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Dalí, Freud und der Faschismus: Essen und gegessen werden - taz.de | Dalí, Freud und der Faschismus: Essen und gegessen werden
Faschismus ist, wenn das Verdrängte ausgelebt wird: Salvador Dalís Kochbuch „Die Diners mit Gala“ als Kommentar zu 2016.
Frau auf Langustenberg. Illustration aus „Die Diners mit Gala“ (Ausschnitt) Foto: Salvador Dalí. Fundació Gala-Salvador Dalí, Figueres, 2016
Dalí sagt, essen bedeute stets ‚über alle Maßen sterben‘ “, schreibt Salvador Dalí in seinem surrealistischen Kochbuch „Die Diners mit Gala“ über sich selbst. Von der französischen Originalausgabe des Buchs, die 1973 erschienen ist, sind angeblich nur noch 400 Exemplare erhalten. Eine deutsche Ausgabe hatte 1974 der Propyläen Verlag herausgebracht.
Nun wurde das schwere Buch mit dem goldenen Cover vom Taschen Verlag wieder veröffentlicht. Es ist voller Illustrationen: Gemälde von Dalí selbst, aber auch Reproduktionen und Ausschnitte aus Werken etwa von Hieronymus Bosch sind zu sehen. Dazwischen Fotografien von einzelnen Gerichten und mit Speisen überladenen Tischen, die wie neobarocke Installationen wirken. Mittendrin der Meister selbst, und es scheint, dass auch die Meisterköche der Restaurants darauf abgebildet sind, von denen sich Dalí inspirieren ließ.
Dalí inszeniert sich hier als Dichter des Unbewussten, als Meister der Triebe und Sehnsüchte, deren Material und Ausdruck das Essen ist – zugleich delikat und abstoßend, spektakulär und ekelerregend, glamourös und dreckig. Essen steht dabei auch für den menschlichen Körper und die Vorstellung vom Essen und Gegessenwerden.
Herbstliche Kannibalismen
„Die Diners mit Gala“ ist in zwölf Kapitel aufgeteilt. Sie tragen Titel wie „Herbstliche Kannibalismen“. Darin sind Rezepte für Eier und Meeresfrüchte zu finden, die dem berüchtigten bretonischen Baron Gilles de Rais gewidmet sind. Der Waffenbruder Jeanne d’Arcs ist in die Geschichte eingegangen als Serienmörder von hunderten Kindern. Aus ihrem Schrecken und langsamen Tod zog er angeblich sexuellen Genuss.
Das Kapitel wird mit einer großen Illustration von Dalí aus dem Jahr 1971 eröffnet. Sie zeigt eine große Platte voller Langustenschwänze, die in Form eines Kuchens aufgetürmt sind. Oben thront eine Frau, deren Arme abgeschlagen wurden. Aus den Stümpfen spritzen Blutfontänen. Zu Füßen des Langustenbergs liegen verstümmelte Kindergestalten. Vom Himmel regnet es munter Scheiße.
Katholik ohne Glauben
Das größte gastronomische Raffinement bestand für Dalí darin, „gekochte und zugleich lebendige Wesen“ zu verspeisen. Das festige ihn im „Fundamentalgesetz unserer katholisch-apostolischen römischen Religion: den lebendigen Gott in sich aufnehmen, wie es im heiligen Abendmahl praktiziert wird.“
So wie der Tod untrennbar zum Leben gehört, verhält sich für Dalí der Anus zum Mund
Dalí hatte seine künstlerische Karriere als Atheist begonnen. Als er aber nach einem zehnjährigen Aufenthalt in Amerika 1948 nach Spanien zurückkehrte, erklärte er Franco und der Kirche seine Loyalität. Er bezeichnete sich als „Katholik ohne Glauben“, in seinen Bildern erschienen nun häufig religiöse Symbole.
Schwebende Augen schmelzende Räder
Seine angebliche Nähe zum Faschismus führte schon 1939 zu Dalís Ausschluss aus der Surrealistengruppe. André Breton warf ihm außerdem Kommerzialismus vor. Fortan ignorierte ihn auch die Kunstkritik, die ihn verachtete, während das Publikum ihn zu lieben begann.
Tatsächlich nahm Dalí die Pop-Art vorweg. Er arbeitete für die amerikanische Bildindustrie in Werbung und Unterhaltung, auf eine Weise, die man später „Appropriation“ nennen würde. Er schuf etwa die Traumsequenz von Alfred Hitchcocks „Spellbound“, die voller psychoanalytischer Symbole ist – schwebende Augen, aggressive Scheren, schmelzende Räder und ein gesichtsloser Mann.
Angst vor Genitalien
Vor allem aber entwarf er sich selbst als Celebrity-Figur mit entsprechenden Ritualen und Kostümen. Diese performative Dimension treibt auch „Die Diners mit Gala“ an.
Im Kapitel „Ich esse Gala“ findet man „Aphrodisiaka“ wie Rumpsteak „Eros“ oder Aphroditen-Püree. Dalís Ehefrau und Muse Gala galt als sexuell hochaktiv. Er tolerierte ihre Liebhaber und behauptete, er habe Angst vor (weiblichen) Genitalien, sei impotent und masturbiere nur.
„Die Diners mit Gala“Salvador Dalí: „Die Diners mit Gala“. Taschen Verlag, Köln 2016, 320 Seiten, 49,99 Euro
Freud hatte die sexuellen Triebregungen als „außerordentlich plastisch“ bezeichnet. Die eine Triebregung könne die andere ersetzen, wenn es nötig sei. Sie verhielten sich zueinander „wie ein Netz von kommunizierenden, mit Flüssigkeit gefüllten Kanälen“.
Plastizität der Triebe
Galas großer Appetit und Dalís Zurückweisung intimer Nähe scheinen wie ein Kontrapunkt funktioniert zu haben, in denen ästhetische Freuden und Blicke physischen Kontakt ersetzten. Die Plastizität der Triebe und die scheinbar endlosen Variationen des Vergnügens werden im Buch durch die Beschreibungen von Gerichten auf beinahe groteske Weise vorgeführt.
Essen verbindet Mund und Anus miteinander. Dalí hatte ein obsessives Verhältnis zu seinen Ausscheidungen, was er nicht als sündhaft betrachtete. So wie der Tod zum Leben gehört, verhält sich der Anus zum Mund.
Das Verdrängte wird angezapft
Im Jahr, als das Buch erschien, kam auch die Satire „Das große Fressen“ von Marco Ferreri in die Kinos: Vier reiche Männer schließen sich ein, um mit einem Übermaß an Essen und Sex ihr Leben zu beenden. Ästhetisch sind sich Buch und Film ähnlich. Aber während der Film die sich zu Tode fressenden und Sex konsumierenden Überflussgesellschaft kritisiert, feiert Dalí Essen und Geschlechtsverkehr ungebrochen.
Zwei Jahre später erschien Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“. In einer Szene werden die jungen Gefangenen gezwungen, Kot zu essen. Der Film zeigte die andere Seite von Dalís Faszinationen: Im Faschismus wird das Verdrängte angezapft und in Gewalt verwandelt. Genuss, Gewalt und Tod gehören nicht mehr nur psychisch, sondern wirklich zusammen.
Der Herr über Gold
Und so kann man die Wiederveröffentlichung dieses goldenen Buchs als unheimlichen Kommentar auf die Realität des Jahres 2016 lesen. Als Herr über Gold und Kommerz übernahm Donald Trump nun auch die Kontrolle über das amerikanische Unbewusste. Scham scheint nicht mehr als Bremse zu dienen, das Verdrängte kehrt aus den Kloaken zurück. Verdrängung und Sublimation sind untrennbar mit dem Prozess der Zivilisation verbunden. Wenn sie verschwinden, beginnt eine neue Phase der Evolution in Richtung des Animalischen.
Am Ende seines Lebens konnte Dalí nicht mehr essen. Er wurde intravenös ernährt und starb 1989. | Tal Sterngast | Faschismus ist, wenn das Verdrängte ausgelebt wird: Salvador Dalís Kochbuch „Die Diners mit Gala“ als Kommentar zu 2016. | [
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Demonstrationen im Iran: Die neue Revolution - taz.de | Demonstrationen im Iran: Die neue Revolution
Proteste sind im Iran eigentlich ein Dauerzustand. Doch was gerade passiert, hat eine völlig andere Qualität.
Illustration: Katja Gendikova
„Weg mit dem Diktator!“, rufe ich. Damit ist Ajatollah Chamenei gemeint. Ich will den Menschen im Iran heute zeigen, dass ich sie in ihrem Kampf gegen die Unterdrückung der iranischen Regierung unterstütze. Auch für mich ist das gefährlich. Als iranische Staatsangehörige kann ich dafür schon am Flughafen im Iran verhaftet werden, wenn ich das nächste Mal meine Familie besuchen will.
Das ist aber nichts gegen das Risiko, das die Menschen vor Ort, auf den Protesten eingehen. Die riskieren ihr Leben. Ich frage mich: Hätte ich mein Gesicht mit einer OP-Maske verdecken sollen? Es gab bereits einige deutsche Städte, in denen Spitzel der iranischen Regierung auf Demos gesichtet wurden. „Niemand trägt hier Maske, es wird schon nichts passieren“, beruhige ich mich. Sicher einreisen kann ich jetzt wahrscheinlich sowieso nicht mehr.
In den letzten Wochen habe ich in den sozialen Netzwerken mehrfach Fotos und Videos geteilt, die das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Protestierenden im Iran dokumentieren. Zuletzt hatte ich einen Text über Iran für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Auf meinem Handy erscheint plötzlich eine Nachricht von meinem Vater: „Dein Artikel ist jetzt auf einer iranischen Internetseite, natürlich von Regimegegnern. Mach dir keine Sorgen, ich kann auch nicht mehr dahin fliegen, weil ich dein Vater bin.“ Mir gefriert das Blut in den Adern beim Lesen dieser Zeilen.
Ich klicke auf den Link, den er mir geschickt hat. Die iranische Seite hat Passagen aus meinem Artikel auf Farsi übersetzt. Glückwunsch, könnte man meinen. Doch ich schaue mich jetzt auf der Demo genauer um: Wer ist eigentlich der Mann dahinten, der uns filmt? Wo ist eigentlich die Polizei?
Wann wird es sich gelohnt haben, meine Familie zu gefährden? Wenn das Regime gestürzt ist? Hat es sich jetzt schon gelohnt? Durch Beiträge, Artikel und Demos hier in Deutschland trage ich, tragen wir doch dazu bei, dass die Proteste im Iran groß werden. Die Aufmerksamkeit hierzulande nutzt ihnen. Es sind die größten Proteste seit der Grünen Bewegung 2009.
Ja viele sagen sogar: „Das sind keine Proteste, das ist eine Revolution!“ So rufen es die Menschen auf den Straßen Irans. Sie haben recht. Was aber macht diese Proteste anders als alle zuvor?
Im Iran ist niemand frei – deswegen protestieren jetzt alle auf der Straße. Alle, das heißt: alle ökonomischen Schichten, alle Geschlechter, alle ethnischen und religiösen Gruppen, Menschen jeden Alters.
Im Iran ist niemand frei – deswegen protestieren jetzt alle auf der Straße
Außerdem neu ist, dass die Proteste zum ersten Mal landesweit in dieser Dimension stattfinden und nicht mehr nur in einzelnen Provinzen. Die vielen Menschengruppen im Iran gehen zwar alle aus individuell unterschiedlichen Gründen – aber alle mit dem gleichen Ziel – protestieren: Sie wollen das Ende der Islamischen Republik.
Proteste sind im Iran nichts Neues. Im ersten Halbjahr 2022 gab es bereits über 2.000 Proteste. Ja, man könnte sagen, Proteste sind im Iran Dauerzustand. Einige haben es geschafft, sich in der Geschichte einen Namen zu machen. Im Jahr 1999 waren es hauptsächlich die Studierenden, die auf der Straße waren. Sie protestierten damals gegen die Abschaffung einer regimekritischen Zeitung. Rückblickend werden diese Proteste deswegen „Studentenproteste“ genannt.
Als Ahmadinedschad 2009 wieder Präsident wurde, ging hauptsächlich die intellektuelle Mittelschicht gegen seine Wiederwahl auf die Straße. „Where is my vote?“, war das Motto, Wahlbetrug der Vorwurf, der im Raum stand. Die Iraner:innen wollten keinen Hardliner mehr an der Spitze des Landes, sie wollten einen Reformer. Diese Entscheidung obliegt im Iran allerdings nicht dem Volk, der Souverän ist der religiöse Führer Ajatollah Chamenei. Die Wirtschaftssanktionen gegen Iran trafen 2019 nicht wie geplant die iranische Führungselite, sondern die Zivilbevölkerung.
Ich habe das gesehen, als ich im August 2019 im Iran war. Gelegentlich gab es keine Kartoffeln mehr. Meine Tante ärgerte sich dann beim Einkaufen darüber, entschied sich dann dazu, etwas anderes zu kochen. Die Wirtschaftssanktionen trafen sie nicht so hart, denn sie hatte Geld. Aber was war mit den Menschen, die nicht so wohlhabend waren? Schon damals musste man jahrelang auf ein neues Auto warten, wie zu DDR-Zeiten in Ostdeutschland. Was war mit den Menschen, die nicht einmal von Luxusgütern zu träumen wagten, ja die nicht einmal mehr die medizinische Versorgung ihrer Familienmitglieder finanzieren konnten? Die gingen im November 2019 auf die Straße. Und heute?
Wer damals noch um Reformen gebeten hat, schreit heute: „Wir wollen die Islamische Republik nicht mehr!“ Es geht längst nicht mehr um Wahlbetrug, längst nicht mehr um eine wirtschaftliche Misslage, auch nicht um die Abschaffung der Sittenpolizei oder die Kopftuchpflicht. Die Menschen im Iran stellen die Systemfrage.
Exil-Iraner wissen genau – wenn sie wirklich wieder sicher einreisen möchten, um ihre Familien zu besuchen, dann geht das nur so: Die Menschen im Iran müssen gegen das Regime gewinnen
Und das Regime antwortet – mit weitaus stärkerer Aggression als je zuvor. Diese Aggression ist aber Ausdruck wachsender Angst. Die Protestierenden werden mit Tränengas befeuert und erschossen, sie werden getasert und verprügelt. Damit diese Bilder nicht an die Öffentlichkeit gelangen können und sich die Protestierenden schwieriger organisieren können, hat die iranische Regierung das Internet landesweit gedrosselt. Das letzte Mal hat sie das bei den Novemberprotesten 2019 gemacht. In dieser Zeit haben Menschenrechtsorganisationen über 1.500 Tote verzeichnet, die Dunkelziffer liegt natürlich weitaus höher. Da die Proteste mittlerweile schon seit fast drei Wochen andauern und die Intensität kein Ende zu nehmen scheint, werden diese Zahlen wohl diesmal übertroffen werden. Die Gewaltbereitschaft des Regimes nimmt zu.
In Zahedan, in der Provinz Sistan und Belutschistan, hat die iranische Revolutionsgarde am 30. September von oben aus Hubschraubern auf die Menschen geschossen. Auch das: ein Novum. Bis dahin wurde nur vom Boden aus geschossen. Auch die Hauptquartiere der kurdischen Parteien Irans sind im Irak von Drohnen und Raketen der iranischen Regierung angegriffen worden. Hunderte Tote, unzählige Verletzte. Die Bilder zeigen kriegsähnliche Zustände. Es ist ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung.
Was wird passieren, wenn die iranische Regierung das Militär gegen die eigene Bevölkerung einsetzt? In einem Video, das ein persischsprachiger Fernsehsender aus London (Manoto) auf Instagram gepostet hat, wendet sich ein hochranginger Marineoffizier direkt an Hossein Ashtari – jenen Kommandeur der Polizei, der vor einigen Tagen die Sicherheitskräfte gegen die protestierenden Menschen aufgehetzt hatte. Der Marineoffizier zeigt dabei sein Gesicht und trägt seine Uniform. Und er stellt klar: Wenn das Militär zu den Protesten hinzugezogen werden sollte, dann stünde er auf Seiten der Bevölkerung. Er werde nicht auf unschuldige Menschen schießen.
Auch das ist neu, sehr beeindruckend und zeigt, dass es derzeit um mehr, viel mehr geht als bei den vorherigen Protesten. Wenn sogar ein ranghoher Offizier des iranischen Militärs seine persönlichen Überzeugungen offenlegt, in einem diktatorischen System, das ihn dafür sofort hinrichten lassen könnte, dann hat das alles eine neue Qualität.
Und was hat sich hier in Deutschland verändert im Vergleich zu den Protesten davor? Auf jeden Fall die Tatsache, dass wir darüber sprechen. Die 2.000 Proteste, die dieses Jahr bereits im Iran stattgefunden haben, haben bei Weitem nicht die mediale Aufmerksamkeit gefunden wie die Proteste jetzt.
