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Krebs durch zu wenig Schlaf | "Ich schlafe fast ohne Vorhänge, was nicht ganz einfach ist, weil ich einen Flughafen neben meiner Wohnung habe und das sehr hell ist. Und das merke ich auch." Annette Krop-Benesch organisiert das deutschlandweite Forschungsprojekt "Verlust der Nacht". Und als Chronobiologin erforscht sie, wie Lichtverschmutzung die biologische Uhr verstellt. Lichtverschmutzung bedeutet: Künstliches Licht verschmutzt das natürliche Licht beziehungsweise die natürliche Dunkelheit. Natürlich könnte Krop-Benesch einfach dunkle Vorhänge zuziehen oder Rollläden herunterlassen. Aber das wäre genauso ungesund wie das Flughafenlicht in ihrem Schlafzimmer: "Wir wissen auch, das eigentlich Menschen, die nicht in komplett dunklen Räumen schlafen, sondern in Räumen, in denen sie die Dämmerung mitbekommen, auch wenn sie nicht direkt darauf reagieren, sanfter aufwachen, besser aufwachen, als Menschen, die vom Wecker im Stockdunklem aus dem Schlaf gerissen werden." Der Sonnenaufgang gibt der inneren Uhr das Signal, dass ein neuer Tag beginnt und sie sich auf Null stellen soll. Das Licht trifft auf Rezeptoren in den Augen. Dann wird dem Gehirn gemeldet, dass es hell ist. Daraufhin wird weniger Melatonin im Gehirn produziert. Melatonin ist eher unter dem Namen "Schlafhormon" bekannt: Es macht müde und sorgt dafür, dass der Körper sich ausruhen kann. Bis zum Morgengrauen. Eigentlich."Wenn unser Körper aber nicht mehr unterscheiden kann zwischen nächtlicher Beleuchtung und dem Sonnenlicht, dann weiß er überhaupt nicht mehr, wann er seine Uhr auf Null zurückstellen muss. Dann läuft dieser innere Rhythmus alleine weiter und wir entfernen uns eigentlich von einem normalen Tag-Nacht-Rhythmus. Und das kann unser Körper auf die Dauer nicht verkraften." Solche Belastungen können zu Schlafstörungen führen, zu Diabetes, zu Übergewicht – und auch zu Krebs. Das haben mittlerweile verschiedene Studien gezeigt. Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie aus Schweden ergab zum Beispiel: Von 1000 Frauen, die nur tagsüber arbeiteten, erkrankten innerhalb von zwölf Jahren rund zwölf Frauen an Brustkrebs; von 1000 Frauen, die auch Nachtschichten hatten, bekamen rund 20 Brustkrebs. Unklar bleibt bei solchen Studien allerdings, inwiefern das künstliche Licht direkt die innere Uhr aus dem Takt bringt und krank macht – und inwiefern das künstliche Licht nur indirekt schuld ist, weil es die Nachtarbeit eben erst ermöglicht hat und die Arbeit zur Unzeit den Körper belastet. Es gibt noch eine andere Theorie, warum Lichtverschmutzung Krebs zur Folge haben kann, sagt Krop-Benesch: "Melatonin ist ein Anti-Oxidant, das heißt: Melatonin bekämpft aktiv Krebszellen. Und es wird vermutet, dass – wenn wir zu viel Licht bekommen –, einfach nicht genügend Melatonin im Körper ist, um die Krebszellen, die einfach ganz natürlich entstehen – das ist ein Teil des täglichen Lebens –, die abzubauen, wie es normalerweise in unserem Körper jede Nacht passiert." Soweit der mögliche Zusammenhang zwischen Lichtverschmutzung und Krebs. Was aber nach wie vor nicht erforscht ist: Wie teuer kommen uns die Gesundheitsprobleme durch Lichtverschmutzung zu stehen? Bei der Konferenz "Die helle Seite der Nacht" wurde gerade darüber diskutiert, wie teuer Lichtverschmutzung ist. Der Fokus lag jedoch vor allem darauf, was die Stadtbeleuchtung kostet und was der Anblick des Sternenhimmels wert ist. Die Gesundheitsökonomie sei hier noch schwer zu fassen, sagt der Organisator der Konferenz, Dietrich Henckel von der Technischen Universität Berlin."Einerseits wird das Versicherungssystem belastet, es sind Leute mehr krank. Die Versicherungsgemeinschaft muss dadurch für die Wiederherstellung oder die Behandlungskosten aufkommen. Also es werden mehr Gesundheitsausgaben fällig." Andererseits müsse man beziffern, wie Lichtverschmutzung und Nachtarbeit jeden privat schädigt."Das heißt natürlich, ihr Lebensgefühl, ihr Glück, ihre Chancen im Leben, werden dadurch persönlich beeinträchtigt. Das ist natürlich ganz, ganz schwer zu bewerten." Links bei dradio.de: "Hintergrund" zum Thema LichtverschmutzungLinks ins Netz:Projekt "Verlust der Nacht" | Von Franziska Badenschier | Wie Studien gezeigt haben, braucht der Mensch durchschnittlich sieben bis acht Stunden Schlaf. Wer kürzer ruht, erhöht das Risiko einer Krebserkrankung. Erst jetzt beginnen Wissenschaftler zu verstehen, dass in diesem Zusammenhang auch Kunstlicht Krebs begünstigen kann. | "2013-06-24T16:35:00+02:00" | "2020-02-01T16:23:31.185000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/krebs-durch-zu-wenig-schlaf-100.html | 945 |
Am besten mit Kondom | Brasilianische Soldaten informieren über das Zika-Virus (DPA/Picture Alliance/ Marcelo Camargo)
Es ist für jeden Sportler mit der Chance auf eine Goldmedaille eine schwierige Entscheidung, die Olympischen Spiele aus dem Kalender zu streichen. Aber als die amerikanische Fußball-Torhüterin Hope Solo mit Blick auf Rio zu den Risiken einer Reise nach Brasilien gefragt wurde, machte sie keine Umschweife. "Wenn ich heute diese Entscheidung treffen müsste, würde ich nicht mitfahren”, sagte sie. Das Risiko schien ihr zu groß.
Das war im Februar. Doch wenig später zog die für ihre offenen Worte bekannte Fußballerin die Ankündigung wieder zurück. Über den Meinungswandel kann man nur spekulieren. Denn die Gefahr ist keineswegs geringer geworden. Die bisher lauteste Warnung erging, als Professor Amir Attaran von der Universität Ottawa, studierter Biologe und Jurist, in einem Beitrag für die angesehene "Harvard Public Health Review” forderte, die Spiele schlichtweg abzusagen.
"Das Risiko, sich bei einem Mückenstich während der Spiele mit dem Zika-Virus anzustecken, ist extrem gering. Aber es gibt das Problem, dass 500.000 Besucher nach Rio kommen, womöglich das Virus übertragen bekommen und dann nach Hause zurückkehren und andere mit der Krankheit anstecken."
Ratschläge der WHO
In Ländern der Dritten Welt etwa mit herausragenden Sportlern wie Äthiopien, sagt Attaran, die keine hinreichenden Ressourcen haben, eine Epidemie aus eigener Kraft einzudämmen. Die Übertragung des Virus findet nämlich auf mehreren Wegen statt. So auch beim Geschlechtsverkehr. Weshalb die Weltgesundheitsorganisation ihren Ratschlägen für Brasilien-Reisende einen ganz besonderen hinzugefügt hat. Daniel Epstein, ein Sprecher der WHO:
"Wir raten Besuchern und Athleten Kondome zu benutzen - und zwar während ihres Aufenthalts in Rio und noch vier Wochen nach ihrer Rückkehr. Oder – falls möglich – ganz auf Sex zu verzichten."
Die Stechmückenart Aedes aegypti ist Überträger des Zika-Virus. (picture alliance /dpa /Gustavo Amador)
Für eine radikalere Vorsichtsmaßnahme – die Veranstaltung ganz abzublasen – ist man allerdings nicht. Gut für die Verantwortlichen beim Internationalen Olympischen Komitee, wo man immer wieder betont: Man arbeite mit Partnern in Rio an Maßnahmen, um etwa Regenpfützen und Wasserlachen in alten Reifen zu attackieren. Brutstätten für alle Mücken, nicht nur ägyptische Tigermücken, die ursprünglich aus Zentralafrika stammen und das Zika-Virus übertragen.
Entsprechend gelassen reagieren inzwischen die meisten Athleten. Der Tenor: Es wird schon nicht so schlimm sein.
Kritik an der WHO
Tatsächlich gibt es einige Ungereimtheiten. Zu ihnen gehört die Rolle der Weltgesundheitsorganisation und ihres Stellvertretenden Generaldirektors Bruce Aylward. Professor Attaran:
"Bruce Aylward war bei der WHO der Verantwortliche vor und während des Ebola-Ausbruchs. Die Organisation ist stark dafür kritisiert worden, dass sie nicht rechtzeitig vor den Gefahren gewarnt hat. Und der sagte im Februar, unabhängig von allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wörtlich: Brasilien wird phantastische Olympische Spiele haben. Erfolgreiche Olympische Spiele. Und die ganze Welt wird hinreisen."
Die Personalie ist nicht das einzige Politikum in Sachen Zika und Rio. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass das IOC und die WHO vor einigen Jahren einen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen haben. Aber die Details hält man lieber unter dem Deckel. Professor Attaran vermutet, dass es mit der Neutralität der WHO nicht besonders gut bestellt ist.
"Man hat sich geweigert, mir eine Kopie des Vertrags zu geben. Warum? Wenn es nichts zu verbergen gibt, warum dürfen wir es nicht lesen?" | Von Jürgen Kalwa | Die Partnerschaft zwischen der Weltgesundheitsorganisation und dem IOC wirft eine irritierende Frage auf: Welche Interessen verfolgt die WHO, wenn sie das Zika-Risiko in Rio de Janeiro für Athleten und Besucher der Olympischen Spiele bagatellisiert? | "2016-05-16T00:00:00+02:00" | "2020-01-29T18:29:34.014000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/zika-und-olympia-2016-am-besten-mit-kondom-100.html | 946 |
KMK will nach den Ferien zu Regelunterricht zurückkehren | Lehrerverbände befürchten einen Personalausfall von bis zu 20 Prozent aufgrund der Coronakrise (dpa / Ralf Hirschberger)
Die Kultusminister der Länder sind sich einig: Das Recht auf Bildung muss auch in Corona-Zeiten gewährt werden. Alle Schülerinnen und Schüler sollen nach den Sommerferien wieder nach dem regulären Stundenplan und im festen Klassenverband oder einer festen Lerngruppe unterrichtet werden.
"Das bedeutet, das ist klar die Konsequenz, dass die 1,50 Meter-Abstandsregelung entfallen muss, sofern es das Infektionsgeschehen zulässt." So verkündete es die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und rheinlandpfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig gestern Abend - nach einer fast vierstündigen Schaltkonferenz aller 16 Länderminister. Die Hygienevorschriften würden entsprechend angepasst.
Digitaler Unterricht bleibt die HerausforderungJe näher die Sommerferien rücken, desto dringender wird die Planung des nächsten Schuljahrs. Wie können die Schulen dann wieder öffnen und welche Rolle muss digitaler Unterricht spielen? Ein Überblick.
"Wir werden als Kultusministerkonferenz uns rechtzeitig auf einen gemeinsamen Rahmen für aktualisierte Schutz- und Hygienemaßnahmen verständigen. Und das kann auch bedeuten, dass gehört zur Ehrlichkeit mit dazu, dass in Abhängigkeit von der Entwicklung des Infektionsgeschehens auch beim regulären Schulbetrieb auch möglicherwies Wochen-, Tages- oder Unterrichtsabläufe insgesamt oder eben regional angepasst werden müssen." Sprich: Unterricht kann jederzeit wieder ausfallen oder in den Fernunterricht verlegt werden. Schulschließungen, wie sie gerade wieder nach Infektionsausbrüchen in Gütersloh und Magdeburg vorgenommen werden mussten, sollen aber die "ultima ratio" sein.
Schulöffnungen - Unsicherheit und FragenDer Druck auf die Politik ist groß, Kitas und Schulen spätestens nach den Sommerferien in vollem Umfang wieder zu öffnen. Aber das birgt auch Risiken, die derzeit noch niemand abschätzen kann.
Lehrerverbände kritisieren KMK
Für Lehrerverbände und Gewerkschaften ist die Entscheidung, das Abstandsgebot zu kippen, dennoch "voreilig" und "gedankenlos". Es wäre richtiger gewesen, erst verantwortbare Bedingungen dafür zu schaffen, und dann erst zum Regelbetrieb zurückzukehren, echauffierte sich Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meidinger. Und auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) monierte, mit der Entscheidung würden die Kultusminister den Infektionsschutz in den Schulen kippen. "Solange in der Gesellschaft der Abstand 1,5 Meter gilt, muss er in kleinen geschlossenen Räumen auch gelten", kritisierte GEW-Vorsitzende Marlies Tepe. "Überall da, wo jetzt Hotspots entstanden sind, waren die Abstände zwischen den Menschen nicht eingehalten. Deswegen halte ich das für die falsche Lösung, ich glaube wir brauchen gute Konzepte für jede Schule individuell."
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Personalmangel könnte sich weiter zuspitzen
Hinzu kommt die Sorge, wie der reguläre Unterricht organisiert werden soll, wenn Teile der Lehrerschaft zur Corona-Risikogruppe zählen. Auf zehn bis 20 Prozent Corona-bedingte Ausfälle kommen Schätzungen der Verbände für das kommende Schuljahr. Doch darauf, wie die Personallücken geschlossen werden sollen in einer Zeit, in der ohnehin schon großer Lehrermangel herrscht, fanden auch die Kultusminister keine klaren Antworten. Auch ein nachvollziehbarer Notfall-Stufenplan für den Fall einer neuen Corona-Welle im Herbst fehlt. Dafür die Ankündigung, dass die Digitalisierung weiter vorangetrieben und die Lehrerfortbildung zügig ausgebaut werden soll.
Verpasster Schulstoff solle nachgeholt werden, kündigte KMK-Präsidentin Hubig an.
"Und wir wollen auch, um soziale Disparitäten zu vermeiden und um Bildungsgerechtigkeit herzustellen, besonderes Augenmerk auf den Zugang der Schülerinnen und Schüler zu digitalem Unterricht legen, die - ich sage mal - diesen Zugang nicht so leicht haben und spezifische Angebote für Kinder und Jugendliche mit Unterstützungsbedarf machen."
Lernort Schule - "Kaum Digitalisierung vorhanden"Die Digitalisierung sei bislang wenig in deutschen Schulen angekommen, sagte Ekkehard Winter von der Telekom Stiftung im Dlf. Virtuelle Klassenräume gibt es demnach kaum, Digitalisierung heiße Versand von Arbeitsblättern per E-Mail.
Fortbildung in Sachen digitaler Unterricht gefordert
Das alles sei auch bitter nötig, mahnten Vertreter von vier Landesschülerräten gestern in Berlin. Die Corona-Phase habe gezeigt, dass viele Lehrer mit digitalen Medien nicht richtig umgehen könnten. Der Fernunterricht habe deswegen oft nicht gut funktioniert. Und auch Schüler brauchten digitale Fortbildung. Doch die Mitsprache von Schülerinnen und Schülern sei vielerorts auf der Strecke geblieben, beklagte Lennart-Elias Seimetz, Vorsitzender des Landesschülerrats Saarland. "Es musste alles schnell entschieden werden, da hat man dann auch gerne mal auf die Schüler verzichtet. Ein Punkt, den wir auf jeden Fall bemängeln und in der weiteren Krisenfindung auf jeden Fall ausbauen möchten." | Von Christiane Habermalz | Geht es nach der Kultusministerkonferenz (KMK), sollen nach den Sommerferien wieder regulärer Unterricht stattfinden. Die 1,5 Meter-Abstandsregelung soll im Schulbetrieb ebenfalls bis auf Weiteres aufgehoben werden. Doch nicht nur diese Entscheidung löst bei Lehrerverbänden und Gewerkschaften Kritik aus. | "2020-06-19T14:35:00+02:00" | "2020-06-23T09:21:31.294000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/schulbetrieb-trotz-covid-19-kmk-will-nach-den-ferien-zu-100.html | 947 |
Mutterliebe und Mathematik | Der Musiker Dan Snaith alias Caribou (picture alliance / dpa / Samuel Dietz)
So viel Privatheit erwartet man bei Elektronikmusikern sonst ja nicht. "Bruder, du musst was ändern", singt Dan Snaith hier im Song "Sister" - in den sich dann diese Frauenstimme mischt: hören Sie?
Das ist seine Mutter, aufgenommen vor Jahrzehnten auf Kassette, als sie aus der Wahlheimat Kanada kurze Tondokumente an ihre Eltern in England schickte. Dan Snaith war bewegt von diesen raren Zeugnissen seiner frühsten Kindheit.
"Ich habe sonst nur ein paar Fotos und Dias, und dann war da plötzlich dieses Fenster in eine Welt, zu der ich sonst kaum Zugang habe. Meine Mutter singt da meiner Schwester vor, als die noch ganz klein war. Und ich fand das so süß und mir so nah und bewegend, dass ich es in einen Song eingebaut habe."
Persönliche Momente
Nicht der einzige sehr persönliche Moment. "You And I" handelt von einem plötzlich verstorbenen Verwandten von Dan Snaiths Frau - im selben melancholischen, aber tröstlichen Ton, der dieses ganze Album prägt; und so offen autobiografisch und direkt, dass selbst enge Freunde sich verblüfft darüber äußerten:
"I played this album to a close friend of mine, and he was like: It’s really weird to hear you singing so directly about things that happened in your life."
Der Song ist aber auch sonst typisch für dieses Album. Wie er von einer sanft-eingängige Strophe unvermittelt in eine nervösere Gangart verfällt oder im Finale mit Sounds arbeitet, die an eine schrille Rockgitarre erinnern.
So hält Dan Snaith auch die übrigen 40 Minuten seine Hörerinnen und Hörer auf dem Sprung. "Home" basiert auf einem Soul-Sample. "Sunny’s Time" hat was von einem angetrunkenen Debussy und "Never Come Back" zielt direkt auf den Dancefloor.
Dan Snaith sammelt bei täglichen kleinen Studiosessions zahllose Ideen und Skizzen. Wenn ein Album ansteht, durchsucht er diesen Fundus. Und holt sich bisweilen Entscheidungshilfe.
"Von zwei Leuten vor allem: Meiner Frau, die Musikfan ist und viel Gespür dafür hat, aber eben nicht selber Musik macht - das ist wichtig. Und Kieran Hebden alias Four Tet, mein enger Freund und immer schon musikalischer Gefährte. Er hört mit dem Ohr eines Produzenten. Beide sind absolut ehrlich zu mir. Und bei Ideen im Frühstadium ist es hilfreich, wenn jemand sagt: Mach doch mal diesen Track hier fertig, und geh in die-und-die Richtung."
Autobiografische Direktheit
Nach den gefeierten letzten beiden Alben "Swim" und "Our Love" sind die Erwartungen an "Suddenly" hoch, und Dan Snaith enttäuscht sie nicht. Da ist sein eher schüchtern wirkender, aber berührender Gesang, den er zum ersten Mal in jedem Track einsetzt, die autobiografische Direktheit der Texte - und wieder sein erfindungsreicher Umgang mit Sounds, Samples und Beats. Nicht vergessen: der Mann hat einen Doktor in Mathematik.
"Es geht mir beim Musik machen immer um die Emotionen, die es in mir auslöst. Aber es gibt schon auch die Perspektive: Was passiert, wenn ich dieses mit jenem kombiniere? In der Mathematik spielt man mit abstrakten Ideen, man sucht nach Kongruenzen und Symmetrien - und das harmoniert durchaus mit meinem Interesse an Musik, denn ich spiele da auch lieber mit abstrakten als mit konkreten Dingen."
Abgesehen eben von den sehr konkreten Ereignissen in seinem Leben, die er bisher nicht in seiner Musik verarbeitete. Das gilt auch für aktuelle Sounds zwischen Hip-Hop, R&B und britischer Clubkultur.
"Früher kamen meine Referenzen oft aus der Vergangenheit. Aber beim Album ‚Swim‘ war es dann die brodelnde Londoner Dance-Szene, die mich faszinierte und auf die ich mich bezog. Und seither finde ich es viel interessanter und relevanter, eine Musik zu machen, die sich in das einmischt, was grade passiert, und hoffentlich etwas beizusteuern. Teil dieser zeitgenössischen Konversation zu sein, das ist mir wichtig geworden." | Von Bernd Lechler | Er konstruiert Beats für den Dancefloor, lässt Samples wabern und Klavierklänge torkeln und erzählt dazu von Todesfällen in der Familie und von Kindheitserinnerungen: Der Kanadier Dan Snaith alias Caribou gibt sich auf seinem neuen Album „Suddenly“ offen wie nie – und ideenreich wie eh und je. | "2020-02-22T15:05:00+01:00" | "2020-03-17T08:46:05.335000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/neues-album-von-caribou-mutterliebe-und-mathematik-100.html | 948 |
Musiktempel und Forschungshaus | "Und das ist ein Relief, und die Maße noch, und dann geht das wieder in die Verpackung. 20, 27, ja."Im Keller-Depot vermessen und inventarisieren eine Restauratorin und ein Verpacker Stück für Stück die Städtische Kunstsammlung Darmstadt - mit Werken von der Romantik bis zur Moderne. Oben in den Ausstellungshallen wickeln die Packer alles in Folie. Ralf Beil, Direktor des Instituts Mathildenhöhe, blickt sich um im Ausstellungsgebäude der früheren Künstlerkolonie:"Das Museum zieht um, und das sehen Sie hier, die gesamten Kleinskulpturen, die hinter uns stehen, werden genauso ins Depot gehen wie die ganzen Gemälde, die hier verarbeitet werden. Wir müssen, wenn wir hier die Ausstellungshallen auf der Mathildenhöhe sanieren, klimatechnisch, aber bestenfalls auch noch außen an der Fassade etwas ändern, eben alles ausräumen. Und das betrifft eben die gesamten Depoträume. Das heißt, wir müssen 15.000 Kunstwerke generalstabsmäßig umziehen."Wie weit die Stadt über die acht Millionen Euro teure energetische Sanierung samt neuer Klimaanlage hinausgeht, ist noch nicht klar. Zur Diskussion steht, dem Ausstellungsgebäude seine riesige gegliederte Fensterfassade nach Osten hin zurückzugeben. Ob und wie die erheblichen Zusatzkosten für diese Umgestaltung zu finanzieren wären, wird die neue Magistratskommission entscheiden, die im September erstmals tagt. Feststeht: Bis mindestens Herbst 2015 bleibt das Gebäude geschlossen."Aber wir haben zum Glück das Museum Künstlerkolonie, dort können Sie die Ständige Sammlung sehen, die Werke, die zum Thema Jugendstil sind, oder Lebensreform, besser gesagt",fügt Sammlungskonservator Philipp Gutbrod an. Unter anderem sind nebenan im ehemaligen Atelierhaus der Künstlerkolonie Möbel, Porzellan und Besteck aus den umliegenden Künstlerhäusern zu sehen. Sie sind heute noch bewohnt und machen die Mathildenhöhe zu einer Art lebendigem Freilichtmuseum. Nikolaus Heiss, Denkmalpfleger und zuständig für die Welterbe-Bewerbung:"Diese Gebäude waren so konzipiert, dass alles von Kunst durchdrungen war. Es gab nichts Zufälliges, alles war durch und durch gestaltet, zum Beispiel das Haus selbst. Alle Möbel, und Gebrauchsgegenstände, wie Gläser, Geschirrhandtücher, aber auch der Garten gehörten dazu – also Gesamtkunstwerke von künstlerischer Qualität. Dort hat der Mensch im Grunde versucht – das war damals die Idee – sich durch die Kunst weiterzubilden, und zu einem besseren Menschen zu werden. Das war damals ein sehr hehrer Ansatz."Die Mathildenhöhe als Experiment und Gesamtkunstwerk – geht es nach Institutsdirektor Beil, dann steht das Ensemble 2014 auf der deutschen Vorschlagsliste fürs Weltkulturerbe. "Wir sind ja hier ein Ort, der von 1901 bis 1914 wirklich ganz massiv Moderne geprägt hat. Also nicht nur den Jugendstil, wie manche meinen, sondern wirklich Moderne - mit Peter Behrens, mit Olbrich, mit diesen großartigen Protagonisten. Das heißt, hier sind wirklich Impulse gesetzt worden, die uns immer noch etwas angehen."Sollten die Kultusminister im kommenden Jahr zustimmen, dürfte der Aufnahmeprozess fürs Welterbe die Mathildenhöhe samt russischer Kapelle, Park und Künstlerhäusern für zehn Jahre zur Restaurierungs-Großbaustelle werden lassen. Neu zu bauen kommt allein auf der brombeerüberwucherten Brache am Osthang in Frage. Allerdings nur nach sorgfältiger Abwägung, versichert Darmstadts grüner Oberbürgermeister. Er die Mathildenhöhe zur Chefsache machte. Die Welterbebewerbung würde der südhessischen Kulturbaustelle bundesweite Beachtung sichern. Eine willkommene Aussicht, meint Jochen Partsch:"Weil das vielleicht auch dazu führt, dass sich bundes- und landespolitische Finanziers an dem beteiligen, was dort zu bewerkstelligen ist. Es wird sich allemal lohnen."Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz ist für Einzelprojekte schon im Boot, Gespräche mit der Kulturstiftung des Bundes laufen. Einen Bebauungsplan, der Bausünden im Künstler-Wohnviertel verhindert, gibt es noch gar nicht lange. Jetzt soll endlich ein Masterplan her - für das gesamte Ensemble auf dem Darmstädter Musenhügel. | Von Anke Petermann | Die Darmstädter Mathildenhöhe will UNESCO-Weltkulturerbe werden. Im Moment ist sie allerdings eine permanente Baustelle. Denn Hochzeitsturm und Skulpturen wurden schon saniert, nun ist das Ausstellungsgebäude an der Reihe. | "2013-08-16T17:35:00+02:00" | "2020-02-01T16:31:07.173000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/musiktempel-und-forschungshaus-100.html | 949 |
"Es ist Schluss mit Pokerface" | Der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky (imago / CommonLens)
Er sei "erschüttert" über die Verantwortungslosigkeit des Bahnmanagements. Wenn der Bahnsprecher behauptet, man habe kurz vor einem Abschluss gestanden, "fabuliere" er, so Weselsky: "Wo ist das Papier und wo ist die Unterschrift?" Die Bahn habe eben kein schriftliches Zwischenergebnis vereinbaren wollen. Die Lokführer würden durch dieses Verhalten zum Streik gezwungen.
Die Streiks hätten weder mit der Ausdehnung des Machtbereichs der Gewerkschaft noch mit der Eitelkeit Weselskys zu tun. Die GDL nutze lediglich ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. "Für meine Eitelkeit gehen an einem Tag keine 3.000 Mitglieder in den Streik."
Die Kritik des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann wies er zurück. Der DGB habe das Tarifeinheitsgesetz mit auf den Weg gebracht, das auf die Existenzvernichtung der kleinen Gewerkschaft abziele. "Wenn wir uns wehren, da sage ich ganz offen, da interessiert mich auch nicht, was Herr Hoffmann von sich gibt."
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Es könnte ab heute wieder chaotisch werden für Bahnfahrer in Deutschland. Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) hat erneute Streiks angekündigt, und zwar ab morgen Früh bis Donnerstagabend im Personenverkehr. Der Ausstand im Güterverkehr, der beginnt schon heute. Am Telefon ist jetzt der Vorsitzende der GDL, Claus Weselsky. Schönen guten Morgen.
Claus Weselsky: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Weselsky, denken Sie zumindest gelegentlich noch an die Bahnfahrer in Deutschland?
Weselsky: Sehr oft, Herr Armbrüster, und ich bin eigentlich ein Stück weit erschüttert über die Verantwortungslosigkeit des Bahnmanagements. Wenn man Ihren Einspieler betrachtet und hört, wie der Sprecher der Bahn davon fabuliert, dass wir kurz vor der Unterschrift standen, dann muss man eine einzige Frage formulieren: Es ist Schluss mit Pokerface. Wo ist das Papier und wo ist die Unterschrift? - Die GDL steigt nicht aus, weil die Lokführer der DB gerne streiken, sondern die GDL hat die Verhandlungen wieder für gescheitert erklären müssen, weil die Bahn eben gerade kein schriftlich fixiertes Zwischenergebnis mit uns vereinbaren wollte. Sie hat sich geweigert und jetzt tut sie wieder so, als hätten wir schon alles geregelt. Das zieht sich wie ein roter Faden seit Monaten durch diesen Tarifkonflikt.
Armbrüster: Und das müssen jetzt wieder Tausende oder Zehntausende von Pendlern in Deutschland austragen?
Weselsky: Wissen Sie, wir sind nun mal im Eisenbahn-Verkehrssystem, und wenn die Lokführer und die Zugbegleiter zum Streik gezwungen werden durch das Management der DB, dann sind die Leidtragenden die Fahrgäste. Wir haben vor Kurzem erlebt, wie bei der Bilanzpressekonferenz die DB herumgejammert hat: Rund 200 Millionen Schaden ist entstanden. Jeder Tag, wo wir einen Streik ankündigen, kostet fünf Millionen, weil die Gäste Alternativen suchen und umbuchen. All das weiß das Management und trotzdem stellt man in diesem Land viel zu wenig die Frage, mit welcher Verantwortungslosigkeit geht ein Management der Deutschen Bahn AG? Wo ist der Vorstandsvorsitzende Grube? Der schaut den ganzen Dingen tatenlos zu, meldet sich ab und zu mal, aber hält sich hinten im Gebüsch. Was ist denn hier eigentlich los in diesem staatseigenen Unternehmen?
"Ich verhandele nicht für alle Lokführer"
Armbrüster: Herr Weselsky, Sie möchten vor allem den Einflussbereich Ihrer Gewerkschaft ausdehnen und mitverhandeln auch für andere Berufsgruppen, die bisher nicht zur GDL gehört haben. Für dieses Ziel richten Sie wieder für zwei Tage Chaos an im deutschen Bahnverkehr. Ist das für Sie denn verantwortungsvoller Umgang mit gewerkschaftlicher Macht?
Weselsky: Herr Armbrüster, das ist die Mär des vorigen Jahres, die die Deutsche Bahn in die Welt gesetzt hat. Wir verhandeln für unsere Mitglieder. Das ist ein grundgesetzlich verbrieftes Recht, dass jeder sich frei entscheiden kann, in welche Gewerkschaft er geht, und daraus resultierend hat auch das Bundesarbeitsgericht 2010 entschieden, dass Tarifpluralität herrscht, weil wir für unsere Mitglieder - ich verhandele nicht für alle Lokführer und nicht für alle Zugbegleiter, sondern exakt für die, die sich entschieden haben, in unserer Gewerkschaft zu sein, und das ist per se nichts Schlechtes. Die Bahn hat einfach die Realitäten anzuerkennen, die in diesem Land herrschen. Es gibt zahlreiche Eisenbahn-Verkehrsunternehmen, in denen auch Tarifpluralität herrscht, also wir Tarifverträge haben und andere, und das hat überhaupt nichts mit Machtbereich ausdehnen zu tun, sondern das ist ein grundgesetzlich geschütztes Recht, das wir wahrnehmen.
Armbrüster: Viele Leute sagen aber auch, es geht hier eigentlich nur um Eitelkeiten eines Gewerkschafters, und vor allen Dingen über das Zwischenmenschliche, das offenbar nicht funktioniert, zwischen Ihnen und Ihrem Gegenpart bei der anderen großen Eisenbahnergewerkschaft, bei der EVG.
Weselsky: Herr Armbrüster, das ist auch schön, das zu hören. Ich sage da nur eins drauf: Für meine Eitelkeit, dass ich ins Fernsehen oder ins Radio komme, gehen nicht an einem Tage 3.000 Mitglieder in den Streik und setzen sich diesem Stress aus, und wenn wir drei Tage hintereinander im Streik sind, werden das bis zu 9.000 Mitglieder. Das müssen Sie sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Niemand auf der Welt kann seine eigenen Mitglieder so benebeln, dass die sich Repressalien auf Arbeitgeberseite aussetzen. Die kämpfen für bessere Arbeitszeiten, die kämpfen für bessere Schichtrhythmen, die sind unterwegs, weil sie vom Management missachtet werden und weil sie täglich überlastet sind draußen.
Armbrüster: Und das ist es wirklich wert, dass Sie monatelang immer mal wieder den öffentlichen Personenverkehr in Deutschland lahmlegen?
Weselsky: Genau das ist der entscheidende Punkt, das letzte Mittel, was wir besitzen, wenn ein Arbeitgeber wie dieses Management der Deutschen Bahn AG sich nicht bewegt, sich nicht bewegen will und immer wieder versucht, den Menschen Sand in die Augen zu streuen und irgendeine Mär zu erzählen, die in Wahrheit nichts taugt. Deswegen hat die Arbeitnehmerschaft in diesem Land über Jahrzehnte erkämpft als Arbeitnehmerrechte das letzte Mittel, nämlich den Arbeitskampf, und wir ziehen das nur, wenn wir auf dem Verhandlungswege nicht weiterkommen.
"Wir müssen uns über Tarifverträge schützen"
Armbrüster: Aber funktioniert so ein Arbeitskampf nicht auch nur wirklich dann, wenn er auch von der Bevölkerung, von den sozusagen Leidtragenden in irgendeiner Form noch verstanden wird?
Weselsky: Ich musste im letzten Jahr am eigenen Leib verspüren, was es heißt, wenn sich eine bestimmte Medienschicht auf den Weg macht, um eine Person anzugreifen, weil die Sachargumente nicht mehr funktionieren. Ich bin mittlerweile an der einen oder anderen Stelle rehabilitiert worden, weil die Medienvertreter zu weit gegangen sind. Ich möchte an der Stelle klar und deutlich zum Ausdruck bringen: Das was die Politiker heute so unter vorgehaltener Hand oder auch offen in den Raum stellen, nämlich Daseinsvorsorge, das haben sie vor mehr als 20 Jahren entschieden. Die Privatisierung der Bahn war klar, hat nichts mehr mit Daseinsvorsorge zu tun. 20 Jahre danach versuchen die Damen und Herren, das vergessen zu machen, und tun so, als hätte hier jeder das Recht auf Eisenbahnverkehr, und zwar uneingeschränkt. Damals waren Lokführer Beamte, heute sind es Tarifkräfte. Wir müssen uns an der Stelle über Tarifverträge schützen, und das ist eine Veränderung der rechtlichen Situation, die die Politik herbeigeführt hat. Die kann sich jetzt hier nicht rausziehen unter der Überschrift "wir wünschen aber, dass die Bahn jeden Tag fährt. Wir wünschen aber auch, dass die Flieger jeden Tag fliegen." So funktioniert das Leben nicht. Jeder ist für das verantwortlich, was er tut.
Armbrüster: Ich meine, Herr Weselsky, man wünscht sich irgendwie, dass sich die Konfliktparteien verantwortungsvoll mit ihrer Macht bewegen und nicht über Monate so einen Konflikt austragen und immer wieder dafür sorgen, dass Zehntausende Bahnfahrer am Bahnsteig stehen und morgens nicht wissen, wie sie zur Arbeit kommen.
Weselsky: Das ist der beste Satz, den Sie gesagt haben. Ich wünsche mir, dass Sie das klar und deutlich auch im Namen der Fahrgäste, der Kunden der Deutschen Bahn dem Management der Deutschen Bahn und allen voran dem Vorstandsvorsitzenden Dr. Grube mitteilen.
Armbrüster: Aber erst mal wollen Sie, dass es auch den Bahnfahrern so ein bisschen weh tut, damit man den Druck auch spürt in Deutschland?
Weselsky: Wenn wir streiken, streiken wir nicht gegen die Bahnkunden, sondern wir streiken gegen den Arbeitgeber. Wir fügen ihm wirtschaftlichen Schaden zu. Das beklagt er mit Krokodilstränen, aber ist selber die Ursache für den Zustand.
"Sie wollen Stillstand"
Armbrüster: Den wirtschaftlichen Schaden führen Sie auch Unternehmen zu in Deutschland, die gar nichts mit der Bahn zu tun haben, die aber ihre Produkte und ihre Zulieferung über die Bahn geliefert bekommen. Wir haben das heute schon gehört, dass da einige Wirtschaftsvertreter mit deutlichen Einbußen rechnen. Zählt das auch mit zu Ihrem Kalkül?
Weselsky: Es zählt zum Streikrecht, dass auch nebenher Schäden entstehen, wirtschaftliche Schäden, und es ist in der Verantwortung des Managements der Deutschen Bahn. Die haben doch den Streit und den Streik provoziert. Ich hätte im Jahr 2014 mit meinen Kolleginnen und Kollegen gar nichts unternehmen müssen, wenn sie anerkannt hätten, dass wir das Recht haben, für unsere Mitglieder Tarifverträge abzuschließen. Wir hätten auch jetzt den siebten Streik in einer langen Tarifauseinandersetzung nicht, wenn das Management nicht einfach Unsinn erzählen würde, wenn das Management sich nicht hinstellen würde und sagt, wir sind kurz vor der Unterschrift. Es ist ja geradezu so, als ob die Lokführer nichts lieber tun als streiken. Sie werden gezwungen, in die Auseinandersetzung zu gehen, weil das Management eben keine Lösung auf den Tisch bringt, und die Kompromisse, die wir vorgeschlagen haben, ihm nicht ausreichend genug sind. Sie wollen einfach Stillstand, sie wollen nichts vereinbaren, sie wollen die Tarifverträge, die sie heute haben, und gegen die wenden sich unsere Mitglieder.
Armbrüster: Jetzt kriegen Sie aber auch Gegenwind von weiterer Arbeitnehmerseite, nämlich aus dem DGB. Der DGB-Chef Reiner Hoffmann hat gesagt, er verstehe nicht, warum Sie die Verhandlungen schon wieder für gescheitert erklärt haben. Das ist ja nicht nur die Bahn, sondern auch Leute, die auf Ihrer eigenen Seite stehen. Sollten die das auch nicht ganz mitkriegen?
Weselsky: Ursache und Wirkung, Herr Armbrüster. Jeder Mensch ist für das verantwortlich, was er tut. Der DGB war es als Gewerkschaften, der gemeinsam mit den Arbeitgebern der BDA einen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht hat mit Namen Tarifeinheitsgesetz. Die Bundesregierung setzt das jetzt um. Es war eine Einladung an Arbeitgeber, keine Tarifverträge mehr mit Berufsgewerkschaften abzuschließen. Es war eine Einladung an die Einheitsgewerkschaften, an die Großgewerkschaften, die kleinen zu ignorieren und auf deren Existenzvernichtung hinzuarbeiten. Wir sind das Pilotprojekt. Und wenn wir uns wehren, dann sage ich mal ganz offen, dann interessiert mich auch nicht, was Herr Hoffmann von sich gibt, denn er hat den Stein ins Wasser geworfen und die Welle gemacht.
Armbrüster: Claus Weselsky, der Chef der Gewerkschaft der Lokomotivführer, heute Morgen live hier bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank, Herr Weselsky, für das Interview.
Weselsky: Ich danke Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Claus Weselsky im Gespräch mit Tobias Armbrüster | Der Vorsitzende der Lokführer-Gewerkschaft GDL, Claus Weselsky, hat die erneuten Bahnstreiks verteidigt. "Wir streiken nicht gegen die Bahnkunden", sagte er im DLF. Die Bahn habe die Streiks selbst provoziert, da sie in den Verhandlungen unbeweglich geblieben sei. | "2015-04-21T08:10:00+02:00" | "2020-01-30T12:32:46.436000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/lokfuehrer-streik-es-ist-schluss-mit-pokerface-100.html | 950 |
Das Virus muss ins Labor | Im Institut für Virologie an der Charité Berlin Mitte, in dem Untersuchungen zum Coronavirus laufen, steht Laborausrüstung. (dpa)
Daniela Niemeyer ist Forschungsgruppenleiterin am Institut für Virologie der Charité Berlin: "Hier auf der rechten Seite befindet sich das S3 Labor (Schlüssel) und jetzt befinden wir uns hier in der Schleuse."
S3 Labor - das ist ein Hochsicherheitslabor für den Umgang mit ansteckenden und gefährlichen Erregern. Die Virologin Daniela Niemeyer hat hier bis spät in die Nacht gearbeitet. Am nächsten Morgen trägt sie sich schon wieder ins Logbuch ein und legt die viele Schutzschichten an. Zwei Paar Einmalhandschuhe, Gummistiefel, einen wasserabweisenden Kittel, Einmalärmelschoner.
"Dann kommt die Respiratorhaube." Ganz schön schwer. "Das werden wahrscheinlich so ein zwei Kilo. Dann setzt man den Schlauch auf den Filter jetzt starten wir das Gerät. Als nächstes kann ich mir die Haube dann auf den Kopf setzen."
Die ist beengend, liefert aber garantiert Viren-freie Luft. Der Schutz der Forscherin hat höchste Priorität. Im S3 Labor wird mit dem Virus nur in Sterilbänken gearbeitet, alle Flaschen und Gefäße sind aus bruchsicherem Plastik. Und Unterdruck und eine große Filteranlage stellen sicher, dass keine Coronaviren in die Umgebung gelangen können. Wer hier forschen will, braucht ein langes Sicherheitstraining. Für Besucher kein Zutritt.
"Eine stärker übertragbare Krankheit"
Also zurück ins Büro. Hier erzählt Daniela Niemeyer von der Isolierung des neuen Corona Virus. Vor ein paar Tagen sind Proben der ersten bayrischen Patienten per Expressbote nach Berlin gekommen: "Humane Lungenzellen zum Beispiel haben wir infiziert und am ersten Tag fragt man sich noch so ein bisschen: Sieht man was oder sieht man nichts? Aber am zweiten Tag wird es schon sehr deutlich, dass sehr viele Zellen schon im Medium schwimmen und das sind die toten Zellen. Am dritten Tag habe ich dann ganz, ganz deutlich gesehen, dass dann dieser Zellrasen also diese gleichmäßige Oberfläche Löcher aufgewiesen hat.
Lungenkrankheit Covid-19: Wie gefährlich ist das Coronavirus?Die Zahl der mit dem Coronavirus Infizierten in China ist weiter angestiegen. Die Weltgesundheitsorganisation hat Ende Januar den "internationalen Gesundheitsnotstand" ausgerufen. In Deutschland wurden inzwischen über 15 Fälle von Infizierten bestätigt.
"Das war erstaunlich und besorgniserregend einfach. Es ist sofort gelungen, dieses Virus zu isolieren, selbst aus dem oberen Atemwegstrakt, also aus dem Rachen. Und das ist ungewöhnlich für solche Viren. Und das sagt uns, dass wir hier mit Vorsicht die ganze Sache betrachten müssen. Denn wenn im Rachen so viel Virus ist, dann müssen wir schon davon ausgehen, dass das eine stärker übertragbare Krankheit ist."
Christian Drosten ist der Direktor des Instituts für Virologie der Berliner Charité. Dort und am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München wurden inzwischen mehr als 30 Versionen des neuen Corona Virus isoliert: "Ja, das Virus ist eigentlich der Schlüssel zur Beforschung dieser Erkrankung."
Aber zu seiner eigenen Forschung kommt Christian Drosten kaum noch. Sein Institut ist derzeit vor allem auch Wissenschaftsdienstleister: "Jedes Viruslabor soll die Möglichkeit haben, an diesem Virus zu forschen. Da bereiten wir uns gerade auf eine größere Verschickungsaktion vor. Das ist ein erheblicher Aufwand."
Die Viren müssen vermehrt, standardisiert und sicher verpackt werden. Von außen sehen die Pakete aus wie normale Styroporkühlboxen. Innen umhüllen mehrere Verpackungen den halben Milliliter hochinfektöse Virenlösung.
Labore sollen schnell Fortschritte erzielen
Christian Drosten: "Nur so von der Vorstellung: da kann schon ein Lkw drüber fahren, ohne dass der Inhalt dann auf der Straße landet."
Die Pakte müssen dann mit den richtigen Formularen und Zollerklärungen versehen werden. Arbeit für Logistikexperten, die es am Berliner Institut eigentlich nicht gibt. Da heißt es improvisieren, es soll schnell gehen.
"Wir statten - natürlich will man das so sehen - unsere Konkurrenten mit essenziellen Vorsprüngen aus, die wir uns eigentlich selber sichern müssten, im normalen wissenschaftlichen Wettbewerb. Ich habe aber das Gefühl, dass wir in dieser jetzigen Situation diesen Wettbewerb einfach mal über Bord schmeißen müssen."
Möglichst viele Labore sollen forschen, um schnell Fortschritte zu erzielen. Es geht um Tiermodelle zur Prüfung von Medikamenten und Impfstoffen. Um neue Diagnostikmethoden, die zurückliegende Infektionen nachweisen. Aber auch scheinbar banale Fragen müssen geklärt werden: Wie lange bleibt das Virus infektiös? Welche Desinfektionsmittel wirken? Christian Drosten selbst will herausfinden, wie das Virus die Abwehrmechanismen der Zelle umgeht. Letztlich kann ein genaues Portrait des neuen Coronavirus 2019 helfen, die künftige Dynamik der Epidemie oder Pandemie besser vorherzusagen. Dafür sind auch die Experimente von Daniela Niemeyer wichtig. Ihre jungen Arbeitsgruppe untersucht verschiedene Infektionswege.
Daniela Niemeyer: "Wir haben schon erste Hinweise, dass Genom-Kopien im Stuhl sind, im Sputum und in den Rachenabstrichen. Und diese Proben habe ich jetzt im Sicherheitslabor und untersuche ob die infektiös sind." Erste Ergebnisse sollen am Samstag kommen am Samstag.
Aber nur wenn sie weiter Nachtschichten unter der Respiratorhaube einlegt. Daniela Niemeyer: "So jetzt bin ich fertig und kann ins S3 Labor reingehen." | Von Volker Wildermuth | Während sich das Coronavirus weiter ausbreitet, versuchen Forscher rund um die Welt fieberhaft mehr über den neuen Erreger herauszufinden. Entscheidend dabei: Nicht nur seine genetische Sequenz zu erkennen, sondern das Virus selbst ins Labor zu holen. | "2020-02-07T16:35:00+01:00" | "2020-02-12T14:51:06.947000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-corona-das-virus-muss-ins-labor-100.html | 951 |
"Meine Schuld ist, dass ich abgelenkt war" | 13. Januar 2012 kurz vor Mitternacht. Francesco Schettino führt ein dramatisches Telefongespräch mit Gregorio De Falco dem zuständigen Kommandanten der Küstenwacht im nahen Livorno. Während sich über 4000 Menschen vom Luxusliner zu retten versuchen, steht Francesco Schettino an Land. "Schettino, sie haben sich vielleicht aus dem Wasser gerettet, aber jetzt bekommen Sie es mit mir zu tun. Gehen sie verdammt noch mal zurück an Bord. Ich bitte Sie Commandante … Ach hören sie auf mit ihren Bitten, machen Sie zu und gehen sie wieder an Bord. Was machen sie denn grade?Ich koordiniere die Hilfsmaßnahmen.Was koordinieren sie denn da? Gehen sie gefälligst an Bord."Eine jämmerliche Figur gab Schettino damals ab. Heute verteidigt er sich. Er sei ausgerutscht und in ein Rettungsboot gefallen. Ab da sei es für ihn unmöglich gewesen, De Falcos Befehl zu folgen und wieder an Bord zu gehen."Ich hätte dreihundert Meter weit schwimmen müssen, den Bug umrunden und mir eine Strickleiter suchen müssen mit dem angeschalteten Handy. Stattdessen habe ich die Hubschrauber angefordert und alle zuständigen Stellen informiert."Bis zum Schluss habe er seine Aufgaben als Kommandant wahrgenommen, das Richtige getan, um möglichst alle Passagiere und Besatzungsmitglieder zu retten. Er trage die volle Verantwortung für die Ereignisse, aber kriminell sei er deswegen noch lange nicht. An dem tragischen Unfall, bei dem die Costa Concordia eine Klippe rammte, seien auch noch Andere beteiligt gewesen."Ich hatte in diesem Moment nicht das Kommando, sondern das hatte der erste Offizier. Es war ein banaler Unfall, der fatalerweise passieren konnte, weil mehrere Personen gleichzeitig in Aktion waren. Es hat da ein grundsätzliches Missverständnis gegeben, deshalb bin ich ja auch so wütend. Es schien, als ob alle Verantwortlichen und gleichzeitig auch die Instrumente einen Blackout hatten. Meine Schuld ist, dass ich abgelenkt war."Das Kommando "Timone a Mano", Handsteuerung, hatte Schettino allerdings selbst gegeben und damit die Instrumente höchstpersönlich zum Blackout verdammt. Das war sein erster und schwerwiegendster Fehler, über den er im Interview aber hinweggeht. Dass er abgelenkt war, gibt er zu, dass der Grund eine attraktive Tänzerin aus der Ukraine war, mit der er vorher zu Abend gegessen hatte und die während des Unfalls auf der Brücke war, streitet Schettino ab. Ebenso, dass sie seine Geliebte war."Es handelt sich eine gesellige Person, die allgemein beliebt ist, aber das bedeutet ja nicht, dass da mehr war. Sie war eine nette Gesellschaft, mit der man Spaß hatte, mehr nicht."Schettino sieht sich nach wie vor als Kommandant, der ein Opfer der Verkettung unglücklicher Ereignisse wurde. Und als Ehrenmann. Deswegen habe er sich entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen."Es ist meine moralische Pflicht der Öffentlichkeit gegenüber. Ich will damit niemanden zwingen, seine Meinung über mich zu ändern; ich respektiere, was man über mich denkt. Aber ich wünsche niemandem, dass er ein solches Drama erleben muss wie ich."Und das noch lange nicht zu Ende ist. Im September soll die Auswertung des Bordcomputers beendet sein, bis zum Jahresende dann die Anklageschrift stehen. Sollte Schettino schuldhaft sein Schiff verlassen und die Passagiere sich selbst überlassen haben, dann drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Sofern der Prozess nicht dank geschickter Anwälte verschleppt wird, bis er verjährt.
Der Kapitän der havarierten Costa Concordia, Francesco Schettino, bei seiner Festnahme am 14. Januar (picture alliance / dpa / Enzo Russo) | Von Karl Hoffmann | Im Januar kenterte die Costa Concordia mit 4200 Passagieren an Bord, mindestens 30 Menschen starben. Kommandant Francesco Schettino sitzt seitdem in Untersuchungshaft, weil er sich angeblich vor den Passagieren von Bord machte - verteidigte sich aber dennoch im italienischen Fernsehen. | "2012-07-13T09:10:00+02:00" | "2020-02-02T14:18:01.271000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/meine-schuld-ist-dass-ich-abgelenkt-war-100.html | 952 |
Internationale Kritik an russischen Luftangriffen | Zwei russische Kampfflugzeuge am Himmel. (AFP / OLGA MALTSEVA)
Das russische Verteidigungsministerium hatte die Luftangriffe am Nachmittag bekanntgegeben und erklärt, sie hätten sich gegen militärische Ausrüstung, Waffen-, Munitions-, und Treibstofflager sowie Kommunikations-Einrichtungen der IS-Terrormiliz gerichtet. Russlands Präsident Wladimir Putin sagte, sein Land bekämpfe die Dschihadisten in den Gebieten, die sie bereits erobert hätten, anstatt "darauf zu warten, dass sie zu uns kommen".
Bald darauf folgten allerdings Angaben von syrischen Oppositionellen, wonach sich die Attacken vielmehr gegen gemäßigte Rebellengruppen in den Provinzen Homs und Hama gerichtet hätten. Dabei seien viele Zivilisten getötet worden. Die Verteidigungsminister der USA und Frankreichs, Ash Carter und Jean-Yves Le Drian erklärten, die Luftangriffe seien offenbar in Gegenden erfolgt, wo es gar keine IS-Kämpfer gebe.
Moskau wehrt sich gegen Vorwürfe
Die Regierung in Moskau wies diese Vorwürfe zurück. Das Verteidigungsministerium präzisierte die russischen Angaben: Es seien insgesamt 20 Luftschläge gewesen, die sich allesamt gegen den IS gerichtet hätten. Ziele in der Nähe von Zivilisten seien nicht attackiert worden. Ein Kreml-Sprecher behauptete zudem, die meisten Rebellen der Freien Syrischen Armee hätten sich inzwischen dem IS angeschlossen.
Die USA kritisierten auch eine mangelnde Vorwarnung durch Russland. Laut Angaben aus Washington beschwerte sich US-Außenminister John Kerry darüber in einem Gespräch mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow am Rande der UNO-Vollversammlung in New York. Kerry habe kritisiert, dass die Gefahr von Flugzeug-Zusammenstößen bestanden habe. Die französische Regierung erklärte, man sei überhaupt nicht informiert worden.
Auch die NATO kritisierte das russische Vorgehen. Ein Sprecher sagte in Brüssel, die Unterstützung Russlands für den syrischen Machthaber Baschar al-Assad sei nicht konstruktiv. Assad sei ein Teil des Problems.
Einstimmige Billigung durch das Parlament
Das russische Parlament in Moskau hatte die Luftschläge heute einstimmig gebilligt. Unterstützung kam auch von der einflussreichen orthodoxen Kirche Russlands, die von einer "heiligen Schlacht" sprach.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow drängte in New York auf eine Koordinierung der internationalen Einsätze in Syrien. Sein Land will dazu eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats beantragen. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon rief zu einer politischen Lösung in Syrien auf. Auch die USA flogen heute wieder Luftangriffe. Sie richteten sich nach Regierungsangaben gegen IS-Stellungen in der Stadt Aleppo.
Russland ist einer der letzten Verbündeten des Assad-Regimes. Moskau und Washington stimmen ihr militärisches Vorgehen in Syrien inzwischen ab. Eine Zusammenarbeit gibt es aber nicht. Beide Seiten sind uneins über die Zukunft Assads: Die USA verlangen, dass er mittelfristig geht.
Französische Ermittlungen gegen Assad
In Frankreich leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die syrische Regierung und Machtaber Baschar al-Assad wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Grundlage sind Aussagen und Fotos eines früheren Fotografen der syrischen Militärpolizei, der im Juli 2013 aus Syrien geflüchtet war. Er hatte 55.000 Fotos mitgebracht, die zahllose Leichen mit Folterspuren zeigen sollen. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius sagte in New York, es sei die Verantwortung des Westens, gegen die Straflosigkeit in Syrien vorzugehen.
(mg/tzi) | null | Kaum fliegt Russland erste Luftangriffe in Syrien, hagelt es von allen Seiten Kritik. Die USA bemängeln eine zu kurze Vorwarnung, die syrische Opposition berichtet von mindestens 36 toten Zivilisten. Besonders schwer wiegt der Vorwurf, die russische Armee bombardiere gar keine IS-Stellungen, sondern vielmehr moderate Rebellengruppen. Moskau weist dies zurück. | "2015-09-30T17:50:00+02:00" | "2020-01-30T13:02:07.687000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/syrien-internationale-kritik-an-russischen-luftangriffen-100.html | 953 |
Obama verurteilt Hamas | Nach der gescheiterten Waffenruhe setzt Israel seine Bodenoffensive im Gaza-Krieg fort. (dpa / Atef Safadi)
Der stellvertretende Sicherheitsberater Obamas, Tony Blinken, sprach von einer empörenden Aktion. Und auch Präsident Obama machte die Hamas für das Scheitern des Waffenstillstandes verantwortlich.
"Ich verurteile unmissverständlich die Hamas und die palästinensischen Splittergruppen, die für den Tod zweier israelischer Soldaten und für die Entführung eines weiteren verantwortlich sind. Wenn es ihnen ernst ist damit, diese Situation zu lösen, dann muss der israelische Soldat ohne Bedingungen freigelassen werden, und zwar so schnell wie möglich."
Obama nahm seinen Außenminister Kerry gegen Kritik an seinen Vermittlungsbemühungen in Schutz. Kerry habe sehr hart an dem Waffenstillstand gearbeitet. Man könne den Konfliktparteien einen Weg aufzeigen, aber sie müssten ihn auch gehen wollen. Obama machte auch klar, dass es ohne ein Einlenken der Hamas nicht zu einem Waffenstillstand kommen könne.
Eine Frage des Vertrauens
"Wenn die Hamas einem Waffenstillstand zustimmt, dann beansprucht sie, für alle palästinensischen Gruppen zu sprechen. Wenn sie nicht Herr der Lage sind und nur Minuten nach der Unterzeichnung israelische Soldaten getötet und entführt werden, dann können die Israelis auch kein Vertrauen in einen Waffenstillstand haben."
Zugleich verlangte der Präsident, es müsse mehr getan werden, um die palästinensische Zivilbevölkerung zu schützen. Dass bei den Kämpfen unschuldige Zivilisten ins Kreuzfeuer gerieten, müsse, so Obama "unser aller Gewissen belasten."
Telefonat mit Putin wegen Ukraine-Krise
An internationalen Krisenherden herrscht kein Mangel. Obama telefonierte zum ersten Mal seit dem Abschuss der malaysischen Verkehrsmaschine über der Ukraine mit dem russischen Präsidenten Putin. Dabei äußerte er erneut seine tiefe Besorgnis über die Unterstützung der pro-russischen Separatisten in der Ukraine, hieß es in der Mitteilung des Weißen Hauses. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums liefern die russischen Streitkräfte den Separatisten mehr und mehr schwere Waffen wie Panzer und Flugabwehrraketen.
Auch die von den USA monierte Verletzung des Mittelstrecken-Abrüstungsabkommens von 1987 kam zur Sprache. Die amerikanische Regierung wirft Russland vor, entgegen den Bestimmungen des Vertrages Marschflugkörper zu testen. Das Abrüstungsabkommen, damals geschlossen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, verbietet Produktion und Test von Marschflugkörpern mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. | Von Marcus Pindur | Nach dem Scheitern einer Waffenruhe haben die israelischen Streitkräfte ihre Angriffe im Gazastreifen fortgesetzt. US-Präsident Barack Obama sieht dafür die Hamas in der Verantwortung, wie er gestern Abend bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus deutlich machte. | "2014-08-02T06:10:00+02:00" | "2020-01-31T13:56:11.434000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/gaza-konflikt-obama-verurteilt-hamas-100.html | 955 |
Ein kosmopolitischer Filmproduzent | Filmproduzent Alexander Korda (dpa / Ronald Grant Archive / Mary Evan)
Natürlich besteht ein Film nicht nur aus den Entscheidungen seines Produzenten. Aber manchmal eben doch. Oder in beträchtlichem Maße. Es war der Produzent Alexander Korda, der den Krimiautor Graham Greene Ende der 40er-Jahre mit 10.000 britischen Pfund nach Wien lockte und zum Verfassen eines Drehbuchs animierte. Es war Korda, der Orson Welles und Joseph Cotton als Hauptdarsteller verpflichtete. Und er war es auch, der den Filmmusiker Anton Karas nach London einfliegen ließ, um den fertigen Film "Der dritte Mann" komplett mit dessen Zithermusik zu unterlegen.
Der Thriller "Der dritte Mann", gedreht von Carol Reed, produziert von Alexander Korda, wurde ein Welterfolg. In einer berühmten Szene treffen der Penicillin-Schieber Harry Lime, gespielt von Welles, und sein früherer Freund, gespielt von Cotton, in einer Gondel im Wiener Prater aufeinander. Die Schatten sind hart, die Worte sind es auch.
- Du möchtest mich loswerden, was? - Vielleicht. - Das kann ich verstehen. - Ne‘ Pistole habe ich. Wenn Du da unten liegst, würden sie kaum nach Schusswunden bei Dir suchen.
Alexander Korda war Produzent und Regisseur, Geschäftsmann und Künstler – und leidenschaftlicher Europäer. Geboren wurde er am 16. September 1893 in der ostungarischen Provinz. Über Kino sprach er mit der Souveränität eines Grandseigneurs und mit einem Akzent, in dem die Donaumonarchie nachhallte – etwa als "Der dritte Mann" 1949 in Cannes den Großen Preis gewann.
"Es war wirklich rührend, dem großen Erfolg dieses Films beiwohnen zu können. Der Erfolg zeigt, dass das alte Sprichwort noch immer wahr ist: Die Filmindustrie kann keine Krise haben, die durch ein paar gute Filme nicht geheilt werden kann."
Kosmopolitisches Produzententum
Heute ist kaum mehr vorstellbar, auf welch beiläufige Weise Alexander Korda sein kosmopolitisches Produzententum lebte. Von Budapest, wo er erste Erfahrungen im Filmemachen sammelte, geht er als junger Mann nach Wien und dreht als Regisseur den millionenteuren Stummfilm "Samson und Delila". 1923 zieht es ihn weiter nach Berlin. Dort dreht er den schönen, aber etwas flachen Film "Eine Dubarry von heute" mit seiner Frau Maria Korda in der Hauptrolle und Marlene Dietrich und Hans Albers in winzigen Nebenrollen. An seine Berliner Zeit erinnert er sich neidlos gegenüber großen Kollegen.
"Die Filmindustrie in Berlin in diesen Zeiten war wirklich vielleicht die beste auf der Welt. Der unvergessliche Murnau, Lubitsch, Dupont, Joe May und andere Kollegen und Freunde leben in mir in einer guten und dankbaren Erinnerung."
Nach Zwischenstationen in Hollywood und Paris lässt sich Alexander Korda 1932 in London nieder, wo er zur prägenden Figur der britischen Filmindustrie wird. Er entdeckt neue Talente, fördert sie, bleibt ihnen treu. Laurence Olivier und Vivien Leigh beginnen ihre Karrieren unter seinen Fittichen. Korda entdeckt Leigh 1937 als Produzent des im 16. Jahrhunderts spielenden Historienfilms "Feuer über England". Thema sind die konkurrierenden Seemächte England und Spanien.
Appeasement war schon immer die falsche Strategie im Umgang mit Englands Feinden, so die Botschaft von "Feuer über England". In jener Zeit pflegt Korda bereits einen freundschaftlichen Kontakt mit Winston Churchill, der auch die Dreharbeiten besucht. In den kommenden Jahren wird Korda zum filmischen Verbündeten der unnachgiebigen Anti-Hitler-Politik des britischen Premierministers – 1941 produziert er in Hollywood "Lord Nelsons letzte Liebe", einen Film, der die USA zum Kriegseintritt gegen Nazi-Deutschland bewegen soll. Mit wehendem Gewandt begrüßt Vivien Leigh den Geschützdonner der englischen Kriegsschiffe.
- A wonderful battleship!"
Alexander Korda, gestorben 1956 in London, wurde noch während des Zweiten Weltkrieges von Winston Churchill zum Ritter geschlagen. Dass er sich im filmischen Kampf gegen Nazi-Deutschland nicht nur großer Geschütze, sondern auch feiner Klingen zu bedienen wusste, zeigt seine Zusammenarbeit mit Ernst Lubitsch in Hollywood. In "Sein oder Nichtsein" entlarven die beiden die Auftritte von Hitler und dessen Vasallen als jene Mischung aus Schmierentheater, Masken und Kostümen, von der das Kino seit jeher am besten zu erzählen weiß.
- Achtung, der Führer! - Heil Hitler! - Heil Hitler! - Ich heil mich selbst. | Von Katja Nicodemus | "Der Dieb von Bagdad", "Sein oder Nichtsein" und "Der dritte Mann" sind filmgeschichtliche Werke, die Alexander Korda produzierte. Sein Weg als Produzent und Filmregisseur führte ihn schließlich nach London. Am 16. September 1893, vor 125 Jahren, wurde er im ungarischen Pusztatúrpásztó geboren. | "2018-09-16T09:05:00+02:00" | "2020-01-27T18:11:00.118000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/125-geburtstag-von-alexander-korda-ein-kosmopolitischer-100.html | 956 |
Keine Zinserhöhung in Sicht | Die Sitzung des Rats der EZB ist eine der wichtigsten Notenbanksitzungen des Jahres (dpa)
Silvia Engels: Heute kommt der Rat der Europäischen Zentralbank in Frankfurt zum letzten Mal in diesem Jahr zusammen, um über die Zinsen zu entscheiden. Klemens Kindermann aus unserer Wirtschaftsredaktion: Werden da auch die aktuellen Entwicklungen in Großbritannien eine Rolle spielen?
Klemens Kindermann: Ja, ganz bestimmt. Heute ist eine der beiden wichtigsten Notenbanksitzungen des Jahres: Es werden sogenannte Projektionen für Wachstum und Inflation vorgelegt, das passiert viermal im Jahr, im Juni und Dezember aber gemeinsam entwickelt mit den nationalen Notenbanken. Deshalb hat diese Prognose heute ein besonderes Gewicht. Und da müssen die Risiken für die Wirtschaft in der Eurozone abgebildet sein: die schrumpfende Wirtschaft in Deutschland und Italien im dritten Quartal, der Handelsstreit zwischen den USA und China und allen voran die Gefahr eines kalten Brexits. Ein EZB-Watcher – so nennt man die geldpolitischen Analysten - sagte gestern, diese neuen Projektionen hätten das Zeug, die Märkte zu erschüttern.
Engels: Wird denn die EZB heute schon sagen, wann sie die Zinsen erhöhen will?
Kindermann: Darauf warten natürlich alle. Bislang hat die EZB die Märkte darauf vorbereitet, dass es 2019 nun endlich soweit sein könnte, möglicherweise nach dem Sommer 2019, dass die Zinsen von 0,0 Prozent endlich steigen. Aber genau dafür sind diese Voraussagen für die Inflation und das Sozialprodukt so wichtig: wenn die zu sehr herabgesetzt werden, dann heißt das, es gibt auch keine Zinserhöhung im nächsten Jahr. Denn dann wird die EZB das Geld noch weiter billig halten wollen, um die Konjunktur zu stützen.
Engels: Die Inflation lag zuletzt im November bei zwei Prozent – das ist ja eigentlich auch das Ziel der EZB?
Kindermann: Ja genau, die Preise stabil halten – das ist ja der Hauptzweck, man kann sagen: die Daseinsberechtigung der EZB. Bei knapp unter 2 Prozent geht man von stabilen Preisen aus. Aber, wenn man genauer hinschaut, und das tut die EZB eben auch: Diese zwei Prozent liegen hauptsächlich an den Ölpreisen, die im Vergleich zum Vorjahr sehr angezogen haben. Wenn man die rausrechnet, also die sogenannte Kerninflation nimmt, dann sind wir nur noch bei einem Prozent. Und das reicht der EZB eben nicht – also keine Zinserhöhung.
Engels: In den USA ist man beim Thema Zinserhöhung schon weiter?
Kindermann: Ja, da wurden die Zinsen Schritt für Schritt erhöht – auf aktuell 2,0 bis 2,25 %. Die USA haben damit geldpolitisch wieder Wasser unter dem Kiel, sind handlungsfähig bei einer Rezession, können die Zinsen senken. Das geht hier in Europa nicht, wir liegen weiter mit unserem Zinskahn ziemlich auf dem Sand. Und die nächste Rezession könnte in den USA schon auf dem Vormarsch sein. Erstmals seit gut einem Jahrzehnt liegen da die Renditen länger laufender Staatsanleihen teilweise unter denjenigen mit kürzerer Laufzeit. Das nennt man eine "inverse Zinskurve" und die gilt als sicheres Anzeichen für eine drohende Rezession. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es diese Inversion schon achtmal und jedes Mal war eine Rezession die Folge. Die würde dann auch Europa empfindlich treffen, womöglich mehr als die USA, weil wir keinen Schuss mehr im Zins-Colt haben.
Engels: Ganz kurz: Die EZB berät auch noch über ihr Anleihekaufprogramm. Was ist da zu erwarten?
Kindermann: Es dürfte formal das Auslaufen des Kaufprogramms beschlossen werden. Das werden bis Ende des Jahres dann insgesamt unvorstellbare 2,6 Billionen Euro sein. Nur noch auslaufende Papier werden dann wohl ersetzt. Aber wie man von diesem Wertpapier-Mount Everest wieder herunterkommen will, das steht in den Sternen. | Klemens Kindermann im Gespräch mit Silvia Engels | Die Sitzung des Rats der EZB ist eine der wichtigsten Notenbanksitzungen des Jahres: Es werden sogenannte Projektionen für Wachstum und Inflation vorgelegt. Eine Zinserhöhung werde es aber wohl nicht geben, sagte Klemens Kindermann aus der Dlf-Wirtschaftsredaktion. Im Falle einer Rezession bleibe damit kaum Spielraum. | "2018-12-13T08:35:00+01:00" | "2020-01-27T18:25:25.554000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ezb-ratssitzung-keine-zinserhoehung-in-sicht-100.html | 957 |
Synthetischer Sprit für weniger Luftverschmutzung | Experten sind überzeugt, dass trotz des Trends zur Elektromobilität Verbrennungsmotoren weiterhin wichtig bleiben werden. (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
Dieselfahrzeuge stoßen Ruß und Stickoxide aus. Und das liegt am Kraftstoff. Synthetische, also künstlich hergestellte Kraftstoffe sollen das ändern. Für besonders vielversprechend halten Experten die Oxymethylenether, kurz OME. Georg Wachtmeister hat sie an seinem Lehrstuhl für Verbrennungskraftmaschinen der TU München getestet.
"Da haben wir ganz ausgezeichnete Ergebnisse im Emissionsverhalten. Die Partikelemission, sowohl hinsichtlich Masse als auch hinsichtlich Partikelanzahl, ist auf extrem niedrigem Niveau. Wenn ich einen Kraftstoff habe, der keine Partikel entstehen lässt, kann man auch die Stickoxide auf niedrigste Emissionen drücken."
Weniger Luftschadstoffe als reiner Diesel
Die OME sind flüssig und könnten wie bisher in Tankwagen transportiert und an Tankstellen verkauft werden. Es ist auch möglich, sie mit herkömmlichem Dieselkraftstoff zu mischen. So ein Gemisch erzeugt immerhin weniger Luftschadstoffe als reiner Diesel. Es fehlt allerdings noch an einer Norm für solche Kraftstoffe. Die wäre wichtig, denn für die OME muss ein Dieselmotor geringfügig umgebaut werden.
"Wir haben die Versuche durchgeführt mit einem Einzylinder-Dieselmotor. Der wurde absolut nicht verändert. Veränderungen sind aber erforderlich, doch die sind relativ überschaubar. Man muss die Einspritzdüsen etwas vergrößern. Das ist es aber dann auch. Also größere Veränderungen sind nicht erforderlich, um diesen Kraftstoff einsetzen zu können."
Um das zu demonstrieren, baut Ford derzeit einen Mittelklassewagen mit Dieselmotor, der OME tanken wird. Und auch Georg Wachtmeister plant noch in diesem Jahr Fahrversuche, um Erfahrung auf der Straße zu sammeln. Wenn sie erfolgreich sind, heißt das aber nicht, dass der Dieselkraftstoff schon bald durch die OME ersetzt wird. Der größte Haken: Sie stehen noch lange nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Doch daran arbeiten Forscher mit Hochdruck, denn viele Fachleute sind sicher: Trotz des Trends zur Elektromobilität werden Verbrennungsmotoren weiterhin wichtig bleiben. Bei der Deutschen Gesellschaft für Chemische Technik geht man davon aus, dass im Jahr 2030 nur einer von zehn Pkw in Deutschland rein elektrisch betrieben wird, erklärt deren Geschäftsführer Kurt Wagemann.
"Wenn wir andererseits die Lkw betrachten: Es ist unglaublich schwierig, die mit Batterien auszustatten. Die verlieren dann unglaublich viel an Ladevermögen. Und darum wird es auf absehbare Zeit in den nächsten Jahrzehnten sicher in großem Umfang klassische Motoren geben. Sowohl für Pkw als auch vor allem Lkw oder Schiffe und Flugzeuge."
Zukunft des Verbrennungsmotors
Synthetische Kraftstoffe wie die OME sollen also die Zukunft des Verbrennungsmotors sichern, ohne dass die Städte in Ruß und Abgasen ersticken. China steuert bereits um und hat im aktuellen Fünfjahresplan solchen Treibstoffen höchste Priorität eingeräumt. Und nur in China werden OME bereits großindustriell hergestellt.
"Wo in der Größenordnung 10.000 bis 30.000 Tonnen produziert werden jährlich. Aber das ist ein Prozess, der dort auf Basis Kohle passiert. Das heißt, nicht das, was wir eigentlich wollen. Und es ist ein doch recht aufwendiger, nicht wirklich ausentwickelter Prozess. Da muss noch einiges passieren, dass das im Sinne einer nachhaltigen Produktion effizient erfolgt."
Deutschland steht da noch ganz am Anfang. Hier favorisieren Forscher langfristig die klimaschonende Herstellung aus CO2 und Wasserstoff. Und der wiederum soll mit regenerativ erzeugtem Strom gewonnen werden. Kurt Wagemann:
"Wir haben aber momentan nicht genügend Strom, um das zu produzieren, Strom aus erneuerbaren Quellen. Wir reden hier über eine Entwicklung, die wirklich relevant wird für das Jahr 2030 und später."
Erst dann könnte also die Vision eines sauberen, klimaneutralen Verbrennungsmotors Wirklichkeit werden. Die synthetischen Kraftstoffe selbst sind dabei das kleinste Problem. Sie könnten schon jetzt in Motoren eingesetzt werden. | Von Hellmuth Nordwig | Dieselfahrzeuge verschmutzen die Luft durch Ruß und Stickoxide. Das liegt vor allem am Kraftstoff. Wissenschaftler erforschen deshalb auch neue Treibstoffe für ganz normale Motoren und hoffen auf synthetischen Sprit. Doch der Weg zur sauberen Mobilität mit Verbrennungsmotoren ist noch weit. | "2017-05-10T16:35:00+02:00" | "2020-01-28T10:27:12.420000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/umweltfreundlicher-kraftstoff-synthetischer-sprit-fuer-100.html | 958 |
Datenklau seit Dezember bekannt | Die Sonderseite des BSI zur Überprüfung der eigenen E-Mail-Adresse war am Mittwochmorgen erneut überlastet. (dpa picture alliance / Armin Weigel)
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat bestätigt, dass ihm der millionenfache Diebstahl von Online-Zugangsdaten schon seit Wochen bekannt war. "Wir wussten seit Dezember davon. Die Vorbereitungen, ein Verfahren aufzusetzen, das datenschutzgerecht ist und einer derart großen Zahl von Anfragen gewachsen ist, das bedurfte einer Vorbereitungszeit", rechtfertigte BSI-Präsident Michael Hange im Bayerischen Rundfunk die Wartezeit.
Unterdessen ist der Ansturm auf die Webseite des BSI, auf der besorgte Kunden prüfen können, ob sie betroffen sind, weiter groß. Der Dienst war am Mittwochmorgen zunächst erneut nicht zu erreichen, nachdem er bereits am Dienstagnachmittag überlastet war. Bis 18.00 Uhr hätten aber eine Million Anfragen bearbeitet werden können - 120.000 Betroffene erfuhren laut BSI mit Hilfe der Webseite von der Ausspähung ihrer Passwörter.
Justizminister Maas im DLF: Dimension "unfassbar"
Die Behörde hatte am Dienstag mitgeteilt, dass 16 Millionen Benutzerkonten gekapert worden seien. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sagte im Deutschlandfunk, die Dimension des Falles sei "unfassbar". Die Missbrauchsmöglichkeiten in der digitalen Welt entwickelten sich deutlich schneller, als die Gesetzgebung reagieren könne.
Laut BSI ermöglicht der Datendiebstahl Betrügern unter Umständen, auch auf andere Nutzerkonten zuzugreifen, etwa von sozialen Netzwerken oder Online-Shops, falls dort dieselben Anmeldedaten genutzt würden. Die Datensätze enthielten nach Informationen des BSI in den meisten Fällen eine E-Mail-Adresse und ein Passwort. Forscher und Strafverfolger seien bei der Analyse sogenannter Botnetze auf die Daten gestoßen. Dabei handelt es sich um Netzwerke gekaperter Computer, die häufig ohne das Wissen der Nutzer mit Schadsoftware wie Trojanern infiziert wurden. | null | Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat schon seit Wochen von dem millionenfachen Datenklau gewusst. Man habe sich aber auf die große Zahl von Anfragen vorbereiten müssen, so das BSI. Und tatsächlich hält der Ansturm besorgter Nutzer auf die BSI-Webseite an. | "2014-01-22T09:09:00+01:00" | "2020-01-31T13:22:45.614000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/online-zugangsdaten-datenklau-seit-dezember-bekannt-100.html | 959 |
Hoffnung auf den Tarifabschluss | Wenn Lokführer streiken, bedeutet das gerade in der Vorweihnachtszeit viel Ärger für Fahrgäste. Ein erfolgreicher Abschluss der Tarifgespräche kann das verhindern. (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
Gehälter, Regelungen zu Arbeitszeit und Pausen, dazu ganz allgemein die Arbeitsbedingungen von etwas mehr als 150.000 Beschäftigten der Bahn stehen auf dem Programm der Verhandlungen heute und morgen in Hannover. In einigen Bereichen hat es in den vorausgegangenen Gesprächsrunden schon Fortschritte gegeben. Sowohl die EVG, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, als auch die Gewerkschaft der Lokomotivführer GDL gehen mit klaren finanziellen Forderungen in diese Gespräche: 7,5 Prozent mehr Lohn, verteilt über eine Laufzeit von zwei Jahren. Die EVG fordert zudem den Ausbau des bereits 2016 eingeführten sogenannten Wahlmodells, mehr Geld oder alternativ mehr Urlaub bzw. weniger Wochenarbeitszeit, erläutert Verhandlungsführerin Regina Rusch-Ziemba:
"Bei uns ist das EVG-Wahlmodell, das besteht aus 6 Tagen und 2,6 Prozent – oder einer Stunde weniger Arbeitszeit. Und wir wollen genau das gleiche noch einmal vereinbaren. Das heißt also, am Ende des Tages haben die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner die Möglichkeit, zusätzlich zu wählen – also zweimal das EVG-Wahlmodell."
Bahn-Mitarbeiter wollen lieber Urlaub statt Geld
Für die Bahn stellt sich dabei das Problem, dass sich in der ersten Wahlrunde knapp 60 Prozent der Arbeitnehmer für mehr Urlaub statt mehr Geld entschieden haben – schon das hat zu einem Engpass geführt, der trotz 1500 Neueinstellungen nicht so recht beseitigt werden konnte. Trotzdem geht Personalvorstand Martin Seiler als Verhandlungsführer für die Bahn optimistisch in diese Gesprächsrunde – und verweist auf die bereits erreichten Zwischenergebnisse. Auf dieser Basis könne man weiter reden, aber man werde sich auch nicht über Gebühr unter Druck setzen lassen.
"Gut, wir haben wichtige Teileinigungen erzielt, wir haben uns über Arbeitszeitfragen unterhalten, Verbesserungen für Auszubildende und der Rest ist jetzt tatsächlich Verhandlungssache. Und das machen wir am Verhandlungstisch, so wie sich das gehört!"
GDL sieht weiteren Verhandlungsbedarf
Verhandlungen – dazu gehören neben Forderungen auch Angebote, betont GDL-Chef Claus Weselsky. Bei allem, was bereits erreicht wurde, gebe es noch jede Menge Gesprächsbedarf, die Bahn sei jetzt gefordert:
"Wir sind jetzt in der vierten Verhandlungsrunde, heute erwarte ich ein Angebot – ich werde wirklich gespannt sein, wo die linearen Erhöhungen in Zukunft sein sollen, wie lang der Tarifvertrag laufen soll. Von den einzelnen Segmenten, Zulagen und auch Arbeitszeit her, können wir schon ein bisschen Zufriedenheit ausstrahlen – aber die Unterschrift ist am Schluss und bis dahin ist die Tarifrunde spannend."
Und das vermutlich besonders mit Blick auf das EVG-Wahlmodell. Was kann, was will die Bahn sich bei der Flexibilisierung von Tarifmodellen wirklich leisten?
Bahn zeigt sich gesprächsbereit
Man sei zumindest bereit, darüber zu reden, betont Martin Seiler:
"Zweifelsohne macht die Bahn eine sehr moderne Tarifpolitik und es geht vielfach auch darum, die Beschäftigten an Entscheidungen teilhaben zu lassen. Und es ist sicher nicht allein das Wahlmodell, was sicherlich aus der letzten Runde heraus breit diskutiert wurde. Wir haben auch andere Regelungen, wie zum Beispiel einen unbefristeten Kündigungsschutz, wir haben Regelungen zur Qualifizierung bei Digitalisierung – also, wir werden unseren Kurs auch in dieser Runde fortsetzen, moderne Elemente für die zukünftige Tarifpolitik zum Inhalt zu machen."
Für die Verhandlungen sind zunächst zwei Tage eingeplant, beide Gewerkschaften haben klar gemacht, dass für sie im Zweifel auch ein Abbruch der Gespräche in Frage komme – für die Bahnfahrgäste könnte es dann wieder einmal ungemütlich werden in der Vorweihnachtszeit. | Von Dietrich Mohaupt | Die Tarifverhandlungen bei der Deutschen Bahn gehen in die entscheidende Phase. Zwei Tage lang verhandelt der Konzern nun mit den beiden Gewerkschaften EVG und GDL. Scheitern die Gespräche, drohen Streiks. | "2018-12-06T13:35:00+01:00" | "2020-01-27T18:24:17.712000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-bahn-hoffnung-auf-den-tarifabschluss-100.html | 960 |
Klimawandel löschte präkolumbianische Stadt aus | Mayaruninen in ganz Mexiko zeugen von der einstigen Hochkultur. Hier eine Tempelanlage in Dzibilchaltun - eine der größten Mayazentren. (picture alliance / dpa / Reinhard Kaufold)
Rund 200 Kilometer nördlich der mexikanischen Hauptstadt liegt Querétaro. Die Stadt in Zentralmexiko ist vor allem für ihre koloniale Architektur bekannt. Am Rand von Querétaro liegt ein kleiner Campus der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko – kurz UNAM.
Harald Böhnel öffnet eine Tür: "Das ist sozusagen unser Labor für starke Magnetfelder, hier gibt's also Geräte, mit denen man magnetische Eigenschaften von Gesteinen oder Materialien im Allgemeinen untersuchen kann."
Der deutsche Geophysiker lebt und forscht schon seit den 1980er-Jahren in Mexiko. Seine Schwerpunkte sind der Paläo- und Umweltmagnetismus. Ein Stockwerk tiefer führt er in das nächste Labor. Im hinteren Teil befindet sich ein abgeschirmter Raum.
"Der Raum ist sozusagen wie eine Zwiebel aufgebaut. Und hier gibt es drei Schichten und jede Schicht besteht aus drei Lagen von Metallfolien."
In mehreren Lagen wird damit das Erdmagnetfeld kompensiert. Nur so lassen sich magnetische Eigenschaften einzelner Gesteinsproben detailliert messen.
"Das sind dann besonders gute Arbeitsvoraussetzungen für ganz empfindliche Geräte mit denen man ganz kleine Änderungen des Magnetfeldes durch Proben halt bestimmen will."
Mithilfe dieser magnetischen Parameter lassen sich zum Beispiel klimatische Veränderungen in Sedimentproben aus Gewässern nachweisen.
"Und diese Parameter erlauben uns dann Aussagen zu machen über die Zusammensetzung der magnetischen Minerale, ob es eher Titanomagnetite sind, Magnetite oder vielleicht auch Eisensulfate."
Bohrkerne lassen neue Rückschlüsse zu
Wenn in einer Probe Eisensulfate vorliegen, muss der Sauerstoffgehalt im See sehr gering gewesen sein. Das erlaubt Rückschlüsse auf das einstige Klima. Zusammen mit Kollegen aus Deutschland und den USA hat Harald Böhnel insgesamt 14 Meter lange Bohrkerne aus mehr als 6000 Jahre alten Sedimenten untersucht. Diese stammen von einem Vulkansee namens Aljojuca nahe Cantona.
"Cantona war eine Stadt, die ihren Höhepunkt so ungefähr zwischen 500 und 900 nach Christus hatte."
Cantona war der Hauptverkehrsknoten zwischen dem Golf von Mexiko und Zentralmexiko. Da sich in der Nähe viele Vulkane befanden, gab es auch große Obsidian-Lagerstätten. Dieses vulkanische Gesteinsglas war ein wertvoller Rohstoff, aus dem Waffen und Messer hergestellt wurden. Durch die Beckenlage zwischen den Vulkanen gab es ausreichend Wasser, um Landwirtschaft zu betreiben. So konnte die Stadt ernährt werden, die auf ihrem Höhepunkt 90.000 Einwohner zählte. Jedoch kollabierte Cantona ab 900 nach Christus. Als Grund wurde eine Dürre vermutet. Einen Beweis für einen plötzlichen Klimawandel, vor allem Niederschlagsänderungen des Sommer-Monsuns, konnten die Wissenschaftler nun erstmals erbringen. Aber, die Dürre um 900 war nicht die erste."In Cantona ist es nun so, dass um 500 auch schon eine längerfristige Trockenperiode vorgelegen hat. Das heißt also, dass wir zwischen 500 und 900 keine guten klimatischen Bedingungen eigentlich hatten."
