gehen wir weiter, oder welche Sorte können wir in den Verkauf einführen." "Wir arbeiten an 25 verschiedenen Gemüsesorten, zum Beispiel Melone, Paprika, Tomate, Gurke, jeweils verschiedene Unterarten dieser Sorten, Salat, Möhren, Lauch, Sellerie und Spargel." Coert Engels arbeitet als leitender Züchter in Nunhem. Hier züchtet Bayer Crop Science so ziemlich alle Gemüsesorten, die heutzutage im Supermarkt im Angebot sind. Engels leitet verschiedene Teams, die jeweils eine Sorte über mehrere Jahre bis zur gewünschten Perfektion führen. Bayer designt seine Pflanzen nach den Wünschen der Kunden – das sind die Gemüsebauern und Gärtner. "Sie brauchen Produkte, mit denen sie Geld verdienen können. Da geht es dann darum, höhere Erträge zu erzeugen, das Ernten zu erleichtern und solche Dinge. Außerdem züchten wir für die Wünsche der Konsumenten, sie interessieren sich für den Geschmack und dafür, wie das Gemüse aussieht." Sämtliche Gemüsepflanzen der Marke Nunhems werden durch klassische Züchtung gewonnen, also durch Kreuzung verschiedener Sorten und anschließender Auswahl der Besten für die Weiterzucht. Bayer setzt im großen Stil auf Saatgut Bayer hat mit Nunhems in den Niederlanden und weiteren Standorten - darunter Indien, Mexiko und Nordamerika - bisher einen Anteil von drei Prozent am weltweiten Saatgutmarkt. Gentechnisch verändertes Saatgut ist bis jetzt eher ein Nischenprodukt des Konzerns. Bayer will im ganz großen Stil in den Weltmarkt für Gen-Saatgut einsteigen. (picture alliance / Patrik Stollarz, John Thys) Das soll sich in Zukunft bekanntlich ändern. Bayer will im ganz großen Stil in den Weltmarkt für Gen-Saatgut einsteigen. Im September traten zwei Männer mit strahlenden Gesichtern vor die internationale Presse. Werner Baumann ist Vorstandsvorsitzender von Bayer: "Dies ist wirklich ein historischer Tag für Bayer und Monsanto. Wir verpflichten uns voll und ganz, bei der Lösung einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen zu helfen: eine stark wachsende Weltbevölkerung nachhaltig zu ernähren." "Wenn es mir nicht direkt im Halse stecken bleiben würde, würde ich über diesen Teil der Pressemitteilung aus dem Hause Bayer zur Fusion mit Monsanto lachen." Elvira Drobinski-Weiß ist verbraucherpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag: "Denn Monsantos Geschäftsmodell ist ja bekanntermaßen sehr weit entfernt von allem, was tatsächlich nachhaltig ist. Das betrifft vor allem das gentechnisch veränderte Saatgut, mit dem der Konzern einen großen Teil seines Geldes verdient. Seit Jahrzehnten verspricht Monsanto, dass damit der Hunger in der Welt besiegt werden kann. Genau das steht jetzt auch wieder in der eingangs zitierten Pressemitteilung. Ich bin so leid, diese Versprechen dauernd zu hören – es gibt sie nämlich nicht, diese wunderbaren Pflanzen, die Dürren besser überstehen oder Kleinbauern in Entwicklungsländern höhere Erträge bringen." Dürreresistenz oder Salztoleranz, das sind Eigenschaften, die in vom Klimawandel geplagten Regionen die Erträge steigern können. Doch nach diesen Eigenschaften sucht man bei gentechnisch veränderten Pflanzen bisher vergeblich. Lediglich einen trockenheitsverträglichen Mais haben Monsantos Genetiker bisher zur Marktreife geführt - während die konventionelle Zucht im gleichen Zeitraum rund 50 dieser dürreverträglichen Maissorten hervorgebracht hat, die zudem noch weniger Wasser brauchen. Marktanteil von rund 30 Prozent Monsanto verdient sein Geld bisher hauptsächlich mit Gen-Pflanzen, die gegen Glyphosat unempfindlich sind – das ist das umstrittene Pflanzenschutzmittel, das der Konzern ebenfalls äußerst erfolgreich weltweit verkauft. Bisher wurden vor allem Mais und Soja gentechnisch verändert, außerdem Baumwolle und Raps. Diese Pflanzen sind nicht für die Ernährung der Menschen in den Anbauländern gedacht. Stattdessen wandert die Ernte in die Futtertröge in Nordamerika und Europa oder in die Tanks von Autos. Die Ernte wandert oft in die Futtertröge in Nordamerika und Europa. (picture alliance / dpa / Axel Heimken) "Das hilft nirgendwo auch nur einem hungernden Kind. Die 'Wir besiegen den Hunger'- Slogans sind reine PR, mehr nicht." Mit der Übernahme von Monsanto würde Bayer zum weltgrößten Produzent von Saatgut aufsteigen, der Marktanteil betrüge dann rund 30 Prozent – der überwiegende Anteil davon kommt aus dem Hause Monsanto und ist gentechnisch verändert. Dazu kommen die Pflanzenschutzmittel, auch hier betrüge der Marktanteil dann etwa ein Viertel der Weltproduktion: "Wir freuen uns auf die Zukunft und auf eine neue Ära der Landwirtschaft. Ich bin sehr stolz darauf, dass Monsanto diesen Weg vorbereitet hat." Mit einer versprochenen Kaufsumme von 66 Milliarden Euro hat der Geschäftsführer von Monsanto, Hugh Grant, allen Grund sich zu freuen. Die Menschheit auch? "Gemeinsam verfügen beide Unternehmen über ein Forschungs- und Entwicklungsbudget von zweieinhalb Milliarden Euro", argumentiert der Sprecher von Bayer Crop Science, Richard Breum, "es ist damit zu rechnen, dass die Kombination dieser beiden Forschungsplattformen ein sehr starkes Forschungsunternehmen ergeben wird, und dass wir dadurch schneller Innovationen entwickeln können, als es diese Unternehmen alleine könnten." 800 Millionen Menschen müssen heute immer noch hungrig zu Bett gehen Und das könnte dann der Menschheit nützen, zum Beispiel, wenn neue Pflanzenkrankheiten die Ernten bedrohen. Bayer Crop Science setzt dabei auf verschiedenste Zuchtverfahren, betont Breum: "Dass Gentechnik das Instrument ist, um den Welthunger zu bekämpfen, würde Bayer sicher nie sagen. Denn alleine kann eine Technologie so ein komplexes Problem mit Sicherheit nicht lösen. Da spielen Faktoren wie Politik, Frieden, Infrastruktur, Bildung, Zugang zu Krediten, alles eine ganz große Rolle. Aber ein Element ist auch die Pflanzenzüchtung dabei, und ein wichtiges Werkzeug der Pflanzenzucht ist auch die Gentechnik." Hunger und Armut: Viele können sich keine Lebensmittel leisten. (picture alliance / dpa / Nic Bothma) 800 Millionen Menschen müssen heute immer noch hungrig zu Bett gehen, obwohl längst genügend Nahrung für rund neun Milliarden Menschen geerntet wird - also deutlich mehr, als tatsächlich gebraucht wird. Vieles davon wird weggeworfen oder verdirbt. Trotzdem gilt: Die Hungernden sind schlicht zu arm, die vorhandenen Lebensmittel zu kaufen. Die Organisation Brot für die Welt unterstützt Bauern dabei, Saatgut selber weiterzuentwickeln, es auszutauschen und in öffentlichen Saatgutbanken aufzubewahren. Brot für die Welt-Sprecher Stig Tanzmann: "Weil wir die Abhängigkeit von Kauf von Saatgut reduzieren wollen, weil das hohe Kosten verursacht für viele Partner, und wir auch im Sinne der Klimaanpassung es als sehr wichtig ansehen, dass Bäuerinnen und Bauern selber noch Saatgut züchten oder zumindest vermehren können, um unabhängig zu sein und auf eine größere Diversität zurückgreifen zu können, denn kommerziell werden viele Feldfrüchte und vieles Saatgut von vielen Früchten gar nicht angeboten." Zum Beispiel Hirse oder die Wurzelfrüchte Yams und Maniok. Diese lokal angepassten Getreide oder Knollenarten finden im tropischen Afrika gute Bedingungen vor und sind wichtige Grundnahrungsmittel. Die großen Saatgut- und Chemie-Konzerne stecken ihre Entwicklungs- und Forschungsgelder allerdings lieber gezielt in Pflanzen, die sich kommerziell gut verwerten lassen, kritisiert der kanadische Entwicklungshelfer und Technikkritiker Pat Mooney: "Die Unternehmen forschen an zu wenigen Sorten; sie reden zwar viel über ihre Forschung, aber tatsächlich investieren sie ihr Geld lieber in Werbung. Angeblich arbeiten sie mit 137 Feldfrüchten, aber wenn man genauer hinsieht, sind es nur etwa zwölf. Ungefähr 45 Prozent aller privaten Forschungsmittel fließen in eine einzige Feldfrucht, nämlich Mais. Die Entwicklung einer gentechnisch veränderten Sorte kostet 136 Millionen, das ist lächerlich teuer und mehr als zum Beispiel Apple in ein neues iPhone investiert. Im Vergleich dazu kostet die Entwicklung einer konventionellen Sorte nur eine Million Euro, wenn sie in öffentlichen Saatgutinstituten gezüchtet wird. Bauern arbeiten weltweit mit 6.883 verschiedenen Sorten, sie haben 2,1 Millionen Varietäten gezüchtet, und wir brauchen diese große Vielfalt, um uns an den Klimawandel anzupassen." Rund zwei Milliarden Kleinbauern in der Welt produzieren nicht nur häufig ihr eigenes Saatgut, sondern auch weit mehr als zwei Drittel der Lebensmittel, die die Menschheit insgesamt verbraucht. Die meisten dieser Landwirte bewirtschaften weniger als zwei Hektar. Dass die bäuerlichen Familienbetriebe die Welt ernähren, war eine der wesentlichen Botschaften des Weltagrarberichts aus dem Jahr 2008, an dem 600 internationale Wissenschaftler im Auftrag der Weltbank gearbeitet hatten. Grundsätzlich hat sich daran auch nichts geändert, bestätigte die Welternährungsorganisation FAO zuletzt in ihrem Jahresbericht von 2014. Sieben Kilo Getreide für ein Kilo Fleisch Die Nichtregierungsorganisation GRAIN hat weitere Zahlen aus den verfügbaren UN-Statistiken abgeleitet: Demnach bewirtschaften die bäuerlichen Familienbetriebe etwa nur ein Viertel des weltweit verfügbaren Ackerlands. Sie scheinen also effizienter zu arbeiten, als wir uns das in Deutschland vorstellen können. "Kinder können sich auch nicht vorstellen, dass Kleinvieh Mist macht", sagt Harald Ebner, Sprecher für Gentechnik bei den Grünen, "aber genau das ist ja das, was Millionen Kleinbauern uns täglich beweisen auf dieser Welt. Die Kleinbauern sind die, die die Welt ernähren, nicht die industrielle Landwirtschaft, auch wenn wir das in schönen Bildern mit großen Mähdreschern sehen." Dass die Bilanz für die industrielle Landwirtschaft so schlecht ausfällt, liegt vor allem daran, dass Großbauern auf dem weit größeren Teil des weltweit verfügbaren Ackerlandes in erster Linie Viehfutter und Biosprit anbauen. Schließlich braucht man im Schnitt sieben Kilo Getreide, um ein Kilogramm Fleisch zu produzieren. Und Biosprit ist eben nicht zum Essen. Wer die bäuerlichen Familienbetriebe fördern und den Hunger an der Wurzel bekämpfen will - denn viele Hungernden sind selber Kleinbauern -, sollte sie zum Beispiel bei ihrer eigenen Zucht mit Saatgutbanken und öffentlichen Forschungsstationen unterstützen. Stattdessen schützen immer häufiger Entwicklungs- und Handelsvereinbarungen das sogenannte geistige Eigentum der Saatgutkonzerne. Bauern wird daher verboten, Saatgut nachzuzüchten, beklagt Stig Tanzmann von Brot für die Welt: "Viele solcher Gesetze sind über Freihandelsabkommen Entwicklungsländern aufgezwungen worden. Solche geistigen Eigentumsrechte sind auch Teil des WTO-Vertrags, das ist aber ein Konzept, was die Rechte von Pflanzenzüchtern über die Rechte von Bäuerinnen und Bauern stellt." Kleinbauern könnten die Hilfe öffentlicher Forschungsstationen gebrauchen: Feldarbeit in Mexiko (Imago) Hybrid-Saatgut besonders ertragreich und widerstandsfähig Nachbaubares Saatgut ist auf dem Markt kaum noch erhältlich. Entweder ist es gentechnisch verändert, dann ist der Nachbau durch Patentrechte geschützt und damit streng verboten. Monsanto hat viele nordamerikanische Bauern, die es trotzdem versucht haben, mit drastischen Strafen in den Ruin getrieben. Aber auch konventionelles Saatgut, wie es zum Beispiel von Bayer in Nunhem hergestellt wird, lässt sich meistens nicht vermehren, zumindest nicht ohne große wirtschaftliche Einbußen bei der folgenden Generation. Es handelt sich nämlich um sogenanntes Hybrid-Saatgut. Hybrid-Saatgut ist besonders ertragreich und widerstandsfähig. Dieser Vorteil entsteht, weil zwei reinerbige Elternlinien miteinander gekreuzt werden. "Die Hybrid-Sorten haben natürlich einen hohen Ertrag, das stimmt, das ist ja auch gut. Nur man muss sehen: Die ganzen Firmen, gerade im Gemüsebereich, sind in Europa vor 40 Jahren ausgestiegen aus der Züchtung der samenfesten Sorten." Erinnert Oliver Willing von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft. Diese Stiftung fördert kleine Züchter in Deutschland, die ökologisches Saatgut produzieren. Kein Hybrid-Saatgut, sondern sogenanntes samenfestes, das Bauern selbstständig nachbauen können. "Ein alter Züchter aus einer konventionellen Saatgutfirma hat mal gesagt zu uns, wenn man vor 40 Jahren die ganze Manpower und das ganze Geld, das man in die Hybridsortenentwicklung gesteckt hat, wenn man das stattdessen in die Entwicklung von Verbesserung der samenfesten Sorten gesteckt hätte, wäre man heute wahrscheinlich genauso weit mit den Erträgen und allem, was Hybrid-Sorten liefern. Das war eine Grundsatzentscheidung damals, weil es natürlich Vorteile für die Firmen gebracht hat. Sie sichern sich die Nachfrage, weil natürlich die Landwirte und die Gärtner jedes Jahr erneut nachkaufen müssen, weil sie die Hybridsorten nicht selber nachbauen können." Zukunftsstiftung Landwirtschaft fördert kleine Züchter Die Zukunftsstiftung Landwirtschaft wird von 4.000 privaten Spendern und den Unternehmen der Biobranche finanziert. Oliver Willing ist überzeugt, dass die ökologische Zucht in den kommenden Jahrzehnten immer bedeutender wird. Bio-Feldfrüchte müssen ohne Inputs wie Mineraldünger und Pestizide auskommen. Deshalb kreuzt man eine größere genetische Vielfalt in das Saatgut ein. Willing nennt diese Vielliniensorten auch Evolutionsramsche. "Bei sogenannten Evolutionsramschen habe ich eben eine starke Vielfalt, weil ich verschiedene Linien zusammen in eine Mischung bringe. Die eine bringt zum Beispiel eine gewisse Toleranz gegenüber Trockenheit mit, die andere eine gewisse Toleranz gegen Feuchtigkeit. Wenn ich dann ein Jahr habe, das feucht ist, dann ist die Linie, die in dem Gemisch mit drin ist, erträgt dann gut die Feuchtigkeit. Wenn ich ein trockenes Jahr habe, ist eine andere Linie stärker und übernimmt dann die Ertragsbildung. Man versucht sozusagen, indem man hier eine genetische Breite auf den Acker bringt, ein größeres Pufferungssystem gegenüber dem (zu schaffen), was wahrscheinlich verstärkt mit dem Klimawandel in den nächsten Jahren auf uns zukommt." Zurück in Nunhem in Holland bei Bayer Crop Science. Auch hier ist das Einkreuzen von Genen, die die Pflanze widerstandsfähig gegen Krankheiten machen, ein wichtiges Züchtungsziel. Uwe Dijkshoorn von Bayer führt durch eine Halle, hier werden die verschiedenen Saaten für das Verpacken vorbereitet. In einem mannshohen Kolben aus Glas blubbert eine gelbe Flüssigkeit mit winzigen Körnern darin: "Was Sie jetzt hier im Zylinder sehen, das ist Paprikasaatgut. Da möchten wir dem Anbauer eine sehr einheitliche Keimung garantieren. Das ist ein Vorkeimungsprozess, am Ende ist das so, dass der Anbauer das aussät, und alle Samen keimen gleichzeitig." Kernlose Wassermelonen und nicht tropfende Tomaten Bayer Crop Science züchtet Melonen, bei denen man den Reifegrad von außen erkennen kann, Tomaten, die nicht tropfen, Wassermelonen ohne Kerne, Möhren, die nicht zerbrechen. Viele dieser neuen Sorten sind als Patent angemeldet. Der Bayer-Konzern will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, dass er den Welt-Hunger eher befördert als bekämpft. Auf der internationalen Bühne und auch beim Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen will Bayer Crop Science beispielsweise die riesigen Soja- und Maisfelder in Nord- und Südamerika nachhaltiger bewirtschaften, als das Monsanto getan hat: "Bayer setzt sich sehr für einen Wechsel von Kulturen und auch von Pflanzenschutzmitteln ein. Wenn Sie Jahr für Jahr dieselbe Kultur anbauen und auch noch das gleiche Pflanzenschutzmittel ausbringen auf großen Flächen, dann haben Sie Probleme mit Resistenzen. Monokulturen sind ganz klar abzulehnen." Bayer hat einen runden Tisch zum verantwortlichen Soja-Anbau ins Leben gerufen. Nach dessen Regeln soll künftig das Abholzen von Regenwald verboten sein. Stig Tanzmann von Brot für die Welt bezweifelt trotzdem, dass Bayer sich grundsätzlich ändern kann und will, wenn es Monsanto übernimmt: "Weil sie in einer Marktlogik gefangen sind, in der sie sozusagen ihr Saatgut verkaufen und möglichst teuer verkaufen müssen. Die müssen ja auch diese Investition oder Übernahmegelder von 66 Milliarden oder wie viel es auch sind, die müssen sie auch wieder zurückholen. Und das werden die Bäuerinnen und Bauern, das werden auch wir als Konsumenten bezahlen müssen." Bayer Crop Science und auch Monsanto leisten klar einen Beitrag zur Welternährung. Schließlich wollen viele Menschen Fleisch essen, und durch neu entstehende Mittelschichten in den Schwellenländern werden das immer mehr. Um allerdings das Problem von 800 Millionen Menschen zu lösen, die immer noch hungern müssen, ist das Geschäftsmodell des Konzerns – ob mit oder ohne Gentechnik - schlicht ungeeignet.
Von Jantje Hannover
Weltweit leisten Kleinbauern den mit Abstand größten Beitrag zur Welternährung. Statt teuren Hightech-Saatguts brauchen sie aber Zugang zu Saaten, die sie selbst reproduzieren können. Keine einfache Aufgabe - denn ihr Gegner ist der größte Agrochemiekonzern der Welt.