Als in Abadan ein Hochhaus eingestürzt ist und die Menschen sich von den iranischen Behörden im Stich gelassen gefühlt haben, als die Provinz Khuzestan vom Missmanagement der Regierung und vom Klimawandel so stark getroffen war, dass sie mit der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren zu kämpfen hatte, hörte man in unseren Medien kaum etwas darüber. Jetzt schon, zwar zeitverzögert und oft lückenhaft, zwar oft mit zweifelhaft verharmlosendem Vokabular, das teils fälschlicherweise von „Kopftuch-Unruhen“ spricht, aber es wird berichtet.
Ein entscheidender Unterschied zu den vorherigen Protesten ist außerdem, dass sie heute auf mehr Solidarität stoßen als in der Vergangenheit. Während der Grünen Bewegung 2009, den bis dato größten Protesten, gab es in Deutschland vereinzelte Demonstrationen. Jene, die sich nicht trauten, auf die Straße zu gehen, solidarisierten sich beispielsweise, indem sie ein grünes Armband trugen. Grün, die Farbe der Hoffnung, die Farbe der Grünen Bewegung.
Diesmal haben am 1. Oktober Menschen in über 150 Ländern demonstriert in Solidarität mit den Iraner:innen. Obgleich das Internet gedrosselt wurde, veröffentlichen die Menschen im Iran unter Lebensgefahr Fotos und Videos der Geschehnisse vor Ort. Sie werden hier in den sozialen Netzwerken geteilt, auch das war während der Grünen Bewegung 2009 in dieser Dimension noch nicht möglich. Kaum jemand hatte damals Twitter, Instagram hat zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existiert.
Über die sozialen Netzwerke vernetzt sich auch die iranische Diaspora, und die ist heute lauter denn je. Es werden Texte geschrieben und Beiträge gelikt, Posts verbreitet und öffentlich mit Klarnamen kommentiert. Noch vor ein paar Wochen wäre das für viele undenkbar gewesen. Zu groß war die Angst, bei der nächsten Einreise inhaftiert zu werden. Aber der Wille, den eigenen Familien im Iran gegenüber solidarisch zu sein und sie in ihren Kämpfen zu unterstützen, ist bei vielen mittlerweile größer als die Angst. Denn sie wissen ganz genau – wenn sie wirklich wieder sicher einreisen möchten, um ihre Familien zu besuchen, dann geht das nur so: Die Menschen im Iran müssen gegen das Regime gewinnen. | Avin Khodakarim | Proteste sind im Iran eigentlich ein Dauerzustand. Doch was gerade passiert, hat eine völlig andere Qualität. | [
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Nachhaltigkeit in Berliner Clubs: Klimabewusster Feiern - taz.de | Nachhaltigkeit in Berliner Clubs: Klimabewusster Feiern
In Sachen Nachhaltigkeit kommt in Clubs keine Feierlaune auf. Wie sich das ändern kann, war Thema bei „Clubkultur & Tourismus in Zeiten der Klimakrise“.
Sparen? Kann man schon beim Licht. Feierstimmung im Schwuz Foto: Amélie Losier
Berlin will bis 2045 klimaneutral sein. Falls der nächste Volksentscheid durchkommen und von der Politik ernst genommen werden sollte, sogar schon 2030. Doch wie es gerade aussieht, wird Autopapst Kai Wegner von der CDU neuer Regierender, mit der orientierungslosen SPD im Schlepptau. Der würde einmal herzlich lachen über die Zahl 2030 und dann schauen, dass die A100 möglichst zügig weitergebaut wird.
Dabei könnte so ein Klimaschutzziel in näherer Sichtweite und nicht so in ferner Zukunft liegend wie 2045 helfen, dass auch die Berliner Clubkultur in Sachen Nachhaltigkeit aus den Puschen kommt.
Denn Clubs sind echte Energiefresser. Der Berliner Verein Clubliebe hat vorgerechnet, dass ein mittelgroßer Feierladen an einem Wochenende beispielsweise so viel Strom verbraucht wie ein Single-Haushalt in einem ganzen Jahr. Dazu kommen katastrophale Klimabilanzen, was die An- und Abreise von DJs und Partyhungrigen betrifft. Corona hat für eine Unterbrechung und zum Teil auch Umdenken bei diesen Exzessen gesorgt. Aber vor der Pandemie war es üblich, dass an einem Wochenende zig DJs aus aller Welt eingeflogen wurden, um ein paar Stunden aufzulegen. Dazu kamen die sprichwörtlichen Easy-Jet-Raver, die die Berliner Clubkultur prägten. Junge Londoner stellten die Rechnung auf: Billigflug plus Übernachtung im Hostel-Dorm plus moderater Eintritt im Club kommt immer noch günstiger als eine Nacht in der völlig überteuerten Heimatstadt.
Das ist in der postpandemischen Zeit alles ein wenig anders. Vom Club Watergate, neben dem Berghain bei Touristen der beliebteste Partyladen der Stadt, hört man, dass ungefähr 50 Prozent weniger Touristen unter den Gästen seien. Und ein Sprecher der Hauptstadttourismusplattform Visit Berlin sagte nun auf einer Veranstaltung am Mittwoch im Ritter Butzke, die sich mit „Clubkultur & Tourismus in Zeiten der Klimakrise“ beschäftigte, dass gerade ungleich mehr Raver mit der Bahn als mit dem Flugzeug für ein Feierwochenende in Berlin anreisen würden als noch 2019.
Clubbing und KlimaCode of Conduct Der Verein Clubliebe will mit seinem Leitfaden “Green Club Guide“ den Clubs dabei helfen, sich möglichst einfach und niedrigschwellig ökologisch bewusster aufzustellen. Clubs, die sich dazu bekennen wollen, können dazu einen “code of conduct“, eine “freiwillige Selbstverpflichtung“, unterzeichnen.
Toilettenpapier
Laut Clubliebe ist der “Green Club Guide“ ein “kostenfreies Nachhaltigkeitskonzept“ für Clubs. Dazu gehören Tipps wie der Verzicht auf WC-Steine oder die Mahnung, darauf zu achten, dass die Wasserhähne nicht tropfen. Auch in der Liste: Energiesparende Kühlschränke, Recycling-Klopapier, LED-Röhren oder ein Vogelkasten, mit dem auch ein Club einen Beitrag zum Naturschutz leisten könnte.
Die Clubs selbst erkennen sicherlich auch langsam, dass sich an ihrem ganzen Selbstverständnis etwas ändern muss. Ende vergangenen Jahres hieß es zwar noch seitens der Clubcommission, für den wirklich großen Umbau im Sinne des Klimaschutzes würde wegen der Coronakrise gerade das Geld fehlen. Die Anschaffung von LED-Lichtern, energieeffizienteren Kühlschränken und wassersparenden Toiletten müsse demnach noch ein wenig warten. Unterhält man sich dann aber mit Katharina Wolf von Clubliebe, sagt die, dass der Bedarf an den kostenlosen Energieberatungen, die ihr Verein anbietet, zuletzt stark zugenommen habe und man gar nicht mehr mit diesen hinterherkomme. Auch die Anzahl der Clubs, die deren „Code of Conduct“, eine freiwillige Selbsterklärung zum Energiesparen, unterschrieben hätten oder dies gerade erwägen würden, sei gestiegen.
Bei der Veranstaltung im Ritter Butzke gab sie nochmals ein paar Beispiele, wie einfach manche Maßnahmen für Clubs umzusetzen seien. Lieber einmal mehr Getränke bestellen anstatt ständig den Lieferanten anzufunken etwa. Auf der Homepage darauf hinweisen, wie man am besten mit den Öffis anreisen kann. Oder Fahrradständer anbringen, wobei das wahrscheinlich schon wieder zu dem Bereich gehört, wo man auch etwas Geld in die Hand nehmen müsste.
Die Hauptproblematik bei dem ganzen Thema wurde dann auch noch erörtert. Wie bekommt man es hin, die Berliner Clubkultur einerseits weiterhin international aufzustellen und dabei trotzdem nicht viel zu umweltschädigend zu sein? Denn das machte Wolf klar: Alte Glühbirnen entsorgen ist schön und gut, aber den mit Abstand größten CO2-Abdruck hat einfach die Mobilität. DJs müssten demnach dazu gebracht werden, zumindest kontinental vom Flugzeug auf den Zug umzusteigen. Oder, noch besser: auf den Reisebus. Denn der habe eine noch bessere Klimabilanz als die Bahn. Kommt der Superstar-DJ demnächst also mit dem Flixbus angereist? Ja, warum denn auch nicht.
Doch bevor jetzt zu viel Euphorie aufkommt, sind wir auch schon wieder bei dem Punkt am Anfang dieses Textes angelangt. Es braucht auch den politischen Willen, um die Bahn, am Ende immer noch die realistischste Alternative zum Flugzeug, attraktiver zu machen. Die Strecke London-Berlin ist ab Ende Mai dieses Jahres im Nachtzug in 19 Stunden machbar. Klingt lustig, aber wer tut sich das wirklich an? Und Verkehrsminister Volker Wissing tut zwar so, als wolle er die Bahn endlich reformieren, aber wie Kai Wegner gehört seine wirkliche Liebe am Ende doch eher dem Auto. | Andreas Hartmann | In Sachen Nachhaltigkeit kommt in Clubs keine Feierlaune auf. Wie sich das ändern kann, war Thema bei „Clubkultur & Tourismus in Zeiten der Klimakrise“. | [
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Deutscher tötet mit Auto Café-Besucher: Eine Stadt sucht eine Antwort - taz.de | Deutscher tötet mit Auto Café-Besucher: Eine Stadt sucht eine Antwort
In Münster tötet ein Mann vorsätzlich. Es findet sich kein Motiv. Warum tat Jens R. das? Über eine Stadt, der die Ruhe abhanden kam.
Tatort Münster: Medienvertreter warten am Ort des Mordes auf Statements der Politik Foto: dpa
MÜNSTER taz | Was für ein herrlicher Frühlingstag in Münster: 20 Grad, die Sonne scheint, die Winterjacke kann auf dem Haken bleiben. Die ganze Stadt hat wunderbare rosa Tupfen, die Kirschblüten gehen auf. Durch Münsters City drängeln sich Samstags ohnehin viel zu viele Menschen.
An diesem Samstag aber ist sie noch voller als sonst: Es ist das letzte Wochenende der Osterferien, die Studenten kommen zurück, das Sommersemester beginnt. Wer Zeit hat, grillt am Aasee, auch die Cafés und Eisdielen der Stadt machen glänzende Geschäfte, kaum ein Platz bleibt frei. So wie das Traditionslokal „Großer Kiepenkerl“ mitten in der Innenstadt.
Am Nachmittag formiert sich eine Demonstration für den Frieden im syrischen Afrin. Fast jeder dritte Demonstrant schwenkt eine Fahne, der Bürgermeister von Afrin ist auch da. Dazu gesellen sich die ersten Fans von Preußen Münster, die sich über den Heimsieg ihrer Drittliga-Mannschaft gegen Wehen Wiesbaden freuen.
Dann geht es aber nicht weiter, die etwa 300 Demonstranten stecken plötzlich in der Windhorststraße fest, die vom Hauptbahnhof in die Innenstadt führt. Gegen halb vier wird klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. Unentwegt fahren Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizeifahrzeuge durch die Stadt, ein Hubschrauber kreist über dem sonst so beschaulichen Münster. Ein Demonstrationsordner verkündet über sein Megafon, man könne nicht wie geplant in die Innenstadt weiterziehen, weil diese weiträumig von Polizei und Feuerwehr abgesperrt sei.
Langsam sickert durch: Vor dem Großen Kiepenkerl soll ein Mann mit seinem Auto mitten in die Menge der Caféhausgäste gefahren sein. Zwei Menschen seien gestorben, es gebe viele Verletzte. Die örtliche Tageszeitung, die Westfälischen Nachrichten, richtet einen Newsticker ein, bei Facebook können Münsteraner ihren Freunden signalisieren, dass sie sich in Sicherheit befinden. Der Kassierer im menschenleeren Lidl hat auch etwas gehört, seine Kollegin weint.
Ein VW-Bulli rast in die Menschenmenge
Am Sonntag liegen Blumen vor dem Denkmal des Kiepenkerls, nur wenige Meter vom Prinzipalmarkt in Münsters historischer Altstadt entfernt. Bei fast windstillem Wetter brennen Kerzen am Sockel der Figur, die an die fahrenden Händler erinnert, die früher die Bauern des Münsterlands mit Salz, Tuch und nicht zuletzt Nachrichten versorgten und ihnen im Gegenzug Lebensmittel abkauften.
Oberstaatsanwältin Elke Adomeit.„Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“
Der Tathergang steht nun fest: Am Samstag um 15.27 Uhr ist hier ein 48 Jahre alter, in Münster gemeldeter Deutscher mit seinem grau-silbernen VW-Campingbulli in den Biergarten der beiden Gaststätten Großer Kieperkerl und Kleiner Kiepenkerl gefahren. Die Terrasse am Spiekerhof Ecke Bergstraße war gut gefüllt. Bei der Todesfahrt wurden rund 20 Menschen zum Teil schwer verletzt. Eine 51 Jahre alte Frau aus dem niedersächsischen Kreis Lüneburg und ein 65-jähriger Mann aus dem münsterländischen Kreis Borken starben.
Unmittelbar nach der Tat erschoss sich der Fahrer selbst. Da zufällig ein Streifenwagen nur wenige Meter entfernt in einer Nebenstraße im Einsatz war, erschienen Polizeibeamte direkt danach vor Ort – und verhinderten wohl eine Panik.
Die Sicherheitskräfte wissen am Sonntag schon mehr über den Täter. Sie haben das Tatfahrzeug akribisch untersucht. Im Inneren finden sie außer der Waffe, mit der sich Jens R. selbst umgebracht hat, eine Schreckschusspistole und etwa ein Dutzend Polenböller. Sie haben nicht nur seine zwei Wohnungen in Münster durchsucht, sondern auch zwei weitere in Ostdeutschland. Sie finden in Münster eine unbrauchbar gemachte Maschinenpistole vom Typ AK 47. Keinerlei Hinweise gibt es hingegen auf einen islamistisches Motiv des Täters, über das unmittelbar nach der Tat so intensiv diskutiert worden ist.
Die Stadt ist aus den Fugen geraten
Die ansonsten so in sich ruhende Stadt Münster ist aus den Fugen geraten. Man merkt das, sobald man mit den Menschen ins Gespräch kommt. Die sitzen in sommerlichen Dress auf den Bänken rund um den Kiepenkerl, ruhig und nachdenklich, versuchen das Geschehene zu rekonstruieren und zu verstehen. „Von da oben ist er gekommen.“ Ja, von da oben vom Prinzipalmarkt ist er gekommen der Münsteraner, der mit seinem Campingbus. Der Brauereibesitzer Bernd Klute sagt: „Man kann das gar nicht verstehen, wie jemand zu so etwas fähig sein kann. Er muss schlimme Gedanken und psychische Probleme gehabt haben.“
Klute unterhält sich mit Siva Sivatharsanan, der gebürtig aus Sri Lanka kommt. Nur etwa 100 Meter weiter betreibt er die Köpi-Stuben. Er hat den lauten Knall gehört und das Schreien der Menschen. Er ist sofort zum Ort des Geschehens gerannt. „Lange habe ich es dort nicht ausgehalten, ich kann kein Blut sehen.“ So gut es geht, räumt er die Trümmer aus dem Weg, um Platz für die heraneilenden Rettungsfahrzeuge zu schaffen. „Es war so lange so ruhig hier bei uns, vielleicht sind wir jetzt dran“, sagt er trocken. Auf dem Handy zeigt er drastische Aufnahmen vom Kiepenkerl unmittelbar nach der Todesfahrt.
Vor Ort ist auch den evangelische Pfarrer Martin Mustroph, um als Notfallseelsorger ein unterstützendes Gespräch mit Mitarbeitern aus der Kiepenkerl-Gastronomie zu führen. Ja in Münster hilft man, unterstützt man sich. Eigentlich.
Seehofer: „Ein feiges und brutales Verbrechen“
Keine 21 Stunden nach der Tat, auf die Minute genau um Viertel nach zwölf am Mittag, legen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Nordrhein-Westfalens christdemokratischer Ministerpräsident Armin Laschet und sein Parteifreund und Innenminister Herbert Reul Blumen vor den Fachwerk- und Klinkerhäusern am Kiepenkerl nieder. Der Platz ist mittlerweile kleinräumig abgesperrt, in den Nebenstraßen parken Dutzende Polizeifahrzeuge. Vor Ort sind nur wenige BürgerInnen präsent, dafür aber rund dreißig Kamerateams. JournalistInnen berichten auf Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch.
„Aus Respekt vor den Opfern“ wollen sich die drei Politiker am Tatort nicht äußern, erklärt eine Sprecherin der Polizei. Was folgt, ist der Kampf um die besten Bilder: Seehofer, Laschet und Reul sollen vor der nahen Überwasserkirche reden, bleiben aber im Pressepulk stecken.