Dennoch konnte sich die Stadt trotz großer Trockenheit noch mehrere Jahrhunderte halten und sogar wachsen.
"Die Hypothese ist nun, dass es nicht nur notwendigerweise dazu führt, wenn das Klima schlechter wird, dass ein politisches System zusammenbrechen muss. Es kann auch sein, dass ein funktionierendes System durch äußere Einflüsse gestärkt wird, dass Leute dann von anderen Regionen migrieren in so ein System, weil das halt immer noch viel besser funktioniert als anderen Regionen und dann dieses System gestärkt wird."
Auch die Belastungen in der Stadt müssen enorm gewesen und ständig gestiegen sein, so Harald Böhnel. Schließlich wurde die Stadt doch aufgegeben.
" Aber dann um 900 war der ökologische Druck zu stark und wahrscheinlich war das System auch zu groß geworden, um solche äußeren Einflüsse noch abwehren zu können und ist dann kollabiert." | Von Michael Stang | Die Maya und die Inka stehen exemplarisch für den Aufstieg und Untergang indigener Gruppen. Einem internationalen Forscherteam ist es nun mithilfe geologischer Methoden in Mexiko gelungen, einen plötzlichen Klimawandel als Ursache für den Untergang der Stadt Cantona auszumachen. | "2015-04-30T16:35:00+02:00" | "2020-01-30T12:34:33.277000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/cantona-in-mexiko-klimawandel-loeschte-praekolumbianische-100.html | 961 |
Tsipras ist zuversichtlich | Griechenlands Regierungschef Tsipras und der Präsident des Europaparlaments, Schulz. (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
"Ich bin sehr optimistisch, dass wir unser Bestes versuchen, um eine gemeinsame und praktikable Lösung für unsere gemeinsame Zukunft finden, die für alle annehmbar ist", sagte Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras nach einem Treffen mit dem Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), in Brüssel. Ziel bei der Suche nach einer Lösung sei es, "den Rahmen zu korrigieren und nicht ihn zu zerschlagen".
Der Wille des griechischen Volkes, der bei den Wahlen Ende Januar zum Ausdruck gekommen sei, müsse respektiert werden, betonte Tsipras, der seitdem an der Spitze einer linksgeführten Regierung steht. Seine Regierung wolle "die Regeln der Europäischen Union respektieren". Zwar gebe es noch keinen Kompromiss, die Gespräche gingen aber "in die richtige Richtung".
EU-Ratspräsident Tusk dämpft Erwartungen
Schulz sprach von einem "sehr freundlichen und fruchtbaren Austausch der Positionen". Auch er zeigte sich "sehr optimistisch", dass ein Kompromiss gefunden werden könne. Allen Beteiligten stehe aber noch "eine schwierige Zeit" bevor. Tsipras suche aber "Zusammenarbeit", nicht "Abspaltung", sagte der Parlamentspräsident. Dies sei "der richtige Weg".
Tsipras befindet sich auf einer Tour durch europäische Hauptstädte, um für eine Erleichterung der Schuldenlast für Griechenland zu werben. Er traf in Brüssel erstmals auch mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk zusammen. Aus dem Umfeld von Juncker verlautete, die beiden Spitzenpolitiker hätten vereinbart, weitere Gespräche zu führen. Tusk dämpfte allerdings die Erwartungen an eine baldige Einigung mit Griechenland im Schuldenstreit. Er rechne mit schwierigen Gesprächen zwischen der neuen griechischen Regierung und den Finanzministern der Eurozone, teilte Tusk in einer Erklärung nach dem Treffen mit.
Griechenlands Ministerpräsident Tsipras und EU-Kommissionspräsident Juncker. (imago/Xinhua)
Griechenland besorgt sich frisches Geld
In Frankfurt am Main kam Finanzminister Yanis Varoufakis mit dem Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, zusammen. Im Anschluss äußerte sich Varoufakis zuversichtlich, dass die Beratungen mit den Partnern Athens rasch abgeschlossen werden könnten. Der griechische Ressortchef bezeichnete den Meinungsaustausch mit dem EZB-Chef als wertvoll.
Zum ersten Mal seit ihrem Amtsantritt hat sich die griechische Regierung kurzfristig frisches Geld am Kapitalmarkt besorgt. Allerdings stieß das bei den Anlegern auf die geringste Nachfrage seit Mitte 2006. Der Zinssatz für die Papiere mit einer Laufzeit von sechs Monaten betrug 2,75 Prozent und war damit höher als bei der Auktion im Januar mit noch 2,3 Prozent. Bei der Auktion von Geldmarktpapieren flossen knapp 813 Millionen Euro in die Staatskasse.
In der Diskussion um den Kurs der neuen griechischen Regierung hat sich der Europawissenschaftler Josef Janning für eine andere Zusammensetzung der Troika ausgesprochen. Dieses Zerrbild von seelenlosen Technokraten müsse korrigiert werden, sagte er im DLF. Zudem sollte das Gremium von demokratisch gewählten Abgeordneten begleitet werden. Dagegen betonte der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber ebenfalls im DLF, die Troika habe in anderen Krisenländern bereits erfolgreich gearbeitet.(pg/kis) | null | Bei seiner Europatour hat der griechische Ministerpräsident Tsipras in Brüssel mit EU-Kommissionspräsident Juncker und mit dem Präsidenten des Europaparlaments, Schulz, gesprochen. Danach zeigte sich Tsipras optimistisch, dass es eine Lösung der Schuldenprobleme seines Landes geben werde. | "2015-02-04T12:49:00+01:00" | "2020-01-30T12:20:14.535000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-tsipras-ist-zuversichtlich-100.html | 962 |
"Die Sonderstellung des muslimischen Glaubens beenden" | Blick über die Dächer: Im Vordergrund die Kölner Zentralmoschee mit ihren beiden Minaretten, im Hintergrund der Kölner Dom. (dpa / Henning Kaiser)
Der Münsteraner Politikwissenschaftler Ulrich Willems hat der Politik jüngst im Deutschlandfunk vorgeworfen, eine Reform der religionspolitischen Ordnung Deutschlands versäumt zu haben. Die seit den 40er Jahren bestehenden staatsrechtlichen Grundlagen räumten den Kirchen einen bevorzugten Status ein und benachteiligten dadurch Minderheiten wie Muslime oder Konfessionslose bzw. Atheisten. Die Politik habe somit zu den aktuellen Konflikten um Partizipation und Berücksichtigung dieser Minderheiten im Staat beigetragen. Willems verwies auf den Streit um Kopftuchverbote oder Kruzifix-Urteile und auf die Kritik des Humanistischen Verbands, wonach weiterhin bis zu zwei Drittel der wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Altenheime, Krankenhäuser von kirchlichen Trägern betrieben würden.
Zum Vorwurf, Muslime, würden permanent Forderungen stellen, sagte er: "Das Problem besteht darin, dass die Muslime – wenn wir über diese Gruppe vornehmlich reden – immer vehementer ihr Recht auf gleiche Religionsfreiheit fordern. Und dann entsteht der Eindruck, da wolle eine Gruppe jetzt Sonderrechte erlangen. Das ist der Diskussion nicht förderlich."
Der Deutschlandfunk hat bei den Fachpolitikern mehrerer Parteien nachgefragt, wie sie zu der Thematik stehen. Der frühere Verteidigungsminister und heutige religionspolitische Sprecher der Union, Franz Josef Jung, sieht keinerlei Veranlassung, bestehendes Recht zu reformieren. Jung, der auch Union-Fraktionsvize ist, wandte sich gegen Forderungen, der Staat solle für eine Gleichbehandlung religiöser Minderheiten seine rechtlichen Grundlagen ändern - also das sogenannte Religionsverfassungs- oder Staatskirchen-Recht. Dem Deutschlandfunk sagte der CDU-Politiker, vielmehr gelte es, insbesondere die muslimischen Gemeinden in das deutsche Religionsverfassungsrecht einzugliedern. Jung forderte "die Sonderstellung des muslimischen Glaubens zu beenden". Als Ausdruck ihrer Rechtstreue und dem Wunsch nach Unabhängigkeit in einem freiheitlichen und säkularen Staat sollten die muslimischen Verbände und Vereinigungen die Voraussetzungen zur Anerkennung als Körperschaften öffentlichen Rechts anstreben, führt er aus.
Franz Josef Jung spricht im März 2015 im Bundestag. (dpa / picture alliance / Lukas Schulze)
Beck nach Drogen-Affäre wieder inhaltlich präsent
Auch der nach seiner Drogen-Affäre wieder im Amt eingesetzte religionspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, sieht keinen Bedarf, die staatsrechtlichen Grundlagen für die Einbürgerung des Islams zu reformieren. "Unser Religionsverfassungsrecht ist nicht so unflexibel, wie viele meinen", sagte er dem Deutschlandfunk. "Was dort unter 'Kirche' verstanden wird, ist sehr vielgestaltig. Es ist nicht nur die 'Papst-Kirche' gemeint". Beck betonte mit Blick auf den Islam, islamische Religionsgemeinschaften hätten sehr wohl die Möglichkeit, sich zu organisieren und damit für den Staat als Kooperationspartner zu fungieren. Das zeige die Ahmadiyya Muslim Jamaat, die bereits den Köperschaftstatus bekommen habe.
Der Grünen-Politiker Volker Beck (picture-alliance / dpa / Revierfoto)
Der religionspolitischen Sprecherin der SPD, Kerstin Griese, zufolge stehen die Wege den anderen muslimischen Verbänden ebenso offen: "Ich halte es für ein Vorurteil, dass lediglich christliche Kirchen in der Lage sind, eine nachvollziehbare Organisationsstruktur mit festen Mitgliedschaften und einem Bekenntnis zur Verfassung zu leisten", betonte sie ebenfalls gegenüber dem DLF: "Dass der Islam eine Religion und keine Kirche ist, heißt nicht, dass er sich in Deutschland nicht auch nach unseren Regeln organisieren kann."
Kerstin Griese (dpa/Jonas Güttler)
Scharfe Kritik am Positionspapier der Grünen
Für die AfD scheint die Sache klar: "Der Islam ist an sich eine politische Ideologie, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist", sagte die stellvertretende Parteivorsitzende und Europaabgeordnete Beatrix von Storch vergangene Woche der "F.A.S.". Und ihr Chef Jörg Meuthen forderte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur ganz offen eine "Dominanz christlich geprägter Religion" in Deutschland ein.
Derweil scheint es bei den Grünen noch Diskussionsbedarf zu geben. Im vergangenen Monat sprach sich eine Kommission unter Leitung der Parteivorsitzenden Simone Peter für Änderungen am bestehenden Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften aus. Im Abschlussbericht der Kommission "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" wird verlangt, die zunehmende religiöse Pluralität in Deutschland müsse sich auch in den Rechten für die verschiedenen Gruppen niederschlagen. Überzeugend ist dieses Papier zumindest aus Sicht des Göttinger Staatskirchenrechtlers Hans Michael Heinig nicht. In der heutigen "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" kritisierte er das Positionspapier als enttäuschend. Es arbeite teilweise "mit diffuser Empörung statt differenzierter Analyse". Religionspolitisch propagierten die Grünen die Hegemonie einer relativistischen Leitkultur, statt die multireligiöse Gesellschaft ernst zu nehmen. | Von Thorsten Gerald Schneiders | Muss sich der Staat den Bürgern anpassen oder die Bürger dem Staat? Der Politologe Ulrich Willems sprach im DLF von schweren Versäumnissen der Religionspolitik. Nicht nur Muslime, auch Konfessionslose würden benachteiligt, weil Kirchen bevorzugt seien. Was sagt die Politik dazu? Für die AfD scheint die Sache klar. Aber auch in den etablierten Parteien ist man sich überraschend einig, wie der DLF auf Nachfrage erfuhr. | "2016-04-28T10:30:00+02:00" | "2020-01-29T18:26:32.256000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/verhaeltnis-von-staat-und-religion-die-sonderstellung-des-100.html | 963 |
Eingebrochener Kinoumsatz, stockende Novemberhilfen | Kino und Kultur leiden unter der Corona-Pandemie besonders (imago-images / Arnulf Hettrich )
Am 1. März 2021 beginnt die Berlinale, die coronabedingt nur als virtuelles Filmfestival stattfinden kann. Normalerweise sitzen Journalisten, Filmschaffende und Kinofans hier dicht an dicht. Aber was für die Berlinale gilt, ist seit Monaten auch bittere Realität für die Kinos: Die Filmsäle müssen geschlossen bleiben.
Berlinale 2021 - Endlich weg vom Februar Ein Treffen der internationalen Filmbranche ist wegen der Corona-Pandemie undenkbar. Die Berlinale 2021 wird aufgeteilt: Die Filmprofis treffen sich im März im Netz, das Publikum geht im Sommer hoffentlich ins Kino. Das kann auch eine Chance sein.
Weil das für viele Häuser existenzbedrohend ist, soll ein bundesweiter Aktionstag auf die Lage der Kinos und der Branche aufmerksam machen - unter dem Motto: "Kino leuchtet. Für dich." Christian Bräuer, Vorsitzender der AG Kino - Gilde deutscher Filmkunsttheater, betonte, die Kinobetreiber wären bereit für eine sichere Öffnung.
Umsätze sind eingebrochen
2020 haben die Kinos 69 Prozent weniger Einnahmen erzielt als im Jahr zuvor. Wirtschaftlich sei das katastropahl, so Bräuer, "und wenn man die ganzen Filmschaffenden dahinter sieht, die warten, dass ihre Filme auf die große Leinwand kommen, dann ist da natürlich auch unser Herz in Not."
Entwicklung des Kinoumsatzes in Deutschland 2002 bis 2020
Laut der Filmförderungsanstalt (FFA) wurden wegen der geschlossenen Kinos 2020 nur rund 318 Millionen Euro erwirtschaftet. (Statista)
Jeder einzelne Gutschein, den Kinofreunde in den vergangenen 12 Monaten gekauft hätten, habe geholfen, die Kinos seien dankbar für diese Unterstützung, das wirke "wie zinslose Darlehen". Vielfach seien die Novemberhilfen nämlich noch nicht bei den Betreibern angekommen.
Hygienekonzepte sind vorhanden
Sollten Öffnungen bald beschlossen werden, dann stünden die Kinos mit Hygienekonzepten bereit, versichtert Christian Bräuer. Die Aerosol-Belastung sei zudem mit Belüftungsanlagen in der Kinos sehr gering, das zeigten mittlerweile mehrere Studien. "Das ist eine wichtige Basis, dass man die Kinos, wie Museen auch, sehr schnell wieder öffnen kann, wenn es die Lage hergibt." Er wünsche sich eine Gesamtstrategie in der Pandemiebekämpfung, so Bräuer, "nicht nur Lockdown, sondern auch: Impfen, Schnelltests, Kontaktverfolgung und Hygienekonzepte zusammenbringen."
Wie können Öffnungen verantwortlich gelingen? Der Druck vor dem nächsten Bund-Länder-Treffen ist hoch, die Forderungen nach einem Plan für mögliche Corona-Lockerungen mehren sich. Das Robert Koch-Institut hat dazu einen Vier-Stufen-Plan entworfen. Die Bundesregierung will einen ähnlichen Entwurf vorstellen.
Zuhause klickt man schneller weg
Kino sei ein wichtiger Bestandteil der Kultur auch abseits des Mainstream, deswegen bedaure er auch, dass die Berlinale ab dem 1. März 2021 nur virtuell stattfinden könne. "Viele Filme, gerade die, die es bei Filmfestivals zu sehen gibt, die findet man gar nicht auf Plattformen. Oftmals landen die da überhaut nicht. Ich glaube, im Kino lässt man sich ganz anders ein." Zuhause auf der Couch würde man viel schneller wegklicken. "Im Kino hat man ein ganz wunderbares Erlebnis."
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) | Christian Bräuer im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | Einen Tag vor Beginn der Berlinale findet am 28. Februar ein bundesweiter Aktionstag zur Lage der Kinos in der Corona-Pandemie statt. Der Lockdown sei für die Kinos wirtschaftlich eine Katastrophe, sagte Christian Bräuer, Vorsitzender der AG Kino, im Dlf. Kinobetreiber seien für eine sichere Öffnung bereit. | "2021-02-28T17:30:00+01:00" | "2021-03-01T12:43:43.892000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/bundesweiter-aktionstag-kino-eingebrochener-kinoumsatz-100.html | 965 |
Zahlreiche Neonazis werden gesucht | Die Polizei an einem Wahlstand der NPD in Weimar/Thüringen 2013 (imago stock & people)
Die Zahl von 67 gesuchten Personen mit einem Bezug zum rechten Spektrum teilte das bayerische Innenministerium auf eine Anfrage der Grünen-Landtagsabgeordneten Katharina Schulze mit. Die Zahlen stammen von September 2015. Im Jahr zuvor waren demnach 53 Rechtsextreme gesucht worden.
Erinnerungen an den NSU
Bei einigen der Gesuchten sei zwar der Aufenthalt bekannt. Jedoch sei der Vollzug des Haftbefehls nicht möglich, etwa weil sie sich im Ausland befänden, teilte das Ministerium mit. Andere sind untergetaucht. Die Grünen-Abgeordnete Katharina Schulze sprach von einer "sicherheitspolitischen Bankrotterklärung" und einer "ernstzunehmenden Gefahr für Bayern". Einer der offenen Haftbefehle sei sogar wegen Mordes ausgestellt. Weitere Haftbefehle betrafen Körperverletzung und diverse Waffendelikte.
Schulze warnte, untergetauchte Neonazis führten ein Halbweltdasein. Eine ähnliche Konstellation habe letztlich zur Gründung des terroristischen "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) geführt, dem eine Mordserie mit zehn getöteten Menschen sowie mehrere Sprengstoffanschläge zugeschrieben werden. "Der Ermittlungs- und Fahndungsdruck auf die rechte Szene muss endlich massiv erhöht werden. Rechtsterroristische Netzwerke oder einen Neonazi-Untergrund darf es in Bayern nicht geben", sagte Schulze.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte im BR, dass er das Thema sehr ernst nehme. Er habe die Polizei bereits vor zwei Jahren beauftragt, konsequent vorzugehen. Norbert Reisinger, bayerischer Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, sagte ebenfalls im BR, dass die Behörden mehr Personal bräuchten, um den Fahndungsdruck zu erhöhen. Neonazis verfügen über gut organisierte Netzwerke, um Untergetauchte in der Illegalität zu unterstützen, so Reisinger. Der NSU sei ein Beispiel dafür.
Bundesweit werden 372 Neonazis gesucht
Aus dem gesamten Bundesgebiet wurden laut einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linken im Januar 372 Neonazis gesucht. "Über ein Drittel der mit Haftbefehl gesuchten Neonazis entzieht sich schon länger als ein Jahr der Festnahme", erklärte die Linken-Innenexpertin Ulla Jelpke damals. "126 von 372 gesuchten Neonazis werden schon seit dem Jahr 2014 oder länger gesucht. Das bedeutet, dass es 34 Prozent der Rechtsextremisten dauerhaft gelingt, sich der Festnahme zu entziehen."
Nach 70 Neonazis werde bereits seit über zwei Jahren erfolglos gefahndet. Die Zahlen lassen nach Ansicht Jelpkes "nicht erkennen, dass die Sicherheitsbehörden das Problem mit der notwendigen Entschlossenheit angehen".
(nch/fwa) | null | Zahlreiche Neonazis in Deutschland werden per Haftbefehl gesucht, können aber nicht festgenommen werden. Alleine aus Bayern sind 67 gesuchte Rechtsextreme untergetaucht, zu Beginn des Jahres belief sich die Zahl bundesweit auf 372. In Bayern ist einer der Haftbefehle sogar wegen Mordes ausgestellt. | "2016-03-11T14:14:00+01:00" | "2020-01-29T18:18:14.415000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-zahlreiche-neonazis-werden-gesucht-100.html | 966 |
"Die Atomenergie war eigentlich nie richtig weg" | In Deutschland ist der Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022 beschlossen. (dpa / Sebastian Gollnow)
In Deutschland regt sich Widerstand gegen das Ende der Kernenergie. Zwar ist der Atomausstieg seit zehn Jahren beschlossene Sache und wird bereits umgesetzt. Doch die Befürworter des Atomstroms argumentieren mit dem Klimawandel an ihrer Seite. Und auch der neue US-Präsident Joe Biden setzt im Kampf gegen den Klimawandel auf Atomkraft. Eine neue Generation von Mini-Kraftwerken soll mobil und vor allem sicher sein.
Tatsächlich glauben Experten, dass Reaktortechnik einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten kann. Und auch in den Niederlanden zieht man den Neubau von mehreren Kernkraftwerken in Betracht, um die Klimaziele des Landes zu erreichen. Dafür sei Atomkraft praktisch unverzichtbar, heißt es.
Der Soziologe Sighard Neckel (© Sebastian Engels Fotografie)
Probleme der Gegenwart werden in die Zukunft geschoben
"Die Atomenergie war eigentlich nie richtig weg", sagte Sighard Neckel im Deutschlandfunk. In Frankreich und selbst in Japan habe die Atomenergie auch nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 weiter eine große Rolle gespielt. Der Soziologe meint, dass ein Erreichen der globalen Klimaziele ohne Atomkraft sehr schwierig werde, da man nur noch wenig C02 und wenig Treibhausgase in die Luft ablassen dürfe. "Das ist jetzt der Hintergrund dafür, dass die Atomenergie sich auf einmal wieder so stark ins Spiel gebracht hat, als eine C02-freie Form der Energieerzeugung", so der Gesellschaftsanalytiker.
Neckel kritisierte aber, dass man mit einer Reaktivierung der Atomenergie, die Probleme der Gegenwart, die man momentan nicht lösen könne, nur in die Zukunft verschiebe. "Die Frage des Atommülls ist ungeklärt. Selbst in den USA gibt es keine Aussicht, ein Endlager zu haben". Man versuche mit alten Technologien, die Klimakrise zu lösen, was widersinnig sei.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Sighard Neckel im Gespräch mit Anja Reinhardt | Das Ende der Atomkraft war eigentlich besiegelt. Doch es regt sich Widerstand. Nur mit Atomkraft könne man die Klimaziele erreichen, sagen Befürworter. Doch mit der Atomenergie verschiebe man die Probleme der Gegenwart nur in die Zukunft, sagt der Soziologe Sighard Neckel im Dlf. | "2020-11-29T08:10:00+01:00" | "2020-11-30T11:39:45.573000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/comeback-der-atomkraft-die-atomenergie-war-eigentlich-nie-100.html | 967 |
Weißbuch enthüllt kaum Neues | Der britische Brexit-Minister David Davis (imago / Zuma Press)
Der allgemeine Tenor in Großbritannien lautet: das Weißbuch enthüllt in Sachen Brexit kaum Neues. Es umfasst 76 Seiten und wiederholt die zwölf Leitforderungen, die die Premierministerin vor Wochen schon vorstellt hatte. Großbritannien will den EU-Binnenmarkt und auch die Zollunion verlassen, strebt aber einen Zollvertrag mit der EU an.
"Wir wollen eine neue Zollvereinbarung erreichen", erklärte Brexit-Minister David Davis. "Das soll ein direktes Ergebnis unseres Freihandelsvertrages mit der EU sein. Wenn wir dort keine oder nur niedrige Zölle erreichen, dann wird das zu einem raschen Zollabkommen führen und wir können weiter mit der EU Handel treiben."
Das Weißbuch macht keine speziellen Angaben zum angeblichen Plan der britischen Regierung, für einzelne Sektoren, wie Autoindustrie oder Finanzmärkte, gesonderte Lösungen im Zollvertrag zu finden. Die EU will keine Rosinenpickerei, so die Formel, der Plan gilt daher als schwer umzusetzen.
Keine Angaben zur Einwanderung
Davis glaubt aber, die EU sei es, die ein großes Interesse an Zollfreiheit haben müsste. Denn ihre Mitgliedsstaaten exportierten deutlich mehr nach Großbritannien als umgekehrt. Die Differenz beträgt 60 Milliarden Pfund, also über 70 Milliarden Euro.
Keine Details enthüllt das Weißbuch auch über die Art und Weise, wie Großbritannien seine Einwanderung kontrollieren will. Durch Erteilung spezieller Visa, mit Kontingenten? Nur allgemeine Aussagen dazu.
"Wir planen nicht, dass die britische Wirtschaft darunter leidet, dass nicht genügend Arbeitskräfte oder Talente vorhanden sind. Wir wollen unsere Einwanderung kontrollieren und das nicht unbestimmt lassen."
80 Prozent der Abgeordneten im Unterhaus haben gestern Abend in einem ersten Votum dafür gestimmt, dass die Regierung den Antrag auf Austritt aus der EU beantragen darf. Und noch ein Erfolg für die Regierung: Die Bank von England erwartet für das laufende Jahr ein Wachstum des BIP von zwei Prozent. Das ist ein Prozent mehr, als die Notenbank nach dem Referendum erwartet hatte.
Schwaches Pfund durch Brexit
"Das heißt aber nicht, dass das Referendum keine Konsequenzen hat", schränkte Gouverneur Mark Carney heute ein. "Investitionen werden wegen der Unsicherheit weiter zurückgehalten. Sie werden um ein Viertel bis 2018 niedriger ausfallen, was Folgen für Produktivität und Löhne haben wird."
Bis 2019 werde das Inlandsprodukt um 1,5 Prozent niedriger liegen, als es das ohne das Referendum der Fall gewesen wäre. "Die Inflation steigt Anfang nächsten Jahres weiter an auf 2,8 Prozent. Das hat ausschließlich mit dem schwachen Pfundkurs zu tun, und der entspricht dem, was die Märkte vom Brexit erwarten."
Damit macht sich Mark Carney bei den Brexit-Befürwortern weiterhin unbeliebt. Bis Mitte 2019 müssen sie aber noch mit dem Kanadier leben, der also noch bis zum Ablauf der zwei Jahre dauernden Brexit-Verhandlungen mit der EU Chef der Bank von England sein wird. | Von Friedbert Meurer | Die britische Regierung hat ihren Plan für den Austritt aus der Europäischen Union vorgelegt. Das sogenannte Weißbuch für den Brexit wurde nun von dem zuständigen Minister David Davis präsentiert. Das Dokument bestätigt im Wesentlichen, was Premierministerin May bereits angekündigt hatte. | "2017-02-02T17:05:00+01:00" | "2020-01-28T09:34:03.552000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/brexit-weissbuch-enthuellt-kaum-neues-100.html | 968 |
Warum Deutschland bei der Geldwäsche-Bekämpfung hinterherhinkt | Vor allem der Immobiliensektor in Deutschland weist ein hohes Geldwäscherisiko auf (IMAGO / STPP)
Im Süden von Berlin-Neukölln steht ein herrschaftliches Haus an einer viel befahrenen Straße. Durch die Hecke kann man in den Garten blicken, die Einfahrt säumen Statuen aus Stein, das Tor steht offen. Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen, um über Geldwäsche zu sprechen:
"Wir sind jetzt hier ungefähr dreißig Minuten entfernt vom Zentrum von Berlin, stehen hier vor einem Haus, das symbolisch steht für einen Neuaufbruch in der Polizeiarbeit, im Fokus bei Polizeiarbeit und bei der Geldwäschebekämpfung, das da oft als Symbol auch herhalten muss für die neuen Bemühungen, schmutziges Geld in Berlin und Deutschland generell stärker zu verfolgen."
Gerhard Schick über Schwarzgeld - „Deutschland hat das Thema Geldwäsche viele Jahre ignoriert“Geldwäsche galt lange als Kavaliersdelikt, kritisierte Gerhard Schick von der Organisation "Finanzwende" im Dlf. Dabei werde dadurch überhaupt erst sichergestellt, dass sich kriminelle Aktivitäten lohnen.
Dieses Haus wurde 2018 von der Berliner Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, zusammen mit mehr als 70 anderen Immobilien. Das Geld, mit dem diese Immobilie bezahlt wurde, etwa 225.000 Euro, soll aus kriminellen Geschäften stammen. Der 19-jährige Käufer, der kein nennenswertes Einkommen hatte, aber auf dessen Konto der Kaufpreis in mehreren Tranchen einging, habe das Haus lediglich als Strohmann erworben. So sollte laut Behörden schmutziges Geld unbemerkt in den legalen Finanzkreislauf fließen. Auf die Geldwäsche stießen die Ermittler eher zufällig:
"Es ging ja anscheinend auch tatsächlich um einen Mord und im Rahmen dieser Ermittlungen wurden Telefone abgehört, wurden Durchsuchungen durchgeführt. Und bei einem dieser Telefonate ging es eben auch um diese Immobilie und um eine Diskussion, dass der Sohn diese Immobilie als Strohmann für den Vater, der im Fokus der Ermittlungen stand, hier kaufen soll."
Hohes Geldwäscherisiko im Immobiliensektor
Die Nationale Risikoanalyse des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahr 2019 kommt zu dem Ergebnis, dass der Immobiliensektor in Deutschland neben anderen Bereichen ein hohes Geldwäscherisiko aufweist. Bei dem Haus in Süd-Neukölln handele es sich lediglich um die Spitze des Eisbergs, sagt Trautvetter:
"Wir reden hier über quasi den lokalen Mittelstand der Geldwäsche und der Kriminalität und noch nicht über die multinationalen Unternehmen, die es genauso gibt, die aber dann eben den Finanzmarkt für ihre Geldwäsche vor allen Dingen verwenden über Rechnungen, Scheinrechnungen, über Kontentransfers, über anonyme Konten in der Karibik oder in Liechtenstein."
Geldwäsche - Wie aus schmutzigem Geld sauberes wird50 bis 100 Milliarden Euro: So viel wird allein in Deutschland pro Jahr an Geld gewaschen. Das meiste davon nicht durch organisierte Kriminalität, sondern durch Steuerhinterziehung. Und auch ganz normale Bürger sind beteiligt - ohne es zu merken.
Deutschland gilt als Geldwäscheparadies. Laut einer Schätzung der Universität Utrecht aus dem Jahr 2013 geht es um jährlich 100 Milliarden Euro: Das sind zum Beispiel Profite aus dem internationalen Menschen- und Drogenhandel, aber auch aus der Hinterziehung von Steuern.
"Mächtige Player der organisierten Kriminalität"
Zum Paradies machen Deutschland gleich mehrere Faktoren. Deutschland gilt aufgrund der herrschenden Rechtssicherheit als attraktiver Investitionsstandort. Im Fall des Immobilienmarktes kommt das Versprechen auf Wertsteigerungen hinzu. Zugleich aber gilt der Finanzsektor als intransparent und biete zu viele Möglichkeiten, illegales Geld zu verschieben. Im Schattenfinanzindex des Tax Justice Networks aus dem Jahr 2020 liegt Deutschland auf Platz 14, noch vor Panama. Geldwäsche leiste der organisierten Kriminalität in Deutschland Vorschub, sagt Benjamin Vogel. Er leitet am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht eine Forschungsgruppe zu illegalen Finanzflüssen:
"Wenn man davon ausgeht, und die Erkenntnis liegt zweifelsfrei vor, dass wir sehr, sehr mächtige Player der organisierten Kriminalität in Deutschland haben aus dem Ausland, die hier tätig sind, dann muss man schlicht und einfach sagen: Ja, also erst einmal diese Akteure sind hier, und sie haben immer, immer in den Ländern, in denen sie aktiv waren, die Strategie gefahren es nicht nur bei Investitionen zu belassen, sondern durchaus dann zwangsläufig früher oder später ihre gesellschaftliche Macht aufzubauen."
Mafia-Prozess in Kalabrien - "Ein starkes Signal"In Italien beginnt einer der größten Mafia-Prozesse in der Geschichte des Landes. Mehrere hundert mutmaßliche ´Ndrangheta-Mitglieder sind angeklagt. Mit dieser Dimension setze der italienische Staat auf Strahlkraft, sagte der Mafia-Experte Sandro Mattioli im Dlf – diese Symbolkraft sei unabdingbar.
Türsteher-Funktion der Privatwirtschaft
Um Geldwäsche zu verhindern, sollen in Deutschland im Verdachtsfall verschiedene staatliche und private Akteure zusammenarbeiten. An vorderster Front stehen Banken, Immobilienmaklerinnen und Notare, erklärt Christoph Trautvetter:
"Also Privatisierung heißt ja, dass wir der Privatwirtschaft eine Türsteher-Funktion zuweisen. Ja, wir sagen, Notare, Banken, Anwälte, die sorgen dafür, dass dieses schmutzige Geld nicht in den legalen Wirtschaftskreislauf reinkommt, weil sie ihre Kunden kennen und bei ihren Kunden genau nachfragen, wer das ist und eben da dafür sorgen, dass das schmutzige Geld gar nicht erst durch die Tür reinkommt."
Haben diese Türsteher einen Verdacht auf Geldwäsche, müssen sie eine so genannte Verdachtsmeldung erstellen und an die Financial Intelligence Unit beim Zoll, kurz FIU, schicken. Sie soll diese Meldungen auswerten und gegebenenfalls an die Strafverfolgungsbehörden weiterleiten. Um sicherzugehen, dass Banken, Anwältinnen und Notare verdächtige Zahlungen melden, werden sie von staatlichen Stellen beaufsichtigt. Im Nicht-Finanzsektor, zum Beispiel bei Immobilienkäufen, sind dafür mehr als 300 Behörden auf Bezirks- und Landesebene zuständig. Bei Kreditinstituten ist die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen zuständig.
Anzahl der Verdachtsmeldungen nach dem Geldwäschegesetz in Deutschland (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Aufsicht über Immobilienmakler und Notare nicht ausreichend
Wie effektiv dieses System in Deutschland funktioniert, das prüft aktuell die Financial Action Task Force, eine internationale Organisation, die die Einhaltung von Standards beim Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung überprüft. Bei der letzten Prüfung im Jahr 2010 war Deutschland durchgefallen. Die Prüferinnen und Prüfer kritisierten damals unter anderem, dass die Aufsicht über Immobilienmakler und Notarinnen nicht ausreiche und dass Polizei und Staatsanwaltschaft Geldwäsche nur im Zusammenhang mit bestimmten kriminellen Vortaten verfolgen könnten. Von 49 Kriterien erfüllte Deutschland gerade einmal 29. Seitdem betont das Bundesfinanzministerium, dass die Prävention von Geldwäsche größte Bedeutung habe, wie zuletzt Bundesfinanzminister Olaf Scholz auf der Ministeriums-Website:
"Deshalb haben wir zum Beispiel die Geldwäscherichtlinie, die überall in Europa gilt, in Deutschland besonders strikt umgesetzt. Es gibt jetzt sehr scharfe Meldevorschriften. Und selbstverständlich haben wir dafür gesorgt, dass die zuständigen Behörden mit mehr Personal und Befugnissen ausgestattet werden, insbesondere die Financial Intelligence Unit, eine Einheit beim Zoll, die sich mit der Bekämpfung von Geldwäsche zum Beispiel beschäftigt."
Geldwäsche im Immobiliensektor - Reingewaschenes HäuschenMit Immobilien lässt sich viel Geld verdienen. Experten gehen davon aus, dass pro Jahr mehrere Milliarden Euro aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität in den deutschen Immobilienmarkt fließen. Die Grünen fordern deswegen strengere Regeln für den Immobilienkauf.
Gesetzesänderungen auf verschiedenen Ebenen
Seit der letzten Überprüfung durch die FATF, der Financial Action Task Force, die die internationalen Standards bei der Geldwäschebekämpfung setzt, gab es eine Reihe von Gesetzesänderungen, und zwar auf verschiedenen Ebenen. So wurde 2017 ein Transparenzregister eingeführt, dass es den Meldepflichtigen aus der Privatwirtschaft und den Strafverfolgungsbehörden erleichtern soll, die so genannten wirtschaftlich Berechtigten zu identifizieren, also diejenigen, die von einer Investition profitieren. Im gleichen Jahr wurde beim Zoll die Anti-Geldwäsche-Einheit FIU gegründet. Bis 2024 soll sie auf 719 statt der aktuell 475 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwachsen. Und seit Ende 2020 setzt die FIU auch Künstliche Intelligenz ein, um Geldwäscherisiken zu analysieren, wie die Behörde mitteilt.
Dazu wurde der Strafrechtsrahmen erweitert. Als Vortat für Geldwäsche gelten mittlerweile alle Straftaten und nicht mehr nur solche, die der organisierten Kriminalität zugerechnet werden. Und seit Oktober 2020 müssen Notarinnen und Notare zum Beispiel jedes Mal eine Verdachtsmeldung erstellen, wenn jemand eine Immobilie in bar bezahlt. Um zu überprüfen, ob diese Verdachtsmeldungen auch wirklich erstellt werden, hat der Berliner Justizsenat eine Taskforce Geldwäsche gegründet. Sabine Bünning ist Richterin am Berliner Landgericht und leitet die Taskforce. 72 Prüfungen haben sie und ihre zwei Kolleg*innen bislang durchgeführt:
"Es werden dann Urkunden und Akten gezogen, und es werden ungefähr zehn bis 20 Vorgänge durchgeprüft, und bei diesen Vorgängen sind Sachverhalte festgestellt worden, die zu 46 Meldungen geführt haben. Das heißt, es gab Fälle, wo Urkundsbeteiligte möglicherweise Geldwäsche betrieben haben oder betreiben könnten."
"Es tut sich viel"
Im Jahr zuvor hatten Notarinnen und Notare in ganz Deutschland trotz des hohen Geldwäscherisikos auf dem Immobilienmarkt lediglich acht Verdachtsmeldungen an die FIU abgegeben. Den sprunghaften Anstieg der Zahlen allein in Berlin erklärt sich Bünning durch die neuen gesetzlichen Vorschriften:
"Da sind die Notare schon gehalten, bis in die Tiefe zu gehen. Der wirtschaftlich Berechtigte muss festgestellt werden. Es gibt inzwischen auch ein Beurkundungsverbot, wenn ich das nicht kann. Wenn mir da also nicht die Eigentums- und Kontrollstruktur vorgelegt wird und ich die nicht nachvollziehen kann, dann darf ich im Immobilienbereich nicht mehr beurkunden, auch das sieht seit Anfang letzten Jahres das Geldwäschegesetz vor. Also wir sind durchaus weiter. Die Entwicklung im Geldwäschebereich, in der Gesetzgebung, das merkt man auch, die hat viel an Dynamik. 2017 ganz umfangreiche Änderungen, Anfang 2020 wieder, dann die Geldwäsche Meldeverordnung im Herbst letzten Jahres. Also da tut sich viel."
EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland
Doch diese Verbesserungen gehen vielen nicht weit genug. Die EU-Kommission hat im Februar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil die vierte Geldwäsche-Richtlinie aus dem Jahr 2017 nicht umgesetzt wurde. Die Kritik richtet sich insbesondere gegen die FIU, die Einheit beim Zoll, weil diese sich nicht ausreichend mit anderen Anti-Geldwäsche-Einheiten in Europa austausche. Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit erkennt Deutschlands Bemühungen im Kampf gegen die Geldwäsche durchaus an. Er macht sich jedoch keine Hoffnungen auf ein besseres Zeugnis, bei der nächsten anstehenden Überprüfung der Financial Action Task Force, FATF:
"Rein theoretisch müsste Deutschland bei der anstehenden Prüfung durchfallen. Alles das, was die FATF 2010 kritisiert hat, hat Deutschland eins zu eins in Gesetze umgesetzt. Also alles, was im rechtlichen Rahmen beanstandet wurde, ist mittlerweile geändert. Und Deutschland wird also die rechtlichen Ansprüche ohne Weiteres erfüllen. Aber die FATF hat in den letzten Jahren auch angefangen, sich die Effektivität sehr viel genauer anzugucken. Und da steht Deutschland da, wo sie mit den Gesetzen teilweise 2010 standen, nämlich ganz am Anfang."
Mehr als 30 Banken in Intensivbetreuung
Lisa Paus, Grünen-Politikerin im Bundestag, kritisiert, dass die Aufsicht über die Banken nicht streng genug sei. Dafür ist die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, kurz Bafin, zuständig.
"Also bisher ist es so, dass die BaFin eigentlich nur mit einer Checkliste in die Banken und Finanzinstitute reingeht und abhakt: Habt ihr einen Geldwäschebeauftragten? Habt ihr eine entsprechende Software, die funktioniert auch in der Korrespondenz mit der FIU, damit so der Standard erfüllt ist? Sie gucken sich nicht Einzelfälle an. Sie machen keine Stichproben oder anderes, um tatsächlich zu überprüfen, inwieweit diese formalen Geldwäschepräventions-Mechanismen auch greifen in der Praxis."
Mehr Biss für die BaFin - Wie Fälle wie Wirecard künftig verhindert werden sollenDie Bilanzfälschungen von Wirecard sind einer der größten Finanzskandale Deutschlands. In der Kritik stehen auch die Finanzaufsichtsbehörde BaFin und die Wirtschaftsprüfer. Mit einem neuen Gesetz will die Bundesregierung für mehr Kontrolle und Regulierung sorgen.
Mehr als 30 Banken, die ein erhöhtes Geldwäscherisiko aufweisen oder signifikante Defizite im Bereich der Geldwäscheprävention zeigten, seien aktuell in so genannter Intensivbetreuung, teilt die Bafin mit. Dazu gehörten unter anderem Vor-Ort-Prüfungen. Die Behörde spricht von einem "Erfolgsmodell".
Der Fall Wirecard
Im Fall Wirecard habe das System der Verdachtsmeldungen und der Aufsicht darüber zuletzt vollständig versagt, sagt Paus, die Mitglied im Wirecard-Untersuchungsausschusses des Bundestags ist. Seit rund zehn Jahren habe es Hinweise darauf gegeben, dass die konzerneigene Wirecard Bank für Geldwäsche genutzt werde. Letztlich sei nicht einmal klar gewesen, wer überhaupt für die Aufsicht zuständig war:
"Der Fall Wirecard zeigt das noch einmal sehr exemplarisch. Wenn damals die Anwälte von Wirecard sich nicht an die niederbayerische Behörde gewandt hätten, die für Geldwäsche zuständig ist, dann wäre die niederbayerische Behörde niemals auf die Idee gekommen, sich an Wirecard zu wenden und sie zu beaufsichtigen."
Stattdessen hätten sich die Bezirksregierung und die Bafin die Verantwortung hin und her geschoben, erklärt Matthias Hauer. Er ist CDU-Bundestagsabgeordneter und ebenfalls Mitglied des Untersuchungsausschusses:
"Sowohl die Bezirksregierung Niederbayern als auch die BaFin haben dazu ihre eigene Unzuständigkeit festgestellt. Der Gesamtkonzern Wirecard unterlag damit überhaupt keiner Geldwäscheaufsicht. Und natürlich gehört eine Geldwäscheaufsicht über einen Dax-Konzern mit 58 Tochtergesellschaften mit Auslandsbezug nicht in die Zuständigkeit einer Bezirksregierung, sondern auf Bundesebene."
Bundesfinanzminister zum Wirecard-Skandal - Scholz (SPD) will BaFin mehr Kontrolle gebenDas Bundeskabinett will nach dem Wirecard-Skandal schärfere Gesetze auf den Weg bringen. So soll die BaFin unangekündigt und unabhängiger prüfen, sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) im Dlf.
Ermittlern sind häufig die Hände gebunden
Tatsächlich lagen der Financial Intelligence Unit des deutschen Zolls schon vor Bekanntwerden des Wirecard-Skandals im Juni 2020 bereits 31 Verdachtsmeldungen wegen Geldwäsche im Zusammenhang mit Wirecard vor. Danach stieg die Zahl auf 143. Insgesamt 132 dieser Meldungen hat die Einheit mittlerweile an das bayerische LKA weitergeleitet. Doch den Ermittlerinnen und Ermittlern sind bei der Bekämpfung der Geldwäsche häufig die Hände gebunden, weil sie nachweisen müssen, dass das Geld aus kriminellen Quellen stammt.
Internationale Finanztransaktionen zwischen Firmengeflechten mit Sitz in Steueroasen sind für deutsche Ermittler und Ermittlerinnen sehr schwer aufzudecken. Internationale Kooperationen zwischen den Strafverfolgungsbehörden dauern oft zu lange, um dem kriminellen Geld hinterher zu kommen. In manchen Gebieten kooperieren die Behörden gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Häufig fehlten den Ermittelnden grundlegende Informationen, zum Beispiel, wem eine Immobilie gehört, sagt Christoph Trautvetter:
"Wir haben das für Berlin einmal ganz grob geschätzt, eine nicht ganz zufällige Stichprobe genommen. Wir haben uns 400 Unternehmen angeguckt, die hier in Berlin Immobilien besitzen, und die über mehrere Monate lang in allen verfügbaren Datenbanken recherchiert, also das, was auch die Polizei zur Verfügung hat im Prinzip, und haben gesehen, dass ein Viertel dieser Unternehmen am Ende anonym bleibt und nicht nachvollzogen werden kann, und dass also ungefähr jedes zehnte Haus in Berlin, jede zehnte Wohnung einem anonymen Eigentümer gehört, bei dem die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland im Prinzip keine Möglichkeit haben, überhaupt nachzufragen, nachzugucken, zu kontrollieren, wo das Geld herkommt."
"Transparenzregister ist nichts anderes als eine Datenmüllhalde"
Abhilfe schaffen sollte das so genannte Transparenzregister. Es wurde 2017 eingeführt, doch die Informationen darin waren nicht ansatzweise ausreichend, sagt Lisa Paus von den Grünen:
"Derzeit ist das Transparenzregister nichts anderes als eine Datenmüllhalde. Keiner kann es vernünftig benutzen. Die Angaben sind falsch, es wird nicht vernünftig kontrolliert. Es erfüllt seinen Zweck überhaupt nicht. So, jetzt gibt es eine Gesetzesänderung. Das ist auch erst einmal gut. Dieses Transparenzregister soll jetzt ein Vollregister werden. Und es gibt auch höhere Anforderungen, aber vollständig wird es erst sein im Jahr 2023."
Kriminelle Finanztransaktionen - Deutschlands Kampf gegen internationale GeldwäscheDeutsche Strafverfolger sind bei kriminellen Finanztransaktionen bisher weitestgehend machtlos. Das neue Geldwäschegesetz soll Aufsichtsbehörden stärken.
Wie der Jurist Vogel fordert auch Finanzexperte Trautvetter, dass die Geldwäschebekämpfung am anderen Ende der Kette ansetzen müsste:
"Wir fangen nicht bei dem Straßenhändler an und schaffen es nie, uns bis nach oben zu arbeiten – so wie das ja bei der Polizei leider immer der Fall ist oder sehr häufig der Fall ist –, sondern wir versuchen es andersrum und fangen beim Ergebnis der Straftat bei den großen Geldsummen, Geldströmen an und gucken von da und kommen vielleicht von da auf Hintermänner, auf Strukturen, die wir sonst nie entdeckt hätten."
"Geldesel"
Denn was den Ermittler*innen tatsächlich häufig ins Netz geht, sind die kleinen Fische. In der Sprache der Geldwäsche heißen sie Finanzagenten oder "Geldesel". Dabei stellen Menschen ihre Konten für große Transaktionen zur Verfügung und bekommen dafür eine Provision. Dass sie dabei die Spur kriminellen Geldes verschleiern, wissen sie häufig nicht einmal. Shana Krishnan, die Deutschland im Auftrag der FATF prüft, weist in einer Online-Diskussion darauf hin, dass die Corona-Pandemie die Gefahr für diese Form von Geldwäsche vergrößert habe:
"Es besteht auch das Risiko, dass Kriminelle Bankkonten von Individuen oder Firmen nutzen, weil gerade viele Menschen ihr Einkommen verloren haben und sie so anfälliger dafür sind, als Geldesel für kriminelle Organisationen angeworben zu werden. Für einen Teil des Profits schleusen sie dann ihr Geld durch diese Konten. Darauf haben wir zuletzt versucht aufmerksam zu machen."
Bargeldobergrenze von 10.000 Euro
Dass Deutschland nicht nachlässt im Kampf gegen Geldwäsche, dafür dürfte die EU-Kommission sorgen. Finanzmarktkommissarin Mairead McGuinnes hat angekündigt, im Juli eine Gesetzesinitiative vorzulegen. Unter anderem soll eine europäische Geldwäschebehörde gegründet werden, die die Aufsicht über bestimmte Banken übernehmen könnte. Das Bundesfinanzministerium unterstützt diesen Vorschlag.
Bargeld, Karte oder App - Langsamer Abschied von Scheinen und Münzen?Deutschland ist traditionell ein Bargeld-Land. Doch in der Pandemie haben alternative Bezahlmethoden zugenommen. Das Verhältnis der Deutschen zu bargeldlosem Zahlen bleibt dennoch ambivalent.
Wesentlich zurückhaltender sind Regierung und Opposition in Deutschland bei dem Vorschlag der Kommissarin, eine strikte Bargeldobergrenze bei 10.000 Euro einzuführen. Bis zur Umsetzung der nächsten Richtlinie aus Brüssel dürfte Deutschland auch ein Zeugnis von der Financial Action Task Force erhalten haben. Das Finanzministerium rechnet damit zwischen 2023 und 2025. | Von Timo Stukenberg | Intransparenz, mangelnde Aufsicht und ineffektive Strafverfolgung - Deutschland gilt als Geldwäscheparadies. Trotz einiger Gesetzesänderungen werde es der Organisierten Kriminalität noch immer zu leicht gemacht, kritisieren Experten. Jetzt kommt die Geldwäschebekämpfung erneut auf den Prüfstand. | "2021-05-17T17:06:00+02:00" | "2021-05-18T16:13:22.877000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/organisierte-kriminalitaet-warum-deutschland-bei-der-100.html | 969 |
Jede vierte Warnmeldung mangelhaft | Vom Unwetter in Rheinland-Pfalz getroffen wurden auch diese Feuerwehrfahrzeuge in Altenahr (picture alliance/Thomas Frey/dpa)
Seit bei der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mehr als 180 Menschen starben, stehen sowohl die offiziellen Warnsysteme als auch die Medienberichte vor und während des Hochwassers in der Kritik. Eine Auswertung der verschickten Warnmeldungen zeigt: Behörden und Institutionen haben zwar Warnungen an Medien weitergeleitet, aber jede vierte war fehlerhaft oder missverständlich.
Welche Warnmeldungen wurden ausgewertet?
Inwiefern waren die Meldungen mangelhaft?
Welche Warnmeldungen kamen nicht bei den Medien an?
Welche Warnmeldungen wurden gar nicht erst verschickt?
Warum waren einige Handlungsanweisungen für Medien mangelhaft?
Wie konnte es zu den mangelhaften Meldungen kommen?
Welche Warnmeldungen wurden ausgewertet?
Die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands begann mit Starkregen am Mittwoch, 14. Juli. Von Mittwoch bis Freitag wurden in NRW und Rheinland-Pfalz 160 Warnmeldungen verschickt, die das zuständige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) inzwischen online zugänglich gemacht hat. Von diesen Warnmeldungen kam die überwiegende Mehrheit aus NRW, dort wurden 144 Warnungen verschickt. In Rheinland-Pfalz waren es 16. Darin enthalten sind auch Meldungen, die Aktualisierungen oder Entwarnungen beinhalteten.
Deutschlandweit wird für Warnungen das sogenannte Modulare Warnsystem (MoWas) verwendet. Ob drohendes Unwetter, Chemieunfall oder Bombenfund: Wenn eine gefährliche Situation festgestellt wird, sollen Behörden und Institutionen ihre Informationen in das System einspeisen. Sie melden, wovor gewarnt wird, wie dringlich die Warnung ist (hoch, mittel oder niedrig) und in welchem Bereich sie gilt (lokal, regional, landes- oder bundesweit).
Wie die Menschen bei einer Katastrophe gewarnt werdenNach der Unwetterkatastrophe in Deutschland kommt Kritik auf, dass die Bevölkerung nicht ausreichend gewarnt worden wäre. Wie laufen solche Warnungen ab und was braucht es in Zukunft, damit Warnungen rechtzeitig alle Menschen erreichen?
Außerdem enthält die Warnung konkrete Handlungsanweisungen, sodass Bürgerinnen und Bürger, die die Meldung lesen, wissen, wie sie sich verhalten sollten. Es gibt aber auch Anweisungen für Medien, die so erfahren, ob sie eine Meldung sofort im Wortlaut veröffentlichen müssen oder ob sie sie journalistisch aufbereiten dürfen.
Um eine Warnmeldung abzusetzen, muss ein digitales Formular ausgefüllt werden, und dabei passieren immer wieder Fehler. Das zeigen die ausgewerteten 160 Warnmeldungen: Ein Teil enthielt falsche Angaben, bei anderen fehlten Informationen - beides hat womöglich die Warnung der Bevölkerung verzögert.
Inwiefern waren Meldungen mangelhaft?
40 der ausgewerteten 160 Meldungen wurden nicht so eingegeben oder ausgespielt wie eigentlich vorgesehen - und zwar so, dass dadurch keine, eine grob falsche oder eine verzögerte Warnung an die Bevölkerung verursacht worden sein könnte.
Anteil mangelhafter Warnmeldungen
20 der mangelhaften Meldungen warnten vor Hochwasser bzw. Überschwemmung, weitere 14 vor Starkregen. Vier bezogen sich auf den Ausfall des Notrufs und jeweils eine Meldung auf den Ausfall des Stromnetzes und des Telefonnetzes. Alle weiteren Meldungen waren entweder Aktualisierungen oder Entwarnungen der genannten Katastrophenfälle.
Manche Meldungen wurden gar nicht an Medien verschickt, andere gingen nicht an die lokalen und regionalen Medien, deren Verbreitungsgebiete von der Flut betroffen waren. Stattdessen wurden fast alle Meldungen an zwei Medienhäuser geschickt, die gar keine Warnfunktion übernehmen können, weil sie in NRW und Rheinland-Pfalz keine Medien haben und deshalb auf üblichem Weg nicht zu empfangen sind, nämlich an Radio Energy und die Madsack-Verlagsgruppe aus Hannover.
Warnstufen der mangelhaften Warnmeldungen
Andere Fehler betrafen die Warnstufe, die zum Teil widersprüchlich angegeben wurde. Bei einer Meldung mit mittlerer Dringlichkeit sind Medien beispielsweise nicht gezwungen, sofort eine so genannte "Amtliche Gefahrendurchsage" (hohe Dringlichkeit) im Programm zu verlesen. Zum Teil fand sich aber genau diese Anweisung in Warnmeldungen mit mittlerer Dringlichkeit. Widersprüchliche oder fehlende Handlungsanweisungen für Medien können eine schnelle Warnung verzögern.
In manchen Meldungen fanden sich auch kleinere Fehler. So fehlte in manchen Überschriften die Ortsangabe der betroffenen Region, die dann erst im laufenden Text zu finden war. Zum Teil gingen die Meldungen auch an einen zu großen Verteiler. Das heißt, einzelne Redaktionen erhielten in den betreffenden drei Tagen alle 160 Warnmeldungen. Das hat es womöglich erschwert, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Mängel in Warnmeldungen zur Flutkatastrophe
Wie viele Warnmeldungen kamen nicht bei den Medien an?
Im Kreis Trier-Saarburg kam zum Beispiel keine einzige Meldung bei relevanten Redaktionen an, obwohl dort 16 Warnungen abgesetzt wurden. Einige wurden mit der höchsten Dringlichkeitsstufe versandt. Das bedeutet, sie müssen sofort im Radio vermeldet werden, und im Fernsehen muss ein entsprechendes Laufband eingeblendet werden. Beides konnte der SWR nicht machen, weil die Meldungen ihn nicht erreichten.
Das liegt aber offenbar nicht an der zuständigen Leitstelle des Kreises Trier-Saarburg, sondern an einer falschen Voreinstellung in dem Programm, in dem die Warnmeldungen eingegeben werden. Die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten laut Kreisverwaltung im Feld Medien zwar "lokal/regional" anklicken, aber nicht auswählen, an welche Sender die Meldung tatsächlich ging. Dass dort keine lokalen und regionalen Medien hinterlegt waren, sei nicht ersichtlich gewesen, teilte der Kreis auf Dlf-Anfrage mit. Es handele sich um eine Voreinstellung durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das das Warnportal betreibt.
Jede Warnmeldung enthält - neben anderen Informationen - die Warnstufe und den Gefährdungsbereich. Die Meldungen werden aber nicht allen beteiligten Akteuren so übersichtlich angezeigt wie in dieser Darstellung (Screenshot/Warnmeldung des BBK)
Das BBK teilte auf Anfrage mit, dass es die Zuordnungen nach Rücksprache mit den Innenministerien der Länder festlegt, die für die Medien im Land zuständig seien. Bei einer solchen Einstellung erhalte der SWR lokale Meldungen nur dann, wenn die Leitstelle sie auch an landesweite Medien verschicke. Das hätten die Nutzer des Systems auch wissen sollen, heißt es beim BBK. In Trier war das offenbar nicht bekannt und soll jetzt korrigiert werden. Vorübergehend würden auch Meldungen von nur lokaler und regionaler Relevanz auch an den landesweiten Verteiler geschickt.
Auch der Kreis Unna teilte mit, dass die Empfänger der MoWas-Meldungen durch den Bund vorgegeben seien - diese Zuordnung solle jetzt noch einmal überprüft werden.
Welche Warnmeldungen wurden gar nicht erst verschickt?
Der Landkreis Ahrweiler, der am stärksten von der Flut stark betroffen war, verschickte keine einzige Meldung über MoWas. Offenbar gingen einzelne Meldungen an die Katastrophenwarn-App Katwarn, aber keine an die zweite verbreitete Warn-App Nina, die ihre Meldungen über MoWas bezieht. Durch die fehlende Warnung über MoWas wurden auch Medien auf diesem Weg nicht informiert.
Der Landkreis konnte dazu auf Dlf-Anfrage keine Auskunft geben und verwies darauf, dass die Bewältigung der Katastrophenlage derzeit vorgehe. Es laufen Ermittlungen gegen den Landrat, dem vorgeworfen wird, zu spät gewarnt zu haben.
In Leverkusen verschickte die städtische Feuerwehr zwar Warnmeldungen, die vor allem an Warn-Apps gingen und darauf hinwiesen, man solle für weitere Informationen Medien nutzen. Diese Warnungen gingen aber über das System nicht an Medien. Die Stadt Leverkusen teilte auf Anfrage mit, die Medien seien außerhalb des Warnsystems durch "ausführliche Presseinformationen" informiert worden. Der Hinweis, bei Gefahr die Medien einzuschalten, sei ein Standardtextbaustein, heißt es bei der Stadt.
Bei vielen vom Hochwasser Betroffenen kamen die Warnmeldungen nicht oder nicht rechtzeitig an (picture alliance/Roberto Pfeil/dpa)
Auch im Kreis Soest gingen die Warnmeldungen über das offizielle System nicht an Medien. Der Kreis teilte allerdings auf Anfrage mit, das sei eine bewusste Entscheidung gewesen, "da es sich um ein örtliches Ereignis" gehandelt habe. Lokalradio und Lokalzeitung seien demnach per Anruf und Mail informiert worden. Außerdem sei abgesprochen, dass die zuständigen Reporter lokaler Medien über die Nina-Warn-App informiert würden und dann berichten könnten.
Hinzu kommt, dass vor allem viele lokale Medien gar nicht an das Warnsystem angeschlossen sind. In NRW gibt es 45 Lokalradios in Städten und Kreisen, von denen laut BBK aber nur zehn Sender Warnmeldungen über MoWas erhalten. In deren Verbreitungsgebiet leben rund 5,1 Millionen Menschen - etwas mehr als ein Viertel aller Einwohner von NRW.
NRW-Lokalradios, die an das Warnsystem MoWas angeschlossen sind
Das Mantelprogramm Radio NRW, das bei den Lokalradios für den größten Programmanteil verantwortlich ist, ist an MoWas zwar angeschlossen, bringt als landesweiter Sender allerdings vermutlich nicht alle lokalen Warnmeldungen. Schließlich gab es davon in NRW in drei Tagen mehr 140 Stück.
Warum waren einige Handlungsanweisungen für Medien mangelhaft?
Eigentlich sollten Journalistinnen und Journalisten bei Medien, die diese Warnmeldungen bekommen, wissen, wie sie damit umzugehen haben. Formal müssten deswegen gar keine konkreten Handlungsanweisungen in den Warnmeldungen stehen, sie sind aber hilfreich für eine schnelle Verbreitung, zumal einzelne Redakteurinnen und Redakteure im Programm nur selten mit Warnungen zu tun bekommen.
Eine Meldung mit der höchsten Warnstufe muss zum Beispiel sofort ins Programm genommen werden - diese Hinweis findet sich allerdings teils auch in Meldungen mit mittlerer Dringlichkeit. Die Medien, die die Meldungen bekommen, bekommen die Warnstufe zum Teil gar nicht angezeigt, können einen Widerspruch zwischen Einstufung und Handlungsanweisung also nicht sofort erkennen.
Einen solchen Widerspruch gab es im Kreis Unna, der auf Anfrage mitteilte, dass die Meldungsvorlage immer die Medienanweisungen für die höchste Warnstufe enthielten. Das müsste bei niedriger eingestuften Warnmeldungen händisch geändert werden, was aber nicht immer passiert sei.
Wie konnte es zu den mangelhaften Meldungen kommen?
Rein technisch hat das Warnsystem MoWas funktioniert: Die eingegebenen Warnungen wurden weiter verbreitet. Trotzdem ist das System in der Bedienung kompliziert und funktioniert deswegen nicht immer wie geplant. Letztendlich sitzen in allen beteiligten Institutionen Menschen, die Entscheidungen treffen und Fehler machen.
Schuld daran sind auch problematische Voreinstellungen, die in den Leitstellen nicht erkannt werden oder nicht erkannt werden können, wenn es schnell gehen muss. Einige Leitstellen verschicken ihre Meldungen an Medien bewusst nicht über das System. Manche Medien erhielten gar keine Meldungen und konnten deswegen nicht warnen. | Von Stefan Fries und Annika Schneider | 160 Warnmeldungen in drei Tagen verschickten die Behörden, als im Juli in Westdeutschland Überschwemmungen drohten. Viele Warnungen kamen allerdings nicht in der breiten Bevölkerung an, weil sie nicht an lokale Medien gingen oder Mängel enthielten. Eine Auswertung. | "2021-08-11T15:35:00+02:00" | "2021-08-13T08:52:42.684000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/flutkatastrophe-in-nrw-und-rheinland-pfalz-jede-vierte-100.html | 970 |
Müssen tanzende Schwäne wirklich weiß sein? | Gelebte Wirklichkeit - die ivorische Tanzgruppe "Les pieds dans la Mare" (Patryk Sebastian Witt )
Im Tanz werden verschiedene Debatten zum Thema Diversität geführt. Eine erhielt neuen Zündstoff im Dezember 2019: Zwei Tänzerinnen des Moskauer Bolschoi-Balletts posteten auf Instagram Fotos, die sie kostümiert für ein berühmtes klassisches Handlungsballett aus dem 19. Jahrhundert zeigten, "La Bayadère" – mit dunkel geschminkter Haut. Das sogenannte "Blackfacing" offenbare, wie die "New York Times" schrieb, kulturhistorische Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten.
"Blackfacing", wie man das Dunkelschminken hellhäutiger Darsteller und Darstellerinnen nennt, löst in den Köpfen US-amerikanischer Betrachter sehr unschöne Assoziationen aus, weil es an Zeiten erinnert, als diese Theaterpraxis zur Darstellung rassistischer Klischees eingesetzt wurde – eine unmögliche Praktik, die nicht mehr in unsere Zeit gehört. Doch im Gegensatz zur US-amerikanischen Kulturwelt haben russische klassische Tänzerinnen wie die beiden Ballerinen des Bolschoi zu dieser üblichen Maskierung und Kostümierung eine wesentlich unbefangenere, man könnte auch sagen naivere Einstellung. Es gab im 19. Jahrhundert keine afrikanischen oder afro-amerikanischen oder indischen Tänzerinnen am Bolschoi. Um also die Illusion eines in fernen Ländern spielenden Balletts zu erzeugen, mit dem damals erfolgreich und wiederholt das sehnsuchtsweckende Bild exotischer Gegenden und ebenso exotisch anmutender Protagonisten entworfen wurde, schminkte man – und schminkt man weiterhin – die betreffenden Tänzer entsprechend.
Derselbe Artikel der "New York Times" bildet Anna Netrebkos Instagram-Post als äthiopische Prinzessin Aida in der Titelrolle von Guiseppe Verdis gleichnamiger Oper in einer Bolschoi-Inszenierung ab. Auch sie trägt dunkles Make-up und findet daran nichts zu beanstanden.
Kein naives Publikum mehr
Soll man sagen, wenn es nicht in diskriminierender Absicht geschieht, ist es okay? Schwierig. Eigentlich ist die Zeit längst da, dass wir als Publikum nicht so naiv sind. Wir abstrahieren, wir brauchen auch in anderer Hinsicht kein Illusionstheater mehr. Warum also geschminkte Darsteller auf der Bühne?
Kann man das dunkle Make-up nicht einfach weglassen, so wie wir heute längst nicht mehr "Mohrenköpfe" zu Schokoküssen sagen würden? Man soll das diskutieren und sich für eine szenisch annehmbare, nicht-diskriminierende Lösung entscheiden. Deswegen sind Marius Petipa und Lew Iwanow, die berühmtesten Choreographen des 19. Jahrhunderts, nicht zu verurteilen - vom Verdacht des Nationalismus und Rassismus sind sie freizusprechen. Schon damals war ein Ballettensemble multi-ethnisch.
Muss man diese Werke unter postkolonialen Generalverdacht stellen? Die Frage trifft das Ballett ähnlich wie die Bildende Kunst. In der Oper ist es möglich, durch die Inszenierung Distanz herzustellen zu den musikalisch und im Libretto geschilderten Vorgängen und Charakterisierungen. Das Bild eines tanzenden Dorfes in der Südsee ist ein historisches Bild. Im Ballett führt man Werke auf, die aus Zeiten stammen, als es kein Bewusstsein für Diskriminierung gab.
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Das andere Problem der Diversität im Tanz ist gewichtiger: Da geht es um die Frage, wieso es so wenige schwarze Ballerinen und Tänzer gibt. Und wer jetzt fragt, ob das nicht ein überwiegend US-amerikanisches Problem sei, dem antworten die Globalisierung und Digitalisierung und Virtualisierung aus einem Mund: Nein, nicht mehr in Zeiten von Instagram.
Arthur Mitchell im "New York City Ballet"
Die zeitgenössische Theaterästhetik ist ganz anders als die des späten 19. Jahrhunderts. Verbreitet ist die Ansicht, dass im Theater die Gegenwart abgebildet und kritisiert werden muss. Regisseure bringen Laiendarsteller auf die Bühne. Ein Schauspielensemble etwa, so die Meinung vieler, sollte in seiner Zusammensetzung die gesellschaftliche Realität spiegeln. Davon ist die Realität des Tanzes weit entfernt. Zwar stellte George Balanchines berühmtes "New York City Ballet" bereits in den Fünfzigerjahren mit Arthur Mitchell den ersten schwarzen Tänzer ein. Aber noch im vergangenen Jahr sagte Jean-Christoph Maillot, Direktor des Balletts von Monte-Carlo, er könne die Frage nicht schlüssig beantworten, ob er es befürworte, wenn unter den 32 Schwänen in "Schwanensee" nicht-weiße Ballerinen seien. Das ist absurd. Aber es ist eine kulturelle, weit verbreitete Absurdität.
2020 und die amerikanische Kosmetikfirma "Estée Lauder" wirbt mit Anzeigen, auf denen mehrere Models unterschiedlicher Hautfarbe zu sehen sind, für ihre neuen Make-ups in dunklen Tönen. Erst seit 2019 gibt es regulär hergestellte Spitzenschuhe in Hauttönen, die für "People of Color" passen.
Arthur Mitchell verließ das "New York City Ballet" 1969 nach der Ermordung Martin Luther Kings und gründete das "Dance Theatre of Harlem". 2015 wurde Misty Copeland zur Ersten Solistin am New Yorker "American Ballet Theatre" ernannt - als erste afroamerikanische Tänzerin, die in diesen Rang erhoben wurde.
Vorbildwirkung
Noch immer ist es so, dass jemand wie sie oder der kubanisch-stämmige Tänzer Carlos Acosta eine ganz große Vorbildwirkung haben. Ihr Erfolg sagt schwarzen Kindern: Ihr könnt es schaffen! Und es sagt vorurteilsbehafteten oder unreflektierten Weißen: Was ist Euer Problem?
In einem weiteren Sinne als dem ethnischen hat Diversität noch ganz andere Dimensionen in den Darstellenden Künsten. Diversität heißt, andere Körperformen, Körpergrößen auf Bühnen selbstverständlich zu finden, heißt auch, ältere Tänzer sehen zu wollen, Menschen mit körperlichen Einschränkungen.
Ein Begriff von Tanz, der den Standards der Gegenwart Rechnung trägt, sollte divers sein. Erst dann wäre er vollständig und lebendig. | Von Wiebke Hüster | Der klassische Schwan im berühmten "Schwanensee" ist weiblich, athletisch und weiß. Ist dieses Klischeebild noch zeitgemäß? Der Direktor des Balletts von Monte-Carlo sagte kürzlich, er könne diese Frage nicht beantworten. Der Tanz ist von Diversität offensichtlich noch weit entfernt. | "2020-04-22T17:35:00+02:00" | "2020-04-23T08:53:57.619000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/endlich-mal-erklaert-muessen-tanzende-schwaene-wirklich-100.html | 971 |
"Nach zehn Jahren kann ich nicht mehr" | Dar’ya Horowa hat in Lemberg, im Westen der Ukraine, Journalistik studiert – parallel dazu hat sie für die Zeitung "Ukraina Moloda" gearbeitet, und auch fürs Nachrichtenmagazin "Nowynar". In Deutschland war sie zwei Monate beim Goethe-Institut und hat bei der Deutschen Welle hospitiert – beim Radio und beim Fernsehen, also in Bonn und in Berlin."Wenn du mit deutschen Leuten ein Interview machst, das ist schon ein bisschen komplizierter als hier – weil du sollst jedes Wort verstehen. Und zum Beispiel wenn Leute aus Bayern gesprochen haben, das war ziemlich kompliziert alles zu verstehen. Doch du sollst ziemlich schnell reagieren und neue Fragen stellen."Am meisten hat sie überrascht, dass alle pünktlich sind, sogar die Minister. In der Ukraine ist das anders. Und auch sonst ist in ihrem Heimatland einiges anders als in Deutschland. Zum Beispiel gibt es kaum Medienvielfalt. Das heißt, zum einen weniger Masse, aber vor allem auch weniger Klasse. Der Grund dafür: Die meisten Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsender werden von einer kleinen Gruppe von wohlhabenden Geschäftsleuten beherrscht – von den ukrainischen Oligarchen. Die meisten von ihnen stehen der Regierung nahe.Eine Untersuchung hat vor kurzem ergeben, dass 86 Prozent der politischen Berichte über Janukowitsch und sein Kabinett handeln, und nur 14 Prozent von der Opposition. Wenn es nach Dar’ya Horowa geht, ist das größte Problem: "Ist natürlich Zensur. Und auch dass Politiker Zeitungen haben. Und auch dass nicht sehr viele Leute professionelle Leute im Journalismus arbeiten, weil die Löhne sehr niedrig sind. Und zum Beispiel beim 5. Kanal – habe ich gehört – bekommt man 300 Dollar im Monat. Das ist ein Lohn für Studenten oder ich weiß nicht für wen, für einen Schüler. Auch du Student bist, braucht du doch mehr als 300 Dollar."Von 300 Dollar, also umgerechnet 200 Euro, könne man in der ukrainischen Hauptstadt Kiew kaum überleben, meint die 27-Jährige:"Man arbeitet sieben Tage pro Woche, man bekommt keine Feiertage und sehr niedrigen Lohn. Und dann bekommt der Besitzer eine neue Idee und sagt: 'Nee, ich möchte jetzt nicht mehr eine Zeitung haben. Auf Wiedersehen.' Und die Leute sind da. Und ich habe das schon zwei Mal überlebt und ich möchte das nicht mehr."Deshalb ist Dar’ya hin- und hergerissen – zwischen Weitermachen und Aufhören."Ich bin echte Journalistin. Ich bin neugierig. Und ich mag diese Atmosphäre, diese Kontakte, immer irgendwohin reisen, neue Themen zu finden und den Leuten helfen mit diesem Material und den Artikeln. Aber ich bin satt. Nach zehn Jahren kann ich nicht mehr."Obwohl sie nicht über Politik berichtet, sondern über Kultur und Tourismus, sitzt der Frust tief. Gründe dafür gibt es viele: Dass man es in der Ukraine mit dem Urheberrecht nicht so genau nimmt, ist einer. Oder auch dass die Meinung der Zeitung oder des Fernsehsenders vom Inhaber diktiert wird, also vor allem Selbstzensur stattfindet. Und nicht zuletzt dass sie das Gefühl hat, durch ihre Artikel und Beiträge im Land selber kaum etwas bewegen zu können."Das heißt nachdenken, so ruhig halten und alles im Kopf in Ordnung bringen. Und auf das Herz hören und sagen: 'Was möchtest du, Dar’ya? Wenn nicht Journalistik nicht, dann was?' Und dann bekomme ich die Antwort."Dar’ya sagt, sie wollte schon immer etwas Nützliches machen. Lange Zeit hat sie geglaubt, dass das mit Journalismus möglich sei. Am liebsten würde sie lange Artikel schreiben: Analysen, Meinung, Hintergrund. In Deutschland ist das gefragt. In der Ukraine weiß man damit offenbar nichts anzufangen. | Von Pauline Tillmann | Seit der Amtszeit von Präsident Viktor Janukowitsch, also seit gut einem Jahr, ist die Ukraine im Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ hinter den Irak gefallen. Dar’ya Horowa, Journalistin aus Kiew, liebt ihren Beruf und will ihn trotzdem aufgeben. | "2011-04-30T17:05:00+02:00" | "2020-02-04T01:48:18.259000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/nach-zehn-jahren-kann-ich-nicht-mehr-100.html | 973 |
Ein Roadtrip ins ukrainische Kriegsgebiet | Hilfskonvois bringen vor allem medizinische Güter in die Ukraine, wie hier auf einer Straße nach Slowiansk. (picture alliance / Anadolu Agency / Marek M. Berezowski) | Durm, Martin | Noch immer fahren täglich Hilfskonvois aus Deutschland in die Ukraine. Care-Pakete sind bitter nötig, berichtet Journalist Martin Durm aus dem Kriegsgebiet. "Aber du kannst einen Krieg nicht mit humanitärer Hilfe gewinnen", sagt ihm eine Ärztin. | "2023-04-27T07:45:42+02:00" | "2023-04-27T08:17:14.048000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/reportage-ukraine-donbass-roadtrip-kriegsgebiet-dlf-100.html | 974 |
"Dass da Arbeitsplätze in Gefahr stehen, sehe ich nicht" | "Die deutsche Luftverkehrssteuer ist immer dann zu zahlen, wenn man an einem deutschen Flughafen fliegt", erklärte Alexander Mahler. (picture alliance / dpa / Christophe Gateau)
Katja Scherer: Nicht nur über den Verkehr auf der Straße, sondern auch über den Verkehr in der Luft wurde heute in Berlin geredet. Eine Arbeitsgruppe forderte dabei die Abschaffung der sogenannten Luftverkehrssteuer. Diese Steuer müssen Fluggesellschaften pro Fluggast bezahlen, wenn sie von einem deutschen Flughafen starten. Auf innereuropäischen Flügen fallen dabei rund 7,50 Euro an. Fällt die Steuer weg und geben die Fluggesellschaften das dann an die Verbraucher weiter, könnte Fliegen günstiger werden.
Ich habe vor der Sendung mit Alexander Mahler vom Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft gesprochen und ihn gefragt: Die Branche kritisiert diese Steuer ja seit langem als wettbewerbsverzerrend, weil sie davon stärker betroffen ist als ausländische Fluggesellschaften. Widerfährt der deutschen Branche nun endlich Gerechtigkeit?
Alexander Mahler: Die deutsche Luftverkehrssteuer ist immer dann zu zahlen, wenn man an einem deutschen Flughafen fliegt. Und da ist es egal, ob man in ein Lufthansa-Flugzeug steigt, ob man in ein Turkish Airlines Flugzeug steigt oder in ein Ryanair-Flugzeug. Die Zahlen der Luftverkehrsbranche gingen ja in den letzten Tagen auch über den Ticker und es gibt ein Wachstum von 5,2 Prozent der Passagiere an deutschen Flughäfen. Also zu sagen, dass die Branche besonders schlechtgestellt würde, ist in meinen Augen eine sehr weite Auslegung. Die Luftfahrt wächst, obwohl wir die Air Berlin Pleite hatten. Dieser Branche scheint es nicht so schlecht zu gehen.
Scherer: Die deutschen Fluggesellschaften, die stehen aber trotzdem unter Druck. Die haben oft einen preislichen Nachteil gegenüber ausländischen Airlines, weil dort die Arbeitskosten günstiger sind. Da kann man doch schon argumentieren, dass man sagt, na ja, in der Regel ist es so, dass deutsche Fluggesellschaften viel öfter von deutschen Flughäfen starten, also auch da noch mal mehr Kosten haben als ausländische Gesellschaften. Das ist doch schon ein Nachteil und kann das nicht auch Arbeitsplätze dann gefährden?
Mahler: Wie gesagt, auch die deutschen Fluglinien wachsen. Dass da Arbeitsplätze in Gefahr stehen im Zusammenhang mit der Luftverkehrssteuer, das sehe ich nicht. Klar bedienen die deutschen Fluglinien den deutschen Markt stärker, aber würde die Luftverkehrssteuer wegfallen, wäre dieser Preisvorteil auch für alle anderen Fluglinien, die im deutschen Markt operieren, gegeben und für alle anderen wäre es dann auch günstiger, in Deutschland zu starten und zu landen.
"Der Luftverkehr hat immense externe Kosten"
Scherer: Fragen wir mal umgekehrt, und zwar: Warum brauchen wir denn diese Steuer überhaupt?
Mahler: Der Luftverkehr ist mit Abstand das umweltschädlichste Verkehrsmittel. Der Luftverkehr hat immense externe Kosten – seien es Umweltkosten in Form von CO2. Der Luftverkehr hat große gesundheitliche Kosten. Und wenn wir den Luftverkehr jetzt relativ zu anderen Verkehrsmitteln günstig machen, beispielsweise wenn man mit einem Flugzeug fliegt, zahlt man keine Energiesteuer, anders als wenn man mit dem Auto fährt, wenn man international fliegt, zahlt man keine Mehrwertsteuer, anders als wenn man mit der Bahn fährt, wenn wir also den umweltunverträglichsten Verkehrsträger begünstigen, dann führt das zu höheren gesamtgesellschaftlichen Kosten. Und dass die, die diese Kosten verursachen, ein Stück davon zu zahlen haben, das ist mit der Luftverkehrssteuer zumindest ein Schritt in die erste Richtung.
Scherer: Wir diskutieren ja schon seit Längerem, seit Monaten über Umweltschutz im Zusammenhang mit der Diesel-Affäre, über Stickoxide in den Städten. Wie kann es sein, dass ein Verkehrsmittel, was Sie gerade im Vergleich als sogar noch schmutziger beschrieben haben, dass das entlastet wird? Wie passt das für Sie zusammen?
Mahler: Wer den Luftverkehr weiter subventioniert, sagt gleichzeitig, dass er sich um Klimaschutz beziehungsweise CO2-Reduktion nicht kümmert. Der zeigt, dass er entgegen aller Klimaschutzziele, gegen alle Selbstverpflichtungen wirken wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Alexander Mahler im Gespräch mit Katja Scherer | In den Koalitionsverhandlungen wurde unter anderem auch die Abschaffung der Luftverkehrssteuer diskutiert. Alexander Mahler vom Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft warnte im Dlf davor, diese Steuer abzuschaffen - ein solcher Schritt würde signalisieren, dass man sich nicht um Klimaschutz kümmern werden. | "2018-02-02T17:05:00+01:00" | "2020-01-27T17:37:45.483000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/geplante-abschaffung-der-luftverkehrssteuer-dass-da-100.html | 976 |
Koalitionsvertrag steht, Personal noch nicht ganz | Der Landesvorsitzende der CDU Baden-Württemberg, Thomas Strobl (l), und Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg (Bündnis 90/Die Grünen) (picture alliance/dpa/Deniz Calagan)
Müde kommen die künftigen Regierungspartner nach einer letzten Verhandlungsrunde daher, wochenlange Sitzungen haben ihre Spuren hinterlassen. Seit gestern Abend liegt der 137-seitige Koalitionsvertrag mit dem Titel "Verlässlich, nachhaltig, innovativ" vor. Ministerpräsident Winfried Kretschmann zeigt sich nicht besonders gesprächig, nur so viel: Das künftige Kabinett werde sich verkleinern: "Wir haben uns nach langem Ringen auf eine 5:5-Verteilung geeinigt, es gibt also zehn Ministerien und zehn Ministerinnen und Minister."
An die Grünen gehen die Ressorts Finanzen, Soziales, Umwelt, Verkehr und Wissenschaft. Überraschenderweise soll künftig das Landwirtschaftsministerium unter CDU-Regie geführt werden. Ebenso gehen die Ressorts Kultus, Wirtschaft, Inneres, und Justiz an die Christdemokraten. Das bisherige Integrationsministerium wird aufgelöst und kommt unter das Dach des Sozialministeriums. Wie es heißt, sollen die Bundesratsangelegenheiten in der Regierungszentrale angesiedelt werden.
CDU-Bundesvize Thomas Strobl, künftig stellvertretender Regierungschef in Baden-Württemberg, wahrscheinlich auch Innenminister im neuen Kabinett, erklärte gestern Abend in Stuttgart: "Es wird weniger Minister geben, das heißt eine Verkleinerung des Landeskabinetts. Das finde ich, ist ein gutes Zeichen auch, ich muss es leider so sagen, angesichts der prekären Situation, die wir im Haushalt vorfinden."
Räumt Guido Wolf seinen Posten als Fraktionschef?
Wer welchen Posten - vor allem Ministerposten - bekommt, wird wohl heute noch nicht verkündet. Vor allem in der CDU gibt es wohl noch Klärungsbedarf. Offen ist bislang vor allem die Frage, ob Guido Wolf seinen Posten als Fraktionschef räumt und ein von Strobl angebotenes Ministerium übernimmt. Die CDU-Frauen wiederum machen Druck und wollen mehr Ministerinnen stellen. Inge Gräßle, stellvertretende Landesvorsitzende der baden-württembergischen Frauen Union: "Wir wollen 50 Prozent der Regierungsämter, bitteschön auch Ministerinnen, Staatssekretärinnen für Frauen, qualifizierte Frauen, da haben wir sehr viele, die werden es mindestens so gut machen, wie die Männer, die jetzt alle wieder kommen wollen, und die doch schon eindrucksvoll Wahlen verloren haben."
Nach einer Sitzung des CDU-Landesvorstands am Samstag betonte Thomas Strobl, im Koalitionsvertrag sei die Handschrift der CDU deutlich erkennbar, es sei viel schwarze Tinte dabei. Die CDU konnte 1500 neue Polizeistellen durchsetzen, trotz Sparzwang will man eine halbe Milliarde Euro in Straßen, Schienen, Hochbau und Hochschulen investieren.
Heute um 12 Uhr wollen die beiden künftigen Regierungspartner den Koalitionsvertrag offiziell vorstellen. Noch ist es ein Entwurf. Am Freitag wird CDU auf einem Landesparteitag über das Papier endgültig abstimmen, die Grünen am Samstag. Am 12. Mai findet die Wahl des Ministerpräsidenten statt. | Von Uschi Goetz | Sieben Wochen nach der Landtagswahl hat sich die bundesweit erste grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. In der Frage der Ministerposten gibt es in der CDU aber offenbar noch Klärungsbedarf.
| "2016-05-02T05:05:00+02:00" | "2020-01-29T18:27:12.920000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/baden-wuerttemberg-koalitionsvertrag-steht-personal-noch-100.html | 977 |
Es kommt nicht auf die Absicht an | Schauspielerin Veronica Ferres und Unternehmer Carsten Maschmeyer haben zwei Flüchtlingsfamilien aus Syrien bei sich aufgenommen. (dpa / privat / Carsten Maschmeyer)
"Also, ich werde jetzt noch bis Freitag hier sein, also noch zwei Tage. - Und dann bin ich im Prinzip nicht mehr da bis zum 5. Januar. - Weil ich dann in Bayern bin."