"2016-11-14T18:40:00+01:00"
"2020-01-29T19:04:07.830000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-den-welthunger-zwischen-gentechnik-und-oekozucht-100.html
926
Männlich, deutsch und schwarz
Szene aus dem Theaterstück "Walking Large" von Toks Körner (Ballhaus Naunystrasse) Zwei unterschiedliche Brüder sind die zentralen Figuren des Stücks "Walking Large" von Toks Körner. Der eine ist ein überangepasster Professor für Verhaltenspsychologie, der andere Gangster-Rapper. Die extremen Gegensätze seien ihm wichtig gewesen, um die Probleme der schwarzen Community zu transportieren, sagte der Autor des Stückes, Toks Körner, im Dlf. Ihm und dem Theater sei es außerdem darauf angekommen, eine dezidiert männliche Sichtweise zu beleuchten, da die weibliche Perspektive schon in zahlreichen Essays und in der Literatur eingenommen würde. Selbstverleugnung und deutsche Sichtweise Man wisse zu wenig über schwarze Männer, über ihre Probleme mit ihrer Energie umzugehen, sowohl in postiver wie in negativer Hinsicht. "Power wird als Bedrohung empfunden, man erfährt Abwertung", erzählte Körner. Die Norm sei, nett und leistungsorientiert zu sein. Er habe das Gefühl, dass viele Geschichten zu dem Thema noch nicht erzählt seien. Mit dem Stück wolle er auch die Frage stellen, wo die Selbstverleugnung anfange. "Wir werden immer noch ausgegrenzt", so Körner, aber es öffneten sich dennoch gerade Türen. Florence Kasumba als erste schwarze Tatortkommissarion sei ein erster Schritt, meint Körner. Er wünsche sich aber auch den zweiten Schritt: Das Narrativ müsse sich verändern, momentan sei alles immer noch sehr eingebettet in eine weiße, deutsche Sichtweise für einen weißen, deutschen Zuschauer von einem weißen, deutschen Fernsehmacher. Schwarze Darsteller und fortschrittliche Wahrnehmung Wichtig sei, so Körner, dass Narrative sich öffneten und schwarze, deutsche Darsteller keine Besonderheit mehr seien, sondern einfach - wie auch in der Realtlität - normal. Wir haben noch länger mit Toks Körner gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Der Februar wird als der Black History Month gefeiert, mit vielen Kulturveranstaltungen in Berlin. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten sammle sich die Community auch in Deutschland, um sich politisch und künstlerisch zu engagieren, auch wenn man nicht die Durchschlagskraft habe. Die USA hätten in dieser Hinsicht Vorbildfunktion. "Wir wollen keine Revolution", sagte Toks Körner, "aber wenn vor und hinter den Kulissen mehr Schwarze agieren, dann ist das ein Fortschritt, bei dem am Ende alle gewinnen". Allerdings verängstige einen die politische und soziale Entwicklung, und so hoffe er, dass man nicht in einem alten Korsett stecken bleibe. "Ich bin Optimist und glaube an die Freiheit", sagte er. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Toks Körner im Corsogespräch mit Susanne Luerweg
Im Theaterstück "Walking Large" stehen vier schwarze Schauspieler auf der Bühne. Eine zentrale Frage im Theater und im echten Leben: Muss man sich total anpassen, um angenommen zu werden? "Man erfährt sofort Abweisung, wenn man sich nicht an die Norm hält", sagte der Autor Toks Körner im Dlf.
"2019-02-18T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:19.726000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/diversitaet-im-theater-maennlich-deutsch-und-schwarz-100.html
927
"Der Iran steht katastrophal da"
Peter Kapern: Gestern war der Basar in der iranischen Hauptstadt Teheran geschlossen. Das war nicht bemerkenswert, schließlich ist der Freitag ja der Ruhetag in islamischen Ländern. Aber auch am Mittwoch und Donnerstag ruhten die Geschäfte dort, nachdem es zu Unruhen gekommen war, gegen die die Polizei eingeschritten war. Der Hintergrund dieser Unruhen ist die desolate wirtschaftliche Lage im Iran. Die Landeswährung Rial ist im freien Fall, die Lebensmittel- und Energiepreise explodieren. Die religiöse Führung spricht von einer internationalen Verschwörung und einem Wirtschaftskrieg, unter denen der Iran leide. Und im westlichen Ausland heißt es kurz und bündig: Die Wirtschaftssanktionen, die gegen den Iran wegen dessen Atomprogramm verhängt worden sind, entfalten nun ihre Wirkung. Bei uns am Telefon der iranisch-stämmige grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour. Guten Morgen!Omid Nouripour: Schönen guten Morgen!Kapern: Herr Nouripour, wie steht der Iran wirtschaftlich Ihren Informationen, Ihrer Meinung nach da? Nouripour: Der Iran steht katastrophal da. Das hat aber in erster Linie nichts mit den Sanktionen zu tun, sondern mit dem Missmanagement, mit der Korruption, die grassiert. Mit einer Regierung, mit einem Präsidenten, der einfach alles nur gemacht hat, um seine Günstlinge zu bevorzugen, und nicht, um die Wirtschaft des Landes voranzubringen. Und das wissen auch die Menschen, deshalb richtet sich auch der Zorn und die Proteste, richten sich gegen die Regierung, und nicht etwa gegen die Sanktionen.Kapern: Warum sind Sie so sicher, dass nicht die Sanktionen die Ursache sind? Die Politiker im Westen scheinen das ja anders zu sehen, also die Politiker, die die Sanktionen beschlossen haben?Nouripour: Ich sage nicht, dass die Sanktionen damit nichts zu tun haben. Das ist überhaupt nicht der Fall. Es gibt diverse Sanktionen, zum Beispiel im Falle von einigen Medikamenten, bei denen es klar ist, dass das auf die Sanktionen zurückgeht, wo man sich fragen muss, ob das so wirklich auch richtig war. Weil man ja eigentlich die Bevölkerung nicht treffen wollte. Im Iran gibt es aber ein Narrativ seit über 30 Jahren, bei dem es darum geht, dass die Regierung immer sagt, wir sind stark genug, dass wir Sanktionen tatsächlich auch entgegentreten können. Diese Regierung hat das auch immer gesagt, und sie kann es nicht. Jenseits davon ist aber die wirtschaftliche Lage im freien Fall seit, spätestens, seit Ahmadinedschad tatsächlich Präsident geworden ist. Es gab eine Entlassung zum Beispiel vom Direktor der Zentralbank in der letzten Amtszeit von Ahmadinedschad, also, da waren die Sanktionen noch gar nicht in der Form da, wie es sie heute gibt, weil er den Zinssatz, den Leitzins anheben wollte, um die Inflation zu bekämpfen. Er hat ihn entlassen mit den Worten: Wer Zinsen anhebt, will an das Portemonnaie der Armen ran. Das ist natürlich wirtschaftspolitisch vollkommen absurd und hat mit sachlicher Politik nichts zu tun. Und das sehen auch die Leute.Kapern: Was sonst hat Ahmadinedschad in seiner Wirtschaftspolitik falsch gemacht?Nouripour: Es gibt einen festen Auftrag in der Verfassung Irans, das bestimmte Sektoren privatisiert werden müssen, dass die staatliche Wirtschaft, die es gab während des Krieges in den 80er-Jahren gegen den Irak, dass die Staatlichkeit sich immer weiter zurückzieht. Er hat immer wieder Mahnungen bekommen, auch vom mächtigsten Mann des Landes, vom Revolutionsführer, diese Privatisierungen endlich voranzutreiben. Das ist nicht passiert, im Gegenteil, die meisten Branchen, vor allem die wichtigen großen Branchen, sind einfach zwischen Staatsunternehmen hin und her geschoben worden. Das hat mit effizienter Wirtschaftspolitik nicht zu tun, und das spüren jetzt auch die Menschen.Kapern: Wenn die Basari, also die Händler in Teheran aufbegehren, dann wird man ja hellhörig, weil die nicht unwesentlich am Aufbegehren, mit Ihrem Aufbegehren zum Sturz des Schah beigetragen haben. Wenn die nun wieder auf die Barrikaden gehen, protestieren, heißt das, dass im Iran die Regimedämmerung anbricht?Nouripour: Da bin ich noch ein bisschen vorsichtig. Was Fakt ist, ist, dass kein Regime im Iran auf Dauer ohne die Basari und gegen deren Willen regieren kann, weil sie tatsächlich der Puls sind, nicht nur dann des Geldes, sondern vor allem auch weite Teile der Bevölkerung, wie sie denn eigentlich ticken. Also, das ist wirklich ein sehr, sehr wichtiger Sensor, auf den man gucken muss. Ob die Streitereien weitergehen, ob die Proteste weitergehen von den Basari, das wird man sehen. Zwei Tage machen noch keinen Generalstreik. Aber das ist schon ein sehr starker Rückschritt nicht nur für Ahmadinedschad, sondern für das ganze Regime. Und es kann durchaus sein, dass sie jetzt – dass das das Thema sein wird für die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr, das ab jetzt alle, die dort tatsächlich antreten wollen, mit großen Versprechen angehen werden. Das kann durchaus tatsächlich auch zur Befriedung führen bis dahin, aber der nächste Präsident müsste dann liefern, was nicht ganz so einfach ist, wenn man sich den Trümmerhaufen anschaut, der hinterlassen wird von Ahmadinedschad. Und wenn man natürlich sieht, dass die Sanktionen nicht wirkungslos sind.Kapern: Sie haben eben selbst gesagt, dass die Verantwortung für die miserable Wirtschaftslage dem Staatspräsidenten Ahmadinedschad zugewiesen wird und eben nicht der religiösen Führung. Heißt das, dass die Theokratie eigentlich noch immer fest im Sattel sitzt, im Umkehrschluss?Nouripour: Nein, das tut sie nicht. Und das wissen auch die Menschen. Ahmadinedschad hat weite Teile der Ministerien, der Administration ausgetauscht. Sehr viele, die dort auf Posten sind, sind dort aufgrund ihrer ideologischen Loyalität, und zwar den Revolutionswächtern gegenüber. Das sind keine Theokraten. Das sind keine Mullahs, das sind tatsächlich in erster Linie frühere Soldaten. Und diese Leute werden auch verantwortlich gemacht für die Situation. Dass weite Teile tatsächlich der Geistlichkeit auch eine Rolle spielen, das ist keine Frage, aber das geht derzeit nicht unbedingt mit denen nach Hause, aber die haben auch nicht die Macht.Kapern: Mitte Oktober will die Europäische Union nach den Ölimporten nun auch die Gasimporte aus dem Iran verbieten. Ist das ein richtiger, nächster Schritt, um weiteren Druck aufzubauen?Nouripour: Ich finde, dass auf der einen Seite wir alles tun müssen, damit es nicht zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt. Das heißt, dass viele der Sanktionen tatsächlich nicht in erster Linie dafür da sind, das Atomprogramm im Iran zu stoppen, sondern diejenigen, die mächtig drängen darauf, den Iran anzugreifen, tatsächlich auch ein wenig beruhigen sollen. Das hat bisher zumindest halbwegs geklappt, das ist auch okay so. Ich finde, das Wichtigste ist aber, dass das Signal geht an die iranische Bevölkerung, dass die Sanktionen sich nicht gegen sie und erst recht nicht alleine gegen das Atomprogramm richten, sondern dass es auch darum geht, wie es im Iran aussieht, wie die Menschenrechtssituation dort ist. Das würde für sehr viel mehr Fokussierung der Proteste auf Ahmadinedschad und auf das Regime im Iran tatsächlich hinwirken.Kapern: Der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Nouripour, danke für das Gespräch, und einen schönen Samstag wünsche ich Ihnen!Nouripour: Ich danke Ihnen auch, tschüss!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Omid Nouripour im Gespräch mit Peter Kapern
Die wirtschaftliche Lage im Iran sei im freien Fall, meint der iranisch-stämmige grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour. Das habe weniger mit den gegen den Iran verhängten Sanktionen zu tun, sondern vor allem mit der schlechten Wirtschaftspolitik von Präsident Mahmud Ahmadinedschad.
"2012-10-06T06:50:00+02:00"
"2020-02-02T14:28:07.868000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-iran-steht-katastrophal-da-100.html
928
Schulze: Brauchen eine Verkehrs- und Wärmewende
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) (dpa /Soeren Stache/) Als Reaktion auf den Bericht des Weltklimarats sagte Schulze: "Es ist noch nicht zu spät, wir können handeln." Das schaffe Deutschland allerdings nicht alleine, internationale Anstrengungen seien dafür notwendig. "Berichte wie den IPCC-Report finde ich sehr bedrohlich. Sie zeigen, dass wir unsere Existenzgrundlage so bewirtschaften, dass wir sie zerstören", sagte die SPD-Politikerin. Klimaschutz und Industrie vereinen Schulze machte klar, dass ihre Partei die einzige sei, die Klimaschutz und Industriefragen zusammendenken würde. Klar sei, dass Arbeitsplätze wie beispielsweise in Braunkohleregionen wegfallen würden, es kämen aber auch viele neue hinzu. Eine klare Haltung hat sie zur CO2-Bepreisung, die nach ihrer Meinung kommen müsse. "Klimawandel darf nicht auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen werden. Wer mit dem SUV durch die Stadt fährt und viel Sprit verbraucht, der muss dafür auch mehr zahlen", sagte Schulze. An verfassungsrechtlichen Bedenken werde eine CO2-Steuer nicht scheitern, da man die bestehenden Gesetze nur anpassen wolle. Das werde eine sehr gute Lenkungskurve haben, so Schulze. Das Ganze müsse aber sozialverträglich sein. Das Interview mit Svenja Schulze in voller Länge: Sarah Zerback: Die Lage ist schwierig, aber nicht hoffnungslos. Wenn sich die Bundesregierung zum Beispiel wirklich anstrengt, schnell die richtigen Weichen stellt, dann kann es noch was werden mit den Klimaschutzzielen für 2030 und Deutschland seinen Beitrag dazu leisten, die weltweiten Folgen des Klimawandels abzumildern: Dürren, Hitzewellen, Nahrungsmangel, Wassermangel. Nachdem der Weltklimarat IPCC gestern einmal mehr Alarm geschlagen hat, ist jetzt also die Politik gefragt. Am Telefon ist Svenja Schulze, Bundesumweltministerin, und Sozialdemokratin ist sie auch. Guten Morgen, Frau Schulze! Svenja Schulze: Ja, guten Morgen! Zerback: Schon wieder also ein Bericht, der ja dann doch auf die immer gleichen Probleme hinweist. Kann der sie noch schocken? Schulze: Ja, ich finde diese Berichte sehr bedrohlich, weil sie zeigen ja, dass wir mit dem, auf dem wir leben, nämlich unserem Boden, das ist unsere Existenzgrundlage. Und dieser Bericht zeigt jetzt, dass wir das so bewirtschaften, dass wir es zerstören, das ist ja nicht nachhaltig, und das geht natürlich nicht. Was dieser Weltklimarat aber auch immer wieder sagt, ist eben, es ist noch nicht zu spät, wir können handeln. Und deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt dieses Klimakabinett haben, dass wir wirklich alles zusammentragen, weil – das steht auch in diesem Bericht –, es ist nicht so ganz einfach. Es sind nicht ein oder zwei Maßnahmen, die wir da ergreifen müssen, sondern es ist ganzer Mix von Politik, der jetzt in die Hand genommen werden muss. Dafür braucht man eben das Klimakabinett, und dafür braucht man so was wie das Klimaschutzgesetz, was ich ja auch vorgelegt habe. UNO-Sonderbericht "Klimaschutz ganz oben auf die Agenda setzen"23 Prozent der menschengemachten Emissionen stammen aus der Land- und Forstwirtschaft, sagte Hans-Otto Pörtner, Mitverfasser des UNO-Sonderberichts, im Dlf. Eine Umstellung auf Nachhaltigkeit käme den Ökosystemen zugute. Zerback: Frau Schulze, wenn das aber so eine Existenzfrage ist, dann fragt man sich doch, warum hat das in der Bundesregierung dann nicht auch einfach oberste Priorität? Schulze: Das hat in der Bundesregierung oberste Priorität, das ist zur Chefinnensache gemacht worden. Die Kanzlerin hat extra diese Kabinettsrunde sozusagen einberufen, in der ja alle Ministerinnen und Minister sitzen, die mit Klimawandel zu tun haben, die mit CO2-Ausstoß zu tun haben. Und wir sind auch schon ein Stückchen vorangekommen: Wir haben einen Emissionshandel für die energieintensive Industrie, wir haben erneuerbare Energien auf den Weg gebracht, also da läuft es ganz gut. Was jetzt kommen muss, ist eine Verkehrswende, ist eine Wärmewende, also die anderen großen Bereiche, wo CO2 eben produziert wird. Nicht in Deutschland alleine zu lösen Zerback: Und da muss man ja der Fairness halber dazusagen, treten Sie ziemlich auf der Stelle, wenn jetzt der IPCC sagt, da sind weitreichende und vor allem schnelle Maßnahmen nötig. Wie ist das mit der aktuellen Koalition zu machen? Viele sagen in der CDU, da machen wir nicht mit, alles das auch, was Sie gerade aufgezählt haben, auch Stichwort Verkehrswende. Schulze: Na ja, alle machen darauf aufmerksam, und das ist ja auch richtig. Das ist keine Frage, die wir in Deutschland alleine lösen können, sondern wir müssen das international lösen, alle müssen ran, machen wir aber ja auch. Wir haben das Pariser Klimaschutzabkommen, wir haben europaweite Vereinbarungen, wir unterstützen aus Deutschland heraus in der ganzen Welt, dass zum Beispiel Wälder aufgeforstet werden, dass Boden so bewirtschaftet wird, dass er wenig CO2 produziert und mehr bindet. Also da passiert eine ganze Menge. Und ja, es gibt eine große Diskussion, aber gerade diese öffentliche Diskussion gibt ja auch unglaublichen Rückenwind für all das, was da jetzt passieren muss – jedenfalls aus meiner Sicht. Zerback: Ja, Rückenwind vielleicht, aber Ihre Partei liegt aktuell bei 15 Prozent. Das zeigt eher, dass die Wählerinnen und Wähler die SPD jetzt nicht als die große Klimaschutzpartei wahrnehmen, weil das ist ja doch das einfach bestimmende Thema gerade. Schulze: Aber die SPD ist die einzige Partei, die sehr deutlich macht, dass wir Klimaschutz wollen, dass wir wollen, dass es weiterhin hier in Deutschland Industrie gibt, weil es da sehr gute Arbeitsplätze gibt, und dass wir das beides zusammen denken und auch Vorschläge auf den Tisch gelegt haben, wie das geht. Also da glaube ich, wenn das deutlich wird, dass das jetzt auch umgesetzt wird, dass die Dinge kommen, dass das auch von den Menschen stärker wahrgenommen wird. Zerback: Da können wir ja vielleicht mal ins Detail gehen, Beispiel zum Beispiel Braunkohle. Da ist jetzt für 2038 das Ende der Kohleverstromung geplant, eine Kohlekommission gibt es auch. Sie waren ja jetzt gerade in der Lausitz unterwegs, das ist immerhin die zweitgrößte Kohleregion und steht kurz vor den Wahlen. Wie wollen Sie den Menschen denn dort die Ängste nehmen, dass der Strukturwandel da nicht sozialverträglich gestaltet wird? Die Ängste sind ja doch enorm. Schulze: Die SPD hat dafür gesorgt, dass sich jemand überhaupt um die Menschen dort kümmert. In anderen Konstellationen wurde einfach immer nur darüber geredet, wie viel Tonnen CO2 man sparen muss, wir sind diejenigen, die eine Kommission ins Leben gerufen haben, wo alle dann zusammen waren – die Gewerkschaften, die Umweltverbände, die Wissenschaft, die Unternehmen – und einen genauen Plan gemacht haben, wie man das so hinkriegt, dass wir Arbeitsplätze in die Region kriegen, dass da auch gute neue Arbeitsplätze entstehen und man trotzdem aus der Kohle aussteigt. Veränderungen ja - neue Arbeitsplätze auch Zerback: Trotzdem, Frau Schulze, fallen ja welche weg, das muss ich dazusagen, und die Stimmen gehen an die AfD, die diese Maßnahmen gegen den Klimawandel ja ablehnt. Schulze: Ja, es fallen Arbeitsplätze weg, es kommen aber auch ganz viele neue. Gerade in der Lausitz gibt es ein riesiges Batteriewerk, was dort neu entstanden ist, und wir haben auch Ideen, was da noch weiter entstehen soll. Ja, es gibt eine Veränderung, es wird aber auch neue Arbeitsplätze geben, und das ist das, worum sich die SPD vor allen Dingen gekümmert hat und was wir mit vorangebracht haben – dass darüber überhaupt diskutiert wird, dass es jetzt ein Gesetz gibt, was die ganzen Maßnahmen festschreibt über die nächsten Jahre, weil das ist ja jetzt ein Prozess über 10, 15 Jahre und nicht einer von heute auf morgen. Zerback: Apropos eingesetzt und alle Maßnahmen, Sie haben es angesprochen: Ende September will das Klimakabinett ja Maßnahmen beschließen, ein ganzes Gesetzespaket. Warum gibt es denn – wir haben jetzt Mitte August – noch immer kein schlüssiges Konzept, sondern viele, viele Einzelmaßnahmen? Schulze: Ja, es wird nicht eine Maßnahme geben, sondern es ist wirklich jetzt ein Bündel von Maßnahmen. Wir werden im Verkehrsbereich, im Baubereich, in der Landwirtschaft, in der eigenen öffentlichen Verwaltung ganz viele einzelne Maßnahmen machen. Das sind zum Teil Gesetze, das sind zum Teil Förderprogramme, das ist so was wie ein CO2-Preis, der sicherlich auch kommen wird. Also es ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen, und wir sitzen gerade noch daran, das wirklich aufeinander abzustimmen, zu gucken, was kostet was und in welcher Reihenfolge kriegen wir das jetzt hin. Das ist eine wirklich komplexe Geschichte – das ist gestern übrigens auch beim IPCC-Report sehr deutlich geworden. Es ist nicht einfach, es ist komplex, aber es ist alles machbar. Zerback: Ja, womit man vielleicht auch schon früher hätte anfangen können. Gerade Ihr Ministerium ist ja auch schon seit ein paar Jahren, seit sechs glaube ich, in SPD-Hand. Sie haben jetzt gerade CO2-Bepreisungen angesprochen. Sie sind dafür, die Union dagegen. Jetzt gibt es ein wissenschaftliches Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, das besagt, eine deutsche CO2-Steuer, die könnte gegen das Grundgesetz verstoßen. Wird das also an verfassungsrechtlichen Bedenken scheitern? Schulze: Nein, das scheitert nicht an verfassungsrechtlichen Bedenken, weil was der Bundestag begutachtet hat, ist, wenn man eine komplett neue Steuer schaffen würde. Was wir aber wollen, ist, auf den bestehenden Energiesteuern aufsetzen und dort eine CO2-Komponente einbringen. Das ist verfassungsrechtlich geprüft, man darf Steuern sozusagen anpassen, wenn eine Regierung das entscheidet. Und wir gehen davon aus, dass das eine sehr gute Lenkungswirkung haben wird. Ich möchte noch mal darüber diskutieren … Es muss sozial fair sein Zerback: Entschuldigung, Frau Schulze, ich wollte nur fragen, wie genau Sie sich das vorstellen, das hatten Sie ja bisher offengelassen. Schulze: Nein, es gibt verschiedene Gutachten. Also ich habe drei Gutachten vorgelegt und genau aufgezeigt, wie man das machen könnte. Mir ist ganz wichtig, dass das sozial fair ist, weil diejenigen mit den kleinen, mit den mittleren Einkommen, die haben oft gar keine Alternative. Die können nicht ihre Wohnungen selber dämmen, die wohnen zur Miete, die haben nicht die Möglichkeit, sich mal eben ein neues Auto zu kaufen, deswegen müssen wir auf die ganz besonders achten. Deswegen habe ich ja vorgeschlagen, dass es so was wie eine Klimaprämie gibt – wir zahlen den Leuten aus den Einnahmen wieder was zurück. Ich würde es am liebsten sogar vorher schon zurückgeben, also erst die Prämie, und dann hat man zum Beispiel erhöhte Spritkosten oder muss die Wohnung dämmen und hat darüber etwas erhöhte Kosten. Das würde ich gerne für die mit den kleinen Einkommen auf jeden Fall ausgleichen. Zerback: Und da sagt die Union, ist doch viel sozialverträglich über Emissionszertifikate, also auf Bereiche Verkehr und Wohnen, die müssen dann nämlich die Unternehmen kaufen und unterstützen damit dann die Entwicklung von CO2-armen Technologien und wälzen das eben nicht auf die Verbraucher ab. Schulze: Na ja, aber die Unternehmen werden ja nicht Emissionszertifikate kaufen und es nicht an die Menschen weitergeben, sondern das wird auch bei den Leuten ankommen, und deswegen muss man sagen, wie man die Entlastung organisieren will. Dafür habe ich einen Vorschlag gemacht, und das ist mir auch wichtig. Klimawandel – dass nicht nur auf den Rücken derjenigen gemacht wird, die ein kleines, mittleres Einkommen haben, sondern es muss auch von denen bezahlt werden, die das CO2 produzieren. Wer meint, er muss heute mit einem dicken SUV viel Sprit verbrauchen, der muss dann auch dafür mehr zahlen. Zerback: Also mehr Verbote? War ja jetzt schon für die Grünen keinen Erfolgskonzept, ne. Schulze: Nein, es muss einen Mix geben. Es geht nicht nur um Verbote, sondern es geht darum, die richtigen Maßnahmen zu fördern, es geht darum, Anreize zu schaffen und Übergänge jetzt zu schaffen. Ich mach das mal an einem ganz kleinen Beispiel in meinem Bereich, weil das ist immer einfacher: Wir haben heute noch alte Mülldeponien, die produzieren Methan – Methan ist auch ein ganz gefährliches Treibhausgas. Wir werden für die nächsten zehn Jahre die Kommunen dabei unterstützen, die ganzen Anlagen umzurüsten, damit sie kein Methan mehr in die Luft pusten, und ab danach ist es verboten. Also zehn Jahre lang gibt es Unterstützung, und dann ist es aber auch verboten. Wer die Unterstützung nicht wahrnimmt, der muss dann eben mit Strafen rechnen. Zerback: Bleiben wir mal indirekt bei Methan und reden über die Fleischproduktion, auch gerade ein Riesenthema, auch im IPCC-Bericht. Was wollen Sie denn tun, um die Fleischproduktion in Deutschland zu senken? Schulze: Mein Vorschlag ist, dass wir die Fleischproduktion stärker an die Fläche binden, weil so, wie wir das im Moment machen – wir importieren Soja zum Beispiel aus Brasilien, dafür werden dort dann Wälder abgeholzt, was insgesamt dem Klima auch schadet. Wir verfüttern das an die Tiere hier bei uns, wir müssen mit der vielen Gülle umgehen, die dabei entsteht, und das belastet unser Wasser, und anschließend wird das Fleisch nach China exportiert. So ist es nicht nachhaltig, und das belastet einfach unsere Böden viel zu stark. Und deswegen möchte ich, dass das stärker an die Fläche gebunden wird – also man darf nur so viele Tiere halten, wie man auch Fläche hat, wo man dann mit den Resten wirklich gut umgehen kann. Das würde eine Menge helfen. Zerback: Und eine Mehrwertsteuer auf Fleischproduktion, was halten Sie davon? Schulze: Na ja, ich weiß, dass die Mehrwertsteuer sehr stark im Moment diskutiert wird, die ist auch nicht in allen Bereichen wirklich gut erklärbar. Warum die so entstanden ist, ist sicherlich auch historisch gewachsen. Ich glaube, dass man sich das insgesamt mal angucken muss und die Steuern so gestalten muss, dass es wirklich einen Anreiz gibt, CO2 zu sparen. An einer winzig kleinen Schraube da zu drehen, ich glaube, das bringt wenig. "Bundesfinanzminister ist auf meiner Seite" Zerback: Ihre Vorschläge, die Sie machen, die landen ja dann früher oder später bei Ihrem Parteikollegen, dem Bundesfinanzminister. Müssten Sie dem nicht mal sagen, Klimaschutz ist wichtiger als die schwarze Null? Schulze: Nein, der Bundesfinanzminister ist da komplett auf meiner Seite. Er weiß ja, was es kosten würde. Wenn wir jetzt uns nicht gegen den Klimawandel stemmen, wenn wir jetzt nichts tun würden, dann würden Riesenkosten auf uns zukommen. Das hat man in den letzten Sommern ja schon gesehen, wenn es solche Hitze gibt. Wir müssen ganz, ganz viel sozusagen verändern, und sich da einfach nur anzupassen und einfach nur das Geld in die Hand zu nehmen, das ist keine Lösung, und deswegen arbeitet er mit mir daran, jetzt genau zu gucken, wie schaffen wir das, welche Gelder müssen wo investiert werden. Das ist Zukunftsvorsorge, und dafür ist auch ein Finanzminister zu haben. Zerback: Ja, aus der Portokasse werden sich die aber nicht zahlen lassen, sagt das Institut der deutschen Wirtschaft, ist alles zu starr, da muss Herr Scholz sich mal bewegen. Schulze: Na ja, aber wir haben ja Töpfe dafür. Wir haben zum Beispiel einen großen Topf, der sich aus dem Emissionshandel speist. Wir haben Haushalte, wo man die Prioritäten einfach anders setzen muss. Es ist ja nicht so, dass wir gar kein Geld im Bundesetat haben, es muss jetzt aber auch zielgerichtet für den Klimaschutz eingesetzt werden. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Svenja Schulze im Gespräch mit Sarah Zerback
Bundesumweltministerin Svenja Schulze hat angekündigt, ein ganzes Bündel an Maßnahmen für den Klimaschutz umsetzen zu wollen. Man sei im Klimakabinett bereits "ein Stückchen" vorangekommen, es müsse nun vor allem zügig eine Verkehrs- und Wärmewende her, sagte die SPD-Politikerin im Dlf.
"2019-08-09T07:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:05:23.660000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ipcc-bericht-schulze-brauchen-eine-verkehrs-und-waermewende-100.html
929
"Ich bin für strenge Trennung von Psychotherapie und Seelsorge"
Surreale Illustration "Psyche und Raum": "Die Psyche schafft Distanz und ist aber auch etwas, was ich wissenschaftlich einfach bearbeiten kann", sagt Manfred Lütz (Getty / iStockphoto) Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz schreibt zu vielen Themen, über Gott und über das Glück, über die Geschichte des Christentums und die Kunst des Bluffs. Jetzt sind zwei Bücher gleichzeitig erschienen, die sich mit der Psyche und der Seele befassen: einmal die aktualisierte Fassung des Bestsellers: "Neue Irre. Wir behandeln die Falschen" und ein Gesprächsband mit dem berühmten amerikanischen Psychoanalytiker Otto Kernberg. Christiane Florin: Herr Lütz, warum sind Sie Psychiater geworden? Manfred Lütz: Ich habe am Schluss des Medizinstudiums im praktischen Jahr einen Teil in der Psychiatrie gemacht und fand das ganz faszinierend. Ich fand es intellektuell am interessantesten. Ich bin auch so ganz unpraktisch. Chirurgie wäre für mich nie infrage gekommen. Ich habe erlebt, dass die Psychiatrie eigentlich die erfolgreichste medizinische Disziplin der letzten 50 Jahre ist. In der Psychiatrie ist die Liegezeit von über drei Jahren auf ungefähr drei Wochen reduziert. Man kann psychische Krankheiten heilen! Das wusste ich selbst nach dem Medizinstudium so nicht. Es ist einfach faszinierend, wenn man erlebt, wie ein tief depressiver Mensch, der sich umbringen wollte, nach drei Monaten Behandlung plötzlich sagt: "Herr Doktor Lütz, warum habe ich so einen Unsinn gedacht? Mir geht es gut". Das zu erleben ist etwas unglaublich Schönes. Christiane Florin: Das Happy-End wollte ich mir eigentlich für das Ende des Gesprächs aufbewahren. "Irgendwas mit Psyche" ist heute sehr beliebt. Rund 85.000 Menschen in Deutschland studieren Psychologie, das ist einer der beliebtesten Studiengänge überhaupt, trotz oder vielleicht auch wegen des Numerus clausus. Womit erklären Sie sich das Interesse an der Psyche? Manfred Lütz bei der Aufzeichnung der ZDF-Talkshow Markus Lanz im Fernsehmacher Studio auf dem Phoenixhof (imago / Future Image) Lütz: Ich kann mir vorstellen, dass man Psychologie studiert, weil man irgendwie keine Religion mehr hat und jetzt sozusagen eine Art andere Weltanschauungen sucht, eine Weltanschauung, die irgendwie wissenschaftlich ist und wo man sozusagen hinter die Dinge schaut. Also, wo man den Menschen überlegen ist, wenn man die Mechanismen kennt, nach denen die denken, nach denen die fühlen, nach denen die Partnerschaften eingehen. So dass die Menschen für einen selber, wenn man Psychologie studiert hat, berechenbarer werden. Das ist aber nicht der Fall. Es ist eine Illusion, aber das erklärt, glaube ich, die große Beliebtheit der Psychologie. Florin: Das Fach Psychologie wäre aber für Sie nicht infrage gekommen? Lütz: Doch, es ist auch interessant. Aber die Leute - auch Abiturienten - stellen sich unter Psychologie etwas völlig Falsches vor. Psychologie ist erstmal Mathematik heutzutage. Sie müssen einfach Studien lesen können und müssen Determinanten feststellen können. Das Psychologiestudium hat primär mit psychischen Erkrankungen gar nichts zu tun. Wenn ich im Kabarett auftrete, erzähle ich das manchmal, dass Psychologen von psychischen Krankheiten gar keine Ahnung haben. An der Stelle kann ich dann immer sofort sehen, wer Psychologe ist. Dann ergänze ich das aber immer darum, dass, wenn die dann eine Psychotherapie-Zusatzausbildung haben, dann können die manchmal besser Psychotherapie als Psychiater. Dann sind die auch wieder beruhigt. Aber de facto ist das Psychologiestudium erstmal ein Studium, wie die normalen psychischen Funktion ablaufen. Man macht Werbepsychologie und Betriebspsychologie. Es gibt alle möglichen Bereiche. Die Psychotherapie ist ein ganz spezieller Bereich. "Die Seele ist die Würde des Menschen" Florin: Sie haben Medizin studiert, sich dann auf Psychiatrie spezialisiert. Und Sie haben katholische Theologie studiert, sind Diplom-Theologe. Was unterscheidet die Psyche, mit der sie sich als Mediziner beschäftigen, von der Seele, an die sie als Katholik glauben? Lütz: Seele ist ein etwas diffuser Begriff heutzutage. Früher war der ziemlich klar definiert. Es gab Streit zwischen den Platonikern, zwischen Aristotelikern. In der Philosophie ist der Begriff auch gar nicht mehr beliebt, weil man nicht genau weiß, was man damit meint. Aber ich sage es jetzt mal so, wie ich das verstehe aus meiner Profession als Psychiater, Psychotherapeut und als Theologe: Da ist für mich die Seele eigentlich der Kern des Menschen, das Herz des Menschen, nicht im anatomischen Sinne, sondern der Kern. Also dasjenige, was ich liebe, wenn ich einen Menschen liebe, das ist die Seele. Dasjenige, wovon ich begeistert bin, was mich anspricht, was das "Du" für mich ist, das Einmalige am Anderen. In dieser Seele ist die Würde eines Menschen. Diese Seele hat jeder Mensch, auch ein Behinderter, auch ein schwer psychisch Kranker. Ein hoch psychotischer Mensch hat diesen Kern, der seine Würde ausmacht. Die Psyche, würde ich jetzt mal sagen, ist für mich ein bisschen das, was die Psychoanalyse den psychischen Apparat nennt, also die Determinanten der Psyche. Zu den Determinanten gehören körperliche Veränderungen im Gehirn, gehören vielleicht irgendwelche Hirnkrankheiten, können auch frühkindliche Erfahrungen zählen, die sozusagen die Freiheit des Menschen begrenzen. Die Seele aber ist der Bereich, den man liebt, aber auch der Bereich, in dem Gut und Böse liegen, also wo das Moralische liegt, was ja nach Kant die Würde des Menschen ausmacht. Ich habe in der Psychiatrie und Psychotherapie eigentlich mit der Psyche zu tun, nicht mit der Seele. Florin: Das heißt, das Wort "Psyche" schafft eine deutliche Distanz zur Seele des Menschen? Lütz: Es schafft Distanz und ist aber auch etwas, was ich dann auch wissenschaftlich einfach bearbeiten kann. Deswegen bin ich auch für eine strenge Trennung zwischen Psychotherapie und Seelsorge. Denn Psychotherapie ist immer im besten Sinne manipulativ. Das heißt, ein Experte versucht, die Symptome des Patienten wegzumachen. Das ist auch der Anspruch des Patienten. Das heißt, ich habe eine Methode und mit dieser Methode versuche ich, das wegzukriegen. Aber wenn es um den Glauben geht, zum Beispiel um einen religiösen Glauben, und ich versuche, jemandem den Glauben sozusagen manipulativ anzumachen, wenn ich das so sagen soll, dann wäre das respektlos vor der Freiheit des Menschen. Der Glaube ist eine freie Antwort. Das heißt, wenn ein Seelsorger mit jemandem zu tun hat, muss er das auf Augenhöhe machen, von Existenz zu Existenz im Sinne von Martin Buber oder von Ich und Du. Die Psychotherapie ist, das muss man sich immer klarmachen, asymmetrisch. Der Therapeut ist der Experte. Und sobald der Therapeut auf Augenhöhe mit dem Patienten geht, sich in den Patienten verliebt, dem Patienten sagt, wie schlecht es ihm - dem Therapeuten - geht, dann ist das Missbrauch. "Intimste Dinge, die Ihnen kein Mensch normalerweise sagen würde" Florin: Vor allem im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Otto Kernberg gehen Sie auf dieses Thema ein. Sie vergleichen sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche mit dem Missbrauch des Patienten durch den Psychotherapeuten. Da nennen Sie die Zahl von 14 Prozent der Psychotherapeuten, die übergriffig werden. Woher kommt die Zahl? Lütz: Die Zahl nannte Otto Kernberg, 13 Prozent, sagt er. Das hat er aus Studien. Da sind Psychotherapeuten anonymisiert befragt worden. Die haben das selbst berichtet, dass sie übergriffig geworden sind. Das sind Studien, die sich dann auch immer wieder bestätigt haben. Florin: Haben Sie in Ihrer langen Berufszeit erlebt, dass die Gefahr der Übergriffigkeit in der Psychatrie größer ist als in anderen Bereichen der Medizin? Lütz: Ja, klar. Es ist es natürlich so, dass sie eine völlig künstliche Situation haben. Sie begegnen einem Menschen des anderen Geschlechts, der ihnen Sachen sagt, die Ihnen kein Mensch normalerweise sagen würde, intimste Dinge. Sie müssen selber, wenn Sie ein guter Psychotherapeutin mit Ihren eigenen Gefühlen auch umgehen können. Sie haben eine Selbstanalyse vorher gemacht, damit Sie damit richtig umgehen können und nicht übergriffig werden. Sie müssen diese Gefühle, die Sie dann haben, wenn Sie psychoanalytisch arbeiten, zum Beispiel dann auch deuten. Wenn Sie die ausagieren, ist es Missbrauch. Es gibt Leute, die sind nicht gut ausgebildet. Es gibt Leute, die sind auch nicht geeignet für den Beruf gegebenenfalls, die dann diese Grenze überschreiten und das ist insofern ein bisschen ähnlich wie im Bereich der Seelsorge. Es gab ja diese MHG-Studie, wo die Zahlen ergeben haben, dass