Also wird auf einer Brücke über dem Flüsschen Aa improvisiert: Im Kameragedränge versichern alle drei ihre Anteilnahme. Ministerpräsident Laschet spricht von „einem traurigen Tag für die Menschen in Münster, in NRW, in ganz Deutschland“. Seehofer nennt die Todesfahrt ein „feiges und brutales Verbrechen“, verspricht den Angehörigen der Toten und Verletzten „die Solidarität der ganzen Bundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin“.
Wie danach auch sein Landeskollege Reul betont der Bundesinnenminister, der Angriff mitten im Herzen Münsters sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ von einem deutschen Einzeltäter ausgegangen, der „keine Verbindung zum islamistischen Terrorismus“ gehabt habe. Allerdings werde weiter „in alle Richtungen“ ermittelt.
Wer war der Täter Jens R.?
Denn noch bleibt das Motiv des Todesfahrers unklar. Bei dem Mann soll es sich um den 1969 in Olsberg im Sauerland geborenen Jens R. handeln. Der beruflich offenbar wenig erfolgreiche Schmuck- und Industriedesigner soll psychische Probleme gehabt und auch schon einen Selbstmordversuch unternommen haben. Sowohl Münsters Polizeipräsident Hajo Kuhlisch als auch die Leitende Oberstaatsanwältin, Elke Adomeit, betonen aber, nach derzeitigem Stand gebe es „keine Hinweise auf einen politischen Hintergrund“ – auch kein rechtsextremer, über den in linken Blogs bereits ebenso spekuliert wird wie in Sicherheitskreisen.
Kuhlisch erklärt, Jens R. habe nicht nur vier Wohnungen gehabt, zudem seien dem 48-Jährigen mehrere Fahrzeuge und ein Container zugeordnet worden. Wozu Jens R. vier Wohnungen gebraucht haben könnte, erklärte Münsters oberster Polizist nicht. Beim vermuteten „Täterprofil“ sei dies aber nicht völlig untypisch, sagte Kuhlisch – und spielte damit offenbar auf die psychische Erkrankung des Todesfahrers an.
„Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“, sagt auch Staatsanwältin Adomeit. Zwar habe es 2015 und 2016 in Münster drei und im sauerländischen Arnsberg ein Ermittlungsverfahren gegen Jens R. gegeben. Dabei sei es um eine Bedrohung, aber auch um Unfallflucht, Sachbeschädigung und Betrug gegangen. Alle Verfahren seien eingestellt worden.
Entsprechend deutlich verurteilt insbesondere Ministerpräsident Laschet „diejenigen, die bei Twitter das Hetzen begonnen haben“ – ohne Namen zu nennen. Und er lobt die Besonnenheit und Solidarität der Münsteraner nach der Tat. Er würde sich wünschen, dass „diese besondere Münsteraner Erfahrung einer Friedensstadt“ auch diejenigen erreicht hätte, die „ganz schnell bei Twitter und anderswo wieder das Hetzen begonnen haben“. Für die Opfer sei die Religion der Täter egal, sie hätten einen Menschen verloren.
Die beiden Innenminister Seehofer und Reul danken ausdrücklich den Medien: Deren Berichterstattung sei „sehr verantwortlich“ gewesen, sagt Seehofer. Obwohl sicherlich viele an die Anschläge auf den Weihnachtsmarkt Berliner Breitscheidplatz und auf der Promenade des Anglais im französischen Nizza 2016 dachten, hätten die JournalistInnen „berichtet, was Fakt ist – und darauf kommt es an“, sagt Reul. Trotz Polizei in unmittelbarer Tatortnähe könne es „nie absolute Sicherheit auf Straßen, Plätzen, in Flugzeugen geben“, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister. „Wir können es nur bestmöglich versuchen.“ Später bringt Seehofer mehr Straßenpoller ins Gespräch.
Münster ist getroffen – an einem empfindlichen Punkt
Keine Frage: Münster ist an einem sehr empfindlichen Punkt, dem Sicherheitsgefühl seiner gut 300.000 Einwohner getroffen worden. Münster, diese ansonsten ruhige, wohlhabende, gebildete und friedliche, kunstsinnigen Stadt, die Stadt der Skulptur Projekte, die Stadt, in der die AfD bei der letzten Bundestagswahl bundesweit am schlechtesten abgeschnitten hat, steht urplötzlich im Fokus der Gewalt. In Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens, wo im Rathausinnenhof die Skulptur von Eduardo Chillida mit dem Titel „Toleranz durch Dialog“ steht, wird weltweit durch einen Mordanschlag bekannt.
Auf der anderen Seite des Rathauses hängt die Fahne jetzt auf Halbmast, im Rathaus wurde ein Kondolenzbuch ausgelegt, am Abend wird ein Gedenkgottesdienst für die Opfer stattfinden. In wenigen Wochen soll in Münster der 101. Katholikentag eröffnet werden, mit hoher Promidichte und Zehntausenden Besuchern. Gewiss wird in den nächsten Tagen die Frage aufkommen: Können wir eigentlich die Sicherheit unserer Besucher noch garantieren? Reichen da ein paar Poller auf dem Domplatz und an anderen sensiblen Stellen der Stadt aus? Wie viel Polizeischutz verträgt so eine Veranstaltung?
Einer der die Stimmung in der Stadt in einem der zahllosen Facebook-Postings zum Thema auf den Punkt bringt, ist der Münsteraner Liedermacher Detlev Jöcker, der schon ein Lied für den Kirchentag komponiert hat: „Was für ein großes Leid wurde hier unschuldigen Menschen zugefügt, das einige jäh aus ihrem Leben herausgerissen und andere an Leib und Seele verletzt hat. Unsere geliebte Stadt hat ihre Unschuld verloren. Diese unfassbare Tat wird Narben hinterlassen. Martialische Schreckensbilder mit Tötungsfantasien aus Internet-Ballerspielen wurden Wirklichkeit. Das alles macht so unendlich traurig!“
Auch der fast in Münster schon eingemeindete Darsteller des Tatort-Gerichtsmediziners Börne, Jan-Josef Liefers, versucht „seinem“ Münster Mut zu machen. „Ohne alle Details und Motive zu kennen, reichen die Bilder und entsetzlichen Nachrichten aus Münster, um mir das Herz zu brechen. Münster ist einer der friedlichsten und freundlichsten Orte, die ich kenne, und so wird es bleiben, trotz dieses feigen und kranken Anschlags.“ Sein Kollege Axel Prahl schreibt: „Ich bin schockiert und traurig“. Ich wünsche den Familien und Angehörigen der Opfer jetzt ganz viel Kraft und den Verletzten eine hoffentlich schnelle und vollständige Genesung. Wir denken an Euch. Münster, bleib wie Du warst und wie wir Dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz. Lass Dich jetzt nicht unterkriegen.“
In Münster hätte am Sonntag eigentlich die Sonne scheinen sollen. Ja, warm ist es, aber weiß-grau-blaue Wolken hängen am Morgen danach über der Stadt. Wenn über die Promenade durch die Stadt fährt, fällt auf, wie viel leerer als sonst es an diesem Tag ist. | Frank biermann | In Münster tötet ein Mann vorsätzlich. Es findet sich kein Motiv. Warum tat Jens R. das? Über eine Stadt, der die Ruhe abhanden kam. | [
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Kommentar Handschlag in der Schweiz: Ihr seid doch nur unsicher - taz.de | Kommentar Handschlag in der Schweiz: Ihr seid doch nur unsicher
Ein verweigerter Handschlag wird in der Schweiz zur Integrations-Debatte aufgeblasen. Damit macht es sich die Politik zu einfach.
Die Schweizer drehen durch: Dabei sind's doch nur Hände Foto: imago/Westend61
Man muss sich die Schweiz als ein glückliches Land vorstellen. Es scheint dort keine größeren Probleme zu geben als die Frage, ob Schüler ihrer Lehrerin die Hand geben sollen oder nicht. Diese Frage hat das Land über fast zwei Monate hinweg umgetrieben, sie wurde in Talkshows und Leitartikeln heiß debattiert. Glücklich ist ein Land, das solche Sorgen hat.
Eine weniger freundliche Einschätzung lautet: die Schweiz ist komplett durchgedreht. Denn anders ist nicht zu erklären, warum eine lokale Bagatelle für einen landesweiten Aufruhr sorgen konnte. Anfang April war der Fall zweier (!) Schüler im Kanton Basel-Landschaft, die sich geweigert hatten, ihrer Lehrerin die Hand zu geben, über die Region hinaus bekannt geworden. Der 14-jährige und sein 16-jähriger Bruder begründeten ihr Verhalten mit ihrer religiösen Überzeugung, die es ihnen aus Respekt vor Frauen verbiete, diesen die Hand zu geben.
Statt den Vorfall als pubertäre Verwirrung oder religiösen Spleen zweier Minderjähriger abzutun, wurde er von rechten Medien und der Politik zur Staatsaffäre und Prinzipienfrage aufgeblasen. Mit erfolg: Zuletzt fühlte sich sogar die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga bemüßigt, das Händeschütteln zu einem unverzichtbaren Teil der Schweizer Kultur zu erklären. Da dürfe es keine Fragezeichen geben, erklärte die Sozialdemokratin.
Nun hat auch die Schulbehörde ein Machtwort gesprochen: künftig darf kein Schüler mehr die Hand einer Lehrerin zurückweisen – er muss sie schütteln. Zieren Schüler sich, müssen sie oder die Eltern mit Sanktionen rechnen – bis hin zu einem Bußgeld über 4.500 Euro oder einem Schulverweis. Denn den Handschlag nicht zu erwidern gilt jetzt als Integrationsverweigerung.
Symptom für die tiefgreifende Verunsicherung
Dabei ist es nur eine kleine und marginale Minderheit konservativ-religiöser Muslime – und orthodoxer Juden – die eine Berührung des anderen Geschlechts grundsätzlich vermeidet. Aber der Schweizer Umgang damit ist symptomatisch: während man den Muslimen einmal mehr vermittelt, dass man auf ihre religiösen Gefühle leider keine Rücksicht nehmen könne, werden die verletzten Gefühle all jener, die den verweigerten Handschlag als Affront begreift, zum alleinigen Maßstab gemacht.
Dabei ist der Handschlag kein universeller Brauch, sondern hat sich auch in der Schweiz erst seit den Siebzigerjahren zwischen Lehrerinnen und Schülern eingebürgert. Nun aber wird er zu einem in Stein gemeißelten Fundament Schweizer Leitkultur erklärt.
Diese Überreaktion ist ein Symptom für die tiefgreifende Verunsicherung, die viele europäische Gesellschaften erfasst hat. Und ausgerechnet die Schweiz, die es geschafft hat, mit vier verschiedenen Amtssprachen zu leben und zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen einen Modus Vivendi zu finden, der über Jahrhunderte gehalten hat, scheint davon besonders betroffen zu sein. Ganze vier Minarette reichten in dem kleinen Land bekanntlich ja bereits aus, um eine Mehrheit für ein Minarettverbot zu mobilisieren und dieses per Referendum durchzusetzen.
Aber auch in anderen europäischen Ländern dienen oft nichtige Anlässe dazu, einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen. In einer Wohnsiedlung bei Kopenhagen entscheiden sich die mehrheitlich muslimischen Mieter erstmals dagegen, zu Weihnachten einen Christbaum aufzustellen? Darüber diskutierte man im Advent 2012 in Dänemark so lange, bis der Baum wieder stand.
Ein bisschen mehr Gelassenheit
Ein paar französische Modemacher haben Kollektionen für muslimische Frauen entworfen, die ein Kopftuch tragen? Halb Frankreich steht deswegen Kopf, denn Feministinen sehen das heilige Prinzip des Laizismus in Gefahr. Ein ausländisches Staatsoberhaupt reicht Klage gegen einen Satiriker ein? Halb Deutschland sitzt auf dem Sofa und ist empört.
Das wirft die Frage auf: Wie unsicher muss man sich seiner Werte, seiner Demokratie und seiner Kultur eigentlich sein, um derart in Schnappatmung zu verfallen?
Ein bisschen mehr Gelassenheit im Umgang mit solchen banalen Konflikten täte unseren Gesellschaften gut. Wahrlich, es gibt größere Probleme. Und Verbote haben oft den gegenteiligen Effekt, sie führen zu Trotz und Ablehnung. Denn, ganz ehrlich: wer dazu gezwungen wird, anderen die Hand zu geben, wird sich doch erst recht verweigern. Oder eben andere Wege finden, seinen Protest gegen autoritäre Vorschriften auszudrücken und die Mehrheitsgesellschaft zu provozieren. | Daniel Bax | Ein verweigerter Handschlag wird in der Schweiz zur Integrations-Debatte aufgeblasen. Damit macht es sich die Politik zu einfach. | [
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Fridays for Future über Lützerath: Ihr habt euch verrechnet - taz.de | Fridays for Future über Lützerath: Ihr habt euch verrechnet
Die Grünen haben sich auf einen fatalen Deal mit RWE eingelassen. Die Kohle unter Lützerath darf nicht verbrannt werden.
Neubauer bei einer Demo vor Robert Habecks Wirtschaftsministerium in Berlin Foto: Annette Riedl/dpa
Es haben alle geklatscht. Damals, als wir im April 2021 vor dem Verfassungsgericht standen. In einer historischen Entscheidung erklärte die höchste juristische Instanz Deutschlands, dass wir einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Klimaschutz à la Pariser Abkommen haben.
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Das Pariser Klimaabkommen heißt übersetzt: Irgendwo muss Schluss sein. Schluss mit der Zerstörung, dem Verbrennen, dem Emittieren. Und vielleicht fiel das Klatschen 2021 auch deswegen so leicht: Das Schluss-Machen fühlte sich damals weit weg an, klatschen ohne Konsequenzen. Genau genommen war es damals natürlich nicht weit weg, gefühlt aber eben schon.
Jetzt aber haben wir eine Grenze erreicht. Der Kohlebagger im Tagebau Garzweiler II stammt aus dem Jahr 1961. Alt und überholt, genau wie die Idee, dass Kohlekraft friedensbringend und sicherheitsschaffend ist. Gegenüber vom Kohlebagger steht das 21. Jahrhundert, das Pariser Abkommen und die Klimabewegung in einem besetzten Lützerath.
Die Kohleflöze unter dem Dorf sind besonders dick, bis zu 280 Millionen Tonnen CO2 würden emittiert, sollte die gesamte Menge verbrannt werden. Laut Studien des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wird es praktisch unmöglich, die Pariser Klimaziele und damit das Verfassungsgerichtsurteil noch einzuhalten, sobald diese Kohle unter Lützerath einmal im Kraftwerk am anderen Ende der Garzweiler Grube angekommen ist. Doch genau das soll passieren – in diesem Moment dreht sich der Schaufelradbagger 261 von RWE weiter. Stück für Stück Richtung Lützerath.
Das ganze Drama
Was nun? Wie läuft es mit dem Aufhören? Bisher nicht so gut.
Damit sich die Grünen in diesen Tagen nicht zerreißen, haben sie sich eine Geschichte gebaut, die das ganze Drama erklärbar machen soll.
Die Geschichte geht etwa so: Durch den Krieg in der Ukraine wird akut mehr Kohle gebraucht, leider muss man kurzfristig einlenken, aber dafür kommt der Kohleausstieg 2030, endlich, Robert Habeck sei Dank. Das Ganze hat natürlich einen Preis, und der ist das Dorf Lützerath. Jetzt regen sich noch ein paar Radikalos über die Räumung eines verlassenen Dorfes auf, sollen sie doch, wir Öko-Pragmatiker wissen, dass hier ganz große Schritte gemacht werden.
Manche Dinge sind aber zu schön, um wahr zu sein. Und diese grüne Erzählung vom Kohleausstieg 2030, der auf magische Art sowohl für RWE und das Klima gut sein soll, ist so etwas.
Klimaschutz passiert nicht dann, wenn Ausstiegszahlen nach vorne verschoben werden, sondern wenn real Emissionen Richtung Null gefahren werden. Der Kohleausstieg 2030 ist für uns als Klimabewegung deshalb wichtig, weil wir dahinter einen realen Rückgang der Kohleverstromung in Deutschland fordern. Genau diese Idee entkernen die Grünen und RWE in ihrem Deal. Zwar werden die Ausstiegsdaten für die Kraftwerke vorgezogen, die Menge an Kohle jedoch nicht begrenzt. Mehrere unabhängige Berechnungen legen nahe, dass durch den Deal keine einzige Tonne CO2 eingespart wird.
Die Kohlemenge, die RWE vorher bis 2038 fördern und verbrennen wollte, wird jetzt schlicht schon in der Hälfte der Zeit verstromt. Aus Kohleausstieg wird Kohleintensivierung. Kleines Detail, die Kohle unter Lützerath braucht es laut Berechnungen auch überhaupt nicht für die Energieversorgung Deutschlands.
RWE macht dabei richtig Geld: Das Handelsblatt kalkuliert bis 2024 Zusatzgewinne von einer Milliarde Euro für den Konzern. RWE wurde garantiert, dass sie die beim Kohleausstieg 2038 zugesicherten Gelder – 2,6 Milliarden Euro – in jedem Fall erhalten. Zusätzlich profitiert der Konzern von einem reduzierten CO2-Preis. Ab 2030 werden die CO2-Zertifikate auf dem europäischen Emissionsmarkt für Kohlekonzerne so teuer werden, dass die Rentabilität ihrer Kohleverkäufe drastisch sinkt.