Dieter Janecek sitzt mit seinem neuen Mitbewohner Mohammed früh am Morgen in seiner Küche in Berlin-Wedding und bespricht mit ihm die Zeit der Weihnachtsfeiertage. Janecek ist Bundestagsabgeordneter der Grünen. Mohammed ist vor dem Krieg aus Syrien geflohen. Seit fünf Monaten ist der 22-Jährige in Deutschland und seit zwei Wochen wohnt er bei Dieter Janecek.
"Aber vielleicht können wir morgen oder so nochmal was gemeinsam machen, morgen kommt auch ein Freund von mir, dann können wir vielleicht - hier gibt's eine ganz coole Bar - um die Ecke gehen."Mohammed: "Am Freitag?"Janecek: "Am Donnerstag. Wann sind denn eigentlich deine Kurse, deine Sprachkurse?"Mohammed: "Jeden Tag von halb zwei bis 16 Uhr. Aber von Freitag bis 4. Januar ist Pause wegen Weihnachten."Janecek: "Du sprichst schon sehr gut Deutsch. Also wenn ich jetzt in Syrien wäre, wäre ich nicht so schnell."
Der Grünen-Politiker hatte bis zum Sommer noch gemeinsam mit seiner Familie in Berlin gewohnt. Die ist aber wieder nach Bayern gezogen. Janecek hat nun Platz.
"Und zeitgleich natürlich die Flüchtlingskrise, da habe ich mir gedacht, jetzt kannst du es auch verbinden und noch etwas Gutes tun."
Zunächst zog eine syrische Familie ein, zwei Schwestern und ihre vier Kinder, die haben nun eine eigene Bleibe gefunden. Von Mitarbeitern der Grünen-Fraktion erfuhr Janecek dann von Mohammed.
"Das hat sich gut ergeben, dass er jetzt hier einziehen konnte. Und gut, jetzt hat er auch viel Platz, weil ich bin ja auch oft nicht hier."
Häme und Vorwürfe gegen Maschmeyer
Viele Menschen in Deutschland helfen Flüchtlingen nicht nur nach ihrer Ankunft am Bahnhof oder in Heimen, sondern stellen ihnen auch Wohnraum zur Verfügung. Neben einigen Politikern sind darunter auch Prominente. Die Sängerin Sarah Connor gab vor Kurzem bekannt, dass in die Einliegerwohnung in ihrem Haus in Berlin eine Familie aus Syrien eingezogen sei. Carsten Maschmeyer und Veronica Ferres nahmen vorübergehend zwei syrische Familien in ihrer Villa in Hannover auf. Connor wie Maschmeyer und Ferres sagten, sie hätten damit eigentlich nicht an die Öffentlichkeit gehen wollen. Dann seien Medien aber von sich aus darauf aufmerksam geworden.
Vor allem im Fall Maschmeyer und Ferres folgte die Häme auf dem Fuße. Das letzte Mal, als Maschmeyer jemanden bei sich aufgenommen habe, sei es Ex-Bundespräsident Christian Wulff in seiner Villa auf Mallorca gewesen, hieß es in einer Glosse. Es sei jetzt wohl die Aufgabe von Flüchtlingen, saturierten Leuten Erfüllung zu verschaffen. An anderer Stelle gab es den Vorwurf, der Unternehmer wolle vom Streit um sein ehemaliges Finanzdienstleistungsunternehmen AWD ablenken.
"Das ist dann immer so eine Frage: Ist das Inszenierung der Prominenz? Gut, am Ende finde ich es dann allein aufgrund der Botschaft 'Schaut mal her, das funktioniert' richtig, darüber zu reden. Und ich versuche, das ja auch möglichst sachlich und nüchtern zu tun", sagt Grünen-Abgeordneter Dieter Janecek.
Auch sein Bundestagskollege von der CDU, Martin Patzelt, musste sich derlei Vorwürfe anhören. Er hatte im Juni zwei junge Männer aus Eritrea in seinem Haus in seinem Dorf Briesen in Brandenburg aufgenommen und andere dazu aufgefordert, es ihm gleich zu tun.
"Wenn man Gründe findet, die eher weniger respektabel sind oder edel bei anderen, dann kann man leichter sagen, der macht's ja auch nur aus sehr egoistischen, egozentrischen Gründen. Und damit ist man selbst aus dem Schneider."
Außerdem komme es auf die Absicht manchmal gar nicht an:
"Es sind nicht immer die großen, edlen Motive, die unser Zusammenleben sichern, sondern es ist auch ein Großteil egoistisches Bedürfnis. Und das ist auch ganz legitim."Das sehen Hilfsorganisationen ganz ähnlich. Sie glauben, dass die dezentrale und private Unterbringung außerhalb von Sammelunterkünften Flüchtlingen viel besser helfe, in Deutschland Fuß zu fassen.
Außerdem sei sie billiger.
"Wir freuen uns, wenn Prominente das in der Öffentlichkeit erzählen oder eben auch Politiker. Für uns ist es wichtig, dass darüber überhaupt gesprochen wird in der Öffentlichkeit, in den Medien aber auch im privaten Gespräch, weil wir die Erfahrung machen, dass es für alle Seiten positiv ist."
Nicht nur aus Gutmütigkeit aufnehmen
Mareike Geiling ist Mitbegründerin von "Flüchtlinge willkommen", einer preisgekrönten Initiative, die bundesweit Zimmer in Wohngemeinschaften oder etwa bei Familien an alleinstehende Flüchtlinge vermittelt. Geiling gründete "Flüchtlinge willkommen" mit ihrem Mitbewohner. Auch sie hatten in ihrer WG einen jungen Mann aufgenommen, der nach Deutschland geflohen war. Mittlerweile verweist sogar das Lageso, das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, auf ihre Website. Geiling will deutlich machen, dass man nicht vermögend sein muss, um Flüchtlinge aufzunehmen. Die Miete werde in der Regel vom Amt erstattet. Wichtig findet sie, dass man Flüchtlinge nicht nur aus Gutmütigkeit kurz Unterschlupf bietet.
"Weil es uns darum geht, dass es ein langfristiges Wohnverhältnis ist, wo die Person auch richtig ankommen kann."
Wie bei Dieter Janecek und Mohammed. Janecek wartet zwar noch darauf, dass das Lageso die Mieterstattung zusagt, aber mit Mohammed würde er gern länger zusammenwohnen.
"Das Ziel ist ja schon - egal, wie schnell das jetzt geht, dass er als Mieter anerkannt werden kann - dass er hier bleibt, also dauerhaft. Klar, wenn er sagt, er hat kein Bock mehr, ist das okay, aber mein Angebot ist das."
Und auch Mohammed will erst einmal ankommen nach seiner Flucht, auf der er fast ertrunken wäre und in Serbien eine Woche im Gefängnis saß. Sein Leben sei jetzt hier, sagt er, während er Dieter Janecek zur Tür bringt. Der muss zur Ausschusssitzung in den Bundestag.
Janecek: "Wirtschaftsausschuss. Dann bis heute Abend wahrscheinlich, ich melde mich."Mohammed: "Ja okay, vorsichtig sein!"Janecek: "Ja, du auch." | Von Benjamin Dierks | Schauspielerin Veronica Ferres und Unternehmer Carsten Maschmeyer haben Flüchtlinge bei sich aufgenommen, ebenso Sängerin Sarah Connor. Sie mussten dafür Kritik einstecken. Zu Recht? | "2015-12-17T19:15:00+01:00" | "2020-01-30T13:15:04.743000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-bei-promis-es-kommt-nicht-auf-die-absicht-an-100.html | 978 |
"In Deutschland kann man nicht ungestört auftreten als Diktator" | Der frühere Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck (Bodo Marks/dpa)
Dirk-Oliver Heckmann: Wir sind jetzt telefonisch verbunden mit Volker Beck, lange Jahre Mitglied des Deutschen Bundestags, lange erster parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen und Menschenrechts-, innenpolitischer, religions- sowie migrationspolitischer Sprecher, schönen guten Tag, Herr Beck!
Volker Beck: Guten Tag!
Heckmann: Herr Beck, der Erdogan-Besuch sorgt für Streit und Diskussionen. Auch gestern bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Angela Merkel, da ist ein türkischstämmiger Pressefotograf von BKA-Beamten aus dem Saal geführt worden, weil er ein T-Shirt trug mit der Forderung nach Pressefreiheit. Welches Signal geht von einer solchen Aktion aus, dass man diesen Mann da rausbringt?
Beck: Zunächst mal ist die Botschaft dieser Aktion. In Deutschland kann man nicht ungestört auftreten als Diktator, ohne dass man an die Menschenrechte erinnert wird, und deshalb fand ich es eigentlich eine gute und verständliche Aktion des Journalisten. Die Bundesregierung sagt nun, es gelt da wie im Bundestag: keine Transparente, sondern nur Antwort und Frage seien zugelassen als Artikulation. Ich kann das verstehen, aber ich kann es nicht recht nachvollziehen, weil derjenige hat ja keine Politik gemacht, sondern er hat sich nur für Pressefreiheit eingesetzt bei einem Presseevent. Das scheint mir eigentlich durchaus der Sache nach angemessen gewesen zu sein, und deshalb fand ich es übertrieben, dass man ihn da von der Pressekonferenz entfernt hat.
Heckmann: Welches Signal geht denn davon aus, dass man ihn da rausgebracht hat und Erdogan sich das so lächelnd anschauen kann?
Beck: Na ja, das Signal ist das Signal des ganzen Besuches ein Stück weit. Man versucht, einerseits die Beziehungen zur Türkei weiter auszubauen oder zu retten, und andererseits muss man dafür einen Preis zahlen wie bei dem ganzen protokollarischen Gehabe mit Herrn Erdogan, den man eigentlich nicht zahlen möchte, weil man damit immer einem Staatspräsidenten huldigt, der seine Gegner ins Gefängnis sperrt und die Menschenrechte nicht achtet.
Heckmann: War es also falsch, Erdogan den roten Teppich auszurollen?
Beck: Ich hätte mir gewünscht, dass man beim Protokoll etwas tiefer ansetzt. Ich kenne die internen Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und türkischen Regierung nicht, wir kennen die alle nicht, bezüglich der Frage, welchen Preis es gehabt hätte, wenn wir das nicht so protokollarisch als Staatsbesuch gemacht hätten.
"Bundesregierung hat Interesse, Beziehung nicht ganz sterben zu lassen"
Heckmann: Dann wäre er vielleicht nicht gekommen.
Beck: Ja, das kann sein. Es gibt natürlich gemeinsame strategische Interessen von Deutschland und der Türkei, unabhängig von der aktuellen Regierung, weshalb die Bundesregierung natürlich ein Interesse hat, diese Beziehung nicht ganz sterben zu lassen.
Heckmann: Zum Beispiel die Lage in Syrien, zum Beispiel die Flüchtlingssituation.
Beck: Ja, die Sicherheitslage in der ganzen Region, die Flüchtlingssituation und auch eben die Bereitschaft der Türkei, diese drei Millionen Flüchtlinge im Land zu halten, und da gibt es schon Gründe dafür, dass man das nicht ganz einfriert, aber man kann es eben immer an diesen Grenzen, wie in der Situation mit dem Journalisten, ein Stück weit auch zeigen, dass man nicht einverstanden ist. Präsident Steinmeier hat das gestern zum Beispiel während des Staatsbanketts gemacht und damit den Staatspräsidenten verärgert. Ich fand das eine richtige Geste, damit klar ist, hier sitzen wir nicht unter Freunden zusammen, sondern hier sitzen wir unter auf der einen Seite Demokraten und dann auf der anderen Seite ein Diktator.
Heckmann: Cem Özdemir, der ist ja hin zum Staatsbankett, anders als andere Oppositionspolitiker, die das Treffen des Banketts boykottiert haben. Özdemir sagte, Erdogan müsse ihn aushalten, und beim Handshake, da habe er ihm Folgendes gesagt, ich zitiere mal: "Ich hoffe, dass es nachher noch eine Gesprächsmöglichkeit gibt, und ich bedaure, dass von dem früheren Erdogan nichts mehr übrig ist", Zitat Ende, und auf seinem Revers, da trug Özdemir einen Button, auf dem auf Türkisch stand: Geben Sie Meinungsfreiheit. Und auch Angela Merkel und Steinmeier, der Bundespräsident, die hielten ja mit Kritik nicht vorm Berg, Sie haben es gerade eben schon gesagt. Ist dieser Besuch also nicht auch eine gute Gelegenheit, den deutschen Standpunkt klarzumachen und dennoch wieder ins Gespräch zu kommen?
Beck: Das ist zumindest die Intention. Ich weiß nicht, ob es so recht gelungen ist.
Heckmann: Herr Beck, Sie müssten vielleicht kurz ein bisschen versuchen, noch mal etwas näher ans Handy ranzugehen, wir haben gerade einen sehr gestörten Empfang.
Beck: Okay. Also man versucht natürlich, diesen Besuch dafür zu nutzen - das ist sehr sicher die Intention und auch die legitime Intention der Bundesregierung -, ob es wirklich gelungen ist in den internen Gesprächen bei den Fragen, an denen man gemeinsam arbeiten kann und arbeiten muss, gelungen ist, das kann man von außen jetzt schwer beurteilen. Bislang gibt es da, meines Erachtens, keine belastbaren, dahingehenden Informationen.
Ein Gebäude als "Versprechen" an die Gesellschaft
Heckmann: Heute Nachmittag soll also die Zentralmoschee der Ditib in Köln eröffnet werden. Die galt ja mal als Zeichen der Integration und des Dialogs. Auch Sie haben das damals ja so gesehen. Haben Sie sich da getäuscht?
Beck: Ich habe es zunächst mal gesehen als ein berechtigtes Interesse einer Gemeinschaft von Gläubigen, ein Gotteshaus zu errichten, das den Ansprüchen an Repräsentativität und dergleichen genügt. Dieses Gebäude und das architektonische Konzept ist ja ein Versprechen der Ditib an die Gesellschaft, an Transparenz und Offenheit und auch Zuwendung an die Modernität und an unser Land. Dieses Versprechen hat die Ditib natürlich in den letzten Jahren überhaupt nicht eingelöst, sie hat sich eigentlich in eine gegenteilige Richtung entwickelt, und es ist schon fast tragisch, dass heute ohne Beteiligung deutscher Repräsentanten dieses Gebäude quasi dann von Erdogan in Besitz genommen wird, aber das ist gegenwärtig die Politik der Ditib, so wie sie handeln beziehungsweise so hat sie nach Ankaras Wunsch zu handeln, und wir werden hier weiter die Auseinandersetzung suchen müssen.
Ich glaube, wir müssen gerade gegenüber der Ditib, in der wirklich ganz viele auch demokratisch gesinnte Menschen engagiert sind, klarmachen, dass sie mit diesem Kurs nicht als Kooperationspartner des deutschen Staates infrage kommt, aber dass wenn muslimische Religionsgemeinschaften sich von diesen politischen Herkunftsländern und Parteien lösen und wirklich echte Religionsgemeinschaften sind, dass sie dann natürlich die gleichen Rechte bekommen bei uns wie die Kirchen auch, weil wir haben kein christliches Recht, sondern wir haben ein religionsfreiheitliches Recht.
Heckmann: Volker Beck war das von Bündnis 90/Die Grünen live hier im Deutschlandfunk. Die schlechte Tonqualität, die bitten wir zu entschuldigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Volker Beck im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | Mit dem Staatsbesuch für Erdogan habe die Bundesregierung einem Präsidenten gehuldigt, "der seine Gegner ins Gefängnis sperrt und die Menschenrechte nicht achtet", sagte der Grünen-Politiker Volker Beck im Dlf. Der Moscheeverband Ditib könne mit seinem derzeitigen Kurs nicht Kooperationspartner des deutschen Staates sein. | "2018-09-29T12:10:00+02:00" | "2020-01-27T18:13:19.194000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/beck-gruene-zu-erdogan-in-deutschland-kann-man-nicht-100.html | 979 |
"Wo immer es auf der Welt geht, Flüchtlinge aufnehmen" | Jürgen Zurheide: Über das Schicksal der syrischen Flüchtlinge wollen wir reden mit Cornelia Füllkrug-Weitzel, der Direktorin von "Brot für die Welt" und der Diakonie Katastrophenhilfe. Zunächst einmal schönen guten Morgen!Cornelia Füllkrug-Weitzel: Guten Morgen, Herr Zurheide!Zurheide: Zunächst einmal: Unterscheidet sich Syrien eigentlich von anderen Konfliktherden, die Sie weltweit kennen? Sie sind in Syrien gewesen, aber eben auch in vielen anderen Ländern, weil dieses Leid Sie immer wieder auch beruflich beschäftigt. Gibt es da Unterschiede?Füllkrug-Weitzel: Im Moment ist sicherlich Syrien in einer ganz besonderen Lage weltweit, weil in Syrien eben große Teile des Landes unter Gewalthandlungen stehen, das heißt also, es ist für die Menschen in Syrien jetzt auch ganz wahnsinnig schwierig geworden, innerhalb des Landes noch Bleiben zu finden, wo sie einigermaßen sicher für eine Weile leben können. Viele Flüchtlige in Syrien, die Mehrheit der Flüchtlinge in Syrien lebt ja auch in Syrien selbst, also 4,25 Millionen Menschen derer, die ihr Haus verlassen mussten, driften in Syrien selber rum, und für die ist es immer schwieriger, überhaupt noch einen Ort zu finden. Das ist vielleicht ungewöhnlich, weil hier das ganze Land inzwischen in den Konflikt einbezogen ist.Zurheide: Welche Rolle spielte eigentlich die religiöse Zugehörigkeit in dem Zusammenhang? Wir hören ja oft davon, dass auch die Christen dann ganz besonders unter Druck stehen? Oder gilt das eigentlich für alle wechselseitig irgendwo, weil alle nirgendwo mehr richtig sicher sind?Füllkrug-Weitzel: Genau, Letzteres. Also die Christen waren sehr stark betroffen. Viele sind ja inzwischen in den Libanon ausgewandert. Aber generell gilt es bei diesen ständig wechselnden Fronten und auch bei der sehr unterschiedlichen Zusammensetzung, auch innerhalb der Opposition, dass immer irgendjemand sich meint, an irgendjemandem rächen zu müssen oder irgendjemandem zum besonderen Feind anerkannt zu haben ... Also die Grundtatsache der Toleranz, der religiösen Toleranz ist absolut nicht gegeben, und zwar von allen Seiten nicht.Zurheide: Wenn wir jetzt mal fragen: Wenn Sie als Hilfsorganisation - für Ihre Organisation, aber auch für andere gilt das ja -, wenn Sie dann im Land was tun wollen, mit wem kann man überhaupt noch kooperieren? Kann man sich auf irgendetwas noch verlassen, geht das überhaupt noch?Füllkrug-Weitzel: Ja, das ist genau das Problem, in Syrien ist es extrem schwierig, die Neutralität der humanitären Hilfe zu wahren, die wiederum ist eine der Grundvoraussetzungen und Grundprinzipien der humanitären Hilfe überhaupt. Nur wenn humanitäre Hilfe neutral bleiben kann, hat sie überhaupt eine Zulassung sozusagen durch die Regierung in der Regel. Es ist aber wahnsinnig schwierig hier, zu durchschauen, wer ist wer, und in welchem Gebiet operieren wir, und wer könnte uns instrumentalisieren oder wer versucht es, wer versucht, die Hilfe zu missbrauchen? Nichtsdestotrotz muss man es einfach tun, denn die Menschen können ja nichts dafür, und insofern, ja, war es in Syrien von Anfang an extrem schwierig. Am Anfang war es vielleicht noch schwieriger: Solange ganz klar war, dieses Gebiet ist rein in der Hand der Opposition und dieses Gebiet ist rein in der Hand des Landes, wurde man dann entsprechend zugeordnet. Inzwischen sind die Fronten ja sehr wirr und täglich wechselnd. Da ist dann das größere Problem vor allen Dingen auch der Zugang, weil viele Straßen gesperrt sind, egal welche Seite, egal welche Kämpfertruppen, auch die Opposition ist ja in sich sehr zerspalten, alle blockieren die Straßen und versuchen, entweder was von den Hilfsgütern abzupressen, oder lassen einfach überhaupt niemanden durch. Also inzwischen ist das größte Problem nicht die politische Neutralität oder Nicht-Neutralität, sondern der Zugang überhaupt.Zurheide: Das hört sich alles nicht sehr ermutigend an. Dann schauen wir in die Nachbarländer, die leiden ja dann unter dem anderen Flüchtlingsstrom, das heißt, diejenigen, die nicht im Land unterkommen, die fliehen außerhalb, nur, die Lage da ist ja auch schwierig. Wenn ich an Jordanien denke, ein Land, was ohnehin mit eigenen Flüchtlingen zu tun hat und das kaum beherrscht – wie dramatisch ist da die Lage?Füllkrug-Weitzel: Die Lage in Jordanien und im Libanon ist sicherlich in besonderer Weise dramatisch. In Jordanien leben inzwischen über eine halbe Million Flüchtlinge aus Syrien. Es gab am Anfang den Versuch, die in Satari, in einem großen Camp an der Grenze aufzufangen. Dieses Camp war ursprünglich für 60.000 Flüchtlinge ausgelegt, da leben inzwischen 140.000. Es ist mithin die fünftgrößte Stadt Jordaniens geworden, was keine sehr gesunde Situation ist. Aber wie gesagt, es leben über 500.000 Menschen in Jordanien aus Syrien, 140.000 nur in Satari, das heißt, der Rest lebt in zum Teil kleineren, schnell errichteten Lagern, aber die wesentliche Mehrheit lebt in den Städten, in den Dörfern, ist untergekommen bei Verwandten, Bekannten. Ich war am Anfang dieses Jahres in Jordanien selber, muss sagen, ich war unglaublich beeindruckt von der Gastfreundschaft der Bevölkerung, die wirklich auch das letzte Hemd noch geteilt haben mit den Flüchtlingen und sie in ihre eigenen Räume mit aufgenommen haben, aber natürlich alle immer in der Erwartung, na ja, das wird so vielleicht drei Monate gehen und dann ist es vorüber, aber statt, dass es vorüber ist, dauert es immer länger und es kommen immer mehr. Jordanien ist sehr an der Grenze seiner Belastungsfähigkeit, das betrifft die einzelnen Familien, sowohl die Flüchtlingsfamilien wie die gastgebenden Familien, das betrifft aber auch die gesamte Gesellschaft, die wirklich am absoluten Rand auch der sozialen Stabilität ist dadurch. Und wenn Sie in den Libanon blicken, Sie hatten ja den Bericht aus dem Libanon eben: Libanon ist ein Land so groß wie Hessen, und in diesem Land allein haben jetzt schon über 712.000 Menschen Zuflucht gefunden. Da können Sie sich vorstellen, was das bedeutet, zumal im Libanon fast keine Lager möglich sind aufgrund der politischen Situation. Das heißt, die absolute Mehrheit dieser Menschen lebt auch wiederum in den Dörfern. Ja, das ist ein Wechsel der Bevölkerung gegenwärtig dann.Zurheide: Wenn ich dann jetzt gerade mal die Parenthese aufmache und sage, in Deutschland sind 5000 libanesische Flüchtlinge, die aufgenommen werden sollen, da gibt es dann schon Diskussionen, ob wir das können - das mutet dann einigermaßen schwierig an. Ich will aber da gar nicht weiter drauf eingehen, nur mal die Frage stellen: Okay, ist es dann eine Lösung, die Menschen hierhin zu holen auf Dauer?Füllkrug-Weitzel: Es muss vielfältige Lösungen geben, eine Lösung ist die bessere Versorgung in den gastgebenden Ländern, weil es ... Der UNHCR, der dafür zuständig ist, das Flüchtlingskommissariat der UN, hat selbst von den ursprünglichen Zusagen - und die waren relativ am Anfang des Krieges gemacht worden, als es noch gar nicht diese Dimensionen hatte -, noch nicht mal ein Drittel der zugesagten Gelder erhalten, hat also riesige Versorgungsschwierigkeiten, riesige Finanzschwierigkeiten. Das muss also ganz schnell klargestellt werden, dass die internationale Gemeinschaft da den UNHCR angemessen finanziell ausstattet. Und man muss natürlich trotzdem auch in den europäischen Ländern und wo immer es auf der Welt geht, Flüchtlinge aufnehmen, einfach aus dem Grund, um ihnen einen sicheren Unterschlupf zu gewähren, denn natürlich: Auch die Nachbarländer sind ja in einer permanenten Phase der Destabilisierung, und wann die Kriegshandlungen überspringen, Beispiel Libanon, weiß man nicht. Also 5000 ist gewisslich von Ferne keine angemessene Zahl, 5000 entspricht der Zahl, die täglich neu zu Flüchtlingen werden in Syrien.Zurheide: Das war Cornelia Füllkrug-Weitzel, Direktorin "Brot für die Welt" und der Diakonie Katastrophenhilfe. Ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch, danke schön!Füllkrug-Weitzel: Vielen Dank, Herr Zurheide!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Cornelia Füllkrug-Weitzel im Gespräch mit Jürgen Zurheide | Die internationale Gemeinschaft müsse der UN-Flüchtlingskommission für die Hilfe von Syrern dringend mehr Geld geben, fordert Cornelia Füllkrug-Weitzel, Direktorin von Brot für die Welt. Die hohe Zahl der Flüchtlinge destabilisiere zudem die Nachbarländer. | "2013-09-14T06:50:00+02:00" | "2020-02-01T16:35:34.795000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/wo-immer-es-auf-der-welt-geht-fluechtlinge-aufnehmen-100.html | 980 |
"Als Friseur lebt man viel von seinem Trinkgeld" | Dennis mag seinen Job als Friseur. Allerdings geht das viele Stehen auf den Rücken, das merkt er schon nach wenigen Berufsjahren. (privat)
Was verdienen Sie?
"Ich werde übertariflich bezahlt, das ist ganz gut. Und ich komme jeden Monat weit über 1.200 Euro netto. Als Friseur lebt man auch viel von seinem Trinkgeld, Einkäufe, Solarium, was weiß ich – solche Sachen bezahlt man überwiegend von seinem Trinkgeld. Ich muss quasi nie zur Bank gehen, um Geld abzuheben. Dementsprechend kann man sich eben ein bisschen was ansparen, wenn man sparsam damit umgeht."
Was war beim Berufseinstieg anders als erwartet?
"Vom Arbeiten her eigentlich nicht so viel. Der Übergang vom einen Salon in den nächsten, weil ich mit Bestehen der Gesellenprüfung den Salon verlassen habe und für mich entschieden habe, den Salon zu wechseln. Was ganz gut geklappt hat."
In der Reihe „Karrierestart“ erzählen junge Menschen, wie sie den Start in den Beruf erlebt haben (imago images / alimidi)
Was an Ihrem Job macht Spaß?
"Der tägliche Kontakt mit Menschen. Ich freue mich immer, neue Kunden dazuzugewinnen. Kunden beraten zu dürfen. Manchmal auch, wenn man Kunden hat, die unsicher sind, denen ein bisschen mehr Selbstbewusstsein zu geben, indem man sagt, wir machen deinen Bart und deine Haare, und am Ende sind die zufrieden und gehen mit einem Lächeln raus, das ist eigentlich immer das Schönste. Das fühlt sich gut an."
Was an Ihrem Job nervt manchmal?
"Es ist ein sehr undankbarer Job auch ganz oft. Weil die Kunden so tun, als ob die Friseure so billige Arbeitskräfte sind. Die dann fragen: Warum ist das bei euch so teuer? In der Stadt bezahle ich nen Zehner. Oder: Warum braucht ihr so lange? Warum nur auf Termin? Das sind oft Sachen, die mich nerven. Wenn die Kunden so undankbar sind. Obwohl man denen vorher erklärt hat, was Sache ist."
Wurden Sie für den Joballtag gut ausgebildet?
"Also ich habe in einem guten Salon gelernt, habe mir viel abgeguckt, viel zugehört, und dadurch habe ich schon sehr viel gelernt. Es gab eigentlich nichts, wo ich nach der Ausbildung unsicher war oder nicht wusste, wie ich an eine Sache ranzugehen habe. Eigentlich war ich auf alles gut vorbereitet. Es gibt immer mal wieder so kleine Situationen, aber ich glaube, das liegt dann eher an den Kunden als an der Aufgabe an sich."
Und sonst so?
"Es ist eigentlich ein schöner Job. Es macht Spaß. Ob ich das für immer machen könnte - ehrlich gesagt, ich glaube nicht. Ich in meinen jungen Jahren merke schon: Ich habe Rückenprobleme, man steht viel. Das ist ein Punkt. Und man hat auch nicht so krasse Aufstiegschancen meiner Meinung nach. Man kann zwar seinen Meister noch machen, dass man ein besseres Gehalt kriegt, Seminare besuchen ohne Ende, aber ich glaube, irgendwann ist Schluss. Dass man irgendwann an einem Punkt angelangt ist als Friseur, wo es meiner Meinung nach nicht weitergeht. Früher war mal mein Plan, Erzieher zu werden oder sozialpädagogischer Assistent, vielleicht kann ich es mir eines Tages vorstellen, noch einmal in solch eine Richtung zu gehen." | Von Astrid Wulf | Dennis Piontkowski schneidet seit zweieinhalb Jahren beruflich anderen Menschen die Haare. Er mag seine Arbeit und kann davon gut leben, sagt er. Den Job bis zur Rente zu machen, kann er sich aber eigentlich nicht vorstellen. | "2019-10-25T14:35:00+02:00" | "2020-01-26T23:13:49.238000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/dennis-piontkowski-friseur-als-friseur-lebt-man-viel-von-100.html | 981 |
Anwaltverein will "Mord" abschaffen | Wenn es nach dem Deutschen Anwaltverein, dem größten juristischen Berufsverband der Bundesrepublik, geht, gibt es am Ende dieser Legislaturperiode in Deutschland keine Mörder mehr. Nicht weil Menschen sich nicht mehr töten, sondern weil es dann den Tatbestand des Mordes im Strafgesetzbuch nicht mehr gäbe. "Absurd", "widersinnig", "ein Relikt nationalsozialistischer Rechtsideologie" – so beschreibt der Präsident des Anwaltvereins, Wolfgang Ewer, Paragraf 211 des Strafgesetzbuches, der regelt, wer als Mörder mit lebenslangem Freiheitsentzug zu bestrafen ist.
Die Kritik der Anwälte, die auch von namhaften Rechtswissenschaftlern, Richtern und Rechtspolitikern seit Langem formuliert wird, setzt an der Systematik des Strafgesetzbuches an. Während dort normalerweise Merkmale einer Tat definiert werden, beschreibt der Mordparagraph persönliche Eigenschaften des Täters: Habgier, Heimtücke, niedrige Beweggründe – Motive und Charaktereigenschaften von Menschen werden hier zum Auslöser der härtesten Sanktion des Strafrechts. Die Konsequenz, so Anwaltspräsident Ewer, zeige sich besonders bei Beziehungsstraftaten:
"Heimtücke, meine Damen und Herren, ist typischerweise das Mordmerkmal der Schwachen. Statistisch gesehen ist es das Mordmerkmal der Frauen."
Heimtücke und damit Mord bedeutet in der Definition der Juristen: die Arglosigkeit des Opfers auszunutzen - Arsen in den Wein träufeln, von hinten erschießen, im Schlaf erdrosseln. Wer sein Opfer dagegen in offener Konfrontation umbringt, hat nach geltendem Recht bessere Chancen, mit einer geringeren Strafe wegen Totschlags davon zu kommen.
"Eine schwache Ehefrau, die den gewalttätigen Ehemann nachts im Schlaf oder mit Gift tötet, wird wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Schlägt er sie im Streit zu Tode, wird er nur wegen Totschlags von fünf bis fünfzehn Jahren verurteilt."
Fall Marianne Bachmeier macht die Problematik deutlich
Als prominentes Beispiel für die Problematik verweisen die Anwälte auf den berühmten Fall Marianne Bachmeier. In einem Akt spektakulärer Selbstjustiz hatte Bachmeier 1981 den mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter im Gerichtssaal hinterrücks erschossen. Nur durch eine gewagte Rechtsauslegung gelang es den Richtern später, eine Verurteilung Bachmeiers wegen heimtückischen Mordes zu vermeiden. In anderen Fällen wurden trotz der scheinbar eindeutigen Sanktion des Mordparagraphen Täter zu befristeten – also nicht lebenslänglichen - Freiheitsstrafen verurteilt, wenn ihnen mildernde Umstände zugebilligt wurden.
Für den Strafverteidiger Stefan König, der an einem Reformkonzept des Anwaltvereins mitgearbeitet hat, geht es deshalb auch um eine Änderung der rigiden Strafandrohung des geltenden Rechts.
"Entscheidend ist aus unserer Sicht: Es muss einen Ausweg aus dieser – ich sage es mal so – Falle der absoluten Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe geben, die es den Richtern erspart, solche Verrenkungen zu machen, wie sie heutzutage häufig vorkommen."
Nicht mehr Mord und Totschlag, sondern nur noch ein Tötungstatbestand mit einer Variante für minderschwere Fälle soll das Strafgesetzbuch nach dem Reformvorschlag des Anwaltvereins künftig haben.
Eine ähnliche Initiative hatte Ende letzten Jahres auch die schleswig-holsteinische Justizministerin Anke Spoorendonk vom Südschleswigschen Wählerverbund vorgestellt. Im Kreis der Landesjustizminister stieß die damit bisher auf wenig Resonanz. Der Vorschlag des Anwaltvereins liegt jetzt auf dem Schreibtisch des neuen Bundesjustizministers Heiko Maas. | Von Stefan Detjen | Paragraf 211 des Strafgesetzbuches regelt, wer als Mörder mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft wird. Entscheidend dabei sind die persönlichen Eigenschaften und Motive des Täters. Wer also aus Habgier und niedrigen Beweggründen handelt, muss meist länger ins Gefängnis als wenn er im Affekt handelt. Eine Initiative des Anwaltvereins will das ändern. | "2014-01-15T00:00:00+01:00" | "2020-01-31T13:21:47.416000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/justizreform-anwaltverein-will-mord-abschaffen-100.html | 982 |
Der Winzer Reinhard Löwenstein | Der Winzer Reinhard Löwenstein (ANDREAS DURST)
Löwenstein plädiert vehement für unverfälschte, natürliche Weine ohne Reinzuchthefen und ohne Mineraldünger. Und er hat sich damit nicht nur Freunde gemacht. Reinhard Löwenstein hat den Deutschen das französische Wort Terroir ins Bewusstsein gebracht, das besagt, dass Ort, Boden und Klima den Geschmack prägen sollen und nicht die Technik. Spätestens seit dem Erscheinen seines Buches "Terroir. Weinkultur und Weingenuss in einer globalen Welt" im Jahr 2009 ist er als Gegner einer "Infantilisierung des Geschmacks“ bekannt. Er wettert gegen die künstlichen Frankenstein-Weine, die in Laborkellern verändert werden.
Im Jahr 1980 war der studierte Agrarwissenschaftler als Winzer gestartet. An der Terrassenmosel nahe Koblenz pflegt Löwenstein an extrem steilen Schieferhängen seine Weinstöcke, deren Wurzeln bis zu 25 Meter in die Erde dringen und das hervorbringen, was man dann im Wein wiederfindet: als Mineralität. | Im Gespräch mit Klaus Pilger | Der Weinrebell, der Weinphilosoph, der Schieferflüsterer - Reinhard Löwenstein hat eine Menge Attribute bekommen. Der streitbare Winzer aus Winningen an der Untermosel kritisiert industriell verarbeitete Fast-Food-Weine.
| "2019-07-14T13:30:00+02:00" | "2020-01-26T22:55:39.385000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/musik-und-fragen-zur-person-der-winzer-reinhard-loewenstein-100.html | 983 |
Chinas politische Agenda | Schon mal üben für das große Gruppenfoto im September. Im vergangenen Monat kamen die Chefunterhändler der G-20 zu einem ersten Vorbereitungstreffen in Peking zusammen – zum sogenannten Sherpa-Treffen. China will nicht nur ein guter Gastgeber sein, sondern auch was erreichen, das machte der chinesische G-20-Beauftragte Yang Jiechi klar.
"Als vorsitzendes Land freut sich China darauf, mit allen Seiten gut zusammenzuarbeiten, sodass wir beim G-20-Gipfel in Hangzhou positive Ergebnisse erzielen werden. Das ist wichtig für die Weltwirtschaft und es ist der Wunsch der internationalen Gemeinschaft."
Die G-20 – eigentlich ein loser Zusammenschluss von Wirtschaftspartnern – ist in den vergangenen Jahren politischer geworden. Doch das ist kein Widerspruch, sagt Professor Zhao Xijun von der Pekinger Renmin-Universität. China könne sogar davon profitieren:
"Die Bewältigung der Finanzkrise ist zuletzt immer unwichtiger geworden. Wichtiger wurde die Frage, wie man dafür sorgen kann, dass die Wirtschaft wächst und sich die Welt weiter entwickelt. Und wegen politischer Veränderung und der Bedrohung durch den Terrorismus war die G-20 dazu gezwungen, genau darüber diskutieren. Doch ich würde sagen, diese Themen hängen mit Wachstum und Entwicklung zusammen."
Auf dem G-20-Gipfel im vergangenen November in Antalya war auf einmal Terrorismusbekämpfung mit auf der Tagesordnung. Grund waren die Anschläge von Paris wenige Tage zuvor. Die Wirtschaftsthemen waren auf einmal nicht mehr so wichtig. Vor einem solchen Szenario muss sich China nicht fürchten, sagt Mikko Huotari.
"China ist eine der wichtigsten Militärmächte, China hat eine große Agenda im Bereich der Anti-Terrorbekämpfung. Dementsprechend, ja, China kann das, wird aber solche Themen nur mit Blick auf aktuelle Anlässe auf die Agenda heben."
Huotari leitet das Programm Außenpolitik beim Berliner Mercator Institut für China-Studien, kurz MERICS.
"China hat ein großes Ziel: Das sind vor allem Aktivitäten, die die chinesische Regierung sowieso unternimmt, das heißt, mit Focus auf den Infrastrukturausbau, die Finanzierung von großen Infrastrukturprojekten – auch im Ausland, außerhalb Chinas – das im Rahmen der G-20 auch voranzutreiben."
China wird deswegen auch mit Sicherheit seinen G-20-Vorsitz dafür nutzen, um Werbung für die neu gegründete Asiatische Infrastruktur-Investmentbank zu machen. Das Land hat den Vorsitz bei der AIIB, wie sie auch genannt wird - und steckt das meiste Geld hinein. Unter anderem Japan und die USA sehen das kritisch. Sie machen nicht mit bei der Entwicklungsbank und befürchten, dass Menschenrechte und Umweltschutz ausgehebelt werden könnten – und China über die Bank politisch Einfluss nehmen könnte. Der regierungsnahe Professor Zhao Xijun von der Pekinger Renmin-Universität hält die Sorgen für unbegründet.
"Die AIIB ist ein Neuling und wird sich an die Spielregeln halten, die beispielsweise durch die Weltbank eingeführt wurden. Also, egal, was die chinesische Regierung will, die AIIB wird den Regeln für Finanzinstitute folgen. Es handelt sich hier nicht um eine chinesische Einrichtung, es handelt sich um eine internationale Einrichtung. Und deswegen ist die AIIB nicht abhängig von Chinas politischen Entscheidungen."
Neben der Förderung von Infrastrukturprojekten hat sich China einiges für seine Präsidentschaft vorgenommen. Die G-20 soll reformiert werden: Von einem Krisenmanager hin zu einer Plattform, die langfristig plant und zielorientiert handelt. Und Wachstum soll weltweit nachhaltiger gestaltet werden. Doch wie das im eigenen Land funktionieren könnte, versucht China gerade, selbst rauszufinden.
"Die Regierung hat derzeit sicherlich große Schwierigkeiten und auch zuhause viel zu tun. Das bedeutet aber nicht, dass die Wichtigkeit dieses Gipfels und eben der Anspruch, dort Führung auszuüben, dadurch unbedingt beeinträchtigt wird."
Sagt Mikko Huotari vom China-Thinktank MERICS.
"Und was für die chinesische Führung natürlich auch wichtig ist, die eigenen Themen – genau diesen Strukturwandel, den Infrastrukturausbau – dann auch auf die G-20-Agenda zu setzen. Das heißt, zu verknüpfen, die Aufgaben, die sie zuhause haben, mit den Themen, die sie international vorantreiben wollen." | Von Benjamin Eyssel | Abstürzende Börsenkurse, ein langsameres Wachstum: Die Nachrichten, die in den vergangenen Monaten aus China kamen, waren alles andere als positiv. Und ausgerechnet in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten hat China die G-20-Präsidentschaft, den Vorsitz der Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Die Vorbereitungen für den Gipfel im September laufen. | "2016-02-20T13:30:00+01:00" | "2020-01-29T18:14:53.919000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/g-20-praesidentschaft-chinas-politische-agenda-100.html | 984 |
Löhrmann: Wir wollen "die Systemumstellung behutsam machen" | Manfred Götzke: Wie weit ist Deutschland bei der Inklusion, also beim gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Schüler? Die Bertelsmann-Stiftung hat dazu Montag neue Zahlen veröffentlicht, und die fallen sehr durchwachsen aus. Während in Schleswig-Holstein mehr als 50 Prozent der Förderschüler Regelschulen besuchen, sind es in NRW weniger als 20 Prozent. Gestern hat das Landeskabinett in Nordrhein-Westfalen einen Gesetzentwurf zur Inklusion beschlossen, demnach soll es ab 2014 auch auf Landesebene einen Rechtsanspruch auf Inklusion geben – allerdings mit so einigen Vorbehalten, und über die möchte ich jetzt mit Schulministerin Sylvia Löhrmann sprechen. Guten Tag, Frau Löhrmann!Sylvia Löhrmann: Guten Tag, Herr Götzke!Götzke: Frau Löhrmann, der größte Vorbehalt ist, Kommunen können ihre Zustimmung zur Inklusion verweigern, wenn der Aufwand für den gemeinsamen Unterricht unvertretbar ist. Warum treten Sie bei der Inklusion so hart auf die Bremse?Löhrmann: Wir treten nicht auf die Bremse, Herr Götzke, und ich will auch zunächst sagen, dass die Zahlen der Bertelsmann-Stiftung vom Jahr 2011/2012 sind, und wir haben erfreulicherweise aufgrund eines Erlasses, den ich gegeben habe im Jahr 2010, haben wir fünf Prozentpunkte zugelegt, wir sind also inzwischen auch bei 24,6 Prozent angelangt. Also ein Viertel der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernt auch bei uns in Nordrhein-Westfalen inzwischen in allgemeinen Schulen, wir haben in den letzten zwei Jahren hier deutlich aufgeholt.Götzke: Immer noch halb so viel wie Schleswig-Holstein.Löhrmann: Ja, richtig. In Schleswig-Holstein hat es länger schon eine Kultur gegeben, das auszuweiten. Das hat damals die Große Koalition gemacht in Schleswig-Holstein, und hier in Nordrhein-Westfalen ist in den Zeiten der Rüttgers-Regierung leider sehr wenig passiert. Und wir holen aber auf, und unsere Regierung will offensiv hier fortfahren. Wir wollen aber auch die Systemumstellung behutsam machen, um die Menschen, die Beteiligten, die Schulen, die Kommunen nicht zu überfordern, weil es bei diesen Thema auch große Ängste gibt, und deswegen kann man das nicht per Knopfdruck machen, und deswegen muss man in so einem großen Land wie Nordrhein-Westfalen das berücksichtigen, wenn es etwas langsamer geht, aber dafür sorgfältig, und Schritt für Schritt in die richtige Richtung.Götzke: Frau Löhrmann, welcher Aufwand vertretbar ist, und welcher nicht, da wird die Meinung von betroffenen Eltern und Kommunalvertretern ja auseinandergehen. Warum überlassen Sie die Inklusion damit der Entscheidung von Bürgermeistern?Löhrmann: Das ist keine Entscheidung von Bürgermeistern, sondern wir schaffen ein Gesetz und haben es dem Landtag zugeleitet, in dem die Eltern grundsätzlich das Recht auf eine allgemeine Schule bekommen, aber nicht von vornherein auf jede allgemeine Schule, weil wir möchten die Ressourcen ja auch bündeln. Wir wollen, dass die Kommunen Schwerpunktschulen bilden können, damit mehr Kinder dann in diesen Schulen gemeinsam lernen und dort dann auch Sonderpädagogen dazukommen können, dort die Lehrerressource ausgebaut wird. Weil sonst würde sich das zu sehr gießkannenmäßig verteilen, die Ressourcen, die wir vorsehen. Und den Vorbehalt, nach dem Sie eben gefragt haben: Das ist kein unübliches Instrument, das gilt für das Land und die Kommunen, wenn nicht im vertretbaren Aufwand die Bedingungen geschaffen werden können, dann kann es eine Ausnahme geben. Wir haben aber in den letzten zwei Jahren, seit wir hier die Regierungsverantwortung haben, …Götzke: Aber was ist denn vertretbar, Frau Löhrmann?Löhrmann: … so gut wie keine Ablehnung mehr gehabt, schon ohne gesetzliche Grundlage. Eine vertretbare Ausnahme ist möglicherweise, wenn ein Kind mit einer motorischen Einschränkung in eine besondere Schule möchte, wo in vertretbarem Zeitraum etwa kein Aufzug oder sonstiges Material bereitgestellt werden kann. Das ist aber zu begründen, und das sind Ausnahmefälle, und das ist ein sogenannter Realisierungsvorbehalt, der auch für andere Gesetze gilt. Ich glaube, trotzdem werden wir einen Schub auslösen.Götzke: Nun hätten Sie ja auch alternativ sagen können, wir statten die Kommunen finanziell stärker aus, damit sie Inklusion besser ermöglichen können und nicht nur möglicherweise in einer Schule oder auch in gar keiner.Löhrmann: Ja, wir haben in Nordrhein-Westfalen in allen Kreisen und in allen kreisfreien Städten schon heute durchaus vorzeigbare Inklusionsquoten, manchmal nur zehn Prozent, in anderen Städten aber an die 40 Prozent – also das variiert in Nordrhein-Westfalen, nur das wollen wir natürlich nicht mehr dem Zufall überlassen. Und die Frage ist: Ist das eine neue Aufgabe für die Kommunen oder ist es das nicht? Das ist der Streit, das ist die Auseinandersetzung. Wir sind der Auffassung, es ist keine neue Aufgabe, weil wir seit 30 Jahren gemeinsam Unterricht haben in Nordrhein-Westfalen, der stetig auswächst, und wir verändern sie auch …Götzke: Seit 30 Jahren aber nur an ganz wenigen Schulen.Löhrmann: Natürlich, wir waren in den 80er-Jahren von vier neuen Schulen – ich war letztens beim 30. Geburtstag dieser Schule –, war in Nordrhein-Westfalen eine von vier Schulen, die damit angefangen haben, und seitdem wird es kontinuierlich ausgebaut, deswegen ist es unserer Meinung nach keine neue Aufgabe, und wir sind der Meinung, dass sie nicht ausgleichswichtig ist, weil die Kommunen ja durchaus auch Entlastungseffekte haben, weil sie bestimmte Schulgebäude nicht mehr brauchen, bestimmte Förderschulen, die auslaufen werden, das ist der Streit, aber dass wir die Aufgabe angehen, dazu haben sich auch unsere Kommunen immer bekannt und wir als Land müssen für eine gute Lehrerausstattung sorgen. So ist die Schulträgerschaft in Nordrhein-Westfalen geregelt.Götzke: Frau Löhrmann, lassen Sie uns über einen weiteren Vorbehalt sprechen: Mit inklusivem Unterricht soll in Klassen eins bis fünf begonnen werden. Warum haben Sechstklässler noch kein Recht auf Inklusion?Löhrmann: Weil wir nicht in bestehende Lerngruppen eingreifen wollen und Querversetzungen von Kindern aus Förderschulen in den laufenden Betrieb vorsehen wollen. Das heißt, wir setzen in Klasse eins für die Kinder, die neu in die Schulen gehen, und beim Übergang nach der Klasse vier in die weiterführenden Schulen, da lassen wir aufwachsend den Rechtsanspruch greifen, und das ist auch vernünftig, weil ja sonst Lerngruppen, die es jetzt schon gibt, auseinandergerissen werden würden. Das ist durchaus üblich, so verfahren wir in anderen Schulentwicklungsprozessen auch, etwa beim islamischen Religionsunterricht, oder aber bei Veränderung unserer Sekundar- und Gesamtschulen, die fangen dann ja auch immer in Klasse fünf an und wachsen auf, und wir bauen nicht sozusagen quer um, und dann müssten ja Kinder, Lehrer zu neuen Schuljahren komplett ihre Lerngruppe verlassen.Götzke: Gut, das gibt es ja immer wieder, Schüler bleiben sitzen, wechseln die Schulform, man könnte auch sagen, Sie verhindern einen Aufstieg in höhere Schulformen.Löhrmann: Nein, wieso? Wir fangen an den Schnittstellen der Schulentwicklung der Kinder und der Bildungsbiografien der Kinder, fangen wir an und setzen wir ein. Das ist auch ein durchaus nachvollziehbares Prinzip, und daran ist auch meines Wissens jetzt in dem Sinne nicht Kritik geäußert worden.Götzke: Frau Löhrmann, der Betroffenenverein, der Elternverein von Kindern mit Behinderung mittendrin e. V., sagt, würden die staatlichen Förderschulen für die zentralen Förderschwerpunkte aufgelöst und das Personal an Regelschulen versetzt, dann könnten in relativ schneller Zeit rund zwei Drittel der behinderten Kinder an Allgemeinschulen lernen. Warum sind Sie nicht so mutig gewesen, diesen Schritt zu gehen?Löhrmann: Wir haben in Nordrhein-Westfalen sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass der Elternwille zählt. So hat es auch das Parlament in großer Mehrheit entschieden, zu sagen, die allgemeine Schule ist der Regelförderort, aber die Eltern behalten auch das Recht, für ihre Kinder die Förderschule zu wählen, wenn sie das für richtig halten. Dieses Prinzip – wie gesagt, ich halte das für richtig, aber es ist auch ein Parlamentsauftrag, dem ich natürlich gerne folge in dieser Weise, und dem ich auch verpflichtet bin zu folgen, und wir müssen anerkennen, dass manche Eltern die Förderschule wählen, und dann müssen wir das respektieren, weil wir die Eltern nicht bevormunden wollen. Wir werden trotzdem einen Prozess haben, dass Förderschulen, die schon jetzt zum Teil unter der Mindestgröße sind, auslaufen, und wir dann natürlich in dem Zuge, in dem die Kinder in den allgemeinen Schulen sind, dort mehr Lehrerinnen und Lehrer der allgemeinen Pädagogik haben werden und mehr Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Wir haben uns aber guten Gewissens und aus Überzeugung für einen sanfteren Weg entschieden als für einen abrupten, weil ich auch Rückmeldung bekomme aus Bremen oder aus Hamburg, dass das dort zu radikal angelegt wäre, und jetzt sich die Beteiligten beklagen, dass das System nicht nachkommt mit Veränderung. Schulentwicklung braucht Zeit, sie muss Fortbildungen haben, weil wir sonst hinterher Schaden anrichten.Götzke: Frau Löhrmann, unsere Zeit ist leider auch vorbei.Löhrmann: Ja?Götzke: Vielen Dank für dieses Interview!Löhrmann: Gerne!Götzke: Das NRW-Kabinett hat einen Gesetzentwurf zur Inklusion beschlossen.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Sylvia Löhrmann im Gespräch mit Manfred Götzke | NRW hole unter Rot-Grün in Sachen Inklusion auf, sagt Sylvia Löhrmann. Das gehe aber nicht per Knopfdruck, so die NRW-Schulministerin. Der jetzt verabschiedete Gesetzentwurf berücksichtige beim Rechtsanspruch bestehende Lerngruppen und gebe den Kommunen Mitspracherechte.
| "2013-03-20T14:35:00+01:00" | "2020-02-01T16:11:41.543000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/loehrmann-wir-wollen-die-systemumstellung-behutsam-machen-100.html | 985 |
Ansprechpartner für Schüler | 9.25 Uhr - Erste große Pause in der Heisterbergschule im hannoverschen Stadtteil Ahlem. Brigitte Steuder geht in den Freizeitraum - dort, wo die Schüler Tischfußball spielen oder sich auf den gemütlichen Sofas lümmeln. Es dauert nicht lange, da wird die 62-Jährige von einer kleinen Traube Schüler umringt. Hier, sagt die Frau mit den kurzen dunklen Haaren, ist die Andockstation für die Kinder- und Jugendlichen. "Also, wenn sie irgendwas haben, dann wissen sie, ich bin zweimal am Tag fest hier und dann können sie mit mir sprechen."Brigitte Steuder ist seit zwölf Jahren als Schulsozialarbeiterin an der Haupt- und Realschule tätig. Die rund 300 Schüler kennt sie alle beim Namen, ist Ansprechpartnerin für ihre großen und kleinen Sorgen, gibt Sozialtraining im Unterricht oder berät bei Konflikten. Oft genug, erzählt die Sozialpädagogin, sei bei den Schülern jedoch Basisarbeit angesagt: Erziehungsarbeit, die zuhause nicht geleistet würde. "Also viele Schüler kommen unbeschrieben, sage ich jetzt mal. Unbeschrieben insofern, was Regeln angeht, Normen, kommen die unbeleckt hier an. Und das ist sehr anstrengend. Und deswegen ist es ganz wichtig, dass auch in jeder Klasse Sozialtraining gemacht wird. Wenn die Neuen kommen, die neuen Fünften, wird das Sozialtraining gemacht, damit wir alle eine Basis haben, damit wir nicht immer wieder von vorne diskutieren müssen."Brigitte Steuder ist fast eine Ausnahme in der Schulsoziarbeit: Sie ist fest angestellt und hat einen relativ kleinen Kreis von Schülern zu betreuen. Vielerorts sieht das anders aus: An den fast 45.000 deutschen Schulen gibt es gerademal 6000 Schulsozialarbeiter, viele in Teilzeit. In einigen Landkreisen muss sich ein Pädagoge gleich um mehrere Schulen kümmern. Ein unhaltbarer Zustand, sagt Jan Hannemann, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Schulsozialarbeit in Niedersachsen – einer der Veranstalter des erstmals in Deutschland durchgeführten Bundeskongress zum Thema. Ein Signal, das von dem Kongress ausgehen soll: jede Schule braucht mindestens einen Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen. "Weil Schulsozialarbeit viele Dinge auffangen kann, die Lehrer, das Bildungssystem nicht leisten kann und das Leben ist komplexer geworden: Das Leben stellt höhere Ansprüche an die Jugendlichen und der Umgang mit bestimmten Dingen ist anders geworden, man muss heutzutage sich wesentlich flexibler Wissen aneignen und in viel komplexeren Systemen klar kommen und da kann Schulsozialarbeit unterstützend helfend sein."Durch das Bildungspaket gab es einen riesigen Aufschwung bei der Schulsozialarbeit, sagt Bernhard Eilbeck, Referent für Jugendhilfe und Sozialarbeit bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW. Gut ein Drittel der jetzigen Stellen sei durch den Finanzierungsschub des Bundes entstanden. Doch die sind nur bis Ende 2013 gesichert. Was passiert, wenn das Bildungspaket im nächsten Jahr ausläuft, ist ungewiss. Ohnehin sei eines der größten Probleme in der Schulsozialarbeit die Befristung der Arbeitsverträge. Ein Großteil der Stellen ist als Projekt angelegt und auf zwei bis drei Jahre begrenzt. Bernhard Eilbeck. "Es braucht dauerhafte und verlässliche Strukturen und dauerhafte und vertrauensvolle Beziehungen zwischen den Kindern und ein Sozialpädagogen, aber auch die Einbindung ins Kollegium. Es ist ja ein gemeinsames pädagogisches Ansinnen, für die Kinder und Jugendlichen den Alltag und das Lernen und ihren Bildungsprozess so angenehm und so effektiv wie möglich zu gestalten."Brigitte Steuder wünscht sich vor allem mehr öffentliche Wertschätzung für sich und die Kollegen der Schulsozialarbeit. Häufig, klagt die 62-Jährige, würde gar nicht anerkannt, was die Sozialpädagogen für die Kinder und das Zusammenleben in der Schule leisten würden, "Also, wir sind nicht so sehr im Fokus. Wir sind mehr oder weniger Untergrundkämpfer und das finde ich sehr bedauerlich und das Gehalt ist auch dementsprechend." | Von Susanne Schrammar | Schulsozialarbeiter beraten, unterstützen und erziehen Kinder und Jugendliche. Sie helfen dort, wo Lehrer allein das Problem nicht mehr lösen können. Ein Teil von ihnen wird durch Bundesmittel finanziert, die 2013 auslaufen. Auf einem Kongress wurde über die Zukunft dieser Arbeit diskutiert. | "2012-11-30T14:35:00+01:00" | "2020-02-02T14:35:45.245000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ansprechpartner-fuer-schueler-100.html | 986 |
Welche Festivals braucht das Land? | Jedes Jahr im September findet das Reeperbahn Festival in Hamburg statt (Axel Heimken/dpa)
"Vielen Dank Southside, wir wünschen Euch noch sehr, sehr viel Spaß."
Get Well Soon beim Southside Festival.
"Macht weiter so."
Get Well Soon beim Haldern Pop.
"Meine Band findet meine Ansagen so blöd, dass sie immer weiterspielt."
Und beim Summer’s Tale.
"Totale Boom-Festivallandschaft"
Konstantin Gropper ist einer der gefragtesten deutschen Musiker. Wie viele andere tingelt er im Sommer von Festival zu Festival. Das ist gut für die Künstler. Denn Geld verdienen sie heutzutage vor allem mit Konzerten. Doch die Line-ups der deutschen Festivals sind weitgehend austauschbar. Überall dasselbe.
"Wir haben die letzten Jahre eine totale Boom-Festivallandschaft", sagt Axel Ballreich, Vorstandsmitglied des Deutschen Musikspielstättenverbandes LiveMusikKommission. "Das geht vielleicht eine Zeit lang gut, aber irgendwann wird der Abstand zwischen den Veranstaltungen - der räumliche und zeitliche - zu gering, und dann leiden alle d‘runter."
Rund 1600 Festivals und Festspiele buhlen pro Jahr um den Platz im Eventkalender. Das allein in Deutschland. Der Markt ist gesättigt. Warum dann noch Festivals fördern, wie es die Politik vom Bund bis zu den Kommunen will?
Eine Nische bedienen
"Sicherung der kulturellen Vielfalt", ist ein wichtiger Grund, sagt Ina Keßler, Geschäftsführerin der bundesdeutschen Initiative Musik. "Unter dieser Fahne bekommt das ein oder andere Festival Geld. Weil gesagt wird: Na gut, die bringen nicht die Main-Acts, die Pop-Acts, die 100.000 Leute ganz schnell ziehen. Die bedienen eine Nische, die ansonsten innerhalb der kulturellen Vielfalt nicht mehr sichtbar wäre."
Vor allem auf dem Land und in den Kleinstädten, wo von Vielfalt keine Rede ist, im Gegensatz zu den etablierten und kommerziellen Events in den Metropolen. Dafür bekam die Initiative Musik von Kulturstaatsministerin Monika Grütters kürzlich zusätzliche 4,2 Millionen Euro in die Fördertöpfe. Daneben gibt es seit wenigen Jahren Initiativen auch auf Länderebene. In Niedersachsen etwa, Bayern und Brandenburg. Doch die wichtigsten Unterstützer in der deutschen Festivallandschaft sind die Kommunen.
Ina Keßler: "Wenn eine Stadt ein Festival mitfinanziert, was Musiker auf die Bühne bringt, was neue Genres, neue Ideen präsentiert, die sonst nirgendwo zu sehen wären: klasse! Das ist absolut förderwürdig: Das sind strukturelle Maßnahmen, die helfen, multiplikativ zu wirken. Aber einfach irgendein Festival zu fördern, nur weil der Name geil ist oder nur weil die Beziehung gut ist - das muss man kritisch hinterfragen."
Beim Neustart von Festivals ist aber auch der Austausch von Erfahrungen wichtig, sagt Bernhard Chapligin vom Verband für Popkultur in Bayern: "Auch die juristische Erstberatung - das hilft auch schon mal, wenn man größere Probleme hat. Wir bieten auch Seminare und Workshops, wo es mit Experten in Detail geht, wo es von Versicherung, über GEMA, alle Sicherheitskonzepte geht. Gerade die verstärkten Auflagen, das stellt uns vor Probleme. Und damit können wir schon unterstützen - genauso wie mit einem Netzwerk, das enger zusammenarbeitet und sich enger unterstützt."
Nachhaltig und ohne Rückzahlung
Eine gute Förderung? Sie sollte langfristig angelegt sein. Die Festivalmacher sollten das Geld nicht zurückzahlen müssen, sobald sie ein Plus erwirtschaften. Denn wer weiß: Vielleicht brauchen sie das Polster im nächsten Jahr? Und wer die kulturelle Vielfalt mit jährlichen Festivals unterstützen will, sollte auch die Musikklubs nicht vergessen, so Axel Ballreich von der LiveMusikKommission.
"Jede Veranstaltung hat ihre Berechtigung, sofern sie sich am Markt durchsetzt. Aber wenn der eine stark gefördert ist, während der andere Klub das ganze Jahr kämpft um sein Programm - Probleme haben die hier auch beim Reeperbahn Festival in Hamburg, das ist ja bekannt - dann kann das schon zu Verwerfungen führen. Weil: Wer will jetzt hier in Hamburg ein großes Geschäft machen, in der Woche, wo Reeperbahn Festival ist. Das fällt ihm einfach weg, die Zeit."
Udo Lindenberg: "Reeperbahn - egal was war; Du alte Gangsterbraut, jetzt biste wieder da …"
Hamburg zieht an Köln und Berlin vorbei
Zumal das Hamburger Megaevent, das nach dem South by Southwest im texanischen Austin zu den weltweit wichtigsten Musikfestivals gehört, gerade noch mehr aufgepumpt wird. Kurz vor Beginn der aktuellen Ausgabe schoss Grütters 3,2 Millionen Euro zu den bisherigen schon zwei Millionen Fördergeldern dazu. Damit zieht Hamburg an der c/o pop in Köln und dem Pop-Kultur Festival in Berlin vorbei. "Wir blicken nicht neidisch zum Reeperbahn Festival", hieß es von den Berlinern. Während die Hamburger Festivalmacher schon träumen davon, künftig für das Musikgeschäft einen ähnlichen Rang einzunehmen, wie die Frankfurter Buchmesse für Literatur und die Berlinale für den Film.
Aber Geld allein reicht nicht. Es braucht schon ein exklusives Line-up. Musiker Get Well Soon wird auch in Hamburg auftreten. Aber extra für die Hansestadt hat er die Songs seines Albums "Horror" neu arrangiert und wird sie mit Gastmusikern im Hamburger Michel aufführen - darunter: sein Vater, Walter Gropper, an der Kirchenorgel. | Von Adalbert Siniawski | Deutschland hat mit 1600 Festivals und Festspielen noch nie so viele Events wie heute: Das Künstlerprogramm ist austauschbar geworden, die ersten Großveranstalter verzeichnen Besucherrückgänge. Auch über das Reeperbahn Festival wird diskutiert - erfolgreich: Es hat einen Millionenzuschuss eingesackt. | "2018-09-20T15:05:00+02:00" | "2020-01-27T18:11:53.433000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-foerderung-welche-festivals-braucht-das-land-100.html | 987 |
"Der derzeitige Strommarkt ist für erneuerbare Energien nicht geeignet" | Jasper Barenberg: An großen Versprechen herrschte wahrlich kein Mangel, seit die Koalition aus Union und FDP im Bundestag die Energiewende beschlossen hat. Von der Energieversorgung von Morgen schwärmte Kanzlerin Angela Merkel. Und ihr Minister für Umwelt und ihr Minister für Wirtschaft sprachen von neuen Chancen auch für die Unternehmen in Deutschland. Neue Stromleitungen und Gaskraftwerke würden gebaut, Hausbesitzer bekämen mehr Geld, um ihr Eigentum besser zu dämmen, mehr Windräder und mehr Solaranlagen sollten ans Netz gehen. Inzwischen aber wächst die Kritik am schleppenden Fortgang des Projekts, auch alt gediente Umweltpolitiker der Koalition raufen sich die Haare, fordern mehr Tempo, mehr Tatendrang, sonst werde die Wende scheitern. Derzeit allerdings arbeitet die Regierung daran, die Förderung des Ökostroms zu kürzen, und bringt damit auch den Bundesverband der erneuerbaren Energien in Rage. Deren stellvertretenden Geschäftsführer Harald Uphoff kann ich jetzt am Telefon begrüßen. Schönen guten Morgen!Harald Uphoff: Guten Morgen, Herr Barenberg.Barenberg: Herr Uphoff, im Mittelpunkt der Diskussion steht ja derzeit die geplante Kürzung für den Solarstrom. Sie soll zum 1. April deutlich gekappt werden, um bis zu 30 Prozent, weil es nur wenig Strom aus Sonnenenergie gibt in Deutschland für sehr, sehr viel Fördergeld. Ist das nicht eine nachvollziehbare Begründung?Uphoff: Nachvollziehbar auf den ersten Blick, aber tatsächlich ist es so, dass der Solarstrom in den letzten Jahren immer günstiger geworden ist und er zum Beispiel den teueren Mittagsstrom sehr stark vergünstigt hat im letzten Jahr. Er senkt dadurch sogar den Börsenstrompreis. Davon bekommen die Verbraucher leider wenig mit, aber große Verbraucher merken das bei ihrer Stromrechnung.Barenberg: Aber die Verbraucher, wir alle also, zahlen ja die Umlage für die Förderung des Ökostroms über den Strompreis, und da muss man doch mal festhalten, dass der Solarstrom einen Anteil von vier Prozent hat am verbrauchten Strom in Deutschland, aber der mehr als die Hälfte der 17 Milliarden Euro frisst, die die Ökostromförderung insgesamt im Jahr kostet. Ist es also grundsätzlich jedenfalls richtig, dass man da angesichts dieser Situation die Schere ansetzt?Uphoff: Der Bundesverband der Solarwirtschaft, unser Mitgliedsverband, hat ja Vorschläge gemacht, wie man und wo man wie stark kürzen kann. Dass die Umlage so hoch ist und dass die Solarenergie davon einen so großen Anteil hat, liegt quasi an Fehlern in der Vergangenheit, die auch der Verband selber so nicht hat voraussehen können. Wir schleppen quasi noch hohe Kosten mit. Die aktuell installierten Anlagen erhöhen die Umlage nur marginal. Also es gibt zurzeit kein Kostenproblem der aktuellen installierten Fotovoltaikanlagen.Barenberg: Sondern?Uphoff: Neue Fotovoltaikanlagen sind so günstig, dass sie, selbst wenn sie im nächsten Jahr noch mal wie im letzten Jahr ein Gigawatt installieren, die Umlage vielleicht um 0,21 Cent erhöhen. Das ist für Normalbürger ein zweistelliger Centbetrag im Monat.Barenberg: Aber unterm Strich muss man doch sagen, dass es Milliardenhilfen auch für die Solarenergie gegeben hat und die deutschen Unternehmen trotzdem nicht beispielsweise mit China mithalten können in der Konkurrenz. Ist die Solarindustrie nicht gerade ein Beispiel dafür, dass staatliche Förderung in Wahrheit Wettbewerb verhindert?Uphoff: Nein, sie hat den Wettbewerb erst mal ermöglicht. Ohne die feste Vergütung, das EEG in Deutschland, hätte es diesen Boom der Solarindustrie und die Entwicklung dieser Industrie überhaupt nicht gegeben, auch keine Innovation und technischen Fortschritt. Dass hier jetzt auch andere Länder davon profitieren, ist einfach ein Ergebnis der Globalisierung, und aus industriepolitischer Sicht war es sinnvoll, das so zu tun. Andernfalls hätte es diese Entwicklung überhaupt nicht gegeben. Dass es jetzt kein industriepolitisches Konzept gibt, wie man quasi beim Übergang in den Massenmarkt reagieren soll, ist ein Problem. Und das andere Problem ist, dass es auf der Welt fast keinen offenen Markt mehr gibt, obwohl die Anlagen so günstig sind, weil viele Länder quasi Regelungen geschaffen haben, dass nicht mehr so viel Solarenergie, wie eigentlich gefordert ist, installiert werden kann.Barenberg: Mit anderen Worten, richten Sie sich generell gegen eine Kürzung für die Förderung des Ökostroms, die jetzt ja geplant ist im Zusammenhang mit einem Gesetz, das die Regeln für die Förderung von Ökostrom verändert?Uphoff: Wir richten uns nicht generell gegen Regelungen. Wenn es einen vernünftigen Prozess gibt, wo man merkt, die Entwicklung ist schneller als man erwartet hat, kann man darüber reden. Aber das, was jetzt gerade gefordert ist für die Solarenergie ist zu viel und auf der anderen Seite gibt es eine Regelung einer quasi verdeckten Vergütungskürzung, die auch für alle anderen erneuerbaren Energien geöffnet werden kann, jetzt nicht soll, aber kann, dagegen wehren wir uns mit allen Mitteln.Barenberg: Worum genau geht es dabei?Uphoff: Für die Solarenergie sollen jetzt die sogenannten zuerst produzierten 85 oder 90 Prozent des Stroms vergütet werden und die fehlenden 15 oder 10 Prozent des Stroms bei großen Anlagen sollen nicht vergütet werden. Die sollen dann entweder selbst verbraucht werden, was bei kleinen Anlagen geht, aber bei großen nicht, oder vermarktet. Aber die Regelung, wie es vermarktet werden soll, ist so handwerklich schlecht gemacht, dass ihnen alle Stromhändler sagen, das geht nicht.Barenberg: Klingt ja erst mal wie eine gute Idee, Herr Uphoff, dass man einen Teil dessen, was man sich da aufs Dach schaufelt, an Solaranlagen beispielsweise oder an anderen Formen ökologischer Energieerzeugung, dass man einen Teil dessen selbst verbraucht, oder eben als Anreiz an den Markt bringt.Uphoff: Genau. Die Idee ist gut und bei kleinen Dachanlagen geht das auch ohne weiteres. 15 Prozent selber zu verbrauchen, wenn sie so eine kleine Anlage auf dem Dach haben, das kriegen die meisten hin. Das gleiche gilt aber auch für Freiflächenanlagen, die irgendwo auf großen Flächen stehen. Die haben aber keinen direkten Verbraucher daneben. Und die Regelung, wie das vermarktet werden soll, besagt, dass man nicht zuerst die 90 Prozent, sondern nur die zuletzt produzierten zehn Prozent vermarkten kann, aber kein Mensch weiß natürlich im Vorhinein, wann das denn der Fall ist. Also sie wissen quasi erst zwei Monate, nachdem ein Jahr beendet ist, wie viel die 100 Prozent waren. Es ist ein unglaublicher Aufwand und faktisch nicht umzusetzen, das im Nachhinein noch irgendwie zu errechnen und dann vor allem zu vermarkten.Barenberg: Und das haben die Beamten, die das ausgearbeitet haben in den zuständigen Ministerien, nicht berücksichtigt, nicht bedacht?Uphoff: Nein. Das muss man so sagen. Wir wurden nicht gefragt und jemand anders wohl auch nicht. Vielleicht noch allgemein gesagt: Der derzeitige Strommarkt ist für erneuerbare Energien überhaupt nicht geeignet. Alles was man jetzt versucht, ist quasi ihm eine Krücke, eine Vermarktung in dem bestehenden Markt zu konstruieren. Eigentlich müsste man die Organisation des Marktes, wie er jetzt gerade ist, ändern und dann kann man auch darüber nachdenken, wie man denn erneuerbare Energien in den Markt integriert.Barenberg: Wie könnte das denn geschehen?Uphoff: Es müsste viel mehr Anreize geben, dass erneuerbare Energien einen Anreiz haben, bedarfsgerecht oder angebotsgerecht zu produzieren. Im Augenblick ist es so, dass Wind und Sonne eingespeist werden, wenn die Sonne scheint, aber auch zum Beispiel Biogasanlagen immer produzieren. Es gibt keinen Anreiz, von Biogasanlagen dann nicht zu produzieren, wenn viel Wind weht oder viel Sonne scheint, und diese Anreize fordern wir seit Jahren, die gibt es immer noch nicht und das wäre zum Beispiel ein Ansatz, den Markt zu verändern.Barenberg: Vielen Dank! Harald Uphoff war das, der stellvertretende Geschäftsführer im Bundesverband der erneuerbaren Energien. Danke für das Gespräch heute Morgen.Uphoff: Gern geschehen.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Harald Uphoff im Gespräch mit Jasper Barenberg | Der Geschäftsführer des Bundesverbands Erneuerbare Energie, Harald Uphoff, fordert eine Umorganisation des Strommarktes, um mehr Energie aus Solar- oder Windkraft zu integrieren. Es müsse mehr Anreize geben, diese bedarfsgerecht zu produzieren. | "2012-03-20T06:50:00+01:00" | "2020-02-02T14:43:52.007000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/der-derzeitige-strommarkt-ist-fuer-erneuerbare-energien-100.html | 988 |
IOC muss Corona-Rabatt einräumen | Olympische Ringe im Japanischen Olympia-Museum in Tokio (mago images / AFLOSPORT)
"Right of Abatement" – das Recht auf Minderung. Eine solche Klausel findet sich im Vertrag zwischen dem US-Netzwerk NBC und dem Internationalen Olympischen Komitee IOC. Konkret ist dort zu lesen, "dass NBC und IOC in gutem Glauben eine gerechte Reduzierung der anwendbaren Zahlungen für die Übertragungsrechte aushandeln werden".
Wie viel weniger NBC für die Übertragungsrechte der Sommerspiele in Tokio wird zahlen müssen, soll aber erst nach Abschluss der Spiele verhandelt werden. Das Mediennetzwerk hätte sogar ein Sonderkündigungsrecht gehabt, die Zehn-Tages-Frist nach Bekanntgabe der Verschiebung aber verstreichen lassen.
Geringere Zahlungen haben Auswirkungen auf das US-NOK
Für das IOC ist dieser Vertrag von besonderer Bedeutung, ist er doch der höchst dotierte TV-Vertrag für Olympia. Für die Spiele von 2014 bis 2020 garantiert er 3,7 Milliarden Euro, der Anschlussvertrag bis 2032 ist 6,6 Milliarden Euro wert.
Verlegung von Tokio 2020 - Teure Konsequenzen für Werbe- und TV-PartnerDurch die Verlegung der Olympischen Spiele stehen die TV- und Werbepartner der Spiele vor großen finanziellen Verlusten. Sponsoren müssen nun ihre Werbekampagnen verändern und den TV-Anbietern fallen hohe Werbeeinnahmen für das Sommerloch weg.
Bekannt wurden diese Details durch einen Vermerk im jüngsten Jahresabschluss des Olympischen und Paralympischen Komitees der Vereinigten Staaten USOPC. Stärker als andere Nationale Olympische Komitees ist das USOPC an den Einnahmen aus den US-Senderechten beteiligt, nämlich mit 12,75 Prozent - geregelt durch eine Sondervereinbarung aus dem Jahr 1996. Mit den Spielen in Tokio endet dieses Abkommen und soll durch ein neues ersetzt werden.
Das ist für das US-NOK von zentraler Bedeutung. Finanziell ohnehin angeschlagen ist man auf die Einnahmen angewiesen, dass sich die Zahlung jetzt verzögert, ist ein herber Schlag. Schon 2019 betrug das Defizit im Jahresabschluss 45 Millionen Euro. Jetzt, während der Pandemie, mussten 30 Mitarbeiter entlassen werden, um weiter zahlungsfähig zu bleiben. | Von Heinz-Peter Kreuzer | Schon die UEFA musste den Sendeanstalten eine halbe Milliarde Euro erlassen, weil es weniger Champions- und Europa-League-Spiele gab. Jetzt drohen auch dem IOC wegen der verschobenen Spiele in Tokio finanzielle Einbußen. Besonders betroffen ist das Olympische und Paralympische Komitee der USA. | "2020-09-10T22:55:00+02:00" | "2020-09-15T15:27:19.803000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/uebertragungsrechte-fuer-tokio-2021-ioc-muss-corona-rabatt-100.html | 989 |
Das sanfte Zwei-Mann-Orchester | Duo Bear’s Den: Andrew Davie (l.) und Kevin Jones (Sequoia Ziff)
"Damit du mich erhörst, machen sich meine Worte manchmal so zart wie die Spuren der Möwen auf dem Strand", so beginnt ein Liebesgedicht des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda. Was sagt es über eine Band aus, wenn sie sich so eine Zeile Poesie als Albumtitel borgt: "So That You Might Hear Me" - zum Beispiel, dass Bear’s Dens Texter Andrew Davie nicht von Anfang an klar war, was er eigentlich sagen wollte:
"Kommunikationsprobleme sind ein zentrales Thema des Albums, und dieses Gedicht beschreibt wunderbar, wie Worte manchmal scheitern. Außerdem wirkt es, als würde sich Neruda erst beim Schreiben über sich klar. Und ich war bei diesem Album auf einer ganz ähnlichen Reise."
Sonntag ist kein guter Tag zum Aufnehmen
Die Reise begann erstmals im eigenen kleinen Studio im Anbau einer Kirche. Man meint dem Album anzuhören, dass die beiden dadurch mehr Zeit hatten - die elektronischen Elemente etwa klingen ausgetüftelter und eigenständiger als zuvor. Sie hätten sich, sagen sie, mit ihren Geräten nun auch mal richtig beschäftigen und länger an einem Song arbeiten können. Gestört haben höchsten mal die Kirchenglocken.
"Yeah, Sundays! Sunday’s not a good day to record, haha."
Davies Texte sind poetisch, metaphernreich, rätselhaft - aber auf Nachfrage erklärt er ganz offen, wer da etwa im Song "Hiding Bottles" Flaschen versteckt:
"Da geht es ganz klar um den Umgang meiner Mutter mit Alkohol - und wie ich diesem Thema auswich, statt es anzusprechen. Aber auch um meinen eigenen Umgang damit und den vieler Leute: Dass man damit versucht, etwas abzuwehren. Dabei trinkt man doch am besten, um die Gefühle zu verstärken, die man gerne hat!"
"Laurel Wreath", der Song mit dem Lorbeerkranz, kritisiert eine überkommene Idee von Sieg und Mannsein und feiert die Verletzlichkeit. "Crow" basiert auf dem Roman "Trauer ist das Ding mit Federn" von Max Porter - ein schlichter Walzer, und nicht ohne Grund, erklärt Kevin Jones, der mehr für die musikalischen Finessen zuständig ist:
"Ein bewährter Weg, Songtexte musikalisch umzusetzen, ist: einfache Akkorde und eine vertraute Taktart zu verwenden. Du begreifst sofort: ‚Das kenn‘ ich, das verlangt keine Konzentration, ich kann einfach in das eintauchen, was gesagt wird.’"
Manche abgründige Zeile wird arg weich bettet
Jones hört sehr genau hin, was Kollege Davie so dichtet. Und versucht es teils sehr detailliert umzusetzen.
"Im Buch kommt diese Krähe zu der trauernden Familie, erst mit ihr wird auch die Trauer verschwinden. Im Song überrollt ein Sound am Ende alles andere - und hört dann plötzlich auf. Und nur ein Klavierton bleibt, der steht für die eine Feder, die noch daliegt und an die Krähe erinnert."
Sparsam arrangierte Stellen hätte das Album vielleicht noch mehr vertragen. Die meisten Songs beginnen zart und schwellen dann zu einem mächtigen Finale an, zu einer Klangwolke, die manche abgründige Zeile arg weich bettet. Ist auch Geschmackssache, klar - man kann das auch einfach schön finden, und es wird nie wirklich bombastisch, dank der klar spürbaren Haltung dieser zwei offensichtlich eng befreundeten, sensiblen bärtigen Bärentypen, denen jegliche rockistische Breitbeinigkeit fernliegt. Trotzdem auffällig, dass in Rezensionen ihrer Alben recht oft das Wort "majestic" auftaucht. Majestätisch klingen - ist es das, was sie anstreben? Nicht wirklich, sagen sie.
Andrew Davie: "Wir mögen einfach Hörner, plakative E-Gitarren, wuchtige Trommeln… wobei es immer ums Gesamtbild geht; wir fragen uns dann: Wie wirkt dieses Element mit jenem zusammen? Wie wird es interessanter? Aber wenn man all diese Schichten aufbaut, dann entsteht eben etwas Orchestrales - nur mit modernen Instrumenten."
Wobei "modern" nicht heißt: aktuell. Bear’s Den beziehen sich kaum auf das, was in der Popmusik sonst so passiert, weder um mitzumischen, noch um avantgardistisch davonzuziehen. Nur im eigenen Kosmos entwickeln sie sich weiter, diesmal weg von den eindeutigen Folk-Bezügen des Debüts, weg von den 80er-Jahre-Einflüssen des Vorgängers, und sind nochmal ein Stück eigenständiger in ihrem Wohlklang mit Tiefgang. | Von Bernd Lechler | Bear’s Den aus London werden oft mit Mumford & Sons verglichen, aber das Duo verbindet doch auf ganz eigene Art Folk mit Rock und Akustik mit Elektronik sowie sehr persönlichen Texten: „Kommunikationsprobleme sind ein zentrales Thema“, sagen sie über ihr drittes Album „So That You Might Hear Me“. | "2019-04-20T15:05:00+02:00" | "2020-01-26T22:47:56.648000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/neues-album-von-bears-den-das-sanfte-zwei-mann-orchester-100.html | 990 |
Streit über Fracking wird schärfer | In Großbritannien wächst der Widerstand gegen Fracking. (Imago / ZUMA Press)
"What do we want? No fracking!" Was wollen wir? Kein Fracking! So klingt es auf einer von vielen Demonstrationen in Großbritannien gegen das Fracking. Hier haben sich Hunderte vor dem Unterhaus in London versammelt. Sie protestieren vehement gegen die umstrittene Methode, Gas unter Hochdruck und mit Wasser und Chemikalien aus der Tiefe hervorzupressen. Aber die öffentliche Meinung ist gespalten: Gut 30 Prozent befürworten immerhin noch das Fracking, seit neuestem sind allerdings die Gegner mit 40 Prozent in der Überzahl. "Ich bin nicht gegen das Fracking so wie andere", sagt dieser Brite. "Ich denke, es ist gut für das Land, wir brauchen es." - "Es verschmutzt den Boden. Die einen sagen ja, die anderen nein."
Fracking stößt dennoch in Großbritannien tendenziell auf weniger Skepsis als in Deutschland. Angeblich lagern über 700 Milliarden Kubikmeter unter dem britischen Festland. Die Menge würde mehr als den Verbrauch eines ganzen Jahrzehnts in Großbritannien abdecken. Prof Alan Riley von der City University in London meint: "Zum einen sorgt das Fracking für Energiesicherheit. Großbritannien braucht also nicht zum Beispiel von russischem Gas abhängig zu sein. Zweitens verursacht Gas nur halb soviel Ausstoß an Kohlendioxid wie Kohle. Und drittens senkt Fracking die Preise und wäre enorm wichtig für die britische Industrie."
Vier Monate Zeit für eine Entscheidung
Bis 2012 galt in Großbritannien ein Moratorium für die Erforschung von Schiefergas, das in Schottland und Wales auch noch weiter in Kraft ist. Nicht aber in England. Jetzt hat die britische Regierung 27 neue Lizenzen zum Probebohren an Unternehmen vergeben, überwiegend in Nord – und Mittelengland. Die betroffenen Gemeinden sollen binnen 16 Wochen entscheiden, ob sie für oder gegen das Fracking sind. Jennifer Mein, eine Labour-Abgeordnete im Unterhaus, protestiert vehement gegen die Frist, sie sei viel zu knapp. "Es gab bei uns in Lancashire Zehntausende von Bürgereingaben. Wir mussten Aberhunderte von technischen Seiten lesen. Das alles musste in Betracht gezogen werden."
Lancashire stimmte gegen das Fracking, nachdem es in der Region zwei kleinere Erdbeben nach Probebohrungen in 2011 gegeben hatte. Energieministerin Amber Rudd dagegen hält die Vier-Monatsfrist für ausreichend. Die Energieunternehmen bräuchten Planungssicherheit und dürften nicht absichtlich hingehalten werden. "Schiefergas ist eine große Chance. Die lokalen Verwaltungen haben weiter ein Mitspracherecht. Aber sie müssen sich an die 16 Wochen halten und dafür wollen wir sorgen."
Einige Gemeinden hoffen auf Arbeitsplätze
In den strukturschwachen Gebieten in Nord- und Mittelengland sind nicht alle Gemeinden gegen das Fracking. Manche versprechen sich einen Aufschwung und Arbeitsplätze davon. Darauf setzt zum Beispiel das Unternehmen Cuadrilla, das von den Fracking-Gegnern heftig angefeindet wird. Das Schiefergas werde gebraucht und mit der Zeit würden die Engländer sehen, dass es sicher sei, verspricht Cuadrilla-Chef Francis Egan. "Die neuen Lizenzen sind eine gute Sache für uns. Wir können jetzt nach mehr Schiefergas bohren. Alle werden mit der Zeit feststellen, dass wir das auf verantwortliche Art und Weise tun. Wir werden das beweisen."