Diakone beispielsweise viel weniger missbrauchen als Priester. Man hat es dann einseitig nur auf den Zölibat geschoben. Man kann da ja nur spekulieren. Aber der Unterschied zwischen diesen beiden Berufsbildern ist, dass der Priester auch Beichte hört, dass der Priester als Seelsorger wahrgenommen wird und dass der Priester im Übrigen auch Macht hat, vielmehr Macht. Der Diakon - darunter leiden die armen Diakone auch häufig - haben eben keine Macht. Diakonia heißt ja dienen. Möglicherweise hat das mit diesem Unterschied auch zu tun. Auch eine Beichtsituation ist eine völlig unnatürliche Situation. Da sagt ein völlig fremder Mensch einem Priester die intimsten Dinge, und da muss man dann schon mit umgehen können. Florin: Otto Kernberg sagt, als sie ihn auf das Thema Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ansprechen, sehr knapp: "Für mich hat das mit autoritären Strukturen zu tun, gegen die dann rebelliert wird, indem man frevelt." Das heißt, die katholische Kirche ist ein autoritäres System? Lütz: Ja sicher. Ich glaube, dass Institutionen an sich immer autoritär sind, in gewisser Weise. Autoritär ist natürlich jetzt ein negativer Ausdruck. Aber das hier Autorität eine Rolle spielt. Macht spielt eine Rolle. Macht ist an sich nicht schlecht. Man braucht Macht, um so ein Deutschlandfunk zum Beispiel zu leiten. Aber wichtig ist, dass man reflektiert mit dieser Macht umgeht. Das heißt, Macht muss kontrolliert werden. Das ist wichtig. Und da hat die katholische Kirche hier offensichtlich noch ein paar Aufgaben zu erfüllen. Florin: Die Klinik, deren Chef Sie waren (das Alexianer-Krankenhaus in Köln) ist spezialisiert auf Suchterkrankungen. Alexianer haben da eine lange Tradition. Sie schreiben in dem Buch "Irre. Wir behandeln die Falschen"... Lütz: "Neue Irre". "Die katholische Kirche ist keine therapeutische Einrichtung" Florin: Darin schreiben Sie, wie wichtig es ist klarzumachen, dass Menschen, auch wenn sie abhängig sind, immer noch eine Wahl haben, entweder zu trinken oder eben auch nicht zu trinken. Ich sehe da einen Widerspruch zwischen dem autoritären System katholische Kirche und Ihrem Plädoyer für die Wahlfreiheit. Wie können Sie das trennen, dass Sie auf der einen Seite Wahlfreiheit für Ihren Beruf brauchen, und auf der anderen Seite ein klar identifizierbarer lehramtsttreuer Katholik sind? Lütz: Ich bin Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses gewesen, nicht nur für Sucht, wir haben alle schweren psychischen Krankheiten behandelt. Aber Sie haben schon recht: Das Therapieprinzip ist für mich gewesen - nicht nur bei Sucht, sondern auch bei den anderen Dingen - die Wahlfreiheit. Das heißt, der Patient bestimmt das Ziel der Behandlung. Wir haben den Patienten zu dienen bei diesem Ziel, wenn es ethisch ist. Es ist meistens ethisch. Vielfach sind Psychiatrien so organisiert gewesen, dass der Süchtige keine Wahl hat, er muss in die Ergotherapie oder in die Sporttherapie. Ich habe dann eingeführt, dass er das wählen kann, dass er sich das angucken kann und dass er dann kann sagen kann, ob ihm das hilft. Eine Therapie, von der der Patient den Eindruck hat: "Das hilft mir", ist meistens wirksamer als eine, die nur aufgezwungen wird. Das kann man sich auch denken. Nur: Die katholische Kirche - und auch übrigens der Deutschlandfunk - sind keine therapeutischen Einrichtungen. Florin: Ich möchte nicht immer diese Gleichsetzung katholische Kirche - Deutschlandfunk. Ich habe Sie ja jetzt nach der katholischen Kirche gefragt. Medien funktionieren ein weniger autoritär als die katholische Kirche. Lütz: Naja, aber Sie haben einen Intendanten. Florin: Aber das ist kein autoritäres System wie die katholische Kirche. Sie haben übrigens Otto Kernberg an der Stelle nicht widersprochen, als er die Kirche als autoritär bezeichnet hat. Also, noch einmal zur Frage: Auf der einen Seite der Psychiater, der Psychotherapeut, der auf die Wahlfreiheit abhebt und auf der anderen Seite der Katholik, der sich einem autoritären System fügt. Lütz: Ja gut. Aber Sie kommen jetzt mit dem öffentlichen Klischee, die katholische Kirche sei ein autoritäres System. Florin: Sie haben ja nicht widersprochen an der Stelle. Lütz: Das teile ich so nicht. Ich glaube, dass die katholische Kirche auch ein System ist, eine Institution ist, wo Macht ausgeübt wird. Und das finde ich nach wie vor auch bei anderen Institutionen so. Die Anwendung dieses Klischees der Autoritären auf die Kirche führt dazu, dass viele Dinge auch nicht richtig wahrgenommen werden. Zum Beispiel wird immer vom Zwangszölibat gesprochen. Das ärgert mich immer, weil ich das eine Beleidigung von Erwachsenen freien Menschen finde. Der Zölibat, also die Ehelosigkeit der Priester, ist eine der freiesten Entscheidungen, die in Deutschland gefällt werden. Die Leute bereiten sich fünf Jahre lang mindestens auf diese Entscheidung vor. Die sind erwachsen und sagen: Ich wähle das. Genauso wie ein Matrose wählt, dass er Matrose wird und dann lange Zeit ohne Partnerschaft über die über die Weltmeere segelt. "Ich fühle mich unglaublich frei in der Kirche" Florin: Ich kann den Zölibat einmal wählen. Aber dann, wenn ich für mich feststelle: "Es geht nicht. Ich schaffe es nicht", dann ist es mit gravierenden Konsequenzen verbunden. Ich glaube, das ist gemeint, wenn jemand das Wort Zwangszölibat verwendet. Dass das eine erstmal freiwillige Entscheidung war, zu der man nicht gezwungen wurde, steht ja außer Frage. Aber noch mal der Konflikt Freiheit - Gehorsam, der ist ja da. Lütz: Ich fühle mich völlig frei in der katholischen Kirche. Ich bin Laie, ich bin kein Priester. Ich bin kein Diakon. Ich sage, was ich denke. Ich sage auch einem Bischof, was ich denke, gerade dann, wenn ich anderer Meinung bin. Denn er ist nicht verheiratet, hat keine Frau, die ihm das sagt. Das heißt, ich fühle mich völlig frei. Meine Frau ist wahnsinnig aktiv bei uns in der Gemeinde, hat überhaupt keine Funktion. Aber sie ist bei der Tafel aktiv, kümmert sich um die Flüchtlinge, bereitet Schulgottesdienst vor und so weiter. Sie fühlt sich auch völlig frei. Das heißt, es ist die Frage, welche Projektion auf die Kirche passiert und welche Geschichten Sie erzählen. Es gibt Menschen, die sich tatsächlich in der katholischen Kirche total unfrei fühlen. Ich habe mal ein Buch dazu geschrieben über die Frage des Arbeitsrechts Jahr. Da ist es tatsächlich ein Problem, wenn man zum Beispiel ein Krankenhaus komplett katholisch halten will und dann jemanden entlässt, weil er wieder verheiratet geschieden ist, obwohl er eigentlich nur Operateur ist. Das finde ich einfach anachronistisch. Das wirkt auch auf die Leute ganz merkwürdig. Da wird tatsächlich Macht ausgeübt. Also wenn man Arbeitgeber ist, wird Macht ausgeübt. Wenn man Arbeitgeber ist, wird Macht ausgeübt. Aber ich bin kein kirchlicher Angestellter. Ich bin ganz normaler Katholik, und da fühle ich mich unglaublich frei in der Kirche. Florin: Das Autoritäre war keine Erfindung von mir, sondern Otto Kernberg hat es in dem Gespräch mit ihnen so deutlich gesagt, Lütz: Im Zusammenhang mit Missbrauch. Florin: Im Zusammenhang mit Missbrauch, ja, und als Vergleichspunkt zur Psychotherapie. Vielleicht ist der Punkt nicht, dass Autorität ausgeübt wird. Autorität wird ja in vielfachen zusammenhängen ausgeübt, sondern dass man nicht kenntlich macht: Hier geht es auch um Macht, hier ist eine Asymmetrie, auch im Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten. Lütz: Ich meinte das auch auf den Missbrauch bezogen. Da, finde ich, ist das gleiche Problem. Missbrauch ist vor allem eine Machtfrage. Sexueller Missbrauch hat auch mit Sexualität zu tun. Aber es ist vor allem eine Machtfrage. Ich glaube, beim Missbrauch in der katholischen Kirche spielt das Ausspielen der Macht des Priesters zum Beispiel natürlich eine Rolle. Da muss man ansetzen und muss sehen, dass diese Macht insofern kontrolliert wird, als man Präventionsmaßnahmen betreibt, dass Opfer sich melden können und sich eben nicht nur bei den Priestern selber melden müssen, sondern bei unabhängigen Instanzen. Da passiert inzwischen auch einiges. Das ist ein Problem, das hat die katholische Kirche, hat die evangelische Kirche, das hat auch der Deutsche Olympische Sportbund übrigens. Das haben alle Institutionen, in denen Machtverhältnisse herrschen und wo die Gefahr besteht, dass man sich abschottet. "Es gilt erst einmal die Gesundheitsvermutung" Florin: Eine andere Aussage, die Sie in beiden Büchern sehr stark machen, ist, dass öffentliche Personen, die als auffällig, überdreht, eitel, gefährlich wahrgenommen werden, meistens psychisch völlig gesund sind, anders als im allgemeinen Sprachgebrauch üblich. Dort werden sie als Narzissten, als Psychopathen oder sonstwas bezeichnet werden. Sie betonen: Auch Donald Trump ist unmoralisch, aber nicht krank. Er ist kein Narzisst im pathologischen Sinne. Woher wissen Sie das? Lütz: Ich habe dieses Buch "Neue Irre. Wir behandeln die Falschen" geschrieben, weil er nach zehn Jahren wichtig war, noch mal den neuesten Stand der Psychiatrie und Psychotherapie zu referieren. Alle Diagnosen, alle Therapien auf dem heutigen Stand der Forschung und auch so ein bisschen allgemeinverständlich, weil es mir darum geht, eine breitere Öffentlichkeit aufzuklären. Es heißt aber "Neue Irre", denn als ich darüber schon mal etwas geschrieben habe, da habe ich mich auf Hitler bezogen, auf Stalin usw. Und jetzt gibt es diese Leute, die tatsächlich die Chefsessel der Welt erreicht haben, Trump, Bolsonaro, Kim Jong Un. Das finde ich unheimlich. Das Problem ist, dass in der Öffentlichkeit alle Phänomene, die außergewöhnlich sind, sehr schnell pathologisiert werden. Damit hat man das sozusagen in der diagnostischen Schublade: "Aha, der Trump is Narzisst. Dann weiß ich, was das ist. Dann kann ich damit besser umgehen." Das ist erstens eine Diskriminierung von psychisch Kranken. Denn Narzissten sind ganz arme Menschen, die dauernd Zuwendung brauchen, nie genug kriegen, nie befriedigt sind und schließlich keine Freunde mehr haben. Denn die Freunde halten das einfach nicht mehr aus, dem dauernd Beifall zu klatschen. Und dann müssen die in Therapie. Der Trump hat genügend Freunde. Der Trump leidet überhaupt nicht in der in der Situation. Sie haben Sie insofern recht, als ich den natürlich nicht untersucht habe. Ich vermute das erst einmal nach dem, was ich sehe. Florin: Es gilt erst einmal die Gesundheitsvermutung. Lütz: Ja, es gilt die Gesundheitsvermutung. Sehr richtig! Danach muss ich sagen: Der Mann leidet überhaupt nicht. Da besteht überhaupt kein Hinweis darauf. Der Mann hat, glaube ich, von seinem Vater gelernt: Das Wichtigste im Leben ist Geld, Erfolg und der Größte sein. Und dafür darf man alle Schweinereien machen. Der versteht zum Beispiel überhaupt nicht, warum Leute sich darüber aufregen, dass er gefallene Soldaten für Loser hält. In Donald Trumps Weltbild kann man nicht mehr verlieren als das Leben. Das heißt, man ist ein Loser. Er hat sich ja von einem Vietnamkrieg gedrückt. Also, das ist sehr konsequent bei ihm. Und die Dinge, die er sagt: Wenn er sich über Behinderte lustig macht, macht er das, um den Effekt bei seinen Anhängern zu haben. Er macht das nicht an sich aus Lust am Bösen, sondern er macht das wegen der jubelnden Anhänger, die dann johlen, wenn er einen behinderten Journalisten nachmacht, was ja völlig unmoralisch ist. Ich halte das für viel gefährlicher, als wenn der Narzisst wäre. Wenn der Narzisst wäre, könnte man ihn ja behandeln. Ich glaube, dass er überhaupt keine moralischen Kategorien hat. Man kann Menschen Moral abtrainieren. Ich glaube nicht, dass er es bis zum Letzten geht. Immer gibt es noch einen Funken. Deswegen muss man die dann auch verurteilen, wenn die nachher Verbrechen begehen oder so etwas. Aber man kann das sehr systematisch machen. Und ich habe den Eindruck, bei Trump ist das sehr ausgeprägt. Ich habe dieses zweite Buch gemacht mit Otto Kernberg, der ist der berühmteste Narzissmus-Experte der Welt. Der hat seine Praxis 500 Meter vom Trump- Tower in New York entfernt. Da rede ich mit dem da drüber. Otto Kernberg hat eine andere Position als ich. Der hält sich streng an die Goldwater-Regel. Die Goldwater-Regel ist damals 1964 begründet worden. Da wurde ein republikanischer Präsidentschaftskandidat, der auch ziemlich schräg war, rassistische Bemerkung machte und so weiter, diagnostiziert öffentlich auch mit Narzissmus. Da hat dann die amerikanische psychiatrische Gesellschaft gesagt: Das ist unethisch, Florin: Solche Ferndiagnosen darf man nicht machen. Lütz: Ja. Kernberg hat mir eine Begründung dafür gegeben, die ich auch sehr plausibel findet. Er sagt: Möglicherweise macht so jemand das Ganze nur als Rolle. Möglicherweise ist er gar nicht so. Möglicherweise machte er das nur, weil er Erfolg damit hat. Und Trump hat Erfolg damit. Theoretisch wäre es denkbar, dass der privat ein einfühlsamer, schüchterner, zurückhaltender Mensch wäre. Vernichtendes Psychogramm des Machtmenschen TrumpGerade erst hat in den USA das Buch von John Bolton für Aufregung gesorgt, schon erscheint das nächste. Es stammt von Mary Trump, seiner Nichte. Für die promovierte Psychologin ist er der "gefährlichste Mann der Welt". Trump: Krank oder unmoralisch? Florin: So. Und wenn Sie jetzt sagen: Der ist nicht krank, sondern der ist unmoralisch. Unmoralisch ist keine psychiatrische Diagnose, aber es ist ein Urteil. Das ist jetzt das Urteil des Theologen über Donald Trump. Lütz: Nein, des Menschen. Ich finde, man muss das auch öffentlich sagen. Das war ja ganz interessant in dem Buch mit Kernberg. Otto Kernberg hat sich noch nie zu Donald Trump öffentlich geäußert wegen der Goldwater-Regel. Dann habe ich ihn gefragt: "Sie sind amerikanischer Staatsbürger. Sie müssen ja demnächst wählen, jetzt mal nicht diagnostisch. Was halten Sie von dem Mann?" Dann hat er gesagt, er hält ihn für total unmoralisch, für eine Gefahr für die Demokratie und hat ihn dann sehr präzise beschrieben. Dafür würde ich ohnehin plädieren: Ich glaube, wir dürfen Menschen nicht mit Diagnosen in Schubladen stecken und Diagnosen dann sozusagen als Schimpfworte benutzen. Für das, was man normalerweise narzisstisch nennt, kann man egozentrisch sagen, rücksichtslos, unverschämt. Man kann sagen "nur um sich kreisend". Also es gibt sehr viele deutsche Begriffe, schöne Begriffe, die gar nicht mehr verwendet werden, weil man sich nur noch auf diese diagnostischen Kategorien setzt. Das halte ich für einen Fehler. Florin: Und damit auch eine gewisse Schuldunfähigkeit attestiert. Otto Kernberg sagt, der Erfolg einer Psychotherapie sei, ein normales Leben führen zu können. Damit komme ich auf den Anfang unseres Gesprächs zurück, als sie sagten "geheilt". Nun erfährt man bei der Lektüre auch: Die Grenze zwischen Normalität und Persönlichkeitsstörung ist nicht immer so ganz scharf zu ziehen, sagt Kernberg auch an einer Stelle. Also was ist jetzt normal? Lütz: Ich habe mal bei einer Visite zu einer Schwesternschülerin gesagt, die mich fragte: "Was ist denn jetzt eigentlich normal? ""Was normal ist, bestimme ich. Ich bin Chefarzt." Ich habe vorher überprüft, dass sie auch Humor hatte. Ich glaube, im Zweifel ist jemand normal, aber merkwürdig wie Sie und ich. Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir Diagnosen nur auf Phänomene begrenzen, die wirklich auch Leidensphänomene sind. Aristoteles hat gesagt, die Diagnose hat nur den Sinn der Therapie, nur den Sinn der Therapie für leidende Menschen. Das heißt, sie hat eine Dienstfunktionen, ist eine spezielle Erkenntnis, die es sonst nicht gibt, nicht wie eine physikalische Erkenntnis. Wenn wir uns darauf konzentrieren, dann wird auch deutlich zum Beispiel, dass in der jetzigen Corona Krise es so ist, dass die schweren psychischen Krankheiten gar nicht zugenommen haben. Ich habe mich extra noch mal bei Kollegen erkundigt, wie die Belegungssituation ist. Menschen kommen mit schwersten Krisen klar. Aber wir leiden natürlich ein bisschen darunter, aber nicht in einer pathologischen Weise. Wir sind alle bedrückt davon und nicht jeder, der traurig ist, oder jeder, der verzweifelt ist, ist krank. Im Gegenteil: Wenn jemand nach einer schweren Ehekrise nicht traurig ist, dann ist er möglicherweise gestört. Also ich plädiere dafür, dass man die Öffentlichkeit mehr über psychische Krankheiten aufklärt. Deswegen dieses Buch "Neue Irre", dass man wirklich weiß, was das ist, und jeder muss das wissen. Ein Drittel der Deutschen sind im Leben irgendwann mal psychisch krank. Und die Zweidrittel anderen haben Angehörige, die psychisch krank sind. Man muss das wissen, und die breite Öffentlichkeit muss das wissen. Und wir müssen etwas toleranter mit unseren Merkwürdigkeiten sein, die auch ganz schön sind. Florin: Ganz am Schluss geht es um den Sinn des Lebens. "Lieben und arbeiten", sagt Otto Kernberg. Beten, sagt er nicht, beten und arbeiten und lieben. Ihre Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens? Lütz: Er ist ja auch kein Benediktiner, würde ich sagen. Ich habe mit ihm über die Gottesfrage gesprochen. Das war der spannendste Teil des Gesprächs. Da kam er drauf. Er ist sehr nachdenklich geworden an dieser Stelle. Für mich ist der Sinn des Lebens tatsächlich: die Fähigkeiten, die ich habe, so einzusetzen, dass sie fruchtbar werden. Diese Fähigkeiten hat mit der liebe Gott so gegeben, und die muss ich umsetzen. Dann muss ich nachher sehen, dass ich hoffentlich einigermaßen meine Pflicht auch im Leben getan habe. Das ist für mich der Sinn des Lebens.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Manfred Lütz: Neue Irre - Wir behandeln die Falschen: Eine heitere Seelenkunde. Auf dem neuesten Stand der Forschung. Kösel 2020. Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? Manfred Lütz im Gespräch mit Otto Kernberg. Herder 2020.
Manfred Lütz im Gespräch mit Christiane Florin
Als Psychiater und Theologe befasst sich Manfred Lütz intensiv mit psychischen Krankheiten und der Psychotherapie. Dabei müsse es eine strikte Trennung zur seelsorgerischen Arbeit geben. Diese funktioniere auf Augenhöhe, während in der Psychotherapie asymmetrisch gearbeitet werde, sagte Lütz im Dlf.