Nicht jeder Kohleausstieg ist eine Klimaschutzmaßnahme. Dieser Kohleausstieg ist vor allem eins: eine Profitschutzmaßnahme für RWE. Dass ein notorisch unglaubwürdiger Kohlekonzern auch 2023 mit falschen Erzählungen seine Profite verteidigt, ist zu erwarten. Nicht aber, dass sich die Grünen auf diesen Deal eingelassen haben, ohne zu irgendeinem Punkt aufzustehen und sich zu fragen, was zum Henker sie da verhandeln.
Man würde meinen, die letzten 30 Jahre Energiewende wären eine Lehre gewesen. Immer wieder hat man versucht, den Ausstieg aus fossilen Energien so zu gestalten, dass fossile Konzerne zufrieden irgendwem die Hände schütteln können. Nach Jahren verpasster Ausbauziele, nach über 100.000 verlorenen Jobs in der Solarbranche und einer abgewanderten Windradindustrie könnten man sagen: Hat so mittel gut geklappt.
Oder so: Solange fossile Konzerne die Regeln für die Energiewende machen, wird es keine geben. Schon gar keine, die schnell und gerecht genug kommt.
Dass es so nicht aufgeht, wie die Grünen und der klimabewegte Teil der Regierung sich das gedacht haben, wird vor allem in der Stille deutlich. Man muss an die kleinen Emoji-Affen von Whatsapp denken: Hände vor dem Mund, den Ohren, den Augen. Bloß nichts sehen, hören, sagen. Noch im Oktober stimmten knapp die Hälfte der Delegierten auf dem Bundesparteitag für einen Antrag der Grünen Jugend, der ein Moratorium für Lützerath forderte.
wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Während #LützerathBleibt seit Tagen trendet, bleiben die Accounts der Partei bemerkenswert still. Ab und zu ruft Mona Neubaur im Chor mit RWE, der CDU und der Polizei zur friedlichen Räumung auf. Als Oppositionspolitiker:in war sie mehrmals in Lützerath, als Vize-Ministerpräsidentin noch nie.
Das, was von der Grünen-Spitze als staatsmännischer und vor allem ultra pragmatischer Coup aufgesetzt war, entpuppt sich in diesen Tagen als undurchdachte Bulldozer-Politik. Statt die Krise argumentativ zu nutzen, um das Ende von Kohle, Öl und Gas einzuläuten, räumen die Grünen den Weg frei für weitere Energieverschwendung. Alles für das fossile Weiter-So, koste es, was es wolle. In diesem Falle: Milliarden Euro und unsere Lebensgrundlagen.
Die Grünen missbrauchen Energiekrise
Nachdem nun selbst die Grünen die Energiekrise missbraucht haben, um ihre kontroverse Entscheidung zu legitimieren, ist es wenig überraschend, dass die FDP parallel erklärt, vor lauter Krise brauche es jetzt neue Atomkraftwerke. Es scheint ein postfaktischer Energiediskurs parteiübergreifend in Mode. Und das kommt einem erdgasbegeisterten Kanzler natürlich gelegen, kann er direkt weitere Autokraten zu verlässlichen Energiepartnern erklären.
Die Krise als rhetorisches Mittel, nie als materieller Zwang, sie reicht aus, um Entscheidungen zu legitimieren, die das Weltklima belasten, sie reicht nie für Entscheidungen zu Lasten des Koalitionsklimas. Lieber schickt man Bagger gen Lützerath, als die lange Liste an schnellen, wirksamen und notwendigen Maßnahmen zur Energiereduktion tatsächlich anzugehen.
Bis heute gibt es kein ausreichendes Klimaschutzsofortprogramm, kein (von Olaf Scholz persönlich eingefordertes) Energieeffizienzgesetz, der CO2-Preis stagniert, die Abschaffung fossiler Subventionen ist einer Einführung neuer Subventionen gewichen. Bei 1,2 Grad Celsius globaler Klimaerhitzung ist für all das anscheinend nicht genug Krise. Wir fragen uns, wie viele hitzetote Großeltern es braucht, bis genug Krise für ein kleines Tempolimit ist.
Wir hatten gehofft, die Grünen würden die ökologischen Linien in der Ampel ziehen und verteidigen. Nun sind sie diejenigen, die sie einreißen wollen
Wir hätten nach fast einem Jahr Energiekrise auch noch einige Anschlussfragen. Wohin soll sie denn gehen, die Reise? Wie sieht denn der Plan aus, durch den wir bis 2030 die Emissionen um 65 Prozent gesenkt haben, nachdem sie im letzten Jahr trotz geringeren Energieverbrauchs stagniert sind? Wo, lieber Robert Habeck, wird die Gesamtrechnung aufgemacht, in der die Vereinbarkeit von alledem mit dem Pariser Klimaschutzabkommen abgestimmt wird?
Die Situation in Lützerath ist politisch keinesfalls eine Sackgasse. Noch steht das Dorf, und vor allem ist die Kohle unter Lützerath noch im Boden. Solange sie da liegt, können jederzeit neue Verhandlungen aufgenommen werden. Einige Gerichtsverfahren sind ebenfalls offen, und damit die Frage, ob eine Räumung zu diesem Zeitpunkt überhaupt legal ist.
Wir hatten gehofft, die Grünen würden die ökologischen Linien in der Ampel ziehen und verteidigen. Nun sind sie diejenigen, die sie einreißen wollen.
Für die Klimabewegung geht es in Lützerath längst nicht mehr „nur“ um den realen Einsatz gegen die Bagger von RWE. Es geht auch darum, zu zeigen, wie teuer, ja, wie unbezahlbar es für eine Bundesregierung geworden ist, sich gegen die Pariser Klimaziele, gegen die Klimabewegung und die eigenen Zusagen in Sachen Klimaschutz zu stellen. Jedes Foto von vor Ort, jeder Mensch auf der Straße, jedes gelbe Kreuz macht einen Unterschied.
Aus Uganda, aus Mexiko und Indien kommen indes Bilder und Videos von Menschen, die „Lützi Bleibt“-Schilder halten. Was in Lützerath passiert, bleibt nicht in Lützerath. Die Zukunft der größten CO2-Quelle Europas betrifft Menschen weltweit. Unsere Emissionen sind auch ihre Probleme. Es ist leicht, für ein Verfassungsgerichtsurteil zu klatschen, wenn es nichts kostet. Die grünen Parteispitzen haben sich verkalkuliert. Noch aber ist es nicht zu spät. Für niemanden. Wir sehen uns in Lützerath. | Luisa Neubauer | Die Grünen haben sich auf einen fatalen Deal mit RWE eingelassen. Die Kohle unter Lützerath darf nicht verbrannt werden. | [
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Gabriel attackiert Merkel und Seehofer: Regierungsarbeit gefährdet - taz.de | Gabriel attackiert Merkel und Seehofer: Regierungsarbeit gefährdet
Gabriel reicht‘s. Er empfindet den Streit zwischen Seehofer und Merkel in der Flüchtlingspolitik als „unwürdig und verantwortungslos“.
Jetzt vertragt euch doch endlich. SPD-Chef Gabriel hat genug vom Zoff zwischen Seehofer und Merkel. Foto: reuters
HAMBURG afp | SPD-Chef Sigmar Gabriel hat den Unionsparteien vorgeworfen, ihr Streit über die Flüchtlingspolitik bedrohe „inzwischen die Handlungsfähigkeit der Regierung“. Die „gegenseitige Erpressung und Beschimpfung“ von CDU und CSU sei „unwürdig und schlicht verantwortungslos“, sagte der Vizekanzler am Freitag zu Spiegel Online.
Gabriel bezog sich vor allem auf das Ultimatum, das Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis zum gemeinsamen Dreiertreffen am Sonntag gestellt hat. Seehofer hatte Merkel aufgefordert, für eine Begrenzung der Zuwanderung zu sorgen, andernfalls droht Bayern mit einer Verfassungsklage.
Das Verhalten der Unionsparteien sei „unverantwortlich, weil es die Menschen noch mehr verunsichert und die Angst im Land steigt, dass wir es nicht schaffen“, zitierte Spiegel Online Gabriel. „Je länger der Streit in der Union andauert, desto mehr Menschen werden sich von der Politik abwenden und desto mehr werden die Rechtsradikalen an Boden gewinnen“, sagte der SPD-Chef.
Angesichts der wachsenden Spannungen in der Koalition wegen der Flüchtlingspolitik kommt Merkel am Wochenende mit Seehofer und Gabriel in Berlin zu einem Dreiertreffen zusammen. Mit Blick auf das Treffen fordern führende Unionspolitiker zusätzliche Maßnahmen zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen.
Nach dem kürzlich in Kraft getretenen Asylpaket müssten schnell weitere Schritte folgen, sagte CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn dem „Handelsblatt“ (Freitagsausgabe). Er hob hervor: „Wir brauchen eine Begrenzung des Familiennachzugs. Es müssen Transitzonen geschaffen werden, mit denen Migranten an der Grenze zurückgewiesen werden können. Und wir müssen die Abschiebungen weiter beschleunigen.“
Dagegen mahnte Unionsfraktionsvize Thomas Strobl (CDU) auch mit Blick auf die jüngsten Äußerungen aus der CSU mehr Geschlossenheit an: „Es hilft in der Diskussion zwischen den Unionsschwestern nicht weiter, Drohkulissen aufzubauen. Nichts schadet uns mehr als öffentlicher Streit.“
Erneut Flüchtlinge ertrunken
Nach dem Treffen mit Seehofer und Gabriel am Sonntag will sich Merkel nach einem Bericht der Passauer Neuen Presse am Dienstag bei einem „kleinen Flüchtlingsgipfel“ mit den drei kommunalen Spitzenverbänden sowie mit Vertretern bayerischer Kommunen über die Lage beraten.
Auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland sind unterdessen in der Nacht zum Freitag mindestens zehn weitere Flüchtlinge in der Ägäis ertrunken. Ihr Boot sei vor der Insel Kalymnos gesunken, 135 Menschen hätten gerettet werden können, teilte die Hafenpolizei mit. Erst am Mittwoch waren bei mehreren Schiffsunglücken vor griechischen Inseln 17 Menschen ums Leben gekommen, darunter elf Kinder.
Beim jüngsten Drama sank das Boot in der Nacht vor der Küste von Kalymnos. Rettungskräfte suchten in der Dunkelheit nach Überlebenden. Beteiligt waren vier griechische Patrouilleboote, ein Schiff der EU-Grenzschutzagentur Frontex, ein Hubschrauber sowie ein Fischer- und ein Touristenboot. | taz. die tageszeitung | Gabriel reicht‘s. Er empfindet den Streit zwischen Seehofer und Merkel in der Flüchtlingspolitik als „unwürdig und verantwortungslos“. | [
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Biografie einer Pariser Bohemienne: Königin des Undergrounds - taz.de | Biografie einer Pariser Bohemienne: Königin des Undergrounds
Mark Braudes Porträt über Kiki de Montparnasse nimmt mit an eine Brutstätte zeitgenössischer Künste. Es zeigt, wie Kiki diese geprägt hat.
Unbekümmert, talentiert, auratisch: Kiki de Montparnasse 1930 Foto: Gaston Paris/Roger-Viollet/afp
BERLIN taz | Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt? In den Künsten entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen sich durchsetzen. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades von Marcel Duchamp und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ sein kann.
All das ist wiederum mit vielerlei Kapillaren, mit dem gesellschaftlichen Wandel verbunden, mit dem „Zeitgeist“, der die Künste prägt und den sie umgekehrt, auch mit prägen. An manchen Orten bilden sich verdichtete Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen.
Mark Braude hat eben mit „Kiki Man Ray: Liebe, Kunst und Rivalität im Paris der 20er-Jahre“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es geschafft hatte, in die Kreise rund um das Café Rotonde hineinzukommen, und als „Kiki de Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Undergrounds gekürt.
Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschicht-Geschöpf in den Künstlerkreisen, die in erheblichem Maße den bürgerlichen Bildungsschichten entsprangen.
Mehr als ein Modell
Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen fünf Cousins und Cousinen aufgezogen. Die markante Schönheit Kiki war Muse der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man Ray hat mit ihr seinen Stil entwickelt – aber sie war mehr als nur ein Modell.
„Kiki war ein Reality-Star in surrealistischen Zeiten“, schreibt Braude
Es war eine Generation, die den Krieg gerade überstanden hatte und jetzt leben wollte, gewissermaßen um jeden Preis. Bereits 1924 schrieb Djuna Barnes eines ihrer berühmten Frauenporträts über Kiki, in dem es hieß: „In alten Zeiten war ein Modell nur ein Modell; sie brach die Herzen der Männer, nicht aber ihre Konventionen.“
Kiki verwandelte die Modell-Figur von der passiven Figur zum aktiven Typus. Zu einem Charakter, der Kunst selbst seine Handschrift aufdrückte. Und sich um Konformismus nichts scherte. „Unbekümmertheit“ taucht wohl nicht zufällig als eines der ersten Attribute in Barnes' Kiki-Porträt auf.
In den Cafés sang Kiki eigene Lieder und eigene Texte, sie war eine Künstlerin des Flüchtigen, sammelte danach ein paar Francs und Centimes ein. Sie wurde sogar zum Vorbild einer Edith Piaf, die später bekundete, Kikis Talent habe sie in jungen Jahren regelrecht eingeschüchtert. Kiki malte und schrieb eine Autobiografie, deren englische Ausgabe mit einem Vorwort von Ernest Hemingway, einer ihrer vielen Bekannten, veröffentlicht wurde. Arno Breker, der Bildhauer, der später zu Hitlers führendem plastischen Künstler werden sollte, bewunderte sie und nannte sie „zweifelsohne die herrlichste (Frau in Paris), ein wahres Phänomen“.
Alkohol und Kokain
Um sich bei Laune zu halten und ihre dunklen Stimmungen zu bekämpfen, trank sie viel. Kokain half auch. André Breton, der Papst der Surrealisten, Duchamp, Paul Éluard, Georges Braque, der Maler Léger, die ganze Bubble möblierte ihr Leben. „Kiki war ein Reality-Star in surrealistischen Zeiten“, schreibt Braude.
Sie hat Spuren hinterlassen, aber in die Kunstgeschichte ging sie nicht ein, auch, weil die Geschichtsschreibung sich immer noch auf die genialen Männer konzentrierte, aber auch, weil ihre Kunst eine flüchtige war. Einen Tanz, eine Pose, einen Gesang, der in Kneipen vorgetragen wird, kann man nicht verkaufen. Man kann aber eine Fotografie verkaufen, die eine Pose einfängt.
Sie hatte einen scharfen und auch durchaus kritischen Blick auf die „Genies“ und aufgeblasenen Wichtigtuer um sie herum. Breton, Tzara, Picabia und die anderen Dada-Revoluzzer porträtierte Kiki als dumme Kinder aus guten Familien, die ein gefährliches Spiel spielten, bestens ausgestattet mit dem Geld ihrer Familien. Sie nennt sie „Leute, die die Bourgeoisie beschimpften … aber die genau wie die Leute lebten, die sie auf dem Scheiterhaufen sehen wollten. Mir waren sie zu zynisch. Ich habe sie nie verstanden.“
Über Man Ray schrieb sie, sie habe früh gewusst, dass er ein großer Künstler würde. „Seine besten Fotos hat er mit mir gemacht, er verstand meinen Körper, meinen Typ. Letzten Endes habe ich, das Modell, sein Genie zum Vorschein gebracht.“
Die befreite Frau
Man Ray, 1890 in Philadelphia als Sohn jüdischer Einwanderer geboren, geriet in die Künstlerkreise von New York, lernte dort Duchamp kennen, verschiffte sich mit diesem später nach Paris, wo er die Fotografie revolutionieren, neue Techniken entwickeln und auch den Avantgardefilm prägen würde. Er überschritt alle Genres, und auch die Generationen. Jahrzehnte später machte er sogar noch für die Rolling Stones Cover-Entwürfe, namentlich für das Album Exile on Main Street. Wenige Jahre vor seinem Tod porträtiert ihn Andy Warhol. Da war er schon ein schelmischer Alter.
Das Buch Mark Braude: „Kiki Man Ray. Kunst, Liebe und Rivalität im Paris der 20er Jahre“. Übersetzt von Barbara Steckhan und Thomas Wollermann. Insel Verlag, Berlin 2023, 365 Seiten, 26 Euro
Alice Prin alias Kiki de Montparnasse war das nicht vergönnt. Im Rückblick schrieb sie, im Grunde hätten sie und andere weibliche Personen der Bohème das Konzept der befreiten Frau erfunden, „aber wir waren uns dessen gar nicht bewusst.“
Djuna Barnes beschrieb sie als eine, die „das Establishment in ihren wirbelsturmartigen Streifzügen aus den Angeln hob“. In einem zeitgenössischen Zeitungsbericht ist über die Untergrund-Königin zu lesen: „Ihr Name wird vielleicht nicht in die Annalen der Kunst eingehen, aber sie verschaffte einer jungen Generation Träume, indem sie ihr Unterhaltung schenkte“. Kiki war damals noch keine dreißig Jahre alt. Bald geht sie in das über, was sie die „Dämmerung ihres Lebens“ nennt.