Bis 2020 wird in Großbritannien nur probegebohrt, schätzen Experten. Aber dass sich der Widerstand gegen das Fracking bis dahin legt, glaubt kaum jemand. Im Gegenteil: Es gibt schon Warnungen vor einem regelrechten Krieg um das Fracking auf dem Land. Diese Anwohnerin einer Bohranlage wird jedenfalls ihre Meinung wohl nicht mehr ändern. "Niemand wird mich je davon überzeugen, dass die Chemikalien nicht ins Grundwasser gehen. Das kann ich einfach nicht glauben." | Von Friedbert Meurer | Die britische Regierung macht Druck in Sachen Fracking und hat neue Lizenzen für Probebohrungen in England vergeben. Die betroffenen Gemeinden haben vier Monate Zeit, darüber zu entscheiden. Viel zu wenig, meinen Kritiker. Die Industrie brauche Planungssicherheit, argumentiert die Regierung. | "2015-08-28T09:10:00+02:00" | "2020-01-30T12:56:20.136000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-streit-ueber-fracking-wird-schaerfer-100.html | 991 |
Greenscreen statt Hörsaal | So sieht ein typisches Greenscreen-Studio aus - an der Uni Köln gibt es jetzt eines (pa / dpa / J.-P. Strobel)
Im Erdgeschoss der Humanwissenschaftlichen Fakultät an der Uni Köln, im Raum 0.23, liegt so etwas wie die Zukunft der Hochschule, zumindest ein Teil davon: das deutschlandweit erste vollautomatische Filmstudio an einer Uni. "Und das ist auch schon das wichtigste Teil…" - Udo Kullik, der Leiter des Zentrums Netzwerk Medien an der Fakultät, steht in einem kleinen Vorraum in dessen Mitte auf einem Pult ein Tablet steht. "Man muss sich natürlich als Dozent hier authentifizieren", sagt Kullik und gibt auf dem Tablet seinen Benutzernamen und Passwort ein. "Die erste Frage ist hier schon: Möchten Sie ein fakultätsspezifisches Design oder ein allgemeines Uni-Design?" Das Programm fragt noch weitere Details ab: Gibt es einen Gebärdendolmetscher, einen Interview-Partner, wie soll der Film später gespeichert werden? "Und ich möchte eine Präsentation aufzeichnen. Deshalb werde ich jetzt aufgefordert, in das Studio zu gehen."
Vermehrt Bedarf an Aufzeichnungen
Udo Kullik geht durch eine Tür in einen etwa 30 Quadratmeter großen Raum, das Studio. Zwei helle Scheinwerfer leuchten von der Decke auf ein Pult und die dahinter liegende grüne Wand - den green screen. Auf dieser Wand wird im Video später die Präsentation zu sehen sein. "Es gibt vermehrt den Bedarf an Aufzeichnung von Veranstaltungen", begründet Udo Kullik. Wie viele andere Hochschulen, hat auch die Uni Köln etliche Hörsäle mit automatisierten Kamerasystemen ausgestattet, die Vorlesungen aufzeichnen können. "Die zweite Sache ist aber, dass in der Vergangenheit öfters Kollegen zu uns kamen und sagten: Wir möchten gerne eine hochwertige Aufnahme im Studio. Aber in so einem Studio haben sie immer zwei bis drei Leute hinter der Kamera", so Kullik. Das Licht muss eingestellt, das Pult verrückt, die Präsentation eingebettet werden.
Automatisierte Aufnahme
"Die Digitalisierung erfordert immer mehr in diese Richtung, aber wir werden nicht das entsprechende Personal bekommen und deswegen haben wir gesagt, wir brauchen irgendetwas, was vollautomatisch läuft." Ein Jahr haben Kullik und seine Kollegen an der Umsetzung dieser Idee getüftelt. Anfang Dezember ging das Studio in Betrieb. Kullik steht jetzt hinter dem Pult, auf dem ein weiteres Tablet liegt. Ein großer roter Aufnahme-Button prangt auf dem Display. Der Medien-Experte zeigt auf einen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand. Direkt darunter ist eine kleine Kamera installiert. "Wir sehen uns so, wie wir dann auch aufgezeichnet werden. Und wenn ich jetzt hier auf den Button drücke, dann geht ein Countdown los. Und jetzt ist die Aufnahme gestartet."
Kurze Erklär-Videos und Präsentationen oder auch Interviews mit herausragenden Gast-Dozenten sollen hier in diesem "One-Button-Recording-Studio", also dem Ein-Klick-reicht-Studio, im Raum 0.23 in Zukunft entstehen - vollautomatisch und auch für Technik-unerfahrene Benutzer geeignet. "Und so haben wir hier sechs verschiedene Szenarien, die unterschiedliche Einstellungen für Licht und Ton erfordern, die aber völlig automatisch laufen, so dass der Dozent sich um nichts kümmern muss."
Studierende lernen mit Videos
Ein Feedback der Studierenden, die ja die Zielgruppe der hier zu produzierenden Videos sind, gibt es noch nicht - weil bisher noch kaum Videos entstanden sind. Aber in vielen Gesprächen mit Studenten ist Kullik in den letzten Jahren klar geworden: "Dass sich das Verhalten der Studierenden geändert hat. Wenn ich heute mit denen über irgendetwas rede, sagen die: Das gucke ich mir auf Youtube an. Das entspricht eher der Art, sich heutiges Wissen anzueignen."
Die meisten Studenten an der Fakultät wissen noch nicht, dass es solche Videos bald auch "made in Cologne" gibt, aber finden die Idee prima: "Da habe ich jetzt noch nichts von gehört, aber das hört sich gut an. Wenn das die Dozenten unserer Uni direkt schon erklären, dann wissen wir ja, was verlangt ist." Und: "Ich nutze die persönlich oft auch, also es gibt ja mehreren Videos, eigentlich zu jedem Fach." Etwas mehr als 10.000 Euro hat das Studio gekostet. Sollte es bald schon gut gebucht sein, könnten noch weitere an anderen Fakultäten entstehen. Nach dem Vorbild dieses ersten und deutschlandweit bisher einzigen vollautomatischen "One Button Recording Studios". | Von Vivien Leue | Überfüllte Hörsäle, Jobben neben dem Studium, veränderte Lerngewohnheiten: Für Studierende gibt es viele Gründe, der klassischen Vorlesung fernzubleiben. Die Uni Köln reagiert jetzt darauf und hat als erste Hochschule in Deutschland ein vollautomatisches Filmstudio eingerichtet. | "2018-12-20T14:35:00+01:00" | "2020-01-27T18:26:40.663000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/virtuelle-vorlesung-greenscreen-statt-hoersaal-100.html | 992 |
Menschlicher Konsum als Mitursache für Artensterben | Der ehemalige Umweltminister und frühere UNEP-Chef Klaus Töpfer (picture alliance / dpa-Zentralbild/ ZB/ Britta Pedersen)
Dirk Müller: Es ist nicht einfach zu begreifen, diese Dimension, die die internationalen Forscher und Wissenschaftler gestern in Paris vorgelegt haben. Bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten sind ganz akut davon bedroht, auszusterben, für immer vom Planeten zu verschwinden. Acht Millionen Arten ungefähr sind insgesamt bekannt, registriert; eine Million davon konkret gefährdet. Ein Massenaussterben, das es in den zurückliegenden 500 Millionen Jahren Erdgeschichte erst fünfmal gegeben hat – so ungefähr. Das liegt laut des jüngsten Berichts auch an einer Diskriminierung der Arten – vielleicht nach dem Motto, ein Herz für den Panda und einen Spaten für den Regenwurm.
Das Ganze ist mindestens so schlimm wie der Klimawandel, sagt der Forscher Rupert Watson. Er ist jetzt schon mehrfach bei uns zitiert worden und für ihn ist ganz klar: Schuld ist der Mensch! – Am Telefon ist nun der frühere Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms, Professor Klaus Töpfer, Gründungsdirektor des Potsdamer Instituts für Transformative Nachhaltigkeitsforschung. Guten Morgen!
Klaus Töpfer: Einen schönen guten Morgen!
Töpfer: Der Mensch pickt sich nur essbare Arten heraus
Müller: Herr Töpfer, müssen wir zurück in die Höhlen, damit die Erde überlebt?
Töpfer: Ich glaube, das ist bei einer Perspektive von bis zu neun Milliarden Menschen allein von der Zahl her gar nicht denkbar, und es ist auch nicht das, was dieser Bericht fordert. Was wir fordern müssen, glaube ich, und was ja sehr einsichtig ist, ist zu fragen: Wenn wir immer mehr Menschen auf dieser Welt zu ernähren haben, wenn wir immer mehr Infrastrukturen bauen wollen, um mobil zu sein, um die Wasserversorgung zu verbessern, wenn wir immer mehr Land verbrauchen, um darauf Siedlungen und Wohnmöglichkeiten zu bauen, dann wird offenbar die verfügbare Landfläche immer geringer. Sie wird immer effizienter gestaltet.
Es gab und gibt Flurbereinigung und man muss ja das Wort fast auf der Zunge zergehen lassen. Flurbereinigungen werden so hergerichtet, dass sie möglichst produktiv in landwirtschaftliche Produktion hineingebracht werden können, und dann fallen natürlich die Vielfältigkeiten raus. Wir sind dabei, dass wir Einheitsböden praktisch schaffen. Die zu feuchten werden trocken gemacht. Deswegen die Zahl der Feuchtgebiete, die so drastisch zurückgeht: bis 85 Prozent. Und diejenigen, die zu trocken sind, werden bewässert. Das führt zu einer Durchschnittsstruktur und da wird auch nur eine Durchschnittsstruktur von Arten darauf eine Möglichkeit haben.
Und vergessen wir bitte nicht, dass vieles von dem, was hier eine Ursache ist, natürlich bis in den menschlichen Konsum hineingeht. Um nur mal eine Zahl zu nennen: Was glauben Sie, wie viele Hähnchen pro Tag in Hamburg verbraucht werden? Pro Tag 51.500. Da müssen wir mal überlegen, wenn wir solche Zahlen haben: Die müssen ja irgendwo ernährt worden sein, die müssen ja irgendwo produziert worden sein. Das ist ja eine industrielle Fertigung.
Wir sehen, dass wir viel Soja importieren. Viele von den Flächen, die in Lateinamerika diese Tendenz haben, sind ja deswegen so genutzt, weil ein Export in unsere Bereiche hineingeht. Das können Sie bei Soja sehen, das können Sie bei vielem anderen sehen. Und nicht zuletzt sehen wir, dass wir in einer unglaublich intensiven Form die Meere leerfischen und immer mehr deswegen auch darauf kommen, Fischfarmen zu machen, das heißt auch hier einen Weg zu gehen, indem man nur noch die Arten herauspickt, die in ganz besonderer Weise für Produktion von essbarem Fisch da sind, also es eine Verknappung der Artenvielfalt nach dem Gesichtspunkt gibt, wie kann sie der Mensch am besten nutzen, wie kann er sie am besten auf seinen Tisch bringen.
In Hamburg würden pro Tag 51.500 Hähnchen verbraucht, sagte Töpfer (imago/imagebroker)
Müller: Herr Töpfer, jetzt habe ich fast meine Fragen vergessen, weil ich Ihnen so zugehört habe.
Töpfer: Das tut mir ganz herzlich leid, aber es ist nun mal so.
"Wir koppeln uns von der Natur wieder ab"
Müller: Jetzt müssen wir ins Interview noch mal einsteigen. – Herr Töpfer, wenn Sie neun Milliarden skizzieren – das ist ja so gut wie unumstritten, diese Prognose; jedenfalls sagen das ja viele Beobachter und Forscher – und all das, was damit verbunden ist, dann kann es doch jetzt hier heute an diesem Morgen nur einen Schluss geben: Es wird alles noch schlimmer!
Töpfer: Nein! Ich glaube, das ist ja auch von Frau Dias deutlich gemacht worden. Man kann natürlich Änderungen und man muss Änderungen denken und umsetzen. Sehen Sie, wir gehen in Bereiche hinein, die bisher gar nicht gedacht worden sind. Vieles aus der landwirtschaftlichen Produktion kann bis in die Städte hineingebracht werden. Wir sprechen von "urban agriculture". Wir sehen solche Städte wie Singapur und Katar, die außerordentlich stark daran interessiert sind, so etwas zu produzieren.
Das heißt, wir koppeln uns ja in diesem Sinne von der Natur wieder ab und hoffen, hier haben wir dann die Chancen, wieder sehr viel mehr auch naturbezogene Nutzung in die Fläche zurückzubringen. Das ist ja nicht unumkehrbar, aber es ist natürlich nur mit wirklich veränderten Gesichtspunkten zu machen. Wenn jemand hinkommt und meint, wir könnten das über die verbliebenen Böden mit immer größerer Intensität erreichen, dann werden wir diese Vielfalt nicht mehr haben können.
Müller: Aber Sie, Herr Töpfer, Sie wussten das schon in den 80ern und haben auch in den 90ern auch als Umweltminister immer wieder dafür argumentiert, und andere wussten das ja auch. Trotzdem hat sich nicht wirklich etwas getan. Weil die Politik niemals in der Lage sein wird, diese Konsequenzen zu ziehen?
Töpfer: Ich glaube nicht, dass das niemals richtig ist. Natürlich hat es auch schon Veränderungen gegeben. Eine Flurbereinigung heute ist etwas anderes als eine Flurbereinigung vor 10 oder 15 Jahren und sie wird noch weiter sich in eine Flurbereinigung hinein entwickeln, die nicht mehr für mehr Produktion, sondern für mehr biologische Vielfalt in der Fläche sorgt. Auch das ist ja eine Produktion, die leider Gottes bisher mehr oder weniger unentgeltlich erbracht werden muss.
Wir bezahlen für die landwirtschaftlichen Produkte der Fläche, aber nicht für die Produkte, die wir in der Artenvielfalt haben, die wie gesagt für das Überleben der Menschheit mindestens so wichtig sind wie das, was wir auch im Klimabereich haben. Nebenbei: Die beiden Dinge zu trennen, ist von vornherein schon falsch. Sie gehören genau miteinander zusammen. Auch das ist immer und immer wieder gesagt worden.
Müller: Entschuldigung, Herr Töpfer. Warum sollte das jetzt funktionieren, auf mein Argument zurückkommend, auf meine Frage? Das wissen wir schon seit Jahrzehnten und trotzdem werden die Werte ja grundsätzlich auch global gesehen immer schlechter jedes Jahr. Es wird ja nicht besser.
Töpfer: Wir können uns wieder einmal den Klimawandel ansehen. Auch da ist über wie viele Jahre und Jahrzehnte hinaus argumentiert worden, es muss sich etwas verändern. Und dann kommt auf einmal ein Kipppunkt. Dann kommt so etwas wie das Kyoto-Protokoll und dann kommt so etwas, wo die Staatengemeinschaften zusammenarbeiten. Dann kommt so ein Treffen wie in Paris, wo etwas gemacht wird und verbindliche Zahlen festgelegt werden für die Länder und für die globale Entwicklung.
"Aus Resignation heraus sind Probleme entstanden, aber nie gelöst worden"
Müller: Protokollarisch jedenfalls?
Töpfer: Ja nun! Dass daran jetzt wirklich ernsthaft gearbeitet wird, ist nicht mehr infrage zu stellen. Wenn wir uns wirklich klarmachen, dass wir etwa in unserer Mobilitätspolitik eine grundsätzliche Änderung machen, dann ist das eine dem Klima geschuldete Notwendigkeit, und vieles andere auch. Ich bin noch nicht in der Situation, dass ich sage, resigniere, es läuft ohnedies so weiter. Aus Resignation heraus sind Probleme entstanden, aber nie gelöst worden.
Müller: Sie wollen Optimist bleiben, weil sich das so gehört?
Töpfer: Nein! Zweckoptimismus ist genauso schlimm wie Pessimismus. Er beruhigt an falscher Stelle und führt nicht zur Änderung von Verhalten und auch nicht zur Überprüfung von Technologien. Beides ist ganz wichtig. Wir brauchen einen realistischen Optimismus, eine klare Festlegung, welche Handlungsabläufe sind möglich, und das kann man in Deutschland und muss man in Deutschland beginnen und das muss man in die globale Dimension mit hineinnehmen, genauso wie es im Klimawandel ist. Der Klimawandel ist eine globale Fragestellung, auch dieses global durch Handelsströme und vieles andere mehr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Klaus Töpfer im Gespräch mit Dirk Müller | Ursache für die Bedrohung der Artenvielfalt ist nach Ansicht von Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) auch der menschliche Konsum. Es gebe eine Verknappung der Arten nach dem Gesichtspunkt, welche der Mensch essen könne, sagte Töpfer im Dlf. In Hamburg etwa würden täglich 51.500 Hähnchen gegessen. | "2019-05-07T08:15:00+02:00" | "2020-01-26T22:50:39.506000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ex-umweltminister-toepfer-menschlicher-konsum-als-100.html | 993 |
"Jetzt andere Rezepte finden als in den 60ern und 70ern" | "Der Staat hat sich zurückgezogen und zunehmend das Wohnen dem Markt überlassen", sagt Nikolaus Hirsch, Kurator der Ausstellung "Wohnungsfrage", im DLF. (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
Maja Ellmenreich: Wohnen Sie noch, oder leben Sie schon? Man mag zum schwedischen Möbelhaus stehen wie man will, aber in dieser Frage steckt viel Weisheit, denn die eigenen vier Wände, ob nun wirklich Eigentum oder gemietet, sind mehr als die bloße Begrenzung des Raumes, in dem man sitzt, liegt, isst, schläft, kocht und sich wäscht. In unseren eigenen vier Wänden erleben wir unwiederbringliche Zeit, dort fühlen wir uns wohl, sicher, geborgen und zuhause, oder auch nicht. Soviel zum Emotionalen. Fakt ist, dass guter Wohnraum in Deutschland knapp und teuer ist, und das nicht erst, seitdem hunderttausende Flüchtlinge bei uns eine neue Heimat suchen.
Die Wohnungsfrage stellt man seit heute Mittag im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Eine Ausstellung, eine internationale Akademie, eine Publikationsreihe, all das steht unter der Überschrift "Wohnungsfrage" und einer der Kuratoren des Projektes ist der Architekt Nikolaus Hirsch.
Die ohnehin in Deutschland dringende Forderung nach mehr Wohnraum wird durch die Flüchtlingsströme noch dringender. Meine Frage an Nikolaus Hirsch, ohne geschmacklos klingen zu wollen: Ist das nicht ein dankbarer Impuls, der vielleicht dazu führt, bessere Antworten auf die deutschen Wohnungsfragen zu bekommen?
Nikolaus Hirsch: Vielleicht keine besseren Fragen. Aber ich glaube, der Impuls ist natürlich notwendig, dass ein gewisser Druck auch entsteht, denn in den vergangenen 20 Jahren wurde eigentlich so getan, als sei das überhaupt kein Thema mehr. Und heute ist das Thema Wohnungsbau wieder mit aller Macht zurückgekommen, und klar liegt das an den Zahlen, an dem Mangel an Wohnungen, an Verdrängungsprozessen, Luxussanierungen und auch an Flüchtlingen. Man muss aber natürlich auch feststellen, dass es nicht nur um nummerische Fragen geht, sondern auch, wie man das Wohnen organisiert, wie man plant, wer beteiligt ist.
Ellmenreich: Wer reagiert denn in den letzten Jahren nicht auf den Druck? An wen richtet man jetzt die Frage noch dringlicher?
Hirsch: Man kann natürlich feststellen, dass die klassischen Instrumente, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten benutzt wurden, nämlich Wohnungsbaugesellschaften oder im weitesten Sinn der Staat, sich zurückgezogen haben und zunehmend das Wohnen dem Markt überlassen haben. Städte wie Dresden zum Beispiel haben ihren kompletten kommunalen Bestand an Wohnungen verkauft, und das hat natürlich die Handlungsfähigkeit extrem eingeschränkt, weil man eben dachte, schrumpfende Gesellschaft, wir haben eh genügend Wohnungen. Das hat sich jetzt natürlich als Irrtum herausgestellt, denn die Bevölkerungszahl bleibt mehr oder weniger gleich durch Immigration, und gleichzeitig brauchen die Menschen mehr Platz und jetzt haben wir gerade in großen Städten einen Wohnungsmangel. Und das ist die Herausforderung, nun andere Rezepte zu finden, als sie in den 60er- und 70er-Jahren im Massenwohnungsbau gefunden wurden.
Ellmenreich: Was für Rezepte sind das?
Hirsch:!! Unser Ansatzpunkt hier auch in der Ausstellung, die wir in Berlin machen, ist, eigentlich die Frage nach dem Bauherrn zu stellen. Wenn der Staat sich zunehmend aus diesen Problemen zurückgezogen hat, muss man vielleicht schauen, wer sind dann die Bauherrn, wer könnte heute diese Rolle übernehmen. Wir haben hier in Berlin mit einigen Initiativen zusammengearbeitet, die das Problem in die eigene Hand nehmen. Man kann hier zum Teil an historische Modelle anschließen wie Genossenschaften und Kooperativen, und insofern haben wir gesagt, wir wollen eigentlich hier Projekte vorschlagen, die ein bisschen von dieser Top-Down-Warnung weggehen, möglichst viele Akteure zusammen an einen Tisch zu bringen.
Ellmenreich: Mehr Raum, haben Sie gerade schon gesagt. Was wünscht sich sozusagen das Down, der Endverbraucher vom Top, vom Bauherrn?
Hirsch: Der Endverbraucher wünscht sich Partizipation, um von dieser Fremdbestimmung auch wegzukommen und sich sozusagen nur als Opfer von Wohnungsbaupolitik oder auch Profiteur von Wohnungsbaupolitik zu fühlen.
Ellmenreich: Wir möchten selbstbestimmt, individuell unsere Wünsche äußern können. Ist das der Hauptwunsch, das Hauptanliegen des Wohnenden im Jahr 2015?
Hirsch: Das klingt so nach Selbstverwirklichung. Ich glaube, darum geht es erst mal nicht primär. Es geht aber darum, dass heute sehr unterschiedliche Lebensmodelle herrschen. Man merkt, Biographien werden immer differenzierter, immer unterschiedlicher, Familien verändern sich. Ich glaube, die ganze Frage der Demographie und wie sie sich abbildet im Wohnen ist eine ganz große Frage. Es gibt nicht mehr stereotype Familienmodelle, wie es sie vielleicht noch vor 50 Jahren gab, und darauf muss die Architektur, muss der Wohnungsbau reagieren.
Ellmenreich: Aber so eine Reaktion braucht Zeit. Wie vorausschauend muss man eigentlich planen in Sachen Wohnungsbau, um wirklich einen demographischen Wandel vorwegzunehmen und vorauszuahnen?
Hirsch: Vorwegnehmen kann man den demographischen Wandel nicht mehr. Man ist ohnehin zu spät oder hinkt hinterher und kann versuchen, hier Akteure zu finden, die da mitziehen, die wirklich in die Planung mit einsteigen. Man braucht auch die richtigen Architekten dafür, man braucht auch die richtigen ökonomischen Modelle, denn das Ganze ist natürlich auch kein Wunschkonzert, und hier liegt natürlich auch ein politischer Handlungsraum. Ob wirklich die Rendite immer das wesentliche Argument ist, ist genau die Frage.
Ellmenreich: Und die stellt der Architekt Nikolaus Hirsch, Kurator des Wohnungsfrage-Projektes am Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Nikolaus Hirsch im Gespräch mit Maja Ellmenreich | Wohnraum war knapp in Deutschland, schon bevor hunderttausende Flüchtlinge kamen. Offenbar habe erst ein gewisser Druck entstehen müssen, um die Not zu erkennen und an Lösungen zu arbeiten, sagte der Kurator der Berliner Ausstellung "Wohnungsfrage", Nikolaus Hirsch, im DLF. Das liege "an dem Mangel an Wohnungen, an Verdrängungsprozessen, Luxussanierungen und auch an Flüchtlingen". | "2015-10-23T17:45:00+02:00" | "2020-01-30T13:05:50.851000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/wohnungsbau-jetzt-andere-rezepte-finden-als-in-den-60ern-100.html | 994 |
"Wir nutzen unsere Potenziale nicht, Kinder zu befähigen" | Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, Volkswirtschaftsprofessor und Buchautor (Anke Jacob)
Christiane Florin: Herr Cremer, einer der ersten Sätze, die Kinder sagen, lautet: "Das ist ungerecht." Was war für Sie als Kind ungerecht?
Georg Cremer: Ungerecht war, wenn irgendwas nicht gleich verteilt war. Ich hatte drei ältere Brüder, ich fand es ungerecht, dass ich weniger Rechte hatte als meine älteren Brüder und früher ins Bett musste. Aber an schlimmere Dinge erinnere ich mich nicht.
Florin: Was finden Sie heute ungerecht in Deutschland?
Cremer: Gerechtigkeit ist eine mehrdimensionale Geschichte. Ich finde vieles, was in Deutschland wirklich sehr gut ist. Ich finde es besonders herausfordernd oder ungerecht, wenn wir deutlich unter unseren Möglichkeiten bleiben, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Also den weiterhin engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg empfinde ich als ungerecht. Die Tatsache, dass der Schulerfolg auch vom Wohnort abhängt, weil die befähigende Qualität des Bildungssystems regional sehr starke Unterschiede aufweist.
Florin: Wo ist das Bildungssystem gut, wo ist es schlecht?
Cremer: Wir haben als Caritas untersuchen lassen, wie hoch der Anteil der Kinder ist, die in der Schule scheitern. Wir sehen da extreme Unterschiede zwischen Kreisen, wo vielleicht jedes 50. Kind in der Schule scheitert und Kreisen, wo jedes achte, jedes neunte Kind in der Schule scheitert, keinen Hauptschulabschluss bekommt. Das zeigt einfach massive Defizite vor Ort auf, dass wir unsere Potenziale nicht nutzen, Kinder zu befähigen. Das finde ich die größte Herausforderung derzeit für den Sozialstaat in Deutschland.
"Den gesunden Menschenverstand auch bei der Debatte zum Sozialstaat anschalten"
Florin: Sie haben in einem Zeitungsartikel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die "empiriefreie Empörung" beim Thema soziale Gerechtigkeit beklagt. Wer empört sich da über wen empiriefrei?
Cremer: Ich finde, dass die Sozialstaatsdebatte oder die Debatte zum Sozialstaat in extremen Lagern geführt wird. Das ist zum einen eine übersteigerte Empörung über den Sozialabbau in Deutschland, der nicht stattgefunden hat. Also massive Klagen, die dann letztlich zu einer folgenlosen Empörung führen und nicht die Debatte konzentrieren auf die Frage, was wir ganz konkret an Schritten zur Armutsprävention tun können. Dann gibt es natürlich das andere Lager, was diesen Sozialstaat für aufgeblasen hält, für einen Widerspruch zur Freiheit und empiriefrei behauptet, der Sozialstaat sei am Ideal der Gleichheit orientiert usw. Diese Debatte in Lagern hilft uns nicht weiter.
Florin: Sollte sich zum Thema Gerechtigkeit nur äußern, wer Statistik studiert hat?
Cremer: Nein, natürlich nicht. Man muss nicht Statistik studiert haben. Aber man sollte den gesunden Menschenverstand auch bei der Debatte zum Sozialstaat anschalten. Beispielsweise sprechen wir über Armut und Armutsrisiko und wir messen dies an der Armutsrisikoquote. Das ist der Anteil der Menschen, die weniger als 917,00 Euro pro Monat zur Verfügung haben. Das ist statistisch völlig okay. Aber dann müssen wir auch darüber nachdenken, ob denn wirklich Studierende und Auszubildende, die temporär mit wenig Geld auskommen, dann ja wirklich ein soziales Problem sind.
Florin: Sie sagen also, die Zahl ist zu hoch, wenn man das so bemisst?
Cremer: Ich sage, die Zahl ist ein Armutsrisiko und man muss dann gucken, wer arm ist oder ein soziales Problem hat und wo unsere Risikogruppen sind. Unsere Risikogruppen sind nicht die Studierenden, sind nicht die Auszubildenden. Unsere Risiken sind die Langzeitarbeitslosen und unsere Risiken sind die Menschen, die aufgrund durchbrochener Berufsbiographien in die Altersarmut hinein schlittern werden. Unsere Risiken sind auch Arme oder Niedrigeinkommensbezieher im städtischen Bereich, die aufgrund hoher Mieten eben ein besonderes Risiko haben. Und wenn wir die Debatte so führen, dann fokussieren wir sie eben auch auf den Handlungsbedarf. Zum Beispiel auf den sozialen Wohnungsbau, zum Beispiel auf eine Arbeitsmarktpolitik, die nicht kapituliert vor der verfestigten Sockelarbeitslosigkeit oder auf ein Bildungssystem, das eben besser wird und den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg lockerer macht.
"Politischer Wille ist die entscheidende Ressource"
Florin: Ich greife das jetzt noch einmal auf, weil Sie es schon zweimal erwähnt haben: den Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft, also den sogenannten bildungsfernen Schichten, und dem schulischen Erfolg. Seit Jahren wird mantramäßig wiederholt, dass in keinem europäischen Land dieser Zusammenhang so deutlich erkennbar ist wie in Deutschland. Warum geschieht so wenig?
Cremer: Also zum einen würde ich sagen, auch andere Länder haben dieses Problem. Wir haben auch eine leichte Tendenz in Deutschland, immer zu sagen: "Wir haben dieses Problem in besonderer Weise." So als wären wir Verelendungsweltmeister. Wir haben dieses Problem. Nach dem PISA-Schock ist aber massiv investiert worden oder ist zumindest sehr viel gemacht worden, die Leseschwäche von Schülern zu überwinden. Also die Lesewerte in der PISA-Untersuchung sind deutlich besser, aber letztlich ist es ein Konflikt um Ressourcen und man müsste die personelle Ausstattung, Klassengrößen usw. gerade spezifisch in Brennpunkt-Schulen oder in Schulen in sozial abgehängten Wohngebieten deutlich verbessern. Aber das würde auf den erheblichen Protest der bürgerlichen Mitte stoßen, davon bin ich überzeugt.
Florin: Wer ist "man" in diesem Zusammenhang? Wer müsste was machen?
Cremer: Die Schulpolitik der Länder und die ergänzende Schulpolitik der Kommunen. Und die großen regionalen Unterschiede in den Erfolgs- oder Misserfolgsquoten zwischen den Kreisen zeigt ja auch, dass man handeln kann und dass politischer Wille die entscheidende Ressource ist.
Florin: Mangelt es an politischem Willen?
Cremer: Ach Gott. So allgemein kann man das natürlich auch nicht sagen. Aber eine Armutsdebatte oder eine Debatte zur Armutsprävention, die eben wegginge von dem rituellen Starren auf die statistischen Daten und hinginge zu diesen konkreten Problemen, die ich benannt habe, würde auch vor Ort mehr an Lösungsorientierung hervorbringen und vielleicht auch den politischen Willen stärken.
Florin: Sehen Sie denn eine Partei, die sich Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat? Die dafür kämpft?
"Wer keine Ausbildung hat, hat ein extrem erhöhtes Armutsrisiko"
Cremer: Eigentlich schreibt sich ja jede Partei Gerechtigkeit auf die Fahnen. Nur ist natürlich Gerechtigkeit ein sehr abstraktes Wort. Wir brauchen natürlich Umverteilung, wir haben in Deutschland ein hohes Maß an Umverteilung. Aber ich glaube, wir können durchaus – jedenfalls so die Forderung der Caritas – einiges noch mehr tun für Hartz IV-Empfänger, sie besser materiell absichern. Wir könnten was in der Grundsicherung im Alter tun. Dann macht man aber Politik für Randgruppen und das ist natürlich für jede Partei risikoreich, weil sie auch dann die entsprechenden Belastungen finanzieren muss.
Florin: Kann es nicht sein, dass der politische Wille, über den wir vorhin gesprochen haben, auch deshalb nicht so ausgeprägt ist, weil abgehängte, oder Menschen, die sich abgehängt fühlen, die arm sind, selten zur Wahl gehen?
Cremer: Das ist ein sehr zentrales Problem. Die nach sozialen Milieus extrem unterschiedliche Wahlbeteiligung wird zu einem Problem der demokratischen Repräsentativität und irgendwann auch zu einem Legitimationsproblem des demokratischen Systems. Ich habe allerdings da keine irgendwie geartete Lösung. Meine Hoffnung wäre, dass lösungsorientiertere politische Debatten vielleicht ein Stück hilfreich sein könnten. Möglicherweise kann ein politisches Interesse der nichtwählenden Milieus auch eher im lokalpolitischen Rahmen überwunden werden. Denn nicht zu wählen, stellt natürlich auch einen Faktor oder ich sage, ein Indiz der Selbstexklusion.
Florin: Im September erscheint ein Buch von Ihnen. Wie kann ein Buch Armut bekämpfen?
Cremer: Ja, das Buch heißt "Armut in Deutschland. Wer ist arm, was läuft schief, wie können wir handeln?" Und ich versuche einerseits, das Phänomen Armut in Deutschland zu beschreiben, auch zu verteidigen, dass wir Armut relativ an den Lebensmöglichkeiten der Mitte in Deutschland messen, aber eben auf konkrete Schritte der Armutsbekämpfung einzugehen, sowohl was die Umverteilung angeht, als auch was befähigende Ansätze angeht. Natürlich kann ein Buch Armut nicht bekämpfen, aber eine politische Debatte, zu denen dieses Buch beitragen soll, kann hoffentlich Wirkung entfalten.
Florin: Was läuft schief an der Debatte?
Cremer: An der Debatte läuft schief, dass, wenn wir den Sozialstaat verbessern - und das haben wir ja in manchen Bereichen getan, denken Sie an die Grundsicherung im Alter - das gleichzeitig diskutiert wird als ein Anstieg der Altersarmut, weil die Zahl der Empfänger zugenommen hat. Die Zahl der Empfänger hat aber zugenommen, weil das Hilfesystem an dieser Stelle deutlich verbessert wurde. Das ist ein Beispiel, wo die Debatte schief läuft. Aber die Frage ist eher, was läuft schief, dass wir Armut nicht stärker präventiv bekämpfen, als uns das heute gelingt?
Und dann würde ich schon sagen, das eine ist noch mal dieser Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildung. Wer keine Ausbildung hat, hat ein extrem erhöhtes Armutsrisiko und ein Element, wo es schief läuft, ist, dass Menschen, die im Niedrigeinkommensbereich sind, gar nicht für ihr Alter vorsorgen können, weil alles, was sie ansparen, ihnen dann später, wenn sie dennoch auf ergänzende Grundsicherung angewiesen sind, wieder bei der Berechnung der Grundsicherung abgenommen sind. Sie sind also die Dummen, die gespart haben, aber trotzdem davon nichts haben.
Cremer: Konkurrenz der Armen verhindern
Florin: Gibt es eine Konkurrenz der Armen um Wohnraum, um Jobs, um Chancen? Manche Parteien, nicht nur die AfD versuchen das ja zu suggerieren.
Cremer: Wenn es eine Konkurrenz gibt, dann muss man natürlich sagen, trifft diese Konkurrenz eher die Menschen unten. Es sind die Menschen, die angewiesen sind auf billigen Wohnraum oder günstigen Wohnraum, die in Konkurrenz zu Flüchtlingen stehen oder die einen Job im Niedriglohnsektor oder im Bereich der geringer qualifizierten Arbeit brauchen. Also müssen wir alles tun, um eine solche Konkurrenzu zu verhindern. Und die Situation der Aufnahme von Flüchtlingen zeigt auch, dass wir in bestimmten Bereichen notwendige politische Schritte versäumt haben. Der soziale Wohnungsbau lag darnieder und der Anstieg der Mieten in den Ballungsräumen haben wir ja nicht, erst seit die Flüchtlinge zu uns kamen.
Florin: Der Philosoph Peter Sloterdijk hat vor Jahren einmal einen "Semi-Sozialismus" beklagt in Deutschland und der Medienwissenschaftler Norbert Bolz die "Despotie der Betreuer". Damit wurde der Sozialstaat verächtlich gemacht. Kann es sein, dass Sozialpolitik, auch weil Intellektuelle sich in dieser Weise äußern, eine gewisse Zeitlang nicht schick war?
Cremer: Es wurde ein Gegensatz konstruiert von Sozialpolitik und Freiheit. Und diesen Gegensatz halte ich für völlig abwegig. Natürlich wird der Sozialstaat über Steuern und wenn Sie so wollen, damit über Zwang finanziert. Aber zu diesem Zwang haben wir uns immer in Wahlen bekannt. Sozialstaat stützt Freiheit, wenn er Menschen Ressourcen gibt, damit sie angemessen leben können. Und wir sehen das ja in den USA, wenn Ihre Krankenversicherung an den Arbeitgeber gebunden ist, dann verlieren Sie als chronisch Kranker zwei sehr zentrale bürgerliche Rechte. Sie können nämlich nicht den Arbeitgeber so einfach wechseln und Sie können auch nicht den Wohnort wechseln, weil der an Ihren Arbeitsplatz gebunden ist.
Das heißt eine vernünftige sozialstaatliche Sicherung stützt Freiheit und insofern finde ich diesen Diskurs von rechts Sozialpolitik als Gefährdung der Freiheit völlig absurd. Meines Erachtens ist auch der Vorwurf absurd, der Sozialstaat in Deutschland wäre radikal am Bild der Gleichheit orientiert. Man muss nur mit Hartz IV-Empfängern reden, um zu wissen, dass das Unfug ist.
Florin: Wie oft reden Sie mit Hartz IV-Empfängern?
Cremer: Ich gehe relativ häufig in Beratungsstellen der Caritas und spreche dort auch mit Leuten, die sich dort beraten lassen. Und ich bin in engem Kontakt mit den Sozialarbeitern oder mit Aktiven der Caritas, so dass ich hoffe, etwas von ihrer Lebenssituation mitzubekommen.
"Verlogen wird es dann, wenn die Selbstverantwortung betont wird"
Florin: Wenn ich jogge, dann sehe ich viele mit Fitnessarmbändern. Manche machen sogar ihre Werte dann auf Facebook öffentlich. "Seht her, so gesund verhalte ich mich", soll uns das wohl sagen. Die Kehrseite: Wer krank ist, der gilt als selbst schuld und wer alt ist, der hat eben zu wenig Anti-Aging betrieben und wer arm ist, der hat eben zu wenig an sich gearbeitet. Sehen Sie so eine Selbst-Schuld-Mentalität auch?
Cremer: Auch da finde ich, muss man aufpassen, dass man nicht in unproduktiven Lagern debattiert. Es gibt einen Selbstverantwortungsdiskurs, der überzogen ist und so tut, als seien soziale Notlagen selbst verschuldet. Und gerade, weil das so ist, gibt es auf der anderen Seite aber Menschen, die jedes Mal, wenn das Wort Selbstverantwortung fällt, sofort ihre Nackenhaare steil stellen. Der Befähigungsansatz von Amartya Sen, mit dem wir uns ja stark orientieren, betont, dass Menschen Fähigkeiten entfalten müssen. Und ich finde das keinen neoliberalen Diskurs.
Verlogen wird es aber dann, wenn die Selbstverantwortung betont wird und wenn Leute in Sonntagspredigen die Selbstverantwortung hochpreisen und werktags aber zum Beispiel den Ausbau der Schulsozialarbeit blockieren. Wer von selbst Verantwortung oder Eigenverantwortung spricht, muss sich auch der Frage stellen, wie Menschen in die Lage kommen, überhaupt ihr Leben in die Hand nehmen zu können.
Florin: Die Worte Chancengerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit kannte ich natürlich, aber Befähigungsgerechtigkeit – habe ich in Ihren Texten gelesen – dieses Wort war mir neu. Was meint das genau?
Cremer: Es ist eine Erweiterung des Gerechtigkeitsdiskurses. Und es geht ja letztlich um ein gelingendes Leben. Und um ein gelingendes Leben führen zu können, brauchen Menschen Fähigkeiten. Und diese Fähigkeiten müssen sie entwickeln. Und wer eben in einem gefestigten, stabilen, bürgerlichen Milieu aufwächst und sich einbildet, alles, was er dann im Leben erreicht hat, ist Ergebnis seiner Anstrengung und seiner eigenen Fähigkeiten, verkennt natürlich, wie viel er mitbekommen hat. Und ein Bildungssystem, übrigens auch zivilgesellschaftliches Engagement, kann eben diesen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lebenschancen deutlich lockern.
Florin: Und wer soll das bezahlen?
Cremer: Zum einen glaube ich, dass wir Ressourcen haben in diesem Sozialstaat, die wir besser nutzen können. Wir versuchen gerade als Caritas in den katholischen Geburtskliniken ein Netz früher Hilfen aufzubauen, wo Sozialarbeiterinnen zu den Familien oder den alleinerziehenden Müttern Kontakt aufnehmen, um sie auch zu ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen später, wenn das notwendig ist. Das sind im Prinzip minimale Kosten. Und sicherlich wird man an der einen oder anderen Stelle auch mehr investieren müssen, dann kommt man natürlich in die Konflikte einer Steuerfinanzierung, die unvermeidbar sind.
Abstiegsängste: "Die Mitte ist panischer, als sie sein müsste"
Florin: Wenn mehr zu zahlen wäre, wer soll das zahlen, die Mittelschicht oder die sehr Vermögenden?
Cremer: Das Problem ist einfach, dass die ganz sehr Vermögenden zum Teil Möglichkeiten haben, sich der Steuerbelastung zu entziehen oder die Gruppe auch vergleichsweise klein ist. Und es ist eine sehr kluge Abschätzung der Heinrich-Böll-Stiftung, dass man mit den verschiedenen Instrumenten vielleicht 20 bis 40 Milliarden Euro mehr einnehmen könnte. Ich halte die untere Zahl für realistischer als die obere Zahl. 20 Milliarden für Befähigung wäre natürlich sehr viel Geld. Aber wir geben jetzt schon im staatlichen System einschließlich der Sozialversicherungssysteme 1.200 Milliarden aus, das heißt wir beamen uns nicht in ganz andere Dimensionen.
Wir müssen also auch gucken, wie wir die Systeme wirksamer machen und sicherlich wird man auch einiges umverteilen müssen für Randgruppen, die natürlich weniger politische Durchsetzungschancen haben als die Mitte selbst. Aber eine große Ausdehnung des staatlichen Sektors ginge zu Lasten der Mitte und nicht allein zu Lasten der Reichen und niemand der Mitte hält sich ja für reich, sondern die Grenze zum Reichtum beginnt ja immer oberhalb des eigenen Einkommens.
Florin: Es ist viel von Abstiegsängsten in der Mitte die Rede. Es gibt dazu Bücher, von Heinz Bude zum Beispiel, eines heißt "Bildungspanik". Halten Sie diese Abstiegsängste erstens für vorhanden und zweitens für berechtigt?
Cremer: Ich glaube, dass die Mitte panischer ist, als sie sein müsste. Ganz prägend ist die Sorge, ob die Kinder die eigene Stellung halten können. Ich glaube, dass ein Teil dieser Panik auch damit zusammenhängt, dass wir nicht mehr in dieser Phase sind des Fahrstuhleffekts der Nachkriegsdekaden, wo es allen besser ging, sondern dass wir jetzt in einer Gesellschaft mit relativ niedrigen Wachstumsraten sind und wir keine Vision für eine solche Post-Wachstumsgesellschaft haben.
Wenn man sieht, wie stark es doch der Mitte gelingt, den Status an ihre eigenen Kinder weiterzugeben, könnte die Mitte gelassener sein. Natürlich gibt es auch prekäre Situationen in der Mitte, auch bei gut qualifizierten Leuten, wenn sie sich beispielsweise für den Kulturbereich entschieden haben, aber das Gros der Mitte ist weit besser gesichert, als es der öffentlichen Wahrnehmung entspricht.
Florin: Nun sind Sie Caritas-Generalsekretär, die Caritas ist der größte Arbeitgeber in Deutschland und gehört zur katholischen Kirche. Bedeuten nicht weniger Arme, also eine wirksamere Armutsbekämpfung, auch weniger Aufträge für die Caritas?
Cremer: Nein. Sie können die Frage natürlich jedem Zahnarzt stellen. Würden putzende Zähne der Bürger nicht das Geschäft kaputt machen? Die Caritas arbeitet für Kinder, für Jugendliche, sie betreut Alte, wir gucken mit Sorge, wie wir in der Zukunft genügend Personal für diese ganzen Aufgaben im demographischen Wandel gewinnen. Also wir brauchen nicht Elend, damit unser Geschäftsmodell erhalten bleibt.
"Wir kommen in Teilen auch an personelle Grenzen unserer Hilfsbereitschaft"
Florin: Ihnen fehlt eher Personal als Geld? Geld haben Sie genug?
Cremer: Geld hat man natürlich nie genug. Aber ich würde schon sagen, dass sich das Gefühl bezüglich des Fachkräftemangels deutlich verändert hat. Als ich 2000 anfing, war die Haltung doch: "Wir kriegen jede Stelle besetzt, die wir finanzieren können." Das ist heute vorbei. Wir haben in Bereichen, gerade in der Altenpflege oder jetzt auch bei der Betreuung von Flüchtlingen, erhebliche Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Das heißt wir kommen in Teilen auch an personelle Grenzen unserer Hilfsbereitschaft und das zeigt ja auch noch mal, wie zentral Befähigung ist, denn der Worst Case unseres Sozialstaats wäre doch eine Situation, wo uns einerseits die qualifizierten Arbeitskräfte ausgehen und wir andererseits aber Menschen unterstützen müssen, weil ihre Befähigung, ihre Bildung, ihre Ausbildung verpasst wurde.
Florin: Woran liegt das, dass Sie keine Leute finden? An der allgemeinen demographischen Entwicklung oder am nicht so attraktiven Image der Kirche?
Cremer: Die Kirche muss an ihrem Image arbeiten, auch gerade, was das kirchliche Arbeitsrecht angeht. Aber andere Wohlfahrtsverbände haben es (das Problem) auch, es ist kein kirchliches Phänomen. Es hat natürlich was zu tun mit den teilweise schwierigeren Arbeitsbedingungen, aber man muss natürlich auch daran arbeiten, die Attraktivität der Sozialberufe zu erhalten und auch dafür einzutreten, dass sie von der Vergütung her nicht hinter der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abhängen. Und das hat die Konkurrenz mit privatgewerblichen Anbietern, dieses Ziel ist erschwert worden.
Florin: Bezahlt die Caritas gerecht?
Cremer: Die Caritas zahlt im Vergleich zu anderen Anbietern gut. Wir brauchen uns nicht zu verstecken gegenüber Tarifen, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erkämpft wurden. Insofern würde ich sagen, grundsätzlich ja, zahlt die Caritas gerecht.
Florin: Sie haben in den 80er Jahren eine Zeitlang in Indonesien gelebt. Kommen Ihnen da die Probleme in Deutschland wie Luxus-Probleme vor?
Cremer: Nein, aber ich habe durch meine Zeit in Indonesien einen anderen Blick auf Deutschland bekommen. Ich war hyperkritisch mit den deutschen Verhältnissen, als ich nach Indonesien ging und ich habe diesen gefestigten Rechtsstaat und diesen Sozialstaat auch aus dem Blick der Verhältnisse eines diktatorischen Landes ohne soziale Sicherung schätzen und lieben gelernt. Aber die Probleme sind unsere Probleme, die wir angehen müssen. Ich bin allerdings sehr sensibel, wenn quasi relative Armut bei uns und absolute Armut in einen Topf gerührt werden und dort unbillige Vergleiche gezogen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Im September erscheint: Georg Cremer: "Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?" CH Beck Verlag. 272 Seiten, 16,95 Euro. | Georg Cremer im Gespräch mit Christiane Florin | Es sei ungerecht, dass es in Deutschland immer noch einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg gebe, sagte Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, im Deutschlandfunk. Man müsse Menschen besser unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Das sei derzeit die größte Herausforderung für den Sozialstaat in Deutschland. | "2016-08-21T17:05:00+02:00" | "2020-01-29T18:48:10.684000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/gerechtigkeit-in-deutschland-wir-nutzen-unsere-potenziale-100.html | 995 |
Gauweiler: "Diskriminierungsfrei gilt auch für deutsche Autofahrer" | Friedbert Meurer: An der Klausurtagung der CSU-Landesgruppe wird auch Peter Gauweiler teilnehmen. Seit dem letzten Parteitag ist er stellvertretender Parteivorsitzender der CSU. Guten Morgen, Herr Gauweiler!
Peter Gauweiler: Grüß Gott, guten Morgen!
Meurer: Die CSU geht auf Konfrontation im Bund. Ist Ihre Partei im Moment wieder etwas auf Krawall gebürstet?
Gauweiler: Was heißt Krawall? Politik ist Richtungsbestimmung, und Richtung geht nur bei Klarheit. Und Aufklärung kommt von "klar machen". Und insofern sind diese Tagungen für uns immer ein Beitrag, unsere politische Richtung klarzustellen.
Meurer: Was ist denn Ihre politische Richtung?
Gauweiler: Die politische Richtung der CSU geht in den politischen Feldern, die Sie gerade erwähnt haben, Europapolitik, Einwanderungspolitik, die Frage der richtigen Belastung und Entlastung unserer Bevölkerung. Und darauf hin, die Kirche beim zu Dorf zu lassen.
Meurer: Also eine ganze Reihe von Themen. Man fragt sich aber, Herr Gauweiler, die Tinte des Koalitionsvertrags ist kaum trocken, und schon legt die CSU los bei allen möglichen Themen. Geht es darum, wir blasen zur Attacke, dass dieser Eindruck entstehen soll?
Gauweiler: Es geht darum, diesen Unterschied zwischen einem Blitzschlag und einem nassen Streichholz in der Politik klarzumachen.
Meurer: Der Blitz soll wo einschlagen? Bei der SPD oder bei der CDU?
Gauweiler: Wir sollen die richtige Richtung wählen. Wir sind mit dem Koalitionsvertrag trotz aller Kritik, die dieses umfängliche Papier ja auch gefunden hat, ganz zufrieden. Und es geht jetzt um die Umsetzung. Und das ist in einer freiheitlichen parlamentarischen Verfassung natürlich mit einer diskursiven Auseinandersetzung verbunden. Die SPD-Kollegen, die Leute von der CDU und wir sind ja jetzt nicht in eine Koalition des Tiefschlafs gegangen, sondern um diese Dinge notfalls auch streitig, aber im Interesse der Sache durchzusetzen.
Meurer: Das mit der Klarheit mag ja, das kann man ja nachvollziehen, Herr Gauweiler.
Gauweiler: Immerhin. Das ist ja schon mal ein Anfang ...
Meurer: Aber nehmen wir mal zum Beispiel Ilse Aigner und ihren Vorschlag jetzt, Energiewende auf Kredit zu finanzieren. Ilse Aigner saß in der Arbeitsgruppe in der Koalition. Wochenlang hat man darüber geredet, jetzt kommt sie mit diesem Vorschlag um die Ecke gebogen. Ist das inhaltsorientiert?
Gauweiler: Na gut, die Ministerin Aigner hat hier pflichtgemäß eine Reihe von Finanzierungsmöglichkeiten in einem Rundschreiben an die anderen Ressorts dargelegt. Und auch diese ist ein Teil dieser Möglichkeiten. Das ist ihre Aufgabe. Dafür gibt es Ministerien, um die möglichen Alternativen darzulegen.
Meurer: Hätte sie doch in den Koalitionsverhandlungen schon sagen können.
Gauweiler: Die Koalitionsverhandlungen, die haben zunächst mal einen größeren Rahmen dargestellt. Es ist ja nicht so, dass jetzt nach den Koalitionsverhandlungen alle Minister zum Stillschweigen verurteilt wurden. Was ist denn das für eine Logik?
Meurer: Konkret wird es bei der Pkw-Maut jetzt. Da ist am Wochenende bekannt geworden oder durchgesickert, wie das Modell von Alexander Dobrindt aussehen soll. Meinen Sie, die Deutschen werden glücklich damit sein jetzt, demnächst sich eine Vignette zuzulegen und den ganzen bürokratischen Aufwand dafür?
Gauweiler: Also, überall, wo ich hinkomme, selbst beim Deutschlandfunk, empfinden es die Leute als große Ungerechtigkeit, dass von 27 europäischen Ländern in 26 Ländern alle zahlen müssen, bei uns aber nur die einheimischen Kfz-Steuerzahler zur Kasse gebeten werden. Und diese Ungerechtigkeit ist kein Dauerzustand. Und wir haben vor der Wahl versprochen, dass wir das ändern wollen, und wir tun jetzt das, was wir vor der Wahl versprochen haben. Das ist doch eigentlich das, was man von allen Parteien immer verlangt.
Meurer: Der EU-Kommissar Siim Kallas aus Estland hat sich jetzt heute Morgen gemeldet in der "Bild"-Zeitung und wieder darauf aufmerksam gemacht: Eine Pkw-Maut muss mit dem Europarecht vereinbar sein. Und sagt beispielsweise, Ökorabatte muss es dann natürlich auch für ausländische Fahrzeuge geben. Zustimmung?
Gauweiler: Das ist ein ganz ein gescheiter Hinweis von diesem EU-Kommissar, von dem ich noch nie was gehört habe. Und über die Bestandskraft des EU-Rechts – das wissen wir alle. Aber das sind ja nicht die Gesetzestafeln, die uns unveränderlich übergeben worden sind, sondern wie biegsam das EU-Recht ist, das erleben wir ja dauernd bei der Währungsdebatte, wo eine Regel nach der anderen von den Stabilitätskriterien gebrochen wird. Natürlich müssen wir am EU-Recht immer auch überlegen, was muss der Realität angepasst werden. Wir wählen jetzt bald das Europäische Parlament ja doch nicht, um zu allem Ja und Amen zu sagen, sondern um uns da einzubringen und eine gerechte und diskriminierungsfreie Regelung zu bringen. Diskriminierungsfrei gilt aber auch für deutsche Autofahrer.
Meurer: Ihnen ist das Recht ja wichtig. Sie sind ja mehrmals nach Karlsruhe gezogen gegen die Euro-Rettungspolitik.
Peter GauweilerGeboren 1949 in München, Bayern. Der CSU-Politiker studierte in München Rechtswissenschaften und promovierte nach seinem zweiten Staatsexamen 1978 in Berlin. Er ist geschäftsführender Partner der Münchner Anwaltskanzlei Bub, Gauweiler & Partner. Gauweiler trat 1968 der CSU bei, bekleidete verschiedene Ämter im bayerischen Landtag, der bayerischen Landesregierung und im Deutschen Bundestag. Seit 2013 ist er stellvertretender Vorsitzender der CSU.
Peter Gauweiler (picture alliance / dpa / Tobias Kleinschmidt)
Gauweiler: Sollte eigentlich allen wichtig sein.
Meurer: Ja, klar. Steht die CSU über dem Europarecht?
Gauweiler: Das ist eine nicht sehr intelligente Frage, weil wir diesen Ausdruck nicht erweckt haben. Aber es ist doch so, dass das Recht der Bevölkerung dienen soll. Und dass das Recht von freien Parlamenten gebildet wird, die zuvor in Wahlen von der Bevölkerung festgelegt wird und nicht von EU-Beamten vorgegeben wird.
Meurer: Akzeptieren Sie das Europarecht?
Gauweiler: Ja, ich hab es Ihnen ja gerade gesagt. Akzeptieren Sie die Demokratie?
Meurer: Wenn dann das Europarecht sagt, Pkw-Maut geht nicht – was dann?
Gauweiler: Wer ist das Europarecht, bitte? Sind das die Kallas in Brüssel, die das in ihrer Weisheit festlegen. Oder sind das die in ihrer Weisheit festlegen. Oder sind das die nationalen Parlamente, die aus freien und gleichen Wahlen hervorgegangen sind?
Meurer: Sie äußern sich ja im Moment nicht unbedingt freundlich gegenüber EU-Politikern und EU-Kommissaren. Ist das Ihr Job, den Ihnen Horst Seehofer zugedacht hat als stellvertretender Parteivorsitzender?
Gauweiler: Ich äußere mich nicht gerade freundlich? Freundlicher als ich kann man sich überhaupt nicht äußern. Aber wir haben doch das gemeinsame Bemühen, dass die Gremien der Europäischen Union zur Verbesserung der Verhältnisse beitragen und nicht selber Teil des Problems sind.
Meurer: Da es ja immer auch um Wahlen geht – Kommunalwahl im März, Europawahl im Mai – Ihr Job, dafür zu sorgen, dass die AfD nicht groß wird in Bayern?
Gauweiler: Ich finde den Ausdruck Job schon ganz unpassend. Das ist eine amerikanische Kurzbezeichnung für irgendwelche Wegwerftätigkeiten.
Meurer: Dann lassen wir den Job weg. Dann eben Aufgabe.
Gauweiler: Das ist schon besser. Ich hab die Aufgabe, so haben es die Mitglieder meiner Partei beschlossen, dafür zu sorgen, dass wir einen klaren Kurs fahren.
Meurer: Einen populistischen Kurs?
Gauweiler: Da ist auch wieder die Frage, was Sie unter Populismus verstehen. "Populos" ist bekanntlich ein lateinisches Wort und heißt "das Volk". Ähnlich, wie im Griechischen, in der Demokratie der Demos. Wir haben die Aufgabe, dass sich die Politik nicht von der Bevölkerung abwendet?
Meurer: CSU-Parteivize Peter Gauweiler heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Heute beginnt in Wildbad Kreuth die Klausurtagung der CSU im neuen Jahr 2014. Herr Gauweiler, danke und auf Wiederhören!
Gauweiler: Okay, danke. Tschau, Servus!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Peter Gauweiler im Gespräch mit Friedbert Meurer | Beim EU-Recht müsse auch immer überlegt werden, was der Realität angepasst werden müsse, sagt Peter Gauweiler, stellvertretender CSU-Vorsitzender, im Deutschlandfunk. Das sei so auch bei der geplanten Pkw-Maut. | "2014-01-07T07:15:00+01:00" | "2020-01-31T13:20:41.418000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/csu-klausurtagung-gauweiler-diskriminierungsfrei-gilt-auch-100.html | 996 |
(K)ein Abschied vom Acht-Stunden-Tag | Stress, keine Zeit für die Familie, Überarbeitung: Viele Arbeitnehmer wünschen sich zumindest zeitweise die Möglichkeit einer Arbeitszeitreduzierung (imago stock&people/ Westend61)
Einen klassischen Acht-Stunden-Tag sowie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das wünschen sich die meisten Deutschen laut aktueller Umfragen. In bestimmten Fällen solle auch weniger gearbeitet werden, findet die IG Metall. Die Gewerkschaft möchte in ihren gerade begonnenen Tarifverhandlungen einen radikalen Wandel in den Betrieben herbeiführen. Beschäftigte sollen sogar zeitweise auf 28 Stunden pro Woche reduzieren können - etwa, wenn sie kleine Kinder haben oder Angehörige pflegen.
Acht-Stunden-Tag überholt?
Mit solchen Positionen rennen die Beschäftigten bei Unternehmern allerdings keine offenen Türen ein. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer hat der IG Metall beispielsweise Realitätsverlust vorgeworfen und hält auch den Acht-Stunden-Tag für völlig überholt.
Ähnlich sehen es die Wirtschaftsweisen und empfehlen der künftigen Regierung, eine maximale Wochenarbeitszeit festzulegen und von Ruhezeiten abzuweichen, um die Arbeitszeit flexibler verteilen zu können.
Campus & Karriere fragt: Ist der klassische Acht-Stunden-Tag nicht mehr zeitgemäß? Brauchen wir neue Arbeitszeitmodelle und wenn ja, welche? Wie ändern sie das Betriebsklima und unsere Arbeitskultur? Wie flexibel wollen oder müssen Arbeitnehmer künftig sein? Wie sollten Unternehmen Arbeit organisieren, damit es nicht zu Überstunden und Überlastung kommt?
Gesprächsgäste sind:
- Hubertus Porschen, Bundesvorsitzender des Verbands Die jungen Unternehmer
- Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall Nordrhein-Westfalen
- Andreas Hoff, Arbeitszeitexperte (Dlf-Landesstudio Potsdam)
Beiträge:
Thomas Wagner: 40 oder lieber 28 Stunden? Welche Arbeitszeitmodelle sind gewünscht?
Carsten Schmiester: Vorbild Skandinavien. Sechs Stunden am Tag reichen auch
Eine Sendung mit Hörerbeteiligung über Telefon 00800 / 44 64 44 64 oder per Mail: campus@deutschlandfunk.de | Moderation: Regina Brinkmann | Die IG Metall fordert eine zeitweise Arbeitszeitreduzierung auf 28 Wochenstunden, Arbeitgeber hingegen sprechen sich für bis zu 48 Stunden Arbeit pro Woche aus. Klar ist: Im Zuge der Digitalisierung verändert sich die Arbeitswelt. Doch wie kann man diese gleichzeitig effektiver wie auch arbeitnehmerfreundlich gestalten? | "2017-11-18T12:50:00+01:00" | "2020-01-28T11:01:22.668000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/arbeitsleben-4-0-k-ein-abschied-vom-acht-stunden-tag-100.html | 997 |
Was beim Nato-Treffen von Donald Trump erwartet wird | Das Nato-Hauptquartier in Brüssel (Julien Warnand, dpa picture alliance)
Das Nato-Hauptquartier im Brüsseler Stadtteil Evere. Am alten Standort regiert der bescheidene Charme der sechziger Jahre. Das pragmatische Flair eines Provisoriums. Flache Baracken auf drei Etagen mit den berühmten Kästen für die Klimaanlage unter den Fenstern. In der Regel ein sicheres Zeichen dafür, dass es hier nie eine Modernisierung von Grund auf gegeben hat. Dieser Komplex atmet Geschichte. Hier hat man noch den Sieg im Kalten Krieg gefeiert, so witzeln Nato-Mitarbeiter über das altmodische Gebäude. Der eine oder andere ist mehr als froh, dass baulich dieses Kapitel zu Ende geht.
Schräg gegenüber, nur einmal direkt über die Straße: das Symbol der Zukunft, ein gewaltiger Glaspalast. Beeindruckende Bilder, eine Mischung aus Flughafen und Konzernzentrale. Sagen zumindest diejenigen, die schon einmal hinein durften. Für die Presse ist das Ganze noch Tabu. Es wird Donnerstag nur eine Übergabe-Zeremonie durch den Staat Belgien an das Bündnis geben. Die wirkliche Inbetriebnahme verschiebt sich weiter, vermutlich bis ins nächste Jahr. Auf der Internetseite lässt sich eine Animation anschauen, mit dramatischer Musik, die wie manches dieser Tage in den USA an eine Fernsehserie erinnert.
Für 2016 ist die Fertigsstellung der riesigen Anlage eigentlich geplant. (dpa / picture alliance / Vigini Mayo / Pool)
Eigentlich war die Eröffnung des neuen Hauptquartiers für den Nato-Gipfel am Donnerstag geplant, doch der ist nun nicht mal mehr ein Minigipfel, sondern zu einem "Meeting" heruntergeschraubt, für ein paar Stunden am Nachmittag des Himmelfahrtstages 2017. Wenn die Kanzlerin - nach dem ehemaligen US-Präsidenten Obama am Brandenburger Tor in Berlin - noch am selben Tag den neuen US-Präsidenten Donald Trump in Brüssel bei der Nato trifft.
Die Beistandsverpflichtung - der Kern der Nato
"Wir werden uns nicht einfach nur in Brüssel treffen, sondern bei dieser Gelegenheit auch das neue Gebäude zum ersten Mal besichtigen. Ich freue mich natürlich, dass dort ein Stück der Berliner Mauer sein wird, was für uns sehr emotionale Verbundenheit zeigt."
Emotionale Verbundenheit - vielleicht auch mit dem Bündnispartner USA, die über Monate schwerer gefährdet schien denn je. Nun wird am neuen Nato-Hauptquartier eine Art Gedenkstätte eingeweiht, nicht nur mit zwei Mauerstücken, sondern auch mit einem Trümmerteil des World Trade Centers aus New York. Eine sprechende Mahnung, die an den viel zitierten Artikel 5 erinnert soll, in dem die gegenseitige Beistandspflicht der Nato-Partner festgehalten ist. Und der zum ersten Mal nach den Anschlägen des 11. September 2001 ausgelöst wurde. Auch wenn die Sorgen bei der Nato ob der neuen US-Regierung insgesamt inzwischen nachgelassen haben - die Bedenken, wie treu die Vereinigten Staaten zur Beistandsverpflichtung stehen, sind nicht überall ausgeräumt. Ein starkes Symbol musste her, das auch den Präsidenten zu einem Bekenntnis animieren könnte, so eine Hoffnung in Brüssel. Constanze Stelzenmüller von der Brookings Institution, einer Denkfabrik in Washington.
"Das ist der sozusagen Kern des transatlantischen Bündnisses, das füreinander Einstehen im Falle eines Angriffes. Und was die Europäer sehr besorgt gemacht hat, ist, dass Präsident Trump sich bisher geweigert hat, sich explizit zu diesem Artikel 5 zu bekennen. Mehrere seiner Redenschreiber und seiner Berater, das ist bekannt, haben versucht, ihm das in verschiedene Äußerungen hinein zu schreiben und es ist immer wieder rausgestrichen worden. Und das ist auch der Grund, warum die Europäer darauf bestanden haben, dass bei dem Besuch von Präsident Trump dieses Denkmal, das an den 12. September 2001 erinnert, eingeweiht wird. Den Tag, an dem die Europäer erstmals diesen Artikel 5 ausgelöst haben."
Die Eröffnung dieses Memorials wird einer der Hauptprogrammpunkte sein, wenn die Staats- und Regierungschefs im neuen Hauptquartier zusammenkommen. Donald Trump erscheint erstmals zu einem politischen Treffen in Europa, in einem Jahr, das so vieles verändert zu haben scheint. Auch für die Nato. Ihre Rolle als Bündnis - nicht mehr in Stein gemeißelt. Mit einem Partner USA, der sich aus dem Staub zu machen schien, nicht ohne Beschimpfung der Alliierten. Die Ära Donald Trump, die am 20 Januar begonnen hat, wirbelte auch für die Atlantische Allianz zunächst einiges durcheinander.
Nato-Mitglieder beteiligen sich am Anti-Terror-Kampf
Bei einer Townhall-Veranstaltung im Wahlkampf des vergangenen Jahres bekam Donald Trump Gelegenheit zu erklären, was er denn mit Zeitungsinterviews gemeint habe, die USA sollten sich aus dem Bündnis zurückziehen und nur noch eine geringere Rolle spielen.
"Die Nato ist überholt. Sie wurde vor über 60 Jahren gegründet", führte der damalige Präsidentschaftskandidat aus. Veraltet, in die Jahre gekommen. Die etwas irreführende Übersetzung mit "überflüssig" hat den Ärger unter den Partnern noch vergrößert. Viele Nato-Staaten tragen nichts zum Anti-Terror-Kampf bei, so grollte Trump. Stattdessen gehe es um die Verteidigung gegen die Sowjetunion. Die längst nicht mehr existiert.
"Die Nato muss sich zurecht schütteln, sie muss sich verändern, zum Besseren."
Aber Sie haben gesagt, sie ist überholt, insistierte Moderator Anderson Cooper in Richtung Trump:
"Sie muss sich verändern, unsere größte Bedrohung im Moment ist der Terrorismus. Darüber reden Sie gar nicht."
Lauscht man noch einmal dem Wortwechsel aus dem vergangenen Jahr, dann ist nicht mehr ganz so überraschend, was in diesem Frühjahr folgte: Bei einer Pressekonferenz mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg in Washington nahm Donald Trump seine Formulierung zurück.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (li.) und US-Präsident Donald Trump während ihrer gemeinsamen Pressekonferenz im Weißen Haus in Washington am 12. April 2017. (dpa-bildfunk / AP / Evan Vucci)
Nicht länger überholt. Ein Stoßseufzer der Erleichterung war im Bündnis zu vernehmen. Offenbar hatte sich ja schon etwas getan. In Washington. Oder auch bei der Nato selbst, so begründete der US-Präsident jedenfalls seinen Sinneswandel:
"Wir hatten ein produktives Gespräch, darüber was die Nato tun kann im Kampf gegen den Terror. Ich habe mich vor langer Zeit darüber beschwert und jetzt beteiligt sie sich daran."
Tatsächlich beteiligen sich Mitgliedstaaten der Nato am Anti-Terror-Kampf. Und die Nato unterstützt den Einsatz unter anderem mit Awacs-Aufklärungsflugzeugen. Doch ob das Bündnis sich selbst auch formal als Organisation dabei einbringen wird, das ist noch gar nicht abschließend geklärt.
So Generalsekretär Stoltenberg Mitte Mai. Die Entscheidung soll in nächster Zeit fallen. Es wird jedenfalls eines der beiden großen Themen beim Treffen in Brüssel. Bei dem lange hinter den Kulissen um eine Einigung gerungen wurde. Noch ist sie nicht gefunden. Doch der Trend scheint dahin zu gehen. Auf keinen Fall geht es laut Stoltenberg aber um Kampfeinsätze der Nato. Dafür habe es keinerlei Anfrage gegeben.
Oder in den Worten der Bundeskanzlerin Mitte Mai:
"Wir sind in solchen Gesprächen, inwieweit sich die Nato auch offiziell in die Koalition mit einreihen kann. Diese Gespräche laufen. Ich habe den Generalsekretär ermutigt, diese Gespräche weiter zu führen und dann bis zum 25. Mai vielleicht auch zu einem Ende zu führen."
Ermutigt? Die Gespräche weiter zu führen? Ein typischer Merkel-Satz könnte man meinen, der auch eine deutsche Unterstützung dafür offen lässt. Auf Nachfrage erklärt sie Mitte Mai in Berlin aber auch, was es nicht bedeuten wird:
"Dass irgendeine militärische Aktivität, die Deutschland heute macht – zum Beispiel Awacs-Überwachung – erweitert wird oder nichts dergleichen. Das haben wir auch sehr deutlich gemacht."
Kampf gegen den Terror - klassisches Streitthema im Bündnis
Der Nato-Experte Johannes Varwick von der Universität Halle Wittenberg rät eher davon ab, die Nato auch formal zu einem Teil der Anti-Terrorkoalition zu befördern. Er sieht es zugleich aber auch als eines der klassischen Streitthemen im Bündnis, bei dem unterschiedliche, auch geostrategische Interessen eine Rolle spielen.
AWACS Aufklärungsflugzeug mit dem Nato-Logo. (dpa/picture alliance/Ralf Hirschberger)
"Das ist eine Frage, wo es wirklich verschiedene gute Argumente auf beiden Seiten gibt. Und ich glaube, man sollte da eine klassische Kompromisslinie fahren, dass man sagt: Wir beteiligen uns nicht sichtbar als Nato in dieser Region Nahost, weil das einfach bei vielen Staaten zu einer Abwehrreaktion führt. Das heißt, man sollte die Nato schon nutzen hinter den Kulissen, den militärischen Sachverstand und das Know-how der Nato einbringen. Und das passiert ja auch, etwa in Fragen der Awacs, da ist die Nato ja an Bord sozusagen. Aber eine formale Beteiligung der Nato als Allianz im Anti-Terror-Kampf, jetzt in der Region Syrien und Irak, ist, glaube ich, nicht notwendig, weil es keinen sicherheitspolitischen Mehrwert bringt. Und das – denke ich - kann man auch den Amerikanern vermitteln."
US-Präsident Trump: USA wollen nicht länger der Weltpolizist zu sein
Bei Thema Nummer zwei scheint eine Verständigung hinter den Kulissen immerhin inzwischen erreicht. Bei einer Frage, die soviel mehr öffentlich für Wirbel gesorgt hat in den vergangenen Monaten. Und auch hier war es der neue Präsident, der Ärger, Verunsicherung, aber auch Bewegung ausgelöst hat. Noch einmal Donald Trump im Wahlkampf:
"Die andere Sache, die schlecht ist bei der Nato – wir zahlen zu viel. Einige Staaten bekommen hier ein Gratisticket und das ist sehr unfair. Die Vereinigten Staaten können es sich nicht länger leisten, der Weltpolizist zu sein. Wir müssen unser eigens Land aufbauen. Das muss aufhören!"
Wer wie viel bei der Nato bezahlt
Damit war auf einmal das Zwei-Prozent-Ziel in aller Munde, das seither die Debatte über die Zukunft der Nato mitbestimmt. Jener Richtwert also, auf den sich die Mitgliedstaaten verständigt haben: Zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollen für Verteidigung aufgewendet werden. Nur fünf von 28 Mitgliedstaaten erreichen derzeit diesen Wert. Am meisten geben in der Tat die USA aus mit 3,6 Prozent. Direkt nach dem Besuch der Kanzlerin in Washington verkündete Trump am 18. März auf Twitter.
"Deutschland schuldet der Nato riesige Summen. Die Vereinigten Staaten müssen mehr Geld bekommen für die machtvolle und sehr teure Verteidigung, die es Deutschland zur Verfügung stellt."
Doch inzwischen kann jedes Kind die Finanzierungsweise der Nato beinahe auswendig buchstabieren, so viel Nachhilfe hat es bei diesem Thema gegeben. Nicht zuletzt vom Verteidigungsministerium selbst. In Gesprächen wird Journalisten mit Diagrammen und Schautafeln unermüdlich die Funktionsweise der Nato-Ausgaben nahe gebracht.
Nein, sie funktionieren eben nicht wie ein Mitgliedsbeitrag, bei dem man in Rückstand geraten kann, wie Trump es suggerierte. Und nein, die zwei Prozent meinen nicht allein speziell Nato-Ausgaben, sondern das, was ein Staat insgesamt für Verteidigung ausgibt. Darunter fallen auch Kosten für Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen oder der EU beispielsweise. Und nein, drittens, die zwei Prozent sind nach dieser Interpretation nicht gemeint als feste Summe, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zwingend erreicht werden muss. Sondern ein Richtwert, auf den man sich zu bewegt. Alle haben noch mal in der Vereinbarung von Wales nachgelesen, in der Staats- und Regierungschefs beim Gipfel 2014 dieses Zwei-Prozent-Ziel bekräftigt hatten.
"Die Bündnispartner, deren Anteil (vom Bruttoinlandsprodukt für Verteidigungsaufgaben) unter dem Richterwert von zwei Prozent liegt, werden die Verteidigungsausgaben nicht weiter kürzen. Sie werden darauf abzielen, die realen Verteidigungsausgaben im Rahmen des BIP-Wachstums zu erhöhen. Und: Sie werden darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen, um ihre Nato-Fähigkeitenziele zu erreichen und Fähigkeitslücken in der Nato zu schließen."
Trump hatte "das politisch richtige Gespür"
Auch wenn wohl kein anderer Präsident dermaßen plakativ auf das Thema aufmerksam gemacht hätte - dass es eines war, wusste man im Bündnis. Nicht zuletzt der Nato-Generalsekretär. Johannes Varwick glaubt, dass das Thema auch unabhängig von Trump auf die Tagesordnung gehört.
"Bei allem was man Trump vorwerfen kann und muss und bei allem, was da an Ahnungslosigkeit und Konzeptionslosigkeit über internationale Politik sichtbar ist, was einen erschrecken kann – in dieser Frage hatte er das politisch richtige Gespür, dass es an der Zeit ist, dass die Europäer mehr Lasten tragen müssen und dass man es dem amerikanischen Steuerzahler auch nicht vermitteln kann, dass die Amerikaner etwa mehr für die Verteidigung Europas aus geben als die Europäer selber bereit sind."
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. (AFP)
Generalsekretär Jens Stoltenberg reiste seitdem durch die Hauptstädte, um einen Konsens herzustellen, der am Donnerstag beim Treffen in Brüssel noch mal bekräftigt werden soll. Das Narrativ der Nato, um die unterschiedlichen Positionen zu versöhnen, lautet im Wesentlichen: Erstens ist das Ziel zum Teil schon erreicht, denn viele Staaten kürzen bereits nicht mehr, sondern erhöhen wieder ihre Verteidigungsausgaben. Stoltenberg im Mai in Berlin:
"Deutschland hat den Verteidigungshaushalt erhöht. Das habe ich sehr begrüßt. Bei der Lastenteilung geht es nicht nur um Geld, sondern es geht auch um die Teilung von Fähigkeiten, um Beiträge zu Nato-geführten Operationen und Missionen. In all diesen verschiedenen Bereichen hat Deutschland ganz wichtige, unverzichtbare Beiträge geleistet."
Und zweitens sind die zwei Prozent immer mit Blick auf die eigenen Fähigkeiten zu sehen. Zwei Prozent nur um der Zahlen willen sei gar nicht erwünscht. In diesem Sinne argumentiert auch Außenminister Sigmar Gabriel von der SPD. Wie sinnlos, wenn ein Land wie Griechenland überall spart, aber sich bei den Verteidigungsausgaben der zwei Prozent rühmen kann, so sagt der Außenminister. Außerdem: Was soll ein Land wie Deutschland jährlich mit 70 Milliarden für das Militär? Ist das von den Nachbarn eigentlich erwünscht? Und überhaupt:
"Ich habe mal etwas spöttisch gesagt, ich weiß gar nicht, wo wir die ganzen Flugzeugträger hinstellen sollen, die wir kaufen müssten, um 70 Milliarden Euro pro Jahr in die Bundeswehr zu investieren."
Dennoch hat auch die SPD das "sich zubewegen auf zwei Prozent" als Teil der Bundesregierung 2014 mit unterschrieben. Und diese Formel wird noch einmal wiederholt werden. Vor dem Hintergrund der verbalen Absetzbewegungen im Wahlkampf macht die Bundeskanzlerin der Großen Koalition noch einmal klar:
"Die gesamte Bundesregierung hat den Beschluss von Cardiff gefasst und an diesem Beschluss wollen wir jetzt auch festhalten und darauf hinarbeiten. Die vergangenen Jahre haben ja auch gezeigt, dass wir Steigerungen vorgenommen haben. Und insofern sehe ich jetzt auch für den 25. Mai keine weiteren Notwendigkeiten von Festlegungen."
Neues Hauptquartier symbolisiert den Wandel der Nato
Keinen vergleichbaren Streit ums Geld gab es dagegen beim neuen Hauptquartier, jedenfalls nicht Nato-intern. Das Gebäude wurde aus dem Etat für gemeinsame Ausgaben finanziert. Und für den gibt es ohnehin einen festen Schlüssel, bei dem jeder Mitgliedsstaat einen prozentualen Anteil aufbringt. Die Kritik kam von außen.
"Weshalb muss die Nato eigentlich mehr als eine Milliarde Euro für sich selbst und diesen neuen gigantischen Superpalast ausgeben?", so monierten die Gegner des Bauvorhabens. Doch das neue Hauptquartier symbolisiert auch den Wandel der Nato. Seit 1967, als das alte und inzwischen viel zu kleine Gebäude in Betrieb genommen wurde, hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten fast verdoppelt. Alle sollen in Zukunft genügend Platz haben, und ja, es soll Raum für neue Mitgliedstaaten geben. Wie etwa demnächst Montenegro.
Sich vergewissern, ob das Fundament noch trägt
Und das Design soll auch verdeutlichen, wie die Nato sich selbst begreift: Zwei mal vier gläserne Riegel, aus denen das Gebäude besteht, erinnern an ineinandergreifende Finger und sollen Einheit und Kooperation über den Atlantik hinweg darstellen. Die großen Glasflächen lassen jede Menge Licht hinein, das über ein Geothermalsystem auch für die Energiegewinnung genutzt wird. Und für Transparenz steht. Sinnbildlich macht sich die Nato also auf in eine neue Zukunft. Sie ist nicht obsolet. Sie bedarf vielleicht nicht mal eines Neuanfangs. Aber sie muss sich vergewissern, dass das Fundament noch trägt. Und das sie die neuen Herausforderungen bewältigen kann.
Ungewissheit gehört bei der Regierung Trump zum Geschäftsmodell
Die Erwartung für das Brüsseler Treffen besteht nun zunächst etwa darin: Zusage der Europäer, mehr auszugeben. Zusage der Amerikaner, sich an die Beistandspflicht zu halten. Und dass der neue US-Präsident in einer kurzen Ansprache irgendetwas Versöhnliches äußert, ein eigenes Bekenntnis zum Bündnis. Die Unsicherheit ist noch nicht ausgeräumt, meint Constanze Stelzenmüller von der Brookings Institution in Washington. Insbesondere bei einer Regierung bei der, wie sie sagt, die Ungewissheit zum Geschäftsmodell gehört.
Ungewissheit gehört zum Geschäftsmodell. Das zeigte sich auch bei der ersten Auslandsreise von US-Präsident Donald Trump, hier in Tel Aviv. (AFP PHOTO / Jack GUEZ)
"Wir haben gelernt in den ersten hundert Tagen und jetzt auch auf dieser Reise, dass der Präsident kein strategisches oder auch Wertekoordinatensystem hat. Dass seine Position sich innerhalb von kürzester Zeit auch unter Einfluss von Beratern oder Partnern sich um 180 Grad drehen kann. Das mag im konkreten Fall beruhigend sein – für den Partner, um den es geht. Aber was muss natürlich auch wissen, dass in Abwesenheit eines solchen Koordinatensystems sich eine 180 Grad Wende auch noch mal um 180 Grad wenden kann. Deshalb müssen sich alle Verbündete Amerikas und auch die Europäer darauf einstellen, eine Antwort zu haben für eine Situation, in der es eine neue Wendung geben könnte, die nicht in ihrem Interesse ist." | Von Bettina Klein | Noch vor wenigen Monaten hatte US-Präsident Donald Trump die Nato als obsolet bezeichnet. Am Donnerstag ist er zum ersten Mal bei einem Treffen mit Staats- und Regierungschefs aus allen 28 Nato-Staaten dabei. Die Erwartung: Die Europäer geben künftig mehr aus. Und die Amerikaner halten sich an die Beistandspflicht. | "2017-05-24T18:40:00+02:00" | "2020-01-28T10:29:23.781000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/nato-meeting-in-bruessel-was-beim-nato-treffen-von-donald-100.html | 998 |
Indiens Weg in die Neutrino-Forschung | Die Pläne für das Indische Neutrino Observatorium, INO, strotzten vor Superlativen. Physiker wollen das Labor 1,3 Kilometer tief in die Felsen der Bodi-West Hills graben. Diese liegen im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Das Herz der INO-Anlage bildet ein Magnet mit einem Rekord-Gewicht von 50.000 Tonnen. Mit seiner Hilfe sollen Experimente gelingen, die die Grenzen der heute bekannten Physik ausloten, wie Naba Mondal erklärt, der Leiter des INO- Projektes:
"Die Neutrinophysik ist einer der spannendsten Bereiche der Physik heute. Wir haben zwar das Higgs-Boson entdeckt und damit den letzten wichtigen Baustein des Standardmodells. Aber das Standardmodell sagt, dass Neutrinos masselos sind. Wir wissen aber, dass Neutrinos sehr wohl eine Masse haben. Neutrinos sind also der einzige Weg, Physik jenseits des Standardmodells zu untersuchen."
Von Neutrinos gibt es drei Sorten. Das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. Alle drei machen meistens: nichts. Denn sie haben keine elektrische Ladung und sind extrem leicht.
Um Neutrinos zu beobachten, braucht es darum eine gigantische Anlage wie das INO. In ihr wollen die Forscher sehen, wie geladene Teilchen reagieren, wenn ein ungeladenes Neutrino auf sie prallt. Im Grunde funktioniert das wie bei einem Billiardstoß - nur dass man die anstoßende Kugel nicht sieht. Wie das aufprallende Neutrino sich vor dem Stoß bewegt hat, können die Physiker rekonstruieren, indem sie die Reaktion der anderen Teilchen beobachten. Diese hinterlassen nämlich im Gegensatz zum Neutrino deutliche Spuren auf ihrem Weg durch den Detektor.
Magnet mit einem Rekord-Gewicht von 50.000 Tonnen
Die Forscher wollen diesen Versuch mit allen drei Neutrinosorten durchführen, um herauszufinden, in welchem Verhältnis die Massen der Neutrinos zueinander stehen.
"Bislang ist diese Massenhierachie eine der großen Fragen der Neutrinoforschung. Wir wissen, dass alle Neutrinos eine Masse haben, aber nicht welche Neutrinosorte die schwerste und welche die leichteste ist."
Mit diesem Wissen wollen Forscher dann zum Beispiel verstehen, warum sich Neutrinos so fundamental von den Quarks und Elektronen unterscheiden, aus denen gewöhnliche Materie besteht. Allerdings ist es bis zu dieser Erkenntnis noch ein weiter Weg. Das INO-Projekt steht noch am Anfang. Erst vor Kurzem hat die indische Regierung grünes Licht für den Bau der Anlage gegeben. 2020 soll das Labor fertig sein.