"2020-09-25T09:35:00+02:00"
"2020-09-29T16:38:40.015000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/psyche-und-seele-ich-bin-fuer-strenge-trennung-von-100.html
930
Ein Milliardär als Klimaverbesserer
Mika Anttonen, Chef der finnischen Tankstellenkette "st1", setzt sich für Klimaschutz ein (Imago ) Mika Anttonen steht vor einem Metalltor in Otaniemi, in Espoo, einer Satellitenstadt von Helsinki. Er trägt einen Parka, die blonden Haare zurückgegelt, sportlicher Typ. Die Zäune rund um das fast leere Gelände hat er mit riesigen Plakaten tapezieren lassen: "tosi tiippiä", steht da: "sehr tief". - "Da war kürzlich noch ein Riesenbohrer. Im Juni wird dann ein zweites Loch gebohrt. Siehst du das Ventil da?"- " Ah ja..."- "Dahinter das Loch, sechs Kilometer tief, durch das wir Wasser pumpen. Es macht da unten dann eine Kurve wie ein Eishockeyschläger. Da hinten wird dann ein neues Loch gebohrt, durch das wir das Wasser wieder hochholen." Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Wenn sich das Klima ändert - Finnland kommt ins Schwitzen" in der Sendung "Gesichter Europas". Das Sechs-Kilometer-Loch ist Teil eines Geothermie-Experiments. Mika Anttonen, Chef der Tankstellenkette "st1", hat große Ziele: Er will den Klimawandel stoppen, ein "gamechanger" sein, etwas entwickeln, das alles verändert. "Wir wollen weg von fossilen Brennstoffen. Auch die Wärmeerzeugung muss funktionieren, ohne irgendwas zu verbrennen, egal ob Kohle oder Holz. Die Energie fürs Fernwärmenetz in Helsinki kommt zum Beispiel noch aus zwei Kohlekraftwerken. Ich hoffe, dass wir unser Wasser bald in das Netz einspeisen können." Kleine Veränderungen reichen nicht, glaubt Mika Anttonen Mika Anttonen hat einen Startvorteil: Das Gestein hier in Finnland ist hart. Man muss zwar tief bohren, um an warmes Wasser zu kommen, aber dafür speichert der Stein die Wärme auch besser. 121 Grad heiß ist das Wasser in sechs Kilometern Tiefe. 80 bis 100 Millionen Euro kostet Anttonens Projekt – ohne Garantie auf Gewinn oder Anwendbarkeit. Aber als Milliardär kann er sich das Risiko leisten: "Es ist eine Wertefrage. Wenn wir den Folgegenerationen eine lebenswerte Welt hinterlassen wollen, müssen wir neue Lösungen finden, von denen wir vielleicht noch nichts wissen. Dafür muss man risikobereit sein. Und wir haben ja gar keine Wahl." Damit spielt der Unternehmer auf die wachsende Energienachfrage an: für Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, technische Gadgets. Dazu kommt die wachsende Weltbevölkerung. Nach Prognosen der Vereinten Nationen werden 2050 9,8 Milliarden Menschen auf der Erde leben: Mehr als zwei Milliarden mehr im Vergleich zu heute. Und alle streben einen höheren Lebensstandard an. Heißt: Auch der Energieverbrauch wächst immens. Kleine Veränderungen, wie der Einsatz von Elektroautos, würden nicht reichen, glaubt Anttonen: "Wenn man Elektroautos mit Energie aus Kohle betreibt, hilft das auch nicht weiter. Außerdem: Selbst wenn sich 200 Millionen Menschen einen Tesla leisten könnten – was bringt das schon? Wenn eine finnische Familie einen Weihnachtsurlaub in Thailand macht – dafür kann sie zehn Jahre mit einem alten Auto fahren. Das ganze System muss sich ändern! Der Einzelne kann nichts tun: Wenn ich aufhöre zu fliegen, fliegt Finnair trotzdem weiter." Anttonen geht davon aus, dass bei den meisten der eigene Komfort mehr zählt als die Klimavernunft. Aber immerhin fliegt Finnair mittlerweile mit Biosprit – zumindest teilweise. Ölkonzern Neste will ökologisch korrekt dastehen Petri Lehmus ist Forschungschef bei Neste. Mit Schutzweste und -brille steht er im Labor des finnischen Mineralölunternehmens und Biokraftstoffherstellers: In einem zweistöckigen 60er-Jahre-Bau eine Autostunde östlich von Helsinki. Auf dem fast fußballfeldgroßen Firmengelände im Industriegebiet werden unter anderem Shell-Laster mit Neste-Sprit betankt, um ihn an Tankstellen im Land zu verteilen. Lehmus und seine Kollegen tun einiges, um – soweit das als Ölkonzern möglich ist – ökologisch korrekt dazustehen: "16 bis 17 Prozent unseres Portfolios sind inzwischen Erneuerbare Energien. 2030 wollen wir bei mindestens 40 Prozent nachhaltiger Rohstoffe sein. Das ist ein großer Wandel in ziemlich kurzer Zeit." Forschungschef Petri Lehmus im Labor des finnischen Mineralölunternehmens Neste (Deutschlandradio/ Jenni Roth) Biokraftstoff für Flugzeuge Der Konzern veredelt hier, in Nordeuropas größter Erdölraffinerie, Schweröl, aber eben auch Fette aus der Natur: Fettreste aus Industrieküchen, Abfälle aus der Pflanzenölindustrie, Fischfabriken oder von Schlachthöfen bilden schon heute die Grundlage für die Hälfte eines erneuerbaren Diesels. Fast drei Millionen Tonnen dieses Diesels produziert Neste inzwischen jedes Jahr. Das spare etwa so viel Kohlenstoffdioxid ein, wie drei Millionen Autos im Jahr ausstoßen. "Aber auch so produziert ein Dieselmotor circa 30 Prozent weniger CO2 als Benzin. Das Problem mit Diesel waren die Stickoxid-Emissionen, aber nur bei älteren Dieselmotoren." Dafür ist Nestes Biokraftstoff so hochwertig, dass damit auch Flugzeugtanks befüllt werden können. Allerdings nur zum Teil: Noch ist er viel zu teuer, er kostet drei bis viermal so viel wie herkömmlicher Flugkraftstoff. "Aber wir haben schon einige Partner: Die Flughäfen in San Francisco oder Dallas zum Beispiel. Oder Fluglinien wie American Airlines. Lufthansa, KLM oder Flugzeughersteller wie Boeing testen den Flugkraftstoff gerade."
Von Jenni Roth
Immer mehr finnische Konzerne erkennen, dass es sich lohnt, in den Klimaschutz zu investieren. Der Milliardär Mika Anttonen kann und will neue Verfahren ausprobieren, um möglichst ressourcenschonend und nachhaltig zu produzieren. Der Einzelne könne nichts tun, meint er - das System müsse sich ändern.
"2019-02-20T09:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:05.663000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/finnland-ein-milliardaer-als-klimaverbesserer-100.html
931
Durststrecke bei Karstadt
Von Krise will man bei Karstadt nicht reden – aber Nicolas Berggruen gibt in einem aktuellen Bild-Interview zu, dass die Herausforderungen größer und anstrengender sind als gedacht. Nach 20 Jahren Missmanagement sei Karstadt wirklich "krank" gewesen. Wie man diesem Patienten noch helfen kann, wird wohl heute das wichtigste Thema bei seinem Besuch in der Essener Chefetage sein. Der 51-jährige Deutsch-Amerikaner bleibt aber optimistisch und er stützt auch jetzt seine Hoffnung auf die Mitarbeiter. So wie im Sommer 2010 als er sich gegen zwei andere Bieter durchsetzen konnte:"Karstadt gehört auch die Mitarbeiter, die Karstadt jeden Tag und für Jahre gearbeitet haben. Und die zwei - und natürlich das Management - sind die richtigen Besitzer von Karstadt. Und ich wünsche natürlich denen viel Erfolg und vielen Dank."Viel Wertschätzung für die Mitarbeiter, der neue Eigentümer im Dandylook kam gut an. Der Jubel von damals ist den meisten Beschäftigten mittlerweile allerdings vergangen. Zwar bekommen sie nach jahrelangem Verzicht wieder das volle Gehalt – aber Tariferhöhungen hat das Karstadt-Management vor Kurzem für die nächsten zwei Jahre gestrichen. Seitdem wird gestreikt: Die Karstadt-Verkäufer waren bereits in Hessen, Hamburg und im Ruhrgebiet auf der Straße. Heute gab es noch mal Proteste in Recklinghausen, wo die aktuellen Tarifverhandlungen für den Einzelhandel laufen: "Fast alle Karstädter sind da nicht mit einverstanden – und wir werden alles dazu beitragen, unsere Tariferhöhung durchzusetzen." "Ich fühle mich persönlich auch nicht wertgeschätzt, weil ich denke, wir haben schon sehr viel getan, dass das Unternehmen noch weiter besteht. Und ich kann auch nicht ein sanierungsbedürftiges Haus kaufen und erwarten, dass die Mieter das Geld mitbringen.""Sein Versprechen, das er am Anfang gegeben hat und warum er die Firma erworben hat. Da war ich persönlich dabei und da hat er gesagt, wenn wir Geld benötigen, wenn wir Unterstützung brauchen. Wird er es tun."Nicolas Berggruen verlangt jetzt aber Dankbarkeit und betont, dass es Karstadt nicht mehr geben würde, wenn er nicht eingestiegen wäre. Das mag sein – auch die Gewerkschaft ver.di hat sich übrigens für ihn als Bieter und Retter eingesetzt. Doch die Fachfrau für den Einzelhandel, Stefanie Nutzenberger, kritisiert ihn mittlerweile auch für den langen Sanierungsprozess. Besonders in der Chefetage würden die Fehler gemacht:"Jetzt wieder die Beschäftigten zur Kasse zu bitten, die bereits 650 Millionen Euro bezahlt haben, ist der falsche Weg und das würde bedeuten, dass weiter in falsches Management, in Missmanagement investiert wird und dass das finanziert wird."Die Tariferhöhung zu streichen, kratze an der Motivation der Beschäftigten – und ausgerechnet sie sollen ja das Geld in die Kasse holen. Doch der Kostenpunkt Personal könnte wirklich eine Ursache für das kranke Karstadt sein. Davon zumindest geht der Einzelhandelsexperte Gert Hessert aus. Er war selbst vor Jahren bei Karstadt im Management und beobachtet die Warenhausgruppe genau: "Vergleichen wir mal eine wichtige Kennziffer: Personal bei Kaufhof und Karstadt - etwa 20 Prozent schlechtere Produktivität bei Karstadt. Das heißt, Karstadt müsste vergleichsweise 5000 Mitarbeiter abbauen, um die gleiche Produktivität von Galeria Kaufhof zu erlangen."
Von Denise Friese
Der Milliardär Nicolas Berggruen ist heute zu Gast im eigenen Haus: Er informiert sich in der Essener Karstadt-Zentrale über sein Unternehmen, das er vor zweieinhalb Jahren aus der Insolvenz übernommen hat. Für Ärger sorgt seine Ankündigung, aus der Tarifbindung auszusteigen.
"2013-06-04T13:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:21:00.998000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/durststrecke-bei-karstadt-100.html
932
Zuckerberg muss öffentlich antworten
Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei der Anhörung im US-Senat in Washington. Nun muss er auch vor dem Europäischen Parlament Rede und Antwort stehen. (imago stock&people / Maciej Luczniewski) Jetzt können doch alle live mit dabei sein, wenn Facebook-Chef Mark Zuckerberg am frühen Abend im Europaparlament Rede und Antwort steht. Die Anhörung soll auf der Homepage des Europaparlaments übertragen werden. Parlamentspräsident Antonio Tajani, die Fraktionschefs und ausgewählte Abgeordnete, die Experten im Bereich Datenschutz sind, werden Zuckerberg befragen: zum Skandal um Cambridge Analytica, zum Datenschutz bei Facebook und zum möglichen Einfluss der sozialen Medien auf Wahlen. Bei dem Treffen mit dabei sein wird auch der Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht von den Grünen. Er ist der Meinung: "Die Mehrzahl der Nutzer bei Facebook sind aus der Europäischen Union. Das heißt, es ist absolut richtig, dass Herr Zuckerberg jetzt hier auch im Europäischen Parlament Rede und Antwort steht." Ergebnisse nach Transparenz Albrecht hofft, dass nicht nur geredet wird, sondern es auch konkrete Ergebnisse geben wird. "Dass wir mehr Erkenntnisse darüber bekommen, was Facebook eigentlich plant mit Blick auf den Datenschutz ihrer Nutzer. Und wie vor allem Dinge in Zukunft ein Geschäftsmodell betrieben werden kann, das nicht nur auf die Ausbeutung der Daten und der Privatsphäre der Menschen setzt." Vom Datenskandal um das britische Analyse-Unternehmen "Cambridge Analytica" waren knapp drei Millionen Europäer betroffen. Facebook-Chef Zuckerberg muss besonders auf die Frage antworten, ob so etwas in Zukunft wieder geschehen kann, fordert Vera Jourova, die in der EU-Kommission für Recht und Verbraucher zuständig ist. "He should answer, especially on the question wheather his could happen again." Europaparlament legt großen Wert auf Transparenz Bis zuletzt war ein Gespräch hinter verschlossenen Türen geplant. Zuckerberg selbst soll das gefordert haben, weil er die Befürchtung hatte, vor allem von rechten und linken Abgeordneten ins Kreuzverhör genommen zu werden, heißt es. Doch eine Anhörung im Parlament, die das Format eines Geheimgesprächs hat, wäre sehr befremdlich gewesen. Ausgerechnet im Europaparlament, das großen Wert auf Transparenz legt. Zumal Zuckerberg den US-Abgeordneten im April ausführlich und öffentlich Rede und Antwort gestanden hatte. Druck von den Grünen für ein öffentliches Treffen Der Druck aus Parlament und Kommission stieg. Vor allem die Grünen hatten sich dafür eingesetzt, das Treffen öffentlich zu machen. Der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt hatte aus Verärgerung über den geplanten Ausschluss der Öffentlichkeit angekündigt, das Gespräch zu boykottieren. Die Kehrtwende kam dann am Sonntag -nachdem Parlamentspräsident Tajanis mit Facebook-Chef Zuckerberg telefoniert hatte. Veranstaltung weitgehend zu Zuckerbergs Bedingungen Das heutige Treffen kann man als einen Deal sehen: Zuckerberg zollt dem Europaparlament mit seinem Besuch Respekt und vermittelt damit, dass er die europäischen Facebook-Kunden ernst nimmt. Anderseits läuft die Veranstaltung weitgehend zu seinen Bedingungen ab. Dennoch finden viele Europaabgeordnete es positiv, dass der Auftritt nun öffentlich ist, und jeder, der interessiert ist, übers Internet live dabei sein kann, und sich selbst ein Bild von der Anhörung machen kann. Und: Ein solches Millionenpublikum schafft sicherlich einen höheren Druck als ein gemütliches Treffen hinter verschlossenen Türen.
Von Karin Bensch
Bis zuletzt hatte Facebook-Chef Zuckerberg von Brüssel ein Gespräch hinter verschlossenen Türen gefordert. Wohl, weil er die Befürchtung hatte, von Abgeordneten des Europaparlaments ins Kreuzverhör genommen zu werden. Doch genau dafür haben sich Politiker eingesetzt.
"2018-05-22T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:53:15.701000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/facebook-chef-im-europaparlament-zuckerberg-muss-100.html
933
Varoufakis und die "produktive Undeutlichkeit"
Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. (AFP / Emmanuel Dunand) Man habe die eigenen Reformpläne absichtlich unbestimmt formuliert, sagte Varoufakis im griechischen im Fernsehen – und zwar in Abstimmung mit anderen Euroländern. Sonst würden sie nicht die notwendige Zustimmung der Parlamente der Euroländer erhalten, sagte er im griechischen Fernsehen. Er bezeichnete dieses Vorgehen als "produktive Undeutlichkeit". Vor der Einigung mit den Euroland-Partnern beim jüngsten Eurogruppen-Treffen in Brüssel habe er ein wichtiges Gespräch geführt, so Varoufakis. Mit wem genau, wollte er allerdings nicht verraten. Aber soviel, dass ihm dabei gesagt worden sei, das bisherige Ziel des griechischen Sparprogramms sei unrealistisch. Dieses sah vor, einen primären Haushaltsüberschuss von 4,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes zu erreichen. Um eine kleinere Zahl zu vermeiden, hätten die Finanzminister der anderen Eurostaaten nach Angaben von Varoufakis eine "unklare Umschreibung" vorgeschlagen. Dem habe er zugestimmt und so sei die Reformliste entstanden. Abstimmung im Bundestag Über die Verlängerung der EU-Hilfen für Griechenland hat heute der Bundestag abgestimmt. Das hochverschuldete Griechenland soll vier Monate mehr Zeit für die Umsetzung der vereinbarten Reformen bekommen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) betonte zum Auftakt der Debatte, es gehe nicht um neue Milliarden. Abgestimmt wurde über eine Laufzeitverlängerung des bereits 2012 gebilligten Hilfspakets. Ohne Verlängerung liefe das Hilfsprogramm am 28. Februar aus. Und Geld gibt es ohnehin erst Ende Juni - wenn Griechenland bis dahin seine angekündigten Reformen auch umgesetzt hat. Konkret geht es um bislang zurückgehaltene Kredite über 5,4 Milliarden Euro aus dem laufenden Hilfspaket sowie 1,8 Milliarden Euro an Gewinnen, die die EZB mit dem Verkauf von griechischen Staatsanleihen erwirtschaftet hat. Hinzu kommen 10,9 Milliarden Euro, die ursprünglich für die Athener Banken eingeplant waren. Moscovici: Schritt für Schritt Der SPD-Bundesabgeordnete Carsten Schneider erklärte im DLF, warum er einer Verlängerung der Griechenland-Hilfen zustimmt: Er verlasse sich auf die schriftlichen Reformzusagen der griechischen Regierung. Der CDU-Abgeordnete Carsten Linnemann, der mit Nein stimmen will, bescheinigte der Währungsunion im DLF eine "falsche Konstruktion." EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici sagte im DLF, man müsse nun "Schritt für Schritt vorgehen". Alle hätten ein Interesse daran, dass Griechenland in der Eurozone bleibe. Romano Prodi forderte Deutschland auf, seine Führungsrolle in Europa verantwortlicher auszuüben. Die USA hätten nach dem Zweiten Weltkrieg von Initiativen wie dem "Marshall-Plan" auch selbst profitiert, sagte der frühere Präsident der Europäischen Kommission im DLF. Das solle die Bundesregierung auch im Verhältnis zu Ländern wie Griechenland bedenken. (bor/nin)
null
Mit großer Mehrheit hat der Bundestag für eine Verlängerung der Griechenland-Hilfen gestimmt. Und die Regierung in Athen? Finanzminister Varoufakis verriet, welchen Tipp er von den Europartnern für die griechische Reformliste bekommen hat.