Verarmt, kaputt, von Alkohol und Drogen ruiniert stirbt Kiki früh, vergessen, mit nur 52 Jahren. | Robert Misik | Mark Braudes Porträt über Kiki de Montparnasse nimmt mit an eine Brutstätte zeitgenössischer Künste. Es zeigt, wie Kiki diese geprägt hat. | [
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Geologe über Waldbrände am Amazonas: „Freifahrtschein der Regierung“ - taz.de | Geologe über Waldbrände am Amazonas: „Freifahrtschein der Regierung“
Dass im Amazonasgebiet wieder illegal gebrandrodet wird, interessiert kaum jemanden. Es herrsche ein Klima der Straflosigkeit, sagt Geologe Pedro Luiz Côrtes.
Kein romantisches Gemälde: ganz realer Waldbrand bei Labrea Foto: Edmar Barros/ap
taz: Im letzten Jahr gingen Bilder vom brennenden Amazonas-Regenwald um die Welt. In diesem Jahr brennt es erneut. Warum steht der Regenwald in diesen Monaten eigentlich in Flammen?
Pedro Luiz Côrtes: Es gibt zwei Arten von Bränden: Zum einen legen Indigene und Kleinbauern Feuer, um ihre Felder zu reinigen. Wenn zum Beispiel ein Maisplantage angelegt werden soll, muss vorher alles abgebrannt werden. Aber das sind nur sehr kleine Flächen. Die großen Feuer werden von Gruppen gelegt, die versuchen, öffentliches Land im Regenwald in Privatland umzuwandeln und professionell auszubeuten. Häufig werden danach Rinder auf die Felder gestellt oder es wird Soja angepflanzt – obwohl das so eigentlich illegal ist.
Die Feuer werden also gelegt, um Land zu erschließen?
Genau. Aber die Brände sind nur der letzte Schritt eines längeren Prozesses: Als erstes werden Bäume gefällt, dadurch floriert nebenbei der illegale Holzhandel. Danach wird das Gehölz mit Traktoren und Bulldozern niedergerissen. Und schließlich wird in der Trockenphase – also jetzt – durch Brände eine Endreinigung vorgenommen. Auch wenn die Regierung es schaffen sollte, die Brände zu verringern, heißt das erstmal nicht viel. Denn ein großer Teil des Schadens passiert bereits vorher.
Viele Expert*innen rechnen für dieses Jahr mit neuen Abholzrekorden. Wie erklären Sie das?
Die Bolsonaro-Regierung hat seit dem letzten Jahr die Kontrollmechanismen noch weiter abgebaut und zudem viel weniger Strafen für Umweltvergehen verhängt. Holzfäller verstehen das als Freifahrtschein. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit.
Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen der Politik der Regierung und der steigenden Abholzung?
Ohne Zweifel. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Regierung, die illegale Abholzung zu bekämpfen. Dadurch, dass sie das nicht tut, gibt sie diesen Gruppen zu verstehen: Ihr habt nichts zu fürchten.
Wer sind diese Gruppen?
Es ist schwierig, das genau zu sagen, weil es derzeit so wenig Kontrollen gibt. Wenn es doch einmal Festnahmen gibt, bleiben die Auftraggeber oft im Dunkeln. Weil die Praxis illegal ist, würde sich niemand öffentlich zu den Abholzungen bekennen. Aber es sind meist Gruppen mit ökonomischer Macht.
Mitte Juli haben Bolsonaro und sein Umweltminister Ricardo Salles per Dekret die Brandrodungen für 120 Tage verboten. Rechnen Sie mit einem Umschwenken?
Nein. Das illegale Holzfällen ist ja auch verboten und passiert trotzdem. Ohne Kontrollen der entsprechenden Behörden ist das Dekret nutzlos. Die Gruppen, die sich Länder illegal aneignen, tun das unabhängig davon, ob es Gesetze gibt oder nicht.
Brasilien galt einst als Vorreiter im Umweltschutz.
im Interview:Pedro Luiz CôrtesPedro Luiz Côrtes, 59, ist Geologe und Professor an der Universität von São Paulo (USP). Er forscht seit vielen Jahren zu Umweltthemen und koordiniert den Masterstudiengang Umweltstudien.
Die Umweltschutzmaßnahmen, die seit den 1980er Jahren entwickelt wurden, haben erstaunliche Ergebnisse erzielt. Mit den täglichen Satellitenaufzeichnungen kann die Abholzung genau beobachtet werden, und Beamte können anhand dieser Daten dann illegale Holzfäller verfolgen. Natürlich war das System nicht perfekt, aber es hat gut funktioniert und es gab konkrete Ergebnisse: Zwischen den Nullerjahren und dem Jahr 2014 ist die Abholzung massiv zurückgegangen. Seitdem steigt die illegale Abholzung wieder an, vor allem in den letzten drei Jahren (Amtszeit von Bolsonaro und seines rechten Vorgängers Michel Temer, Anm. d. Red.)
Als es 2019 in Amazonien brannte, beschimpfte Bolsonaro Umweltorganisationen wüst und teilte gegen Kritiker*innen aus. Nun scheint Bolsonaro in der Amazonas-Frage etwas ruhiger geworden zu sein. Hat das mit dem internationalen Druck zu tun? Immerhin haben zahlreiche ausländische Firmen unlängst erklärt, Kapital aus Brasilien abziehen zu wollen, sollte das Land die Abholzung nicht in den Griff bekommen.
Ja, auf jeden Fall. Es gibt massiven Druck von ausländischen Firmen und Investoren, aber auch von brasilianischen Banken. Sie drohen damit, Gelder aus dem Agrobusiness und anderen Bereichen abzuziehen. Denn für sie kann es zum Problem werden, wenn ihre Projekte im Zusammenhang mit illegalen Rodungen stehen. Die Regierung ist dadurch unter Druck. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie wirklich effektiv handeln würde. Auch im letzten Jahr hat Bolsonaro nach Druck ein Dekret gegen Brandrodungen erlassen. Gebracht hat das aber nichts.
Die Regierung behauptet, Brasilien fehlten schlicht die Mittel, um effizient gegen illegale Rodungen vorzugehen.
Das ist ein vorgeschobener Diskurs. Die Regierung hat durch ihren Kurs den Amazonas-Fonds blockiert, der von Norwegen, Deutschland und Petrobras (halbstaatlicher Erdölkonzern aus Brasilien, Anm. d. Red.) finanziert wird. Dort wurden Millionen von Euros zur Rettung des Regenwaldes gesammelt. Dieses Geld könnte im Kampf gegen die Abholzung eingesetzt werden.
Warum ist dieser Amazonas-Fonds derzeit blockiert?
Umweltminister Ricardo Salles hat die Führung des Fonds scharf angegriffen und behauptet, dass er schlecht geführt werde. Das ist meiner Meinung nach völliger Unsinn, ich halte die Leitung für sehr professionell. Salles stört vor allem, dass NGOs finanziert werden. Dass er nun fehlende Mittel als Ausrede für die steigende Abholzung nennt, ist absurd.
Ebenjener Umweltminister Salles sorgte vor ein paar Monaten für Empörung, als er in einer Kabinettssitzung erklärte, man soll den medialen Fokus auf die Pandemie nutzen, um Umweltrichtlinien zu lockern. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?
Das war für mich keine Überraschung. Salles hat damit zusammengefasst, was er seit seinem Amtsantritt tut. Dieser Satz war im Prinzip eine Synthese seiner Arbeit als Umweltminister. Seit Salles angetreten ist, versucht er, Kontrollsysteme abzubauen und Umweltgesetze zu flexibilisieren. Es ist symptomatisch, dass vor kurzem ein Treffen von allen ehemaligen Umweltministern – rechten und linken – stattgefunden hat, wo große Besorgnis über den Abbau des Umweltschutzes geäußert wurde.
Zum Abschluss noch einmal zu den Rodungen. Welche Auswirkungen haben diese für das Klima in Brasilien?
Das Klima des Amazonas-Regenwaldes ist extrem wichtig, um Regen im Zentrum und im Süden des Landes zu erzeugen. Die Regenfälle wandern sogar bis nach Paraguay, Uruguay und in den Norden von Argentinien. Durch die Abholzungen regnet es deutlich weniger und es zeigen sich bereits jetzt die klimatischen Auswirkungen. Laut Studien stehen wir an einem Kipppunkt, der Regenwald droht, sich eine Savanne zu verwandeln. Wegen des ausbleibenden Regens gibt es außerdem weniger Wasser in den Flüssen und dadurch weniger durch Staudämme erzeugte Energie. Kurz: Von den Bränden und der Abholzung ist das ganze Land betroffen. | Niklas Franzen | Dass im Amazonasgebiet wieder illegal gebrandrodet wird, interessiert kaum jemanden. Es herrsche ein Klima der Straflosigkeit, sagt Geologe Pedro Luiz Côrtes. | [
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Biowinzer über die Flut an der Ahr: „Ich bin der Natur nicht böse“ - taz.de | Biowinzer über die Flut an der Ahr: „Ich bin der Natur nicht böse“
Seit 30 Jahren bewirtschaftet Christoph Bäcker im Ahrtal ein Weingut. Nun fiel es der Flut zum Opfer. Wie geht es für den Biowinzer weiter?
Weinberge in Marienthal, wenige Kilometer von Bad Neuenahr-Ahrweiler entfernt Foto: Thomas Frey/dpa
taz: Herr Bäcker, Sie sind Biowinzer in Ahrweiler, mitten im Katastrophengebiet. Wann haben Sie gemerkt, dass Unheil droht?
Christoph Bäcker: Das hat gedauert. Bei uns hat es nämlich gar nicht so fürchterlich geregnet. Die Regenmenge hätte allenfalls für ein leichtes Hochwasser gereicht. Es war die Flutwelle, die von der oberen Ahr kam, die Gefahr war schwer einzuschätzen. Ich habe im Fernsehen die Aussagen des Wetterdienstes verfolgt, aber diese Dramatik war nicht vorherzusehen. Richtig ernst wurde es erst am Abend, kurz vor dem Dunkelwerden. Der Pegel stieg rasend schnell, man konnte zugucken, wie ganze Uferbereiche im Wasser verschwanden.
Sind Sie in Panik geraten?
Nein. Wir hatten in unserem Betrieb, obwohl wir im Risikogebiet leben, noch nie einen Tropfen Hochwasser im Keller. Wir haben zuerst unsere Fahrzeuge in Sicherheit gebracht. Als das Wasser weiter stieg und über die Straße in unser Haus floss, haben wir die wichtigsten Unterlagen zusammengepackt: Impfausweis, wichtige Dokumente, Unterlagen für die Buchführung. Das haben wir in die obere Etage gerettet.
Viele Weingüter sind zerstört. Was ist von Ihrem übrig?
Nicht viel. Die abgefüllten Flaschen sind okay, die müssen wir nur neu etikettieren. Aber vor allem die Maschinen sind hinüber, der Gabelstapler, die Kelter, die Traubenmühle, die Pumpen, aber auch die Barriquefässer, die großen Holzfässer. Und wir haben kein Gas, kein Wasser, kein Strom, kein Internet. Natürlich machen mir auch die Weinberge große Sorgen, die ich nicht vor den jetzt um sich greifenden Pilzkrankheiten schützen kann.
Wegen der Feuchtigkeit im Ahrtal breitet sich der falsche Mehltau aus. Jetzt werden aus Hubschraubern Fungizide gesprüht, um den Jahrgang 2021 zu retten …
… meine eigenen Bioflächen werden wohl auch besprüht, dagegen kann ich mich nicht wehren. Es ist vermutlich die einzige Möglichkeit, damit wir im Herbst überhaupt etwas ernten können. Am Montag kommen Kollegen von der Mosel, die mir hoffentlich helfen, meine Weinberge ökologisch korrekt übers Jahr zu bringen.
Es gibt vielleicht keinen richtigen Biowein, aber wenigstens eine Ernte?
Ich hoffe auf eine Sondergenehmigung für meine Bioweine. Diese Katastrophe ist nun wirklich ein Härtefall, den ich nicht verschuldet habe.
Können Sie den 2021er Jahrgang bei befreundeten Winzern ausbauen?
Das wird schwierig. Da müsste ich die Trauben an die Mosel fahren. Die meisten Weingüter im Ahrtal liegen direkt am Fluss, nur ein einziges auf dem Berg. Die hat es voll erwischt. Wir brauchen jetzt Ersatzmaschinen und Lagertanks, dann müssen wir hoffen, dass es überhaupt noch etwas zu ernten gibt.
im Interview:Christoph BäckerJahrgang 1961, führt ein kleines Familien-Weingut in Ahrweiler.
Sie sind seit 1990 Biowinzer, sie waren der Erste an der Ahr, Sie haben sich mit der Natur verbündet. Jetzt hat die Natur ihre Existenz attackiert. War alles Engagement vergeblich?
Ich kann der Natur nicht böse sein. Die Natur ist genau so, wie die Menschheit sie zugerichtet hat. Wir müssen jetzt die Ärmel hochkrempeln und weitermachen, auch wenn es schwerfällt. Ich habe familiäre Unterstützung, bin einigermaßen abgesichert, selbst wenn dies der Todesstoß für meinen Betrieb war.
Kann Ihr Weingut ohne Abrissbirne wieder instandgesetzt werden?
Ich hoffe, es geht ohne Abrissbirne, aber ich weiß nicht, ob der Betrieb am Leben bleibt. Werden sich die Weinberge erholen? Gibt es eine Ernte? Wann kann ich wieder Wein verkaufen? Wann kommen wieder Besucher ins Ahrtal? Es wird viele Monate dauern, bis die Schäden halbwegs beseitigt sind. Diese Zeit zu überbrücken, das kann ich mir gegenwärtig nicht vorstellen.
Wie sieht es aktuell mit den Grundbedürfnissen aus: essen, trinken, schlafen, duschen, Toilette benutzen?
Wir sind ganz in der Nähe in einer Schule untergekommen. Später können wir vielleicht bei Freunden unterschlüpfen. Unser eigenes Haus ist hoffentlich nicht unbewohnbar, da müssen jetzt die Statiker ran. Zum Glück liegen Küche und Schlafzimmer im oberen Geschoss und sind unversehrt. Aber wenn ich in den Weinkeller gehe, dann kommen mir die Tränen.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie Herrn Laschet zuhören, der hier durch den Schlamm marschiert und sich als Klimaschützer inszeniert?
Tut mir leid, aber das ist einfach lächerlich. Das sind dieselben Sprüche, die nach jedem Hochwasser und nach jeder Katastrophe kommen. Die Lehren, die wir jetzt ziehen sollten – da passiert nichts. Der Kohleausstieg wird irgendwann kommen, viel zu spät. Das macht einen nur noch wütend.
Die Solidarität ist gewaltig, auch aus dem Ausland kommen viele Hilfsangebote. Halten die Winzer in der Krise zusammen?
Ich glaube schon, dass diese Katastrophe die Winzer zusammenschweißt. Meine Sorge ist allerdings, dass die Solidaritätswelle schnell wieder verebbt. Wir brauchen Hilfe über einen langen Zeitraum.
Was können unsere Leser:innen den betroffenen Weingütern Gutes tun?
Bioweine von der Ahr trinken! Das wäre die größte Unterstützung. Das ist noch befriedigender als finanzielle Hilfe. | Manfred Kriener | Seit 30 Jahren bewirtschaftet Christoph Bäcker im Ahrtal ein Weingut. Nun fiel es der Flut zum Opfer. Wie geht es für den Biowinzer weiter? | [
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BVG-Streik: Bei der BVG bahnt sich was an - taz.de | BVG-Streik: Bei der BVG bahnt sich was an
In den Tarifkonflikt bei der BVG kommt Bewegung: Gewerkschaft und Arbeitgeber kommen zu Gesprächen zusammen, die länger dauern als geplant. Beide Seiten signalisieren Einigungswillen.
Seit acht Tagen wird die BVG bestreikt: Jetzt wird endlich verhandelt Bild: DPA
Im BVG-Streik kommen die Tarifparteien einer Einigung näher. Am Rande eines Gesprächs zwischen der Gewerkschaft Ver.di und dem Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) teilte Ver.di-Gewerkschaftssekretär Lothar Andres am Mittwoch mit, die Arbeitgeberseite habe ein neues Angebot vorgelegt. "Wir sehen einen Schritt in unsere Richtung", sagte er. Über Details wollte er nicht sprechen. "Wir wollen alles versuchen, zu einem annehmbaren Ergebnis zu kommen." Das sei "möglich", werde aber einige Zeit in Anspruch nehmen. Einen Zeitpunkt, zu dem im Fall einer Einigung Busse und Bahnen wieder rollen könnten, nannte Andres nicht. "Der Arbeitskampf wird nicht ausgesetzt", betonte er.