Frage nach der Massenhierachie
Das, so unken einige Neutrinophysiker, könnte vielleicht schon zu spät sein. Denn andere Experimente, die ebenfalls der Frage nach der Massenhierachie nachgehen, sind längst aufgebaut. Alessandro Mirizzi, Physiker am Deutschen Elektronen Synchrotron, zählt nur einige davon auf:
"In China gibt es JUNO, das mit einem Reaktor arbeitet. In Japan gibt es das T2K-Experiment, in den USA und Europa baut man ebenfalls Anlagen auf und am Südpol gibt es das Pingu-Experiment. Sie sehen, es gibt eine Menge Interesse an diesem Problem."
Allerdings findet Alessandro Mirizzi nicht, dass diese Projekte miteinander konkurrieren. Sie würden viel mehr von verschiedenen Seiten aus das gleiche Problem angehen und sich ergänzen. Selbst wenn ein anderes Experiment früher Hinweise auf die Massenhierachie entdecken würde, nutzlos wäre das indische Projekt damit noch lange nicht.
"Diese Messungen sind eine solche Herausforderung. Es ist überhaupt nicht gesagt, dass ein Experiment allein den großen Hit landen wird. Natürlich haben bereits einige Experimente begonnen. Aber womöglich braucht es die Daten mehrerer Experimente, um die Massenhierachie zweifelsfrei zu bestimmen. Über die Grenzen von Projekten zusammenzuarbeiten ist darum ganz bestimmt nicht unvorteilhaft."
Und so könnte es sein, dass am Ende selbst ein 50.000 Tonnen schwerer Magnet nur ein kleines Puzzlestück ist, wenn Forscher nach neuen Gesetzen der Physik suchen. | Von Haluka Maier-Borst | Die größte Maschine, die die Menschheit je gebaut hat. Diesen Titel wird das LHC, mit dem das Higgs-Teilchen gefunden wurde, nicht so bald verlieren. Doch um zu verstehen, wie die Physik jenseits von Higgs und dem Standardmodell aussieht, haben Forscher bereits ein neues Experiment ersonnen. Das Indische Neutrino Observatorium soll im Süden Indiens die Massenhierachie von Neutrinos entschlüsseln | "2015-02-19T16:35:00+01:00" | "2020-01-30T12:22:49.375000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/observatorium-mit-weltgroessten-magnet-indiens-weg-in-die-100.html | 999 |
Wirtschaftsweise blicken pessimistischer ins Jahr | Der Konsum soll auch weiterhin der treibende Motor der deutschen Konjunktur bleiben. (picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
Die Flüchtlingskrise, der fallende Ölpreis, Turbulenzen an den Finanzmärkten und die erneut gesunkenen Leitzinsen haben die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geändert und damit auch den Blick der Wirtschaftsweisen auf die Wirtschaft.
Für das laufende Jahr rechnet der Sachverständigenrat nur noch mit 1,5 Prozent Wachstum in Deutschland. 2017 soll die Wirtschaft um 1,6 Prozent wachsen. Hauptgrund dafür ist die sich abkühlende Weltwirtschaft. So dürfte die chinesische Wirtschaft im laufenden Jahr nur noch um 6,3 Prozent wachsen. Auch andere aufstrebende Volkswirtschaften sehen die Wirtschaftsweisen unter Druck. Im Euroraum stehen die Zeichen dagegen auf Wachstum.
Die leicht abgeschwächte Prognose wollen die Professoren nicht als Alarmruf verstanden wissen. Der Aufschwung bleibe weitgehend intakt, sagt Volker Wieland, der Vorsitzende des Sachverständigenrats:
"Im Augenblick sind die Rahmenbedingungen gut. Es gibt Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur. Allein das außenwirtschaftliche Umfeld hat sich leicht verschlechtert. "
Konsum trägt Wachstum
Der Konsum soll auch weiterhin der treibende Motor der deutschen Konjunktur bleiben und weitgehend eventuelle Einbußen aus dem Exportgeschäft ausgleichen. Wachsende Einkommen und ein robuster Arbeitsmarkt sind hier die Basis. Allerdings: Die Zahl der Arbeitslosen wird nach Ansicht der Experten steigen und über kurz oder lang an der Drei-Millionen-Marke kratzen. Das liegt unter anderem daran, dass anerkannte Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert werden müssen. Volker Wieland warnt aber vor Panikmache:
"Es wird einerseits eine lange Zeit dauern, bis tatsächlich das Phänomen auf unserem Arbeitsmarkt ankommt. Zweitens: Viele von denen, die bei uns in den Arbeitsmarkt einsteigen, werden am Anfang nicht erfolgreich sein. Nichtsdestoweniger gibt es da gewisse Spielräume, auch durch gelungene Integrationspolitik, Beschäftigung hoch und Arbeitslosigkeit klein zu halten. Drittens erscheinen die Zusatzausgaben ohne neue Schulden und Steuern finanzierbar."
Grenzkontrollen schaden Wirtschaft
Zu einer weit größeren Belastung für die Wirtschaft könnten sich die wieder eingeführten Grenzkontrollen in Europa entwickeln. Würden diese ausgeweitet, sei der Schaden für den Handel noch nicht abschätzbar, heißt es in dem Gutachten.
Als zweite große Unbekannte nennen die Wirtschaftsweisen einen möglichen, aber aus ihrer Sicht nicht sehr wahrscheinlichen, Austritt Großbritannien aus der Europäischen Union. In den Wachstumsprognosen spielt der "Brexit" jedenfalls keine Rolle.
Die Inflation bleibt den Vorhersagen zufolge niedrig, in Deutschland bei 0,3 Prozent. Im kommenden Jahr allerdings sollen die Verbraucherpreise wieder anziehen - auf 1,4 Prozent. Damit dürfte sich die Teuerungsrate den Zielvorstellungen der Europäischen Zentralbank annähern - aber nur, wenn die Ölpreise wieder steigen.
Schwache Inflation und niedrige Zinsen wären ein ideales Umfeld für Investitionen. Der Sachverständige Peter Bofinger warb deshalb dafür, dass der Bund seine Ausgaben ausweiten möge:
"Wenn die Renditen der Investitionen deutlich höher sind als der Zinssatz, den man dafür bezahlen muss, dann ist es aus meiner Sicht ökonomisch nicht sinnvoll, diese Spielräume nicht zu nutzen. Und man muss ja auch sehen, wenn man die Probleme des deutschen Sparers sieht, dass eben einfach keine Schuldner da sind. Von daher würde eine vernünftige Neuverschuldung des Staates einen Beitrag dazu liefern, dass der deutsche Sparer wieder mehr Zinsen bekäme."
Doch über die Ausgabenpolitik des Staats sind die die Wirtschaftsweisen naturgemäß uneins. Deutschland erfülle in dieser Hinsicht eine gewisse Vorbildfunktion, hieß es. | Von Stefan Wolff | Das Wachstum in Deutschland verliert an Fahrt. Die fünf Top-Ökonomen der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute preisen die aktuelle Schwäche der Weltwirtschaft ein und korrigieren ihre Prognose leicht nach unten. Als Alarmzeichen wollen sie das aber nicht verstanden wissen. | "2016-03-23T13:35:00+01:00" | "2020-01-29T18:20:17.653000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/konjunktur-wirtschaftsweise-blicken-pessimistischer-ins-jahr-100.html | 1,000 |
Wohin steuert die deutsche Landwirtschaft? | Bauernproteste mit Traktorkonvois in Nürnberg - immer mehr Landwirte machen auf ihre prekäre Lage aufmerksam (dpa / Daniel Karmann)
Mit Imagekampagnen, spektakulären Protestaktionen und Traktorkonvois wollen Bauern Öffentlichkeit und Politik auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen. Für viele Agrarbetriebe ist es ein Ding der Unmöglichkeit, den Spagat zu schaffen zwischen strengen Umweltschutzauflagen und gewinnbringenden Erträgen, die ihre Existenz sichern. Hinzu kommt, dass die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse vom Handel gedrückt und zum Teil zu Dumpingpreisen in den Supermärkten angeboten werden.
Ihre Meinung ist gefragt: Was können wir, was müssen wir unter dem Aspekt der Umweltverträglichkeit der deutschen Landwirtschaft zumuten? Wären Sie bereit, für Produkte aus ökologischer Vieh- und Landwirtschaft entsprechend mehr zu bezahlen?
Gesprächsgäste:
Bernhard Conzen, Präsident des Rheinischen Landwirtschaftsverbands
Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft
Michaela Kaniber, Bayerische Staatsministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Konstantin Kreiser, NABU, Leiter globale und EU-Naturschutzpolitik
Rufen Sie kostenfrei an unter: 00 800 4464 4464. Oder schreiben Sie eine Mail an: laenderzeit@deutschlandfunk.de | Eine Sendung von Alfried Schmitz und Michael Roehl (Moderation) | Deutsche Landwirte sind sauer: Sie fordern mehr Wertschätzung und Geld für ihre Produkte. Zudem sind sie es leid, wegen ihrer Tierhaltung oder dem Gebrauch von Pflanzenschutz- und Düngemitteln in der Kritik zu stehen. Doch der gesellschaftliche Druck, ökologischer zu wirtschaften, ist groß. | "2020-03-11T10:08:00+01:00" | "2020-03-17T08:58:48.637000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-existenzsorgen-und-umweltschutzauflagen-wohin-100.html | 1,001 |
Milliardenzahlung für Deepwater-Horizon-Unglück | Der Aktienkurs des Unternehmens stieg nach der Entscheidung. Den gesamten Beitrag können Sie in unserem Audio-on-Demand-Bereich bis einschließlich 04.06.2013 nachhören. | Von Sabrina Fritz | Deepwater Horizon - so hieß die Ölplattform im Golf von Mexiko, die im April 2010 explodierte. Nach jahrelangem Streit mit dem US-Justizministerium um Entschädigung hat die Schweizer Betreiberfirma Transocen einem Vergleich in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar zugestimmt. | "2013-01-04T11:35:00+01:00" | "2020-02-01T16:03:24.408000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/milliardenzahlung-fuer-deepwater-horizon-unglueck-100.html | 1,002 |
Demos kratia - Die Herrschaft des Volkes | Für die repräsentativ orientierten amerikanischen Verfassungsväter war die athenische Demokratie eine Zumutung, für kritische Beobachter der französischen Revolution ein Gräuel. "Dies spiegelt zugleich wider, dass man (jedenfalls bis zum späteren 18. Jahrhundert) keine fundamentale Differenz zwischen der Antike und der jeweils eigenen Gegenwart unterstellte, so dass die 'klassischen' Texte unmittelbar auf die eigene Lebenswelt bezogen werden konnten." Dabei war die demokratische Ordnung des Stadtstaats Athen auch immer nur für eine Fläche von 2550 Quadratkilometern gedacht gewesen. Das entspricht etwa der Fläche des Großherzogtums Luxemburg oder des Saarlandes. "Demokratie blieb allein die Sache der athenischen Bürger, sie war kein universalistisches Prinzip. Der Ausschluss der einheimischen Frauen und der Metöken von den politischen Rechten war eine Selbstverständlichkeit. Die Sklaverei - die vielen Bürgern erst die Abkömmlichkeit für Krieg und Politik ermöglichte - wurde nicht in Frage gestellt. [ ... ] Man wollte auch nicht dem Demokratiegedanken überall in der griechischen Welt zum Durchbruch verhelfen." Und doch ist es ausgerechnet der schillernde und oft vage Demokratiebegriff, der immer noch lebendig ist, und aktueller denn je. "'Demokratie‘ bezeichnet heute - im Gegensatz zu einer mehr als zweitausendjährigen Rezeptionsgeschichte - eine eindeutig positive Norm. Mit ihr ist auch die Erinnerung an das große Experiment der Athener verbunden und damit der Vergleich mit den Erfindern dieser Ordnung. Athen bleibt präsent."Präsent auch als dunkler Legitimationsgrund einer hegemonialen mission civilisatrice, die sich die globale Verbreitung des westlichen Demokratiemodells auf die Fahnen geschrieben hat. Und als Erinnerungsort eines vermeintlich goldenen Zeitalters bürgerlicher Freiheit und Mitbestimmung. Democracy sells. Darauf hoffte man auch, als 2004 in der Präambel des inzwischen in die glanzlosen Artikel des Lissabonner Vertrags hinein verdunsteten europäischen Verfassungsvertrages plötzlich ein Satz aus der Leichenrede des Perikles auftauchte, in dem es heißt, dass Demokratie die Herrschaft der Mehrheit heißt - und der in späteren Fassungen ebenso sang- und klanglos wieder verschwand. Mit guten Gründen, wie Wilfried Nippel findet. "Richtig war es, es wieder herauszunehmen. Erstens deshalb, weil Demokratie - definiert als die Herrschaft, die von der Mehrheit der Stimmbürger ausgeübt wird - auf ein politisches Gebilde wie die Europäische Union sowie so nicht zutrifft, weil dieses Demokratieprinzip so dort nicht zu verwirklichen ist und auch nicht verwirklicht werden soll, weil es ja immer auch um die Respektierung der Rechte der einzelnen Mitgliedsnationen geht. Und außerdem kann man sich ja fragen, ob nicht die Europäische Union gerade ihre Legitimität daraus bezieht, dass sie eine Friedensordnung in Europa garantieren soll, und nicht eine Ordnung, in der sich auch noch ethnisch benachbarte Staaten, wie in der Antike, wechselseitig bekämpfen."Wilfried Nippel verfolgt in seinem Buch keine eigene Agenda, er sieht sich in der Rolle des akademischen Aufklärers. Nicht des geisteswissenschaftlichen Politikberaters, wie mancher Kollege."Also das ist auch ne Art Versuch den kultur- und wissenschaftspolitischen Terrain-Verlust, der Altertumswissenschaften dadurch aufzufangen. Dass man dann manchmal die Bedeutung der direkten Rezeption deutlich übertrat. Aber ich finde das ist nicht der Job des Historikers. Der ist eher dazu da, wenn sich so was aufgebraut hat, mal ein paar Mythen zu zerstören."Souverän durchmisst der verfassungstheoretisch versierte Althistoriker in seiner quellengesättigten Monographie die Jahrhunderte. Er wechselt dabei behände die Perspektiven und deckt so zahllose blinde Flecken der demokratietheoretischen Rezeptionsgeschichte auf. "Wohl keine andere Ordnung der Weltgeschichte wird mit so evident anachronistischen Maßstäben bewertet wie die athenische Demokratie. [ ... ] Offensichtlich hat im Bewusstsein der Nachwelt Athen mit seiner Kategorie der Demokratie eine überzeitlich geltende Norm gesetzt, an der seine eigene Praxis gemessen wird. [ ... ]" Und eine Norm, an der sich auch unsere politische Praxis messen lassen muss. Im vielfältig global eingebundenen Mehrebenensystem europäischen Regierens müssen politische Autonomie und demokratische Selbstbestimmung ständig neu ausgehandelt werden. "Für alle diese und viele andere Probleme kann der Blick auf Athen nicht helfen. Dennoch: Solange 'Demokratie und die Unzulänglichkeiten ihrer Verwirklichung‘ in einem nicht aus Göttern gebildeten Staat ein Thema ist, so lange wird vermutlich auch Athen aus der Debatte nicht verschwinden." Nippels Buch macht große Lust, diese Debatte weiterzuführen, leidenschaftlich und mit Bedacht. Wer ihn liest, sieht die alte Demokratie mit neuen Augen. Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Fischer Taschenbuch Verlag, 456 S., 11,95 Euro. | Rezensiert von Alexandra Kemmerer | Was ist 2500 Jahre alt, stammt aus dem antiken Griechenland und ist auch heute noch ein klangvolles Versprechen? Ausnahmsweise einmal nicht die Olympischen Spiele. Die Rede ist von der Demokratie. In den vergangenen Jahren haben sich viele neue Formen über und zwischenstaatlicher Herrschaft ausgebildet, und auch die Globalisierung wirft die Frage nach dem Wesen und Wert der Demokratie dringlicher auf. Der Berliner Althistoriker Wilfried Nippel geht in seinem neuen Buch der Frage nach, wie aktuell die Urform aller Demokratien für unser modernes Demokratieverständnis ist | "2008-08-18T00:00:00+02:00" | "2020-02-04T12:31:52.305000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/demos-kratia-die-herrschaft-des-volkes-100.html | 1,003 |
Warum die Impfung kein Freifahrtschein ist | Knapp drei Prozent der Menschen in Deutschland haben eine Impfdosis erhalten (dpa)
Mitwirkende:
Gudula Geuther, Dlf-Hauptstadtstudio
Minh Thu Tran, Dlf-Reporterin und Co-Autorin des Features "Zwei Opfer, ein Täter" | Von Katharina Peetz | Wer gegen Covid-19 geimpft ist, soll trotzdem erstmal noch nicht von den Beschränkungen in der Pandemie ausgenommen werden. Das hat der Ethikrat empfohlen. Wie wird die Empfehlung begründet? Und: Erstmals ist ein ehemaliger Kommandeur der ugandischen Miliz LRA verurteilt worden. Was bedeutet die Verurteilung für die Opfer? | "2021-02-04T17:00:00+01:00" | "2021-02-08T16:56:20.489000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-warum-die-impfung-kein-freifahrtschein-ist-100.html | 1,004 |
Im Land der kollabierenden Gletscher | Gletscher in Alaska: Ein Eisbrocken bricht ab und stürzt krachend in den Ozean. (imago/Anka Agency International)
Der Kapitän der "Alaskan Explorer" hat nach vier Stunden Fahrt durch den Nordwest-Fjord sein Ziel erreicht: Er ist ganz dicht an die Eismassen herangefahren, die sich am Ende dieses Fjordes in einem Oval einer zerklüfteten, schroffen Eislandschaft in die Tiefe stürzen. Der Kapitän hat das Heck in Richtung dieser spektakulären Naturbühne gedreht, damit alle sehen können, was sich hier abspielt. Immer wieder werden die Eismassen wie von einem Blitzschlag getroffen – tief im Inneren der Gletscher hebt ein dunkles Grollen an. Als würden Zacken eines riesigen, blaugrün schimmernden Diamanten weggesprengt, lösen sich spitzkantige Schollen aus dem faltigen Gebirge und stürzen tosend ins Wasser.
Man hört es fauchen, krachen und bersten
Erst langsam kommt zum Bewusstsein, dass sich diese kolossale Arena aus Gletschern, Eis und Wasser in permanenter Bewegung befindet: In der gleißenden Mittagssonne dieses wolkenlosen Spätsommertages schmelzen die Eismassen unaufhörlich dahin – in den Katakomben der Gletscher hört man es fauchen, krachen und bersten. Ist das nur Wetter? Oder Klimawandel? Ist es ein natürliches Schauspiel, wenn sich die Eismassen der vielen Gletscher des Harding-Eisfeldes mittags unaufhörlich in Richtung Nordwest-Fjord schieben? Oder ist das große Schmelzen ein untrüglicher Beweis für die fortschreitende Erderwärmung?
Wissenschaftler sagen, die Arktis Alaskas erwärme sich dreimal so schnell wie der Rest der Erde. Das wird auch auf der Klimakonferenz dieser Tage in Bonn wieder Thema sein: An den Polen, sagen die Experten, schlägt sich der Klimawandel besonders schnell und folgenreich nieder.
Eine Britin findet die Erosion der Gletscher ein aufregendes Schauspiel – toll, diese Geräuschkulisse, wenn das Eis ins Meer kracht und das Schiff in sicherer Entfernung auf den Stoßwellen taumelt. Aber ob das wirklich Klimawandel sei? Da sei sie doch sehr skeptisch. "Ich weiß es nicht. Einige Leute hier auf dem Schiff haben gesagt: Das war schon immer so. Schon vor dem angeblichen Klimawandel. Es wird halt im Sommer wärmer und dann friert es wieder. Also, ich habe da meine Zweifel – aber ganz sicher weiß ich es natürlich nicht."
Kapitän Mike Boyce auf der "Alaskan Explorer" (Deutschlandradio / Thomas Spang)
Mike sitzt im Ruderhaus der "Alaskan Explorer". Vor sich Steuerrad und Instrumente, links das Funkgerät. Mike Boyce ist 45 Jahre alt. Er kneift die Augen zusammen. Die Sonne blendet ihn. Mike hat den Teint von Leuten, die immer auf dem Wasser sind. Er ist der Kapitän des Schiffes. Und er kennt natürlich diese endlosen Debatten über Sein oder Nicht-Sein des Klimawandels. Es gebe Passagiere, die sich richtig in die Wolle kriegen. Andere seien geradezu verwirrt, wenn sie zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, was dort im Eis passiert. Mike spricht das weiche Amerikanisch der New Yorker. Er stammt aus New Jersey, und hatte irgendwann einmal nur noch den Wunsch, sein Leben in der Natur zu verbringen. Seither stellt er fest, dass buchstäblich alles in Bewegung ist. Für ihn, der fast jeden Tag durch diese unfassbar schöne Welt aus Eis, Wasser und Sonne gleitet, steht unbestreitbar fest: Der Wandel ist dramatisch. Jeden Tag sähen die Gletscher anders aus. Zum letzten Mal sei er vor vier Tagen hier gewesen, und wieder seien die Eisfelder kleiner geworden. Mike hat die "Alaskan Explorer" behutsam vorbeigelenkt an Eisschollen, auf denen sich Robbenfamilien sonnen. Auf karstigen Felsen am Ufer tummeln sich Hunderte von Walrossen – vor ein paar Jahren sei hier noch Eis gewesen, sagt Mike. An der Basis der Gletscher käme immer häufiger nackter Fels zum Vorschein Mike bringt das Schiff in einer Bucht zum Stehen, unmittelbar vor einem beeindruckenden Wasserfall, der sich aus großer Höhe in den Fjord stürzt. Schmelzwasser von den Gletschern, sagt Mike. So viel und mit solcher Wucht, dass sich immer neue Wasserfälle bilden, die dann für gefährliche Strömungen im Fjord sorgen.
Ein Eisfeld von 2800 Quadratkilometern
Was Mike aus seinem Ruderhaus sieht, ist nur das vorläufige und lokale Ende der Gletscherschmelze. Der Beginn liegt oben auf den Bergen. Auf dem gigantischen Harding-Eisfeld, das vor 20.000 Jahren entstand und von dem 40 Gletscher abgehen. 2800 Quadratkilometer ist es groß. Die Gletscher dort sind ein- bis zweitausend Meter tief. Um eine Vorstellung von den wirklichen Ausmaßen dieser unberührten Welt aus Eis und Schnee zu bekommen, machten sich 1968 Wissenschaftler zu Fuß auf den Weg. Sie durchquerten von Homer aus erstmals das Harding-Eisfeld und brauchten dafür acht Tage. Am Ende kamen sie bei Seward an einem Gletscher heraus, den sie Exit-Glacier tauften. Ausgangsgletscher. Seine gewaltige Zunge leckt sich das Eis am Tal wund. Alex hat sich in einem Geröllfeld am Rand des Exit-Gletschers die Steigeisen angezogen und den Steinschlag-Helm aufgesetzt. Alex Bogner ist 21 Jahre alt. Groß, schlank. Verspiegelte Brille. Er ist Bergführer, Gletschergeher, Eiskletterer. Sein Studium des Bergmanagements hat er bald abgeschlossen.
Routiniert kontrolliert er, ob bei allen die Klettergurte richtig sitzen. Der Helm. Die Steigeisen. Der Rucksack. Es ist sehr windig heute, sagt Alex. Handschuhe, Mützen – alles kann im Handumdrehen wegfliegen. Vergesst nicht: Wenn ihr auf dem Eis etwas verliert, ist es für immer verloren. Es ist zu gefährlich, eine Kamera oder ein Mikrophon wieder einsammeln zu wollen. Verstanden? Aber wenn denn ein Missgeschick passiere: Ganz ruhig bleiben. Er kümmere sich darum. Und dann sehe man weiter. Mit einem großen Seitwärtsschritt schwingt sich Alex vom Geröllfeld auf das Gletschereis. Er steigt 50, 100 Meter vor, zeigt, wie es geht und mahnt: Mit den Steigeisen kann man nur kleine Schritte machen. Beim Steigen die Beine nach außen schwingen, sonst verhaken sich die Zacken in den Gamaschen.
Bizarre Schönheit: Schmelzwasser in Gletscherspalte (Deutschlandradio / Thomas Spang)
Langsam, aber stetig steigt Alex nach oben. Der Wind fegt über das Eisfeld. Alex schlägt Stufen. Immer wieder neue. Denn die Alten seien weggetaut, sagt er. Oft binnen eines Tages. Das sei Teil des Problems: Es sei gefährlicher geworden auf den Gletschern. Alles ist nass. Schmelzwasser fließt in Bächen den Berg hinunter. Haltet Abstand von den Spalten, mahnt Alex. Und von den so genannten Gletschermühlen, die aussehen wie leuchtend blaue Eisbecken, in denen das Schmelzwasser 1200 Meter in die Tiefe schießt. Alex will zu der Gletscherkante auf der anderen Seite steigen, um zu zeigen, wie schnell auch der Exit-Gletscher immer kleiner wird. In den letzten 60 Jahren ist es in Alaska durchschnittlich um fünf Grad wärmer geworden. Alle Gletscher hier, die bis 1500 Meter unter den Meeresspiegel reichen, tauen mehr und mehr ab.
Weidenröschen im Gletschergebiet: eine Pflanze als Katastrophenindikator (Deutschlandradio / Thomas Spang)
Nach zwei Stunden ist die andere Seite der Gletscherzunge erreicht. Wo sich ein riesiges Geröllfeld breit macht, sei vor zehn Jahren noch Eis gewesen, sagt Alex und zeigt auf eine unscheinbare Pflanze, deren violette Blüten sich wie ein kecker Farbklecks von dem unwirtlichen Hintergrund der schmelzenden Eisfläche abheben. Das Weidenröschen, sagt Alex, sei so etwas wie ein Katastrophen-Indikator. Wo immer eine Naturkatastrophe stattfand, ein Feuer, ein Erdbeben oder eben: der Rückzug eines Gletschers unter den dramatischen Bedingungen des Klimawandels – das Weidenröschen erobere sich als erstes den Naturraum zurück. Alex hat auf dem Weg nach unten ein Foto aus dem Rucksack gezogen – es zeigt den Exit-Gletscher im Jahr 1992. Anstelle der riesigen Eisfläche im Tal ist nun ein breites Steinband zu sehen, das von frischem Grün überwuchert wird. Man muss blind sein, um die Realität des Klimawandels zu negieren, sagt Alex. Das hier sollten sich die Politiker einmal ansehen! Als er hörte, dass Donald Trump den Klimawandel nicht nur in Abrede stellte, sondern auch noch damit drohte, aus dem Klimavertrag von Paris auszusteigen, habe sich ihm der Magen herumgedreht. Klimawandel sei keine Frage der Parteizugehörigkeit, sondern ein Faktum, mit dem man sich auseinandersetzen müsse.
Das haben auch die Ranger in den Nationalparks längst verstanden. Der Kenai National Park zum Beispiel, der zu Füßen des Exit-Glaciers liegt, versteht sich nicht mehr als staatliche Touristenattraktion, sondern als offizielles Dokumentations- und Informationszentrum. Laura Vaydenova ist 24 Jahre alt und arbeitet seit sieben Jahren als Ranger in dem Nationalpark. Damit ist sie Bundesbeamtin und trägt die grüne Uniform mit dem Hut und seiner weit ausladenden Krempe mit sichtlichem Stolz. Laura erzählt, sie selbst habe vom ersten Tag an den Rückzug des Exit-Gletschers verfolgt und sie könne noch genau sagen, bis wohin die Gletscherzunge reichte, als sie hier als Ranger begann.
Kenai National Park: Ranger Laura Vaydenova zeigt den Rückzug des Exit-Gletscher binnen sieben Jahren. (Deutschlandradio / Thilo Kößler)
Dreieinhalb Kilometer hat sich der Exit Glacier zurückgezogen
In den vergangenen 15 Jahren hat sich der Exit Glacier um dreieinhalb Kilometer zurückgezogen. Die Leitung des Kenai-Naturparks hat auf dem Hauptweg Schilder mit Jahreszahlen aufgestellt – sie markieren, bis wohin der Gletscher jeweils reichte. Der Weg wird auf diese Weise zu einem Dokument des Klimawandels. Laura sagt, in den letzten 5 Jahren sei der Gletscher jeweils um 44 Meter weggeschmolzen – letztes Jahr seien es 78 Meter gewesen. So viel, wie noch niemals zuvor. Was aber hat das alles zu bedeuten? Was heißt es, wenn die Temperaturen steigen, die Gletscher schmelzen und das gesamte Ökosystem in hellem Aufruhr ist? Was heißt das für die Natur und den Menschen? Was heißt es für Flora und Fauna? Welche Folgen werden alle unmittelbar zu spüren bekommen? Seit Anfang der 1990er-Jahre beobachtet Rick Brown das Geschehen in Alaska – zunächst als Anbieter von Expeditions- und Outdoor-Touren, dann immer mehr als warnende Stimme in der Öffentlichkeit. Rick Brown gilt mit seinen 64 Jahren als der erfahrenste Führer in der Wildnis Alaskas. Ich bin zwar kein Wissenschaftler, sagt der Mann mit dem mächtigen Schnurrbart, aus dem er sich den Bierschaum saugt. Aber sie kämen immer wieder gerne auf seine Beobachtungen zurück. Und die sind alarmierend. Er beobachte ein wahres Massensterben der Gletscher, sagt Rick Brown. Einen kollektiven Kollaps, von dem niemand wisse, welche Ausmaße er noch annehmen werde. Niemand wisse, wie sich dieser Zusammenbruch gestalte – ob allmählich und damit absehbar, planbar. Oder doch in Form einer berstenden und krachenden Katastrophe. Das hält Rick Brown nach seinen jüngsten Erfahrungen für wahrscheinlicher.
Die Grizzlies werden immer aggressiver
Rick Brown beobachtet nicht nur die Gletscher. Er verfolgt auch das Verhalten der Tiere. Besonderen Respekt hat er vor den Braunbären, den Grizzlies, die immer aggressiver werden, wie er sagt: Sie sind für ihn der Indikator einer dramatischen Verhaltensstörung, für die Brown nur einen Grund finden kann: den Klimawandel. Die Bären überwintern normalerweise, sagt Brown. Aber wegen der gestiegenen Temperaturen kommen sie immer früher aus ihrem Winterlager. Aber die Beeren und Pflanzen, von denen sie sich ernähren, sind so früh im Jahr noch nicht so weit. Und so haben die Tiere Hunger. Und das macht sie aggressiv. So kommt nicht nur der Rhythmus der Tiere durcheinander. Sondern auch ihr Verhalten. Man könne jedes Ereignis für sich nehmen und zum Einzelfall erklären. Man könne abwiegeln und verharmlosen und behaupten, das alles habe es stets gegeben – seien es schmelzende Gletscher oder aggressive Bären. Aber am Ende komme man um die Erkenntnis nicht herum, dass alles miteinander zusammenhängt. Bei seinem Präsidenten hat Rick Brown allerdings so seine Zweifel: Man sollte ihm einmal eine Einladung schicken und ihm am Beispiel Alaskas das Problem des Klimawandels erklären – so wie seinem Vorgänger Barack Obama, der 2015 hier war und sich nach seinem Besuch darin bestätigt sah, dass dem Phänomen der Erderwärmung nur auf internationaler Ebene beizukommen ist. Weshalb er das Pariser Klimaabkommen trotz heftiger Widerstände der republikanischen Partei unterzeichnete. Käme Donald Trump wirklich einmal vorbei – er würde vermutlich gar nicht wahrnehmen, was wir sehen, ist Rick Brown überzeugt. Trumps Sicht auf den Planeten sei doch sehr eigen. Und eher von Ideologie geprägt als von Fakten. Die neue Administration unter Donald Trump hat sich noch nicht einmal danach erkundigt, was Alaskas Wissenschaftler zum Thema Klimawandel, Erderwärmung und deren Folgen zu sagen haben. Dabei gibt es in Fairbanks und Anchorage Universitäten und Institute, die den bedrängten Ökosystemen ganze Forschungsschwerpunkte gewidmet haben.
"Es wird mehr Brände geben"
Carol Jantzen etwa ist Ozeanographin am Alaska Ocean Observing System in Anchorage. Sie gibt zu, immer noch mehr Fragen als Antworten auf die Erkenntnis zu haben, dass die Erdoberfläche zwischen 1994 und 2014 75 Gigatonnen Eis verloren hat – eine Gigatonne ist eine Milliarde Kubiktonnen. Was bedeutet das für die Weltmeere? Für die Küsten und Ufergebiete? Für die Zusammensetzung des Wassers? Für Wasserdichte, Zirkulation, Verhalten der Gezeiten? Carol Jantzen, die Wissenschaftlerin, die auf internationalen Konferenzen mehr gefragt ist als in ihrer eigenen Hauptstadt Washington DC, versucht alles zusammenzudenken – das gesamte Ökosystem dürfte weltweit betroffen sein, sagt sie.
Gletscherschmelze in Alaska (Deutschlandradio / Thilo Kößler)
Aber auch Carol Jantzen sagt: Alles hängt miteinander zusammen. Abnehmende Fischbestände und zunehmendes Vogelsterben. Der Migrationsdruck der Menschen und das Wanderungsverhalten der Tiere. Das Ansteigen der Meeresspiegel und das Austrocknen der Permafrostböden. Der damit verbundene erhöhte Methangas-Ausstoß mit absehbar beschleunigter Erderwärmung. Der Klimawandel und seine Folgen – ein einziges Katastrophenszenario? "Wie schnell das alles gehen wird, weiß ich noch nicht. Die ersten Veränderungen werden sicherlich in Küstennähe auftreten und in der Tundra, also auf dem Festland. Es wird wärmer und trockener – es wird mehr Brände geben. Das ist eigentlich das Bedrohlichste. Dann wird es immer weniger Schneefall geben – es wird sich mehr in Richtung Regen bewegen. Damit verändert sich die gesamte hydrologische Struktur." Mike Boyce, der Kapitän der "Alaskan Explorer", hat das blütenweiße Schiff durch den tiefblauen Nordwest-Fjord navigiert. An dessen Ausgang tummelt sich eine ganze Schule von Buckelwalen. Dann meldet ihm der Kapitän eines anderen Schiffes einen Orca, einen Großen Schwertwal. Irgendwo, an der Landzunge vor der Mündung der Alec Bay, muss er sich aufhalten. Mike will die Suche schon abbrechen. Da zeigt sich backbord erst ein gewaltiges Gebläse auf der Wasseroberfläche. Und dann die breite Finne eines ausgewachsenen Orca-Männchens. Für einen Moment scheint es still zu stehen. Wie ein Scherenschnitt zeichnet sich die Rückenflosse vor der sonnenüberfluteten Wasseroberfläche ab. Dann gleitet der Wal in die Tiefe. Mike greift zum Bordmikrofon: Er schwimmt nach Süden, meldet er. Es sei wirklich ungewöhnlich, dass ein Orca-Männchen hier ganz alleine unterwegs ist. Mike ist zufrieden – nach neun Stunden auf dem Wasser sagt er: Wow - was für ein unglaublich schöner Tag. Wasser. Sonne. Wale. Gletscher. Ich genieße jede Minute hier draußen, sagt Mike. Er brauche diese endlosen Diskussionen über den Klimawandel nicht. Er habe sie satt. Ich erzähle den Leuten, was sie hier in dieser Wildnis und Einsamkeit alles sehen können, sagt er. Hinschauen und verstehen müssen sie schon selbst. Soll doch jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen. | Von Thilo Kößler | Gletscher tauen ab, Fischbestände gehen zurück, Bären werden aggressiver: In Alaskas Arktis sind die Folgen des Klimawandels besonders offensichtlich. Und die langfristigen Auswirkungen sind kaum absehbar. | "2017-11-02T18:40:00+01:00" | "2020-01-28T10:59:18.646000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/klimawandel-in-alaska-im-land-der-kollabierenden-gletscher-100.html | 1,005 |
Sprechstunde mit Headset und Webcam | Umgerechnet 32 Euro kostet ein viertelstündiges Gespräch mit dem Online-Arzt. (picture alliance / ZB)
"Hallo, mein Name ist Jacqueline Khorami, ich bin Ärztin in der Online Arztpraxis "Kry". Womit kann ich Ihnen helfen?"
Jacqueline Khorami sitzt zu Hause in ihrer Wohnung am Bildschirm und spricht über ein Headset mit ihren Patienten. Der Ton ist manchmal etwas verrauscht, auch der Blickkontakt zwischen Arzt und Patient fehlt, da die Ärztin nicht in die Kamera, sondern auf das Video im Computer schaut. Khorami lässt sich von ihrer Patientin erklären, welche Symptome sie hat. Für die Online Ärztin ist der Fall schnell klar: Eine Grippe, die noch nicht völlig abgeklungen ist. Sie rät daher von körperlicher Anstrengung ab.
"Unser Rat lautet: Während einer Viruserkrankung sollte man keinen Sport machen, weil die Viren das Herz schädigen kann, wenn die Infektion nicht ordentlich auskuriert wird."
Das Online-Rezept
Die Online-Ärzte geben nicht nur Rat. Sie haben auch die Möglichkeit, Rezepte für ihre Patienten auszustellen. Um Missbrauch vorzubeugen, muss sich jeder online über eine sogenannte Bank-ID identifizieren bevor er sich bei Kry behandeln lassen kann. Diese ID funktioniert wie ein elektronischer Ausweis. Sowohl schwedische Banken, als auch das Finanzamt nutzen diese fünfstellige Geheimzahl, um Bürger zu identifizieren. Sie wird über ein zigarettenschachtelgroßes Modul mit USB-Kabel in den Computer eingegeben.
Auf der Homepage von Kry sind Symptome und Krankheiten aufgelistet, die nach Auffassung der Betreiber online behandelt werden können. Darunter auch Akne, Haarausfall und Erektionsstörungen. Bei komplizierten Fällen verweisen die Online-Ärzte jedoch auf den Hausarzt. 300 Kronen also umgerechnet 32 Euro kostet ein viertelstündiges Gespräch mit dem Online-Arzt. Ersetzen kann es den Besuch in der Hausarztpraxis aber nicht, meint Bernd Sengpiel. Er ist Allgemeinmediziner in Göteborg und stammt ursprünglich aus Deutschland.
"Wenn ich einen Patienten treffe, hole ich ihn aus dem Wartezimmer ab, sehe wie er sich bewegt. Ich kann ihn anfassen – ich kann viel mehr sehen, als auf dem Bildschirm und meine klinischen Untersuchungen machen. Ich kann Blut abnehmen oder andere klinische Untersuchungen machen. Das kann natürlich so eine Internetarztpraxis niemals leisten."
Überflüssig sei die Online-Praxis damit aber nicht. Wer in der Großstadt lebt, brauche zwar keinen Internet-Arzt, meint Bernd Sengpiel. Doch nicht jeder hat die nächste Arztpraxis gleich um die Ecke. Vor allem nicht in Schweden.
"Ich kann mir schon vorstellen, dass wenn man mehrere hundert Kilometer zur nächsten Arztpraxis hat, dass man sich gerne an den Computer setzt und sich einen ersten Rat holt, bevor man losfährt. Aber eine funktionierende Arztpraxis oder überhaupt ein funktionierendes Gesundheitssystem kann das einfach nicht ersetzen."
Bisher haben vor allem technikbegeisterte Patienten zwischen 20 und 30 Jahren die Dienste der Online-Arztpraxis in Anspruch genommen. Grundsätzlich wäre es zwar auch möglich, so etwas wie "Kry" in Deutschland zu etablieren, meint Bernd Sengpiel. Doch in Sachen Technik und sicherem Umgang mit Patientendaten, müsse sich hier zunächst einiges verbessern.
"Als ich letzte Woche in Deutschland war, war ich erstaunt, wie schlecht immer noch die mobile Internetversorgung oder überhaupt die Internetversorgung auch in den Großstädten ist. Und ich glaube die Infrastruktur, was die sichere Kommunikation übers Netz ist, ist nicht so verbreitet wie hier. Ansonsten gibt's es in Deutschland auch unterversorgte Gebiete, die vielleicht davon profitieren können." | Von Christine Westerhaus | In Schweden ist es seit Kurzem möglich, eine ärztliche Sprechstunde online wahrzunehmen. Das Ganze läuft ähnlich ab wie eine Videokonferenz über Skype und soll auch Menschen in abgelegenen Landesteilen ermöglichen, schnell medizinischen Rat einzuholen. Einen notwendigen Besuch in der Arztpraxis wird diese Art der Ferndiagnose aber nie ersetzen können. | "2015-04-07T10:10:00+02:00" | "2020-01-30T12:30:22.875000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/online-arzttermin-sprechstunde-mit-headset-und-webcam-100.html | 1,006 |
Soziologe Nassehi: Es gibt gute Gründe für Öffnungen – und gute dagegen | Lockerungen ja oder nein? Eine enorm schwierige Abwägungsentscheidung, meint Armin Nassehi (picture alliance/Eibner-Pressefoto/Rene Weiss)
In zehn Bundesländern öffnen am Montag, 22. Februar, Grundschulen und Kitas – trotz wieder steigender Infektionszahlen. Der Soziologe Armin Nassehi sagte im Deutschlandfunk, dass die Gesellschaft sich in einer äußerst schwierigen Situation befinde. Einerseits brauche es Öffnungsperspektiven, andererseits gebe es aber eben gleichzeitig auch gute Gründe, diese Perspektiven in Frage zu stellen. Dazu komme noch, dass Kausalitäten gezogen werden, dass also das jetzige Geschehen erst in ein bis zwei Wochen in den Daten zu erkennen sei.
Armin Nassehi (IMAGO/Manfred Segerer)
In dieser Situation sei es außerordentlich schwierig, mittelfristige Perspektiven zu formulieren – doch genau das sei wichtig. Man könne zwar keinen klaren Fahrplan vorgeben, aber durchaus Bedingungen nennen, unter denen Öffnungen möglich sind. In dieses Verfahren müsse aber "eine Art Selbstkorrektur-Apparat" integriert sein, der Öffnungen bei sich ändernder Lage in Frage stelle.
Ein Beispiel für eine fehlende mittelfristige Strategie sieht Nassehi im Zusammenhang mit den Schulöffnungen und der Impfpriorisierung. Dass das Lehrpersonal höhere Impfpriorität bekommen soll, begrüßt der Soziologe, denn es sei richtig, bei Schulen und Kitas zuerst zu lockern. Doch unter diesen Annahmen hätte man das Lehrpersonal schon früher bei den Impfungen stärker priorisieren müssen. Es werde immer erst dann reagiert, "wenn bestimmte Parameter bereits so weit sind, dass die Reaktion wahrscheinlich wieder erst Wirkungen in zwei bis drei Wochen hat."
Prien zu Schulöffnungen - "Bewusste Entscheidung, die wir als Gesamtgesellschaft treffen"Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien hat die Öffnung der Grundschulen im Dlf begrüßt. Besonders im Alter bis zu zehn Jahren machten Kinder entscheidende Entwicklungsschritte im Kontakt mit anderen. Schon jetzt seien viele Kinder in einem Zustand, in dem sie psychologische Behandlung brauchen.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Philipp May: Brauchen Sie auch dringend eine Öffnungsperspektive?
Armin Nassehi: Diese Öffnungsfragen, die spielen zurzeit eine große Rolle. Wir haben es ja mit einer Paradoxie zu tun, die Sie eigentlich schon auf den Begriff gebracht haben, und Herr Klingbeil natürlich auch in dem Einspieler von vorhin. Einerseits brauchen wir die Öffnungsperspektive; auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, diese Öffnungsperspektive in Frage zu stellen – beides mit guten Gründen, beides tatsächlich hervorragend argumentiert. Aber wir befinden uns in dieser Spannung, in der das eine gegen das andere offenbar nicht so leicht auszuspielen ist, und das ist die schwierige Situation, in der wir uns befinden.
May: Was machen wir jetzt? Den Kopf in den Sand stecken?
Nassehi: Natürlich nicht den Kopf in den Sand stecken. Es ist schon richtig, dass man so etwas wie mittel- oder langfristige Perspektiven braucht. Seit ich mich mit dieser Krise beschäftigte, ist das, glaube ich, der Satz, den ich am öftesten gesagt habe, und ich bin da nicht der einzige. Wir haben es wiederum mit zwei Problemen zu tun, die gegeneinander stehen. Auf der einen Seite ist es gerade in diesen Situationen, in denen Kausalität ja gezogen wird – das was jetzt passiert, sieht man in den Daten erst in ein bis zwei Wochen in ihren Wirkungen –, außerordentlich schwierig, mittelfristige Perspektiven zu formulieren.
Auf der anderen Seite ist es durchaus möglich, so etwas wie Bedingungen zu nennen, unter denen Öffnungen möglich sind, aber gleichzeitig auch so etwas wie eine Art Selbstkorrektur-Apparat drin zu haben, wenn die Dinge sich nicht so entwickeln, wie wir sie berechnen, auch darauf reagieren zu können. Wir sind ja gerade heute in der Situation, dass in allen Bundesländern Schulen und Kitas zumindest teilweise öffnen, wir gleichzeitig aber die Erwartung, als das entschieden wurde, dass nämlich die Kurven runtergehen aufgrund wahrscheinlich der Mutationen, die da sind, zumindest nur in einer Seitwärtsbewegung stattfinden. Wie gehen wir jetzt damit um? – Das ist unglaublich schwierig. Und jetzt zu sagen, wir brauchen eine mittelfristige Perspektive, das ist offenbar ein Hinweis darauf, dass uns dafür vielleicht nicht die Informationen fehlen, aber das Geschehen komplexer ist als das, was wir gerade als Reaktion ermöglichen können.
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
May: Einige stellen deswegen jetzt auch schon wieder das Fixieren auf die Inzidenz-Werte in Frage – nach dem Motto, die Inzidenz-Werte von 35, möglicherweise noch nicht mal die 50, großflächig zumindest, können wir nicht erreichen, also suchen wir uns andere Parameter heraus. Ist das ein gangbarer Weg?
Nassehi: Auch der Satz, den Sie gerade gesprochen haben, enthält eine ganz interessante Kausalität. Weil wir bestimmte Werte nicht erreichen können, müssen wir womöglich andere Parameter verwenden. Jetzt ist die interessante Frage, worin besteht die Kausalität. Müssen wir jetzt uns andere Parameter suchen, damit wir auf Werte kommen, die es uns erlauben, jetzt zu öffnen? Oder geht es um die Frage, angemessene Parameter zu haben, um das Geschehen wirklich verstehen zu können? – Entschuldigen Sie, wenn ich das so grundsätzlich ausdrücke.
"Die Wissenschaft findet ja nicht eine Wirklichkeit vor, die sie eins zu eins objektiv abbilden kann"
May: Ich verstehe schon. Aber sind die Parameter angemessen? Oder ist es tatsächlich die reine Not, weil die Öffnungsperspektive fehlt? Unter den Voraussetzungen, die wir bisher besprochen haben, müssen wir die Voraussetzung ändern?
Nassehi: Der Punkt besteht ja genau darin, dass dieser Zusammenhang zwischen den Parametern, die wir haben, und den Reaktionen etwas ist, der von uns selbst gemacht wird. Die Wissenschaft findet ja nicht eine Wirklichkeit vor, die sie eins zu eins objektiv abbilden kann, sondern sie muss ja Parameter finden, um sich einen Reim auf das Geschehen zu machen. Wir haben im Moment ja zwei Parameter, die eine große Rolle spielen. Der Inzidenz-Wert geht im Moment langsam runter. Wir haben heute Zahlen, die etwas besser sind als die vor einer Woche. Der R-Wert gleichzeitig steigt auf etwas niedrigerem Niveau. Wir wissen aus der Erfahrung, wenn der R-Wert steigt, dass womöglich die Zahlen, die wir hier haben, wieder höher gehen.
Ich bin jetzt selber kein Statistiker und kein Epidemiologe. Als Soziologe kann ich nur darauf hinweisen, dass es unglaublich schwierig ist, mit sich widersprechenden Informationen umzugehen, aber das ist genau das Geschäft, mit dem wir jetzt zu tun haben.
Darf ich noch mal auf die mittelfristigen Perspektiven zu sprechen kommen? – Die Kanzlerin hat, wie ich finde, völlig zurecht gesagt, wenn etwas als erstes geöffnet wird, dann Schulen und Kitas. Vielleicht hätte man in der Impfstrategie dann darüber nachdenken müssen, das Lehrpersonal in beiden Institutionentypen in der Impfpriorität vorher reinzusetzen.
May: Das passiert ja jetzt!
Nassehi: Ja, das passiert jetzt, aber das passiert relativ spät, weil wir immer nur dann reagieren, wenn ganz bestimmte Parameter bereits so weit sind, dass die Reaktion wahrscheinlich wieder erst Wirkungen in zwei bis drei Wochen hat. Das würde ich unter einer mittelfristigen Perspektive verstehen.
May: Wie lange glauben Sie denn, als Soziologe befragt, macht die Bevölkerung dieses Verharren im Lockdown noch mit?
Nassehi: Eine blöde Antwort würde heißen, solange wie es nötig ist. Und sie macht es ja auch tatsächlich immer noch mit. Unruhe entsteht, glaube ich, eher darin, dass so etwas wie inkonsistente Maßnahmen zu beobachten sind, dass, sagen wir mal, unsere Impf-Performance nicht unbedingt preiswürdig ist im Moment. Das muss man ja leider so formulieren. Dass wir zum Teil sehen, dass das, was alle Expertinnen und Experten zurzeit einfordern, nämlich gezielte Maßnahmen, eindeutige Kriterien, wann man wo etwas öffnen kann oder wieder schließen muss, kein konsistentes Bild abgibt.
Deshalb ist es auch für uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Ganze im Moment beobachten und Politikberatung machen, so schwierig zu sagen, wir brauchen mal ein vergleichsweise einheitliches – und einheitlich heißt nicht ein Konzept, sondern eines, das so konsistent ist, dass die Menschen auch verstehen können, dass die Dinge womöglich etwas länger dauern werden. Wenn man sich anguckt, was die britische Regierung jetzt angeboten hat im Hinblick auf die Frage, wie Öffnungsperspektiven sind, dann hat man dort zumindest im Moment eine etwas längerfristige Perspektive formuliert. Man muss sich das noch mal genauer angucken. Der Ministerpräsident hat das gerade formuliert. Aber das ist zumindest eine längerfristige Perspektive als das, was wir im Moment in unserer starken Gegenwartsorientierung haben.
"Die Kollateralschäden in der Gesellschaft sind riesengroß"
May: Aber die Diskussionen sind trotzdem die gleichen.
Nassehi: Natürlich sind die Diskussionen die gleichen, und das liegt ja in der Natur der Sache. Wir können jetzt nicht sagen, dass es ein Diskussions-Tool oder ein Kommunikations-Tool gibt, das die Paradoxien dieser Krise einfach außer Kraft setzt. Natürlich gibt es den Wunsch bei den Menschen, übrigens bei mir auch, dass diese Dinge endlich enden, dass es tatsächlich so was wie Öffnungsperspektiven gibt. Die Kollateralschäden in der Gesellschaft sind riesengroß. Aber aus den Schäden lässt sich wiederum kausal nichts schließen auf die Möglichkeit, die Dinge jetzt so zu tun. Eine wirklich verflixte Situation, wenn ich das mal so unakademisch sagen darf.
May: Was würden Sie denn jetzt machen, sollte sich dieser Trend tatsächlich verfestigen, dass die Zahlen steigen, auch aufgrund der Virus-Mutante, wenn Karl Lauterbach tatsächlich recht hat und sagt, wir stehen jetzt am Anfang einer neuen Pandemie? Müssen wir dann tatsächlich notgedrungen alle wieder rein in den Lockdown?
Nassehi: Ja, und das gehört zu Stufenplänen dazu, dass es nicht nur heißt, wenn man bestimmte Dinge erreicht, dann kann man regional gezielt an bestimmten Dingen öffnen, sondern wenn sich die Parameter umkehren, würde das bedeuten, dass man zum Teil auch wieder schließen muss. Wenn ich die Experten auf diesem Gebiet richtig verstehe, das heißt sowohl die Statistiker als auch die medizinischen und virologischen Experten, dann scheint es so zu sein, dass wir erwarten dürfen, dass die Kurven in der nächsten Zeit eher steigen werden.
Wir erleben doch zurzeit, wieviel Energie wir aufwenden müssen, um die Inzidenz-Zahlen auf einem relativ stabilen Niveau zu halten. Daraus kann man ja lernen, dass, wenn wir hier etwas unvorsichtiger werden, sich die Parameter wieder entsprechend verändern werden. Insofern muss man ganz klar sagen: Ja, wenn die Dinge sich negativ entwickeln, werden wir womöglich wieder in Lockdowns hineingeraten.
Alternative zum Lockdown - Neue Perspektiven durch Corona-Selbsttests?Im März soll eine Reihe von Corona-Schnelltests in Deutschland zugelassen werden, die – anders als die bisherigen Antigen-Schnelltests – auch Laien zu Hause anwenden können. Das könnte neue Perspektiven im Kampf gegen das Virus eröffnen: Marburger Forscher sehen darin gar eine Lockdown-Alternative.
May: Ist dann die Forderung einer Öffnungsperspektive unter dem Zusammenhang, was Sie jetzt sagen, nicht Augenwischerei? Hat da Jens Spahn nicht recht, wenn er sagt, man kann jetzt gerade in dieser Situation gar keine verlässlichen Pläne machen, keine Drei-Monats- oder keine Sechs-Monats-Pläne, weil man einfach nicht genug weiß, weil die Situation so ist wie sie ist?
Nassehi: Da hat er vollkommen recht. Aber was wir schon machen können, das ist, Bedingungen zu formulieren, Szenarien zu formulieren, das heißt die Bedingungen darüber zu formulieren, dass ab bestimmten Grenzwerten man langsam beginnen kann, um dann mehr Informationen zu haben. Was zum Beispiel oft vorgeschlagen wird sind regelmäßige Zufallsstichproben, das heißt Tests, die, wie Sandra Ciesek uns letztens beigebracht hat, als Selbsttests viel schwieriger sind, als sich das auf dem Papier anhört, damit wir mehr über das Geschehen wissen, und zwar nicht nur flächendeckend mehr, sondern auch ganz gezielt, an welchen Stellen die Infektionen tatsächlich stattfinden. Wenn wir das haben, können wir wahrscheinlich auf einem niedrigeren Niveau der Inzidenz viel gezielter reagieren.
Ich kann alle verstehen und würde das auch stark unterstützen zu sagen, die künftigen Strategien müssen viel gezieltere sein, sie müssen viel differenziertere sein als das, was ein Gesamt-Lockdown bedeutet. Wir hoffen ja, dass in Kombination mit der Impfstrategie sich die Dinge zumindest in den nächsten zwei Monaten etwas entspannen.
"Was sicher nicht funktionieren wird ist, das Virus völlig auszumerzen"
May: Herr Nassehi, was ist, wenn bis zum April zwar die Ansteckungszahlen hochgehen, nicht aber die Todeszahlen, weil die vulnerabelsten Menschen schon größtenteils geimpft sind? Wie kann man den nach Freiheit lechzenden jungen Leuten vermitteln, jetzt müsst ihr trotzdem erst mal wieder in den Lockdown?
Nassehi: Auch das sind ja Parameter, die man sich entsprechend angucken muss. Wie gesagt, ich bin kein Virologe, aber es gibt durchaus welche, die dann voraussagen, wenn dann auch in der jüngeren Generation sehr starke Infektionszahlen zu beobachten sind, dass auch dort mit schwereren Verläufen zu rechnen ist und womöglich auch mit mehr Todesfällen. Aber das gehört zu dem schönen Bereich, den wir gerade definiert haben, über den wir relativ wenig wissen.
Was sicher nicht funktionieren wird ist, das Virus völlig auszumerzen. Das wird wahrscheinlich nicht gehen. Wahrscheinlich brauchen wir genug Energie, um es auf einem sehr niedrigen Niveau zu halten. Der Zusammenhang ist ja der: Je niedriger das Niveau, desto besser die Möglichkeiten, gezielt regional zu reagieren und in anderen Bereichen tatsächlich viel Freiheit zu ermöglichen. Insofern ist das ja bereits Teil der Lösung zu sagen, dass die niedrige Inzidenz einen Sinn hat, nämlich einen Sinn, dass man nicht mehr so starke Maßnahmen dann braucht.
May: Speist sich die Unzufriedenheit auch aus dieser permanent unterschiedlichen Kommunikation der politisch Entscheidenden?
Nassehi: Ja, das ist sicher so. Politische Kommunikation lässt sich nun mal nicht stillstellen. Es werden damit auch politische Fragen gelöst. Jede politische Kommunikation ist auch politisch codiert und nicht nur, was die Sachfragen angeht. Wir haben es durchaus auch mit der Frage zu tun, dass wir zurzeit den vielgepriesenen Föderalismus durchaus auch als eine Quelle von Kakofonie, von unterschiedlichen Wahrheiten, die nebeneinander bestehen, erleben – gerade im Bildungssystem übrigens und nicht nur, was Corona-Fragen angeht. Aber diese Kommunikationsform ist zum Teil ja Quelle auch des Unbehagens, das wir zurzeit beobachten können. Das ist ja fast wie ein Ritual. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten treffen sich mit der Kanzlerin, dann gibt es relativ klare Vereinbarungen, und zwei, drei Tage später gibt es Abweichungen von den Vereinbarungen. Die Menschen haben alles Recht, auch davon abzuweichen. Diese Runde steht gar nicht im Grundgesetz als ein offizielles Gremium. Aber das wirkt natürlich so, als wären dann die Beschlüsse vergleichsweise beliebig, wenn das Commitment nicht hält. Das ist das Problem politischer Kommunikation. Da hätte ich mir auch mehr Konsistenz gewünscht. Aber das ist im politischen System schwer herzustellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Armin Nassehi im Gespräch mit Philipp May | Die gesellschaftlichen Kollateralschäden der Corona-Maßnahmen seien riesengroß, sagte der Soziologe Armin Nassehi im Dlf. Die Gesellschaft brauche Öffnungsperspektiven, doch gleichzeitig gebe es gute Gründe gegen Lockerungen. Solche Paradoxien auszuhalten, sei enorm schwierig. | "2021-02-22T06:50:00+01:00" | "2021-02-23T12:37:34.328000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/massnahmen-gegen-corona-soziologe-nassehi-es-gibt-gute-100.html | 1,007 |
Momodou Syes Traum von Olympia | Gehört zu den beliebtesten Disziplinen bei Olympia: der Sprint. (imago images / Golovanov + Kivrin)
Sie nennen ihn zu Hause in Gambia "long man" - den großen Mann. Momodou Sye kommt im stolzen, aufrechten Gang zum Interview. Mit seinen 1,90 Meter ist er nur fünf Zentimeter kleiner als Weltrekordler und Olympiasieger Usain Bolt. "Als ich mit Leichtathletik angefangen habe, war Usain Bolt mein Idol. Auch wenn man kein Athlet ist, weiß man, dass Usain Bolt der schnellste Mann ist. Einige Menschen nennen mich Bolt - aufgrund meiner Größe und Schnelligkeit."
Er strahlt über das ganze Gesicht und erzählt selbstbewusst von seinem großen Traum. "Dass ich mich für die kommenden Sommerspiele in Tokio qualifiziere und einer der besten Sprinter werde. Und dass ich es ins Olympiafinale schaffe - zum ersten Mal in der Geschichte von Gambia. Ich möchte Grenzen und Rekorde brechen in Gambia."
0,72 Sekunden für den großen Traum
Syes Talent hat ein Lehrer bei einem Schulwettkampf entdeckt. Da war er 16. Fünf Jahre später ist er der schnellste Mann in ganz Gambia. Zur Olympianorm des Leichtathletik-Weltverbandes fehlen dem 21-Jährigen noch 0,72 Sekunden.
Seine Bestzeiten läuft Momodou Sye in alten Schuhen - auf alten Bahnen - ohne ausgebildeten Trainer und Physiotherapie. So wie die meisten Menschen in Gambia, stammt auch er aus armen Verhältnissen. Wächst auf mit vier Geschwistern bei seiner alleinerziehenden Mutter.
"Meine Mutter strengt sich sehr an. Sie steht um 6 Uhr morgen auf, um das Essen vorzubereiten, das sie dann in Schulen verkauft. Das eingenommene Geld teilt sie dann mit der Familie. Und wenn es kein Essen gibt, bedeutet das, dass es zu Hause nichts zu essen gibt."
Ousman Manneh - Vom Flüchtling zum BundesligaprofiOusman Manneh kam als minderjähriger Flüchtling nach Bremen. Und suchte sich schnell einen Fußballverein. Er spielte seine gesamte Mannschaft schwindelig und wechselte zum Lokalmatador Werder Bremen – und schaffte es sogar schon in die Startaufstellung des Erstligisten.
Für das Training und seinem großen Traum von den Olympischen Spielen ist Momodou Sye extra von zu Hause weggezogen in die Stadt. Im Stadion von Bakau kann er zwar die Laufbahn nutzen, aber ein professionelles Sportumfeld ist das noch nicht.
"Ich trainiere jeden Tag. Und jeden Tag esse ich Reis, was nicht gut ist für meine Gesundheit. Manchmal kaufe ich Brot und Bohnen, was ich dann zum Frühstück esse. Und am Nachmittag esse ich Reis. Aber ich müsste eigentlich auch Gemüse und Obst essen - und ich bräuchte Physiotherapie und Massagen. Manchmal habe ich ein ganzes Jahr lang keine Physiotherapie, Massage - und keine Gesundheits-Checkups."
Weitspringer Wester: "Ich sehe das dieses Feuer in ihm"
Unterstützung bekommt er jetzt aus Deutschland von Weitspringerin Alexandra Wester. Sie hat Momodou Sye im vergangenen Jahr kennengelernt, als sie Sportschuhe nach Gambia gebracht hat.
"Mental sehe ich absolut den Willen in ihm - den ich auch damals hatte, als ich noch nicht in der Weltspitze war und ich mich wirklich voll reininvestiert habe, damit ich es hoch zur Weltspitze schaffe. Und das sehe ich jetzt auch in ihm. Ich sehe dieses Feuer, Und das ist genau das, was man braucht, um es ganz nach oben zu schaffen."
Wester ist Momodou Syes Mentorin. Sie tauschen sich per Sprachnachrichten aus - zum Beispiel über das Training und über Zukunftsvisionen. "Er kann kleinen Kindern in Gambia und auch weltweit zeigen, wie weit man es schaffen kann - und wohin man es schaffen kann - mit genug Willenskraft. Er ist das Gesamtpaket ohne die Ressourcen - und das muss man fördern. Und diese Ressourcen - da ist es jetzt wichtig, dass wir ihm die liefern, damit er sich entfalten kann auf allen Ebenen."
Weitspringerin Alexandra Wester (imago/sportfoto/Matthias Koch)
Dafür hat Alexandra Wester ein Crowdfunding gegründet. Ihr Plan ist es, ihn nach Amerika zu holen. In Kalifornien soll er unter Danny Williams trainieren. Der hat einst Edwin Moses zu zwei Goldmedaillen bei Olympischen Spielen über 400 M Hürden verholfen. "Danny sagt absolut, Momobou ist ein Talent. Seine Technik ist grätig im Sprint jetzt gerade. Da kann man viel machen."
25.000 Dollar müssen zusammenkommen. Davon sollen unter anderem der Trainer, Flüge, Visa, Unterbringung, Verpflegung und Physiotherapie bezahlt werden.
Chance auf Olympia-Qualifikation im Juni
Momodou Sye schaut ernst bei der Frage nach seinen Ängsten. "Manchmal sitze ich in meinem Zimmer und denke - wow - jeder das Vertrauen in mich, dass ich mich für Olympia qualifiziere. Aber was sage ich den Leuten, wenn ich es nicht schaffe? Das ist die größte Angst, die ich habe."
Alexandra Wester kann seine Angst verstehen. "Andererseits - das ist Sport. Da kann es jederzeit mal schiefgehen. Und ich habe Momodou auch schon gesagt - egal wie es jetzt läuft mit den Olympischen Spielen - die Zukunft ist groß."
Westers Plan B ist es, den 21-Jährigen aus der Ferne zu unterstützen - mit Geld für Massagetherapie, Ernährungsberatung, Lebensmittel und Mentaltraining. Und im Gesicht des jungen Sprinters blitzt schnell wieder dieses Selbstvertrauen auf: "Kein Mann ist begrenzt. Ich glaube an mich selbst - und dass ich alles in der Welt schaffe, wenn es klappt, dass ich Unterstützung bekomme."
Im Juni will sich Momodou Sye bei den Afrika-Meisterschaften in Algerien für die Olympischen Spiele qualifizieren und in Tokio für sein Heimatland Gambia laufen. | Von Frauke Hain | Sein Talent entdeckte ein Lehrer, fünf Jahre später war Momodou Sye Gambias schnellster Sprinter. Nun will er zu Olympia nach Tokio. Unterstützung bekommt er von der deutschen Weltklasse-Weitspringerin Alexandra Wester. Die Olympiateilnehmerin ist in Gambia geboren und in Deutschland aufgewachsen. | "2020-02-01T19:20:00+01:00" | "2020-02-12T14:49:04.248000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/schnellster-sprinter-gambias-momodou-syes-traum-von-olympia-100.html | 1,008 |
Der Hype ums Zocken | Die Legalisierung von Sportwetten hat in den USA zu einem Hype ums Zocken geführt - mit Folgen. (imago images/ZUMA Wire)
Ein Hotelzimmer in der Casino-Stadt Atlantic City in New Jersey. Der Fernseher ist auf den Casino-Werbekanal voreingestellt. Alle fünf Minuten wechseln sich Spots verschiedenster Anbieter von Online-Sportwetten ab. Die sind seit 2018 in den USA legal und erleben seitdem einen Ansturm, der kein Ende zu finden scheint. 7,6 Milliarden US-Dollar wurden alleine während des diesjährigen Super Bowls, dem Finalspiel der US-amerikanischen Football-Liga, verwettet.
Der Bundesstaat New Jersey war es, der Sportwetten per Klage am Obersten Gerichtshof möglich machte. Der damalige Gouverneur Chris Christie suchte neue Einnahmenquellen für den klammen Staat, klagte gegen ein Gesetz das Sportwetten verbot – und gewann. Atlantic City, die Zocker-Hauptstadt New Jerseys, war darauf vorbereitet, erzählt David Rebuck, Oberaufseher der Wettkontrollbehörde in New Jersey: "Wir haben viel von den Europäern gelernt, was sie tun, aber wir wollten den Schalter nicht umlegen, weil ihr Geschäftsmodell es den Sportwettenanbiertern erlauben würde, direkt zu den Menschen zu gehen."
Auf Sportwettenmodelle in Europa geschaut
Rebuck und seine Mitarbeiter hatten sich Sportwettmodelle in Europa angeschaut, daraus gelernt, sie aber nicht kopiert. Denn eine Sache gefiel ihnen nicht. Die Sportwettenanbieter konnten ihre Angebote online direkt an Spieler vermarkten – die bestehenden Casinos wären leer ausgegangen. "Deshalb haben wir in New Jersey ein Hybridmodell entwickelt, das es den Betreibern von Kasinos und Rennbahnen ermöglicht, im Wesentlichen zwei Arten von Sportveranstaltungen anzubieten. Eine auf ihrem Gelände und eine online."
New Jerseys Lösung: die Casinos bekommen die Wettlizenzen und Online-Anbieter dürfen ihre Sportwetten dann im Bundesstaat anbieten – müssen aber in irgendeiner Form in einem Casino präsent sein. Durch ein Café oder eine Bar etwa. "Sie dürfen nicht spielen oder ein Konto erstellen, bevor Sie nicht verifiziert sind."
Sportwetten in den USAWarten auf den ersten Skandal
05:03 Minuten15.11.2020
Zocken in der GrauzoneEuropäische Anarchie am Glücksspielmarkt
GlücksspielstaatsvertragDas Gezerre um die Sportwetten
Nur wer sich im Bundesstatt befindet, kann auch zocken
Wer über Wettanbieter, die ihre Angebote in New Jersey haben, zocken will, muss sich im Bundesstaat befinden. Ein Schritt mit dem Smartphone über Staatsgrenze und der Account ist blockiert. Rebuck und sein Team überwachen daher die Position eines Online-Wettaccounts im Bundesstaat auf den Meter genau. Dass dieses Geschäftsmodell funktioniert, zeigt ein Blick in die Casinos von Atlantic City. Während sich an den klassischen Spielautomaten, Roulette- und Pokertischen nur ein paar Touristen versammeln, sind die Sportbars – meist direkt am Eingang gelegen – gut gefüllt.
Sportwetten und Online-CasinosIm Paradies für Glücksspielanbieter
18:53 Minuten18.06.2019
SportwettenDie unterschätzte Suchtgefahr
07:41 Minuten26.11.2019
Bequeme Sessel, günstige Getränke, unzählige Bildschirme mit Fußball, Rennsport, Football, Rugby und vielem mehr. Gewettet wird mit dem Smartphone in der einen, dem Drink in der anderen Hand. Geredet wird wenig, schon gar nicht in Mikrofone von deutschen Journalisten. Dafür spricht Atlantic Citys Bürgermeister Marty Small Sr. gerne mit der deutschen Presse: "Sport- und Onlinewetten haben uns während der Pandemie enorm geholfen, und New Jersey ist sehr schnell zur Nummer eins der Sportwetten im Land geworden, und wir sind sehr froh darüber, dass Atlantic City viel damit zu tun hat."
Atlantic City - Armut, Kriminalität, Drogen, schwindende Touristenzahlen
Rund 22.000 Menschen arbeiten in der Casino-Industrie in Atlantic City aktuell. Anfang 2000 waren es mehr als doppelt so viele. Schon oft sei Atlantic City abgeschrieben worden, aber immer größer und stärker zurückgekommen sagt Bürgermeister Small Sr. Beim Blick über seine Schulter aus seinem vollverglasten Büro auf die Stadt, klingt das aber mehr wie ein Wunsch als eine Tatsache.
Atlantic City kämpft. Gegen Armut, Kriminalität, Drogen, schwindende Touristenzahlen – die Haupteinnahmequelle für die Casinos. Der Glanz der Strandpromenande entlang des stürmischen Atlantiks ist längst abgeblättert. Der Sportwetten-Hype kommt daher sehr gelegen.
Zwei Millionen Menschen in den USA sind spielsüchtig
Rund 4,7 Milliarden US-Dollar an Einnahmen generierten die Casinos in ganz New Jersey 2021. 485 Millionen US-Dollar flossen davon in die Staatskasse. Geld aus den Taschen der Spielerinnen und Spieler. Zwei Millionen Menschen sind in den USA spielsüchtig. Für 20 Millionen beeinflusst das Zocken auf negative Weise ihre Arbeit oder ihr Sozialleben, schätzen Suchtexperten vom National Council on Problem Gambling.
David Rebuck ist daher der Überzeugung, dass der nächste Schritt mehr Kontrolle durch die Sportwettanbieter sein muss. Die könnten mit der Technologie hinter ihren Online-Angeboten genau beobachten, wer ein Spielproblem habe oder entwickle. Rebuck will das in naher Zukunft zu einer der Voraussetzungen für Lizenzvergaben machen. Ob das so kommt, ist aber noch unklar. Und die Konkurrenz wird größer und größer. Denn seit 2018 haben mittlerweile 29 US-Bundesstaaten Online-Sportwetten legalisiert. | Von Florian Mayer | Sportwetten in den USA sorgen seit Jahren für ein gutes Geschäft - nicht nur im Spielerparadies Las Vegas, sonder seit der Legalisierung 2018 auch in Städten wie Atlantic City. Der Stadt kommt der Hype um Sportwetten sehr gelegen, denn Zocken boomt und bricht mittlerweile Rekorde. | "2022-04-25T22:52:00+02:00" | "2022-04-25T16:51:45.635000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/sportwetten-usa-100.html | 1,009 |
Gesehen, vermessen, erkannt | Vermessen - Die Staatsministerin für Digitalisierung - Auschnitt aus (Face_It! © missingFILMs)
Gerd Conradt ist Filmemacher, Dokumentarfilmer und Videopionier, 1966 war er einer der ersten Studenten an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. In seiner Arbeit hat er über Jahrzehnte bemerkt: "Das Gesicht ist der Träger von den interessantesten Daten".
Kategorien der Mimik
Als 2018 am Bahnhof Berlin-Südkreuz ein "Pilotprojekt" zur digitalen Gesichtserkennung startete wurde Conradt auf das Thema aufmerksam. Für ihn war faszinierend, dass Gesichter vermessen, die Daten gespeichert, und ausgewertet werden.
Auf der Suche nach den Anfängen dieser Technik stieß er auf den amerikanischen Psychologen Paul Ekman, der ab den 1970ern die menschliche Mimik kategorisierte und katalogisierte im "Facial Action Coding System" (FACS). Heute ist FACS die Grundlage jeglicher Gesichtserkennungssoftware.
Der Gesichtskodierer Holger Kunzmann (©missingFILMs)
Mit offenem Gesicht durch die Welt
In seiner Dokumentation unterhält Conradt sich mit einem Datenschützern, Künstlern und der Staatsministerin für Digitalisierung über das "Pilotprojekt" und konfrontiert seine Protagonisten mit Videoclips, in denen das Gesicht als Kunstwerk verhandelt wird.
Wir haben noch länger mit Gerd Conradt gesprochen –
hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
Immer wieder zeigt er die hochdifferenzierten Expressionen des Gesichtes mit dem die Menschen durch die Welt gehen. Die neue Technik ermögliche aber, so Conradt, "ohne, dass es jemand weiß oder merkt, kann man da jetzt drauf zugreifen. Es ist geräuschlos, tut nicht weh, es passiert". In Zukunft werde man das Gesicht als Schlüssel einsetzen oder damit bezahlen. "Ich will für das Thema sensibilisieren, aber auch für das kostbare Gut unseres Gesichtes."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Gerd Conradt im Corsogespräch mit Ulrich Biermann | Wir werden gesehen, von uns bekannten und unbekannten und von Kameras. Unser Gesicht wird ständig aufgezeichnet, vermessen und potentiell erkannt. Diese Gesichtserkennung ist Thema der Dokumentation "Face_it!" von Gerd Conradt. "Ich bin Portraitist", sagt der Videopionier im Deutschlandfunk.
| "2019-07-24T15:14:00+02:00" | "2020-01-26T23:03:12.408000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/dokumentarfilm-zu-gesichtserkennung-gesehen-vermessen-100.html | 1,010 |
"Die Hauptaussage ist: Glaubt der Zuschauer dem Film" | "Es ist eine große Anforderung an Geschichtsvermittlung auch jüngere Generationen immer wieder mit bestimmten Themen bekannt zu machen", sagt Petra L. Schmitz (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
Bernd Lechler: Schwarz-weiße Archivbilder - mit oder ohne Musik - und dann ein Sprecher aus dem Off. Dazwischen noch alte Herrschaften als Zeitzeugen, die in einem dunklen Raum sitzen und erzählen. So stellt man sich spontan den klassischen Dokumentarfilm zu einem historischen Thema vor. Ist das überholt?
Petra Schmitz: Nein, ich denke nicht. Das werden Sie auch noch relativ häufig finden. Das ist auch eine bewährte Mischung. Aber es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, andere Optionen, Geschichte und Bild zu vergegenwärtigen. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, nur vorhandenes Bildmaterial zu montieren in einer bestimmten Perspektive, wo die Zuschauer sich zum Beispiel erst auch einfinden müssen. Das ist etwas komplexer. Da wird es einem nicht so leicht gemacht, aber man wird natürlich in den Film in eine ganz andere Art und Weise reingezogen. Eine zweite Möglichkeit wäre mit vorhandenem Bildmaterial, das auch wieder zu montieren - zum Beispiel auch Fotos dazu zu nehmen. Das gibt es ja auch relativ oft. Und auf einmal mitten im Film anzuhalten und zu sagen: Halt, jetzt gucken wir uns das Bild mal genauer an. Und die Kamera zoomt zurück und zoomt wieder vor. Man macht also eine Zoom-Bewegung im Film an der der Zuschauer teilhaben kann. Er wird sozusagen genauer auf das Bild gelenkt. Vor allen Dingen wenn es um verdrängte Inhalte gilt.
"Die Dokumentarfilmer sehen das wahrscheinlich mit gemischten Gefühlen"
Lechler: Eine weitere Methode, die auch beim "Bilderströme"-Symposium vorkommt, sind Computeranimationen. Da kommen wir schon weiter ins Digitale und weiter ins Internet. Einer der Symposiumsvorträge erläutert "The Conquest of the Seven Seas". Das ist ein crossmediales Projekt über die Macht von Portugiesen, Spaniern und Briten auf den Weltmeeren im 16. Jahrhundert. Und das besteht aus einer zweiteiligen Fernsehdoku eben plus Website und einem richtigen Online-Strategiespiel, bei dem man seine eigene Flotte gründen und Aufgaben erledigen muss. Ist das die Zukunft oder mehr ein Randexperiment?
Schmitz: Das weiß ich noch nicht, ob das die Zukunft ist. Es ist auf jeden Fall ein Versuch, einen historischen Stoff in einer Games-Umgebung auszubreiten. Und was das sozusagen bedeutet für den Stoff, der muss ja ziemlich modifiziert werden, weil er sich natürlich auch an die Regeln eines Games anpassen muss. In diesem Strategiespiel muss ein Wettbewerbs- oder Wettkampfcharakter vorkommen. Man spielt gegen die Zeit oder gegen andere. Es muss Levels geben, es muss Interaktivität geben, all diese Dinge. Und wir wollen uns das angucken und fragen: Was kann man an Geschichte überhaupt in diesem Kontext vermitteln? Was wird dabei aus der Geschichte? Welches Geschichtsbild oder Lerneffekte gibt es? Also die Game-Macher selber gehen davon aus, dass man was lernen kann. Sie sprechen von "Learnings". So, und das ist dann wirklich was ganz Neues. Es gibt relativ wenige Game-Hersteller, die das bisher probiert haben, also wirklich einen historischen Stoff umzusetzen. Es gibt natürlich ganz viele Games in einem historischen Setting, aber da geht es mehr um Kostüme.
Lechler: Die junge Generation ist ja mit dem Internet groß geworden, mit der Clipkultur, mit Youtubern und Games eben. Sie erlebt gerade den Trend zur Immersion, also dass man mehr und mehr eintaucht in eine digital erweiterte oder ganz und gar künstliche Realität mittels Virtual-Reality-Brille. Wie reagieren Dokumentartfilmer auf diese sich verändernden Erwartungen und Sehgewohnheiten?
Schmitz: Ja, es entstehen wirklich neue Seherfahrungen und die Dokumentarfilmer sehen das wahrscheinlich mit gemischten Gefühlen. Diejenigen, die eine Sorge haben, dass eigentlich das Dokumentarische sich verflüchtigt und eigentlich immer mehr durch die Fiktion ersetzt wird, sehen das ambivalenter. Es gibt wiederum Dokumentarfilmer, die das als eine Verbreiterung von Ausdrucksformen ansehen, indem sie eben solche crossmedial angelegten Projekte machen, wo sie auch noch Filme machen, dann eben auch digitale und interaktive Elemente hinzufügen. Aber es ist ein offener Prozess, der auf jeden Fall spannend wird und beobachtet werden sollte.
Lechler: Wie sehen Sie das? Haben Sie Sorge, dass das auch eine Trivialisierung sein könnte?
Schmitz: Ich kann nur bei dem zweiten Beispiel, was wir haben, das ist ja ein Film, der heißt "Call her Lotte" als Ursprungsmaterial, was auch in ein Game überführt wird. Ich sehe da sozusagen eine große Vorsicht auch bei den Leuten, die das herstellen. Die wollen das erst mal nur für den schulischen Bereich aufbereiten und unter Anleitung eines Lehrers und im Zusammenhang einer Klasse spielen lassen, weil sie natürlich mit dem Stoff sehr, sehr vorsichtig umgehen. Es geht um Fragen, wie hätte ich mich verhalten, wenn meine Freundin, die Jüdin ist, und jetzt kommt der Nationalsozialismus, wie verhalte ich mich zu ihr? Und das muss natürlich mit sehr großer Vorsicht und Fingerspitzengefühl angegangen werden.
"Es ist eine große Anforderung an Geschichtsvermittlung auch jüngere Generationen immer wieder mit bestimmten Themen bekannt zu machen"
Lechler: Gestern lief bei Ihrem Symposium als Premiere eine Folge einer vierteiligen WDR-Reihe "Was geht mich das an?" mit in Anführungszeichen "historischen Protagonisten" wie einer Hitler-Verehrerin oder einem DDR-Grenzsoldaten. Ich sage in Anführungszeichen, weil das fiktive Figuren sind, die es hätte geben können. Was ist daran denn noch Doku?
Schmitz: Also das sind auch Mischformen und das Team hat natürlich auch alte Filmaufnahmen und Fotos mit verwandt in dem Film, aber in einer anderen Art der Visualisierung. Man muss sich so vorstellen: Die Bilder fliegen so auf das Fernsehdisplay ein und dann fliegen sie auch wieder weg. Also sie werden auch gestreamt in Diagonalen und Horizontalen auf dem Display. Also das ist noch mal eine andere Umgangsform mit dem Dokument. Und das zweite Element sind klassische Experteninterviews mit Historikern, die die Situation erklären und damit auch den jungen Zuschauern - es ist ja vor allen Dingen ein Format für junge Leute - und es ist ja auch eine große Anforderung überhaupt an Geschichtsvermittlung auch jüngere Generationen immer wieder auch mit bestimmten Themen bekannt zu machen, auch wenn es gerade Themen aus der eigenen Geschichte sind. Also insofern ist das alles gut, dass das gemacht wird. Und dann gibt es eben als drittes Element eine Protagonistenfigur, die hätte so sein können. Das Historische und damit auch Dokumentarische darin ist das, was die Figur spricht. Es sind alles Originalzitate aus verschiedenen Briefen, Schriftstücken, Interviews. Und man muss sich vorstellen, das sieht dann aus wie Dokumentationstheater. Man hat also versucht sozusagen, etwas ganz Sachliches herzustellen. Ich finde es eine spannende Form und auch da muss man fragen, was entstehen für Geschichtsbilder dabei?
Lechler: Ich stelle mir vor, bei so einem Symposium treffen ja mehrere Generationen von Filmemachern und Filmemacherinnen aufeinander. Welche Unterschiede beobachten Sie da? Schauen die Jungen anders auf die Welt und durch ihre Kameras als die Älteren?
Schmitz: Ich habe ja schon mal gesagt, dass es so Leute gibt, die Sorgen haben, dass die Fiktionalisierung zu stark wird im Dokumentarischen. Und das geschieht zum Beispiel durch Computeranimationen, weil das sind ja ausgedachte Elemente im Gegensatz zu Zeitzeugen und "footage". Die Hauptaussage ist eigentlich: Glaubt der Zuschauer dem Film? Und darum muss es gehen. Es muss alles eine Glaubwürdigkeit haben, wie der Film zusammengestellt ist. Und gerade Filme zu historischen Themen, da muss die Sorgfalt ganz groß sein und auch, dass das, was dort ausgebreitet wird, tatsächlich stattgefunden hat. Und da hat die Fiktionalisierung auch in den Visualisierungsmöglichkeiten ihre Grenzen.
Lechler: Morgen gibt es ein Gespräch, dass sie führen mit Studentinnen der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg über deren Projekt "Research Refugees". Das Thema Flucht und Migration bleibt ja vermutlich auf Jahre wichtig und ein Thema im Dokumentarfilm. Geht man dann mit Geschichte grundsätzlich anders um, wenn diese Geschichte in die Gegenwart reicht?
Schmitz: Also ich glaube, was wir beobachten können - und das merkt man auch an historischen Dokumentationen -, dass der Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit immer kürzer wird. Das heißt, was gestern schon aufgenommen wurde, ist heute schon footage, ist heute schon Vergangenheit. Darüber waren sich Dokumentarfilmer glaube ich immer im Klaren, dass sie ja Chronisten auch ihrer Zeit sind. Also was sie jetzt drehen wird irgendwann zum Archiv der Vergangenheit, also dass man auf dem Filmbild sehen kann, wie haben die Leute gesprochen, wie waren sie gekleidet, in welcher Umgebung haben sie sich bewegt. Das ist ja das, was Film speichern und bewahren kann im Gegensatz zu anderen Medien und zu anderen Überlieferungsformen. Und an den ganzen Bildern von Flucht und Migration merkt man, wie schnell das inzwischen geht. Und an den Bildern von Flucht und Migration wollen wir noch mal ausloten, wie sozusagen auch durch neue Kontexte, durch Gegenwartsperspektiven auf das was Flucht auch in der Geschichte schon gewesen ist - wir gehen ja insgesamt zurück auf Filme bis 1949 - wie sind die Bilder damals entstanden, wie sehen wir sie heute, welche Kontinuitäten bilden sich heraus, das ist die Frage, die wir haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Petra L. Schmitz im Corso-Gespräch mit Bernd Lechler | "Bilderströme" heißt das Symposium, das bis Samstag im Filmforum NRW in Köln stattfindet. Es geht darum, mit welchen Mitteln Dokumentarfilme heute arbeiten. "Es muss alles eine Glaubwürdigkeit haben", sagt Leiterin Petra L. Schmitz. Besonders groß müsse die Sorgfalt bei Filmen zu historischen Themen sein. | "2016-09-30T15:05:00+02:00" | "2020-01-29T18:56:46.802000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/visualisierung-von-geschichte-im-dokumentarfilm-die-100.html | 1,011 |
Die Entwicklungen vom 28. bis 31. Mai 2023 | Bundesaußenministerin Annalena Baerbock beim Treffen der NATO-Außenminister in der norwegischen Haupstadt Oslo (AP / Sergei Grits)
Zu den aktuellen Entwicklungen geht es hier.