"2015-02-27T09:56:00+01:00"
"2020-01-30T12:23:53.598000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechenlands-reformplaene-varoufakis-und-die-produktive-100.html
934
Wie die Schweiz sich an Nazi-Raubgold bereicherte
US-Beamter Eizenstat: „Die Schweizer Nationalbank muss gewusst haben, dass ein Teil des Goldes aus besetzten Ländern geraubt worden war". (dpa/picture alliance ) Heidi und das Matterhorn, Schokolade und Präzisionsuhren – Schweizer Klischees. Dazu freiheitsliebende Menschen wie weiland Wilhelm Tell und honorige Politiker mit Westen, so rein wie die Bergluft. Doch in den 1990er-Jahren wurde die Idylle brüchig. Damals kam ans Licht, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs tonnenweise geraubtes Gold von den Nazis gekauft hatte – gegen harte Devisen. Die brauchte das Dritte Reich, um an militärisch wichtige Rohstoffe aus dem Ausland zu gelangen. Die angeblich neutrale Alpenrepublik – eine Goldwaschanlage für Hitlerdeutschland. Und mehr, so der amerikanische Regierungsbeamte und Antisemitismusforscher Gregg Rickman: Hat die Schweizer Hilfe den Krieg um ein Jahr verlängert? „Sie waren die Bankiers der Nazis, was denen Kontakte zur restlichen Welt ermöglichte. Dadurch hatten die Nazis einen Ort, ihr geraubtes Vermögen anzulegen, Diamanten, Kunstgegenstände, Gold, Bankkonten und so weiter. Die Schweiz lieferte Munition, Autos, Waffen, alles Mögliche, was Deutschland brauchte, insbesondere zum Ende hin. Es kann sein, dass die Schweizer Hilfe den Krieg um ein Jahr verlängert hat.“ 1942 Schweiz schließt Grenzen für Verfolgte des Nationalsozialismus 1942 Schweiz schließt Grenzen für Verfolgte des Nationalsozialismus Die Schweiz gewährte im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zahllosen Flüchtlingen Schutz. Am 13. August 1942 verhängte sie jedoch eine Einreisesperre für Ausländer, die allein aus rassischen Gründen verfolgt wurden. Ein Erlass, der für manche Juden einem Todesurteil gleichkam. Viele hatten das vermutet, beweisen konnte es lange keiner. Dann veröffentlichte im September 1996 zunächst das britische Außenministerium bislang geheime Dokumente. Darin wurde der Wert des transferierten Goldes mit ungeheuerlichen 500 Millionen US-Dollar beziffert, was heute rund neun Milliarden Dollar entspricht. Und der Parlamentarier Greville Janner stellte klar: Gold im Wert von heute rund neun Milliarden Dollar „Wir reden hier über geklautes Vermögen. Ob es um Goldbarren geht, persönliches Eigentum, oder ob es Gold der Leichen von Auschwitz ist. Nicht nur zu klauen ist gegen das Gesetz eines jeden zivilisierten Landes, sondern auch geklaute Dinge weiterzugeben.“ Im Tausende Meilen entfernten Washington erfuhr Staatssekretär Stuart Eizenstat von den Anwürfen aus London. Er bat seinen Präsidenten, Bill Clinton, um die Einrichtung einer Untersuchungskommission. Neun Monate später, am 7. Mai 1997, trat Eizenstat mit einem 200-Seiten-Bericht vor die Presse. „Die Schweizer Nationalbank muss gewusst haben, dass ein Teil des Goldes aus besetzten Ländern geraubt worden war. Es war allgemein bekannt, dass die Reichsbank kaum noch eigenes Gold besaß.“ Jüdischer Weltkongress: Größter Raub der Menschheitsgeschichte Das Nazi-Gold stammte außerdem von Holocaust-Opfern. Schmuck, eingeschmolzenes Zahngold. Der jüdische Weltkongress sprach nach Erscheinen des Eizenstat-Berichts vom größten Raub der Menschheitsgeschichte. Die Weltöffentlichkeit reagierte entsetzt – und die Schweizer stellten ihr Selbstbild in Frage. Der Historiker Stefan Keller: „Ich glaube, dass etwas sehr Wichtiges war in diesem Prozess: der Liebesentzug eines Teils der USA, also der US-Medien. Das hatten die Schweizer nie erwartet. Dass plötzlich sie nicht mehr so lieb Kind sind, die essen ja auch unsere Schokolade. Das war ein ungeheurer Schock.“ Raubkunst nach 1945"Was verbirgt sich hinter Provenienzrecherche?" Gurlitt-Nachlass in Bonn"Das gehörte mal meiner Familie" Beschlagnahmte Kunstsammlung Zehn Jahre NS-Raubkunst-Fall Gurlitt Der Schock war auch deshalb so groß, weil zeitgleich aufgedeckt wurde, dass Schweizer Banken unter Berufung auf ihr vielgerühmtes Bankgeheimnis den Nachkommen von etwa im KZ ermordeten Juden seit Jahrzehnten den Zugriff auf deren namenlose Nummernkonten verweigerten. Ohne Totenschein ginge das nicht, so die mehr als zynische Begründung. Schweiz verweigerte Nachkommen Zugriff auf Nummernkonten Lange hatte die Schweiz geglaubt, sich mit dem so genannten Washingtoner Abkommen von 1946 von historischer Schuld freigekauft zu haben. Damals hatten sich die alliierten Sieger mit Bern auf eine Einmalzahlung von 250 Millionen Franken für den europäischen Wiederaufbau geeinigt. Auch weil bereits Kalter Krieg herrschte. Gregg Rickman: „Europa brauchte die Schweiz, es brauchte sie gegen die Sowjetunion. Deutschland musste aufgebaut werden als Pufferzone. Und aus den Dokumenten wissen wir, dass Großbritannien am Ende des Krieges versuchte, Kredite von der Schweiz zu bekommen, und deshalb war Großbritannien besonders nachgiebig.“ Längst noch nicht alle Konten ausfindig gemacht Nach dem Eizenstat-Bericht von 1997 wuchs der Druck auf die Schweiz. Bern richtete eine Untersuchungskommission ein. Über 50.000 Konten mit Bezug zu Holocaust-Opfern wurden ausfindig gemacht. Schweizer Banken verpflichteten sich schließlich zu einer Zahlung von insgesamt 1,25 Milliarden Dollar an Nachfahren getöteter Kontobesitzer. Der Verbleib des Nazi-Raubgolds ist allerdings bis heute nicht vollständig aufgeklärt
Von Almut Finck
Am 7. Mai 1997 veröffentlichte der amerikanische Spitzenbeamte Stuart Eizenstat einen Bericht, aus dem hervorging, was für schmutzige Geschäfte die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs mit Nazi-Deutschland getrieben hatte. Dabei ging es um Gold - von Holocaust-Opfern und den Bewohnern der besetzten Länder.
"2022-05-07T09:05:00+02:00"
"2022-05-07T00:05:00.077000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schweiz-nazi-gold-eizenstat-bericht-100.html
935
Zusammensetzung des trivalenten Grippeimpfstoffs nicht optimal
Möglicherweise ist die aktuelle Grippeschutzimpfung nicht passgenau. (imago / Christian Ohde) Genaue Zahlen seien aber etwas schwierig, weil viele Arztpraxen über den Jahreswechsel hinweg geschlossen hätten. Im Vergleich zum Vorjahr sei der Anstieg etwas weniger früh. Im vergangenen Jahr seien sehr früh Grippeviren vom Subtyp Influenza A H3N2 aktiv gewesen, dieses Jahr würden besonders Influenza B Viren nachgewiesen. Der durch die beiden Virenstämme ausgelöste Krankheitsverlauf sei aber ähnlich. Auch wenn im trivalenten Impfstoff, der zwei Influenza-A-Stämme und eine Influenza-B-Linie enthalte, die aktuell besonders nachgewiesene B-Linie nicht enthalte, sei ein gewisser Schutz zu erwarten.
Silke Buda im Gespräch mit Carsten Schroeder
Seit Weihnachten und besonders Jahresbeginn sei ein deutlicher Anstieg der Grippe zu spüren, sagte Silke Buda vom Robert Koch-Institut (RKI) im Dlf. Etwas unglücklich sei, dass der bei der Grippeschutzimpfung verwendete trivalente Impfstoff die aktuell besonders auftretenden B-Linie nicht enthalte.
"2018-01-09T10:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:34:11.811000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grippewelle-zusammensetzung-des-trivalenten-100.html
936
"Chance, dass Le Pen Präsidentin wird, ist nach wie vor gering"
Marine Le Pen tritt für den rechtsextremen Front National bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich an (Imago) Dirk-Oliver Heckmann: Der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich, er entwickelt sich zu einem regelrechten Krimi. Marine Le Pen vom rechtsradikalen Front National droht, als Siegerin aus der ersten Runde hervorzugehen, und das hat einen Grund: Dem konservativen Kandidaten Francois Fillon nämlich hängt der Vorwurf, seine Frau jahrelang zum Schein angestellt und mit Steuermitteln bezahlt zu haben, wie ein Mühlstein um den Hals. Gestern sagte er einen Pflichttermin kurzfristig ab und kündigte für mittags eine Erklärung an. Alle dachten dann, jetzt gibt er seinen Rücktritt bekannt. Doch das Gegenteil war der Fall. Fillon gab bekannt, dass er für Mitte März von den zuständigen Untersuchungsrichtern vorgeladen wurde, ging aber gleich in die Offensive, sprach von einem Versuch, ihn politisch zu ermorden, und kündigte an, weiterzumachen. Am Telefon ist jetzt Claire Demesmay, Leiterin des Programms deutsch-französische Beziehungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Schönen guten Morgen. Claire Demesmay: Guten Morgen. Heckmann: Frau Demesmay, hatten auch Sie damit gerechnet, dass Fillon das Handtuch werfen würde, und wie sehr waren Sie überrascht, dass er es nicht tat? Demesmay: Ich war in der Tat überrascht, dass er nicht zurücktritt. Als ich gehört habe, dass Fillon seinen Besuch bei der Landwirtschaftsmesse in Paris abgesagt hatte, habe ich gedacht: Okay, jetzt ist es so weit. Man muss sehen, diese Landwirtschaftsmesse in Frankreich ist ein echtes Politikum, und wenn ein Politiker nicht hingeht, dann ist das schon ein Zeichen dafür, dass die Lage ernst ist. Die Lage ist ernst, aber Fillon macht trotzdem weiter. "Es gibt keinen Plan B" Heckmann: Die Konservativen gehen jetzt womöglich sehenden Auges in eine schwere Niederlage. Wie lange machen das denn seine Unterstützer mit? Es gibt ja schon erste Absetzbewegungen. Demesmay: Ja, es gibt sie, auch Bruno Le Maire, der sein Berater bis jetzt für internationale Politik und Europafragen war, der diese Rolle nicht mehr haben will, der auch zurückgetreten ist. Und auch die Partei von Bruno Le Maire, die kleine Zentrumspartei in Frankreich. Das ist kein gutes Zeichen, keine gute Nachricht für Fillon. Die Frage, wie lange er weitermacht, ist legitim und ist auch schwer zu beantworten, weil man hätte jetzt schon mehrmals sagen können, jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich glaube, diese Ungewissheit hat zwei Gründe: Der erste Grund ist, dass Fillon immer noch an einen möglichen Sieg glaubt. Man muss sehen, dass die Lage zurzeit in der französischen Politik so ist, dass derjenige, der in der Stichwahl gegen Marine Le Pen antreten wird, große Chancen hat, Präsident zu werden. Das ist quasi sicher. Und heute in den Umfragen ist der Unterschied zwischen Fillon und Macron, dem Chef von der Bewegung "En Marche", nicht so groß. Heute sind viele Wähler noch unentschieden und die Stimmung kann schnell kippen, und das ist die Wette von Fillon. Der zweite Grund für diese zögerliche Haltung ist, dass es keinen Plan B gibt. Die Partei ist tief gespalten in mindestens drei Lager, die Fillon, Sarkozy und Alain Juppé verkörpern. Und Alain Juppé, den Sie erwähnt haben, Alain Juppé, der bei der Vorwahl der Konservativen den Platz zwei erreicht hatte, ist im rechten Lager wirklich umstritten und insbesondere Sarkozys Anhänger wollen ihn nicht. Das heißt, es gibt keinen Konsens heute über einen alternativen Kandidaten. Heckmann: Deswegen fällt ein möglicher Aufstand gegen Fillon auch aus, weil es keinen alternativen Kandidaten gibt. Demesmay: Ja, genau. Es gibt keinen alternativen Kandidaten. Und wenn die Partei eine neue Diskussion über eine Führungsrolle, über einen neuen Chef eröffnen würde, dann würde das heißen, dass die alten Gräben sehr schnell wieder da sein werden, weil diese Spaltungen in der Partei da sind, und das ist die Chance für Fillon. "Fillon versucht, den Rechtsstaat zu diskreditieren" Heckmann: Aber er hat ja auch angekündigt, sich zurückzuziehen für den Fall, dass offizielle Untersuchungen gegen ihn eingeleitet werden. Bricht er damit nicht sein Wort? Demesmay: Ja, das stimmt. Das hatte er gemacht. Das hatte er angekündigt und er hat das Versprechen nicht eingehalten. Das ist ein Problem. Das Problem ist umso größer, als er sich immer im Wahlkampf als Monsieur Saubermann präsentiert hat. Er hat im Wahlkampf auch bei der Vorwahl der Konservativen auf seine moralische Integrität gesetzt. Er hat das immer wieder betont, auch um sich von Sarkozy zu unterscheiden. Wenn er das jetzt nicht macht, dann verliert er ganz viel an Glaubwürdigkeit. Und das ist umso problematischer und das ist noch ein Schritt weiter, dass er versucht, die Justiz und sogar den Rechtsstaat in Frankreich zu diskreditieren, und damit hat er einen vergleichbaren Diskurs wie Marine Le Pen im Front National. Heckmann: Oder wie Donald Trump in den USA. Demesmay: Ja, ja, auf jeden Fall. Und mit diesen Attacken auf die Justiz geht er sehr weit und das kann auch sehr schnell dann gegen ihn wirken. "Das Gesicht des Systems ist Fillon" Heckmann: Dass Francois Fillon jetzt nicht ausgestiegen ist, Frau Demesmay, wem nutzt das besonders? Nutzt das Emmanuel Macron, dem unabhängigen Kandidaten, oder am Ende Marine Le Pen? Demesmay: Es nutzt den beiden, die Sie erwähnt haben. Es nutzt auf jeden Fall Marine Le Pen, die jetzt ganz vorne in den Umfragen liegt, die – das erwarten alle – am ersten Platz bei dem ersten Wahlgang ankommen wird. Und das nutzt auch natürlich Emmanuel Macron, der übrigens heute sein Programm vorstellen wird und der sich als unabhängig präsentiert, als Kandidat gegen das System. Die beiden, Le Pen und Macron wollen, einen Anti-System-Diskurs verkörpern, und das Gesicht ist zurzeit Fillon. Das ist jetzt ganz spannend und wie es sich entwickeln wird, ist noch schwer zu sagen, weil jeden Tag kommt eine neue Überraschung. Heckmann: Abschließend gefragt: Sie gehen aber nicht davon aus, dass Marine Le Pen am Ende nach dem zweiten Wahlgang die Nase vorn hat und in den Elisée einziehen kann? Wir können uns beruhigt geben? Demesmay: Das Wahlsystem in Frankreich ist ja so, dass in der Regel in der Stichwahl die rechtsextreme Partei doch verliert, weil ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler sich dann hinter dem anderen Kandidaten versammeln. Das ist jetzt meine Erwartung. Natürlich kann man das in der aktuellen Lage auch nicht mehr ausschließen. Aber die Chance oder die Wahrscheinlichkeit, dass Marine Le Pen Präsidentin wird, ist trotzdem nach wie vor gering. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Claire Demesmay im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Francois Fillon hält trotz Ermittlungen gegen ihn an seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl in Frankreich fest. "Fillon glaubt noch an einen Sieg", sagte Claire Demesmay von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im DLF. Denn wer in der erwarteten Stichwahl gegen Marine Le Pen antrete, werde Präsident.
"2017-03-02T06:50:00+01:00"
"2020-01-28T10:17:18.380000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wahlkampf-in-frankreich-chance-dass-le-pen-praesidentin-100.html
937
Weitere Proteste gegen Trump
Proteste gegen den zukünftigen Präsidenten der USA, Donald Trump, in New York. (picture alliance / dpa - Alba Vigaray) Hunderte stehen vor dem Trump-Hotel in Washington. Sie rufen laut: Wir lehnen den künftigen Präsidenten ab. Und sie halten Schilder hoch, auf denen steht: "Refuse to hate". Ich weigere mich zu hassen oder Notmypresident. Nicht mein Präsident. Der 26-jährige Adam geht mit dem Strom der Demonstranten vom Trump-Hotel zum Weißen Haus: "Wir sind hier, weil wir zeigen wollen, dass wir in den nächsten vier Jahren nicht einfach daneben stehen werden. Dass wir Trump nicht mit seinen fremdenfeindlichen und rassistischen Sprüchen davonkommen lassen und dass das nicht unsere Werte sind und dass wir ihn aus dem Amt wählen werden." Die 20-jährige Rebecca reckt eine Faust in den Nachthimmel. Sie werde nicht schweigen. Ihre Stimme solle gehört werden. Seit sie drei Jahre alt ist, lebt sie in den USA. Nie hat sie erlebt, was sie jetzt erlebt, seit Trump gewählt ist: "Ich arbeite bei einer Bank, und mir hat jemand gesagt, es sei schön, dass sie Einwanderern immer noch beibringen, bis zehn zu zählen." Für die 23-jährige Kelly war es keine Frage, dass sie an diesem Abend in Washington gegen Trump auf die Straße geht - und sie will es weiter tun: "Weil Menschen protestiert haben, darf ich als Frau überhaupt wählen. So sind Diktatoren gestürzt worden. Proteste sind extrem wichtig, Teil der Demokratie und des politischen Prozesses." Hakenkreuze und die Worte "Macht Amerika wieder weiß" Die Reaktion von Donald Trump auf die zweite Nacht mit Protesten gegen ihn quer durchs Land kommt über Twitter: "Ich habe gerade eine erfolgreiche Wahl hinter mir. Jetzt protestieren professionelle Demonstranten, die von den Medien angeheizt werden. Sehr unfair." Es sind junge Männer und Frauen, die gegen den künftigen US-Präsidenten auf die Straße gehen. Zehntausende. In Washington, in Baltimore, in Seattle, in Minneapolis oder New York. Quer durch die USA. Danielle war schon am Wahlabend vor dem Trump-Hotel und geschockt, was sie erlebte, gleich nachdem Trumps Sieg feststand: "Das Heftigste war ein Mann, der rausgestolpert ist und gerufen hat: Fuck die Neger, Fuck die Juden und die unechten Weißen." Sie erzählt, wie sich die Stimmung in den USA schon jetzt verändert hat. Beispielsweise auf dem Campus ihrer alten Uni: "Letzte Nacht gab’s da auf einmal lauter Hakenkreuze und die Worte 'Macht Amerika wieder weiß'." Laetzia aus Nürnberg studiert seit einem Jahr in den USA. Für sie ist es keine Frage, dass sie mit ihren Freunden auf die Straße geht. Die USA sind ein Land in Aufruhr. Und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht.
Von Martina Buttler
In mehreren US-Städten gab es nach dem Sieg von Donald Trump bei der Präsidentenwahl die zweite Nacht in Folge Proteste. Vor allem junge Menschen gehen auf die Straße. Die Stimmung in den USA habe sich durch Trumps rassistische und fremdenfeindliche Sprüche verändert. Der findet die Demonstrationen unfair.