Ursprünglich wollten die Tarifparteien nur zu einem einstündigen Sondierungsgespräch zusammenkommen. Daraus wurden mehrstündigen Verhandlungen, die bei Redaktionsschluss noch nicht beendet waren. Auch das zuletzt gereizte Klima zwischen den Tarifparteien hat sich offenbar verbessert. "Wir haben keine Schärfe zwischen den Verhandlungsparteien", sagte Andres über den Umgangston. Ver.di-Verhandlungsführer Frank Bäsler sagte, er glaube daran, dass die Arbeitgeberseite "ernsthaft" verhandle. KAV-Sprecherin Mona Finder wertete es als "positiv, dass die Parteien überhaupt zusammengekommen sind". Das demonstriere den Willen zu einer Lösung.
Das sind neue Töne im Vergleich zu den Aussagen der vergangenen Tage. Das letzte Angebot der Arbeitgeberseite hatte die Gewerkschaft am Montag noch schäumend als "Provokation" zurückgewiesen. Die neue Gesprächsbereitschaft mag auch auf zunehmenden Frust in der Belegschaft zurückgehen. Rund 100 BVGler, die sich am Mittwoch vor dem Charlottenburger Sitz der KAV zusammengefunden hatten, zeigten zwar trotzige Zuversicht, und es hieß, die Stimmung sei gut, die angespannten Gesichter erzählten jedoch eine andere Geschichte. "Wir halten noch durch", sagte ein Busfahrer in blauer Uniformjacke. Und eine Frau im Ver.di-Plastikleibchen fügte hinzu: "Wir können jetzt nicht aufhören, sonst ist ja alles umsonst gewesen."
Michael Onnasch von der Ver.di-Betriebsgruppe der Charité war zu einem Solidaritätsbesuch vorbeigekommen. Für ihn eine Selbstverständlichkeit, denn "die Kollegen hier sind zum Knirschen angespannt". Die Berliner Bevölkerung zeige sich zwar noch geduldig, aber das Verständnis lasse nach. Ver.di-Sprecher Andreas Splanemann, der sich zu den Streikenden gesellt hatte, sah das ähnlich: "Ist doch klar, dass der Streik den Leuten auf den Senkel geht", sagte er. "Das lässt ja keinen kalt hier." An den Nerven der BVGler zerrt vermutlich auch, dass gewerkschaftlich nicht organisierte Fahrer zunehmend darauf drängen, den Nahverkehr wiederaufzunehmen.
Für die rund 12.000 Beschäftigten der BVG und deren Tochter Berlin Transport fordert Ver.di Gehaltserhöhungen von bis zu 12 Prozent, mindestens aber 250 Euro brutto monatlich mehr. Das bisherige Angebot der Arbeitgeber sah für die Neubeschäftigten ein Plus von 6 Prozent bis 2010 in zwei Stufen vor. Die Altbeschäftigten sollten ab Juli 2008 1 Prozent und ab Januar 2010 weitere 0,5 Prozent mehr erhalten.
Am heutigen Donnerstag beschäftigt die Tarifauseinandersetzung auch das Abgeordnetenhaus. Das von den Regierungsfraktionen beantragte Thema lautet "Sprachlosigkeit im Tarifkonflikt überwinden". Die Oppositionsfraktionen von CDU und FDP werfen Rot-Rot vor, die Situation eskalieren zu lassen und an der "Streikfront" zu versagen. | Georg Fahrion | In den Tarifkonflikt bei der BVG kommt Bewegung: Gewerkschaft und Arbeitgeber kommen zu Gesprächen zusammen, die länger dauern als geplant. Beide Seiten signalisieren Einigungswillen. | [
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Autorin Isolde Charim über ihr Lebenskonzept: Raus aus der Lustfeindlichkeit - taz.de | Autorin Isolde Charim über ihr Lebenskonzept: Raus aus der Lustfeindlichkeit
Isolde Charim über Lebensentwürfe und Fantasien der neuen Ökologiebewegung – und worin ihre Chancen und Gefahren begründet liegen.
Bewusster Konsum kann auch Genuss sein. Bild: ap
taz: Was macht das gute Leben aus?
Isolde Charim: Das gute Leben beginnt damit, dass man diese Frage überhaupt stellt. Dazu gehört, dass es in der heutigen Zeit keine Verpflichtung auf ein gutes Leben mehr gibt, und auch keine inhaltliche Bestimmung, worin dieses gute Leben besteht. Das ist Chance und Gefahr zugleich.
Gibt es also keinen Zwang, „gut“ zu leben?
Nein, den gab es auch nie – sondern nur Definitionen, was das gute Leben sein kann. Nun gibt es diese Vorschriften nicht mehr. Ich glaube, dass das gerade für Frauen eine große Befreiung bedeuten kann.
im Interview:ISOLDE CHARIMFoto: R. MilikJahrgang 1959, lehrt am Philosophischen Institut der Universität Wien. Als freie Publizistin veröffentlicht sie in unterschiedlichen deutschen und österreichischen Printmedien. Ihre Kommentare erscheinen regelmäßig in der österreichischen Tageszeitung „Standard“ und im Kulturteil der taz.
Ist das gute Leben auch eine moralische Frage?
Die Verbesserung der Welt muss kein rein moralischer Diskurs sein. Ich halte die Verbindung von moralischen und ökologischen Kriterien sowie solchen der Effizienz für eine große Chance, weil man so das Appellative der Moral umgehen kann und es eben dennoch in moralischer Hinsicht wirkungsvoll ist.
Sie meinen vielleicht auch die Lustferne der Ökos?
Aus der sich die Ökobewegung gerade herausbewegt hat. Bewusst Konsumieren heißt ja nicht, zu verzichten, sondern andere Konsumentscheidungen zu treffen. Das ist ein Lebenskonzept, keine Frage einzelner Entscheidungen, die gestern oder vorgestern gefallen sind. | Jana Volkmann | Isolde Charim über Lebensentwürfe und Fantasien der neuen Ökologiebewegung – und worin ihre Chancen und Gefahren begründet liegen. | [
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Aufklärung im Regen - taz.de | Rote Khmer
Aufklärung im Regen
GESCHICHTE Wie die Jugend über die Roten Khmer informiert wird
VON SASCHA ZASTIRAL
Mehr als tausend Arbeiterinnen und Arbeiter strömen auf den großen Platz vor ihrer Textilfabrik in Sihanoukville, rund 250 Kilometer von Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh entfernt. Die meisten von ihnen sind jung, im Teenageralter oder in den zwanzigern. Sie haben eine Stunde früher freibekommen, damit sie sich die Veranstaltungen anschauen können.
Vor ihnen steht Neth Pheaktra. Der 32-Jährige ist für die Öffentlichkeitsarbeit am Roten-Khmer-Tribunal in Phnom Penh zuständig. Dort wird derzeit das Verfahren gegen die drei noch lebenden ranghöchsten Anführer der Organisation verhandelt. Die Mitarbeiter des Gerichts fahren Woche für Woche durchs Land. Sie gehen in Dörfer und an Schulen und erklären den Menschen die Arbeit des Tribunals.
In vielfacher Hinsicht betreibt das Gericht damit Aufklärungsarbeit. Zwar haben auch alle jungen Kambodschaner von der Schreckensherrschaft der Roten Khmer gehört. Doch erst seit Kurzem wird an den Schulen darüber unterrichtet. Auch in Sihanoukville sagen viele junge Kambodschaner, dass sie gar nicht genau wissen, was sich damals alles abgespielt hat.
„Heute werden wir zum ersten Mal mit Textilarbeitern sprechen“, sagt Neth Pheaktra. Diese hätten vor lauter Arbeit meist keine Zeit, sich zu informieren. „Daher ist das eine gute Gelegenheit für uns, ihnen zu erklären, was damals passiert ist. Und ihre Fragen zum Tribunal zu beantworten.“ Neben ihm haben Mitarbeiter eine Leinwand aufgebaut. Nach jedem Vortrag zeigen sie Dokumentarfilme über die Zeit der Roten Khmer.
Neth Pheaktra mustert kritisch die dunklen Wolken, die am Horizont aufziehen. Dann nimmt er das Mikrofon in die Hand. Die Veranstaltung beginnt. Er spricht über die Geschichte der Roten Khmer, erklärt seinen jungen Zuhörern die Arbeit des Gerichts. Dann zeigt er ihnen Plakate mit den Fotos der Angeklagten und erklärt, welche Funktion diese im damaligen Regime hatten. Gerade, als Neth Pheaktra beginnen möchte, einen Dokumentarfilm über die Roten Khmer zu zeigen, bricht ein gewaltiger Regenschauer über das Gelände herein. Nach einigen Minuten wird klar, der Regen wird länger anhalten. Neth Pheaktra muss die Präsentation abbrechen.
Neth Pheaktra sagt, ihm sei seine Arbeit enorm wichtig. „Ich opfere viel, um diese Arbeit machen zu können.“ Er sei sehr viel unterwegs und könne dann oft nachts nicht schlafen. Das nehme er aber in Kauf. „Denn es ist im Interesse der Menschen in Kambodscha.“ | SASCHA ZASTIRAL | GESCHICHTE Wie die Jugend über die Roten Khmer informiert wird | [
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Frankreich vor der Präsidentschaftswahl: Fillon sackt ab - taz.de | Frankreich vor der Präsidentschaftswahl: Fillon sackt ab
Die Satire-Zeitung „Le Canard enchaîné“ legt nach: Penelope Fillon hat viel mehr Geld kassiert als bekannt. Der Gatte schwächelt in Umfragen.
François Fillon sagt von seiner Frau Penelope: „Aber die hat doch gar nichts gemacht“ Foto: reuters
PARIS taz | Offiziell stehen die konservativen Republikaner noch geschlossen hinter ihrem Präsidentschaftskandidaten François Fillon, der sich seit einer Woche wegen des Verdachts auf Unterschlagung öffentlicher Gelder rechtfertigen muss. Hinter seinem Rücken aber wird über eine Ersatzlösung getuschelt.
Die Namen ehemaliger Minister wie François Baroin, Xavier Bertrand oder Laurent Wauquiez zirkulieren. Denn es sieht nicht gut aus für Fillon. In einer jüngsten Wahlumfrage liegt Fillon mit 19 bis 20 Prozent hinter dem Linksliberalen Emmanuel Macron (23) und der Rechtspopulistin Marine Le Pen (27), die ebenfalls von Fillons Absturz profitiert.
Seine empörten Unschuldsbeteuerungen und seine schwache Verteidigung haben auch seine Anhänger nicht überzeugt. Mehrere Angaben, die Fillon zu seiner Rechtfertigung gemacht hat, erwiesen sich sogar als offensichtlich falsch und somit kontraproduktiv.
Im Zentrum des Skandals steht weiterhin seine sonst so diskrete Gattin Penelope. Fillon hatte sie als seine Assistentin mit den staatlichen Subventionen als Abgeordneter und Senator angestellt und bezahlt. Bisher existieren keine Hinweise auf ein echte Arbeit von Madame Fillon.
Dubiose Beraterfirma F2
Die Wochenzeitung Le Canard enchaîné hat zusätzliche Enthüllungen publiziert und den kassierten Gesamtbruttobetrag auf 900.000 Euro erhöht. Auch zwei seiner (noch studierenden) Kinder hatte Fillon mit 84.000 Euro brutto für eine angebliche parlamentarische Mitarbeit bedacht.
Ferner soll Penelope Fillon als Beraterin in 20 Monaten rund 100.000 Euro brutto von einem mit ihrem Mann befreundeten Besitzer einer Kulturzeitschrift als „literarische Beraterin“ bezogen haben. Und der Canard publizierte auch noch die erstaunlichen Geschäftsergebnisse der 2012 von Fillon gegründeten Beratungsfirma 2F, deren anonyme Kunden ihm rund eine Million Euro für seine Dienste bezahlt haben.
Als Antwort auf all die Enthüllungen, die auch im eigenen Lager für große Verunsicherung sorgen, hat Fillon nur eine moralisch entrüstete Gegenattacke. Es handle sich um einen „institutionellen Staatsstreich von links“, sagte er vor der LR-Parteiführung. Regierungssprecher Stéphane Le Foll dementierte umgehend diese Behauptung als absurd und riet Fillon, der allein zuständigen Justiz glaubwürdige Auskünfte zu geben.
Fillon wird es kaum trösten, dass er nicht der Einzige ist, der derzeit attackiert wird. Auch Marine Le Pen hat sich geweigert, dem EU-Parlament 340.000 Euro zurückzuzahlen, die sie – entgegen den Bestimmungen – für die Bezahlung ihrer Sekretärin und ihres Leibwächters verwendet hat. Jetzt kann das EU-Parlament ihr Gehalt pfänden. | Rudolf Balmer | Die Satire-Zeitung „Le Canard enchaîné“ legt nach: Penelope Fillon hat viel mehr Geld kassiert als bekannt. Der Gatte schwächelt in Umfragen. | [
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Architekten über Stadtplanung: „Ein Marshallplan für Brüssel“ - taz.de | Architekten über Stadtplanung: „Ein Marshallplan für Brüssel“
Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek gilt als ökonomisch abgehängt. Drei ArchitektInnen wollen die Lage verbessern und das Image aufpolieren.
Molenbeek gilt als Terrornest – doch es gibt Versuche, das zu ändern Foto: ap
taz: Wer die Berichte europäischer Medien über Brüssel verfolgt, könnte denken, die Hauptstadt der EU hätte ein Problem. Stimmen Sie dem zu?
Joachim Declerck (J. D.): Zu den größten Problemen in Brüssel gehört der enorme Bedarf an Wohnraum, verursacht durch zwei Bevölkerungsgruppen. Zum einen durch die politisch-wirtschaftlichen Eliten, zum anderen durch die hohe Zahl der Immigranten, die mittlerweile 30 Prozent der Stadtbevölkerung ausmacht. Schließlich kommt hinzu, dass wir zwar in der drittstärksten Wirtschaftszone Europas leben, aber dennoch eine Arbeitslosigkeit von 20 Prozent haben. In bestimmten, von der Stadtentwicklung abgehängten Vierteln gibt es unter den 18- bis 25-Jährigen sogar eine Arbeitslosigkeit von 55 Prozent. Diese Kluft zwischen der politisch-wirtschaftlichen Führungsschicht und den Arbeitslosen ist unser drängendstes Problem. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird unsere Fähigkeit zunichte gemacht, dass diese Stadt ihre Probleme zu lösen imstande ist.
Wie sollte die Wirtschaft umgebaut werden, damit auch die unteren Schichten davon profitieren?
J. D.: Der wirtschaftliche Produktionsfaktor Brüssel wird beschädigt, wenn wir nicht verstärkt in neue Produktionsweisen investieren. Wir benötigen neue Formen von Mobilität in der medizinischen Versorgung, Schwerpunkte könnten auch in der Herstellung von E-Bikes oder im Müllrecyceln liegen. Allein wenn wir diesen Schritt schaffen, kann es uns gelingen, die große Kluft zwischen dem dominierenden Wirtschaftssektor und den prekären Formen in den randständigen Vierteln zu überwinden.
Wie sehen die sozialen Bedingungen im Brüsseler Stadtteil Molenbeek aus? Es wird ja in Deutschland geradezu als Terroristennest angesehen.
Petra Pferdmenges (P. P.): Molenbeek ist bestimmt von Immigranten, Arbeitslosigkeit und Armut. Um Veränderungen voranzutreiben, ist es wichtig, Kontakte zu lokalen Entscheidungsträgern zu knüpfen. Uns Architekten von Alive Architecture gelang es vor zwei Jahren, auf dem einstigen Müllberg von Molenbeek „Parckfarm“ zu starten, ein subventioniertes Urban- Gardening-Projekt, für das wir 2015 den Public Space Prize erhielten. Wir konnten etliche Anwohner für die Idee engagieren und ihnen innerhalb des Projekts Aufgaben anvertrauen. Es war also kein Architektenplan, sondern ein Gemeinschaftsprojekt zusammen mit den Leuten des Viertels. Es gelang uns dabei, nicht nur das Verhalten dieser Menschen zu ändern, sondern auch das von Angst geprägte Verhalten der Politiker.
Parckfarm hätte also die Chance, das gewaltige Imageproblem von Molenbeek zu lösen. Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Joachim Declerck„Wenn der Fokus allein auf Neubauten und nicht zugleich auf dem Müllrecyceln liegt, wird die Stadt irgendwann zum Suburb“
P. P.: Das Projekt kam bei den Lokalpolitikern gut an. Schließlich konnten wir die Zukunft von Parckfarm sichern. Ursprünglich war die Laufzeit auf vier Monate beschränkt, mittlerweile besteht das Projekt seit über zwei Jahren und es ist in die Eigenregie der vormals arbeitslosen Anwohner übergegangen.
Thierry Kandjee (T. K.): In dem Projekt haben wir ausdrücklich Molenbeeker angesprochen, die in sozial schwachen Verhältnissen leben und gleichzeitig von der Gentrifizierung des Viertels betroffen sind. In dieser Zeit waren die politischen Autoritäten nicht sonderlich daran interessiert, den Menschen mehr Verantwortung zu übertragen. Dennoch wurde Parckfarm ein großer Erfolg.