Mittwoch, 31. Mai
+++ Die US-Regierung stellt der Ukraine weitere Militärhilfen zur Abwehr des russischen Angriffskrieges bereit.
Das US-Verteidigungsministerium kündigte ein weiteres Militär-Paket im Umfang von rund 300 Millionen US-Dollar an. Darin enthalten ist demnach Munition für diverse Waffensysteme, die die USA bereits an die Ukraine geliefert haben. Zuletzt hatte US-Präsident Biden am Rande des G7-Gipfels im japanischen Hiroshima ein weiteres Paket mit militärischer Ausrüstung für Kiew angekündigt. Nach Pentagon-Angaben haben die USA seit dem Kriegsbeginn Ende Februar 2022 militärische Hilfe im Umfang von rund 37,6 Milliarden US-Dollar für Kiew bereitgestellt oder zugesagt.
+++ Die russischen Behörden wollen wegen zunehmender Angriffe in der Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine hunderte Kinder aus Dörfern in dem Gebiet evakuieren.
Man beginne heute damit, Kinder aus den Distrikten Schebekino und Graiworon in Sicherheit zu bringen, erklärte der Gouverneur der Region Belgorod. Sie würden nach Woronesch, rund 250 Kilometer nordöstlich gebracht. Die Entscheidung sei angesichts der sich "verschlechternden" Situation getroffen worden. Gestern war den Angaben zufolge ein Mensch bei einem ukrainischen Angriff auf ein Vertriebenenzentrum in der Region getötet worden. In der Nacht wurde Schebekino nach russischen Angaben erneut angegriffen und von einer Rakete getroffen.
+++ Der russische Präsident, Wladimir Putin, wird doch nicht an der Amtseinführung des wiedergewählten Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, teilnehmen.
Das berichtet die russische Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf Putins Berater Jurij Uschakow. Laut ihm wird der Sprecher der russischen Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, statt Putin in die Türkei reisen. Den Grund für die Absage nannte er nicht. Zuvor hatten russische und türkische Medien berichtet, dass sowohl der ukrainische, als auch der russische Präsident zur Amtsanführung von Erdogan in der Türkei erwartet werden. Auch der Kremlsprecher, Peskow, hatte zuvor den Termin bestätigt.
+++ Die Ukraine hat den Vereinigten Staaten zugesichert, von den USA gelieferte Waffen nicht für Angriffe auf dem russischen Territorium einzusetzen.
Das teilte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, dem Sender CNN mit. Er betonte aber, dass die Ukraine souveräne Entscheidungen über den Einsatz der Waffen treffe. Die USA wollten sicherstellen, dass die Ukraine alles habe, was sie brauche, um sich zu verteidigen und erfolgreich in die Offensive zu gehen. Man wolle nicht, dass dieser Krieg eskaliere, kommentierte Kirby.
+++ Die Ukraine hat nach eigenen Angaben 88.000 Hektar des eigenen Territoriums entmint.
Das berichtet die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform unter Berufung auf den Leiter der Abteilung für humanitäre Minenräumung des ukrainischen Staatskatastrophenschutzdienstes, Rewa. Laut ihm steht die Ukraine derzeit auf der Liste der am stärksten mit Minen belasteten Länder der Welt. Das gesamte Territorium der Verseuchung mit explosiven Gegenständen betrage etwa 30 Prozent, was der Fläche von174.000 Quadratkilometern entspreche, kommentierte Rewa. Es seien aber nur vorläufige Einschätzungen, da die Kampfhandlungen auf dem Territorium der Ukraine noch nicht beendet seien. Da, wo die Kämpfe stattfinden, könnten die zuständigen Behörden noch nicht operieren. Nach Angaben des ukrainischen Staatskatastrophenschutzdienstes wurden stand heute bereits mehr als 390.000 Sprengkörper entschärft. Die Arbeit konzentrierte sich bisher auf die Minenräumung in den befreiten Gebieten in den Regionen Charkiw, Cherson, Donezk, Sumy, Chernihiw und Kiew.
+++ Die Ukraine konnte bisher 371 nach Russland verschleppte Kinder in die Ukraine zurückholen.
Das hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mitgeteilt. Nach Angaben der ukrainischen Behörden hat Russland etwa 20.000 Kinder aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland verschleppt. Um mehr ukrainische Kinder aus Russland in die Ukraine zurückzuholen hat der ukrainische Präsident die Initiative „Bring Kids Back UA“ angekündigt. Dadurch sollen die Bemühungen der ukrainischen Behörden, Partnerländer und internationalen Organisationen zur Rückkehr der nach Russland verschleppten Kinder gebündelt werden.
Am 17. März erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, sowie die russische Beauftragte für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa. Nach Angaben des Gerichts sind Putin und Lwowa-Belowa persönlich für die Verschleppung der ukrainischen Kinder aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland verantwortlich.
+++ Vier ukrainischen Bloggern drohen bis zu acht Jahre Gefängnis, weil sie Foto- und Videoaufnahmen vom Einsatz der ukrainischen Flugabwehr im Internet veröffentlicht hatten.
Das berichten ukrainische Medien unter Berufung auf den ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU). Nach Angaben des SBU handelt es sich um vier Frauen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die am 16. Mai Fotos des russischen Angriffs auf Kiew veröffentlicht haben sollen. Ihnen wird eine unbefugte Verbreitung von Informationen über die Bewegung der ukrainischen Streitkräfte vorgeworfen. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen bis zu acht Jahre Gefängnis. Zuvor haben die ukrainischen Polizeibeamte und Vertreter des Sicherheitsdienstes ukrainische Bürger mehrfach davor gewarnt, Fotos und Videos von Luftabwehreinsätzen und abgeschossenen Raketen zu veröffentlichen. Nach Angaben des Sprechers der ukrainischen Luftabwehr, Jurij Ignat, könnten solche veröffentlichten Fotos von den russischen Truppen missbraucht werden. Außerdem könne Russland dadurch feststellen, welche Waffen die Ukraine zum Abschuss der von Russland eingesetzten Drohnen und Raketen verwendet.
+++ Die Bundesregierung entzieht vier von fünf russischen Generalkonsulaten in Deutschland die Lizenz.
Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin erklärte, man reagiere damit auf die Entscheidung der Regierung in Moskau, die Zahl deutscher Offizieller in Russland auf 350 zu begrenzen. Die Schließung der Konsulate soll demnach bis Jahresende abgeschlossen sein. Vom Jahresende an dürfe Russland damit nur noch die Botschaft in Berlin und ein weiteres von bislang fünf Generalkonsulaten betreiben, so der Sprecher. Welche der Vertretungen in Bonn, Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig und München erhalten bleibt, ist noch unklar.
Außerdem erklärte der Außenamtssprecher, dass Deutschland seine Konsulate in Kaliningrad, Jekaterinburg und Nowosibirsk schließen werde. Die deutsche Botschaft in Moskau und das Konsulat in Sankt Petersburg bleiben demnach in Betrieb.
+++ Die russische Armee hat nach eigenen Angaben das letzte große Kriegsschiff der ukrainischen Seestreitkräfte zerstört.
Es sei bereits am Montag bei einem Hochpräzisionsschlag der russischen Luftwaffe im Hafen von Odessa zerstört worden. Den Angaben zufolge handelt es sich bei dem ukrainischen Schiff um die "Juri Olefirenko".
+++ Der ukrainische Präsident Selenskyj und der russische Staatschef Putin planen kurz nacheinander einen Besuch in die Türkei.
Das berichtet die türkische Zeitung Hürriyet und die russische Nachrichtenagentur RBK unter Berufung auf Kremelsprecher Peskow. Die Rede ist vom 3. und 4. Juni - und damit kurz nach der Amtseinführung des türkischen Präsidenten Erdogan. Im Mittelpunkt der geplanten Treffen sollen der Verlauf des Krieges und die Getreideexporte stehen. Die russische Regierung bestätigte, dass es ein Treffen zwischen Staatschef Putin und dem türkischen Präsidenten Erdogan in der "näheren Zukunft" geben soll. Putin hatte seinem - so wörtlich - "guten Freund" Erdogan nach dessen Wiederwahl am Sonntag gratuliert. Die Türkei hat sich bislang nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen.
Der türkische Präsident Erdogan (l.) und Russlands Staatschef Putin pflegen nach wie vor enge Verbindungen. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Vyacheslav Prokofyev)
+++ Nach den Drohnenangriffen in Moskau hat Russland der Ukraine mit Vergeltungsschlägen gedroht.
Nachdem Kremlchef Putin Kiew Terror vorgeworfen hatte, schwor sein enger Vertrauter Kadyrow Rache. Der Anführer der russischen Teilrepublik Tschetschenien forderte die Verhängung des Kriegsrechts in Russland, um härter gegen die Ukraine vorzugehen. "Wir werden in der Zone der militärischen Spezialoperation bald zeigen, was Rache im ganzen Sinne des Wortes ist", schrieb Kadyrow auf dem Nachrichtenkanal Telegram.
Kiew hatte eine direkte Verantwortung für die Attacken gegen Moskau zurückgewiesen. Einem russischen Militärblogger zufolge ähnelten die Drohnen jenen, die die Ukraine im Krieg gegen die russischen Invasoren einsetzt. Das teilte die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in ihrem täglichen Lagebericht mit.
Drohnenangriff auf MoskauSicherheitsexpertin Major: Zeigt, dass Russland verwundbar ist
09:31 Minuten31.05.2023
+++ Die Preise für die deutschen Importe sind im April so stark gesunken wie seit der weltweiten Finanzkrise 2009 nicht mehr.
Die Einfuhrpreise fielen im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent. Das teilte das Statistische Bundesamt mit. Ausschlaggebend für den Rückgang sind die Energieeinfuhren, die um fast 32 Prozent günstiger ausfielen als im April 2022. Im März waren die Importpreise erstmals seit längerer Zeit wieder gesunken, nachdem sie sich im vergangenen Sommer um zeitweise mehr als 30 Prozent verteuert hatten. Auslöser hierfür war unter anderem der Krieg in der Ukraine.
+++ In der russischen Region Krasnodar ist in einer Ölraffinerie ein Feuer ausgebrochen, das mittlerweile wieder gelöscht ist.
Das teilte der zuständige Gouverneur mit. Über das Ausmaß der Schäden wurde zunächst nichts bekannt, verletzt worden sei aber niemand. Der Brand sei wahrscheinlich durch eine Drohne verursacht worden. Die Raffinerie liegt unweit des Schwarzmeerhafens Noworossijsk. Ukrainische Streitkräfte beschossen zudem nach russischen Angaben zum dritten Mal innerhalb einer Woche die Stadt Schebekino. Mindestens eine Person sei dabei verletzt worden, teilte der Gouverneur mit. Schebekino ist weniger als zehn Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.
+++ Die USA haben nach dem Drohnen-Angriff auf Moskau betont, dass sie keine Attacken auf russisches Territorium unterstützen.
Dementsprechend äußerte sich die Sprecherin des Weißen Hauses in Washington, Jean-Pierre, ohne die Ukraine für den Angriff in Moskau verantwortlich zu machen. Sie sagte, man sammle derzeit noch Informationen dazu. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums war Moskau gestern mit acht Drohnen angegriffen worden, die allesamt zerstört werden konnten. Die russische Führung machte die Ukraine für die Attacke verantwortlich; deren Regierung wies dies zurück.
Moskau meldet Angriffe durch ukrainische Drohnen. (Uncredited / AP / Uncredited)
+++ In der Region Luhansk sind nach Angaben des russischen Koordinationszentrums beim Beschuss durch die Ukraine vier Menschen getötet worden.
16 seien bei dem Angriff auf den Ort Karpaty verletzt worden. Die im Osten der Ukraine gelegene Region Luhansk ist fast vollständig unter russischer Kontrolle.
+++ Die Europäische Union hat Sanktionen gegen sieben Politiker und Geschäftsleute verhängt, denen der Versuch einer Destabilisierung Moldaus vorgeworfen wird.
"Es gibt ernsthafte, verstärkte und anhaltende Versuche, das Land zu destabilisieren", erklärte der EU-Außenbeauftragte Borrell. Die Sanktionen seien ein wichtiges politisches Signal der Unterstützung der EU für Moldau in der gegenwärtig schwierigen Situation. Demnach wird den sieben Sanktionierten die Einreise in die EU verboten, überdies werden ihre Vermögenswerte in der EU eingefroren. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hätten die Bemühungen der Destabilisierung Moldaus zugenommen, erklärte die EU. Das stelle eine direkte Bedrohung der Stabilität und Sicherheit der EU-Außengrenzen dar.
+++ Erstmals seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine hat Deutschland wieder Abschiebungen nach Russland durchgeführt.
Das bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen bestätigte eine entsprechende Recherche von WDR und NDR. Der Freistaat hat demnach im März zwei russische Staatsangehörige per Linienflug nach Serbien gebracht. Von dort ging es mit einem weiteren Flug nach Russland. Einer der Männer ist laut Landesamt ein verurteilter Straftäter. Es gibt weiterhin keine direkten Flugverbindungen zwischen Russland und der Europäischen Union. Auch die Kontakte der Sicherheitsbehörden sind auf ein Minimum begrenzt. Dennoch prüfen inzwischen mehrere Bundesländer Abschiebungen nach Russland.
+++ Der ukrainische Präsident Selenskyj hat die - Zitat - "Entschlossenheit" von Bundeskanzler Scholz bei der militärischen Hilfe für sein Land gewürdigt.
Selenskyj sagte in seiner täglichen Abend-Botschaft per Video, er habe Scholz bei einem Telefonat vor allem für die von Deutschland gelieferten Luftverteidigungssysteme gedankt. Mit diesen seien viele Leben von Ukrainern gerettet worden. Zu Beginn des russischen Angriffskriegs hatte die Ukraine noch eine zu zögerliche Hilfe aus Deutschland kritisiert. Selenskyj beklagte in seiner Ansprache zudem, sein Land erlebe in diesem Mai so viele Luftangriffe wie noch nie in einem Monat seit Kriegsbeginn. Er rief die Behörden auf, mehr Schutzräume für die Ukrainer zu schaffen.
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+++ Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Grossi, hat die Reaktionen Russlands und der Ukraine auf "konkrete Prinzipien" zum Schutz des Atomkraftwerks Saporischschja begrüßt.
Dies sei "ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es um den Schutz und die Sicherheit des Atomkraftwerks Saporischschja geht" sagte Grossi vor dem UNO-Sicherheitsrat in New York. Vornehmlich gehe es darum, "dass es keinen Angriff von der oder auf die Anlage geben soll", sagte der Diplomat. Zudem solle Saporischschja nicht als Lager oder Basis für schwere Waffen genutzt werden, dies gelte auch für Raketenwerfer, Panzer oder militärisches Personal. Zudem sollten alle Anstrengungen unternommen werden, damit Strom von außerhalb jederzeit verfügbar und sicher sei.
Dienstag, 30. Mai
+++ Mehr als tausend Mal ist das Gesundheitssystem in der Ukraine nach WHO-Angaben seit Beginn der russischen Invasion angegriffen worden.
Während einer humanitären Notlage sei noch nie eine so hohe Zahl registriert worden, teilte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit. Die Angriffe hätten "mindestens 101 Menschen das Leben gekostet" und "noch viele mehr verletzt". Insgesamt 1004 Angriffe zählte die WHO in den 15 Monaten seit Kriegsbeginn. Betroffen seien sowohl Patienten und medizinisches Personal als auch Gebäude, Versorgungsgüter und Transportmittel, einschließlich Krankenwagen, erklärte das WHO-Regionalbüro für Europa. "Die Angriffe gegen das Gesundheitswesen stellen einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar", erklärte der Vertreter der WHO in der Ukraine, Jarno Habicht.
+++ Der Internationale Währungsfonds hat die Auszahlung von Hilfsgeldern in Höhe von 840 Millionen Euro an die Ukraine angekündigt.
Die Ukraine habe die Voraussetzungen für den Erhalt der Hilfen erfüllt, gab der IWF in Wien bekannt. Die ukrainische Wirtschaftstätigkeit habe sich im ersten Quartal des Jahres dank der Wiederherstellung der Energieinfrastruktur stark erholt. Zudem unterzeichneten Vertreter des IWF, der ukrainische Finanzminister Martschenko und der Chef der ukrainischen Zentralbank eine Vereinbarung zur Reformpolitik, die im Gegenzug von der Ukraine erwartet wird. Insbesondere soll das Land Korruption bekämpfen. Ziel der Hilfsgelder sei es, den Wiederaufbau der Ukraine vorzubereiten, neue Investitionen aus der Privatwirtschaft zu gewinnen und langfristig einen EU-Beitritt zu ermöglichen, heißt es in der Vereinbarung. Vertreter von IWF und Ukraine hatten eine Woche lang in Wien über die Finanzhilfen beraten.
+++ Russland hat mit scharfen Äußerungen auf den Drohnenangriff auf Moskau reagiert.
Staatschef Putin erklärte, die Attacke habe sich gegen zivile Ziele gerichtet. Die Absicht der Urheber sei es gewesen, Russland zu provozieren. Zwar habe die Luftverteidigung gut funktioniert, man werde sie für die Hauptstadt jedoch verstärken. Verteidigungsminister Shoigu bezeichntete den Angriff als "terroristisch". Das Außenministerium teilte mit, es behalte sich als Reaktion die - Zitat - "härtesten möglichen Maßnahmen" vor. Die Zusicherungen von NATO-Vertretern, dass die Ukraine keine Angriffe auf russisches Territorium durchführe, erwiesen sich als heuchlerisch. Bislang hat die Regierung in Kiew zwar Sympathien für Angriffe innerhalb Russlands erkennen lassen, jegliche direkte Verwicklung darin aber dementiert. Moskau war nach Angaben des Bürgermeisters heute früh mit acht Drohnen angegriffen worden. Dabei sollen einige Gebäude beschädigt worden sein.
Diese Foto soll den Einschlag einer Drohne in ein Moskauer Wohnhaus zeigen. Es wird von der russischen Staatsagentur Tass zur Verfügung gestellt. (picture alliance / dpa / TASS / Vitaly Smolnikov)
+++ Bundeskanzler Scholz hat bei einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj die russischen Luftangriffe auf zivile Ziele verurteilt.
Der Kanzler habe zudem weitere deutsche Unterstützung zugesagt, in enger Abstimmung mit europäischen und internationalen Partnern, teilte Regierungssprecher Hebestreit in Berlin mit. Selenskyi habe über die Auswirkungen der jüngsten Luftangriffe auf ukrainische Städte und kritische Infrastruktur berichtet. Beide wollten weiter in engem Kontakt bleiben, "auch mit Blick auf die globale Unterstützung für eine Friedenslösung", hieß es.
+++ Bundespräsident Steinmeier hat Litauen die Unterstützung Deutschlands im Fall einer russischen Aggression zugesichert.
Beide Länder stünden Seite an Seite, sagte Steinmeier in Vilnius. Die Sicherheit Litauens sei auch die Sicherheit Deutschlands. Die Bundesrepublik nehme ihre Verantwortung in der NATO und in Europa an. Dafür stünden auch die in Litauen stationierten deutschen Soldaten. Litauens Staatspräsident Nauseda sagte, man benötige eine größere Präsenz der verbündeten Streitkräfte in der Region. Das langfristige Engagement Deutschlands für Litauen sei für die gesamte Ostflanke der NATO unabdingbar.Steinmeier will am Nachmittag auf dem Truppenübungsplatz Pabrade ein Übungsschießen des multinationalen Gefechtsverbandes anschauen. Der Verband wird von Deutschland geführt. In Litauen sind knapp 800 Bundeswehrangehörige stationiert.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Litauens Präsident Gitanas Nauseda. (Soeren Stache / dpa / Soeren Stache)
+++ Der Preis für europäisches Erdgas geht weiter zurück.
Er lag erstmals seit zwei Jahren wieder unter der Marke von 24 Euro je Megawattstunde. Basis der Angaben sind Preise an der Börse in Amsterdam, an der sogenannte Terminkontrakte für die Auslieferung in einem Monat gehandelt werden. So günstig war Erdgas zuletzt im Juni 2021. Im vergangenen Jahr war der Energieträger wegen der Folgen des russischen Ukraine-Kriegs drastisch angestiegen. In der Spitze wurde im Sommer ein Rekordpreis von über 300 Euro je Megawattstunde gezahlt.
+++ Dänemark will in den kommenden zehn Jahren seinen Verteidigungsetat deutlich erhöhen.
Bis zum Jahr 2033 sollten umgerechnet fast 20 Milliarden Euro in Verteidigung und Sicherheit investiert werden, sagte Verteidigungsminister Lund Poulsen in Kopenhagen. Zur Begründung sagte er, es herrsche Krieg in Europa. Frieden könne man nicht mehr als selbstverständlich betrachten.
+++ Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist erneut aus der Luft angegriffen worden.
Dabei wurden nach Angaben von Bürgermeister Klitschko eine Person getötet und drei weitere verletzt. Durch Trümmer eines abgeschossenen russischen Marschflugkörpers geriet zudem ein Hochhaus in Brand. Klitschko schrieb auf Telegram, es habe sich um einen "massiven" Angriff gehandelt. Laut der Militärverwaltung wurden über 20 Drohnen von der Flugabwehr abgeschossen. Es war der 17. russische Luftangriff auf Kiew in diesem Monat.
+++ Russland beschuldigt die Ukraine, Moskau mit Drohnen angegriffen zu haben.
Verteidigungsminister Shoigu sprach laut der Nachrichtenagentur RIA von einem terroristischen Angriff, hinter dem Kiew stecke. Es habe sich um eine Attacke mit acht Drohnen gehandelt. Alle seien abgefangen worden. Laut dem Moskauer Bürgermeister Sobjanin wurden einige Gebäude in der russischen Hauptstadt beschädigt. Der Rettungsdienst teilte mit, eine Person sei verletzt worden.
+++ Der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow hofft auf deutsche Eurofighter-Kampfjets.
Er sieht nach eigenen Worten die Möglichkeit einer Lieferung. Vorbild könne eine internationale Koalition von Lieferländern sein, so wie es sie beim Leopard-Panzer gebe. Dementsprechend könnten etwa Großbritannien und Deutschland ihre Kapazitäten beim Eurofighter zusammenlegen, sagte Resnikow den Zeitungen der Funke Mediengruppe und der französischen Zeitung "Ouest France". Diese könnten die zugesagten Lieferungen amerikanischer F-16 ergänzen.
Bislang haben mehrere westliche Partner ihre grundsätzliche Bereitschaft signalisiert, ukrainische Piloten auf F-16 Kampfjets amerikanischer Bauart zu trainieren; eine Lieferzusage gibt es jedoch nicht. Deutschland und Großbritannien hatten Mitte des Monats bereits ausgeschlossen, auf absehbare Zeit Kampfjets an die Ukraine zu liefern.
+++ Die Ukraine bittet Südkorea um Flugabwehrsysteme.
Der ukrainische Präsident Selenskyj sagte in einem Interview mit der südkoreanischen Tageszeitung "Chosun Ilbo", solche Flugabwehr- und Frühwarnsysteme seien keine Waffen, sondern dienten ausschließlich der Verteidigung. Die Ukraine brauche einen Schutzschild, um das Land wieder aufzubauen. Er hoffe sehr, dass Südkorea die Ukraine in diesem Bereich unterstützen werde. Südkorea ist ein wichtiger Waffenexporteur. Bislang schließt das Land unter Verweis auf die Beziehungen zu Russland und den Einfluss Moskaus auf Nordkorea die Lieferung von Waffen an die Ukraine aus. Die Regierung in Seoul hatte jedoch im April erklärt, möglicherweise von ihrer Einstellung abzurücken, wenn eine Situation entsteht, die die internationale Gemeinschaft nicht hinnehmen könne.
+++ Südafrika untersucht mutmaßliche Waffenlieferungen an Russland.
Südafrikas Präsident Ramaphosa hat einen Richter damit beauftragt, eine Untersuchung zu mutmaßlichen verdeckten Waffenverkäufen an Russland zu leiten. Der US-Botschafter in Südafrika, Brigety, hatte den Vorwurf erhoben, dass entsprechende Lieferungen mit Hilfe des unter russischer Flagge fahrenden Frachtschiffs "Lady R" abgewickelt worden seien. Dieses habe im Dezember geheim an einer Marinebasis nahe Kapstadt angedockt. Der Botschafter deutete an, dass US-Geheimdiensterkenntnisse darauf hindeuteten. Südafrika hat bestritten, dass es einen von der Regierung abgesegneten Deal zu Waffenlieferungen an Russland gegeben haben könnte, aber nicht kategorisch ausgeschlossen, dass es auf anderem Weg zu einer Transaktion gekommen sein könnte.
+++ Bundespräsident Steinmeier trifft heute in Litauen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
Auf dem Programm steht unter anderem der Besuch des Truppenübungsplatzes Pabrade. Dort findet ein Übungsschießen des multinationalen Gefechtsverbandes statt, der von Deutschland angeführt wird. In Litauen sind knapp 800 Bundeswehrangehörige stationiert.
Montag , 29. Mai
+++ In Nordeuropa hat ein großes Luftwaffenmanöver von NATO-Staaten und von Partnerländern begonnen.
An der zweiwöchigen Übung nehmen nach Angaben der finnischen Luftwaffe mehr als ein Dutzend Länder teil, darunter Deutschland, Frankreich, die Schweiz, Belgien und die USA. Rund 150 Flugzeuge starten und landen demnach in Finnland, Norwegen und Schweden. Nach Jahrzehnten der militärischen Bündnisfreiheit war Finnland Anfang April der westlichen Militärallianz beigetreten. Als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hatte auch Schweden einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft gestellt. Die Ratifizierung durch die Türkei und Ungarn steht noch aus.
+++ Das ukrainische Parlament hat umfangreiche Sanktionen gegen den Iran beschlossen.
Demnach soll etwa der Handel mit militärischer Ausrüstung verboten werden, gleiches gilt für Güter, die sowohl zu zivilen als auch zu militärischen Zwecken verwendet werden können. Die Ukraine will zudem ihre wirtschaftlichen und finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem iranischen Regime auf Eis legen. Präsident Selenskyj muss die Sanktionen noch unterzeichnen. Er selbst hatte die Resolution ins Parlament eingebracht. Hintergrund der Spannungen ist der Krieg in der Ukraine. Das russische Militär setzt dabei nach ukrainischen Angaben immer wieder Drohnen iranischer Bauart ein. Der ukrainische Präsidentenberater Podoljak twitterte zuletzt, Teheran sei ein entscheidender Partner Moskaus und liefere ganz bewusst Waffen für Angriffe auf zivile Gebäude. Der Iran bestreitet die Vorwürfe.
+++ Der belarussische Staatschef Lukaschenko hat andere Länder dazu aufgerufen, dem Unionsstaat aus Belarus und Russland beizutreten.
Sie könnten dann ebenfalls taktische Atomwaffen erhalten. Niemand sei dagegen, dass etwa Kasachstan und andere Staaten die gleichen engen Beziehungen zur russischen Föderation hätten wie Belarus. Es werde "Atomwaffen für alle" geben, fügte Lukaschenko hinzu. Gestern hatte das belarussische Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass eine weitere Einheit des mobilen Boden-Luft-Raketensystems S-400 aus Moskau eingetroffen sei und die Systeme bald kampfbereit sein sollen.
Der russische Präsident Putin hat unterdessen den Austritt seines Landes aus dem Abrüstungsvertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa vollzogen. Das von ihm unterzeichnete Gesetz, das bereits Mitte Mai vom Parlament gebilligt worden war, wurde im Rechtsportal des Landes online veröffentlicht. Russland hatte den 1990 vereinbarten KSE-Vertrag, der die Obergrenzen für die Stationierung schwerer Waffen auf dem europäischen Kontinent festlegt, allerdings schon vor Jahren größtenteils auf Eis gelegt. Zu den Waffen, deren Stationierung das Abkommen regelt, zählen Kampf- und Schützenpanzer, schwere Artillerie, Kampfflugzeuge und -hubschrauber.
+++ Russland hat erneut mit dem Ende des Getreidedeals gedroht.
"Wenn alles so bleibt, wie es ist, und das scheint der Fall zu sein, dann muss man davon ausgehen, dass das Abkommen nicht mehr funktioniert", sagte der russische Außenminister Lawrow bei einem Besuch im Kenia. Der Deal besagt unter anderem, dass die Kriegsparteien die Ausfuhr von Getreide aus der Schwarzmeerregion nicht behindern. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind wichtige Exporteure. Viele arme Länder sind auf Lieferungen angewiesen, um ihre Bevölkerungen zu ernähren. Zuletzt verlängerte Russland das Abkommen unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei um 60 Tage.
+++ Die Ukraine ist auch am Vormittag Ziel russischer Luftangriffe gewesen.
Kiews Bürgermeister Klitschko berichtete per Telegram von Explosionen in mehreren Stadtteilen. Über mögliche Opfer oder Schäden ist noch nichts bekannt. Klitschko rief die Bevölkerung auf, in den Schutzräumen zu bleiben. Kiew und andere Regionen des Landes waren bereits in den vergangenen beiden Nächten massiv mit russischen Marschflugkörpern und Drohnen attackiert worden. Die ukrainische Luftwaffe erklärte, die meisten von ihnen zerstört zu haben. Präsident Selenskyj lobte gestern Abend die Luftabwehr seines Landes in seiner täglichen Videoansprache ausdrücklich.
+++ Der schwedische Außenminister Billström wird in Kürze mit seinem türkischen Amtskollegen Cavusoglu über den geplanten Nato-Beitritt Schwedens sprechen.
Er habe Cavusoglu kontaktiert, um Präsident Erdogan zu seinem Sieg bei der Präsidentenwahl zu gratulieren, sagt er dem Rundfunksender SVT. Das Treffen werde "bald" stattfinden, Details wurden nicht genannt.
+++ In der russischen Region Belgorod sind nach Angaben des dortigen Gouverneurs mehrere Ortschaften an der Grenze von ukrainischen Streitkräften beschossen worden.
In der Grenzstadt Schebekino seien zwei Industrieanlagen angegriffen worden, teilte Gladkow auf Telegram mit. Vier Mitarbeiter seien verletzt worden, in mehreren Ortschaften sei der Strom ausgefallen. Belgorod grenzt an die ukrainische Region Charkiw und wurde seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 wiederholt angegriffen, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.
+++ Russlands Präsident Putin hat den Austritt seines Staates aus dem Abrüstungsvertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) vollzogen.
Das von ihm unterzeichnete Gesetz, das er bereits Mitte Mai vom Parlament absegnen ließ, wurde im russischen Rechtsportal online veröffentlicht. Russland hatte das 1990 vereinbarte Abkommen, das die Obergrenzen für die Stationierung schwerer Waffen auf dem europäischen Kontinent festlegt, allerdings schon vor Jahren größtenteils auf Eis gelegt. Kremlsprecher Peskow sagte nun, dass die Vertragskündigung "keine direkten Folgen" haben werde.
+++ Das Training ukrainischer Soldaten an amerikanischen Abrams-Panzern hat auf dem Truppenübungsplatz im bayerischen Grafenwöhr begonnen.
Das US-Verteidigungsministerium teilte mit, die Ausbildung sei bereits am Freitag angelaufen. Bereits Mitte Mai waren 31 Abrams-Übungspanzer in Grafenwöhr eingetroffen. Dort sollen rund 200 ukrainische Einsatzkräfte die Bedienung der Panzer, deren Instandhaltung sowie Einsatz-Taktiken lernen.
Kampfpanzer M1 Abrams (Archivbild) (picture alliance/dpa/Armin Weigel)
US-Generalstabschef Milley hatte Ende April während eines Treffens der Ukraine-Kontaktgruppe auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein erklärt, die Vereinigten Staaten würden für die Ausbildung zuerst Übungspanzer liefern, die nicht kampftauglich seien. Die für das Schlachtfeld gedachten Abrams-Panzer würden noch instand gesetzt. Verteidigungsminister Austin fügte hinzu, die USA hätten die Auslieferung beschleunigt, um der Ukraine in den kommenden Monaten mehr gepanzerte Ausrüstung zur Verfügung stellen zu können.
+++ Polens Präsident Duda hat ein umstrittenes Gesetz unterzeichnet, das die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur möglichen Einflussnahme Russlands vorsieht.
Russischer Einfluss habe zu vielen Turbulenzen geführt, deren Ergebnis unter anderem der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Energieprobleme in Europa seien, sagte Duda in Warschau. Es gebe deshalb keinerlei Zweifel, dass das aufgeklärt werden müsse. Gleichzeitig werde er das Verfassungsgericht mit einer Prüfung des Gesetzes beauftragen, so Duda weiter.
Der polnische Präsident Duda (Archivbild). (Gian Ehrenzeller / KEYSTONE / dpa / Gian Ehrenzeller)
Kritiker werfen der nationalkonservativen Regierung vor, sie ziele mit dem Gesetz wenige Monate vor der Parlamentswahl im Herbst vor allem auf eine Diskreditierung des Oppositionsführers und ehemaligen Regierungschefs Tusk.
+++ Aus Protest gegen angeblich russophobe Äußerungen hat Russland US-Senator Lindsey Graham zur Fahndung ausgeschrieben.
Das geht aus einem Eintrag in der Datenbank des russischen Innenministeriums hervor, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet. Zuvor hatte das russische Ermittlungskomitee bereits ein Strafverfahren wegen der vermeintlichen Aussagen eingeleitet, an deren Authentizität es allerdings erhebliche Zweifel gebe. Da Graham sich außerhalb von Russland aufhält, dürften die rechtlichen Schritte Moskaus laut dpa vor allem symbolische Bedeutung haben.
US-Senator Graham in Kiew (dpa / Pool / Handout / Ukrainian Presidential Press Office / Planet Pix via ZUMA Press Wire)
Der Republikaner Graham hatte den ukrainischen Präsidenten Selenskyj am vergangenen Freitag in Kiew besucht. Von dem Treffen gab es auch ein Video aus mehreren zusammengeschnitten Sequenzen, in denen unter anderem Selenskyj den USA für ihre Hilfe bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg dankte. Laut russischen Medien sagte zudem Graham an einer Stelle: "And the Russians were dying. The best money we ever spent" (auf Deutsch etwa: "Und die Russen sind gestorben. Unsere beste Investition aller Zeiten"). Allerdings ist laut dpa das Wort "dying" nicht eindeutig zu hören. Es werde daher darüber gestritten, ob er nicht stattdessen gesagt habe, die Russen seien erledigt (Englisch: "done"). Zudem gebe es eine Pause zwischen den beiden Sätzen, weil das Video an genau dieser Stelle geschnitten worden sei.
+++ Erneut hat es schwere Angriffe auf die ukrainische Hauptstadt Kiew gegeben.
Kiew ist in der Nacht erneut aus der Luft attackiert worden. Nach Angaben der Behörden feuerten russische Flugzeuge Marschflugkörper auf die ukrainische Hauptstadt ab. Es gab zudem Attacken mit Sprengstoff-Drohnen. Es habe weder Tote noch Verletzte gegeben, aber vereinzelt Schäden an Gebäuden. Schlimmeres konnte die ukrainische Luftabwehr den Angaben zufolge erneut verhindern. Man habe 37 von 40 Marschflugkörpern und 29 von 35 Drohnen in der Luft zerstört, hieß es.
+++ Bei einem russischen Drohnenangriff in der Nacht ist nach ukrainischen Angaben der Hafen von Odessa teilweise beschädigt worden.
"Durch den Einschlag ist ein Feuer in der Hafeninfrastruktur von Odessa ausgebrochen", wird das Kommando Süd des ukrainischen Militärs in einem Reuters-Bericht zitiert. Der Brand sei rasch gelöscht worden. Ob durch die Schäden am Hafen auch die Getreideexporte gefährdet sind, ließ das Militär offen. Die Ukraine kann nur über die Häfen in der Region Odessa Getreide und andere Nahrungsmittel ausführen.
+++ Russland und die Ukraine haben dem türkischen Präsidenten Erdogan zum Wahlsieg gratuliert.
Sowohl der ukrainische Präsident Selenskyj als auch Kremlchef Putin gratulierten dem türkischen Präsidenten Erdogan zur Wiederwahl. Putin unterstrich, der Wahlsieg demonstriere die Unterstützung des türkischen Volkes für den Kurs "nationaler Souveränität und unabhängiger Außenpolitik". Er dankte zugleich Erdogan für gute bilaterale Beziehungen. Selenskyj schrieb auf Twitter, er zähle auf die weitere Zusammenarbeit mit der Türkei, auch bei der Stärkung der Sicherheit Europas.
Sonntag, 28. Mai
+++ Nach der russischen Angriffsserie mit Drohnen auf die ukrainische Hauptstadt Kiew hat Präsident Selenskyj die Flugabwehr des Militärs gelobt.
In seiner abendlichen Ansprache sagte der ukrainische Staatschef, es sei gelungen, einen der größten russischen Drohnenangriffe seit Beginn des Angriffskrieges fast vollständig abzuwehren. Angaben des ukrainischen Militärs zufolge waren in der Nacht zu Sonntag mehr als 50 Drohnen abgefangen worden. Zwei Menschen seien durch herabstürzende Trümmer getötet worden. Selenskyj betonte zugleich, Moskau werde den Krieg nicht gewinnen. Er äußerte sich nicht wie üblich in einem abgeschirmten Raum, sondern war auf der Straße vor dem Präsidentenbüro in Kiew zu sehen.
+++ Nach dem russischen Raketenangriff auf die ukrainische Stadt Dnipro ist die Zahl der Toten auf vier gestiegen.
Inzwischen sei der Tod dreier weiterer Personen bestätigt, die bisher als vermisst gegolten hätten, hieß es bei den zuständigen Behörden. Zudem seien 32 Menschen verletzt worden. Bei dem Luftangriff am Freitag war ein Klinikgebäude getroffen worden.
+++ Der Iran hat seine Exporte nach Russland ausgebaut.
Die Exporte stiegen innerhalb eines Jahres bis Ende März um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, berichtet die iranische Nachrichtenagentur ISNA. Demnach betrug das Handelsvolumen rund 744 Millionen US-Dollar. Russland sei damit zehntgrößter Abnehmer iranischer Produkte. Die Islamische Republik unterstützt Moskau nach westlichen Erkenntnissen auch mit sogenannten Kamikaze-Drohnen im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die iranische Führung bestreitet das.
+++ In der Debatte um Kampfjet-Lieferungen an die Ukraine wirft Russland dem Westen eine inakzeptable Eskalation vor.
In einem Interview im russischen Fernsehen, das in Online-Netzwerken veröffentlicht wurde, sagte Außenminister Lawrow, es sei ohne Zweifel ein Spiel mit dem Feuer. Lawrow wirft darin den USA, Großbritannien und der EU vor, sein Land schwächen zu wollen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs unterstützen westliche Staaten die Ukraine mit Geld, Waffensystemen und Munition. Die Lieferung von Kampjets galt lange als rote Linie. Es gab die Befürchtung, von Russland als aktive Kriegspartei eingestuft zu werden. Vor eineinhalb Wochen hatte die US-Regierung dann allerdings grundsätzlich grünes Licht für die Lieferung von F-16-Kampfjets aus US-Produktion gegeben. Unterstützt werden die Pläne von einer europäischen Allianz. Deutschland prüft eine Beteiligung bei der Piloten-Ausbildung. Im Gegenzug soll der ukrainische Präsident Selenskyj zugesichert haben, mit den Jets keine Angriffe auf russisches Gebiet zu fliegen.
+++ Russische Behörden melden ukrainischen Beschuss auf Grenzregion.
Der Gouverneur der Provinz Begorod schrieb auf Telegram, twei Landkreise seien angegriffen worden. Dabei sei in Schebekino ein Mann getötet worden. Es sollen auch Wohnhäuser unter Beschuss geraten sein. Schon vor einer Woche war die Region von schweren Kämpfen erschüttert worden. In letzter Zeit hat es im Grenzgebiet immer wieder Angriffe auf russische Infrastruktur gegeben, etwa auf Züge, Munitionslager oder Ölpipelines.
+++ Die russische Armee hat die Ukraine in der Nacht erneut aus der Luft angegriffen.
Die ukrainische Armee sprach vom schwersten Drohnenangriff seit Beginn des Krieges. Von insgesamt 54 Drohnen iranischer Herkunft habe die Luftabwehr 52 abschießen können. Allein 40 der Fluggeräte seien über der Hauptstadt Kiew abgefangen worden, hieß es weiter. Dort wurden den Angaben zufolge durch herabstürzende Trümmer zwei Menschen getötet und drei verletzt. Mehrere Gebäude wurden beschädigt. Außerdem gab es laut den Behörden russischen Artilleriebeschuss auf die Region Sumy in der Ostukraine und die Stadt Nikopol im Südosten.
Bewohner untersuchen nach russischen Drohenangriffen ein teilweise zerstörtes Wohngebäude in Kiew. (AFP / SERGEI SUPINSKY)
+++ Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Deutschland für die weitere Lieferung verschiedener Verteidigungsausrüstung und Waffen gedankt.
Er sagte in seiner abendlichen Videobotschaft, dadurch würden die Flugabwehr und insgesamt die Verteidigungskraft gegen den russischen Terror gestärkt. Details nannte er nicht. Die Bundesregierung hatte kürzlich Waffenlieferungen an die Ukraine in Höhe von mehr als 2,7 Milliarden Euro angekündigt, unter anderem Luftabwehrsysteme sowie Kampf- und Schützenpanzer.
+++ Die russische Luftabwehr hat nach offiziellen Angaben mehrere Drohnen abgefangen, die in Richtung der Ölraffinerie Ilski in der russischen Region Krasnodar geflogen sind.
"Alle wurden neutralisiert, die Infrastruktur der Anlage wurde nicht beschädigt", teilen Angehörige des Notfalldienstes der Region auf Telegram mit. Wer die Drohnen gestartet hat, wird nicht genannt. Die Raffinerie liegt in der Nähe des Schwarzmeerhafens Noworossijsk und wurde in diesem Monat bereits mehrfach angegriffen. Die Region Krasnodar grenzt im Südwesten an das Schwarze Meer und im Nordosten an das Asowsche Meer, das mit dem Schwarzen Meer über die Straße von Kertsch verbunden ist.
+++ Russlands Präsident Putin ordnet eine verstärkte Grenzsicherung an, um eine "schnelle" Bewegung in die ukrainischen Regionen zu gewährleisten, die unter Moskauer Kontrolle stehen.
"Es ist notwendig, den schnellen Transport von militärischen und zivilen Fahrzeugen und Gütern, einschließlich Lebensmitteln, humanitärer Hilfe und Baumaterialien, die an die neuen Gebiete der Föderation geschickt werden, zu gewährleisten", sagt Putin im Telegramm-Kanal des Kremls. Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk sind die vier Regionen in der Ukraine, die Putin im vergangenen September für annektiert erklärte. Die russischen Streitkräfte kontrollieren diese vier Gebiete nur teilweise.
Der russische Präsident Wladimir Putin hält eine Rede (Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Krenlin/AP/dpa)
+++ Die SPD-Vorsitzende Esken hat die Bildung einer internationalen Allianz zur Unterstützung der Ukraine mit modernen Kampfjets begrüßt, sich aber zurückhaltend zu einer deutschen Beteiligung geäußert.
"Die geplante Allianz ist ein sehr deutliches Signal an den russischen Präsidenten Putin, dass die Verbündeten der Ukraine weiterhin solidarisch an ihrer Seite stehen werden", sagte Esken der Deutschen Presse-Agentur. Es sei an Putin, diesen Krieg zu beenden.
+++ Das ukrainische Model Alina Baikowa hat bei den Filmfestspielen in Cannes ein Zeichen gegen den Krieg in ihrer Heimat gesetzt.
Zur Premiere des Dramas "The Old Oak" von Ken Loach kam sie in einem T-Shirt in den Landesfarben der Ukraine mit der Aufschrift: "Fuck you Putin". Am Samstag schrieb sie dazu auf Instagram, sie sei bei der Premiere tags zuvor vom Sicherheitspersonal gebeten worden, den Teppich zu verlassen, weil das Festival nicht politisch werden wolle. Sie habe ihre Jacke schließen müssen, um bleiben zu dürfen.
Die bisherigen Entwicklungen im Ukraine-Krieg finden Sie hier. | null | Seit dem 21. Februar 2022 halten wir in einem Newsblog fest, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt. In diesem Archiv können Sie die bisherigen Entwicklungen nachvollziehen. | "2023-06-01T12:41:00+02:00" | "2022-02-21T19:57:47.994000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-zum-krieg-in-der-ukraine-212.html | 1,012 |
Odenwaldschule drohen Auflagen | Wohnhäuser der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim (picture-alliance / dpa / Uwe Anspach)
Matthias Schimpf ist Grünen-Politiker und Beigeordneter des Landkreises Bergstraße in Südhessen. Hier, in dieser malerischen Region liegt die Odenwaldschule hoch über Weinbergen. Kontrolliert wird die Schule deswegen auch von Matthias Schimpf und seiner Kreisbehörde in Heppenheim. Schimpf hatte der Schulleitung bis heute Mittag eine Frist gesetzt, um Fragen zu dem aktuellen Verdacht gegen einen Lehrer zu beantworten, der illegales, kinderpornografisches Material besessen haben soll:
"Die Odenwaldschule hat die von uns gestellten Fragen am heutigen Tag nicht beantwortet. Dies veranlasst uns als Aufsichtsbehörde nunmehr, umgehend in Absprache mit unserer Fachaufsicht, dem hessischen Sozialministerium – dort ist das Landesjugendamt angesiedelt –, die Odenwaldschule für den nächsten Dienstag um 14 Uhr zu einem aufsichtsbehördlichen Gespräch hier in das Landratsamt nach Heppenheim zu bitten."
Vorwurf: Verletzung der Informationspflichten
Die Aufsichtsbehörden gehen davon aus, dass die Odenwaldschule sie über den seit 2013 bestehenden Verdacht gegen den inzwischen entlassenen Lehrer hätten informieren müssen, so Matthias Schimpf:
"Wir haben heute eine Mitteilung der Odenwaldschule per Mail bekommen. Die Odenwaldschule ist der Auffassung, dass sie uns vollumfänglich unterrichtet hätte. Wir haben daraufhin mitgeteilt, dass wir dies so nicht sehen."
Deswegen nun die Vorladung zum "aufsichtsbehördlichen Gespräch".
Das sei keine alltägliche Maßnahme, bestätigte heute auch Ute Schneider-Jaksch, Jugendamtsleiterin des Kreises Bergstraße. Mehr als 20 Jugendämter haben bis jetzt Jugendliche im Internat der Odenwaldschule untergebracht. Der Landkreis Bergstraße hat allerdings seit 2010, als die Missbrauchsvorwürfe in über 100 Fällen bekannt wurden, keine Schüler mehr in der Reformschule eingewiesen. Die Aufsichtsbehörden werden jetzt erneut aktiv, weil sie der Odenwaldschule eine Verletzung ihrer Informationspflichten vorwerfen und das Kindeswohl ihrer Schützlinge gefährdet sehen. Ute Schneider-Jaksch:
"Wir als Jugendhilfe sind ja vor allem mit Jugendhilfeeinrichtungen zugange. Und da ist es letztlich so, dass wir verschiedene Jugendhilfeeinrichtungen zusammenbringen, um letztlich das weitere Prozedere festzulegen."
Ultima Ratio wäre der Entzug der Betriebsgenehmigung
Als künftige Auflage auf die Betriebsgenehmigung für die Odenwaldschule droht nun etwa eine verschärfte Berichtspflicht, so die Behördenvertreter.
Ultima Ratio könne in solchen Fällen der Entzug der Betriebsgenehmigung für die Schule sein. Das jedoch, betonte der grüne Beigeordnete Matthias Schimpf, wolle der Kreis Bergstraße bisher nicht:
"Die haben unser Schreiben nicht beantwortet, also schließe ich am Montag diese Einrichtung – das wäre weder sachdienlich noch angemessen. Deswegen muss man ein abgestuftes Verfahren wählen. Wir gehen davon aus, dass die Odenwaldschule die Zeichen der Zeit noch erkennen wird und mit den Aufsichtsbehörden kooperieren wird."
Sonst könnten die Tage der Reformschule über den Weinbergen an der Bergstraße gezählt sein – noch bevor eine unabhängige Wissenschaftergruppe mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle der vergangenen Jahre beginnt. Das Aufarbeitungsprojekt soll im Mai starten. | Von Ludger Fittkau | Im Fall des Kinderpornografie-Verdachts gegen einen Lehrer werfen die Behörden der Odenwaldschule vor, sie nicht informiert zu haben. Die Schulleitung wird deshalb zu einem "aufsichtsbehördlichen Gespräch" einbestellt. Eine Schließung der Schule, wie sie Vertreter von Missbrauchsopfern fordern, will der Kreis Bergstraße nicht. | "2014-04-25T18:10:00+02:00" | "2020-01-31T13:37:43.988000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/kinderpornografie-verdacht-odenwaldschule-drohen-auflagen-102.html | 1,013 |
Haben sich die hohen Erwartungen an die Akustik erfüllt? | Joachim Mischke (l.) streitet mit Manuel Brug (imago / picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt / Manfred Siebinger / Combo: dradio)
Haben sich die hohen Erwartungen erfüllt? Darüber streiten, 100 Tage nach der Eröffnung, der Musikkritiker der Zeitung "Die Welt", Manuel Brug, und der Musikkritiker des "Hamburger Abendblatts", Joachim Mischke.
Die Positionen
Manuel Brug: "Es wurde ja vor dem Eröffnungskonzert suggeriert, jeder Platz ist gleich gut in diesem Haus. Mutig, dass man mich dann hinters Orchester setzte, hinter die Hörner, ziemlich weit unten. Insbesondere auf diesen Plätzen kann von einer hervorragenden Akustik nicht die Rede sein! Man kann ja die Gesetze der Physik nicht aushebeln: Sängerstimmen, die nach vorne dringen, sind hinter denen einfach nicht gut zu hören. Instrumente, deren Schalltrichter nach vorne gerichtet sind, hört man hinter denen einfach schwieriger. Insofern ist dieses Haus zwar demokratisch ausgerichtet, dass man überall gleich gut sieht, aber man hört eben nicht überall gleicht gut."
Joachim Mischke: "Ich hatte mehr Glück mit dem Platz als der Kollege, ich saß im oberen vorderen Mittelgebirge, aber das Eröffnungskonzert war aber ein haariger Abend, das Orchester spielte ja auch zum ersten Mal darin. Auch ich habe eine Bandbreite von Qualität gehört, was schon mit dem Saal an sich zu tun hat, aber auch mit dem Orchester. Der Raum bildet im Guten wie auch im nicht so Guten alles ab. Der Saal ist sehr klar und transparent und ein gutes Trainingslager für jedes Orchester. Man muss lernen, mit ihm umzugehen. Der Raum ist nach wie vor ein work-in-progress." | Joachim Mischke debattiert mit Manuel Brug | Die Elbphilharmonie in Hamburg möchte akustisch zu den zehn besten Konzertsälen der Welt zählen. Erfüllt sie die Erwartungen? Darüber streiten, 100 Tage nach der Eröffnung, der Musikkritiker der Zeitung "Die Welt", Manuel Brug, und der Musikkritiker des "Hamburger Abendblatts", Joachim Mischke. | "2017-04-22T17:05:00+02:00" | "2020-01-28T10:24:21.917000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/100-tage-elbphilharmonie-haben-sich-die-hohen-erwartungen-100.html | 1,014 |
Unruhige Nacht mit Kampfhandlungen | Israelische Soldaten und Panzer im Gebiet des im Süden Israels gelegenen Kibbuz Nir Am an der Grenze zum Gazastreifen. (AFP / Menahem Kahana)
Ein schwerer Militärhubschrauber landet in Be'er Shewa, im Süden Israels. Er bringt verwundete israelische Soldaten ins Krankenhaus. Die Soldaten wurden von einem Sprengsatz militanter Palästinenser verletzt. Sie waren auf Patroullie gewesen, direkt an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen. Eine palästinensische Flagge erschien den Soldaten verdächtig. Als sie sich näherten, kam es zur Explosion. Vier Soldaten wurden verletzt, zwei davon schwer. Israelische Medien berichten, dass es im Gazastreifen der schwerste Angriff auf israelische Soldaten seit dem Ende des letzten Gazakrieges im Jahr 2014 ist. Israels Premier Netanjahu verfolgt die Ereignisse von München aus. Er besucht dort die Sicherheitskonferenz.
"Was an der Grenze zum Gazastreifen geschehen ist, ist ein gravierender Vorfall. Wir werden entsprechend antworten. Ich wünsche den Verwundeten eine schnelle Genesung."
Zwei junge Palästinenser sollen getötet worden sein
Die von Netanjahu angekündigte Antwort folgte nur wenige Minuten nach den Worten des israelischen Premierministers. Die israelische Luftwaffe bombardierte Stellungen der islamistischen Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert. Außerdem wurde nach Angaben der Armee ein Angriffstunnel zerstört, der vom Gazastreifen in Richtung Israel verlief. Israel macht die Hamas für sämtliche Angriffe aus dem Gazastreifen verantwortlich, auch wenn hinter den Attacken möglicherweise andere Organisationen stecken.
Im Gazastreifen und in Israel folgte eine unruhige Nacht. Militante Palästinenser schossen Raketen in Richtung Israel. Eine Rakete traf dort das Haus einer israelischen Familie mit Kindern. Die Rakete explodierte jedoch nicht und niemand wurde verletzt. Die israelische Luftwaffe reagierte mit weiteren Angriffen auf Stellungen der Hamas. Nach Berichten von Nachrichtenagenturen sollen mehrere junge Palästinenser versucht haben, den Grenzzaun zwischen Gaza und Israel zu durchbrechen. Zwei von ihnen sollen dabei von der israelischen Armee erschossen worden sein.
"Wir haben zunächst zwei Verletzte aufgenommen", sagt der Direktor des zuständigen Krankenhauses im Süden des Gazastreifens. "Junge Männer, 16 und 27 Jahre alt. Beide wurden von Granatsplittern verletzt. Heute Morgen haben wir dann zwei getötete junge Männer erhalten. Sie wurden von Kugeln in den Bauch getroffen und waren 16 und 17 Jahre alt."
Unsichere Lage im Gazastreifen
Die Lage im Gazastreifen ist äußerst fragil. Die humanitären Bedingungen haben sich in den vergangenen Wochen weiter verschlechtert, was unter anderem an einem nicht enden wollenden Machtkampf zwischen den palästinensischen Parteien Hamas und Fatah liegt.
Seit rund zwei Monaten haben sich die Auseinandersetzungen zwischen Israel und Akteuren im Gazastreifen intensiviert. Die Hamas hat dabei bisher keine klare Linie erkennen lassen: Einerseits versucht sie Angriffe auf Israel von militanten Palästinensern, die nicht zur Hamas gehören, zu verhindern. Andererseits ruft sie zur Gewalt gegen Israel auf und unterstützt wöchentliche Proteste von jungen Palästinensern an der Grenze zu Israel. Nitzan Nuriel, ein Reservegeneral der israelischen Armee, befürchtet, dass es weitere Angriffe auf israelische Soldaten geben wird.
"Leider ist das ein Vorfall, der sich wiederholen wird. Es sei denn, die Hamas kommt zur Besinnung. Die Hamas muss realisieren, dass sie Israel nicht besiegen kann. Dass sie ihre Gelder und Ressourcen nicht in den Kampf stecken sollte, sondern in die Lebensqualität der Menschen von Gaza."
Nach der unruhigen Nacht an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen hat sich die Lage zunächst beruhigt. Das könnte auch an einer Intervention der ägyptischen Regierung liegen. Die Ägypter unterhalten sowohl zu Israel als auch zur Hamas enge Kontakte. Nach Medienberichten rief Kairo beide Seiten dazu auf, eine weitere Eskalation zu verhindern. | Von Benjamin Hammer | Es ist die vielleicht schärfste Eskalation seit dem Ende des Gazakriegs im Jahr 2014: Ein Sprengsatz von militanten Palästinensern an der Grenze zwischen Israel und Gaza hat vier israelische Soldaten verletzt. Die israelische Armee reagierte mit Luftangriffen auf Stellungen der Hamas. | "2018-02-18T13:05:00+01:00" | "2020-01-27T17:39:49.693000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/israel-greift-ziele-im-gazastreifen-an-unruhige-nacht-mit-100.html | 1,015 |
"Wollen wir uns wirklich mit China und den USA messen?" | Bei ihrem Besuch der Olympischen Spiele in Rio habe sie immer wieder gehört, so Freitag, "wie schwer es ist, sein Leben zu finanzieren, wenn man sich gleichzeitig dem Hochleistungssport verschrieben hat". Die wenigsten Athleten könnten von dem leben, was sie in den vier Jahren zwischen zwei Olympischen Spielen durch ihren Sport verdienten. "Das heißt, wir müssen Rahmenbedingungen schaffen." Dies gehe über die Politik hinaus.
In der Debatte gehe es auch um die Frage, "welchen Spitzensport wollen wir, wollen wir nur Medaillen zählen, wollen wir uns wirklich mit China, mit den USA messen oder wollen wir realistisch herangehen und schauen, was können wir unter sauberen Bedingungen unseren Athletinnen und Athleten abverlangen?"
Im Oktober soll die Reform des Spitzensports vorgestellt werden. Die Verhandlungen darüber seien intransparent und ohne Einbeziehung des Parlaments verlaufen, kritisierte die Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag. Man werde sich aber "damit beschäftigen" und "im Zweifel erlauben, Änderungen einzufordern".
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Jetzt muss es aber langsam mal was werden mit einer Medaille, sonst sieht’s schlecht aus mit der Sportförderung. Kommentare, die so und so ähnlich vor allem in den ersten olympischen Wettkampftagen zu hören waren. Da herrschte nämlich noch Ebbe und Enttäuschung in Sachen deutscher Medaillen. Das änderte sich im Verlaufe der Spiele, und im Medaillenspiegel liegt Deutschland relativ weit vorne mit 17 Gold-, 10 Silber- und 15 Bronzemedaillen vor den USA, Großbritannien, China und Russland.
42 Medaillen sind es insgesamt, aber warum schielen alle Funktionäre immer bloß auf die Medaillenplätze – was heißt das für die Sportförderung in den nächsten Jahren, bis zu den nächsten Olympischen Spielen? Am Telefon begrüße ich Dagmar Freitag von der SPD. Sie ist Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag und selbst Vizepräsidenten des Deutschen Leichtathletikverbandes. Guten Morgen, Frau Freitag!
Dagmar Freitag: Schönen guten Morgen!
Dobovisek: Sie waren ja selbst in Rio unterwegs, sind grad zurückgekommen. Welche Eindrücke bringen Sie mit, die besonders haften bleiben werden?
Freitag: Ach, sehr unterschiedliche, muss ich sagen. Es waren ja nicht die ersten Olympischen Spiele, bei denen ich gewesen bin. Und für mich ganz persönlich, aber das ist wirklich ein sehr persönlicher Eindruck, war es schon anders als in der Vergangenheit. Ich bin mit einem gewissen diffusen Gefühl schon nach Rio geflogen aufgrund der wirklich schwierigen Diskussion im Vorfeld, die sich auch über Monate, wenn nicht über Jahre hingezogen haben. Und ich bin auch mit einem ähnlichen Gefühl zurückgekommen. Also der ganz große olympische Spirit, der ist bei mir diesmal bei mir nicht angekommen.
Dobovisek: Das ist ja auch ein Thema gerade mit Blick auf Doping, über das wir oft schon gesprochen haben hier im Deutschlandfunk. Wenn wir auf die Leistungen der deutschen Athleten blicken, waren sie erfolgreich?
Freitag: Das kann man nicht in einem Satz beantworten. Licht und Schatten liegen bei solchen großen internationalen Wettkämpfen natürlich immer sehr nah beieinander, aber wenn man sich den Medaillenspiegel anschaut, ist Deutschland da, wo es realistischerweise landen konnte. Und wenn man sich die Nationenwertung anschaut, wo ja auch weitere Platzierungen einberechnet werden, ist es auch ähnlich so, wie man es erwarten durfte. Sicherlich kann man immer mal schauen, ob es einen Platz nach vorne geht, aber es kann genauso gut auch mal einen Platz nach unten gehen.
"Wollen wir nur Medaillen zählen?"
Dobovisek: Was bedeutet das für die Sportförderung in den nächsten Jahren?
Freitag: Das wird sich ja zeigen. Im deutschen Sport wird ja seit rund anderthalb Jahren eine Spitzensportreform diskutiert. Man macht das ohne Einbeziehung des Parlamentes, das hinterher aber die Wünsche bezahlen soll. Das halte ich erst mal für eine schwierige Ausgangslage.
Dobovisek: Wer klüngelt da mit wem?
Freitag: Den Begriff klüngeln würde ich mir jetzt in dieser Form nicht so zu eigen machen, aber klar ist schon, es ist intransparent. Es wird nicht offen kommuniziert, und ich glaube, das ist ja auch eine gesellschaftspolitische Frage, welchen Spitzensport wollen wir eigentlich in unserem Land. Dass man bestimmte Eckpunkte vielleicht hinter geschlossenen Türen bespricht, das ist normal, das gibt es in anderen Bereichen auch.
Aber ich glaube, gerade bei einem Thema, das die Gesellschaft ja insgesamt in einem ganz erheblichen Maße anspricht, denn Deutschland ist ja ein sportbegeistertes Land, wäre es gut, wenn man alle Beteiligten einbeziehen würde. Welchen Spitzensport wollen wir, wollen wir nur Medaillen zählen, wollen wir uns wirklich mit China, mit den USA messen oder wollen wir realistisch herangehen und schauen, was können wir unter sauberen Bedingungen unseren Athletinnen und Athleten abverlangen.
"Zu kritisieren sind die Rahmenbedingungen"
Dobovisek: Willi Lemke, einst Manager bei Werder Bremen, heute als Sportdiplomat der Vereinten Nationen unterwegs, sagt, Gier nach Erfolg, Macht und Geld schadet dem Sport und zerfresse seine Werte. Am liebsten würde er deshalb den Medaillenspiegel ganz abschaffen. Den Medaillenspiegel nämlich als internationales Machtinstrument einiger Staaten, aber auch als Messlatte zum Beispiel über das, was wir gerade sprechen, die deutsche Sportförderung nämlich. Wie wäre das, Frau Freitag, ein Ende des sturen Blicks auf die Medaillen?
Freitag: Wäre vielleicht sehr wünschenswert, ist aber leider aus meiner Sicht unrealistisch. Das wird so nicht kommen, weil eben immer noch viele Nationen ihre Bedeutung im Sport eben auch an der Platzierung im Medaillenspiegel ablesen wollen. Das sind Relikte aus Zeiten des Kalten Krieges, aber auf der anderen Seite ist es ja auch nicht völlig von der Hand zu weisen: Wer zu Olympia fährt, will bestmögliche Leistungen bringen, will im Idealfall vielleicht auch eine Medaille nach Hause bringen – das ist ja auch, in der Regel jedenfalls, der Anspruch der Sportlerinnen und Sportler –, und von daher schaut man natürlich auch auf Erfolge, die es gegeben hat. Das ist grundsätzlich auch gar nicht zu kritisieren. Zu kritisieren sind die Rahmenbedingungen.
Dobovisek: Achtung, jetzt spricht der Laie hier am Mikrofon – wäre es dann nicht sozusagen sinnvoll, die Sportarten zu fördern, die eben nicht so erfolgreich waren, damit sie erfolgreich werden?
Freitag: Ja, das ist ein sehr pädagogisches Prinzip, was Sie gerade ansprechen, nämlich die, die besonders schwach sind oder, die Schwächen gezeigt haben, auch besonders zu fördern. Ich kann Ihnen im Moment nicht sagen, welche Strategie der Deutsche Olympische Sportbund hinter den verschlossenen Türen verfolgt, aber Sie können ganz sicher sein, dass wir uns als Parlamente einmischen werden, wenn nun endlich mal die Reformeckpunkte auf dem Tisch liegen sollen. Es soll ja im Herbst passieren, dann wird sich der Sportausschuss des Deutschen Bundestages auch in einer öffentlichen Anhörung damit beschäftigen, und wir werden uns im Zweifel auch erlauben, noch Korrekturen vorzunehmen.
Freitag: Existenzängste der Athleten müssen gemindert werden
Dobovisek: Sie haben gerade in Ihrer letzten Antwort erwähnt die Rahmenbedingungen, die will ich noch mal aufgreifen, Frau Freitag. Welche Rahmenbedingungen meinen Sie oder wünschen Sie sich?
Freitag: Ich wünsche mir erst mal für unsere Athleten die bestmöglichen Rahmenbedingungen in der Vorbereitungsphase. Da liegt einiges im Argen, das geht aber weit über die Sportförderung des Bundes hinaus. Wir haben auch in Rio immer wieder gehört, wie schwer es ist, sein Leben zu finanzieren, wenn man sich gleichzeitig dem Hochleistungssport verschrieben hat. Die wenigsten Athletinnen und Athleten können von dem leben, was sie in den vier Jahren zwischen zwei Olympischen Spielen durch ihren Sport verdienen.
Das heißt, wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, und das geht eben über die Politik hinaus. Da sind Hochschulen, da sind Arbeitgeber angesprochen, die es den jungen Menschen ermöglichen, zusätzlich zum Sport auch eine vernünftige Ausbildung zu absolvieren, dass die Existenzängste wenigstens gemindert werden. Das gehört für mich auch dazu, und deshalb habe ich auch diese gesellschaftspolitische Debatte eingefordert. Es ist nicht nur eine Frage des Sports und der Politik.
Dobovisek: Schauen wir uns den Erfolg der Briten an. Das Land ist kleiner als Deutschland, hat weniger Einwohner, aber deutlich mehr Medaillen, nämlich 67, Platz 2 auf dem Medaillenspiegel – ein Riesensprung. Waren es 2004 noch 30 Medaillen, dann wurde es immer besser, mit den Spielen von London vor Augen. Was machen die Briten besser, zum Beispiel mit der Sportförderung?
Freitag: Die Briten haben ein anderes System. Ich habe ja die Vertreter des britischen Verbandes vor anderthalb Jahren auch in den Ausschuss im Bundestag eingeladen, damit wir uns genau das britische System einmal anschauen konnten. Die setzen schon auf eine sehr gezielte Spitzensportförderung und Sportarten und Disziplinen. Die die gesteckten Ziele nicht erreicht haben, müssen erst mal damit rechnen, dass sie weniger Fördermittel bekommen.
Dobovisek: Ist das begrüßenswert?
Freitag: Das ist genau die Frage, die ich anfangs angesprochen habe. Das würde ich als Politikerin auch nicht alleine entscheiden wollen. Wollen wir in Deutschland weiterhin eine breite Förderung oder wollen wir uns auf wenige sehr medaillenträchtige Sportarten komplett konzentrieren. Persönlich denke ich nicht, dass wir nur eine Nation von Bob- und Schlittenfahrern, von Kanufahrern, die immer sehr erfolgreich sind bei Olympischen Spielen, was ich auch überhaupt nicht kleinreden will. Aber ich denke, wir sollten schon die Breite dessen abbilden, was Sport in Deutschland eigentlich ausmacht.
Dobovisek: Nach den Spielen ist vor den Spielen. Die Sozialdemokratin Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag zum Abschluss der Olympischen Spiele von Rio. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Freitag!
Freitag: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Dagmar Freitag im Gespräch mit Mario Dobovisek | Wie geht es mit der Förderung des Spitzensports in Deutschland weiter? Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, kritisiert, dass die Reformverhandlungen des Innenministeriums am Parlament vorbeigelaufen seien. Bei den Rahmenbedingungen für Athleten liege "einiges im Argen", sagte die SPD-Politikerin im DLF. | "2016-08-22T06:50:00+02:00" | "2020-01-29T18:48:41.727000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/reform-des-spitzensports-wollen-wir-uns-wirklich-mit-china-100.html | 1,016 |
Mit 25 Millionen Dollar raus dem Dopingsumpf | Die kenianische Marathonläuferin Purity Rionoripo beim Paris-Marathon 2017. (imago / PanoramiC / Michael Baucher)
Kenia steht seit sieben Jahren in der obersten Kategorie der Beobachtungsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur. In den vergangenen Monaten gab es öffentlichkeitswirksame Fälle wie die bekannten Marathonläuferinnen Diana Kipyoke und Purity Rionoripo. Das brachte das Fass zum Überlaufen, dem kenianischen Verband drohte ein Ausschluss von allen internationalen Wettbewerben.
Doping
Kenia kämpft gegen den Missbrauch
Doping
Kenia kämpft gegen den Missbrauch
Kein anderes Land bringt in der Leichtathletik so viele Weltklasseläufer hervor wie Kenia. Gleichzeitig werden Läufer aus dem ostafrikanischen Land immer wieder des Dopings überführt. Um Doping in Kenia besser verhindern zu können, soll in Nairobi ein anerkanntes Labor seine Arbeit aufnehmen.
Kenias Politik legt daraufhin wieder einmal ein Anti-Doping-Programm auf. Der Präsident des Leichtathletik-Weltverbands, Sebastian Coe, reiste vergangene Woche in das ostafrikanische Land um mit Politikern und Sportfunktionäre über die Massnahmen zu diskutieren. Coe wollte sich ein Bild machen und darüber diskutieren, welche Konsequenzen nun für die kenianische Leichtathletik anstehen und drohen. Kenia werde im Kampf gegen Doping alles tun, twitterte Präsident William Ruto nach seinem Treffen mit Coe.
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Sein Sportminister Ababu Namwamba erläutert das Vorhaben der Regierung in den kenianischen Medien:
"Wir wollen mehr Aufklärung"
„Um diesen Plan voranzutreiben, hat die Regierung bereits 5 Millionen Dollar pro Jahr für die nächsten fünf Jahre zugesagt. Das sind 25 Millionen US-Dollar. Und mit diesem Geld werden wir den Kampf gegen Doping in vollem Umfang unterstützen. Wir wollen mehr Aufklärung, mehr Sensibilisierung betreiben. Wir wollen mehr Tests durchführen, Sie werden also eine viel breitere Palette von Tests sehen. Unter Leitung unserer Anti-Doping-Agentur Kenia.“
Weltverbandspräsident Coe begrüßt das Vorhaben.
„Ich danke Präsident Ruto dafür, dass er sich auf Regierungsebene nicht nur dafür einsetzt, diesen Wandel voranzutreiben. Sondern auch die Mittel zur Bekämpfung aufstockt: Mehr und umfassendere Test, eine verstärkte Aufklärung und Bildungsprogramme. Denn das sind entscheidende Faktoren, um diese Probleme zu bekämpfen. Ohne diese Mittel ist es unwahrscheinlich, dass die Pläne in die Tat umgesetzt werden.“
"Doping muss kriminalisiert werden"
Man müsse diese Maßnahmen jetzt überwachen, um sicherzustellen, dass sie auch umgesetzt werden und sich Fortschritte einstellen, so Coe weiter. Kenias Sportminister Namwamba kündigte in der BBC noch weitere Schritte an:
Doping in Kenia
Schatten auf dem Laufsport
Doping in Kenia
Schatten auf dem Laufsport
Kenias Langstreckenläufer haben ein Imageproblem. In den vergangenen drei Jahren wurden 35 von ihnen des Dopings überführt. Jetzt steht der Rest unter Generalverdacht. Immerhin will der Staat nun doch gegen die Dopingsünder vorgehen.
„Wir brauchen definitiv strengere Gesetze. Doping muss kriminalisiert werden, der Umgang mit Dopingsubstanzen muss genauso hart wie der Gebrauch von Betäubungsmitteln bestraft werden.“
Bislang keine strafrechtliche Verfolgung
Ein Deja-Vu. 2016 drohte Kenia wegen zahlreicher Dopingfälle der Ausschluss von den Olympischen Sommerspielen in Rio. Damals wurde die Anti-Doping-Agentur gegründet und Dopingbetrügern mit strafrechtlichen Sanktionen gedroht. Bislang wurde jedoch noch niemand strafrechtlich verfolgt.
Warum Kenia aber anders als Russland trotz des offenbar nicht wirklich funktionierenden Systems – derzeit sind 55 Sportler gesperrt und acht suspendiert - nicht ausgeschlossen wird, diese Fragen muss sich auch der Weltverband mit Präsident Coe gefallen lassen.
Noch ein langer Weg für Kenia
„Es gibt Unterschiede: In den ersten Jahren ging es dort um Vertuschung, um Vernebelung und darum, der Aufdeckung zu entgehen. In Kenia ist das anders, wie aus dem Bericht der Welt-Anti-Doping-Agentur hervorgeht. Diese Vertuschungen wurden in Russland auf staatlicher Ebene organisiert. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dies in Kenia der Fall ist. Eher das Gegenteil.“
Aber Coe betont auch, es sei noch ein langer Weg für Kenia, um Doping auszurotten. | Von Piet Kreuzer | Kenia gehört zu den drei Nationen mit den meisten Doping-Sündern. Zuletzt hatte es wieder öffentlichkeitswirksame Dopingfälle zweier Marathonläuferinnen gegeben. Um einer Sperre von internationalen Wettbewerben zu entgehen, legt das Land ein neues Anti-Doping-Programm auf. | "2023-01-09T22:50:00+01:00" | "2023-01-09T12:31:46.399000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/kenia-sport-raus-aus-dem-doping-sumpf-100.html | 1,017 |
Das neue Abendmahl | Die neue Erlebnisküche: Gemeinsame Mahlzeiten liegen im Trend (imago stock&people)
Internationale Möbelmesse Köln, Küchenbereich. Die Besucher drängeln sich um Esstische von bis zu dreieinhalb Metern Länge und mehr als einem Meter Breite.
"Die meisten leben in der Stadt. In der Stadt ist das Leben teuer, kleinere Oberfläche, und dafür braucht man auch Möbel, die nicht so viel Platz einnehmen, also eher ein bisschen luftig und nicht zu groß", sagt der Designer Dick Spierenburg. Der Niederländer ist Creative Director der Kölner Möbelmesse und hat die aktuellen Trends fest im Blick.
So wie viele der Messebesucher interessiert sich auch Marion Küpper für die übergroßen Esstische: "Ich fand immer schon gut, Leute einzuladen, für die ich kochen kann oder mit denen ich kochen kann, das ist einfach so ein Kommunikationsort, und das finde ich gut. Ja, und auch zum Arbeiten, finde ich, kann man daran sitzen. Also das ist der zentrale Ort für mich immer gewesen, die Küche."
Kochen, Essen, Arbeiten, Entspannen sind eins
Auch laut Dick Spierenburg sind Kochen, Essen, Arbeiten und Entspannen inzwischen eins geworden. Alles wird sich zukünftig nur noch in einem einzigen großen offenen Raum abspielen, glaubt er:
"Küchen und Essen, das ist total integriert worden und so langsam ist auch die Sitzlandschaft in der Nähe, im offenen Raum. Also man sieht, dass diese Räume mehr und mehr sich verbinden. Wenn man Gäste hat, kommt man eigentlich nicht mehr weg vom Essbereich, man bleibt den Abend lang am Tisch, man kocht noch etwas, man nimmt noch etwas und das ist so gemütlich wie ein Stammtisch im Café."
Gemütlich wirken die neuen Küchenbereiche tatsächlich. Oftmals gleichen sie sogar eher einem Wohnzimmer. Ihre Ausstattung mit Textillampenschirmen über dem Herd, offenen Bücherwänden über der Arbeitszeile oder Samtsofas auf hochflorigen Teppichböden ist aus hygienischer Sicht nicht wirklich küchenkompatibel, aber das alles sieht sehr schick aus.
Die neuen Wohnküchen: Kochst du noch oder repräsentierst du schon? (Deutschlandradio / Ana Suhr)
Der Theologe Kai Funkschmidt untersucht, wie Menschen heutzutage durch Mahlzeiten Gemeinschaft herstellen und hat dabei auch großstädtische Ringe wie beispielsweise Eatwith im Blick, wo man sich online zu gemeinsamen Essen in privaten Räumen verabredet.
"Es gibt sicherlich ein Bedürfnis danach, gemeinsam zu essen. Und dass wir jetzt anfangen, wo die Familien sich auflösen oder viele Leute auch als Singles leben oder in fremden Städten leben und dort erst einmal alleine wohnen und deswegen alleine essen, dass sie da anfangen, jetzt sich neue Essensgemeinschaften zu gründen ist sicherlich ein Ausdruck davon, dass man merkt, da fehlt was, was grundsätzlich zum Menschsein dazugehört.
Der Theologe Kai Funkschmidt arbeitet in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (Volker Lubinetzki / EZW)
Funkschmidt arbeitet in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen und hat beobachtet, dass sich Essen und Ambiente in den letzten Jahren zu einer regelrechten Ideologie entwickelt haben. Der heilige Ernst mit dem solche Treffen mitunter zelebriert werden, wirft die Frage auf, ob man vielleicht von einem neuen, säkularisierten Abendmahl sprechen kann.
"Das hat religiöse Qualität, da geht es um die Essensituation, es geht aber auch um das, was gegessen wird. Das heißt, sie haben ein Speisegebot, das es unmöglich macht für andere, in voller Weise daran zu partizipieren. Sie werden sehen, wenn Sie sich die Speisegebote aller Religionen anschauen und auch die Verzehrsituation, dann gehört neben dem Gemeinschaftsstiftenden nach innen immer auch ein Abgrenzungsmoment nach außen dazu."
Gnadenlosigkeit in bestimmten Milieus
Die Abgrenzung zeigt sich dabei besonders daran, was gegessen wird – oder eben nicht gegessen wird.
"Dass Menschen sich Gedanken machen, wie sie sich ernähren, dass Menschen sich Gedanken machen, wie sie ethisch leben können, das ist sicherlich begrüßenswert. Aus christlicher Sicht finde ich, dass das oft mit einer gewissen Gnadenlosigkeit einhergeht – jedenfalls in bestimmten Segmenten dieser Milieus. Komischerweise, obwohl die Menschen dem Christentum oft vorwerfen, es sei so dogmatisch, finde ich, dass dieses Dogmatische dann eher dort reinkommt, wo das Moment der Gnade fehlt, wo man eben alles perfekt machen muss", so Funkschmidt.
Diese gnadenlose Selbstoptimierung und der damit einhergehende Perfektionismus zeigen sich oftmals auch im perfekt gestylten Umfeld der Gastgeber. So auch an den Riesentischen, die zu sagen scheinen: 'Schau, wie ich leben kann und wie viel Platz ich habe!'
Ein Bedürfnis, zusammen zu sitzen
Gunther Hirschfelder ist Professur für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg und erforscht seit vielen Jahren unsere Ernährung und Esskultur.
"Diese Tische künden auf jeden Fall davon, dass es ein Bedürfnis gibt, zusammen zu sitzen, zusammen zu essen, nachher drüber zu sprechen und diese großen Möbel dann auch vielleicht im Social Media oder in anderen Netzwerken eben sichtbar zu machen, also darüber zu sprechen. Ob an diesen Tischen tatsächlich gegessen wird, darüber haben wir überhaupt kein empirisches Material."
Erforscht schon lange unsere Essgewohnheiten – der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder (Deutschlandradio / Ana Suhr)
Also alles möglicherweise nur ein großer Fake, reine Selbstinszenierung? Nicht ganz. Gemeinsame Mahlzeiten stiften Vertrauen und sind ein elementarer Baustein des Miteinanders, so Hirschfelder. Gerade das biblische Abendmahl lege davon ein Zeugnis ab:
"Wir haben ein Vereinsamungsproblem und dieses Vereinsamungsproblem kann man ein stückweit dadurch lösen, dass man eben wieder gemeinsam isst oder sich zumindest eine Gelegenheit anschafft, an der man essen könnte. Das Essen und das Sprechen über das Essen und die Ideologisierung des Essens haben insofern religiöse Bezüge, als dass sie als Stellvertreter herhalten für Weltanschauungen, für Weltdeutungen. Und insofern erfüllen diese Essensituation und diese kommunikativen Situationen tatsächlich Funktionen, die Religion früher gehabt hat."
Der religiöse Eifer um das Thema Essen
Allerdings ist hierbei zu unterscheiden zwischen der reinen Versorgungsküche und der Erlebnisküche. Die Versorgungsküche ist rein pragmatisch, sie soll satt machen. Der religiöse Eifer um das Thema Essen betrifft in erster Linie die Erlebnisküche. Eben weil solche großen, gemeinsamen Essensveranstaltungen eher die Ausnahme sind, wird umso mehr über sie diskutiert.