"2016-11-11T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:03:40.948000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-weitere-proteste-gegen-trump-100.html
938
Zuspitzung am Asowschen Meer
Der Hafen von Mariupol ist der größten Hafen am Asowschen Meer (imago stock&people / Vladislav Musienko) Mariupol: Im größten Hafen am Asowschen Meer stehen die meisten Kräne still. Die lange Pier ist verwaist, nur ein Frachtschiff hat an diesem Tag festgemacht. Zwei Kräne schichten tonnenschwere Metallplatten aufeinander. Aleksej Mischenko gibt einem der Kranführer ein Zeichen, die wuchtige Platte schwenkt über die Pier. Mischenko weicht ein paar Schritte zurück."Das ist Ware aus unseren Kombinaten, Azowstal, Iljitsch. Sie geht ins Ausland." Mischenko ist 32 Jahre alt, hat zwei Kinder, seine Frau ist Buchhalterin. Seit 13 Jahren arbeitet er schon im Hafen. "In letzter Zeit geht es uns nicht besonders. Vor dem Konflikt im Donbass war der Hafen voll ausgelastet. Alle Kais waren mit Schiffen belegt. Der Hafen hat gelebt. Es war stabil." Er löst die Platte vom Kranhaken. Mischenko muss um jede Schicht bangen. Im Hafen herrscht Kurzarbeit, die Löhne wurden um 20 Prozent gesenkt. Immerhin hätten sie noch niemanden entlassen, erzählt Hafenchef Alexandr Oleynik: "Das ist sehr wichtig. Es dient der Sicherheit der Region. Wenn die Menschen keine Arbeit mehr haben und keinen Lohn mehr bekommen, entsteht sozialer Sprengstoff. Und auf welche Seite schlagen sich dann die Leute?" Russland blockiert die Zufahrt zum Asowschen Meer Die Industrie- und Hafenstadt Mariupol liegt im Südosten der Ukraine, nahe dem Gebiet, das von Russland unterstützte Kriminelle besetzt halten. Mehr als vier Jahre dauert der Krieg schon. Die Front ist nur zwanzig Kilometer entfernt. Auch um Mariupol wurde in den ersten Monaten des Krieges gekämpft. Die ukrainefeindlichen Milizen feuerten Raketen auf die Stadt, Zivilisten starben. Anfang 2015 gelang den proukrainischen Kräften eine Gegenoffensive. Seitdem ist es in der Stadt ruhig. Nur selten ist Gefechtslärm von der Front zu hören. Seit ein paar Monaten aber spitzt sich die Lage in Mariupol wieder zu, diesmal von See aus. Denn Russland blockiert die Zufahrt zum Asowschen Meer und damit zu Mariupol und zu Berdjansk, einem weiteren ukrainischen Industriehafen. Das Asowsche Meer ist ein Binnenmeer, wenig kleiner als die Niederlande. Russland und die Ukraine sind die einzigen Anrainer. Es ist nur über die Straße von Kertsch mit dem Schwarzen Meer verbunden. Die schmale Meerenge verläuft zwischen Russland und der Krim. Mit der Annexion der Halbinsel gewann Russland 2014 auch die Kontrolle über die Einfahrt ins Asowsche Meer. Lange Zeit ließ Russland die Schiffe problemlos passieren. Schließlich hatten sich die Ukraine und Russland das Meer viele Jahre zuvor friedlich geteilt. Auch die Eisenbahnverbindung ist zerstört Doch dann baute Russland eine Brücke, um die Krim an das russische Festland anzubinden, und begrenzte damit die Größe der Schiffe. Seit August 2017 können nur noch Schiffe bis zu 33 Metern Höhe hindurch. Die russischen Häfen am Asowschen Meer hätten geringere Wassertiefen und würden deshalb ohnehin nur von kleineren Schiffen angelaufen, doch Mariupol hat nun ein Problem, erzählt Hafenchef Alexandr Oleynik aus Mariupol. "Uns können etwa 140 Schiffe, die früher kamen, wegen der Höhenbegrenzung nicht mehr anlaufen. Wir haben deshalb einen sehr großen Vertrag mit dem Stahlkonzern Metinvest verloren." Metinvest ist eines der größten Stahl- und Bergbauunternehmen in Europa. Der Hauptsitz ist in Mariupol. Dort besitzt die Gruppe zwei Stahlwerke. "Der Konzern hat Eisen in die USA geliefert, eine Million Tonnen im Jahr. Die Händler sind auf andere ukrainische Häfen ausgewichen, nach Odessa, Tschernomorsk, Juschne." Eine Million Tonnen sind beträchtlich. Insgesamt schlägt der Hafen zurzeit nur rund sechs Millionen Tonnen um. Vor dem Krieg waren es mehr als doppelt so viel. Die großen Kohleunternehmen im abtrünnigen Donezker Gebiet verschifften ihre Produktion in Mariupol. Die Verbindungen sind abgebrochen, die Eisenbahnverbindung ist zerstört. Als Russland im Mai 2018 die Krim-Brücke in Betrieb nahm, kam ein weiteres Problem hinzu. Russland begann nun, die Einfahrt für Schiffe in das Asowsche Meer durch langwierige Kontrollen zu verzögern. Verschärfte Kontrollen seit der Fußball-WM in Russland In Mariupol kümmert sich die Firma Maritime Logistics um die Belange der Reeder. Ihr Geschäftsführer, Anton Schapran, ist in den letzten Wochen eine Art Sprecher der Schiffseigner geworden. "Zunächst ging es um zwei, zweieinhalb Stunden Verzögerung, das hat niemanden besonders aufgeregt. Es wurde damit erklärt, dass die Brücke gerade neu eröffnet ist. Es seien Sicherheitsmaßnahmen – zumal am Vorabend der Fußball-Weltmeisterschaft." Die Fußball-Weltmeisterschaft fand von Mitte Juni bis Mitte Juli in Russland statt. In der Zeit verschärfte Russland im ganzen Land die Sicherheitskontrollen. "Dann war die WM vorbei. Und die Kontrollen blieben. Russland hat sogar die Zahl der Schiffe erhöht, die die Inspektionen durchführen. Das ist einerseits gut, denn dann können sie mehr Schiffe abfertigen. Anderseits heißt das, sie haben nicht vor, damit aufzuhören. Der ganze August verlief nervenaufreibend, denn die Schiffe wurden immer länger aufgehalten: Einen Tag, drei Tage, dann sogar vier bis fünf Tage." Schapran tritt an eine große Seekarte, die in seinem Büro hängt. Die Schiffe würden vor der Brückendurchfahrt ins Asowsche Meer das erste Mal gestoppt. Schiffsagent Anton Schapran zeigt wo die Schiffe kontrolliert werden (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth) "Dann passieren sie die Meerenge von Kertsch. Und dann sollte dem Anlaufen der Häfen eigentlich nichts mehr entgegenstehen, aber einige werden auf dem Asowschen Meer ein weiteres Mal überprüft. Es ist willkürlich, es hat kein System." Das ganze wiederholt sich, wenn die Schiffe das Asowsche Meer wieder verlassen. Und das in einer Branche, in der jede Stunde zählt. Den Reedern entstünden zusätzliche Kosten in Höhe von bis 6.000 bis 7.000 Dollar pro Tag, erläutert Schapran. "Von den Kapitänen und den Schiffseignern höre ich, dass sie nirgendwo offiziell Beschwerde einreichen, weil sie Angst haben. Sie fürchten, dass ihre Klage in die falschen Hände gerät und ihr Schiff beim nächsten Mal noch mehr Probleme bekommt." Bereits jetzt zeige sich, dass der Hafen Mariupol für die Reeder im internationalen Geschäft immer uninteressanter werde, sagt Schapran. Mit Folgen für die lokale Wirtschaft. "Die Verfrachter haben Probleme, Schiffe zu finden. Nicht alle Eigner lassen sich auf die möglichen Verzögerungen ein. Wenn jemand seine Fracht schnell verschiffen muss, muss er draufzahlen oder andere für ihn ungünstige Bedingungen der Reeder akzeptieren." Ständige militärische Bedrohung Die Schikanen und Kontrollen sind Teil hybrider Kriegsführung. Deren Ziel ist es, die Ukraine wirtschaftlich weiter in Richtung Abgrund zu treiben und Unruhen zu schüren, erläutert der Politologe Vladimir Fesenko, Leiter des Forschungszentrums Penta in Kiew. "Die Lage am Asowschen Meer hat sich zugespitzt, weil Russland seit dem Bau der Brücke von Kertsch eine neue Taktik anwendet. Ich nenne es die "Taktik einer Riesenschlange". Es geht darum, die beiden Häfen Mariupol und Berdjansk langsam ökonomisch zu ersticken." Die Krim-Brücke sei nicht nur eine Verkehrsverbindung, sondern ein politisches Instrument Russlands, um der Ukraine weiter zu schaden, sagt Volodymyr Omelyan, Minister der Ukraine für Infrastruktur. "Wenn die ukrainischen Seehäfen ineffektiv werden und Verlust machen, werden eine Menge Menschen dort ihre Arbeit verlieren. Sie werden ganz sicher unzufrieden sein, und als erstes der Ukraine die Schuld dafür geben, dass sie ihre Arbeitsplätze nicht schützen kann." Die Pier im Hafen von Mariupol ist verwaist (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth) Zu der wirtschaftlichen kommt eine ständige militärische Bedrohung. Seit etwa zwei Monaten mehren sich die Gerüchte, Russland bereite eine neue Offensive gegen die Ukraine vor und werde versuchen, entlang der Küste einen Landweg auf die Krim zu erobern. Mariupol wäre die erste größere Stadt auf diesem Weg. Der Politologe Fesenko glaubt nicht daran. "Möglicherweise ist das übertrieben. Aber nach dem, was 2014 passiert ist, würde ich nichts ausschließen. Da kann alles passieren." Beobachtung durch die OSZE ist schwierig Andrej Klimenko ist Chefredakteur des auf Wirtschaft und Militär spezialisierten Online-Portals "Black Sea News" in Kiew. Er geht davon aus, dass eine militärische Eskalation am Asowschen Meer bevorsteht. "Die Frage ist nur, wann. Zu Lande, im Donbass, haben die Russen erfahren, dass sie auf sehr starken Widerstand treffen und sehr hohe Verluste hinnehmen müssen. Auf dem Meer dagegen haben sie eine absolute Vormachtstellung." Klimenko spricht von 60 bewaffneten Schiffen, die Russland derzeit im Asowschen Meer habe. Die meisten davon seien schnelle Patrouillenboote der Russischen Küstenwache. Dazu kämen etwa zehn Artillerieschiffe, die einen Panzer und Truppen transportieren könnten und entwickelt worden seien, um flache Küsten wie die ukrainische bei Mariupol zu besetzen. Dazu kommt noch die Russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim. Die Ukraine hingegen habe nur eine Handvoll Küstenwachschiffe im Asowschen Meer. Das sind Zahlen, die die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, nicht bestätigen kann. Nicht, weil sie falsch sind, sondern weil die Mitarbeiter der OSZE-Mission nur Bewegungen schwerer Waffen im Kriegsgebiet beobachten, und auch das nur, soweit die Konfliktparteien das zulassen. Das Asowsche Meer überwachen sie nicht. Allerdings räumt Alexander Hug, der Leiter OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, ein: "Die Region um Mariupol ist einer von fünf bekannten Hotspots, wo regelmäßig, bis 90 Prozent, die durch uns festgestellten Waffenstillstandsverletzungen registriert werden." Russische Medien prechen von "Piraterie" Die Lage bei Mariupol ist deshalb brisant, weil das nicht von der Regierung der Ukraine kontrollierte Gebiet hier sehr schmal ist, und deshalb dort viel schweres militärisches Gerät auf engem Gebiet konzentriert sei, erläutert Hug. Über eventuelle Eskalationsszenarien möchte er nicht spekulieren, aber: "Wenn es an der südlichen Küste, an diesem Streifen zwischen Mariupol und Nowoasowsk, zu einem Anstieg der Spannung oder sogar Feindseligkeiten kommen könnte, auch das wäre ein Szenario natürlich, das wir auch bedienen könnten, mit einer Verstärkung des Teams, das am nächsten gelagert ist." Was die OSZE bisher an Land verfolgt hat, sind mehrere Fälle, in denen die ukrainischen Behörden ihrerseits russische Schiffe mitsamt ihrer Besatzung festgesetzt haben. Allein im Hafen von Mariupol hat die OSZE vier solcher Fälle gezählt. Mindestens ein Schiff, das russische Fischerboot "Nord" mit zehn Mann Besatzung, hat die Ukraine festgesetzt, bevor Russland mit den verschärften Kontrollen in der Straße von Kertsch begann, im März nämlich. Die russische Regierung protestierte. Die Ukraine verstoße gegen Abkommen zwischen der Ukraine und Russland über die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres, so die Sprecherin des russischen Außenministers, Maria Zacharowa. "Wir beharren weiter auf der Unschuld unserer Landsleute, die illegalen, aggressiven Handlungen der Machtstrukturen und der Gerichte der Ukraine ausgesetzt sind." Russische Medien sprachen von "Piraterie". Volodymyr Omelyan, der ukrainische Minister für Infrastruktur, ist seinerseits empört: "Russland hat sich die Krim genommen und besetzt. Sie haben viele Ukrainer in der Ostukraine getötet, und jetzt sagen sie, die Ukrainer seien Piraten. In unserem Asowschen Meer, dicht bei unseren Asowschen Häfen?" Lage mit Eskalationspotential Die Crew des festgesetzten Fischerbootes "Nord" stammt von der Krim. Die Ukraine betrachtet die Halbinsel als ukrainisch, die Männer dementsprechend als ukrainische Staatsbürger, und ihre auf der Krim ausgestellten russischen Pässe als ungültig. Mehrere der Fischer dürfen deshalb bis heute nicht nach Hause. Minister Omelyan rechtfertigt das Vorgehen: "Sie haben widerrechtlich die Häfen auf der Krim angelaufen. Das war der einzige Grund, sie festzuhalten. Diese Festnahme geschah in vollständiger Übereinstimmung mit internationalem und ukrainischem Recht." Aber sie diente Russland als Rechtfertigung für die verschärften und langwierigen Kontrollen auf See. Ein bewährtes Muster, das schon von der Sowjetunion angewandt wurde, führt Omelyan aus. "Wir erinnern uns an viele Fälle, in denen die Sowjetunion gesagt hat, wir haben das nur gemacht, weil Finnland uns angegriffen hat. Oder jemand anderes. Aber wir wissen alle, dass das falsch war. Russland war der Aggressor, als sie in Polen oder der ČSSR einmarschiert sind, angeblich, um die kommunistischen Länder zu stabilisieren. War das wahr? Nein. Mit der Ukraine ist es das gleiche. Jedes Mal, wenn sie versuchen, ihre illegalen Handlungen zu rechtfertigen, sagen sie, jemand anderes habe es zuerst gemacht." Die Lage hat das Potenzial, sich hochzuschaukeln. Vor zwei Wochen hat sich der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine mit der Lage am Asowschen und am benachbarten Schwarzen Meer beschäftigt. In einer Presseerklärung hieß es anschließend, die Ukraine werde ihre militärische Präsenz auf dem Asowschen Meer verstärken und ihre Küstenwache dort unter anderem mit neuesten Präzisionswaffen ausstatten. Zudem wurde die Regierung beauftragt, eine Meeresdoktrin zu verabschieden, um die nationalen Interessen der Ukraine im Asowschen und im Schwarzen Meer zu verteidigen. Nach Meinung von Experten kommt das zu spät und reicht nicht aus. Regierung in Kiew unter Druck Seit 2014 steht das Angebot der USA im Raum, der Ukraine zwei ausgediente Küstenwachschiffe zu überlassen. Allerdings müsste die Ukraine die Überführung der Schiffe und die Ausbildung des Personals bezahlen. Bisher sind die Schiffe nicht geliefert. Radio Swoboda meldete vor einigen Monaten, dass Präsident Petro Poroschenko eigene Geschäftsinteressen verfolge und die dringend benötigten Boote deshalb noch nicht angekommen seien. Andere machen bürokratische Hürden für die Verzögerung verantwortlich. Schwarzmeerexperte Andrej Klimenko glaubt, dass die Boote aus den USA bald kommen, aber: Wir brauchen nicht zwei, sondern Dutzende Kriegsschiffe. Sie müssen nicht neu sein. Die USA, Großbritannien und andere NATO-Staaten haben Schiffe verschiedener Klassen stillgelegt, die zum Schutz der ukrainischen Küste taugen würden." Überhaupt, so Klimenko, zeige die NATO zu wenig Präsenz in der Region. Von 2014 bis 2016 patroullierte der US-Zerstörer "Donald Cook" im Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Vor zwei Jahren wurde er in die Ostsee verlegt, um die NATO-Mitgliedstaaten im Baltikum und Polen vor Russland zu schützen. Es war eine Reaktion auf großangelegte russische Manöver nahe der NATO-Außengrenze. Und sie war ein Fehler, meint Klimenko. Er spricht von einem Ablenkungsmanöver Russlands. Die wahre Bedrohung richte sich gegen die Ukraine. "Herr Putin hat Sie betrogen, ich meine die EU und die NATO und die Amerikaner. In Wirklichkeit hatten und haben die Russen nicht vor, NATO-Mitgliedsstaaten anzugreifen. Die Sache ist anders. Ich möchte, dass Ihre Hörer in Deutschland verstehen: Das ist ein Fenster der Möglichkeiten für eine Aggression Putins gegen die Ukraine vom Schwarzen Meer aus." Die Regierung in Kiew ist unter Druck. Im nächsten Jahr sind zunächst Präsidenten-, später dann Parlamentswahlen. "Eine starke Armee ist der Garant für Frieden", heißt es auf einem Plakat mit Präsident Poroschenko in Mariupol (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth) Infrastrukturminister fordert neue Sanktionen gegen Russland Im Hafen von Mariupol stapeln sich die Stahlplatten von Asowstahl. Der Hafenarbeiter Aleksej Mischenko sagt, er sei müde von der ständigen Eskalation. "Wir hoffen, dass sich alles regelt. Dass sie sich einigen. Früher haben sie sich ja auch geeinigt. Davon profitieren alle." Nicht nur der Arbeiter, auch der Hafenchef Alexandr Oleynik erwartet von der Regierung pragmatische Lösungen. "Wir warten nur auf eines: Dass der Krieg beendet wird. Dass Stabilität herrscht. Die Krise dauert schon ziemlich lange. Ich denke, man muss weniger radikale Erklärungen machen, die Diplomaten sind gefragt." In Expertenkreisen wird spekuliert, die Ukraine könne unter dem russischen Druck am Asowschen Meer die Wasserversorgung der Krim wieder aufnehmen. Die Krim wurde bis zur Annexion über einen Kanal aus der Ukraine bewässert. Der Kanal ist unterbrochen, das stellt die Krim vor große Probleme. Infrastrukturminister Omelyan dementiert. Es gebe keine entsprechenden Überlegungen. Er fordert stattdessen neue Sanktionen gegen Russland. Sie könnten sich zum Beispiel gegen die russischen Häfen am Asowschen Meer richten. "Russland ist kein Partner. Russland ist unser Feind. Es darf keine Kompromisse geben." Eines steht offensichtlich mittlerweile fest: Die Krim wird Russland so schnell nicht wieder hergeben. Ob Russland versuchen wird, sich auch noch die Küste des Asowschen Meeres einzuverleiben, oder ob es sich darauf beschränkt, die Region wirtschaftlich in die Knie zu zwingen, dürfte sich in den nächsten Monaten zeigen.
Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke
Im Krieg um die Ostukraine gibt es einen neuen Konfliktherd: das Asowsche Meer, nur erreichbar über eine Meerenge zwischen Russland und der Krim. Hier hat Russland begonnen, den Schiffsverkehr zur und aus der Ukraine zu blockieren. Nun mehren sich die Befürchtungen, dass eine militärische Eskalation bevorsteht.