Gab es unter den Anwohnern Probleme mit der von Ihnen erwähnten Gentrifizierung?
T. K.: Viele Bewohner von Molenbeek fühlten sich übergangen, als sie vom Bau der Luxuswohnungen erfuhren. Niemand ging auf diese Menschen zu. Daraufhin gab es wöchentlich Brandanschläge auf die Neubauten, die an unseren Park grenzen. Anfangs reagierten viele Verantwortliche verständnislos. Doch während des Prozesses waren die Projektentwickler tief beeindruckt von der plötzlich einsetzenden Dynamik und Lebensqualität, die mit Parckfarm einsetzte. Ich denke, viele legten ihre lange vorherrschende Wut ab.
P. P.: Es ist entscheidend, diesen Leuten Verantwortung zu übertragen. Deswegen respektierten die Leute die Glashäuser von Parckfarm, denn innerhalb der Nachbarschaften kennt man sich und achtet einander.
im Interview:Declerck, Kandjee, PferdmengesJoachim Declerck ist Gründer und Mitinhaber von Architecture Workroom Brussels. Der 39-Jährige wurde als Architekt und Stadtplaner an der Universität Ghent und dem Rotterdamer Berlage Institut ausgebildet. 2012 war er im Kuratorenteam der 5. Internationalen Architektur Biennale „Rotterdam – Making City“.
Thierry Kandjee, 1973 in Tananarive auf Madagaskar geboren, machte 1999 seinen Abschluss als Landschaftsarchitekt an der ENSP Versailles. Mit Sebastien Penfornis gründete 2005 Taktyk, eine Plattform, die in Brüssel über den öffentlichen Raum der Stadt arbeitet.
Petra Pferdmenges ist Gründerin von Alive Architecture, einer Agentur, die die Rolle der Architektur in der Stadtentwicklung neu situiert: Nicht der bebaute Raum, sondern der belebte Raum steht im Zentrum. 2014 initiierte Alice Architecture die Parckfarm in Molenbeek. Pferdmenges hat unter anderem in Melbourne, Delft und Regensburg studiert.
J.D.: Angesichts dieser Prozesse wird klar, welche Richtung unsere Wirtschaft einschlagen muss: Es geht nicht mehr um die allseits gepriesene technologische Revolution, sondern um ganz unterschiedliche wirtschaftliche Akteure mit unterschiedlicher Macht. Große Unternehmen und lokale Akteure können auf ihre Weise zur Stadtentwicklung beitragen. Dazu benötigen wir eine soziale Agenda, die weit über die Logik von Investition und Grundstücksspekulation hinausgeht.
Welche Bedürfnisse hat denn die Gesellschaft?
J. D.: Es liefe auf eine Repolitisierung hinaus, den öffentlichen Sektor zu befähigen, gesellschaftliche Bedürfnisse mit der wirtschaftlichen Elite und den lokalen Wirtschaftsgruppen auszubalancieren. Vertreter von Stadtteilgruppen wissen oft sehr genau, was vordringlich ist, beispielsweise in Utrecht, wo die Lebenserwartung in schwach entwickelten Vierteln weit unterhalb des Durchschnitts liegt. Die Logik der Immobilienspekulation macht ein gedeihliches Zusammenleben dieser Menschen zunichte, da sie ihre Träume zusehends begraben sehen. Stattdessen müsste Stadtentwicklung zuallererst in den unterentwickelten Vierteln ansetzen.
Brauchen wir einfach nur mehr Wohnraum?
J. D: Wenn der Fokus allein auf Wohnraumbeschaffung und nicht zugleich auf dem Müllrecyceln liegt, wird die Stadt irgendwann zu einem riesigen Suburb. Nicht Google, nicht Tesla, nicht die Smart City setzen die notwendigen wirtschaftlichen Impulse. Es muss eine Stadt entwickelt werden, die einer Wirtschaftsform Raum gibt, derer wir alle bedürfen, einer Wirtschaft, die Jobs schafft und lokale Aktivitäten unterstützt.
Was wären die vornehmlichsten Maßnahmen, um das Image von Brüssel und Molenbeek zu verbessern?
J. D.: Brüssel ist die Hauptstadt von Europa, hier gibt es die zweithöchste Anzahl von NGOs. Das ist der Kurs, auf den Brüssel in den letzten Jahrzehnten zusteuerte. Viele Verkehrswege sollten die Stadt gut erreichbar machen. Kurz und gut: Brüssel hat sich zum internationalen Machtzentrum entwickelt, während sich das Stadtleben diesem Ziel unterordnete. Mit der Konsequenz, dass für Belgier oder Ausländer das Stadtleben völlig unbedeutend geworden ist. Gleichzeitig entstanden in Molenbeek, Anderlecht und Schaerbeek fantastische Projekte, die von lokalen Gruppen organisiert wurden. Es ist an der Zeit, den Prozess umzukehren: Brüssel darf nicht mehr länger eine Hauptstadt mit ausgedünntem Alltagsleben sein.
Was verändert sich auf politischer Ebene durch die Einwanderung?
J. D.:Eine neue Lokalpolitik ist erforderlich, um sich besser auf die zunehmende Zahl der hier lebenden Migranten einzustellen. Verkehrsinfrastruktur und Sicherheit dürfen nicht an erster Stelle stehen, denn heute steht ein sozial-urbanes Projekt auf der Tagesordnung. Wir müssen die Europa-Hauptstadt Brüssel als Experimentierfeld für Inklusivität entwickeln, das dem Image, das die Medien Molenbeek verpasste, etwas entgegenhält. In sozialen Stadtteilprojekten sind weit mehr Menschen beteiligt als an den Bombenanschlägen von Paris oder Brüssel. Wir brauchen mehr Raum für Initiativen, die für den Zusammenhalt in den Vierteln wichtig sind. Doch dieser Weg verlangt nach einem neuen Narrativ für Brüssel. Es geht nicht einfach um kleine, unbedeutende Projekte. Die Parckfarm-Gruppen sind für die Zukunft ebenso unerlässlich wie die Eliten.
Und wie wollen Sie diese Herkulesaufgabe anpacken?
J. D.: Wir sehen unsere Aufgabe darin, Koalitionen zwischen den schwachen Stadtteilgruppen, großen Unternehmen, Angestellten, Gewerkschaften und Verbänden zu schmieden. Unser Ziel ist ein Marshallplan für eine neue Stadtentwicklung. Wenn wir gemeinsam ein Narrativ erfinden, bin ich sicher, dass diesem auch die Politiker folgen werden. | Klaus Englert | Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek gilt als ökonomisch abgehängt. Drei ArchitektInnen wollen die Lage verbessern und das Image aufpolieren. | [
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DIE WERBEPAUSE: Und raus bist du! - taz.de | DIE WERBEPAUSE: Und raus bist du!
Warum ist eine Frau im Pyjama, die sich zusammen mit ihrer Familie im Bad aufhält und die Zähne putzt, für ein saudi-arabisches Publikum unzumutbar?
Auf Abbildungen, die ansonsten mit denen in anderen Katalogfassungen identisch sind, wurden im Ikea-Katalog für Saudi-Arabien nahezu alle Frauen wegretuschiert. Auch wenn der aktuell in 69 Versionen und in einer Auflage von 208 Millionen verteilte Katalog des schwedischen Möbelhauses schon immer je nach Erscheinungsland leicht geändert wurde, waren Eingriffe wie in der saudischen Version bislang unbekannt.
Ikea bekommt nun eine Welle von Häme und Kritik ab. Ylva Magnusson, Pressechefin von „Ikea Group“ bedauerte, „dass das passieren konnte“: „Wir hätten schneller reagieren müssen.“ Für diesen Katalog war ein Franchiseunternehmen zuständig.
Vom saudischen Recht seien solche Eingriffe in Abbildungen nicht gefordert, meinte der schwedische Islamologe Jan Hjärpe. Es gehe wohl darum, dass Ikea im Voraus eine Moraldiskussion vermeiden wollte.
Ikea war erst in der vergangenen Woche wegen Zensur seiner russischen Website kritisiert worden. Hier hatte bei der Abstimmung über eine Werbekampagne ein Bild von im Stil der Polit-Punkband Pussy Riots verkleideten Jugendlichen die meisten Stimmen erhalten. Worauf es gelöscht wurde. Begründung: Man sei „politisch und religiös unabhängig“. REINHARD WOLFF | REINHARD WOLFF | [
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Manische Manieren - taz.de | Manische Manieren
Alle benehmen sich scheiße – nur Charlotte Roche nicht. Warum muss der Diskurs über Anstandsregeln immer gleich in der Disziplinierungsfalle enden? Und folgt auf die zwangsenthemmten TV-Freakshows unweigerlich ein Neo-Biedermeier?
Von JAN ENGELMANN
In der Alten Schönhauser Straße in Berlin-Mitte gibt es diese Filiale des O.K.-Versands, die skurrile Alltagsgegenstände aus aller Welt feilbietet. Zu den absoluten Verkaufsschlagern gehört ein indisches Schulplakat mit bunten Illustrationen und Bildunterschriften auf Hindi und Englisch. Es listet penibel Benimmregeln auf und existiert in zwei Versionen, einmal für die „good habits“, einmal für die „bad habits“. Keine Frage, welche der beiden Versionen bei den Konsumenten beliebter ist. Ziviler Ungehorsam rules, nicht nur in Mitte. Für die neue Elterngeneration, die mit Michel aus Lönneberga groß wurde, ist der erhobene Zeigefinger per se nicht ganz so verbindlich zu sehen.
Doch manchmal wird es selbst den Nachsichtigsten unter ihnen zu viel. Denn die gleiche Alterskohorte, die aus ihrer eigenen Kinderladen-Sozialisation und den antiautoritären Experimenten der 68er gewissermaßen eine Grundresistenz gegenüber Strenge und Rohrstock-Rhetorik gewonnen hat, brachte auch die wichtigsten Vertreter eines flächendeckenden Pippikacka-Humors hervor, wie er einengender und disziplinierender nicht sein könnte. Zwangsjuvenil und naughty by nature, hinterlassen die Zotenkings ihre Ätschi-bätschi-Duftmarken an jeder Ecke. In ihrer angestammten Hoheitssphäre des TV benutzt man eingeübte zivilisatorische Codes, die sorgsam zwischen „noch erlaubt“ und „nicht zulässig“ scheiden, nicht einmal mehr zum Po-Abputzen. Wer da noch auf Sitte und Anstand pocht, muss entweder ein gut verdienender Promi-Anwalt oder ein erzkonservativer Hauswart sein. Irgendwelche „klare Grenzen“ (Angela Merkel) scheint keiner mehr zu kennen, nur noch ein telegenes Kartell der gegenseitigen Überbietung.
Dieser enthemmte Zustand wird gerne beklagt, leider meistens unter den falschen Prämissen. So nahm auch das Novemberheft der Zeitschrift Psychologie heute den medialen Flegel-Boom zum Anlass, über die „Kultur des Trash“ zu richten. Gewürzt mit einer Prise Herbert Marcuse („repressive Entsublimierung“) wetterte Autor Matthias Jung gegen die allgemeine „Inthronisierung“ allzu menschlicher Lüste und den Wegfall jeglicher „Scham- und Dezenznormen“. Schleichend habe ein Strukturwandel von Bürgerschreck Zappa (gewissermaßen ein Rüpel ersten Grades) zu Walter Moers’ „Kleinem Arschloch“ (Rüpel zweiten Grades) stattgefunden, in dessen Verlauf die ehemals progressive Stoßrichtung von gezielten Tabubrüchen in eine apolitische Harmlosigkeit umgeschlagen sei: „Heutzutage hat das Bildungsbürgertum seine kulturprägende Kraft nahezu verloren, und nichts könnte weniger subversiv sein als das Hervorrülpsen der eigenen Befindlichkeiten und Triebregungen. Die Veralltäglichung des Trash ist daher die Geburtsstunde einer neuen Form kleinbürgerlichen Ungeistes. Und in der erklärten Absicht, wenigstens damit provozieren zu können, behaupte ich: Die Mitglieder der Generation Trash sind die neuen Spießer.“
Das klingt gut, weil es den bereits antizipierten Vorwurf, eine pädagogisch-verbiesterte Spaßbremse zu sein, souverän ins Feld der unbeschwerten Spaßterroristen zurückspielt. Enttarnt als kleinbürgerliches Zwangsverhalten, muss uns kein Puller-Alarm mehr den Schlaf rauben. Aber verhält es sich tatsächlich so? Ist das Unmanierliche längst das alleinige Privileg von angepassten Dumpfbacken, die einfach zu bequem oder zu unkreativ sind, um andere Regelverstöße überhaupt zu erdenken? Derart reduziert auf ihre „ferkelige“ Praxis, würden nämlich auch „Fäkalkünstler“ wie Paul McCarthy, die feministische Sex-Performerin Annie Sprinkle oder die kanadische Popsängerin Peaches mit ihren obszönen Gesten unter diese Kategorie fallen, also allesamt Kunstproduzenten, denen man einen gewissen Mehrwert der Überschreitung nicht absprechen möchte.
Und ist Jung auch darin Recht zu geben, dass ein Spießer dadurch charakterisierbar ist, „sich die eigenen Überzeugungen, Kleidungsstile und Verhaltensweisen dort abzuholen, wo der Konformitätsdruck des Zeitgeistes sie hingelegt hat“? Gemäß dieser engen Definition von Spießertum müsste man nämlich den Löwenanteil des gesamten hoch- wie popkulturellen Schaffens, man denke nur an Thomas Mann oder Andy Warhol, unter das Verdikt des braven „Abholens“ stellen. Und, so wäre drittens zu fragen, werden Adenauer-Piefigkeit und Popmoderne schon dadurch strukturanalog, dass es keinen Unterschied mehr mache, „ob der Zeitgeist, wie in den restaurativen 50er-Jahren, züchtige Verhüllung oder, wie heutzutage, tätowierte Nacktheit bevorzugt“? Es scheint, als habe Jung der Versuchung, den neuen Rülpszwang schön dialektisch gegen das überholte Rülpsverbot auszuspielen, nicht widerstehen können.
Und es passt ja auch zu gut. Trugen Benimmratgeber in den 50er-Jahren noch krude Titel wie „Einmaleins des guten Tons“, so würde heute kein Verlagshaus derlei steife Knigge-Didaktik mehr verantworten wollen. Stattdessen lässt man lieber die Sau raus beim Rudelbums in der Wertschöpfungskette. Dass sich ausgerechnet Eichborn, der einstige Moers-Verlag, nun mit dem gelehrten Stiltraktat „Manieren“ des Äthiopiers Asfa-Wossen Asserate (Andere Bibliothek Bd. 226, 392 S., 22,90 €) bewusst davon absetzt, überrascht nach näherem Hinsehen kaum. Denn dieser Coup hat weniger mit einem echten Bedürfnis nach einem „normativ erneuerten Verständnis von Bürgerlichkeit“ (Jung) zu tun als vielmehr mit deren elitären Neuinszenierung durch den feinsinnigen Hans Magnus Enzensberger. Wie abwegig ist eigentlich die hie und da schon geäußerte Vermutung, dieser habe Asserate nur als Autor vorgeschoben, um eine kräftige Diskursdosis in die aufs Ödeste enthemmte Spaßgesellschaft zu injizieren? Sähe ihm doch ähnlich, dem schlauen Fuchs, auf dem Umweg über einen exotischen Eye-Catcher eine moralisch motivierte Ethnografie des Eigenen durchzuspielen.
Jungs Rülpszwang-These klingt zwar gut, kennt ihren Foucault aus dem Effeff und fiele ansonsten auch nicht unangenehm auf, wenn sie nicht auf altbackene Weise einem gefälligen Reaktionsmuster aufsitzen würde: Wenn ihr mir keine manierliche Kultur mehr bieten wollt, dann lege ich halt Arte auf den Programmplatz eins um und lese in der U-Bahn finnische Höhenkamm-Literatur, so! Der gewissermaßen zurückgegebene Spießervorwurf verkennt, dass „Kultur“, oder was immer man darunter fassen mag, keine Angelegenheit ist, die nach dem Entweder-oder-Prinzip oder einer U-und-E-Polarität funktioniert. Stattdessen existieren dort Erst- und Zweitverwertungen sozialer Codes, affirmative und kritische Lesarten sowie die unterschiedlichsten Vorstellungen, was das nun wieder fürs Ganze bedeutet, hübsch nebeneinander.
Auf dieser komplizierten Matrix tatsächlich einen „infantilisierenden Sog“ (Jung) als einzige Haupttendenz auszumachen, ist so dünkelhaft wie voreilig. Die Wette gilt, dass schon in wenigen Jahren viele erfolgreiche TV-Formate vorrangig die Frage behandeln werden, „was sich gehört und was nicht“. Ein lästiger Neo-Biedermeier, wie ihn der Spiegel schon vor Monaten herbeihypte, wird die lästigen Freakshows ablösen, und sei es nur aufgrund einer zyklischen Gesetzmäßigkeit.