"Die Religion hat heute nicht mehr diese Funktionsbezüge. Sie spielt noch eine Rolle in der Gesellschaft, aber wir reden weniger darüber und wir haben natürlich zunehmend Menschen, die gar keinen Bezug zu Religion haben oder eine negative Einstellung zu Religion haben. Wir brauchen eine neue Deutungsfolie in der Gesellschaft, und die Ernährung ist dabei, im Augenblick eine solche Deutungsfolie zu werden." | Von Ana Suhr | Meterlange Esstische liegen im Trend, Kochen mit Freunden ist ein Event, die Küche ist das Herz der Wohnung. Gemeinsam eine Mahlzeit einzunehmen, ist im Alltag selten. Gerade deshalb wird das Tafeln in der Designer-Wohnküche wie ein Gottesdienst zelebriert. | "2019-04-15T09:35:00+02:00" | "2020-01-26T22:40:41.484000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/essen-als-religion-das-neue-abendmahl-100.html | 1,018 |
Watt statt Öl oder Öl aus dem Watt? | Es geht um rund 23 Millionen Tonnen Rohöl – soviel vermuten die Experten des Konzerns RWE Dea in mehreren Lagerstätten im Ölfeld Mittelplate vor der Dithmarscher Nordseeküste bei Büsum und unter dem niedersächsischen Wattenmeer vor Cuxhaven. 23 Millionen Tonnen – nicht eben ein Pappenstiel, meint Konzernsprecher Derek Mösche."Das ist für Deutschland schon volkswirtschaftlich sehr wichtig, wenn man bedenkt, dass zurzeit die Ölreserven in Deutschland rund 36 Millionen Tonnen betragen. Allein in Dithmarschen hängen über 1000 Arbeitsplätze an Mittelplate, allein in der Raffinerie Heide sind es knapp 500, dann hängt die gesamte weiterverarbeitende Industrie in Brunsbüttel da mit dran, und auch für Niedersachsen wäre das natürlich eine interessante Option, dort einen Förderbetrieb zu bekommen an der Küste." Und: Mehr als 100 Mio. Euro fließen allein in diesem Jahr aus dem sogenannten Förderzins als Abgabe des Unternehmens direkt in die schleswig-holsteinische Landeskasse. Soweit, in aller Kürze und aus der Sicht des Konzerns RWE Dea, die volkswirtschaftliche Seite der Medaille – die allerdings für Kritiker aus den Reihen der Umwelt- und Naturschutzverbände nicht annähernd so attraktiv erscheint wie für das Hamburger Unternehmen. WWF, NABU und Schutzstation Wattenmeer fordern einmütig: Keine weiteren Ölbohrungen im Nationalpark – das ist ganz einfach nicht zulässig, argumentiert Silvia Gaus von der Schutzstation Wattenmeer."Beispielsweise steht ja knallhart im Nationalparkgesetz, dass Bohrungen verboten sind. Die Ölförderung darf nur von der Mittelplate ausgehen, aber eben jede weitere Bohrung im Nationalpark verstößt unserer Ansicht nach gegen das Nationalparkgesetz."Schlimm genug meint Silvia Gaus, dass überhaupt mitten in einem so empfindlichen Ökosystem wie dem Nationalpark Wattenmeer Öl gefördert wird, und jetzt soll es noch mehr Bohrungen geben - das wollen die Umweltschützer so nicht hinnehmen. Konzernsprecher Derek Mösche hält dagegen – es gehe schließlich nicht darum, über neue Bohrungen mehr Öl direkt im Nationalparkgebiet zu fördern."Das wird dort keine neue Fördereinrichtung im Wattenmeer geben. Wir respektieren da natürlich die Schutzwürdigkeit, uns ist durchaus bewusst, wie sensibel die Region ist. Wir haben durch Mittelplate unter Beweis gestellt, dass wir dort sehr verantwortungsbewusst agieren, und sind der festen Überzeugung, dass wir hier umweltgerecht zeitlich befristet diese Probebohrungen durchführen können und dann die Förderung von außerhalb des Nationalparks vornehmen können."Abgelenkte Bohrungen heißt das Stichwort dafür – das funktioniert bereits in Dithmarschen, wo eine Bohrung von Land aus über mehr als neun Kilometer in die Lagerstätte der Mittelplate unter dem Watt vorgetrieben wurde. Technische Details, die für Silvia Gaus von der Schutzstation Wattenmeer überhaupt nicht relevant sind. Auch wenn jetzt nur Probebohrungen geplant sind – der dafür notwendige Aufwand, zum Beispiel mit absenkbaren Pontons für die technische Ausrüstung, sei eine Katastrophe für das Ökosystem Watt, meint sie."Es geht ja nicht nur darum, ein kleines Loch zu bohren, sondern das ganze Know-how drum herum. Diese Riesenpontons, die über Wochen und Monate auf dem Wattboden liegen, hinterlassen Schäden – in dem Gebiet sind erst einmal alle Lebewesen tot. Es hängt also viel mehr dran, es hängt die ganze Störung im Gebiet da dran, und – noch einmal: Bohrungen sind verboten, egal ob es jetzt so eine Exploration ist oder ob es sonst welche Bohrungen sind – es ist schlicht und ergreifend nicht erlaubt." Ob diese Behauptung so zutrifft – auch das prüft derzeit das zuständige Umweltministerium in Kiel. Gut 500 Seiten stark sind die Antragsunterlagen, die RWE Dea für die Bohrungen eingereicht hat – bis Ende des Monats werde es sicher dauern, diese Unterlagen allein auf formale Kriterien hin zu überprüfen, betont Ministeriumssprecher Christian Seyfert. "Dann werden wir, wenn das alles so weit in Ordnung ist, in die inhaltliche Prüfung einsteigen. Die wird noch etwas zeitaufwendiger sein, auch sein müssen, weil diese Sache nicht nur sauber abgearbeitet werden muss auch vor dem Hintergrund, dass möglicherweise ein Bescheid hinterher beklagt werden könnte, sodass wir davon ausgehen, dass wir eine inhaltliche Prüfung haben werden von über den Daumen gepeilt sechs Monaten, vielleicht sogar etwas länger."Monatelange Prüfverfahren, und dann womöglich noch der lange Weg durch die Gerichtsinstanzen – der neue Kampf um die letzten Ölreserven unter dem Weltnaturerbe Wattenmeer hat gerade erst begonnen. | Von Dietrich Mohaupt | Seit fast 25 Jahren wird im schleswig-holsteinischen Wattenmeer Erdöl gefördert. Die Förderfirma vermutet, dass dort noch mehr Öl liegen könnte. Probebohrungen sollen genauere Auskunft geben, doch die lägen mitten im Nationalpark Wattenmeer - Umweltschützer schlagen Alarm.
| "2011-11-09T11:35:00+01:00" | "2020-02-04T02:23:21.816000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/watt-statt-oel-oder-oel-aus-dem-watt-100.html | 1,019 |
Keine deutschen Sicherheitsbeamten am Deutschen Haus | Das Deutsche Haus der Olympiateilnehmer in Rio de Janeiro. (picture alliance/dpa - Michael Kappeler)
Deutsche Sicherheitsbehörden dürfen weiterhin keine Beamten zur Sicherung und Bewachung des Deutschen Hauses während der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro schicken. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage des Grünenpolitikers Özcan Mutlu hervor.
Verbindungsbeamte in Brasilia und Rio
Das Bundeskriminalamt werde sieben Beamte in die brasilianische Hauptstadt Brasilia und nach Rio entsenden. Diese sollen vor Ort als Verbindungsbeamte fungieren. Das Deutsche Haus sowie der deutsche Pavillon an der Copacabana werden durch eine private Sicherheitsfirma beschützt, teilte die Bundesregierung mit. Zuletzt hatte es lange Diskussionen zwischen deutschen und brasilianischen Behörden gegeben.
Der sportpolitische Sprecher der Grünen Özcan Mutlu: "Die Frage ist ja schon seit mehreren Wochen Thema gewesen. Denn in Brasilien ist die Sicherheitslage sehr extrem derzeit. Einerseits werden soziale Unruhen befürchtet, andererseits tobt ja dort fortwährend ein Drogenkrieg. Hinzu kommt bei Sportgroßereignisse das Thema Terror und Terrorgefahr."
85.000 Sicherheitsbeamte in Brasilien
Verhandlungen, wie bei den vergangenen Olympischen Spielen mit eigenen Beamten das Deutsche Haus zu schützen, führten zu keinem Erfolg. In Brasilien werden während der Spiele rund 85.000 Sicherheitsbeamte im Einsatz sein. | Von Robert Kempe | Bei vergangenen Olympischen Spielen haben eigene Beamte das Deutsche Haus beschützt. Für die Spiele in Rio waren Verhandlungen zwischen deutschen und brasilianischen Behörden aber erfolglos. Lediglich sieben Verbindungsbeamte werden nach Brasilien entsandt. | "2016-08-03T22:50:00+02:00" | "2020-01-29T18:45:09.179000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/olympische-spiele-keine-deutschen-sicherheitsbeamten-am-100.html | 1,020 |
Gebt mir einen Talk, keine Blumen | Männer im Smoking - Die Nobelpreisverleihung 1995 spiegelt den Stand der Forschung als Männerdomäne. (bpk-Bildagentur / Abisag Tüllman) | Qualifizierten Nachwuchs gibt es genug. Aber allen Gleichstellungsmaßnahmen zum Trotz machen Frauen immer noch seltener Karriere in der Wissenschaft als Männer. Woran liegt das? Antworten finden sich in Daten, Statistiken und Erfahrungsberichten. | "2023-03-05T16:30:01+01:00" | "2023-03-03T13:00:01.627000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/gebt-mir-einen-talk-keine-blumen-frauenkarrieren-in-der-wissenschaft-teil1-2-dlf-620b2c28-100.html | 1,021 |
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Bergman, Beaton und Berlin Beats | Ingmar Bergmann 1957 - er inspirierte viele Filmschaffende unter anderem Margarethe von Trotta. (dpa/Magnus_Hartman_dn)
Es heißt, dass Schönheit im Auge des Betrachters liege. Und er halte es für unglaublich wichtig, dass sich der Fotograf dem Motiv von seinem ganz eigenen Blickwinkel nähert - so der Fotograf Cecil Beaton in einem Interview. Von Anfang an besticht Lisa Immordino Vreelands Doku "Love, Cecil" über den britischen Künstler durch eine geschickte Auswahl und Zusammenstellung von Archivmaterialien, zahllosen Fotografien sowie Interviews mit Kunstexperten und anderen Fotografen. Vor allem aber gibt die Regisseurin ihrem Protagonisten Raum.
"Waren Sie selbstbewusst und erfolgreich in allem, was sie unternahmen?", fragt der Interviewer. "Meistens unsicher" , antwortet Cecil Beaton. Was seine damaligen Ambitionen gewesen seien? Er habe allen zeigen wollen, dass er nicht gewöhnlich und unscheinbar war wie die anderen.
Schüchterner Autodidakt
Wo die Interviews enden, greifen Beatons Tagebucheinträge weiter. Sie sind der rote Faden in diesem Film und werden gelesen vom britischen Schauspieler Rupert Everett. Als junger Mann, so schreibt Beaton zum Beispiel, habe er nicht gewusst, war er tun oder sein wollte. Ohne Einladung sei ihm nur übriggeblieben, sich seinem Hobby, der Fotografie zu widmen.
In diesen Passagen wird das Porträt zum Selbstporträt. "Love, Cecil" erzählt von einem exzentrischen und gleichzeitig doch schüchternen Autodidakten, der das Schöne oft in Fantasiewelten gesucht hat und dessen Sicht auf sich und das Leben vor allem durch das Visuelle bestimmt worden ist.
"Love, Cecil": empfehlenswert
Sphärische Klänge untermalen Bilder von Gebäuden und Straßenzügen in Berlin und vom seit vielen Jahren verlassenen Spreepark. Menschen sitzen in der U-Bahn, in Cafés und auf Plätzen. Alles zu sehen in schnellen Bildfolgen. Doch ganz am Anfang ist da eine Dampflokomotive. Es ist eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme, die einem bekannt vorkommt. Sie stammt aus "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" von Walter Ruttmann. Mit dem Bild dieser Lok hat jetzt auch Johannes Schaff seinen Berlin-Film "Symphony of Now" eröffnet, eine Hommage an den Stummfilmklassiker von vor 90 Jahren.
Immer wieder verändert sich der Klang in den 65 Minuten, die "Symphony of Now" dauert und die einen Tag in der Hauptstadt beschreiben. Bald schon erstrahlt der Berliner Fernsehturm in der untergehenden Sonne, bevor dann zu nächtlicher Stunde das Partyvolk die Kontrolle auf den Straßen und den Clubs der Stadt übernimmt.
Elektronische Berlin-Sinfonie
Die Berlin-Sinfonie des Jahres 2018 ist elektronisch und spiegelt Berlins Status als Techno-Hauptstadt der Welt. Geschrieben wurde sie von Musikern wie Modeselektor und Hans-Joachim Roedelius. Dass die ihre Musiken zu den Bildern von Ruttmanns "Sinfonie der Großstadt" komponiert haben und Regisseur Schaff seine neuen Berlin-Aufnahmen dann auf die so entstandenen Stücke geschnitten hat, ist ein Arbeitsprozess, der für den Zuschauer allerdings unsichtbar bleibt. Reizvoll ist diese Neuinterpretation dennoch, wenngleich nicht jeder eine hypnotische Kraft dieser Collage aus Sounds und Bildern spüren wird.
"Symphony of Now": akzeptabel
"Hier hat alles für mich begonnen."
Erzählt Margarethe von Trotta, während sie an den Klippen Hovs hallar auf der schwedischen Halbinsel Bjäre steht.
"Die Felsen, das Meer, diese Steine von oben gesehen in der Totalen. ..."
Genau dort hat Ingmar Bergman im Sommer 1956 sein Filmdrama "Das siebente Siegel" gedreht mit Max von Sydow als Ritter, der von den Kreuzzügen zurückgekehrt ist und dem am Strand der personifizierte Tod begegnen wird.
Bergamm war stets in ihrem Herzen
1960 sah Margarethe von Trotta zum ersten Mal "Das siebente Siegel" in einem Pariser Kino. Es war der Film, der in der damals 18-Jährigen den Wunsch geweckt hat, eines Tages selbst auf dem Regiestuhl zu sitzen. Seither habe sie Ingmar Bergman, wie sie selbst sagt, ihr ganzes Leben in ihrem Herzen getragen.
Es ist, wie der Titel schon verspricht, ein sehr persönlicher Blick auf Bergman und sein zeitloses Werk geworden, ohne dass sich Margarethe von Trotta selbst zu wichtig nimmt. Auf ihrer Suche nach dem Künstler und Menschen stößt sie das Filmgenie natürlich nicht von seinem Sockel. Sie lässt Weggefährten wie Liv Ullmann und Familienmitglieder wie Bergmans Sohn Daniel zu Wort kommen und verknüpft diese Gespräche sparsam mit Originalinterviews und Filmausschnitten.
Nur Bergman-Kenner werden wohl keine neuen Einsichten gewinnen, denn auch die zentrale Erkenntnis des schwedischen Regisseurs, die aus einem Interview stammt, dürfte ihnen nicht neu sein.
"Ist nicht Kunst immer eine gewisse Therapie für den Künstler?"
"Auf der Suche nach Ingmar Bergman": empfehlenswert | null | Drei Dokumentarfilme starten in dieser Woche in den Kinos: "Auf der Suche nach Ingmar Bergman" nähert sich einem der bedeutendsten Filmkünstler des 20. Jahrhunderts und "Love Cecil" dem britischen Fotografen Cecil Beaton. Eine Hommage an den Stummfilmklassiker "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" ist der Dokumentarfilm "Symphony of Now". | "2018-07-11T15:05:00+02:00" | "2020-01-27T18:01:10.690000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/neue-filme-bergman-beaton-und-berlin-beats-100.html | 1,022 |
Haitis Fußball-Präsident unter Verdacht | Ruf nach Gerechtigkeit: Frauen in Haiti demonstrieren während der Anhörung Präsident des haitianischen Fußballverbandes Yves Jean Bart, dem sexueller Missbrauch vorgeworfen wird. (imago)
Die Vorwürfe sind gravierend. Fußballerinnen, darunter Nationalspielerinnen, beschuldigen den langjährigen Präsidenten des haitianischen Fußballverbandes, Yves Jean-Bart, sie sexuell missbraucht zu haben.
Über die Anschuldigungen berichtet die britische Zeitung "Guardian" seit Ende April. Mittlerweile ermitteln die Behörden in Haiti, und auch die Ethik-Kommission der FIFA wurde tätig. Sie suspendierte Yves Jean-Bart, auch "Dadou" genannt, vorläufig für 90 Tage vom Präsidentenamt. Jean-Bart weist alle Vorwürfe von sich.
Abtreibung und Schwangerschaften
Der Missbrauch soll sich im "Centre Technique National" abgespielt haben, einem Trainingskomplex des haitianischen Verbandes in Croix-des-Bouquets in der Nähe der Hauptstadt Port-au-Prince. Die Einrichtung, finanziert mit Geldern aus dem FIFA-Entwicklungshilfeprogramm "Goal", dient immer wieder als Beispiel für das Engagement des Weltverbandes in ärmeren Regionen der Welt.
Yves Jean-Bart, langjähriger Präsident des haitianischen Fußballverbandes, soll Spielerinnen sexuell missbraucht haben (imago)
Über Jahre, so zitiert der "Guardian" mehrere Spielerinnen, die anonym bleiben wollen, wären sie im "Centre Technique National" unter Druck gesetzt worden, sexuelle Beziehungen mit Präsident Yves Jean-Bart einzugehen. Er habe angedroht, sie sonst aus dem nationalen Fußballprogramm auszuschließen. Eine 17-jährige Spielerin hätte abtreiben müssen, andere wären schwanger geworden und hätten gar Kinder geboren.
Pressesprecher spricht von Schmutzkampagne
Seit 2000 ist Yves Jean-Bart Präsident des haitianischen Verbandes. Im Februar wurde er in seine sechste Amtszeit gewählt. Evan Niermann, eine Art Krisenmanager und derzeit Pressesprecher des Verbandes, spricht von einer Schmutzkampagne gegen Jean-Bart.
"Die Anschuldigungen sind alle falsch. Sie kommen von anonymen Quellen ohne den Fetzen eines Beweises. Jean-Barts Position als Fußballpräsident soll damit untergraben werden."
Schwerer Schlag für die FIFA
Die Ethik-Kommission der FIFA ermittelt. Nach Angaben des Weltverbandes würde man mit Experten und Organisationen in Haiti kooperieren. Währenddessen berichten Spielerinnen davon, dass sie und ihre Familien bedroht worden seien, damit sie ihre Anschuldigungen gegen Yves Jean-Bart fallen lassen.
Auch für die FIFA sind die Anschuldigungen ein schwerer Schlag. Erst vor einem Jahr wurde der Präsident des afghanischen Fußballverbandes lebenslang gesperrt. Die FIFA sah es damals als erwiesen an, dass Keramuudin Karim jahrelang mehrere Nationalspielerinnen sexuell missbrauchte. Als Reaktion darauf hatte die FIFA ein Kinderschutz-Programm ins Leben gerufen. | Von Robert Kempe | Der langjährige Präsident des haitianischen Fußballverbandes Yves Jean-Bart soll Spielerinnen sexuell missbraucht haben. Behörden und die FIFA Ethikkommission ermitteln. Spielerinnen berichten von Drohungen, damit sie ihre Anschuldigungen gegen Jean-Bart fallen lassen. | "2020-06-05T22:53:00+02:00" | "2020-06-06T09:03:42.560000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/missbrauchsvorwuerfe-haitis-fussball-praesident-unter-100.html | 1,023 |
"Buchpreisbindung wird uns einen fairen Wettbewerb garantieren" | Die Schriftstellerin Nina George (Maurice Kohl)
Doris Schäfer-Noske: Die Buchpreisbindung ist in der Diskussion – mal wieder. Zuletzt hatten sich die Bundespolitiker bei den Verhandlungen zu den Freihandelsabkommen für die Buchpreisbindung stark gemacht und argumentiert, dass Bücher eben keine Waren sind wie Zuckerrüben oder Stahl. Die festgelegten Buchpreise in Deutschland gelten als Garant dafür, dass das Kulturgut Buch geschützt wird - genauso wie kleine Buchhandlungen und Verlage.
Jetzt hat sich aber gestern die Monopolkommission, die die Bundesregierung berät, für die Abschaffung der Buchpreisbindung ausgesprochen – mit dem Argument, sie behindere den Wettbewerb und die Weiterentwicklung der Buchhändler. Kulturstaatsministerin Grütters reagierte darauf empört. Und auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Verlage üben heftige Kritik.
Ich spreche über das Thema jetzt mit Nina George. Sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin und hat die Informationsplattform "Fairer Buchmarkt" gegründet.
Stichwort: Fairer Buchmarkt. Die Monopolkommission begründet ihren Vorstoß damit, dass der kulturpolitische Mehrwert fraglich sei. Und dafür dürfe man einen so schwerwiegenden Markteingriff wie die Buchpreisbindung nicht zulassen.
Was ist denn dagegen überhaupt zu sagen, Frau George?
Nina George: Das Erstaunliche ist ja, dass die Buchpreisbindung nicht nur das Kulturgut Buch schützt, das ja auch von der Monopolkommission in Zweifel gezogen wird, aber sie schützt ja auch die konstant niedrigen Preise. Wenn man sich anschaut in Ländern, die Biotope sind, dessen was passiert, wenn die Buchpreisbindung fällt, dann haben wir zwei, drei Beobachtungen gemacht. Erstens – die Buchpreise steigen m Durchschnitt. Zweitens – der kleine, inhabergeführte Buchhandel stirbt. Und drittens – man muss viel mehr auf Bestseller setzen. Dadurch verschlanken sich die Programme, was eigentlich übersetzt heißt: Die Vielfalt der Literatur wird eingeschränkt. Und die Monopolkommission – sie wollen erst Monopole schaffen, nämlich von großen Ketten und von Amazon. Und allein das wäre ein gegenteiliger Markteingriff, den wir überhaupt gar nicht unterstützen dürfen.
Warnendes Beispiel: Großbritannien
Schäfer-Noske: Sie haben die anderen Länder genannt. Ich will mal die Schweiz nennen. Aber die Schweiz hat doch einen vielfältigen Buchmarkt, oder?
George: Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass im Kleinen sehr viel geschehen ist. Die Programme sind kleiner geworden. Verlage können sich nicht mehr leisten, auf Messen zu sein. Inhabergeführte Buchhandlungen haben es nach wie vor schwer. Auf der anderen Seite ist der Schweizer Buchmarkt auch ein relativ kleiner. Das heißt, es ist vielleicht nicht die beste Vorlage, dorthin zu schauen. Ich empfehle dann immer, nach Großbritannien zu schauen, die im Moment politische Bestrebungen anfangen, die Buchpreisbindung wieder einzuführen. Die Honorare für die Autorinnen und Autoren sind nach dem Fall der Buchpreisbindung stark gesunken, die Ketten können sich natürlich…also die großen Ketten, ich muss jetzt gar nicht immer Amazon zitieren, es würden ja auch die großen Ketten sein wie bei uns Hugendubel, Osiander, Mayersche, die profitieren würden. Aber alle die inhabergeführten Buchläden auch in Großbritannien haben es schwer, können immer schwerer überleben. Und das wirkt dann auch zurück auf den ganzen Topos einer Kleinstadt.
Schäfer-Noske: Ein Argument der Monopolkommission ist ja auch: Die Buchpreisbindung verlangsamt den Strukturwandel, den man letztlich sowieso nicht verhindern kann. Nun ist es so, wenn man weiß, dass sich was verändert, ist es da dann nicht besser, aktiv die Zukunft mitzugestalten als sich dann dauernd zu sperren, und irgendwann wird man dann davon überrollt?
George: Ich finde es ganz niedlich, dass Menschen, die offenbar weder Bücher verkaufen noch sonderlich viele Bücher lesen, über so etwas reden. Und das sind dann ja immer auch immer so "Buzzwords". Ich als Anwältin des Wortes muss da einerseits immer ein bisschen schmunzeln, wenn solche Wörter, die aus heißer Luft bestehen – wie zum Beispiel "Man muss den Strukturwandel nicht verhindern." – wissen die überhaupt, wovon die reden? Denn die Struktur, die wir haben, ist ja eine hochfunktionierende. Der Betrieb über den Buchhandel funktioniert immer noch besser als der Online-Buchhandel oder die Bestellung im digitalen. Der Buchhandel streckt sich in jede Gesellschaftsform hinein. Und dieses pessimistische "Wir können sowieso nichts dagegen tun" finde ich auch ganz niedlich. Die Buchpreisbindung wird uns Freiheit, Unabhängigkeit, literarische Vielfalt, Vergütung und tatsächlich auch einen fairen Wettbewerb garantieren. Dass nämlich die kleinen Buchläden immer auch noch dann existieren können, wenn ein großer es sich leisten könnte, nur noch Schleuderpreise anzulegen und sich dann auch nur noch auf die Bestseller zu konzentrieren. Das ist also ein völlig falscher Ansatz, der mir aber auch zeigt, dass eine Monopolkommission, die sich sonst mit Pharma und mit Medikamenten beschäftigt, das gleichzusetzen mit Büchern, dem Rückgrat der essenziellen Freiheit für eine denkende freie Gesellschaft – das finde ich, wenn es nicht so traurig wäre, sehr niedlich.
Europäische Gesetzgebung
Schäfer-Noske: Ja, auch der Europäische Gerichtshof wird in der Argumentation genannt, der die Buchpreisbindung für E-Books, die ja seit zwei Jahren gilt, möglicherweise nicht gelten lassen wird. Brauchen wir denn nicht überhaupt eine europäische Regelung für die Buchpreisbindung, oder nicht?
George: Das wäre einerseits sehr sinnvoll, andererseits haben wir 28 verschiedene Binnenmärkte, die auch unterschiedlich groß sind. Rumänien und Bulgarien haben zum Beispiel einen sehr kleinen Buchmarkt. Ungarn und Polen haben dann wiederum einen sehr hohen fremdsprachigen Anteil an Lizenzen. Aber grundsätzlich würde eine europaweite Festsetzung von Buchpreisen garantieren, dass sie dauerhaft niedrig bleiben. Und das darf man bei allem, was man so diskutiert – Wettbewerbsgleichheit, Wettbewerbsfreiheit – nicht vergessen.
Schäfer-Noske: Kulturstaatsministerin Grütters hat sich ja angesichts des Vorschlags fassungslos gezeigt. Können Sie sich vorstellen, dass die Bundesregierung die Buchpreisbindung kippt?
George: Dann würde sie dem zuwiderhandeln, was im Koalitionsvertrag steht. Und zum jetzigen Zeitpunkt kann ich mir das nicht denken. Die einzigen, die das befürworten könnten, wären jene, die vielleicht auf Wählerstimmensuche sind, und suggerieren, dass mit dem Fall der Buchpreisbindung alles besser wird für die Leserinnen und Leser. Das wird es aber nicht!
Schäfer-Noske: Sie selber sind ja eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin. Wie würde sich denn eine Abschaffung der Buchpreisbindung für andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller auswirken?
George: Die würden es schwer haben, in den Programmen der Verlage unterzukommen, weil die mehr und mehr auf Erfolgsgarantien ausgerichtet sind. Es gäbe weniger Debütanten, es gäbe weniger Experimente, und es gäbe auch weniger nötige Bücher, wo man eigentlich Hintergründe zum Beispiel erfährt über den armenischen Genozid. Und da muss man viel Geld reinstecken und weiß, hinterher kaufen es vielleicht trotzdem nur tausend Leute. Und wenn ein kleiner Verleger dann dafür kein Geld mehr hat, weil er einfach nicht mehr so viel Umsatz macht, wird er darauf verzichten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Nina George im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | Die Empfehlung der Monopolkommission, die Buchpreisbindung in Deutschland abzuschaffen, hat die Literaturbranche in Aufregung versetzt. Die Bestseller-Autorin Nina George sprach sich im Dlf für eine Beibehaltung der Regelung aus. Sie sorge für literarische Vielfalt und dauerhaft niedrige Buchpreise. | "2018-05-30T17:35:00+02:00" | "2020-01-27T17:54:32.809000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/buchhandel-buchpreisbindung-wird-uns-einen-fairen-100.html | 1,024 |
"Ich weiß nicht mehr, was ich lehren soll" | Das Tohoku-Beben, aber auch das Sumatra-Andamanen-Beben vom 26. Dezember 2004 und das Große Sichuan-Beben vom 12. März 2008 haben eines gemeinsam: Die Gefährdungsberechnungen erwiesen sich als falsch, was kam, war verheerender als angenommen. Die Idee hinter den Gefährdungskarten, dass sich in einem Gebiet Erdbeben wie ein Uhrwerk in mehr oder weniger gleichmäßigen Intervallen wiederholen, scheint nicht so recht zu funktionieren. Allein in Japan haben sich seit 1979 alle Erdbeben mit mehr als zehn Toten in Regionen ereignet, in denen die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens als gering galt. Deshalb hatte es bereits vor dem Tohoku-Beben vom 11. März Zweifel an der Aussagekraft dieser Karten gegeben. Was gestern galt, gilt heute nicht mehr…."Manuskript zur Sendung:""Ich weiß nicht mehr, was ich lehren soll""Weiterführende Links:"Seiten des Deutschlandradios: Neue Gefahr für Fukushima Daiichi (Forschung aktuell vom 14.02.12) Seismische Gefahr im Kaschmirtal (Forschung aktuell vom 09.01.12) Das Tohoku-Beben und die Erdbebenforschung (Forschung aktuell vom 29.08.11) Ortstermin in der Evakuierungszone (Aktuell vom 26.08.11) Auch der Osten kann beben (Forschung aktuell vom 24.08.11) Risiko ist höher als gedacht (Forschung aktuell vom 09.05.11) Erst Sendai, dann Tokio (Forschung aktuell vom 23.03.11)Links ins Netz: Nature: Erdbebenforschung nach Tohoku Nature: Porträt Seth Stein Seth Stein: Homepage Emile Okal: Homepage Rob McCaffrey: Homepage | Von Dagmar Röhrlich | Am 11. März 2011 traf ein Beben der Stärke 9 den Nordteil der japanischen Hauptinsel Honschu. Kurze Zeit später überrollte ein gewaltiger Tsunami die Küste der Region Tohoku. In der Folge gerieten vier Blöcke des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi außer Kontrolle. Erst im Dezember konnte die japanische Regierung verkünden, dass zumindest akut keine Gefahr mehr von der Anlage ausging.
| "2012-03-04T16:30:00+01:00" | "2020-02-02T14:00:50.872000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ich-weiss-nicht-mehr-was-ich-lehren-soll-100.html | 1,025 |
Wissenschaftler als Pioniere der Annäherung | Die Universität Beerscheva "Ben-Gurion University of the Negev" (picture alliance / dpa)
Es war eine Dienstreise, die Geschichte schrieb. Im Dezember 1959 reiste eine Delegation der Max-Planck-Gesellschaft, darunter ihr Präsident, der Chemie-Nobelpreisträger Otto Hahn, nach Israel. Empfangen wurden sie von Wissenschaftlern des Weizmann-Instituts, zuvorderst dem Physik-Professor Amos de-Shalit – es war der Beginn einer offiziellen Wissenschaftskooperation zwischen beiden Ländern.
Der Holocaust war gerade 14 Jahre her, und an reguläre politische Beziehungen war noch nicht zu denken. Doch in der Wissenschaft waren bereits zwei Jahre zuvor vorsichtig erste Fäden geknüpft worden, die nun zu diesem Treffen führten – Wissenschaftler als Pioniere der Annäherung.
Die Initiative ging von Israel aus. Dabei hatten sich die deutschen Wissenschaftsorganisationen in der NS-Zeit nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das galt für die Vorgängerorganisation der Max-Planck-Gesellschaft, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ebenso wie für die "Notgemeinschaft", aus der nach dem Krieg die Deutsche Forschungsgemeinschaft hervorging, hob deren Präsident Peter Strohschneider hervor. "Bereits im Mai 1933 wurde die erste jüdische Mitarbeiterin aus der Geschäftsstelle der 'Notgemeinschaft' entlassen, jüdische Wissenschaftler wurden von der Forschungsförderung ausgeschlossen, später forderte die 'Notgemeinschaft' Forschungsprojekte, die radikal unethisch und inhuman waren."
Heute arbeiten israelische und deutsche Universitäten in vielen Bereichen eng zusammen. Die DFG förderte seitdem – zumeist über ihre Tochter-Gesellschaft, die Minerva-Stiftung – 600 Einzelprojekte und 65 Projektkooperationen im Rahmen eines speziellen Exzellenzprogramms. Seit 1973 findet die Zusammenarbeit im politischen Rahmen eines offiziellen Kooperationsabkommens beider Wissenschaftsministerien statt.
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka: "Der DAAD förderte allein im vergangenen Jahr über 400 deutsche Studierende und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die zu Studienzwecken nach Israel gingen, und, fast genauso viele, 300 junge Israelis, die nach Deutschland kamen und hier studierten und forschten. Und es gibt 175 Partnerschaften von deutschen und israelischen Hochschulen."
Zusammenarbeit hatte wissenschaftliche und politische KomponenteRückblickend ist das alles andere als selbstverständlich. Als 1952 das Wiedergutmachungsabkommen zwischen Bonn und Tel Aviv geschlossen wurde, war die Stimmung noch sehr "frostig“, beschreibt Dan Diner, Historiker an der Hebrew-University in Jerusalem, in seinem Buch "Rituelle Distanz“ über die Annäherung zwischen beiden Staaten. Doch mit dem Zusammenschluss Europas in der Wirtschafts- und Atompolitik begann Israel, das selbst an Nuklearwaffen arbeitete, sich für den Austausch mit europäischen, auch deutschen Forschern zu interessieren. Die Zusammenarbeit habe von Anfang eine wissenschaftliche und politische Komponente gehabt, erklärt Diner. "Das ist eine doppelte Beziehung. Man darf nicht vergessen, die Bundesrepublik war auch sehr daran interessiert, mit Israel Wissenschaftsbeziehungen einzugehen, auch was die eigene Akzeptanz der deutschen Wissenschaft international anging. Das war in den 50er und 60er Jahren der Fall. Aber dann entdeckte man, dass es in Israel auch Bereiche gibt, in denen die israelische Wissenschaft, die israelische Forschung auch international führend ist." Doch es gab auch eine gemeinsame Tradition: Viele deutsch-jüdische Wissenschaftler hatten während der NS-Zeit Deutschland verlassen müssen. Zunächst war die Zusammenarbeit auf die Naturwissenschaften begrenzt.
"Und da auch keine angewandten Wissenschaften, sondern nur Grundlagenforschung. Und das hat viele Gründe gehabt, vor allem aber, dass man den Kontakt untereinander auf das Minimalste beschränken wollte. Bei den Anwendungswissenschaften wären Techniker und Ingenieure dabei gewesen, das wollte man nicht. Es waren nur die Köpfe, die miteinander in Kontakt waren." Heute ist das längst anders: Inzwischen arbeiten auch Geisteswissenschaftler in vielen gemeinsamen Projekten zusammen. Vor zwei Jahren wurde ein erstes deutsch-israelisches Graduiertenkolleg eingerichtet. Doktorandinnen und Doktoranden aus beiden Ländern arbeiten zum Thema "Menschenrechte unter Druck – Ethik, Recht und Politik". | Von Christiane Habermalz | Der Holocaust war gerade erst 14 Jahre her, als israelische und deutsche Wissenschaftler im Dezember 1959 eine Kooperation vereinbarten. Zunächst ging es dabei ausschließlich um Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften. | "2015-09-11T14:40:00+02:00" | "2020-01-30T12:59:07.672000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-israelische-forschungskooperation-wissenschaftler-100.html | 1,026 |
Was kann die europäische Staatsanwaltschaft? | Laura Kövesi wird die neue europäische Staatsanwaltschaft leiten (AFP / Kenzo Tribouillard)
Mitwirkende:
Peter Kapern, Dlf-Studio Brüssel
Valentin Markser, Vorsitzender Deutsche Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie | Von Katharina Peetz | Geldwäsche, Betrug, Korruption - die neue europäische Staatsanwaltschaft soll schneller und effektiver wegen Missbrauch von EU-Geldern ermitteln können. Wieso das jetzt besonders nötig ist und welche Länder nicht mitziehen. Außerdem: Psychische Gesundheit im Leistungssport - endlich kein Tabu mehr? | "2021-06-01T17:00:00+02:00" | "2021-06-02T14:55:11.336000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-was-kann-die-europaeische-staatsanwaltschaft-100.html | 1,028 |
EZB zieht den Stecker | Sitz der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main (dpa / Boris Roessler)
Die Ausgaben eines Staates etwa für Schulen, Straßen, Verwaltungspersonal werden durch Steuereinnahmen gedeckt. Reichen die nicht, macht ein Staat Schulden. Das meist in der Form, dass er Anleihen druckt und sie an Anleger verkauft. Der Anleger gibt Geld und erwirbt das Recht, in zum Beispiel fünf Jahren die gegebenen 1000 Euro zurückzuerhalten. Dazu einen jährlichen Zins.
Auch Griechenland hat über Jahre so Schulden aufgehäuft. So viel, dass sie rund 180 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung ausmachen – dreimal so viel, wie im Vertrag zur Gründung der Währungsunion erlaubt. Und als dann das linke Syriza-Bündnis mit einer Partei vom rechten Spektrum ein Bündnis einging und viel versprach, was nicht nach Reform klang, war klar.
"Die Kapitalmärkte werden Tsipras auf lange Sicht kein Geld mehr leihen."
... so Nicolaus Heinen von der Deutschen Bank.
Ein Instrument gestoppt, ein anderes läuft weiter
Das hatte sich schon lange angedeutet. Doch das Land brauchte Geld, machte weiter Schulden, verkaufte weiter Anleihen. Als Käufer kamen nur die griechischen Banken in Frage. Die holten sich das Geld dafür bei der Europäischen Zentralbank, machten also ihrerseits Schulden bei der EZB und reichten als Sicherheit die griechischen Staatsanleihen ein. Die waren zwar von schlechter Qualität. Aber die EZB akzeptierte sie – mit einer Sonderregel. Die verlangt vor allem, dass Griechenland sich an den mit EU, EZB und Internationalem Währungsfonds ausgehandelten Reformplan hält.
Doch der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hatte die Zusammenarbeit mit dieser Troika aufgekündigt und gestern der "Zeit" gesagt, er sei der Finanzminister eines bankrotten Staates. Da musste die EZB wohl den Stecker ziehen.
Aber es gibt eine weitere Liquiditätshilfe in der Not, die Emergency Liquidity Assistance, kurz: ELA. Das ist Geld, dass die griechische Notenbank in eigener Verantwortung druckt, für das die EZB also zunächst nicht haftet. Sie kann dieses Instrument aber mit Zwei-Drittel-Mehrheit im EZB-Rat untersagen. Dass sie es nicht tut, noch nicht tut, heißt: Die EZB hat zwar ein Instrument gestoppt, lässt ein anderes aber laufen.
Michael Schubert von der Commerzbank:
"Ein bisschen ist es linke Tasche, rechte Tasche. Mit der Ausnahme: Die Refinanzierung über diese Notfall-Liquidität ist für die Banken teurer als die normale über die EZB."
Dies wohl aus dem Grund: Ohne Geld könnten die Banken keinen Kredit geben und keinen verlängern. Sie müssten etwa Unternehmen und Bauherren die Kredite kündigen. Eine schwere Wirtschaftskrise wäre die Folge. | Von Michael Braun | Die Europäische Zentralbank will griechische Staatsanleihen nicht mehr als Sicherheit akzeptieren. Aber es gibt eine andere Liquiditätshilfe in der Not, die die Griechen derzeit nutzen. | "2015-02-05T13:15:00+01:00" | "2020-01-30T12:20:27.783000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-anleihen-ezb-zieht-den-stecker-102.html | 1,029 |
Keine Lobby für Menschenrechte | Weder die Niederlande, Flaggenstaat des Schiffes, noch die anderen Staaten, hätten auf die Anfrage der Sea-Watch 3 reagiert, sagte Sea-Watch 3 Einsatzleiter Hahn im Dlf (AFP / Local Team)
Peter Sawicki: Die "Sea-Watch 3", das Rettungsschiff, hatte in der vergangenen Woche Schlagzeilen gemacht. Kapitänin Carola Rackete, die unter Hausarrest stand und danach freikam, muss sich immer noch Kritik gefallen lassen. Sie übt umgekehrt Kritik, unter anderem an der Bundesregierung. Und am Dienstag muss sie sich noch einmal vor Gericht verantworten, ihr droht immer noch eine Anklage.
Eines der Mitglieder von "Sea-Watch 3", die mit an Bord waren während der Rettungsaktion von "Sea-Watch 3", ist der Einsatzleiter des Schiffes, Philipp Hahn – und er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Hahn!
Philipp Hahn: Schönen guten Morgen, Herr Sawicki!
Sawicki: Herr Hahn, blicken wir mal kurz auf die Schiffe, die derzeit unterwegs sind, die "Alan Kurdi" unter anderem. Haben Sie Kontakt zu den Mitgliedern dort?
Hahn: Wir sind in einem losen Kontakt mit den verschiedenen Rettungsorganisationen, dort wird sich immer wieder gegenseitig upgedatet, wie wir das nennen. Man versucht sich da gegenseitig auf der Höhe der Informationen zu halten. Und wir fiebern natürlich mit, dass die Menschen jetzt schnell an Land kommen.
Sawicki: Was wissen Sie über die Situation dort an Bord?
Hahn: Nun, ich weiß, dass das Schiff mit viel Mühe [unverständlich durch Leitungsaussetzer]-isation Sea Eye, dass sie sich viel Mühe gegeben haben, ein gutes Rettungsgerät zur Verfügung zu stellen. Aber es ist ein altes Forschungsschiff [längerer Leitungsaussetzer], sicherlich kein Schiff, das Menschen für längere Zeit an Bord beherbergen kann.
"Sea-Watch 3 ist vorübergehend beschlagnahmt"
Sawicki: Die Leitung ist derzeit etwas schlecht, Herr Hahn, wir versuchen das einfach noch mal kurz weiter. Zu Ihnen persönlich beziehungsweise den weiteren Crewmitgliedern der "Sea-Watch 3", wie ist Ihre Lage vor Ort in Italien?
Hahn: Nun, wir warten im Moment auf den Ausgang des gerichtlichen Prozesses dort. Wir, also die "Sea-Watch 3", das Schiff, ist vorübergehend beschlagnahmt. Das bedeutet dann für uns, dass wir im Hafen liegen und dort erst mal nicht weg können. Wir nutzen die Zeit natürlich, um nötigen Reparaturen an dem Schiff voranzubringen und das Schiff wieder insofern auszustatten, als dass wir damit schnell wieder in Einsatz können.
Sawicki: Warum sind Sie noch in Italien?
Hahn: Also einmal, da keine neue Crew derzeit an Bord kann beziehungsweise das immer wieder durch die Staatsanwaltschaft genehmigt werden muss, wer dort an Bord kann und wer nicht. Das heißt, ich warte jetzt erst mal darauf, dass eine neue Crew mich ersetzen kann und das genehmigt wird. Und das andere ist, dass es mir natürlich darum geht, einen halbwegs guten Abschluss unserer doch sehr turbulenten Mission zu gewährleisten.
Wir haben da ein Vorgehen, dass wir unsere Crew debriefen, wie wir das nennen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, die Geschehnisse zu reflektieren und da einen Abschluss unserer Unternehmungen auch in psychologischer Sicht zu gewährleisten.
"Man musste nach Lampedusa fahren"
Sawicki: Eine allgemeine Frage: Wie nehmen Sie die Debatte um die Seenotrettung derzeit wahr in der Politik?
Hahn: Na ja, wir verfolgen die Debatte ja schon lange und wir versuchen sie auch mit zu führen, schon seit Jahren, seit 2015, seit es Sea-Watch gibt. Und uns ging es stets darum, sicherzustellen, dass Menschen auf dem Mittelmeer nicht ertrinken. Das war und ist das Ziel von Sea-Watch, dafür zu sorgen, dass wir nicht weiter als Europäer zugucken, dass Menschen dort im Mittelmeer ertrinken müssen.
Für mich persönlich ist es sehr enttäuschend, zu sehen, dass es in all der Zeit der Politik nicht gelungen ist, eine anständige Lösung zu finden. Ich bin sicher, würde das Problem die deutsche Industrie betreffen, eine Lösung wäre schon längst gefunden. Allerdings, für Menschenrechte oder für das Leben von den Menschen dort, die sich da auf den Weg machen, scheint es eben eine entsprechende Lobby nicht zu geben. Und in der Situation befinden wir uns gerade.
Sawicki: Nun gibt es aber auch durchaus Zweifel daran, ob es notwendig war, nach Lampedusa zu fahren im Rahmen Ihrer Rettungsaktion – und zum Beispiel nicht nach Malta oder in andere Länder, die Ihnen möglicherweise freundlicher gegenübergestanden hätten. Warum haben Sie sich für Lampedusa entschieden?
Hahn: Na ja, dort hat ja das Gerichtsurteil der italienischen Richterin hier in Agrigent eigentlich eine klare Ansage gemacht insofern, als dass hier nach Seerecht und genauso nach geltendem italienischem Recht ganz klar kein anderer Hafen näher war als der Hafen der Insel Lampedusa. Man ist nach Seerecht gebunden, den nächsten Hafen anzulaufen. Und das Einzige, was zu beachten ist, dass dieser Hafen ein sicherer Hafen ist. Das bedeutet, dass den Menschen dort keine Verfolgung und keine Menschenrechtsverletzungen drohen.
Wenn Sie sich das auf der Karte angucken, dann sehen Sie ganz klar, man musste nach Lampedusa fahren. Und dann wieder auch unser Schiff, das ist ein hervorragendes Mittel, um Soforthilfe zu leisten, aber kein Kreuzfahrtschiff oder kein Schiff, dass die Sicherheit insofern gewährleistet, als dass damit längere Reisen zu unternehmen wären. Die Menschen haben ja dort auf unserem Achterdeck kampiert und mussten das die Tage aushalten.
EU-Staaten "waren vor allem inaktiv"
Sawicki: Sie waren ja etwa zwei Wochen im Mittelmeer unterwegs. Wäre es da nicht möglich gewesen, einen anderen Hafen anzusteuern?
Hahn: Nun, wir haben ja von Anfang an die Regierung beziehungsweise die verantwortlichen Seenotrettungsstellen gebeten, uns einen Hafen zuzuweisen, die wären dafür verantwortlich gewesen, genauso wie unser Flaggenstaat, das sind die Niederlande, in der Verantwortung gestanden hätte, unserer Kapitänin eine schnelle Lösung für das Problem, dass man 54 Menschen gerettet hat und auf Deck provisorisch versorgen muss, ihr dort die Möglichkeit zu geben, einen Hafen anzulaufen.
Wir haben diese Forderung gestellt, wir haben uns komplett an die Maßgaben gerichtet, die dort das Seerecht an Schiffsführungen stellt. Und jegliche Reaktion blieb aus. Die Niederlande haben sich komplett weggeduckt, haben nichts unternommen. Und auch die anderen Staaten waren vor allem inaktiv - beziehungsweise Italien, die ja mit einem neuen Gesetz dafür gesorgt haben, dass der Eindruck entstand, dass juristische Verfolgung droht, wenn man denn Gerettete in einen italienischen Hafen bringt – was auch von der Richterin dann komplett entkräftet wurde.
Das Gesetz als solches ist keine Handhabe, um zivile Seenotretter in irgendeiner Form aufzuhalten.
Sawicki: Ganz kurz noch mit Blick auf den Termin am kommenden Dienstag. Sehen Sie es auch so wie Carola Rackete, sehen Sie sich im Recht?
Hahn: Also, selbstverständlich haben wir genau das getan, was notwendig war. Man wächst ja auch stark zusammen mit den Menschen, die man dort rettet, die man dort tagelang versucht zu versorgen und für deren Wohlergehen man sorgt. Wir haben natürlich… Unser Ziel ist es, die Menschen so schnell wie möglich an Land zu bringen, und dementsprechend glaube ich, haben wir genau das Richtige getan, um dort zu warten und dafür zu sorgen, dass sie an Land kommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. | Philipp Hahn im Gespräch mit Peter Sawicki | Man sei nach Seerecht gebunden, den nächsten Hafen anzulaufen, sagte Philipp Hahn, Einsatzleiter von Sea-Watch 3, im Dlf. Darum musste Kapitänin Rackete Lampedusa ansteuern. Hahn zeigte sich enttäuscht, dass es der Politik bisher nicht gelungen sei, bei der Seenotrettung "eine anständige Lösung" zu finden. | "2019-07-06T08:11:00+02:00" | "2020-01-26T23:00:48.853000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/sea-watch-3-einsatzleiter-keine-lobby-fuer-menschenrechte-100.html | 1,030 |
NBA-Playoffs - abgeschirmt vom Rest der Welt | Das Field House, eine der Hallen für die NBA-Playoffs im Disney-World-Komplex in Orlando/Florida (www.imago-images.de)
Im März war Schluss mit Profi-Basketball: Mehrere Spieler hatten sich mit dem Corona-Virus infiziert, die Profi-Liga NBA stoppte den Spielbetrieb, mitten in der Saison. Der oberste NBA-Manager Adam Silver erklärte dem Magazin Time, ihrem Verständnis nach werde das Virus nicht so schnell verschwinden.
Sie hätten nach einem Weg gesucht, wie es weitergehen könnte.
Die Antwort der NBA ist die so genannte "Bubble". Dafür mietete sie 22 Teams in Disney World in Florida ein. In dieser Bubble leben die Spieler und ihre engsten Betreuer, abgeschirmt vom Rest der Welt.
Nicht wirtschaftlich - aber interessant?
Etwas für die Fans tun, das Gemeinschaftsgefühl stärken – das sind die offiziellen Gründe, warum die NBA so schnell wieder starten will. Silver sagte, die Bubble sei nicht wirtschaftlich: Es sei ziemlich teuer, und weil es keine Zuschauer gibt, fehlten die Ticket-Einnahmen.
Dafür bekommen die Fans neue Einblicke in das Leben ihrer Stars – durch die Sozialen Medien. Die Bubble wurde zu einem Hit: Die Fans können verfolgen, wie die Spieler trainieren, sich über das Essen beschweren oder sich die Zeit vertreiben, beim Angeln zum Beispiel. Der Spieler Terrence Ross filmte sich bei einem der regelmäßigen Corona-Test – mit dem Wattestab tief in die Nase:
Die regelmäßigen Tests aller Beteiligten gehörten zum Kern des Bubble-Konzeptes. Damit wollen die Verantwortlichen vermeiden, dass sich das Virus unter den Spielern unbemerkt ausbereiten kann.
Streit um Bevorzugung bei Corona-Tests
Allerdings sind Tests in den USA noch immer knapp, Patienten müssten teilweise tagelang auf ihr Ergebnis waren. Experten wie der Epidemiologe Zach Binney von der Emory Universität kritisieren darum, dass die Sportler bevorzugt behandelt werden. Er sagte bei NPR, ihm gehe es nicht um die Optik, sondern die Ethik.
Binney kritisierte, das beauftragte Labor verarbeite die Spieler-Proben viel schneller als Proben der übrigen Patienten. Das Labor BioReference verteidigte sein Vorgehen. Geschäftsführer Jon Cohen sagte, sie passten ihre Test-Verfahren den Kunden-Wünschen an. Er verteidigte grundsätzlich ihren Einsatz für die Sportligen. Sie wollten diese Branchen unterstützen. Es gehe um echte Jobs.
Tausende Menschen würden für die Sportligen arbeiten. Sie unterstützten den wirtschaftlichen Neustart, wenn sie großen Arbeitgeber helfen.
"Black lives matter": NBA muss Haltung finden
Nicht nur der Umgang mit dem Corona-Virus wird genau beobachtet: Die NBA musste auch eine Haltung finden zu den Protesten in diesem Sommer in den USA. Sie richten sich gegen übermäßige Polizeigewalt und Rassismus. Liga-Manager Adam Silver verwies darauf, dass rund drei Viertel der Spieler schwarz seien.
Sie gehörten vielleicht zu den prominentesten Schwarzen der Welt und würden ihre Hautfarbe und Identität nicht ablegen, wenn sie Basketball spielten.
Auf den Spielfeldern steht groß der Schriftzug "Black lives matter". Der entscheidende Test für die Liga wird aber sein, wie sie damit umgeht, wenn Spieler während der Nationalhymne knien. Das verstößt grundsätzlich gegen die Regeln. Silver sagte, man werde mit der Situation umgehen, wenn es so weit sei. Laut Medienberichten planen einige Spieler bereits, zu knien statt zu stehen.
Der Protest wird vielfältig sein: Spieler tauschen ihre Namen auf den Trikots gegen entsprechende Botschaften aus. Viele von ihnen verwiesen zum Beispiel auf den Tod von Breonna Taylor. Die Afro-Amerikanerin war bei einem Polizei-Einsatz in ihrem Bett erschossen worden. Lakers-Star LeBron James erwähnte ihr Schicksal mehrmals.
Er habe sich noch nie gescheut, über Dinge zu sprechen, die nicht nur ihn, sondern alle Afro-Amerikaner beträfen.
Lebron James: "Eigene Energie erzeugen"
Wie geht sie mit Protesten um, kann sie das Corona-Virus in Schach halten – daran wird die NBA gemessen werden. Die Fans werden auch genau darauf schauen, ob die Spiele vor leeren Rängen genauso spannend sein werden wie in einem vollen Stadion. LeBron James sagte, ohne Fans müssten sie ihre eigene Energie erzeugen.
Die Liga will mit technischen Neuerungen Spannung erzeugen: Die Spielfelder sind mit großen Video-Leinwänden umstellt. Dort sollen zum Beispiel ausgewählte Fans zu sehen sein. Geplant ist eine künstliche Lärm-Kulisse, die Fans per App beeinflussen können. | von Jan Bösche | Die NBA startet am Freitag in ihre Playoffs - in einem abgeschirmten Bereich im Sportkomplex von Disney World und ohne Fans. Und die Liga muss weitere Fragen beantworten. | "2020-07-26T19:23:00+02:00" | "2020-07-27T09:59:22.664000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/basketball-nba-playoffs-abgeschirmt-vom-rest-der-welt-100.html | 1,031 |
Erste Bilanz der Regierung Macri fällt bescheiden aus | Präsident Mauricio Macri wollte eigentlich die Inflation verringern, das gelang ihm bisher nicht. (picture alliance / dpa / David Fernandez)
Plaza de Mayo, der Platz vor dem Regierungsgebäude in Buenos Aires. Dies ist der Ort in der argentinischen Hauptstadt, an dem traditionell politische Kundgebungen und soziale Proteste stattfinden. Zurzeit wird hier häufig demonstriert. An diesem Vormittag sind es Lehrer und andere Staatsangestellte, die eine bessere Bezahlung fordern. Maria arbeitet als Hilfskraft an einer Schule:
"Es ist das erste Mal, dass ich auf die Straße gehe. Mein Lohn reicht wirklich nicht aus. Bei den Tarifverhandlungen wurde eine Erhöhung von 15 Prozent vereinbart, aber seitdem haben unsere Gehälter ständig an Kaufkraft verloren. Das liegt an der Peso-Entwertung, der Inflation ... Und die gestiegenen Kosten für Strom, Gas und Wasser – die schlucken heute unseren ganzen Lohn!"
Auch Marias Kollegin Elsa demonstriert zum ersten Mal in ihrem Leben. Umgerechnet 240 Euro verdienen die beiden Frauen netto. Ein Viertel davon, 60 Euro, betrug die letzte Gasrechnung, die Elsa ins Haus flatterte. Gerade Geringverdiener, aber auch viele Angehörige der Mittelklasse sowie kleine und mittelständische Betriebe ächzten in den vergangenen Monaten unter den kräftigen Erhöhungen der Tarife für den Energieverbrauch. Der Tarifazo, wie die Argentinier den massiven Anstieg nennen, hat Präsident Mauricio Macri die erste handfeste Krise beschert. Am Donnerstag erreichte sie ihren vorläufigen Höhepunkt: Das Oberste Gericht stoppte die Gaspreis-Erhöhung für Privathaushalte. Die Regierung ist nun gezwungen, bis auf Weiteres zu den alten Tarifen zurückzukehren. Und sie muss öffentliche Anhörungen zur beabsichtigten Preisanhebung abhalten – was sie bisher versäumt hatte. Der Politologe Rosendo Fraga erklärt:
Um neue Investitionen wirbt Macri hartnäckig – mit wenig Erfolg
"Der Fehler der Regierung war nicht nur die Erhöhung der Tarife ohne vorherige öffentliche Anhörungen, sondern auch das Timing. Die Anhebung der Energiepreise auf das Vier- bis Fünffache ausgerechnet im argentinischen Winter bedeutete, dass die Leute de facto zehn oder 20 Mal mehr bezahlen mussten!"
Mit den höheren Tarifen hatte Macris Regierung der Energiekrise begegnen wollen, womit im Prinzip viele Argentinier einverstanden sind. Im vergangenen Jahrzehnt waren Strom, Wasser und Gas für die Verbraucher spottbillig. Die Kirchner-Regierungen hatten die Preise durch Subventionen künstlich niedrig gehalten. Aber die Unternehmen investierten kaum in die Energie-Erzeugung. Eine der Folgen: häufige Stromausfälle. Energieminister Juan José Aranguren: "Unser Ziel bleibt, dass Argentinien ausreichend Energie produziert. Wir müssen erreichen, dass Energie nicht importiert, sondern in unserem Land erzeugt wird. Und wir brauchen eine bessere Versorgung der Haushalte und Industrie mit Strom und Gas. Nur so kann Argentinien attraktiv für Investoren werden."
Um neue Investitionen wirbt Präsident Macri hartnäckig – doch bisher mit wenig Erfolg. Die kränkelnde Wirtschaft, die ihm Vorgängerin Cristina Kirchner hinterlassen hat, ist weiter geschrumpft. Die Argentinier konsumieren weniger – wegen des Tarifazo und wegen der Inflation, die Macri eigentlich verringern wollte, die aber bis Jahresende die 40-Prozent–Grenze überschreiten wird. All dies hat die soziale Lage im Land verschärft. Von seinem Wahlkampf-Versprechen "Mehr Jobs, null Armut" ist Macri weit entfernt. Es gab Entlassungen und die Armutsrate liegt bei mehr als 30 Prozent – höher als am Ende der Ära Kirchner. Agustín Salvia, Sozialforscher der Katholischen Universität in Buenos Aires:
Argentinien der zwei Geschwindigkeiten
"Die Korrekturen in der Wirtschaftspolitik, vor allem die Währungsabwertung, haben zu mehr Armut geführt. Aber diese Regierung hat die Krise nicht verursacht, sondern geerbt. Sie versucht, die Folgen der Anpassungs-Maßnahmen abzumildern, etwa durch ermäßigte Bus- und Bahn-Tickets für die Armen und durch Sozialhilfe, aber das sind alles nur Pflästerchen."
Und diese änderten nichts an der strukturellen Ungleichheit, sagt Salvia – am Argentinien der zwei Geschwindigkeiten:
"Da ist das dynamische Argentinien, das Kapital anhäuft und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze bietet. Und da ist das Argentinien der prekären Jobs, der wirtschaftlichen Ausgrenzung, in der die Armut verwaltet wird und viele keine Chance auf sozialen Aufstieg haben."
Ob der Wirtschaftsliberale Macri an dieser Situation etwas ändern kann und will, bleibt abzuwarten. Fürs Erste muss er einen Popularitätsverlust hinnehmen. Das Hin und Her des Tarifazo, Inflation und Rezession ließen seine Beliebtheit einer aktuellen Umfrage zufolge auf 46 Prozent sinken. Aber noch traue eine Mehrheit dem Präsidenten zu, die Schwierigkeiten zu überwinden, meint der Meinungsforscher Jorge Giacobbe. "Die meisten Argentinier geben der alten Regierung die Schuld für die derzeitigen Probleme. Allerdings ändert sich das langsam. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr werden die Leute Macris Regierung verantwortlich machen."
Maria, die auf der Plaza de Mayo protestiert, tut das jetzt schon.
"Die Leute demonstrieren nicht, wenn es ihnen gut geht - sondern wenn sie wirklich schlecht dran sind." | Von Victoria Eglau | Der argentinische Präsident Mauricio Macri ist seit Dezember 2015 im Amt. Bereits im Wahlkampf hatte er angekündigt, die staatlichen Subventionen des Energieverbrauchs abzubauen, vor vier Monaten beschloss die Regierung einen kräftigen Anstieg der Gaspreise. Die Folge waren Proteste gegen Macri, dessen Beliebtheit stark gesunken ist. | "2016-08-20T13:30:00+02:00" | "2020-01-29T18:48:30.961000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/argentinien-erste-bilanz-der-regierung-macri-faellt-100.html | 1,032 |
Mediterrane Kost hat Einfluss auf Alterung des Gehirns | Ein Fischgericht auf Korsika. (imago / blickwinkel / P.Royer)
Die Mediziner der Universität Edinburgh in Schottland haben laut der Studie festgestellt, dass es bei Menschen, die auf mediterrane Ernährung setzen, zu einem langsameren Rückgang des Hirnvolumens kommt, berichtet Martin Winkelheide im Gespräch mit Carsten Schroeder.
Das vollständige Gespräch können Sie sechs Monate in unserer Mediathek hören. | Martin Winkelheide im Gespräch mit Carsten Schroeder | Die traditionelle Mittelmeerküche mit Olivenöl statt Butter, viel Fisch und reichlich Gemüse und Salat steht bei Ernährungswissenschaftlern hoch im Kurs. Der gesundheitliche Nutzen wurde auch schon in zahlreichen Studien untersucht. Jetzt berichten schottische Forscher, dass die mediterrane Ernährung auch Einfluss auf Prozesse im Gehirn hat. | "2017-01-17T10:10:00+01:00" | "2020-01-28T09:29:19.806000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/ernaehrung-mediterrane-kost-hat-einfluss-auf-alterung-des-100.html | 1,033 |
Was die Wahl Bidens für den Sport bedeutet | Organisationen wie die FIFA oder das IOC werden es unter Biden schwerer haben als unter Trump, sagt SZ-Redakteur Thomas Kistner. (Getty / Drew Angerer)
Joe Biden ist zum 46. Präsidenten der USA gewählt worden und folgt damit auf Donald Trump. Laut Thomas Kistner von der "Süddeutschen Zeitung" hat die Wahl Bidens auch große Bedeutung für die Sportwelt in den USA. Denn der 77-Jährige habe sich in seiner Karriere immer wieder als Mann des Sports gegeben. "Joe Biden hat eine ganze Reihe herausragender Aktivitäten in den Sportbereichen vorzuweisen, in denen er auch bald als Präsident gefragt sein wird", sagte Kistner.
"In der Sportpolitik hat Biden definitiv eine ganz andere Expertise als der Golfspieler Trump, der Sport hauptsächlich als Instrument für seine Selbstpropaganda genutzt hat", so Kistner. "Dann wird sich das Weiße Haus unter Biden auch wieder zu einem Begegnungsort patriotisch veranlagter US-Athleten verwandeln. Unter Trump war der Präsidentensitz zu einer Tabu-Zone verkommen." So weigerten sich unter anderem die US-Fußball-Weltmeisterinnen und Basketball-Teams aus der NBA nach einem Titelgewinn ins Weiße Haus zu kommen.
Akzente in Anti-Doping-Kampf
Insbesondere in der Doping-Bekämpfung und der Bekämpfung von Sport-Kriminalität habe Biden laut Kistner seit den 80er-Jahren immer wieder Akzente gesetzt. Biden sei es zu verdanken, dass die Anti-Doping-Gesetze in den USA schärfer geworden sind. So habe er aktiv dazu beigetragen, den Steroid-Handel in den USA illegal zu machen. "Gerade für diesen Präsidenten ist Doping kein Neuland", so Kistner.
"Einfach viel zuhören"Die NBA machte in diesem Jahr politische Schlagzeilen: die Spieler streikten, um auf Rassismus aufmerksam zu machen. Der deutsche Spieler Daniel Theis hat die Diskussionen um Aktionen der Spieler unmittelbar miterlebt.
Auch FIFA-Boss Gianni Infantino, ein Freund Donald Trumps, dürfte es laut Kistner mit Biden schwieriger haben: "Vermutlich wird ein Besucher wie Gianni Infantino gar keinen Fuß in Bidens Oval Office setzen dürfen, solange er das Subjekt einer Strafermittlung der Schweizer Bundesjustiz ist." Mit Biden werden wieder Seriosität und politische Programmatik ins Weiße Haus einziehen, sagte Kistner. "Was das heißt, hat die FIFA schon einmal erlebt, in der Zeit vor Trump, als das FBI bei ihr in der Schweiz einmarschiert ist. Auch in der Zeit war Biden im Amt, als Vizepräsident der Obama-Regierung." Ohne Trump bleibe nun auch der WM 2026 in Mexiko, Kanada und den USA ein Reizthema erspart. Schließlich wollte Trump noch eine Mauer zu Co-Gastgeber Mexiko bauen. "Dieser Spuk ist nun vorbei", sagte Kistner.
Biden ein Problem für das IOC
Für das Internationale Olympische Komitee (IOC), das 2028 Olympische Spiele in Los Angeles austragen will, stelle Biden ebenfalls ein Problem dar. "Biden kann in einem zentralen olympischen Thema nicht hinter sein Lebenswerk zurücktreten und das ist die harte, seriöse Doping-Bekämpfung. Wir wissen wie wachsweich das IOC in dieser Frage ist", sagte Kistner. "Brandgefährlich" für den olympischen Betrieb sei auch der Chef der amerikanischen Anti-Doping-Agentur Usada, Travis Tygart, der schon Radprofi Lance Armstrong überführt hat. "Und Biden ist ein Präsident, der ihn in den nächsten vier Jahren sicher nicht an die Leine legen wird." | Thomas Kistner im Gespräch mit Marina Schweizer | Joe Biden löst Donald Trump als Präsident der USA ab. Der 77-Jährige habe sich in seiner Karriere immer wieder als Mann des Sports gegeben, sagt SZ-Redakteur Thomas Kistner im Dlf, vor allem im Kampf gegen Sport-Kriminalität. FIFA-Boss Gianni Infantino und das IOC werden es unter Biden schwerer haben. | "2020-11-08T19:17:00+01:00" | "2020-11-09T11:34:07.760000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/us-praesident-was-die-wahl-bidens-fuer-den-sport-bedeutet-100.html | 1,034 |
"Zuwanderung ist ein Gewinn" | Zwei vietnamesische Arbeiter bei ihrer Ausbildung zu Mechatronikern in Chemnitz - Deutschland bleibt bei Zuwanderern beliebt. (dpa / picture-alliance / Hendrik Schmidt)
Wer Menschen zu sich locken will, der muss sich anstrengen. Wie attraktiv ist Deutschland für Fachkräfte aus dem Ausland? Darüber möchte ich sprechen mit Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Grüße nach Berlin!
Achim Dercks: Ja, Grüße zurück nach Köln!
Schulz: Im Migrationsbericht, den das Bundeskabinett ja heute beraten hat, steht der kleine aber feine Satz, die Bundesrepublik habe an Attraktivität noch hinzugewonnen. Sehen Sie das ähnlich?
Dercks: Ja, die Zahlen belegen es ja insofern, als wir in der Tat große Nettozuwanderung im Jahr 2013 hatten, und jetzt, im gerade abgelaufenen Jahr 2014 ja nach Einschätzungen noch einmal mehr. Das gilt insbesondere für die EU-Nachbarstaaten, denn Zweidrittel der Nettozuwanderung kommt ja von unseren Nachbarn. Und das hängt mit den dortigen Krisen zusammen, also nicht nur mit der Attraktivität Deutschlands absolut, sondern auch relativ vielleicht zu den dortigen Arbeitsmärkten. Und das ist aber gut für uns, denn, wie Sie anmoderiert haben, in der Tat: Die Demografie schlägt zu, wir brauchen Fachkräfte, und der Zuwachs der Erwerbstätigkeit, der Anstieg der Steuereinnahmen, all das ist in den letzten zwei Jahren auch auf die Zuwanderung und die Integration in den Arbeitsmarkt zurückzuführen.
Schulz: Aber das heißt ja, dass wir von den Krisen in anderen Staaten, ich nenne es mal profitieren, obwohl viele Leute immer noch davon sprechen, dass wir in Deutschland nicht wirklich eine Willkommenskultur haben, weil ja immer noch potenzielle Arbeitskräfte klagen, dass sie bei deutschen Behörden jetzt nicht mit offenen Armen empfangen werden, dass ihre Abschlüsse nicht oder nur unzureichend anerkannt werden – tun wir denn da wirklich genug?
Thema Willkommenskultur
Dercks: Zum einen ist es sicherlich so, dass die Arbeitsmarktperspektiven in Deutschland so gut sind, dass sich eben gerade junge Leute aus den Nachbarländern auf den Weg machen und sagen, ich schaff das schon. Auf der anderen Seite hat sich beim Thema Willkommenskultur sicherlich das eine oder andere getan, denn auch in Umfragen zeigt sich, dass die Zustimmung zu qualifizierter Zuwanderung in der Bevölkerung ja zugenommen hat. Gleichzeitig haben Sie natürlich recht: Wir müssen und können da besser werden. Aber es gibt auch in vielen Regionen ja Überlegungen, Welcome-Center, wie das dann in Neudeutsch heißt, wo Ausländerbehörden auch mit Kammern zusammen mit weiteren Beteiligten sich aufmachen, diese Willkommenskultur ganz praktisch auch in eine Willkommensstruktur vor Ort zu überführen und damit auch ein positives Signal zu senden.
Schulz: Schauen wir noch auf andere Akteure, und zwar auf die Unternehmen selbst. Inwieweit müssen die denn sich bewegen oder Maßnahmen anbieten, um attraktiver zu werden. Also zum Beispiel Sprachkurse oder Dual-Career-Optionen oder dergleichen?
Dercks: Ja, das ist in der Tat ja eine Herausforderung, der sich die Unternehmen jetzt gerade die letzten Jahre stellen. Es war lange Zeit eben nicht das große Thema, weil Deutschland nicht so viel Zuwanderung hatte, weil die Gesetze andere waren, weil die Krisen noch nicht da waren. Und jetzt beginnen Unternehmen hier auch zu lernen und sich zunehmend zu engagieren. Es geht aber auch nicht allein mit den Unternehmen. Man braucht immer Netzwerkpartner in der Region, denn gerade junge Menschen brauchen auch eine Begleitung außerhalb des Betriebs. Da können die Betriebe selber natürlich helfen, gerade Kollegen können auch helfen. Aber, Stichwort Sprachkurse, ist natürlich die Masse der Unternehmen auch überfordert, weil Deutschland mittelständisch geprägt ist und so ein Betrieb mit 50 Leuten eben keinen Deutschkurs anbieten kann. Um so wichtiger ist, dass hier auch politischerseits bei Deutschkursen mehr investiert wird, denn das ist im Vergleich auch zu anderen Ländern natürlich unser Hauptnachteil. Deutsch ist nun mal keine Weltsprache, und um so wichtiger ist es, Menschen, die herkommen und hier arbeiten wollen, da auch zu helfen. Gleichwohl gilt, die Integration in den Betrieb ist natürlich eigentlich auch die wichtigste Voraussetzung, um auch im Alltag sozusagen in die deutsche Sprache dann rein zu kommen.
Schulz: Die Politik debattiert ja derzeit wieder über ein mögliches Zuwanderungsgesetz. Wie muss denn aus Ihrer Sicht, aus Sicht des DIHK, ein solches Gesetz gestaltet werden?
Vom Wettstreit geprägte öffentliche Debatten
Dercks: Im Moment sind die öffentlichen Debatten ein bisschen sozusagen auch vom politischen Wettstreit ja geprägt und nicht unbedingt von der Suche nach der richtigen Detaillösung. Wir haben ja die letzten Jahre am Zuwanderungsrecht durchaus vieles geändert und auch verändert. Zum Beispiel die OECD sagt, wir haben eine der liberalsten Zuwanderungsregelungen in der ganzen Welt. Also so ganz schwarz-weiß wie vielleicht noch vor zehn Jahren ist das alles nicht mehr. Aus unserer Sicht gibt es natürlich Verbesserungsmöglichkeiten an einzelnen Stellen, zum Beispiel die Frage, wie können wir auch mit dem Flüchtlingsstrom so umgehen, dass diejenigen, die für die Unternehmen attraktiv sind, als Azubis oder als Beschäftigte dort auch eine Chance bekommen. Aber das ist ein schwieriges Thema. Wir haben das Thema Deutschkurse, wo mehr investiert werden muss. Und wir haben, wie bereits angesprochen, eigentlich die Hauptherausforderung, eine Willkommenskultur weiter zu etablieren. Dafür müssen wir klarer machen, dass Zuwanderung ein Gewinn ist, gerade wenn die Menschen eben den Fachkräftemangel vorbeugen und dadurch auch helfen, Steuerzahlungen in Deutschland zu tätigen und letztlich auch die Renten sozusagen des älter werdenden Deutschlands mit zu finanzieren.
Schulz: Sie haben jetzt gerade Flüchtlinge angesprochen. Was ist denn mit diesen jungen Menschen, die hier lernen wollen, die eine Ausbildung machen wollen. Inwieweit sind die denn hier willkommen?
Dercks: Wir haben hier ja zwei sozusagen – wir haben auf der einen Seite das Asylverfahren, das ja aus guten Gründen sich an anderen Kriterien ausrichtet als an der Arbeitsmarktbefähigung der Menschen, die zu uns kommen. Gleichwohl gibt es eben die Schnittstellen. Wir haben gerade im Bereich der Ausbildung ja heute schon viele Betriebe, die händeringend Azubis suchen, sodass hier an erster Stelle eben auch Betriebe uns sagen, wieso können wir keine Sicherheit haben, dass ein solcher Azubi, der im Asylverfahren ist, unabhängig vom Ausgang dieses Verfahrens auf jeden Fall seine Ausbildung zu Ende machen kann. Und wenn er denn dann integriert ist und Deutsch kann und auch eine Stelle in diesem Beruf, womöglich sogar im gleichen Betrieb findet, dann da bleiben kann – also hier sozusagen nachzusteuern, ist sicherlich wichtig, im Interesse der jungen Menschen, aber eben auch im Interesse Deutschlands, weil wir diesen Fachkräftemangel sozusagen aus gemeinsamem Interesse der hier Lebenden bekämpfen sollten.
Schulz: Sagt Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Vielen Dank!
Dercks: Ja, vielen Dank, Herr Schulz! Gern geschehen! | Achim Dercks im Gespräch mit Benedikt Schulz | Wegen des Fachkräftemangels ist gerade die deutsche Wirtschaft auf qualifizierte Ausländer angewiesen. Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag, sagte im Deutschlandfunk, die Hauptherausforderung sei es, eine Willkommenskultur weiter zu etablieren. | "2015-01-21T14:35:00+01:00" | "2020-01-30T12:18:02.320000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/arbeitsmigration-zuwanderung-ist-ein-gewinn-100.html | 1,035 |
"Es geht mir nicht um Realos und Fundis" | Dirk Müller: Und Bodo Ramelow, eben Fraktionschef der Linken im thüringischen Landtag ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!Bodo Ramelow: Guten Morgen!Müller: Unterstützen Sie immer noch einen Königsmörder?Ramelow: Tja, wissen Sie, ich habe jetzt aufmerksam Ihren Beitrag gehört. Interessant für mich war, dass die Stimmen, die alle gesagt haben, wir brauchen jetzt einen Neuanfang oder wir brauchen eine Neuorientierung, alles Stimmen waren von ehemaligen Sozialdemokraten. Da ich nie Sozialdemokrat war, kenne ich den Phantomschmerz nicht, den die Genossen jetzt dort offenbar haben, und ich weiß nicht, warum Dietmar Bartsch ein Königsmörder sein soll, weil ich nicht wusste, dass Oskar Lafontaine ein König ist. Ich weiß auch nicht, was Böcke sind, die aufeinander zugehen. Ich kann nur sagen, dass das Teamspiel in der Tat seit einiger Zeit sehr durcheinandergeraten ist, weil wir weder einen Schiedsrichter noch einen ordentlichen Trainer hatten, weil derjenige, der immer von Schuld redet, den ich gerade gehört habe, das Wort Verantwortung, der Führungsverantwortung offenbar überhaupt nicht kennt. Wir haben eine Situation, dass wir ohne ein Personaltableau in diesen Parteitag gehen, und dafür mache ich den Parteivorsitzenden beziehungsweise den Parteivorstand in Gänze verantwortlich.Müller: Was haben Sie denn gegen ehemalige Sozialdemokraten?Ramelow: Überhaupt nichts. Wir haben gemeinsam eine Partei auf den Weg gebracht, die sich plural aushalten wollte. Aber es geht nicht darum, ob wir alte Bilder, die jemand in sich trägt, abarbeitet, und wenn ich Ulrich Maurer eben gehört habe, habe ich so ein bisschen das Gefühl, dass es da auch noch eine Auseinandersetzung mit einer ehemaligen Partei gibt. Ich weiß nicht, was Bartschisten sind, ich weiß auch nicht, was Lafontainisten sind. Ich kenne nur die Partei Die Linke, und ich habe das Gefühl, dass die zehn Prozent unserer Partei, die in Strömungen organisiert sind, tatsächlich im Moment eine Auseinandersetzung inszenieren, die 90 Prozent unserer Mitglieder völlig außen vor lässt. Und die 90 Prozent, die keiner Strömung angehören – ich gehöre auch keiner Strömung an –, die haben das Gefühl, zu Zuschauern degradiert worden zu sein in einem Spiel, wo sich Akteure der Bundestagsfraktion mit dem Parteivorstand wechselseitig in Schach halten. Und da haben wir seit zwei Jahren Stagnation.Müller: Wir haben in den vergangenen Monaten, Bodo Ramelow, ja gleich mehrfach über den Kurs beziehungsweise auch über den Konflikt innerhalb der Linkspartei gesprochen. Hätten wir das vor zwei, drei Jahren gemacht an dieser Stelle, hätten Sie da auch schon gewusst, dass die Gräben so tief sind?Ramelow: Ich ahnte, dass es Unterschiede gibt, und das sind nicht nur West-Ost-Unterschiede, es sind in der Tat politische, konzeptionelle Unterschiede, die eher dahin gehen, dass es Akteure gibt, die sagen: Also, wir sind Fundamentalopposition. Diese Auffassung gab es auch bei der Parteibildung schon. Ich hatte immer gehofft, dass wir aus den Unterschieden, … dass derjenige, der sagt, ich will immer in meinem Leben Oppositionsarbeit machen und aus der Oppositionsarbeit gesellschaftsverändernd wirken, dass der auch ein Verständnis dafür hat, dass derjenige, der sagt, wenn wir kandidieren, müssen wir auch gewinnen wollen, wenn wir gewinnen, müssen wir mit dem gleichen Thema gesellschaftsverändernd auch in Koalitionen oder in Verantwortung als Landrat oder Oberbürgermeister gehen. An dem Tag, an dem wir in Schleswig-Holstein abgewählt, rausgewählt wurden aus dem Landtag, an dem gleichen Tag haben wir in Thüringen alle Oberbürgermeister- und Landratswahlen gewonnen. Wir haben sieben Menschen in der Stichwahl gehabt, es waren 890.000 Wählerinnen und Wähler aufgerufen, und die Linke hat abgeräumt, hat gepunktet. Und mit jeder Kandidatur zu einem Landrat ist man anschließend Regierung. Diese Landräte und Oberbürgermeister und Bürgermeister versehen überhaupt diese Diskussion um rote Linien, um Haltelinien nicht. Ich weiß nicht, was ich Katja Wolf, der neuen Oberbürgermeisterin von Eisenach, jetzt sagen soll, die eine völlig marode Kommune übernehmen muss, weil die Bürger ihr das Vertrauen schenken, auch das Zutrauen, dass sie sozusagen aus dem Nichts heraus neue Wege geht, und diese neuen Wege hätten wir überall gehen müssen, um uns wechselseitig auch zu stärken. Und ich habe jetzt das Gefühl, dass die, die Fundamentalopposition im Herzen tragen, der Meinung sind, dass sie die anderen in der Partei nicht aushalten, und das bedeutet, dass wir uns selber blockieren oder uns nur selbst in die Kniekehlen treten.Müller: Blicken wir auf die Politiker, die Sie meinen, blicken wir auf viele Politiker, die Sie meinen, die sich im Westen aufhalten: Ist für Ideologie werben einfacher als Verantwortung tragen?Ramelow: Noch mal: Ich weiß gar nicht, ob es ein West-Ost-Konflikt ist. Ich habe jetzt Klaus Ernst gerade gehört, der für Sahra Wagenknecht wirbt. Ich finde, Sahra Wagenknecht ist eine Vollblutpolitikerin, die wir dringend brauchen. Ich finde es nur absonderlich, wenn Klaus Ernst sagt, sie vertritt die Ideale der WAsG. Also Sahra Wagenknecht war zu diesem Zeitpunkt schon aktive PDS-Politikerin. Es war Klaus Ernst, der damals gesagt hat: Die PDS, das käme ja in Bayern gar nicht infrage, und das Wort Sozialismus – wir hießen nämlich "Partei des demokratischen Sozialismus" – darf es in Westdeutschland und in Bayern gar nicht geben, weil der Antikommunismus so stark wirkt.Müller: Kommunistische Plattform?Ramelow: Da müssten Sie jetzt Klaus Ernst fragen. Ich bin in meinem ganzen Leben immer wieder, politischen Leben, in einer Partei immer wieder danach gefragt worden, ob ich mich von der Kommunistischen Plattform distanziere. Ich gehöre ihr nicht an, ich habe sie akzeptiert, und ich habe sie selbst in den Gerichtsverfahren, bei der Vorbereitung der Bundesverfassungsgerichtsklage gegen den Verfassungsschutz, … Da bin ich immer wieder gefragt worden, ob ich mich distanziere von der Kommunistischen Plattform, was ich nicht gemacht habe, weil ich finde: In Deutschland muss man über Kommunismus reden dürfen. Dann muss man allerdings auch über den real untergegangenen Kommunismus reden, man muss dann auch über Gulags, über Mauer und über Stalin reden. Aber über Kommunismus als Idee, herkommend von Karl Marx, muss man reden dürfen. In Frankreich ist das ganz normal, in Italien ist es ganz normal. Nur: Es war Klaus Ernst und die WAsG, die gesagt hat: Wir wollen doch der PDS nicht beitreten, wir wollen, dass der Name verschwindet, wir wollen, dass Sozialismus als Begrifflichkeit verschwindet. Und heute höre ich die Kollegen und Freunde aus der WAsG, die vorher in der SPD waren, dass sie immer schon glühende Vertreter der sozialistischen Idee waren.Müller: Aber Sie wollen schon, Herr Ramelow, dass die Realos nach vorne kommen und nicht die Fundis?Ramelow: Es geht mir nicht um Realos und Fundis. Es geht darum, ob wir im Gesamtangebot, wenn wir uns zu Wahlen stellen, ob wir im Gesamtangebot auch die Regierungsverantwortung haben, ob wir Mehrheiten im Bundesrat durchsetzen wollen, um im Bundesrat zum Beispiel eine Mehrheit für längeres gemeinsames Lernen oder für gesetzlichen Mindestlohn bekommen. Wenn wir kandidieren, dürfen wir nicht sagen, aber Verantwortung im letzten Schritt übernehmen wir nicht, sondern es muss darum gehen, wie wir mit dem Landeswahlprogramm, mit dem wir uns den Bürgern stellen, anschließend auch Koalitionsverträge abschließen, und nicht diese Denunziationskultur: Wenn du kandidierst, wenn du gewählt wirst, passt du dich schon an. Wenn die Anpassung schon als Unterstellung da ist, dann ist es besser, wir kandidieren gar nicht, aber dann müssen wir uns überlegen, was wir überhaupt sein wollen. Wollen wir eine Ideologievereinigung sein, oder wollen wir eine politische Partei sein, die Ideologien bearbeitet, aber trotzdem mit dem jeweils festgelegten Landesprogramm kandidiert und Verantwortung übernimmt?Müller: Herr Ramelow, ich schaue ein bisschen auf die Uhr, wir haben noch anderthalb Minuten, deswegen müssen wir ein bisschen uns beeilen. Es gibt noch einige Fragen. Sie haben vor sechs Wochen im Deutschlandfunk für das Duo Bartsch/Wagenknecht plädiert. Wie sieht ihr Plädoyer heute aus?Ramelow: Immer noch genauso, weil die Pluralität unserer Partei … würde es gut tun, auch in der Außendarstellung, wenn die beiden Personen, die offenbar unversöhnliche Lager repräsentieren, gemeinsam die Versöhnungsarbeit leisten und die gemeinsame Position auch dokumentieren. Und ich habe auch gesagt: Ich plädiere für die Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl Gregor Gysi und Oskar Lafontaine.Müller: Ist das jetzt immer noch realistisch?Ramelow: Wissen Sie, ich habe ja auch Ihren Anspieler eben gehört. Ich hab die Zitate ja gehört. Es verwundert mich einfach: Im Dezember haben wir das in einer gemeinsamen Runde zwischen Fraktionsvorsitzenden und Landesvorsitzenden genau so festgelegt und die Akteure haben alle zugesagt, dass sie sich auf den Weg machen, einen solchen Vorschlag zu erarbeiten. Ich bin entsetzt, dass der Vorschlag nicht da ist, sondern ich höre jetzt nur, wer mit wem nicht kandidieren kann. Das ist ein unmöglicher Zustand.Müller: Noch mal die Frage, wir haben noch zehn Sekunden: Ist der Vorschlag realistisch?Ramelow: Ich hoffe es.Müller: Bodo Ramelow bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk, Fraktionschef der Linken im Thüringischen Landtag. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!Ramelow: Gerne!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr zum Thema bei dradio.de:Showdown beim Parteitag der Linken - Kritik an Kandidatendebatte - Wahl der ParteivorsitzendenBerliner Linke-Chef sieht "großes Misstrauen" innerhalb der Partei Klaus Lederer: Streits erwecken nicht den Eindruck, "dass wir derzeit miteinander können und wollen" (DKultur) | Bodo Ramelow im Gespräch mit Dirk Müller | Es gehe ihm darum, ob seine Partei auch Regierungsverantwortung im Gesamtangebot hat, wenn sie sich zur Wahl stellt, sagt Bodo Ramelow, Fraktionschef der Linken im thüringischen Landtag. Er hofft weiter, dass Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch den Parteivorsitz übernehmen. | "2012-06-02T07:20:00+02:00" | "2020-02-02T14:11:56.203000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/es-geht-mir-nicht-um-realos-und-fundis-100.html | 1,036 |
Geld für die neue Hülle offenbar sicher | Die neue Schutzhülle für den Atomreaktor von Tschernobyl. Sie soll 2017 fertiggestellt werden. (AFP / Anatolii Stepanov)
Notwendig für den Neubau einer Schutzhülle sind rund 615 Millionen Euro. Umwelt-Staatssekretär Jochen Flasbarth, der als Vertreter der G7-Staaten in London war, äußerte sich aber zuversichtlich, dass weitere Gelder zusammenkommen. "Das Problem ist vom Tisch. So hätten Russland und China Zusagen gemacht, ohne konkrete Summen zu nennen. "Es ist jetzt absolut klar, dass die Arbeit in Tschernobyl weitergehen kann."
Die alte Schutzhülle war nach der Explosion des vierten Reaktors am 26. April 1986 eilig errichtet worden. Sie ist brüchig und droht einzustürzen. Ein Ersatz ist dringend notwendig, denn der Reaktor strahlt weiterhin Radioaktivität aus. Die Kosten für den Bau steigen allerdings immer weiter. Bislang haben die EU und 42 Länder für die im Bau befindliche Hülle insgesamt 1,5 Milliarden Euro bezahlt. Da die Kosten aber inzwischen auf 2,15 Milliarden Euro geschätzt werden, suchte der Fonds für die Abschirmung des havarierten Atomkraftwerks in London Geldgeber.