"2018-09-19T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:39.978000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-und-die-ukraine-zuspitzung-am-asowschen-meer-100.html
939
Spaßguerilla gegen Kurz
"Politikersprache muss immer was Populistisches haben", meint Autorin Stefanie Sargnagel (picture alliance / dpa / Horst Ossinger) Jelinek-Puppe: "Oh du mein Österreich - da bist du ja wieder!" Es begann mit einem Internet-Video Anfang September: Elfriede Jelineks Text "Oh du mein Österreich - da bist du ja wieder!" wird gesprochen von einer Jelinek-Puppe - respektive Puppenspieler Nikolaus Habjan - das alles, um einem neuen Protest Aufmerksamkeit zu garantieren. Jelinek-Puppe: "… wir wiederholen uns, jedes Mal schlechter …" Reale Präsenz statt digitaler Ereiferung, dafür soll heute Abend am Ballhausplatz im Zentrum Wiens, nahe dem Kanzleramt und dem Sitz des Bundespräsidenten, eine Stand-Kundgebung stattfinden. Ein vielfältiges Line-up aus Sprach- und Musikbeiträgen ist geplant, darunter die Sängerin Gustav, die mit der Verbindung von Protestposen und Ironie bekannt wurde. Musik: "… und stürzt das System, und trennt euren Müll …" Aber Gustav stand auch immer für klare Positionen. Politische Anliegen mit Witz vorgetragen "Es gibt unterschiedliche Leute, manche waren bei den ersten Donnerstagsdemos, manche bei den Omas gegen Rechts, manche sind erst 18, 19 und haben noch nie was Größeres organisiert. Aber alle sind politische Subjekte", meint Can Gülcü - er hat das Video mit Elfriede Jelinek gepostet. Gut vernetzt, arbeitet Can Gülcü an der Schnittstelle von Kunst und politischem Aktivismus. Beim Kulturfestival Wienwoche, der Shedhalle Zürich, oder nun hier: Wichtige Anliegen mit Witz zu transportieren, ist seine Methode. Für die neu aufgelegten Proteste hat er Kappen mit einem Donnerstag-Schriftzug im Metallica-Stil entwickelt. Die Balance zwischen Spaß und Inhalt zählt mehr denn je, sonst würde man wohl niemanden erreichen. Die digitalen Kanäle müssen den Druck erzeugen, um realen Protest zu motivieren. Anfang der 2000er gab es weniger virtuelle Ventile und mehr Motivation, wöchentlich auf die Straße zu gehen, erinnert sich der Autor Kurto Wendt. "2000 ging's darum, den Tabubruch der ÖVP anzukreiden, die zum ersten Mal in Österreich mit der extremen Rechten eine Regierung gebildet hat." Wendt, hauptberuflich Agenturjournalist, ist eine weitere zentrale Figur in der Organisation der neuen Donnerstagsdemos. "Heute ist es so, dass man gar nicht weiß, wen man alles einschließen soll in die Proteste, um auf die Straße zu gehen, um auch eine positive Utopie zum Sprechen zu bringen." Alte Arbeiterlieder als Vorbild Die neuen Demos sollen die real und digital verstreuten Initiativen sammeln, um mit einer Stimme zu sprechen. Aber in welcher Sprache soll man den Optimierern und Rechtspopulisten begegnen? Stefanie Sargnagel: "Politikersprache muss immer was Populistisches haben. Man will ja emotionalisieren, aber man muss deswegen nicht eine Rhetorik aufbauen, die nur auf Angst und Hass aufbaut. Man kann auch anders emotionalisieren." Als zeitgenössische Autorin setzt Stefanie Sargnagel gerne auf direkte und oft derbe Schilderungen. Für die Donnerstags-Bühne überlegt sie noch, ob sie einfach einen Text vortragen soll, oder neue Register ziehen. "Das sind die Dinge, die mir fehlen, ein linker Pathos - so wie früher die Arbeiterlieder. Das singen wohl nur noch linke Akademiker in ihrer Freizeit, aber in Wirklichkeit erreicht das niemanden mehr. Ich bin ja auch Mitglied einer Burschenschaft, der Hysteria, da machen wir diese ganzen Burschenschafter Rituale, und ich merk, wie der Pathos, den man durch solche Lieder entwickelt, wie das die Leute erhebt - vielleicht brauchts das auch wieder mehr." Protest gegen Genussfeindlichkeit Dafür wird heute Tanzbares geboten, Ankathie Koi bringt Clubmusik auf die Protestbühne. Kurto Wendt: "Wir wollen jedenfalls mehr ausdrücken als die Verzweiflung, und dafür braucht es ein selbstbewusstes Auftreten - so wollen wir einen 'Dönerstag' machen, um gegen die Verbotsgesellschaft zu protestieren." Die Kritik richtet sich nicht nur gegen die Regierung. Wegen Verschmutzung und auch wegen starker Gerüche haben die Verkehrsbetriebe im sozialdemokratisch dominierten Wien begonnen, das Essen in U-Bahnen zu verbieten. Da wird jeder Döner zum Transparent. Can Gülcü: "Ich denke, ein bisschen Spaß an einer besseren Gesellschaft kann man auch haben, die Lust daran ist nichts Falsches, das Begehren, zusammen zu sein, das ist, warum man Schmähs reißt zwischendurch."
Von Paul Lohberger
Als Ende 2017 in Wien die rechtskonservative Regierung unter Sebastian Kurz an den Start ging, schien die kritische Kunstszene ratlos. Eine neue Initiative will nun die vielen Gegenpositionen zu konkreten Aktionen bündeln, indem eine alte Protesttradition reaktiviert wird.
"2018-10-04T15:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:53.471000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kuenstlerprotest-in-wien-spassguerilla-gegen-kurz-100.html
941
Paris setzt Zeichen der Solidarität
Internationale Staats- und Regierungschefs nehmen am Gedenkmarsch in Paris teil und setzen so ein Zeichen gegen den Terror. (AFP / Philippe Wojazer) "Wir sind nicht nur in Zorn und Empörung vereint, sondern in Solidarität und Engagement gegen Extremisten", sagte US-Außenminister John Kerry vor Beginn der Großkundgebung für die 17 Opfer der islamistischen Anschläge in Paris. Dort haben sich hunderttausende Menschen versammelt, um der Opfer der islamistischen Anschläge der vergangenen Woche zu gedenken. Der Platz der Republik im Stadtzentrum war schon über eine Stunde vor Beginn des geplanten Schweigemarsches überfüllt. Demonstranten schwenkten französische Fahnen und riefen immer wieder in Sprechchören: "Vive la France" und "Je suis Charlie". Knapp 50 Staats- und Regierungschefs nehmen ebenfalls am Gedenkmarsch teil, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, der britische Premier David Cameron und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi, Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Außerdem dabei sind EU-Kommissionchef Jean-Claude Juncker sowie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. #JeSuisCharlie Déjà la foule sur la place de la République, en amont de la marche républicaine pic.twitter.com/MXWnZ7OBiy #AFP (via @sbeaugeAFP)— Agence France-Presse (@afpfr) January 11, 2015 Höchste Sicherheitsstufe Nach dem Angriff auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" und der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt ist die Sicherheitslage in Frankreich mehr als prekär. "Wir befinden uns im Kriegszustand", sagte der Vorsitzende des jüdischen Dachverbands in Frankreich (Crif), Roger Cukierman, bei einem Treffen mit Staatspräsident François Hollande. Für die Sicherheit der Teilnehmer des Trauermarsches sorgte die Regierung mit einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften. Etwa 2.200 Polizisten sicherten den Marsch ab, 150 von ihnen in Zivil. Scharfschützen waren entlang der Strecke vom Platz der Republik bis zum Platz der Nation auf den Dächern postiert. Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve versicherte, alle notwendigen Vorkehrungen seien getroffen. DLF-Korrespondentin Ursula Welter berichtete, dass der Schweigemarsch vom Platz der Republik aus zum Platz der Nation zog. Die Angehörigen der Opfer dieser Woche in der ersten Reihe: Die Familien und Freunde der Journalisten, der Polizisten, der Geiselopfer im jüdischen Supermarkt. Sie hielten sich an den Händen, wurden von Weinkrämpfen geschüttelt. Terror betrifft alle Demokratien Im Vorfeld des Trauermarsches haben Innenminister aus elf EU-Staaten in Paris über den verstärkten Kampf gegen den internationalen Terrorismus beraten. Der Terrorismus, wie ihn Frankreich in diesen Tagen erlebt habe, betreffe alle Demokratien, sagte Cazeneuve nach dem Treffen, an dem auch US-Justizminister Eric Holder teilnahm. Sie hätten ihre Entschlossenheit bekräftigt, gemeinsam gegen den Terror zu kämpfen sowie die Zusammenarbeit und Kontrollen auszubauen, um besser gegen aus dem Ausland kommende Terroristen vorgehen zu können. Unbekannte haben in der Nacht zum Sonntag einen Brandanschlag auf die " Hamburger Morgenpost" verübt. Einige Akten verbrannten, verletzt wurde niemand. Das Motiv für den Anschlag ist noch unklar. (tzi/tj)
null
Hunderttausende gedenken mit einem Trauermarsch der Opfer der Terroranschläge in Paris, darunter Dutzende Staats- und Regierungschefs. Das Sicherheitsaufgebot ist riesig. Scharfschützen sind entlang den Wegstrecken postiert. Sie sollen neue Anschläge verhindern.
"2015-01-11T13:47:00+01:00"
"2020-01-30T12:16:27.084000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trauermarsch-paris-setzt-zeichen-der-solidaritaet-100.html
942
"Die Partei leidet unter einem ganz großen Widerspruch"
Peter Kapern: In China feiert heute die Kommunistische Partei ihr 90-jähriges Jubiläum, mit dem üblichen Pomp in der großen Halle des Volkes. Seit über 60 Jahren regiert die KP die Volksrepublik, die sich in dieser Zeit von einem verarmten Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt entwickelt hat. Partei- und Staatschef Hu Jintao lobte zwar das Erreichte, warnte aber auch, die KP stehe vor massiven Problemen in der Zukunft, vor allem wegen der parteiinternen Korruption.Bei uns am Telefon nun der China-Experte Professor Oskar Weggel. Guten Tag, Herr Weggel.Oskar Weggel: Guten Tag, Herr Kapern.Kapern: 90 Jahre Kommunistische Partei Chinas. Kann man eigentlich vorbehaltlos sagen, das ist eine Erfolgsgeschichte?Weggel: Na ja, wenn man es kapitalistisch betrachtet, ist es eine ganz große Erfolgsgeschichte. Dieses Land hat sich innerhalb dieser Jahrzehnte vom roten Ausrufezeichen im Fernen Osten zum kapitalistischen Herz Asiens entwickelt und ist drauf und dran, New York abzulösen. Also insofern großer Erfolg, aber wenn man seine Ideologie betrachtet, dann ist es natürlich ein riesiger Misserfolg, denn es ist das Gegenteil von dem rausgekommen, was ursprünglich geplant war.Kapern: Das ist ja gewissermaßen die Klemme, in der Beobachter des chinesischen Systems stecken. Hier im Westen herrschte ja die Überzeugung vor, sobald China wirtschaftlich erfolgreich ist und sich der Welt öffnen muss, wird die kommunistische Diktatur zusammenbrechen. Ist das, was wir in China erleben, der Beweis, dass diese Theorie falsch ist? Passen Diktatur und Kapitalismus also doch perfekt zusammen?Weggel: Nein, das nicht. Also ich glaube, dass die Überlebensfähigkeit unter einem ganz großen Fragezeichen steht. Es wird das nicht gelingen, was wieder beschworen worden ist, nämlich Entbürokratisierung der Strukturen und Entkorrumpisierung. Es findet stattdessen ein großer Rückschritt statt.Ich möchte noch eines betonen: Die Partei leidet unter einem ganz großen Widerspruch, nämlich einerseits ist der Kurs wirtschaftlich völlig liberal und politisch ist er völlig autoritär, und das kann nicht auf die Dauer gut gehen. Es gibt deswegen meines Erachtens nur zwei Lösungen, um aus diesem Missgeschick herauszukommen. Das eine wäre der Nationalismus, das wäre natürlich die schlechtere Lösung, nämlich dass 1,3 Milliarden Menschen sich plötzlich überlegen fühlen und dass sie beispielsweise gegen ihre eigenen Minderheiten und gegen die Nachbarstaaten mit nationalistischen Mitteln vorgehen. Das wäre das Schlimmste, was wir uns vorstellen können. Ich halte aber eine andere Lösung für besser und für wahrscheinlicher, nämlich dass China sich demokratisiert, und damit wären wir genau bei dem Stichwort, das Sie gerade gebracht haben. Diese Demokratisierung Chinas scheint mir sehr wahrscheinlich zu sein, und zwar über einen Dreisprung. Es muss zunächst mal ein Teil der Bevölkerung wohlhabend werden und dann bildet sich daraus ein Mittelstand, und da haben wir immerhin schon über 200 Millionen Menschen, die zu diesem Mittelstand gerechnet werden können, und der verlangt dann politische Partizipation. Das heißt, früher oder später wird es in der Volksrepublik zu ähnlichen Lösungen kommen wie in Taiwan seit 1987, nämlich zu einer Demokratisierung, und dann würde es meines Erachtens auch ein Mehr-Parteien-System geben, das Problem der Medienfreiheit würde langsam gelöst, auch die Menschenrechte würden etwas lockerer gesehen. Und übrigens, um in der aktuellen Entwicklung zu bleiben, Deutschland würde beispielsweise zu einem immer wichtigeren Punkt, auf den China sich mit seiner modernen Entwicklung konzentriert. Es hat gerade ein Weißbuch gegeben, in dem dieser Weg vorgezeichnet wurde, und der Besuch Wen Jiabaos jetzt gerade in Berlin hat gezeigt, dass man diesen Weg auch praktisch weiterbeschreiten will.Kapern: Das klingt ja alles ganz hoffnungsvoll, Herr Weggel. Aber wie groß ist denn der Anteil derjenigen innerhalb der KP, die bereit wären, diese Demokratisierung auch mal wieder mit Panzern zu stoppen wie 1989?Weggel: Na ja, da gibt es natürlich solche und solche. Jiang Zemin hat Ende der 90er-Jahre eine Konsequenz aus der neuen Mitgliedschaft ziehen müssen. Es gibt natürlich die alten Leute, die gerne mit Panzern auffahren würden, aber all die neuen Mitglieder, der Nachwuchs kommt aus dem Club der Millionäre, und deswegen wurde damals bereits, 1998, die Theorie der sogenannten drei Vertretungen verkündet. Das heißt, China wird nicht mehr nur von den Arbeitern und von den Bauern, sondern auch von der Unternehmerschaft repräsentiert. Und es wurde damals auch im gleichen Jahr der Schutz des Privateigentums und der Schutz des Privatunternehmertums ausgerufen. Und können Sie sich vorstellen, dass ein Privatunternehmer Interesse daran hat, seine Panzer gegen Studenten auffahren zu lassen, ähnlich wie es beispielsweise 1989 in der Mitte Pekings geschehen ist?Kapern: Professor Oskar Weggel war das, der China-Experte, heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Weggel, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.Weggel: Auf Wiederhören, Herr Kapern!
Oskar Weggel im Gespräch mit Peter Kapern
Aus kapitalistischer Sicht ist die Entwicklung Chinas eine große Erfolgsgeschichte, sagt Oskar Weggel vom Institut für Asienkunde in Hamburg. Ideologisch betrachtet sei dies aber ein großer Misserfolg, "denn es ist das Gegenteil von dem rausgekommen, was ursprünglich geplant war".
"2011-07-01T13:10:00+02:00"
"2020-02-04T02:20:14.746000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-partei-leidet-unter-einem-ganz-grossen-widerspruch-100.html
943
Minister noch im Amt - oder nicht?
Die Minister der abgelösten Rot-Rot-Grünen Regierung Bodo Ramelow (l.) haben vergangenen Mittwoch ihre Büros geräumt und ihre Verantwortung an die Staatssekretäre abgegeben. (dpa/Martin Schutt) Die politische Lage in Thüringen ist verfahren und treibt noch weitere bizarre Blüten. Befragt, wer die Landesregierung gerade darstellt, antwortet Thomas Philipp Reiter, der Sprecher des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich: "Es hat einen Ministerpräsidenten, der die Aufgaben aller Minister derzeit juristisch mit zu übernehmen hat. Faktisch ist es so, dass die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre der Vorgänger-Regierung brieflich und auch persönlich gebeten wurden, die Amtsgeschäfte fortzuführen in den jeweiligen Häusern, und das tun sie auch." Die Minister haben ihre Büros geräumt Die Minister der abgelösten Rot-Rot-Grünen Regierung Bodo Ramelow haben am vergangenen Mittwoch ihre Büros geräumt und ihre Verantwortung an die Staatssekretäre abgegeben. Auch der grüne Justizminister Dieter Lauinger. "Da standen zwei oder drei Umzugskartons für mich bereit, da habe ich alles reingepackt. Und dann habe ich Schlüssel abgegeben, Handy abgegeben, iPad abgegeben. Und der Fahrer fährt sie zum letzten Mal nach Hause." Verunsicherung bei den Amtsträgern Georg Maier [*], SPD-Mitglied, war bis zur letzten Woche Innenminister und auch Vorsitzender der deutschen Innenministerkonferenz. Ob er aber noch Minister ist oder nicht, darüber ist er sich nicht ganz sicher. "Das ist eine gute Frage. Ich gehe davon aus, dass ich es nicht bin. Jetzt ist es allerdings so, dass wir in Thüringen die Situation haben, dass wir zwar einen Ministerpräsident haben, der zwar zurückgetreten und nur noch geschäftsführend im Amt ist, aber keine Minister mehr. Das ist natürlich eine neue Situation. Und es gibt jetzt eine juristische Diskussion, da gibt es Einzelmeinungen, die sagen: Die Minister sind doch noch im Amt. Ich kann es nicht abschließend beurteilen." Ramelow sprach Ersuchen um Amtsfortführung aus Die "Einzelmeinung" stammt von zwei jungen Staatsrechtlern der Universität Potsdam, Michael Meier und Robert Wille. Sie argumentieren, dass laut Artikel 75 der Thüringer Landesverfassung die Minister am Ende ihrer Regierung auf Ersuchen des Ministerpräsidenten verpflichtet sind, ihre Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger fortzuführen. Da der in der letzten Woche gewählte Ministerpräsident Thomas Kemmerich aber kein neues Kabinett berufen habe, seien die Minister noch im Amt, da der scheidende Ministerpräsident Bodo Ramelow dieses Ersuchen um Amtsfortführung unmittelbar nach der Landtagswahl im Oktober an seine Minister gerichtet habe. Der neue Ministerpräsident Thomas Kemmerich aber habe dies niemals beendet, argumentiert Michael Meier: "Nach unserer Auffassung gilt sie weiter, denn das Ersuchen ist ja mehr oder weniger eine einmalige Erklärung, die abgegeben wird. Und genau wie alle anderen Akte, die Ministerpräsident Bodo Ramelow zu seiner Amtszeit vorgenommen hat, ist es unserer Ansicht nach auch bei diesem Ersuchen so, dass es fortbesteht; es sei denn, das Ersuchen wird später widerrufen." Widerspruch von Kemmerichs Sprecher Hier widerspricht Thomas Philipp Reiter, der Sprecher Thomas Kemmerichs. "Nein, nein, sie sind nicht mehr Minister! Das ist einfach so geübte Praxis. Und dagegen gibt es auch außer einer etwas verfassungstheoretischen Diskussion überhaupt keinen Widerspruch. Die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre führen die Häuser; die Minister sind nicht mehr da, sie fühlen sich nicht mehr im Amt, sie sind es auch nicht mehr. Und da ist die Frage, ob sie jemals eine Urkunde ausgehändigt bekommen haben, wo drauf steht, sie sind nicht mehr im Amt, komplett unerheblich." Dieser Interpretation der Thüringer Verfassung wollen sowohl die Minister aus der Regierung Ramelow als auch der geschäftsführende Ministerpräsident Thomas Kemmerich gern glauben, denn linke, sozialdemokratische und grüne Minister unter dem FDP-Mann Kemmerich, der unter anderem durch die Stimmen der AfD ins Amt gekommen ist, sind schwer vorstellbar. Staatsrechtler sind uneins Dennoch findet der ehemalige Justizminister Dieter Lauinger die Argumentation der Potsdamer Juristen, dass er und seine Kollegen noch im Amt seien, nicht völlig abwegig. Auch anderen Staatsrechtlern geht es so. Da die Verfassungslage unklar ist und es noch keine Rechtsprechung dazu gibt, bleibt die Frage zunächst offen. Sie könnte aber relevant werden, falls Thüringen noch Monate ohne neue Regierung bliebe. Vielleicht würde Ministerpräsident Thomas Kemmerich dann doch ganz gern Minister haben. Der grüne Dieter Lauinger wendet ein: "Das ist ja die neben der juristischen Seite des Streits die schwer vorstellbare politische Seite, wie das funktionieren soll. Aber wenn es denn so sein sollte, dass es Abstimmungen gibt, dann haben acht Minister natürlich auch die Mehrheit in diesem Kabinett." Dass die Minister der Regierung Ramelow unter einem FDP-Ministerpräsident Thomas Kemmerich weiter ihren Dienst tun müssten, wäre nur eine weitere absurde Facette der politischen Situation in Thüringen. [*] In einer frühere Version des Textes war der Name versehentlich falsch geschrieben worden. Dies haben wir korrigiert.
Von Henry Bernhard
Die verfahrene Lage in Thüringen verunsichert die Landesminister: Sind sie noch im Amt oder nicht? Laut Verfassung müssen sie die Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger fortführen, doch es wurde kein neues Kabinett bestimmt. Die Verfassungslage ist unklar, eine klare Rechtssprechung fehlt.
"2020-02-14T05:50:00+01:00"
"2020-02-18T15:30:45.359000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/thueringen-minister-noch-im-amt-oder-nicht-100.html
944