Bau findet in sicherer Entfernung statt
In Tschernobyl explodierte ein Reaktor am 26. April 1986, hier eine Aufnahme vom 1. Oktober 1986 (imago stock&people)
Die sieben führenden westlichen Industrienationen geben 95 Millionen Euro, 70 weitere kommen von der EU-Kommission. Den größten Teil übernimmt die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) mit 350 Millionen Euro. Weitere 15 Millionen Euro kommen von zahlreichen Ländern, darunter Dänemark, Österreich, Kuwait und Brasilien.
Der neue, rund 100 Meter hohe Bau soll Ende 2017 fertiggestellt werden. An der Schutzhülle wird seit 1992 gebaut. Sie soll nach ihrer Fertigstellung auf Schienen über die Ruine geschoben werden. Aus Sicherheitsgründen erfolgt der Bau des Sarkophags in sicherer Entfernung von der Ruine selbst.
Ukraine trägt die Hauptlast
Die Ukraine, die mit dem militärischen Konflikt im Osten des Landes belastet ist, zeigt sich mit Tschernobyl überfordert. Die ökologischen Probleme sind groß, denn die Radioaktivität hat sich in der Vegetation rund um Tschernobyl festgesetzt. Zuletzt war befürchtet worden, dass ein Waldbrand, der bis heute in der Gegend wütete, die Strahlung freisetzten könnte. Mehr als 300 Feuerwehrleute bekämpften aber erfolgreich die Flammen. Die Strahlenwerte in der Gegend seien normal, sagte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk.
Die Hauptlast des zu Sowjetzeiten gebauten Kraftwerks trägt die Ukraine, und der Hauptteil der Arbeit kommt erst noch: Die radioaktiv belasteten Trümmer müssen nach der Installierung der neuen Schutzhülle zerlegt und anschließend "entsorgt" werden.
(hba/nch/ach) | null | Die Finanzierung einer neuen Schutzhülle für die Atomruine von Tschernobyl ist offenbar gesichert. Auf einer Geberkonferenz in London wurden für die Bauarbeiten insgesamt 530 Millionen Euro zugesagt. Damit fehlen noch rund 100 Millionen Euro - die Verantwortlichen gaben sich aber zuversichtlich. | "2015-04-29T19:36:00+02:00" | "2020-01-30T12:34:27.996000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/tschernobyl-geld-fuer-die-neue-huelle-offenbar-sicher-100.html | 1,037 |
Aufarbeitung durch Aufklärung | Aufklären, nicht überwältigen, will die Gedenkstätte Hohenschönhausen (dpa / Rolf Kremming)
Zum Nachdenken anregen statt emotional überwältigen – so lässt sich das Konzept von Helge Heidemeyer beschreiben. Bevor der Historiker Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen wurde, war er Chef der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagenbehörde. Ein profunder Kenner des Themas also – mit einem anderen didaktischen Ansatz als sein Vorgänger. Hubertus Knabe setzte zum Beispiel Virtual-Reality-Brillen ein, mit denen sich Besucher in die Rolle von Stasi-Gefangenen begeben konnten und vernommen wurden.
Zeitzeugen und Fakten
"Wir haben dieses Projekt nicht weitergeführt, weil wir tatsächlich das Gefühl hatten, dass das zu stark in Richtung Überwältigung geht, da muss man gut abwägen, was man da machen kann an solchen Stellen." Auch beim Einsatz der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hat es Änderungen gegeben. Ihre persönlichen Berichte werden stärker als zuvor ergänzt durch historisch belegte Fakten. Wir haben die früheren Häftlinge weitergebildet, erläutert Gedenkstättenleiter Heidemeyer. "Wenn Sie als Besucher hierherkommen und jemand führt sie, der selber Häftling war, das ist eine ganz andere Authentizität. Aber gerade da sind sich viele der Referentinnen und Referenten auch bewusst, dass sie mit ihren Geschichten ein Horrorszenario malen könnten, das gerade Besucher, die keine Vorkenntnisse haben, erschrecken könnte."
Neuer Direktor wirbt um Vertrauen 2018 musste der damalige Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen wegen Sexismusvorwürfen seinen Posten räumen. Jetzt will der neue Leiter ein Arbeitsklima aus "Offenheit und Partizipation" schaffen.
Alle Referentinnen und Referenten – etwa die Hälfte sind Zeitzeugen – haben jetzt Tablets erhalten – darauf abgespeichert Videos von ehemaligen Häftlingen, historische Fotos, Dokumente. Der frühere Häftling Hans-Jochen Scheidler kann damit seine 1968 verfassten Flugblätter gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei an die Wand beamen. "Staatsfeindliche Hetze" lautete das Gerichtsurteil damals.
Die Demokratie schätzen und verteidigen lernen
"Ich möchte nicht, dass die Besucher in Tränen ausbrechen, was auch manchmal passiert, das ist nicht mein Ziel, ich möchte einfach aufzeigen was es bedeutet, in der DDR nicht konform zu leben." Sieben Monate saß der heute 77jährige in Stasi-Untersuchungshaft in Hohenschönhausen, drei Monate davon in strenger Isolation. Scheidler täuschte einen Selbstmordversuch vor, nur so gelang es ihm, die Isolationshaft zu beenden. "Mein Hauptziel ist, die überwiegend jungen Besucher darauf hinzuweisen, wie wohl sie sich schätzen können, in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie zu leben, und dass es an ihnen ist, diesen Rechtsstaat, diese Demokratie zu verbessern."
Erkenntnisgewinn für Gruppen
"Der Zeitzeuge ist der größte Feind des Historikers" – dieser Satz gilt bei uns nicht, sagt Gedenkstättenleiter Helge Heidemeyer. Wenn beide sich ergänzten, sei es für die Besucherinnen und Besucher am fruchtbarsten. Vor Corona gab es deshalb den Pilotversuch, Gruppen zu zweit zu führen. "Und diejenigen, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben, haben das als großen Gewinn für beide empfunden und auch die Besucher, denn da kam es natürlich zu Diskussionen. Das ist ja auch ein Erkenntnisgewinn für die Gruppen."
Untersuchungsausschuss legt Bericht vor
Der vor knapp drei Jahren entlassene Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe hatte klare politische Ambitionen, verstand sich als Sprachrohr für die Opfer der SED-Diktatur, kritisierte die Linke als Nachfolgepartei der SED. Ein Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus prüft, ob Berlins Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei Hubertus Knabe aus politischen Gründen entlassen hat. Lederer hat dies heute noch einmal bestritten.
"Der Stiftungsrat, der ja aus fünf Mitgliedern besteht, davon zwei aus der CDU, einer, ich, ist in der Partei Die Linke, wir haben das gemeinsam entschieden, und das war auch aus der heutigen Perspektive die richtige und die notwendige Entscheidung. Und was den Untersuchungsausschuss angeht, das kann und will ich nicht kommentieren. Der wird ja in Kürze seinen Abschlussbericht vorlegen und dann kann ich mich auch noch einmal dazu äußern, welche hanebüchenen Vorwürfe mir gegenüber da erhoben wurden."
8,7 Millionen Euro sind in Sanierung und Umgestaltung der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen geflossen, alles ist bereit für die Besucherinnen und Besucher. Das heute vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz verhindert bis auf Weiteres eine Eröffnung. Dass das Gesetz keine Sonderregelungen für Kultureinrichtungen enthält, macht Berlins Kultursenator wütend. "Die Zermürbung, die Frustration, die Enttäuschung ist schon sehr sehr groß." | Von Claudia van Laak | Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ist umgebaut und saniert worden. Die ehemalige Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit, der frühere Stasi-Knast, wird seit der Wende jährlich von einer halben Million Menschen besucht. Der authentische Ort verfügt nun auch über Seminar-, Medien- und Besucherräume. | "2021-04-21T17:35:00+02:00" | "2021-04-22T13:18:26.881000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/stasi-gedenkstaette-hohenschoenhausen-saniert-aufarbeitung-100.html | 1,038 |
Patenschaftsnetzwerk fordert Konzept für Umgang mit einheimischen Mitarbeitern | Ortskräfte und ihre Angehörigen wurden von Kabul aus ausgeflogen. (Imago / US AF / Sgt. Donald R. Allen)
Der Vorsitzende des Netzwerks, Grotian, sagte in Berlin, es müsse Pläne für Fälle geben, wenn wie in Afghanistan mit der Machtübernahme der Taliban ein worst-case-Szenario eintrete. Das Ortskräfteverfahren zur Aufnahme ehemaliger Angestellter gelte allein für Afghanistan. Es müsse auf andere Länder wie Mali, Sudan und Niger ausgeweitet werden. Aus dem Sudan etwa habe die Bundeswehr über 700 Menschen in Sicherheit gebracht. Sudanesen seien aber nicht ausgeflogen worden, obwohl in dem Land über 130 Ortskräfte tätig gewesen seien. Grotian verlangte, die Bundesregierung müsse ein Konzept für den Umgang mit lokalen Mitarbeitern entwickeln, damit das nicht immer erst dann diskutiert werde, wenn es zu spät sei.
Diese Nachricht wurde am 13.08.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet. | null | Das Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte fordert als Lehre aus Afghanistan ein Konzept für den Schutz lokaler Beschäftigter von Bundeswehr, Polizei und deutscher Entwicklungsarbeit. | "2023-08-13T22:23:54+02:00" | "2023-08-12T21:38:11.804000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/patenschaftsnetzwerk-fordert-konzept-fuer-umgang-mit-einheimischen-mitarbeitern-104.html | 1,039 |
Artgerecht, vegetarisch oder gar vegan? | Mancher sucht nach kulinarischen Alternativen wie Fleisch aus artgerechter Haltung. Andere steigen auf vegetarische Ernährung um oder leben vegan und verzichten generell auf alle Produkte vom Tier. Wie einfach und vor allem wie teuer ist es, den Einkaufszettel um ethisch-moralische Aspekte zu ergänzen? Bedeutet "Bio" gleich weniger Tierleid? Kann ich mich vegan und gesund ernähren? Peter Kolakowski diskutiert mit Tierschützern und Verbraucherschutzexperten.Hörerfragen sind, wie immer, willkommen.Die Nummer für das Hörertelefon lautet: 00 800 - 44 64 44 64Die Nummer für das Faxgerät lautet: 00 800 - 44 64 44 65marktplatz@dradio.deStudiogästeUlrike Höfken, Ministerin für Umwelt, Ernährung, Weinbau, Landwirtschaft und Forsten Rheinland-PfalzPetra Zipp, Vorsitzende des Bundes gegen Missbrauch der Tiere, PfullingenDr. med. Matthias Ernst, Facharzt für Laboratoriumsmedizin und Naturheilverfahren Christian Vagedes, Geschäftsführer der Veganen Gesellschaft Deutschland e.V., Berlin Broschüre Dr. med Ernst Walter Henrich: Vegan - Eine kurze Information über die gesündeste ErnährungDie kostenlos erhältliche Broschüre gibt einen hervorragenden Überblick zu den gesundheitlichen,sozialen und ökolgischen Vorteilen veganer Ernährung. Der Autor ist spezialisiert auf die Themen gesunde Ernährung und ißt selbst seit Jahren vergan. Weitere fundierte Informationen hält Dr. Henrich auch auf der Internetseite www.provegan.info bereit, über die auch die Broschüre bestellt werden kann.Bücher"Die Seele der Tiere - Gesichter, Gefühle, Geschichten"; W. Schels u. S. Schwabentahn; Weltbild Verlag In einzigartigen Porträtfotos zeigt Fotograf Walter Schels über siebzig Tierpersönlichkeiten, ergänzt durch nachdenkliche Texte von Sabine Schwabenthan, die anhand von Mythen und Volksweisheiten den Charakter der Tiere beschreibt und wie sich die Menschen von den Tieren im Lauf der Zeit immer weiter voneinander entfremdet haben. "Tiere essen"; J. Safran Foer; Kiepenheuer und Witsch"Ich liebe Würste auch, aber ich esse sie nicht", sagt der Autor. Er wollte "einfach wissen, -für mich und meine Familie, was Fleisch ist." Wo kommt es her, wie wird es produziert, wie werden die Tiere behandelt und inwieweit ist das wichtig? Safran Foer blickte ganz unideologisch hinter die Kulissen der Fleischindustrie. Ein erschreckendes, erschütterndes Buch, das weltweit für Schlagzeilen sorgt. "Anständig essen - Ein Selbstversuch"; K. Duve; Galiani VerlagIhr liebstes Essen bislang: Hähnchenpfanne aus der Massentierhaltung, grillfertig, für 2,99. Doch kann man auch ohne Fleisch gut und gesund essen? Was sind wir bereit, aus Rücksicht auf unsere Mitlebewesen zu opfern? Die Autorin hat jeweils zwei Monate lang verschiedene Ernährungs- und Lebensweisen getestet: vegetarisch, vegan und frutuarisch, traf Tieraltenheimbetreiber, Jäger und Jains, verschaffte sich Zugang zu Massentierhaltungsställen und nahm an Tierbefreiungsaktionen teil. Karen Duve beschreibt mit einer gehörigen Portion Selbstironie ihren ganz persönlichen Weg zur Erkenntnis. Ihr Fazit:"Ich werde nie wieder so leben und essen können, wie ich es vorher getan habe." Hans Konrad Biesalski / Peter Grimm: "Taschenatlas Ernährung" M. Waigand-Brauner, U. Biesalski, K.Baum; Georg Thieme Verlag KG StuttgartWissensgrundlagen für eine sinnvolle Ernährung liefert dieser Taschenatlas aufgeteilt in Allgemeine Grundlagen: (Zusammensetzung des Körpers, Energiehaushalt und Nahrungsaufnahme) Die Nährstoffe: Kohlenhydrate, Lipide, Proteine, Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente; Praktische Aspekte: Lebensmittelsicherheit, Nahrungsmittelqualität, besondere Ernährungsformen wie Vegetarismus und Veganismus, Erkrankungen etc. "Vegetarische Ernährung"; C. Leitzmann, M. Keller; Ulmer-Verlag Langjährige Erfahrungen und viele wissenschaftliche Daten belegen, dass sich eine vegetarische Ernährung günstig auf Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft auswirkt.Die Autoren widmen sich unter anderem der historische Entwicklung des Vegetarismus, dem Einfluss vegetarischer Ernährung auf chronische Krankheiten, dem Vegetarismus in verschiedenen Lebensphasen, der Umsetzung einer vegetarischen Ernährung im Alltag sowie den globalen Aspekte des Vegetarismus wie Welternährung und Umweltverträglichkeit. Das Buch richtet sich an Studenten und Lehrende sowie an alle, die sich für den Vegetarismus interessieren."Vegetarisch aus aller Welt" T. Wells; Fona-VerlagDie vielgereiste Autorin hat Menschen rund um den Erdball nach den besten und beliebtesten vegetarischen Rezepten befragt. Herausgekommen ist eine internationale Sammlung kulinarischer Köstlichkeiten der traditionellen vegetarischen Küche - von der Vorspeise bis zum süßen Abschluss. "Wurst und Wahn - ein Geständnis"; J. Hein; Galiani VerlagHier werden Pseudo- und Mode-Vegetarier gehörig auf die Schippe genommen, jene Zeitgenossen, die tags das Hohelied des puren Vegetarismus predigen und nachts von Gänsekeulen und Rindsrouladen träumen. "Veg up - Die Veganisierung der Welt"; C. Vagedes; Sicht VerlagGhandi, Tolstoi, Steiner, Morgenstern, Darwin - mit ihren Gedanken und Appellen für einen respektvollen und verantwortungsbewussten Umgang mit Tieren gehören sie zu den Wegbereitern einer veganen Lebenskultur. Autor Christian Vagedes präsentiert weitgehend unbekannte Quellen aus Philosophie, Geschichte und Anthropologie, klärt über tradierte Missverständnisse aus Religion, Wissenschaft und Wirtschaft auf, die die "Vernutzung" tierischer Lebewesen zu rechtfertigen suchen, und plädiert für eine neue (alte) Mensch-Tier Beziehung."Vegane Ernährung"; Dr. Gill Langley; Echo VerlagEinführung, Grundlagenwissen und Richtlinien für die richtige vegane Ernährung. Nach Nährstoffen aufgeschlüsselt enthält das Buch Ernährungsempfehlungen sowie Antworten auf die Frage, bei welchen Krankheiten eine vegane Ernährung heilfördernd sein kann. "Die vegane Küche"; Ingrid Newkirk; Heyne-Verlag150 leicht nachzukochende Rezepte ohne Zutaten vom Tier; in einem umfangreichen Glossar sind die wichtigsten Zutaten und deren Bezugsquellen zusammengestellt."Vegan-Küche - Kochen mit Gemüse und Getreide"; B. Klingel; Südwest-VerlagNeben Kochrezepten erklärt das Buch, warum der Verzicht auf tierisches Eiweiß keinen Mangel für den Körper darstellen muss und dass vegane Ernährung sehr schmackhaft sein kann. ZeitschriftenVegan - mehr als ein Trend? UGB-Forum - Fachzeitschrift für Gesundheitsförderung der Vereine für unabhängige Gesundheitsberatung Ausgabe 1/2012, UGB-Verlags-GmbH Im Schwerpunktthema beleuchten Fachleute die Beweggründe und verschiedenen Aspekte veganer und vegetarischer Ernährung, darunter aus weltwirtschaftlicher, ökologischer und ethischer Sicht, abgerundet durch fundierte Ernährungsempfehlungen. LinksBundes gegen Missbrauch der TiereVegetarierbund DeutschlandMit zahlreichen Tipps, Rezepten und Hinweisen für eine vegetarische Lebensweise. Vegane Gesellschaft DeutschlandInternetauftritt der Interessenvereinigung mit Hintergrundinformationen, Veranstaltungshinweisen, Literatur, Links etc.Artenvielfalt statt Sojawahn.Eine vom grünen EU-Parlamentarier Martin Häusling in Auftrag gegebene Studie zu den sozialen und ökologischen Schäden durch den Anbau von Soja für die Fleisch- und Milchindustrieregional-saisonal: Rezepte zum SchlemmenSaisonkalender für Obst, Gemüse, Salat und Rezeptvorschläge Literaturliste und wissenschaftliche Studien zur vegetarischen und veganen Ernährung (PDF)Tierschutzorganisation PETA "People for the Ethical Treatment of Animals" | Am Mikrofon: Peter Kolakowski | Nach dem Ende der Fastenzeit freuen sich viele Verbraucher auf wahre Festgelage während der Feiertage. Meldungen über Antibiotika im Geflügel, gequälte Kaninchen, Fisch aus der Massenaquakultur oder Ferkelkastrationen ohne Betäubung verderben den Genuss. Mancher sucht nach kulinarischen Alternativen | "2012-04-05T10:10:00+02:00" | "2020-02-02T14:01:29.561000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/artgerecht-vegetarisch-oder-gar-vegan-100.html | 1,040 |
"Die Mauer des Hasses ist zerstört" | Passagiere feiern im "Vogel des Friedens" auf dem ersten Linienflug zwischen Addis Abeba und Asmara seit mehr als 20 Jahren (AFP / Maheder HAILESELASSIE TADESE)
Die Passagiere an Bord der voll besetzten Boeing jubeln und klatschen. Manche tanzen im Gang, andere machen Selfies allein und in Gruppen. Die Flugbegleiterinnen bringen Rosen und servieren Champagner in allen Klassen. Prediger Surafel Demissie steht auf und spricht lautstark ein Dankgebet.
"Oh Gott, du kannst alles erreichen. Niemand kann dich aufhalten. Du hast das geschafft, Gott, du hast uns Frieden gebracht."
90 Minuten Partystimmung
Die ausgelassene Stimmung im "Vogel des Friedens", wie Ethiopian Airlines die Maschine von Addis Abeba nach Asmara genannt hat, hält die ganzen 90 Flugminuten. Der Flug vom Mittwoch, gefolgt von einem zweiten nur 15 Minuten später, ist die erste Direktverbindung zwischen den seit Jahrzehnten verfeindeten Nachbarländern.
"Es waren 22 Jahre. Wegen der Kämpfe zwischen Äthiopien und Eritrea hatten wir nicht einmal eine Adresse, um mit unseren Familien zu kommunizieren. Aber jetzt nach dem Friedensschluss sind wir hergekommen."
Sagt Abraham Tilahun nach der Landung. Der Friedens- und Freundschaftsvertrag war am 9. Juli unterzeichnet worden, beim historischen Besuch des neuen äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed in Asmara.
"Wenn es Frieden zwischen unseren beiden Völkern gibt, bedeutet das Frieden und Entwicklung für die ganze Region am Horn von Afrika. Unsere Staatsbürger, die jetzt noch verstreut und erniedrigt als Flüchtlinge leben, werden in Würde zurückkehren."
Überwindung eines Komplotts
Der eritreische Präsident Isaias Afewerki erwiderte den Besuch seines Amtskollegen am vergangenen Wochenende
"Wegen unserer historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten der Vergangenheit haben wir das Komplott überwunden, das Hass und Rache zwischen uns verbreitet hat. Wir sind entschlossen, gemeinsam Entwicklung, Wohlstand und Stabilität zu erreichen." Frauen in traditionellen Gewändern schwenken Palmzweige und begrüßen die ersten Besucher aus Äthiopien vor dem Flughafen in Asmara mit schrillen Trillern. In der singenden Menge gibt es Tränen, als lange getrennte Familienmitglieder sich um den Hals fallen. Prediger Surafel Demissie sieht begeistert zu: "Heute hat Gott die Grenze gebrochen und beide Völker in Liebe zusammengebracht. Die Mauer des Hasses ist zerstört, eine Brücke der Liebe wurde gebaut. Ich weiß nicht, wie ich meine Freude ausdrücken soll. Dafür fehlen mir die Worte."
Goldener Moment
Auch der frühere Premierminister Äthiopiens war an Bord des historischen Fluges. Hailemariam Desalegn bezeichnete als "Goldenen Moment in der Geschichte unserer Völker", was er in sechs Amtsjahren nicht erreichen konnte. Andere Passagiere verfolgen neben allen Emotionen auch ganz praktische Ziele mit ihrem Besuch in Eritrea. Abraham Tilahun: "Ich bin gekommen, um meine große Familie zu sehen. Ich habe ein Geschäft in Addis und ich will auch ein Schwesterunternehmen in Asmara eröffnen." | Von Linda Staude | Jahrzehntelang herrschte Funkstille zwischen Äthiopien und Eritrea. Nachdem am 9. Juli ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet wurde, fand nun der erste Direktflug von Addis Abeba nach Asmara statt. An Bord gab es gleich mehrere Gründe zu feiern. | "2018-07-20T07:16:00+02:00" | "2020-01-27T18:02:33.441000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/erster-direktflug-zwischen-aethiopien-und-eritrea-die-mauer-100.html | 1,041 |
Exil für russische Journalisten | Die Journalistin Galina Timtschenko bei einer Podiumsdiskussion im März 2013 in Moskau. (picture alliance / dpa / Vladimir Pesnya)
Galina Timtschenko sitzt vor ihrem Computer und mustert die Aufmacher ihrer neuen Internetzeitung "Meduza.io". "Überleben etwa nur die Reichen?", fragt die Herausgeberin provokativ in einem Artikel und berichtet ausführlich über die ersten sozialen Proteste in Moskau seit 2005.
"Die Kreml-Propaganda berichtet täglich viermal über die Ukraine, zweimal über Wladimir Putin und einmal über Kultur. Wir wollen den Leuten aber erzählen, was wirklich wichtig ist. Dass der russische Rentenfonds eingefroren wurde und allein in Moskau jedes zweite Krankenhaus dicht gemacht wird. Lettland hat eine liberale Gesetzgebung, das Internet ist hoch entwickelt und es leben viele Leute hier, die russischer Herkunft sind. Wir als Journalisten können mit ihnen russisch sprechen und verstehen, was um uns herum passiert."
Russischer Herkunft ist auch die Journalistin Olga Dragilieva. Sie hat mit Galina Timtschenko gleich nach ihrer Ankunft im lettischen Fernsehen ein Interview geführt. Die Journalistin schätzt das neue Nachrichtenportal "Meduza.io" mit unzensierten Informationen über Russland. Vor allem aber ist Olga Dragilieva froh darüber, dass sich die Moskauer Redakteure für ein Exil in Lettland entschieden haben.
"Wir sind daran gewöhnt, dass Opposition und Andersdenkende in andere Länder gehen. Litauen gewährt Dissidenten aus Weißrussland Asyl, Estland nimmt hin und wieder Leute aus Russland auf - ich empfand es als beschämend, dass Lettland bisher kein Ziel gewesen ist. Endlich haben Menschen wie Galina Timtschenko uns entdeckt, das hatte ich nicht erwartet. Sie hat Riga sogar Berlin vorgezogen, das finde ich einfach toll."
Ausstrahlung des russischen Staatsfernsehens verboten
Der Umzug von Galina Timtschenko nach Riga sei gerade für die russische Minderheit ein deutliches Signal, dass Lettland ein demokratischer Rechtsstaat ist, sagt Ainars Dimants vom Rundfunkrat. Er überwacht die lettische Medienlandschaft und hat drei Monate lang die Ausstrahlung des russischen Staatsfernsehens verboten. Wegen Kriegshetze, die im Staatsfernsehen läuft, seitdem klar ist, dass auch Russen im Osten der Ukraine kämpfen, sagt Ainars Dimants. Das russische Militär sollte angeblich die Russen in der Ukraine schützen. Eine Propaganda, die sich leicht auf die russische Minderheit in Lettland übertragen ließe und das Land destabilisieren könne. Ainars Dimants:
"Wir müssen die Kreml-Propaganda neutralisieren. Das kann man durch ein Verbot, besser jedoch ist eine alternative Informationsquelle zu den russischen Staatsmedien. Außerdem sehen unsere lettischen Russen, dass es in Russland nicht nur die Anhänger Putins gibt, sondern auch Journalisten, die anderer Meinung sind und sogar von Lettland aus berichten wollen."
Auch Olga Procevska gehört zur russischen Minderheit und liest täglich im neuen Nachrichtenportal "Meduza.io". Die Umsiedlung der Redaktion von Moskau nach Riga könne sogar mit den Vorurteilen der lettischen Nationalisten aufräumen, sagt sie. Für die Nationalisten seien nämlich Russen, die nach Lettland umsiedeln, allesamt Agenten Putins. Auf der Höhe seiner Wirtschaftskrise hat Lettland jedem Investor, der mehr als 250.000 Euro in eine Immobilie investiert, ein Schengenvisum angeboten, mit dem er sich frei in der gesamten Europäischen Union bewegen kann. Jenes Gesetz, das gegen den Willen der Nationalisten verabschiedet worden ist, kam jetzt auch der Journalistin Galina Timtschenko zugute. Bis heute wurden dadurch mehr als 1.000 Russen an die lettische Ostseeküste gelockt, sagt Olga Procevska.
"Galina Timtschenko könnte das Ansehen der russischen Investoren verbessern, die bei uns ein Schengenvisum erhalten. Viele ziehen aus denselben Gründen wie Galina nach Lettland, sie wollen einfach nicht mehr in Putins Russland leben."
Vielleicht wird es "Meduza.io" tatsächlich gelingen, nicht nur unzensierte Nachrichten aus Russland im Netz zu verbreiten, sondern auch Vorurteile zwischen Letten und russischer Minderheit in Lettland abzubauen. | Von Birgit Johannsmeier | Weil sie im eigenen Land nicht unabhängig arbeiten können, zieht es manche russische Journalisten ins Ausland. Einige wie Galina Timtschenko haben eine neue Heimat in Lettland gefunden. Sie wollen der russischen Minderheit dort eine unzensierte Alternative zu Putins Staatssendern geben. | "2014-11-12T09:10:00+01:00" | "2020-01-31T14:13:07.960000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/lettland-exil-fuer-russische-journalisten-100.html | 1,042 |
Keine Zensur, aber auch keine Kritik | Es war am 25. Juli, als Serhiy Leschtschenko, Chefreporter der Internetzeitung "Ukrayinska pravda" den Zorn des Präsidenten auf sich zog. Während einer Pressekonferenz stellte er die Frage, woher dessen Sohn so viel Geld habe, sich als Student einen neuen BMW und teure Restaurant besuche leisten zu können. Viktor Juschtschenko, angetreten, um mit Korruption und Vetternwirtschaft in der Ukraine aufzuräumen, beschimpfte den 25jährigen Leschtschenko daraufhin als "Auftragsmörder". Der wirkt noch immer etwas durcheinander: "Ehrlich gesagt, anfangs hat mich das gar nicht so sehr getroffen wie später, als ich es wieder und wieder im Fernsehen gesehen und darüber nachgedacht habe."Ein gutes halbes Jahr nach dem Machtwechsel gibt es in der Ukraine keine Zensur mehr. Besonders gut ist es um die Pressefreiheit deshalb trotzdem nicht bestellt. Sergiy Taran, selbst Journalist, leitet das unabhängige "Institut für Masseninformation" in Kiew:"In den USA tritt der Präsident nach journalistischen Recherchen zurück. In der Ukraine können Journalisten noch so negativ über Politiker schreiben - die ignorieren das einfach. Ein weiteres Problem ist, dass die Regierung versucht, in den ukrainischen Medienmarkt einzugreifen."Das beunruhigt auch Natalja Ligatschowa. Und es erinnert sie an die Zeit unter Ex-Präsident Kutschma, als acht Fernsehsender von nur zwei präsidententreuen Familien kontrolliert wurden. Ligatschowa wertet in ihrer Zeitschrift Telekritika regelmäßig ukrainische Medien aus:"Alle, die offen für Kutschma gearbeitet haben, halten sich nach wie vor über Wasser. Sie haben damals viel Geld verdient, und sie werden keineswegs von ihren Kollegen deshalb an den Pranger gestellt. Die Leute, die für Kutschma gearbeitet haben, sind alle noch auf ihren Posten."Das größte Problem der ukrainischen Medien ist ihrer Ansicht nach die Selbstzensur. Denn viele Journalisten haben sich während der so genannten orangefarbenen Revolution auf die Seite Juschtschenkos geschlagen und sehen dessen Reformkurs nun als ihre eigene "Mission"."Die Situation ist kompliziert. Manche Journalisten halten sich jetzt in ihrer Kritik gegenüber der Regierung zurück, weil sie Angst haben, damit Wasser auf die Mühlen der alten Machthaber zu gießen. Dabei ist es die Pflicht von Journalisten zu kritisieren. Ich glaube, diese Selbstzensur wird bis zur Parlamentswahl im Frühjahr anhalten. Die Journalisten wollen nicht als Killer der Regierung auftreten. Sie wollen nicht den Leuten dienen, von denen sie früher unterdrückt wurden."Auch Ligatschowa spürt diesen Zwiespalt, warnt aber vor den Konsequenzen eines solchen Schmusekurses:"Wir versuchen, der neuen Regierung beizubringen, demokratisch zu handeln. Leider vermag sie das nicht. Sie arbeitet, was demokratische Mechanismen angeht, ganz ähnlich wie die alte Regierung: Sie will das Wohl des Landes, aber sie will es mit harter Hand und mit Druck erreichen und nicht im Konsens, nicht, indem sie die Gesellschaft beteiligt. Da muss man die Regierung rechtzeitig aufhalten und ihr sagen: Leute, es gibt die und die Regeln der Demokratie, und an die müsst ihr euch halten."Sergij Taran vom Institut für Masseninformation sieht bei allen Problemen, die die Ukraine ein gutes halbes Jahr nach dem Umbruch mit demokratischen Umgangsformen noch hat, massive Fortschritte."Vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass ich glücklich wäre, wenn wir nur diese Probleme hätten. Denn da wurden wir zensiert. Nun sind wir glücklich, dass wir nur noch diese Probleme haben, und ich hoffe, dass die in einem Jahr auch gelöst sind."Präsident Juschtschenko hat mittlerweile bei Serhiy Leschtschenko, dem von ihm als "Auftragskiller" verunglimpften Reporter der Ukrainska Pravda, angerufen. Zuvor hatten etwa 700 ukrainische Journalisten einen Aufruf im Internet unterzeichnet, in dem sie eine Entschuldigung Juschtschenkos forderten. Wirklich um Entschuldigung gebeten habe ihn der Präsident nicht, erzählt Leschtschenko. Er hat sich trotzdem mit dem Gespräch zufrieden gegeben."Es war mir unangenehm. Ich hatte ja gar keine Entschuldigung gefordert. Aber es war wichtig, dass er angerufen hat, um die Kuh vom Eis zu kriegen. Denn sonst wäre daraus ein landesweiter Konflikt geworden, und das war die Sache nicht wert."Die Frage, woher das Geld des Präsidentensohnes stammt, bleibt indes nach wie vor ungeklärt. | null | Presse- und Meinungsfreiheit war eine der zentralen Forderungen der Menschen, die in der Ukraine für einen Machtwechsel demonstrierten. Unter dem neuen Präsidenten Viktor Juschtschenko wurde die Zensur zwar abgeschafft, verbessert hat sich die Situation aber kaum. Das liegt vor allem an den Journalisten selbst. Denn viele sympathisieren mit Juschtschenko und wollen ihn nicht kritisieren.
| "2005-09-07T09:10:00+02:00" | "2020-02-04T11:19:34.131000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/keine-zensur-aber-auch-keine-kritik-100.html | 1,043 |
Braune Juristen für den Rechtsstaat | "Es war damals nie die Situation, dass das Reichsjustizministerium ein Hort des Widerstands gewesen ist in der NS-Zeit."Sagt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Im Gegenteil, im Justizapparat seien zwischen 1933 und 1945 zahlreiche Juristen tätig gewesen, die in Verbrechen des Nazi-Regimes verwickelt waren, ihre Karrieren nach 1949 aber problemlos fortsetzen konnten. Um diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen, hat die Justizministerin Anfang des Jahres eine wissenschaftliche Kommission berufen. In dieser Woche haben die Experten offiziell mit ihrer Arbeit begonnen: "Es geht um den Umgang des Justizministeriums mit seiner eigenen Vergangenheit in den 50er, 60er bis zu den beginnenden 70er Jahren, das ist der Kernzeitpunkt, dem wir uns widmen werden. Das Justizministerium war damals untergebracht in Bonn, in der sogenannten Rosenburg, und deswegen wird dieses Projekt auch die Rosenburg genannt."Erläutert der Marburger Strafrechtler Christoph Safferling den Auftrag. Zusammen mit dem Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker leitet er die Kommission:"Die personellen Kontinuitäten und Brüche sind nur ein Teil unserer Arbeit. Weitere Teile werden sich auf die tatsächliche Auswirkung dieser personellen Kontinuitäten auf das materielle Recht beziehen, und das ist eigentlich der interessantere Teil, nämlich inwieweit tatsächlich diese personellen Verstrickungen dann sich ausgewirkt haben auf die Gesetzgebung der Bundesrepublik."Mehr als 60 Jahre nach dem Untergang des NS-Regimes bedurfte es erst des Anstoßes durch die bahnbrechende Studie über das Auswärtige Amt, um die Untersuchung zu beginnen. Womöglich fürchtete man im Bundesministerium der Justiz, kurz BMJ, eine "Nestbeschmutzung". Bis Anfang des Jahres durfte z. B. kein Außenstehender Einsicht in die Personalakten des Ministeriums nehmen, auch nicht in Unterlagen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit."Warum das vorher nicht erfolgt ist, kann ich Ihnen nicht beantworten, aber jetzt ist natürlich für die Wissenschaftler der direkte Zugriff seit Beginn des Jahres gegeben."Die Geschichte der Justiz im sogenannten Dritten Reich ist eine Geschichte fortschreitender Pervertierung des Rechts: Ob bei den Morden der Röhm-Aktion oder bei der Verfolgung und Ermordung von politischen Gegnern und rassischen Minderheiten: Richter, Staatsanwälte und Angehörige des Reichsjustizministeriums waren willige Helfer des NS-Regimes. Statt Recht und Gesetz zu verteidigen, ließ die Justiz die Demontage des Rechtsstaates zu und stellte sich in den Dienst eines mörderischen Systems. "Wir bekennen uns offen dazu…"…erklärte Hans Frank, Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz, im September 1933."…dass wir nationalsozialistischen Juristen in jedem Recht nur das Mittel zu dem Zweck sehen, einer Nation die heldische Kraft zum Wettstreit auf dieser Erde sicherzustellen. (Beifall)"Der Jurist Hans Frank, NSDAP- und SA-Mitglied der ersten Stunde, wurde 1946 im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Unter den NS-Juristen hinterließ Roland Freisler eine noch größere Spur des Schreckens, als Staatssekretär im Reichsjustizministerium, vor allem aber als Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes. "Sie haben ja kein Gefühl für Wahrheit, Sie sind ja die Lüge selbst."Roland Freisler im Prozess gegen Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, einen der Verschwörer des 20. Juli 1944."Feines Früchtchen … ja, ja, ja, feines Früchtchen. Hätten Sie lieber die Knarre in die Hand genommen, wären nicht auf dumme Gedanken gekommen. Und werden Sie hier nicht unverschämt, mit Ihnen werden wir fertig."Roland Freisler kam Anfang 1945 bei einem alliierten Bombenangriff ums Leben. Die Bilanz des Volksgerichtshofes, den Freisler zu den "Panzertruppen der Rechtspflege" zählte: über 5200 Todesurteile. Noch gnadenloser waren die nationalsozialistischen Wehrmachtrichter. Sie verhängten im Zweiten Weltkrieg 30.000 Todesurteile, 20.000 wurden vollstreckt. Zum Vergleich: Die westlichen Alliierten ließen im selben Zeitraum 200 Militärangehörige hinrichten. Und im Ersten Weltkrieg verhängte die deutsche Militärjustiz lediglich 150 Todesurteile, von denen nur ein Drittel vollstreckt wurde. Der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette:"Kein einziger Wehrmachtrichter ist bestraft worden für seine Todesstrafen-Praxis. Es gab einzelne Fälle, in denen Vorermittlungen und Ermittlungen angestellt worden sind, aber das alles ist niedergeschlagen worden. Zu einer Verurteilung kam es in keinem einzigen Fall."Großes Aufsehen erregten in den 1970er Jahren die Rechtfertigungsversuche des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger. Als NS-Marinerichter hatte er noch kurz vor Kriegsende die Todesstrafe für einen jungen Wehrmachtsdeserteur gefordert und später seine verhängnisvolle Tätigkeit mit dem Satz verteidigt: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!"Filbinger ging als "furchtbarer Jurist" in die Geschichte ein.Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen die Alliierten, deutsche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. Als Erste mussten sich Hauptschuldige wie Hermann Göring, Rudolf Hess, Albert Speer und Hans Frank vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Es folgten zwölf weitere Verfahren vor amerikanischen Militärgerichtshöfen, darunter als Fall III der Juristenprozess. "This case is unusual … "Der Hauptankläger, Brigadegeneral Telford Taylor, am 17. Februar 1947 bei der Eröffnung des Prozesses."The temple … Der Tempel der Gerechtigkeit muss wieder geweiht werden. Das kann nicht im Nu geschehen oder durch ein bloßes Ritual. Aber wir haben hier, glaube ich, eine besondere Gelegenheit und große Verantwortung, dabei zu helfen, dieses Ziel zu erreichen."Angeklagt waren hohe Beamte des Reichsjustizministeriums sowie mehrere Richter des Volksgerichtshofes und der Sondergerichte, insgesamt 16 Personen. Der Prozess endete im Dezember 1947 mit zehn Verurteilungen und vier Freisprüchen. Zwei Beschuldigte waren während des Verfahrens verstorben, mehrere Angeklagte, darunter die Staatssekretäre Franz Schlegelberger und Herbert Klemm, erhielten lebenslange Haftstrafen.Im Urteil heißt es:"Das Beweismaterial ergibt schlüssig, dass Schlegelberger und die anderen Angeklagten die schmutzige Arbeit übernahmen, die die Staatsführer forderten, und das Justizministerium als ein Werkzeug zur Vernichtung der jüdischen und polnischen Bevölkerung, zur Terrorisierung der Einwohner der besetzten Gebiete und zur Ausrottung des politischen Widerstandes im Inland benützten.""Die höchste Strafe war die lebenslange Freiheitsstrafe."Der Rechtswissenschaftler Christoph Safferling."Also schon interessant, dass die Juristen offensichtlich hier auch anders behandelt worden sind als andere Berufsgruppen, beispielsweise die Ärzte. Im Ärzteprozess in Nürnberg gab es etliche Todesurteile. Der Nürnberger Juristenprozess hat ja diesen Ausspruch geprägt, dass der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen verborgen war. Und das ist, denke ich, ein ganz gutes Bild dafür, was Juristen tatsächlich tun und wofür sie auch verantwortlich sind."Unter deutschen Rechtsexperten stieß der Nürnberger Prozess jedoch auf Ablehnung. Sie werteten das Verfahren als "Siegerjustiz" und "Rache am politischen Gegner". Der nordrhein-westfälische Justizminister Artur Sträter erklärte im Juni 1947:"In den Sondergerichten haben oft Männer gesessen, die unvorstellbares Leid verhindert haben. Der deutsche Richter in seiner Gesamtheit ist im Dritten Reich intakt geblieben, er hat nicht vor Hitler kapituliert."Eine Ansicht, die erst mehr als vier Jahrzehnte später revidiert wurde, mit der Ausstellung "Justiz und Nationalsozialismus", einer vom Bundesjustizministerium im Jahr 1989 erarbeiteten Materialsammlung von 2000 Schriftstücken und Fotos. Die Dokumentation ist der erste ernsthafte Versuch aus den Reihen der Justiz, sich mit der NS-Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Das Ausstellungskonzept erarbeitete Gerhard Fieberg, damals Mitarbeiter des BMJ, zuletzt Präsident des Bonner Bundesamtes für Justiz. Bereits 1950, so Fieberg, wurden die ersten Verurteilten des Nürnberger Juristenprozesses entlassen, der letzte kam 1956 frei."Auf deutschen Druck hin von den Amerikanern begnadigt; und dann in den 50er Jahren als freie Leute in der Bundesrepublik lebten, dort entweder Pensionäre waren oder aber gut gehende Anwalts- und Notariatspraxen betrieben und von der bundesdeutschen Justiz nicht mehr vor Gericht gestellt werden konnten."Ohne frühere NSDAP-Mitglieder, so zeigte sich schon bald nach Kriegsende, kam die westdeutsche Justiz nicht aus. Nur ein Drittel der Richter wurde entlassen, in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR waren es dagegen 80 Prozent. Die radikale Entnazifizierung im Osten hatte jedoch fatale Folgen, denn die neuen sogenannten Volksrichter fällten im Namen einer sozialistischen Gesetzlichkeit zahllose Unrechtsurteile.Im Westen hatten belastete Juristen hingegen kaum strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten. Nicht ein Richter der Sondergerichte oder des Volksgerichtshofes wurde von bundesdeutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt. Die Justiz sprach sich selbst frei. Einer der wenigen, die dagegen protestierten, war Reinhard Strecker. Als Student an der Freien Universität Berlin wollte er 1959 Unrechtsurteile aus der NS-Zeit veröffentlichen, mit Verweisen auf die bruchlosen Karrieren der verantwortlichen Juristen nach 1945. Da ihm die Archive westdeutscher Gerichte verschlossen blieben, fuhr er nach Warschau und Prag."Und dafür suchte ich Mitstreiter in der FU. Voll besetztes Auditorium Maximum: Und ich forderte auf, bei mir mitzuarbeiten, und dann ergriff ein Dekan das Mikro und sagte, also, was ich da täte, das sei das Letzte an nationaler Verworfenheit. In der Weimarer Zeit hätte man Leute wie mich ins Zuchthaus gesteckt, und da gehörte ich auch hin."Reinhard Strecker nahm zudem Hilfe aus Ost-Berlin an, was ihm in Zeiten des Kalten Krieges den Vorwurf einbrachte, Propaganda für die DDR zu betreiben. Im November 1959 präsentierten Strecker und seine Mitstreiter in Karlsruhe der Öffentlichkeit Dutzende Fälle. Die von Strecker organisierte Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" löste empörte Reaktionen aus. Politiker verstanden sie als Generalangriff auf die Justiz, die SPD schloss einige beteiligte Studenten aus der Partei aus. Nur Generalbundesanwalt Max Güde zeigte sich erschrocken angesichts des Materials. Immerhin führte die große Resonanz der Ausstellung in den Medien zu einer politischen Debatte über den Umgang mit NS-Juristen. Personelle Konsequenzen blieben jedoch aus. Der Anteil der Juristen, die schon im Dritten Reich tätig gewesen waren, lag in den 1950er Jahren an den Landgerichten bei knapp 70 Prozent, an den Oberlandesgerichten bei fast 90 Prozent und am Bundesgerichtshof bei 75 Prozent. Allerdings sagen die Zahlen allein noch nichts über das Verhalten des Einzelnen aus.Begünstigt wurde die Selbstentlastung der Justiz von verschiedenen Amnestien und Verjährungsfristen. Der ehemalige Justizmister Thomas Dehler erklärte 1965 im Bundestag:"Zu unserem Recht gehört auch, dass Schuld, dass jede Schuld verjährt.""Und das hat in noch höherem Maße dazu beigetragen, dass hier natürlich ganze Personengruppen in sehr, sehr großer Zahl von Strafverfolgung befreit wurden."Der Historiker Manfred Görtemaker:"Da das aber maßgeblich vom BMJ getragen wurde in der Gesetzgebung, ist natürlich die Frage schon erlaubt und interessant, inwieweit das BMJ oder Personen im BMJ daran eben aktiv mitgewirkt haben."Die personellen Verbindungen zwischen Reichsjustiz- und Bundesjustizministerium muss die Kommission erst noch im Einzelnen erforschen, doch Manfred Görtemaker und Christoph Safferling können bereits heute auf einige bekannte Fälle verweisen."Es gibt ja erstaunliche Kontinuitäten, wenn Sie etwa an das Familienrecht denken oder an das Strafrecht denken, das sind z.T. die gleichen Personen, die im Reichsjustizministerium für diese Abteilung zuständig waren, für diese Referate, und dann auch wiederum Referatsleiter im BMJ geworden sind. Und dass sie diesen Spagat hinbekommen haben, von der Justiz des Dritten Reiches nahtlos in die Justiz der Bundesrepublik überzuwechseln, das ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, aber es hat offensichtlich funktioniert.Maßfeller z. B. war ja im Reichssicherheitshauptamt unter Eichmann tätig und hat einen Kommentar verfasst zum Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz 1936, also der hatte offensichtlich schon die nationalsozialistische Ideologie soweit verinnerlicht. Er war dann später tatsächlich im Bundesjustizministerium auch in zivilrechtlichen Angelegenheiten, im Familienrecht wieder tätig, das nimmt doch Wunder. Oder auch Herr Schafheutle beispielsweise: Schafheutle war im Reichsjustizministerium Abteilungsleiter für Strafrecht und hat diese Tätigkeit dann von November 1950 an auch im Bundesjustizministerium wieder ausgefüllt. Als wäre nichts geschehen, hat er einfach in der gleichen Position weiter gearbeitet und jetzt plötzlich ein demokratisches Strafrecht reformieren sollen. Eduard Dreher war in den 40er Jahren für etliche Jahre in Innsbruck als Sonderstaatsanwalt tätig und war dort auch verantwortlich für eine ganze Reihe von Todesurteilen. Und Eduard Dreher hat schließlich in den 68er Jahren dafür gesorgt oder war mit dafür verantwortlich, dass die sogenannte kalte Verjährung eingetreten ist, dass also NS-Täter, wegen Beihilfe zum Mord oder Beihilfe zum Totschlag konnten sie nicht mehr verurteilt werden, weil die Beihilfe-Strafbarkeit dann bereits verjährt war."Angesichts zahlreicher "Altlasten" aus der NS-Zeit ist es erstaunlich, wie unproblematisch der Aufbau des demokratischen Rechtsstaates in der Bundesrepublik verlief."Mein Eindruck ist, dass die Mitarbeiter im Justizapparat sich immer als Helfer gesehen haben, dass sie sich haben instrumentalisieren lassen vom politischen Apparat, dass sie Fachleute waren und dass sie sich dann in den Dienst des jeweiligen politischen Systems gestellt haben. Und das gilt für das Dritte Reich genauso wie für die Bundesrepublik.""Gestern Hitlers Blutrichter – heute Bonner Justiz-Elite" lautete der provozierende Titel einer Ost-Berliner Broschüre aus dem Jahr 1957. Gab es – ähnlich wie im Auswärtigen Amt – im BMJ ein Netzwerk ehemaliger NS-Juristen, die sich in der Bundesrepublik wechselseitig protegierten? Justizminiserin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:"Ich bin ja gerade sehr gespannt, wieweit gab es Verknüpfungen, Verwicklungen, wieweit ist aber auch vielleicht versucht worden, Einfluss zu nehmen, dass weitere Kameraden aus früheren Zeiten dann im damaligen Bundesjustizministerium wieder eingestellt und beschäftigt wurden. Ich denke, da wird es Anhaltspunkte zu geben.""Was man schon sehen kann, ist, dass beispielsweise aus den Landesjustizverwaltungen her persönliche Bekanntschaften eine Rolle gespielt haben bei der Besetzung von Ministerialposten. Die Rekrutierungspolitik insgesamt ist bislang im Grunde ein Buch mit sieben Siegeln. Da können wir noch keine Aussage dazu treffen."Dazu werden Christoph Safferling und Manfred Görtemaker in den Keller des BMJ hinabsteigen, wo alle Personalakten des Ministeriums von 1949 bis heute liegen. Einen ersten Blick konnten sie bereits in das Archiv werfen."Wir haben ein paar Akten uns angesehen, also so einfach willkürlich rein gegriffen und haben die Akte von einem Herrn Dr. Marquardt gefunden, der auch später im Bereich des Zivilrechts und der Rechtspflege Abteilungsleiter war. Und es hat sich herausgestellt, in seinem Personalblatt gleich vorne dran stand, dass er Sturmbannführer der SA, also doch ein relativ hohes Tier schon in der SA war.Der Eindruck bisher ist, dass diese Akten durchaus brisant sind, denn natürlich sind die Belastungen aus der NS-Zeit z.T. sehr schwerwiegend, das ist aber bisher nur ein erster Eindruck. Wir können jetzt daraus keine weitergehenden Schlussfolgerungen ziehen. Wir wissen vor allem nicht, ob das eben flächendeckend der Fall ist oder ob das nur Einzelfälle sind."In zwei bis drei Jahren will die Kommission die Ergebnisse ihrer Untersuchung vorlegen. Was erwartet die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der Arbeit?"Natürlich ist es am Spannendsten im Bereich des Strafrechts, Amnestie, Wiedereinführung der Todesstrafe im Zusammenhang mit den Debatten über eine Wehrstrafgerichtsbarkeit, politisches Strafrecht, das sind ja die ganz brisanten Fragen, aber auch Familienrecht, was ja auch von Vorstellungen, Werten, Ideologien immer mit geprägt ist, ist glaube ich ein Bereich, wo ich auch hoffe, dass es da Bewertungen gibt, wie weit möglicherweise mit den Vorstellungen, die man in der Zeit von 33 bis 45 in der NSDAP hatte, dann auch noch im Ministerium gearbeitet hat." | Von Otto Langels | Viele NS-Juristen konnten ihre beruflichen Karrieren im Nachkriegsdeutschland problemlos fortführen. Um die Fakten genau zu untersuchen, hat Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine wissenschaftliche Kommission ins Leben gerufen. | "2012-04-28T18:40:00+02:00" | "2020-02-02T14:00:23.287000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/braune-juristen-fuer-den-rechtsstaat-100.html | 1,044 |
Der Soul vom Land | Es ist nicht ganz einfach zu erklären, wie bisweilen an einem scheinbar unbedeutenden Ort in einem abgelegenen Teil der Welt Musik entsteht, die es nicht nur in die Hitparaden schafft. Sondern die eine magische Anziehungskraft auf andere Musiker ausübt. Zeitgeist? Ja, sicher. Eine besondere kreative Energie und ganz viel Talent?. Aber es braucht noch etwas mehr. Wilson Pickett: ""One, two, three, one, two three”" Percy Sledge: ""When a man loves a woman, he can't keep his mind on nothing else”"Aretha Franklin:""You're a no good heart breaker, you're a liar and you're a cheat”"Wilson Pickett, Percy Sledge, Aretha Franklin - sie haben all ein paar Dinge gemeinsam. Hautfarbe. Stimmvolumen. Aber auch das: Ihre ersten Erfolgssongs wurden im selben Studio aufgenommen. In einer kleinen Stadt namens Muscle Shoals im Nordwesten von Alabama. Allesamt eingespielt von einer Gruppe von jungen Studiomusikern aus der Gegend, die damals noch nichts von der Welt gesehen hatten. Percy Sledge muss noch heute grinsen: ""A lot of people could not believe that my whole band was white guys that played behind me.”"Die Musiker waren weiß. Und Autodidakten obendrein. Aber sie lieferten das, was Jerry Wexler, der einflussreiche Chef von Atlantic Records wollte, der einst den Begriff Rhythm and Blues erfunden hatte und seine schwarzen Sänger nach Muscle Shoals schickte:""'Resonanz’. Das ist, was beim Hören den entscheidenden Effekt auslöst. Die magische Zutat einer Schallplatte.”"Resonanz hatte in den sechziger Jahren vieles. Besonders im Süden der USA, dem "deep south”, dem letzten Bollwerk der Rassentrennung. Und so flossen am Oberlauf des Tennessee, in Muscle Shoals im Studio von Rick Hall, viele kulturelle Strömungen und wirtschaftliche Ambitionen zusammen.Wie es dazu kam und was das für die Geschichte der Pop-Musik bedeutete – das erzählt nun zum ersten Mal ein Dokumentarfilm. Mit Hilfe von vielen berühmten – und nicht so berühmten – Zeitzeugen. "Muscle Shoals” heißt er und erhielt vom Fachmagazin "Rolling Stone” das Prädikat "unbedingt ansehen”. Norbert Putnam, der in der ersten Rhythmusgruppe in Muscle Shoals Bassgitarre spielte. ""Rick war damals 28 oder 29 und machte Platten mit Teenagern, Weltklasseplatten, die Hits wurden.”"Hall hatte einen einfachen Plan, wie er neulich dem New Yorker Radiosender WNYC erzählte: ""Ich wollte Geld verdienen und etwas Besonderes sein. Ich habe mit sechs angefangen, Musik zu machen und alle möglichen Auszeichnungen erhalten. Im Laufe der Zeit wurde ich selbstbewusster und wohl auch ein bisschen arrogant, egozentrisch und kämpferisch.”"Das produzierte Streit. Mit Jerry Wexler. Und mit den Musikern, die er entdeckt hatte. Die machten sich selbstständig und richteten in Muscle Shoals ihr eigenes Studio ein. Die Konkurrenz allerdings belebte das Geschäft erst richtig und brachte in den späten sechziger und in den siebziger Jahren eine lange Liste von namhaften Bands und Sängern nach Alabama. Zu ihnen gehörten so unterschiedliche Typen wie Steve Winwood, der mit der Band Traffic kam, aber auch Jimmy Cliff aus Jamaika. Bob Dylan und Paul Simon nahmen Platten in Muscle Shoals auf. Rod Stewart und die Osmond Brothers, Bob Seeger. Und Lynyrd Skynyrd, die in dem Song "Sweet Home Alabama” in vier Zeilen den Ort verewigten.""Now Muscle Shoals has got the Swampers;And they've been known to pick a song or two."Die kurioseste Geschichte lieferten allerdings die Rolling Stones, die 1964, als sie noch kein eigenes Material hatten, das Lied "You Better Move On” von Arthur Alexander aufnahmen, dem einstigen Gepäckträger eines Hotels in Muscle Shoals, und der erste Hit aus dem Studio von Rick Hall. ""Thank you very much, we gonna drive a slow one and it’s called "You Better Move on”."Die Stones machten 1969 während ihrer großen Amerikatournee Station in Alabama und nahmen Songs auf wie "White Horses” und "Brown Sugar”. Keith Richards:"Es war einer der einfachsten und rockigsten Sessions. Wir waren selten so produktiv. Drei, vier Songs in zwei Tagen.”"We left on a high with "Brown Sugar”. We knew we had one of the best things we’d ever done.”""Brown Sugar”, sagt Keith Richards, gehört zum Besten, was die Stones je produziert haben.Der Film "Muscle Shoals” ist übrigens ein Erststück. Regisseur Greg Camalier war früher Immobilienmakler in Colorado. Den Mangel an Erfahrung spürt man. Besonders im Auftritt von Bono von U2, der in seiner langen Karriere keinen einzigen Ton in Muscle Shoals aufgenommen hat. Der gibt unwidersprochen eine unausgegorene Blut- und Boden-Theorie über das Entstehen von Musik zum Besten.Auf der anderen Seite versäumte Camalier es, Interviewpartner Stevie Winwood zu fragen, was ihn eigentlich einst als 17-Jährigen dazu gebracht hatte, mit der Spencer Davis Group eine Cover-Version von "When a Man Loves a Woman” aufzunehmen. Doch von solchen Kleinigkeiten abgesehen, zeigt die Dokumentation vor allem eines – und das mit sehr viel Seele: Wie bemerkenswert das Panorama der Musik aus dem Kraftfeld Muscle Shoals ist. Und wie kurios es ist, dass bislang so gut wie niemand der damals Beteiligten in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde. | Von Jürgen Kalwa | Vor 50 Jahren wurden in großen US-Städten wie Detroit und Memphis faszinierend neue Klänge produziert. Doch auch in der Provinz gab es einflussreiche Protagonisten des Soul. Der Dokumentarfilm “Muscle Shoals” zeigt Studios und Musiker einer kleinen Stadt in Alabama. | "2013-10-12T15:05:00+02:00" | "2020-02-01T16:39:55.898000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/der-soul-vom-land-100.html | 1,045 |
Hochwasser: Hilfe für die Helfenden | Überschwemmungen im Rhein-Erft-Kreis in NRW (Rhein-Erft-Kreis)
Mitwirkende:
Theo Geers, Dlf-Korrespondent aus Erftstadt
Malte Lueg, Einsatzleiter beim Deutschen Roten Kreuz in Essen und ehrenamtlicher Notfallseelsorger beim DRK in Mülheim a.d.R.
Matthias Friebe, Dlf-Sportredaktion | Von Katharina Peetz | Seit Tagen sind Einsatzkräfte vor allem in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Einsatz, um Menschen aus den überschwemmten Gebieten zu retten. Wie werden die Einsatzkräfte in dieser extremen Ausnahmesituation unterstützt? Außerdem: Die Hochwasser-Lage in Erftstadt. Und: Das gesamte Anti-Doping-System im Sport ist in Frage gestellt. | "2021-07-16T17:00:00+02:00" | "2021-07-17T13:35:43.131000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-hochwasser-hilfe-fuer-die-helfenden-100.html | 1,046 |
Was die Parteien in der Kulturpolitik vorhaben | Staatliche Förderung von Theater, Kunst und Kultur ist hauptsächlich Sache der Länder und Kommunen, zu einem Teil aber auch des Bundes (picture alliance / VisualEyze/ Felbert+Eickenberg)
Die Kultur spielt im Wahlkampf eher eine untergeordnete Rolle - auch in diesem Jahr. Gleichzeitig ist der Wert der Kultur noch nie so häufig beschworen worden wie in den vergangenen Corona-Monaten. Kultur ins Grungesetz - ja oder nein? Bezahlbare Kultur für alle? Wie sieht es mit kultureller Bildung aus, mit Diversität, mit Erinnerungskultur? Das sind die Vorhaben und Vorstellungen der sechs größten Parteien im Bundestagswahlkampf 2021.
SPD
CDU/CSU
Grüne
FDP
Die Linke
AfD
Corona-Folgen - Fällt die Kultur ins Haushaltsloch? Auf 22,4 Milliarden Euro beläuft sich der Umsatzverlust der Kreativwirtschaft im vergangenen Jahr. Auch für das Jahr 2021 ist die Prognose in Bezug auf die kommunale Förderung düster.
Kultur im Wahlprogramm der SPD
Zwei kulturpolitische Hauptthemen gebe es für die SPD, sagt Martin Rabanus, der kulturpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag:
Soziale Sicherung von Kulturschaffenden
Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass man zwar die abhängig Beschäftigten leidlich gut habe schützen können, nicht aber die Solo-Selbstständigen, die unstet und kurzfristig Beschäftigten – sie seien bis auf die Grundsicherung "durchgereicht" worden, so Rabanus. Hier müsse man "institutionell und strukturell besser werden".
Für kurzfristig und unstet Beschäftigte seien Zugänge in die bestehenden sozialen Sicherungssystemen relativ einfach zu erreichen, für die Solo-Selbständigen aber nicht. Hier brauche es "neue Ideen", vorstellbar sei, die Künstlersozialkasse um eine Arbeitslosenabsicherung für Krisensituationen zu erweitern. Auch will die SPD Mindestgagen und Ausstellungshonorare fest etabliert sehen – um Freischaffende dadurch besser abzusichern.
Soziale Absicherung - Kulturschaffende künftig besser unterstützen Kulturschaffende brauchen eine bessere soziale Absicherung, auch über die Coronapandemie hinaus, fordert eine Initiative. Offenbar wurde sie gehört.
Kultur ins Grundgesetz und Kooperationsverbot
Das zweite kulturpolitische Hauptthema der SPD betrifft die Frage, wie die kulturelle Grundversorgung bundesweit und bestmöglichst zu organisieren sei.
Die regelmäßig stattfindenden kulturpolitischen Spitzengespräche will die Partei "zu einem bundesweiten Kulturplenum weiterentwickeln, indem neben Kommunen, Ländern und Bund auch Kulturproduzentinnen und -produzenten, ihre Verbände und die Zivilgesellschaft vertreten sind". So soll ein "neuer Kulturkonsens über die Aufgaben und Verfahren der Kulturpolitik, ein kulturelles Bündnis der Vielfalt und Freiheit" erarbeitet werden. Kultur soll als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden. Der Bund müsse mehr machen als sich "um die Museumsinsel und kulturelle Leuchttürme zu kümmern", sagt Rabanus. Das Kooperationsverbot, das dem Bund untersagt, sich in die Kulturpolitik der Länder einzumischen, will die SPD nicht antasten.
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Bundestagswahl 2021 - Welche Koalitionen sind denkbar?
Kultur im gemeinsamen Wahlprogramm von CDU/CSU
Der kulturpolitische Grundton der Union ist eindeutig: Weiter so wie bisher! Man werde die "erfolgreiche Kulturpolitik konsequent fortsetzen", heißt es im Wahlprogramm - "in den Kommunen, den Ländern und vor allem im Bund". Mit dem Erreichten zeigt man sich zufrieden und doch bleibt aus Sicht der kulturpolitischen Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Elisabeth Motschmann, sehr vieles noch zu tun.
Grundsicherung der Kulturschaffenden
Die Corona-Pandemie habe die Defizite bei der Grundsicherung der Kulturschaffenden gezeigt, "die Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen" müsse "etwas Selbstverständliches" werden, so Motschmann – konkrete Pläne gebe es dazu aber noch nicht.
Kulturförderung
Um die Folgen der Corona-Pandemie zu mildern, soll das Programm "Neustart Kultur" fortgeführt, soll die Kultur- und Kreativwirtschaft intensiver noch gefördert werden als bisher. Daneben werden die bestehenden Kulturförderprogramme fortgesetzt.
Kulturföderalismus oder Bundeskulturministerium?
Von einem "Bundeskulturministerium" ist im Wahlprogramm der Union nicht die Rede. Der deutsche Kulturföderalismus mit seinem "historisch gewachsenen Reichtum an regionalen Identitäten" wird gepriesen als "bereichernde Kraft der Vielfalt, die es zu wahren gilt". Gleichwohl spricht die kulturpolitische Sprecherin der Union, Elisabeth Motschmann, in erstaunlich offenen Worten davon, dass man sich ein Bundeskulturministerium sehr wohl vorstellen könne, auch die jetzige Kulturstaatsministerin Monika Grütters "würde sich freuen, wenn es dahin käme".
Kultursenator: "Kunst und Politik müssen miteinander reden"Wahlkampf auch im Kultursektor: Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) hat in einem Zeitungsartikel zusammen mit Olaf Scholz die künftig geplante Kulturpolitik der SPD vorgestellt. "Ein Schulterschluss von Politik und Kultur" sei gerade jetzt wieder gefragt, sagte Brosda im Deutschlandfunk.
Erinnerungskultur
Auch die laufenden Projekte der Erinnerungskultur sollen weiterentwickelt werden, die "Provenienzforschung vor allem zum NS-Kunstraub wie auch zur Kulturgutentziehung während der SED-Diktatur und des Kolonialismus" soll einen kulturpolitischen Schwerpunkt bilden.
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Die Künste seien von zentraler Bedeutung für die Selbstreflexion der Gesellschaft, den Zusammenhalt und die Persönlichkeit der und des Einzelnen, heißt es im Wahlprogramm der Grünen.
Kulturförderung
"Partizipativ, inklusiv und geschlechtergerecht" soll die öffentliche Kulturförderung der Grünen sein, dazu gehört auch eine Frauenquote etwa bei der Besetzung von Intendanzen. "Alle Kulturformen und -sparten", die freie Szene ebenso wie institutionell geförderte Kultureinrichtungen, sollen die gleiche Wertschätzung erfahren; zu den Kulturangeboten soll jede und jeder "einfachen Zugang" haben.
Kultur ins Grundgesetz
Damit Kultur und kulturelle Bildung "endlich selbstverständlicher Teil der Daseinsvorsorge" werden, wollen die Grünen "krisenfeste Strukturen" schaffen und Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankern.
"Mehr Kooperationen" aber keine Aufhebung des Kooperationsverbots
Bei der Finanzierung von Kultureinrichtungen und-projekten streben die Grünen "mehr Kooperationen" zwischen Bund, Ländern und Kommunen an; eine explizite Forderung, das Kooperationsverbot aufzuheben, findet sich im Wahlprogramm der Grünen nicht, auch nicht die Idee eines Bundeskulturministerium.
Soziale Absicherung von Kulturschaffenden
Zur sozialen Absicherung der Kulturschaffenden wollen die Grünen "prekäre Arbeitsverhältnisse in privaten und insbesondere öffentlichen Kulturinstitutionen überwinden". Die Künstlersozialkasse soll "finanziell gestärkt", die Mitgliedschaft auch für jene ermöglicht werden, "die nur zeitweise für Produktionen versicherungspflichtig angestellt sind". Für die Dauer der Corona-Pandemie wollen die Grünen Kulturschaffenden ein Existenzgeld von monatlich 1.200 Euro zahlen, perspektivisch soll Solo-Selbstständigen der Zugang in die Sozialversicherungssysteme erleichtert werden.
Erinnerungspolitik
In ihrer Geschichts- und Erinnerungspolitik wollen die Grünen den Nationalsozialismus und die "SED-Diktatur" "weiter konsequent aufarbeiten". Eine "zentrale Erinnerungs- und Lernstätte" soll "die Kontinuitäten des Kolonialismus ins Bewusstsein rücken" und so eine gesellschaftliche Debatte über das koloniale Erbe Deutschlands fördern.
Kulturpolitik in den Wahlprogrammen: Bündnis 90/Die Grünen (05:35)
Mit welchen bildungspolitischen Forderungen die Parteien in den Wahlkampf ziehen Lehrkräftemangel, digitaler Unterricht, Ganztagsbetreuung und Förderung für Lernschwache: Dies sind nur einige der vielen Aufgaben, die sich in der Schulpolitik stellen. Was sind die Plänen der Parteien für die Bildungspolitik?
Kultur im Wahlprogramm der FDP
Für eine Partei, die sich generell für einen "schlanken Staat" ausspricht, findet sich im Wahlprogramm der FDP eine erstaunliche Bereitschaft zur Kulturförderung. Diese sei "keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft unseres Landes", denn das "Neue und Originelle" sei "oft jenseits der selbsttragenden Vermarktung" zu finden.
Kulturförderung
Um der "Kultur- und Kreativwirtschaft" zu helfen, will die FDP "Förderprogramme auch für kleinere Unternehmen und Solo-Selbstständige" öffnen; Förderanträge sollen vereinfacht, Online-Livestreams von der Rundfunklizenzpflicht befreit werden.
Soziale Absicherung von Kulturschaffenden
Zur sozialen Lage der Kulturschaffenden findet sich im kulturpolitischen Teil des FDP-Wahlprogramms nichts.
Man habe lange darüber diskutiert, einige dieser Überlegungen seien in die allgemein gehaltenen Abschnitte zu Arbeits- und Sozialthemen eingeflossen, sagt Hartmut Ebbing, der kulturpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag. Klar sei, dass für Kulturschaffende grundsätzliche Dinge völlig neu geregelt werden müssen. Für sie gebe es keine wirkliche Arbeitslosenversicherung. Und: Die Kategorien angestellt/selbstständig/scheinselbständig seien vom Gesetzgeber immer noch nicht klar definiert worden. Diese Frage werde von der Politik den Gerichten überlassen – das müsse sich ändern.
Auswärtige Kulturpolitik
Besonders wichtig ist der FDP auch die auswärtige Kulturpolitik. So will sie etwa einen "National Trust Europe" gründen: einen EU-weiten Kulturfonds zum Schutz des europäischen Kulturerbes, der als Dachorganisation europäische Denkmalschutzeinrichtungen fördern und miteinander EU-weit vernetzen soll. Nach dem Vorbild des "National Trust" in Großbritannien finanziert "zu großen Teilen über Mitgliedsbeiträge, Einnahmen aus Eintritten und gewerblichem Betrieb" soll die Institution sich eines Tages selbst tragen.
Kultur im Wahlprogramm der Linken
"Die Linke" steht für einen breiten Kulturbegriff, ihr Wahlprogramm betont soziokulturelle Zentren, "partizipative Freiräume für Kinder und Jugendliche", eine kommunale Kultur- und Vereinsförderung sowie eine urbane Clubkultur.
Für "Die Linke" sollen "Kunst und Kultur" "helfen, unterschiedliche Perspektiven auf unser gesellschaftliches Miteinander sowie auf Missstände zu werfen", um damit "solidarisch die Bedingungen für alle Menschen zu verbessern". Auch die großen Museen, die Staatstheater, die Opernhäuser haben in diesem Konzept ihren Platz, sie sollen sich aber ihrem Publikum deutlich intensiver zuwenden als bisher.
Kultur ins Grundgesetz, Aufhebung des Kooperationsverbots und Schaffung eines Bundeskulturministeriums
Das Staatsziel Kultur soll im Grundgesetz festgeschrieben werden. Das bestehende Kooperationsverbot, das dem Bund untersagt, sich in die Kulturpolitik der Länder einzumischen, soll aufgehoben werden. Dazu gehört die Forderung nach einem Bundeskulturministerium - das sich inhaltlich nicht einmischen, aber die kulturwirtschaftlichen Rahmenbedingungen setzen soll.
Soziale Absicherung von Kulturschaffenden
Bei der Gleichstellung der Kulturschaffenden und um ihre soziale Lage im Blick zu behalten, sei der Bund unerlässlich, doch hier habe die Bundesregierung "versagt": Die soziale Lage vieler Kulturschaffender sei "desolat". Entsprechend will die "Linke" "unstetig Beschäftigte und Solo-Selbstständige" in die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung einbeziehen, für Lockdown-Geschädigte ist eine Monatspauschale von mindestens 1.200 Euro vorgesehen.
Erinnerungspolitik
In ihrer Geschichts- und Erinnerungspolitik will die "Linke" die Geschichte beider deutscher Staaten als "gemeinsame Geschichte" vermitteln – und sich dabei "an den Realitäten der Einwanderungsgesellschaft orientieren" und "die Leistung der Millionen von Gastarbeitern" angemessen würdigen.
Kulturpolitische Forderungen in den Wahlprogrammen: Die Linke (05:33)
Kultur im Wahlprogramm der AfD
Im Mittelpunkt des kulturpolitischen Programms der AfD stehen die Begriffe "Identität" und "deutsche Leitkultur". Die deutsche Identität sei "geprägt durch unsere deutsche Sprache, unsere Werte, unsere Geschichte und unsere Kultur", heißt es im Wahlprogramm, unsere Kultur sei "eng verbunden mit dem Christentum, der Aufklärung, unseren künstlerischen und wissenschaftlichen Werken".
Deutsche Leitkultur versus Multikulturalismus
Die "deutsche Leitkultur" beschreibe "unseren Wertekonsens, der für unser Volk identitätsbildend ist". Der "Multikulturalismus" wie der "Kulturrelativismus" würden zu einem "Neben- und Gegeneinander von Parallelgesellschaften" ohne gemeinsame Werte führen, in einer "derart fragmentierten Gesellschaft" würden "Konflikte entstehen, die kaum noch beherrschbar" seien.
Kulturhoheit der Bundesländer
Das AfD-Wahlprogramm betont die Kulturhoheit der Bundesländer. Die kulturpolitischen Aktivitäten des Bundes will die AfD "begrenzen".
Erinnerungspolitik
In der Geschichts- und Erinnerungspolitik plädiert die AfD insbesondere dafür, sich "nicht nur auf die Tiefpunkte unserer Geschichte" zu konzentrieren, sondern "auch die Höhepunkte im Blick" zu haben.
Mit Blick auf die deutsche Kolonialzeit wendet sich die AfD gegen "aggressive Versuche einer ideologisch geprägten, moralisierenden Umdeutung der Geschichte, die sich an der Schleifung von Denkmälern und Umbenennung von Straßen" festmache. Der kulturpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Bundestag, Marc Jongen, argumentiert: In der Kolonialzeit seien zwar Verbrechen begangen worden, sie sei aber "keine bloße Verbrechensgeschichte". Die moderne Staatlichkeit vieler der ehemals kolonialisierten Länder sei erst mit der Kolonialzeit entstanden, "jahrhundertelange Gewaltgeschichten – Stichwort Versklavung" seien "in dieser Zeit beendet" worden.
Kulturpolitische Forderungen in den Wahlprogrammen: die AfD (05:29) | Von Jürgen König | Welche kulturpolitischen Forderungen und Ideen stehen in den Programmen der großen Parteien zur Bundestagswahl? Durch die Coronakrise ist die soziale Absicherung von Kulturschaffenden in den Fokus gerückt, ebenso die Kulturförderung. Manche befürworten gar ein Bundeskulturministerium. Ein Überblick. | "2021-08-13T11:51:00+02:00" | "2021-08-14T08:45:29.877000+02:00" | https://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahl-2021-was-die-parteien-in-der-kulturpolitik-100.html | 1,048 |
Türkei: Prozess gegen Kurdenvertreter | Die Staatsanwaltschaft in der südostanatolischen Stadt Diyarbakir ist überzeugt davon, dass die angeklagten Politiker und Bürgerrechtler nicht mehr sind als der verlängerte Arm der verbotenen PKK. Tatsächlich käme es wohl keinem der 151 Angeklagten in den Sinn, sich von der Untergrundarmee zu distanzieren - dafür ist der Einfluss der PKK in der gesamten Kurdenregion zu groß. Die Verhaftungen seien dennoch willkürlich, meint der Istanbuler Politologe Cengiz Aktar. Im Schwurgericht von Diyarbakir zeige sich, dass die Regierung kein Konzept zur Lösung des Kurdenproblems habe:"Das ist ein rein politischer Prozess - ein Beispiel für das Taktieren der Regierung. Sie hat einfach noch immer noch nicht verstanden, dass man das Kurdenproblem nur lösen kann, indem man mit Kurden redet. In deren Weltbild gibt es eine Menge böser Kurden und ein paar gute Kurden, meistens Mitglieder ihrer eigenen Partei."Der Prozess gegen die Kurdenvertreter fällt in eine Zeit, in der hitzig über einen Plan für ein autonomes Kurdistan innerhalb der Türkei diskutiert wird. Eine einflussreiche Gruppe kurdischer Intellektueller hatte diesen Plan Ende Dezember vorgelegt - offenbar gehen die Überlegungen auf den inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan zurück. In dem Papier wird nicht allein Kurdisch als zweite Amtssprache gefordert. Die Kurdenregion solle darüber hinaus ein eigenes Parlament, eine regionale Regierung, eine eigene Flagge und Hymne sowie eigene Sicherheitskräfte bekommen. Forderungen, die in der Türkei als inakzeptabel gelten. Nicht nur die Opposition zeigte sich geschockt, auch Ministerpräsident Erdogan verurteilte den Vorstoß im Parlament scharf. Er gefährdete den sozialen Frieden und die Einheit des Landes:"Dieses Land werden wir niemandem als Versuchsobjekt überlassen! Ich habe als Ministerpräsident das Kurdenproblem immer anerkannt. Aber ich bin gegen kurdischen Chauvinismus genauso wie gegen türkischen Chauvinismus. Damit das klar ist!"Die kurdische Partei BDP erklärt das Autonomiemodell zu einer Diskussionsvorlage und versucht die Wogen zu glätten. Dies sei keine Vorstufe zur staatlichen Unabhängigkeit, versichert die stellvertretende Vorsitzende Gültan Kisanak, sondern lediglich der Versuch, die verschleppte Debatte über das Kurdenproblem wieder anzufachen:"Wir haben immer gesagt, dass wir durch unsere Arbeit im Parlament Veränderungen erreichen wollen. Dort ist der Platz für solche Debatten. Aber man muss auch einfach einmal anerkennen: Seit 30 Jahren gibt es diese blutigen Auseinandersetzungen und die Menschen wollen eine Lösung. Sie wollen auch, dass mit allen Beteiligten des Konflikts geredet wird. Wir haben das immer gesagt und sind dafür gescholten worden. Nun setzt sich diese Erkenntnis langsam durch."Tatsächlich gibt es jenseits aller öffentlichen Scharmützel vor dem morgigen Gerichtsprozess im Stillen weiter Bemühungen, eine dauerhafte Waffenruhe zwischen PKK und Armee zu erreichen. Dafür hat die Regierung sogar das Tabu gebrochen, nicht mit der PKK zu reden. Über die kurdische Anwältin und Politikerin Aysel Tugluk führt sie zumindest indirekte Gespräche mit Abdullah Öcalan. Mit Zustimmung Ankaras besuchte Tugluk den inhaftierten PKK-Chef mehrfach auf der Gefängnisinsel Imrali und erhielt so dessen Ja zu einer Verlängerung des Waffenstillstands bis zu den Parlamentswahlen im Juni.Aber auch mit der kurdischen Regionalregierung im Irak verhandelt Ankara immer mal wieder darüber, wie die PKK in deren Rückzugsgebieten im Nordirak entwaffnet werden könnte. Derweil wollen die kurdischen Bürgermeister im Südosten des Landes nicht mehr länger warten. Sie haben damit begonnen, Teile des Autonomiemodells umzusetzen. In etlichen Gemeinden wurden zweisprachige Ortsschilder aufgestellt. Die Regierung sollte sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen, warnt der Istanbuler Politologe Cengiz Aktar:"Wenn ein Vakuum in der Politik entsteht, dann kommen andere und füllen dieses Vakuum aus. Mit anderen Worten: Wenn die Regierung nicht endlich Resultate in der Kurdenpolitik liefert, dann kommen PKK und die Armee wieder zurück und nehmen das Heft in die Hand. Wenn die Politik scheitert, wird das Militär bestimmt nicht weit sein."Doch es ist unwahrscheinlich, dass Erdogan in nächster Zeit zu größeren Zugeständnissen an die Kurden bereit ist. Denn im Juni sind Parlamentswahlen - da gilt es, vor allem die türkische Mehrheit nicht zu verprellen. | Von Gunnar Köhne | Heute wird in der Türkei ein Prozess gegen mehr als 150 Politiker, Bürgermeister und Mitarbeiter von Bürgerrechtsgruppen fortgesetzt. Ihnen wird die Unterstützung der kurdischen Untergrundorganisation PKK vorgeworfen. Unter den Angeklagten sind Politiker der derzeit wichtigsten Kurdenpartei BDP. | "2011-01-13T09:10:00+01:00" | "2020-02-04T01:49:05.987000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-prozess-gegen-kurdenvertreter-100.html | 1,049 |
Wenn man in Virtual Reality da war, war man da | Verwahrloster Vergnügungspark in Prypiat, nahe des Atomkraftwerkes von Tschernobyl. Einer von zehn Orten, die man in "Chernobyl VR" begehen kann (SERGEY SUPINSKI / AFP)
"Welcome! You are now in Chernobyl, where the time stopped in 1986."
Wo ist das Kraftwerk? Ich kann mich umschauen und habe Angst, runterzufallen, weil es nämlich ungefähr 30 Meter in die Tiefe geht. Diese Aufnahme haben die polnischen Entwickler aus Gleiwitz mit einer Fotodrohne gemacht. Ich würde mich gern irgendwo festhalten.
Unter mir, soweit das Auge reicht, alles ausgestorben. Jede Menge Hochhäuser, eingerahmt von sehr hohen Bäumen. Ich drehe den Kopf nach links. Ganz links da hinten, vielleicht einen oder auch zwei Kilometer entfernt, sehe ich etwas Helleres, Größeres. Das ist der Sarkophag, in dem jetzt das Kernkraftwerk von Tschernobyl untergebracht ist.
"Hombres, working people, Chernobyl is yours and your families' future!"
Die Programmierer und VR-Fotografinnen haben zwei Jahre lang die Gebäude der Verbotszone besucht und mit hoch auflösenden Kameras festgehalten.
Viele Gebäude sind zugänglich
Ein Manko vieler Abenteuer in virtueller Realität ist die schlechte Bildauflösung. Hier sticht "Chernobyl VR" auffallend positiv heraus. Die Fotogrammetrie, wie diese Aufnahmetechnik heißt, umfasste Tausende von Einzelbildern, exakte Vermessungen der Räume und stereoskopische Kamerafahrten.
Gut zehn Orte auf dem Gelände lassen sich in beliebiger Reihenfolge und ohne Zeitdruck besuchen – den Sarkophag natürlich nur von außen, den Kontrollraum von innen, auch den Spielplatz mit dem Riesenrad draußen, den Schrottplatz mit den kontaminierten LKW.
"Look around and pick a place you would like to get to know better."
Das Krankenhaus. Der Betrachter steht tatsächlich in einem Patientenzimmer, das er abschreiten und ausmessen könnte, in VR sind die Dimensionen immer sehr klar. Die verrosteten Medikamentenbehälter, so eineinhalb Meter links am Boden.
"Die Schule…"
Ein vielleicht 20 auf 20 Meter großer Unterrichtsraum mit den vor 30 Jahren in Panik umgestoßenen Bänken und Stühlen. Lenin an der Wand, Zahlen an der Tafel, der ganze Fußboden voll mit Zetteln. Warmes Licht fällt durch die trüben Fensterscheiben. Man kann auch an die Scheiben hingehen und hinausgucken.
Einst eine Mustersiedlung
Diese Schule, dieses Dorf Prypjat mit diesen Einrichtungen, die man alle besuchen kann, auch die Disko, das Schwimmbad, den Kindergarten, die einst eleganten Wohnungen der Arbeiter – das war einmal ein Vorzeigeobjekt in der Sowjetunion, eine Mustersiedlung.
"The city was founded as a settlement for the workers of the nearby Chernobyl nuclear power plant."
Wieder draußen: ein Bauernhof, sehr heruntergekommen. Aber offenbar nicht unbewohnt. Links taucht Siergiey Akulinin auf, ein ehemaliger Kraftwerksmitarbeiter, der heute Führungen durch das 30 Kilometer große Sperrgebiet macht. Er winkt, ich folge.
Und da spricht er mit einem der vielen Rücksiedler. Diese Menschen kamen kurz nach der Havarie in die verbotene Zone zurück. Sie werden vom ukrainischen Militär, das das Gelände bewacht, geduldet und leben in ärmlichsten Verhältnissen. Ein Teil der Einnahmen für das polnische VR-Projekt fließt an diese meist sehr alten Menschen. Ein Huhn läuft von links nach rechts durchs Bild. Hinten am Zaun versammeln sich Neugierige.
Im Ton lebendig, im Bild verlassen
Auch das Sounddesign ist eine Spezialität der Entwickler aus Polen. Zu den Originalgeräuschen wie Wind und Geigerzähler mischen sich sehr entfernt wirkende fröhliche Stimmen, singende Kinder, sich unterhaltende Menschen. Im Ton lebt Tschernobyl noch, im Bild ist es kalt und verlassen. Eine außerordentliche Dokumentation also, wie sie im Fernsehen nicht stattfinden könnte. Ohne moralischen Zeigefinger, eine Abbildung des Ist-Zustands. Wenn man in VR da war, war man da. | null | Vor allem die Computerspieleindustrie hat das Potenzial erkannt, mit VR-Brille tief in künstliche Welten einzutauchen. Heraus sticht die Dokumentation "Chernobyl VR" aus dem polnischen Studio Farm 51, eine virtuelle Reise in die nuklear verseuchte Verbotszone. | "2017-11-23T15:05:00+01:00" | "2020-01-28T11:02:12.576000+01:00" | https://www.deutschlandfunk.de/tschernobyl-rundgang-per-app-wenn-man-in-virtual-reality-da-100.html | 1,051 |