Was die Rülpszwang-These zudem übersieht, ist, dass auch die Popkultur – als vermeintlicher Hauptverbreitungsweg des Unmanierlichen – immer noch schlauer ist, als die Polizei erlaubt. Ist es nicht so, dass Charlotte Roche ihre Gäste viel respektvoller behandelt als der mitunter hinterhältige Johannes B. Kerner und dabei nie ihre jugendliche Glaubwürdigkeit einbüßt? Roches entwaffnende Höflichkeit ist dabei einer Empathie geschuldet, die eine der gerne vergessenen Errungenschaften der 68er-Elterngeneration darstellt. Asserate betont bei seinen kurzen Ausführungen zur Studentenbewegung einseitig deren unschicklichen „Radau“ und ist sich darin mit jenem FAZ-Leserbriefschreiber einig, der neulich über Joschka Fischers ständige Tischtelefonate beim Bundespresseball klagte.
Dabei verkennt oder verschweigt Asserate, dass die vorlauten Appellbürger von damals gleichzeitig einen gegenseitigen Stil des Umgangs einführten, der die traditionell mit dem Wohlverhalten verbundenen Nutzenkalküle („Noch einen Kaffee, Herr Generaldirektor?“) einfach kappte. Der diskrete Charme der Bourgeoisie bestand nun darin, diesen Charme selektiv einsetzen zu dürfen, nämlich dann, wenn es der Gegenüber auch tat. Gegen den kulturellen Siegeszug dieser ungezwungenen, gleichsam „sanften“ Höflichkeit konnten auch Berliner Taxifahrer, Klaus Kinski oder die Oi-Punks wenig ausrichten.
Max Goldt, ein aufmerksamer Chronist der Popkultur und erklärter Verfechter eines „Funkens von Restanstand“, ist sich mit Katharina Rutschky darüber einig, dass ein zeitgemäßes Benimmbuch für Jugendliche nicht schaden könnte. Darin solle allerdings nicht erörtert werden, ob man ein Glas Wein nun an der Coppa oder am Stil anfasst, sondern es müsse darum gehen, „Regeln darüber zu verbreiten, wie man sich ohne karrieristische Hintergedanken gegenüber Menschen des eigenen Milieus verhält“.
Diese Einschränkung kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, weil sie die Denkhaltung von zeitgemäßen Benimm-Fans markiert. Keiner von ihnen möchte nämlich den abgeschmackten Grobianismus mit einem neuen Aristokratismus austreiben. Keiner erträumt sich eine Renaissance von Autoritäten, die eine Deutungshoheit für das Unerlaubte beanspruchen. Im Gegenteil. Den Distinktionen endlich ihren Stachel ziehen, darum geht es. Die gesellschaftliche Repräsentation endlich ohne ein verpflichtendes Milieu zu denken, ohne den Zwang, es insbesondere den eigenen Leuten immer „recht zu tun“. Denn solange Manieren oder der gezielte Verstoß gegen sie an soziales Prestige gekoppelt sind, bleiben sie manisch. | JAN ENGELMANN | Alle benehmen sich scheiße – nur Charlotte Roche nicht. Warum muss der Diskurs über Anstandsregeln immer gleich in der Disziplinierungsfalle enden? Und folgt auf die zwangsenthemmten TV-Freakshows unweigerlich ein Neo-Biedermeier? | [
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Ökostrompionier Lichtblick baut um: Neue Köpfe und Prioritäten - taz.de | Ökostrompionier Lichtblick baut um: Neue Köpfe und Prioritäten
Die letzten Manager aus der Aufbauphase verlassen den größten deutschen Ökostrom-Anbieter. Und der neue Eigentümer ist nicht wirklich öko.
War über 20 Jahre bei Lichtblick aktiv: Gero Lücking (Archivbild) Foto: Lichtblick
Der deutsche Ökostrom-Marktführer Lichtblick vollzieht gerade den größten Wandel in seiner gut 21-jährigen Unternehmensgeschichte. Auch an Personalien wird das erkennbar: Mit Wilfried Gillrath und Gero Lücking verlassen im Laufe des Jahres die letzten jener Manager das Unternehmen, die schon in der Aufbauphase dabei waren.
Die Eigentümerstruktur von Lichtblick hatte sich schon in den letzten Jahren erheblich verändert. Erst übernahm die niederländische Eneco das Hamburger Unternehmen, dann verkauften die kommunalen Eigner der Eneco diese an ein Konsortium um den japanischen Mitsubishi-Konzern. Interesse an Eneco hatte zuvor auch Shell signalisiert.
Lichtblick selbst ist derzeit stark am Wachsen. Mit der Übernahme des Heizstromgeschäfts von Eon erhielt Lichtblick 260.000 neue Kunden. Damit beliefern die Hamburger jetzt nach eigenen Angaben mit rund einer Million Verträgen bundesweit über 1,7 Millionen Menschen mit Energie. Die Firma nennt sich bereits „die Nummer fünf im deutschen Strommarkt“.
Weiteres Wachstum soll nun „die konsequente Digitalisierung aller Produkte und Dienstleistungen“ bringen, wie der Vorsitzende des Verwaltungsrats, Marc Stilke, betont. Als wahrscheinlich gilt, dass Eneco aus seiner in den Niederlanden bereits etablierten Smart-Heating-Lösung „Toon“ auch für den deutschen Markt ein Angebot entwickeln wird. Mithilfe von Toon könnten „Kunden Verbrauch und Erzeugung ihrer Energie komfortabel einsehen und steuern“, heißt es bei Lichtblick.
Von der Robin-Wood-Liste gestrichen
Kritik gab es in letzter Zeit aus der Umweltbewegung an der ökologischen Ausrichtung des Unternehmens. Im Januar strich Robin Wood den Versorger von der Liste der empfehlenswerten Ökostromanbieter, unter anderem weil die Mutter Eneco auch Strom aus Kohle und Atomkraft handelt und ein Gaskraftwerk betreibt. Ein Lichtblick-Sprecher betonte nun, dass die Produkte für Privatkunden und kleine Geschäftskunden sich auch bei Eneco ausschließlich aus Wind- und einem kleinen Anteil Solarstrom zusammensetzten. Lediglich für große Geschäftskunden in den Niederlanden müsse der Strom aktuell noch teilweise über den allgemeinen niederländischen Strommix gedeckt werden.
Während Lichtblick erklärt, auch weiterhin „zu 100 Prozent bei Ökostrom zu bleiben“, kann man die Wechsel im Führungspersonal durchaus auch als Verschiebung von Prioritäten sehen. Lücking, der einst am Öko-Institut und dann als Kampagnenleiter bei Greenpeace tätig war, stand immer für die ökologische Ausrichtung von Lichtblick. Nun rücken Enno Wolf und Hans Bongartz in die Geschäftsführung. Wolf war zuletzt Geschäftsführer der deutschen Tochter des dänischen Energieversorgers Ørsted, Bongartz kommt direkt von Eneco. | Bernward Janzing | Die letzten Manager aus der Aufbauphase verlassen den größten deutschen Ökostrom-Anbieter. Und der neue Eigentümer ist nicht wirklich öko. | [
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Stefan Jerzey Zweig scheitert mit Klage: "Opfertausch" ist zulässig - taz.de | Stefan Jerzey Zweig scheitert mit Klage: "Opfertausch" ist zulässig
Das Berliner Landgericht hat eine Unterlassungsklage eines KZ-Überlebenden abgewiesen und klargestellt: "Gerettet durch Opfertausch" ist eine zulässige Formulierung.
Eine zweite Klage von Stefan Jerzey Zweig trennte das Landgericht ab. Bild: dpa
BERLIN taz | Das Landgericht Berlin hat am Dienstag eine Unterlassungsklage des früheren Insassen des Konzentrationslagers Buchenwald, Stefan Jerzey Zweig, teilweise abgewiesen. Zweig wurde durch den Roman "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz als "Kind von Buchenwald" bekannt.
Er verdankt sein Leben der Tatsache, dass sein Name 1944 von einer Deportationsliste nach Auschwitz gestrichen und durch den eines 16-jährigen Sinti-Roma-Jungen ersetzt wurde. Die Klage richtete sich gegen den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, der im Zusammenhang mit Zweigs Schicksal mehrmals von "Opfertausch" gesprochen hatte.
Das Gericht betrachtete die Formulierung als "zulässige Wertung", wie ein Sprecher des Landgerichts Berlin bestätigte. Ein Antrag auf Entschädigungszahlung wurde ebenfalls abgewiesen. Zweig klagte zudem dagegen, dass Bilder und Dokumente, die seine Person betreffen, in Buchenwald ausgestellt werden. Diese Klage hat das Landgericht Berlin vom Verfahren abgetrennt und an das für Buchenwald zuständige Gericht verwiesen.
Zweig wurde 1944 mit seinem Vater nach Buchenwald deportiert. Sein Vater und politische Gefangene versteckten den damals Dreijährigen. Sie sorgten dafür, dass Zweigs Name von der Transportliste nach Auschwitz gestrichen wurde. Insgesamt 200 Kinder und Jugendliche standen auf dieser Todesliste. Gedenkstättenleiter Knigge soll in mehreren Interviews von "Opfertausch", "Gerettet durch Opfertausch" und "Er hat überlebt, weil andere ins Gas geschickt wurden", gesprochen haben.
Knigges Verteidiger sagte, der Begriff "Opfertausch" sei wissenschaftlich fundiert und keine Schuldzuweisung. Die Verteidigung Zweigs dagegen bezeichnete die Verwendung des Begriffs als "plakativ" und "anschuldigend". Das Gericht hatte vor Verhandlungsbeginn, aufgrund des "sensiblen Themas", eine außergerichtliche Einigung vorgeschlagen, die die Prozessbeteiligten ablehnten. | Mirjam Schmitt | Das Berliner Landgericht hat eine Unterlassungsklage eines KZ-Überlebenden abgewiesen und klargestellt: "Gerettet durch Opfertausch" ist eine zulässige Formulierung. | [
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Fall Arkadi Babtschenko: Mutmaßlicher Auftraggeber verhaftet - taz.de | Fall Arkadi Babtschenko: Mutmaßlicher Auftraggeber verhaftet
Der ukrainische Inlandsgeheimdienst nimmt Boris German fest. Was dann folgt ist – wie alles im Fall Babtschenko – höchst verwirrend.
Arkadi Babtschenkos Fall bleibt rätselhaft Foto: reuters
KIEW taz | Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU hofft, endlich den Beweis für die Mordpläne an Arkadi Babtschenko und weiteren in der Ukraine lebenden russischen Oppositionellen zu haben. Bereits am Donnerstag verhaftete der SBU den mutmaßlichen Auftraggeber Boris German. Der Generaldirektor der ukrainisch-deutschen Waffenfirma Schmeisser soll nach Angaben des SBU von Moskau 40.000 Dollar erhalten haben, um Waffen zu kaufen, mit denen er 30 in der Ukraine lebende Gegner der russischen Regierung töten sollte. Als erster sollte Arkadi Babtschenko ermordet werden, so der SBU.
Noch am Donnerstag ordnete ein Kiewer Gericht eine 60-tägige Haftstrafe für den angeblich vom russischen Geheimdienst angeheuerten mutmaßlichen Täter an. Um seine Mordpläne an Babtschenko umzusetzen, so der SBU, habe German Alexej Zyambaljuk, einen Aktivisten des „Rechten Sektors“ als Auftragskiller angeheuert und ihm eine Anzahlung von 20.000 Dollar gegeben.
Zymbaljuk, der an der Front in der Ostukraine gekämpft hatte, bestreitet nicht, dass er German gesagt habe, er sei bereit, Babtschenko zu töten. Doch er sei nur zum Schein auf das Angebot eingegangen. Was German nicht wissen konnte: Zymbaljuk hatte sofort den SBU von dem Mordauftrag unterrichtet, alle Schritte mit dem ukrainischen Geheimdienst abgesprochen.
Auch German stritt nicht ab, mit Zymbaljuk über den geplanten Mord an Babtschenko gesprochen zu haben. Doch auch er arbeite für eine staatliche Behörde, nämlich die Gegenabwehr, teilte German dem erstaunten Gericht mit. Er selbst sei von der Gegenabwehr gebeten worden, mitzuhelfen, ein feindliches Spionagenetzwerk zu enttarnen. Und nur deswegen, so German, habe er den Mordauftrag aus Moskau angenommen. Doch weder Staatsanwaltschaft noch Gericht wollten der Aussage Germans glauben.
Die oppositionelle, in Moskau erscheinende Nowaja Gazeta, für die Arkadi Babtschenko lange gearbeitet hatte, setzt sich in mehreren Artikeln mit dem Fall ihres „Freundes“ auseinander und geht hart mit ihm ins Gericht
Die oppositionelle, in Moskau erscheinende Nowaja Gazeta, für die Arkadi Babtschenko lange gearbeitet hatte, setzt sich in mehreren Artikeln mit dem Fall ihres „Freundes“ auseinander. Sofort nach dessen „Auferstehung“ führte sie ein längeres Gespräch mit ihrem früheren Kollegen. Und geht anschließend mit diesem hart ins Gericht. „Der 30. Mai ist der Tag, an dem der Journalist Arkadi gestorben ist. Er hat seinen Berufsethos verletzt, hat sich auf eine präzedenzlose Zusammenarbeit mit Geheimdiensten eingelassen.“ schreibt Pawel Kanygin in der Nowaja Gazeta. So sei der 30. Mai nicht nur ein weiterer neuer Geburtstag von Arkadi Babtschenko. „Dieser Tag ist auch das Ende von Journalismus in seiner traditionellen Art“, so Kanygin weiter.
„Unser Freund“ Arkadi Babtschenko und die ukrainischen Geheimdienste mögen vielleicht gedacht haben, sie können Moskau überlisten. Tatsächlich aber hätten sie Moskau einen riesigen Dienst erwiesen, so die Nowaja Gazeta. | Bernhard Clasen | Der ukrainische Inlandsgeheimdienst nimmt Boris German fest. Was dann folgt ist – wie alles im Fall Babtschenko – höchst verwirrend. | [
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Corona, Bild-Zeitung und Belarus: Typisch deutsche Ohnemichelei - taz.de | Corona, Bild-Zeitung und Belarus: Typisch deutsche Ohnemichelei
In Deutschland gibt es vielleicht bald eine Regierung und die Bild-Zeitung ist überrascht über steigende Infektionszahlen. Die Woche im Rückblick.
Leider geht Menschenrechts-Warrior Heiko Maas dem Schleuser Lukaschenko in die Falle Foto: Michael Kappeler/dpa
taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?
Friedrich Küppersbusch: Dieses „Ich möchte ja nicht grinsen, aber“-Gefühl gegenüber dem FC Bayern.
Und was wird besser in dieser?
Es werde Koalition.
Der Bundesrat hat das neue Infektionsschutzgesetz der Ampel-Parteien gebilligt. Aber es zeigte sich, dass die Union im Bundesrat eine ernstzunehmende Opposition sein könnte. Wird Politik jetzt wieder spannend?
Die Tortengrafik des Bundesrats sieht derzeit aus wie ein schlechter Tag im Schaffen des Piet Mondrian. Sieben untereinander nicht zwingend harmonische Farben. Allein Schwarz-Grün schillert fünfmal, sozusagen Querfront zur künftigen Regierung. Da kommt viel Diplomatie auf beide zu, oder sagen wir mal: Wie schlimm diese ewigen Grokos waren, wird man dann beurteilen können. Für diesmal genügte es offenbar, die Unions-MPs gegen den Bald-nicht-mehr-Unions-Gesundheitsminister auszuspielen. Der Werkzeugkoffer, über den Spahn per „epidemischer Notlage“ gebot, geht jetzt auch ohne erklärte Notlage an die Länder. Das ist das Gegenteil von dem, was vor allem FDP, doch auch die Grünen stets forderten: Mehr Parlament wagen. Wäre heiter, die eher autoritär tickende Union adoptierte jetzt diese verwaiste Position. Ich rechne eher mit schmutzigen Geschäften auf Länderebene, oder offen gesagt: Politik.
Der geschäftsführende Außenminister Heiko Maas (SPD) lehnte es diese Woche ab, Flüchtlinge von der Grenze zwischen Belarus und Polen aufzunehmen. Mehrere Menschen sind bisher gestorben. Gelten die humanistischen europäischen Werte noch?
Schleuser Lukaschenko instrumentalisiert die Menschen, und leider geht Menschenrechts-Warrior Maas ihm in die Falle: „Wir müssen ihm zeigen, dass es so nicht geht“ – formerly known as Instrumentalisierung. Man nutzt den Konflikt, um etwas zu zeigen – was, völlig überraschend, den Konflikt aber auch nicht löst. Maas könnte mit den Ländern reden, durch die Belarus Flüchtlinge anlockt. Er könnte der EU abringen, syrische und irakische Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie nicht via Belarus kommen. Und da er das wohl alles auch tut und munter scheitert, bliebe noch die Option, eine „Koalition der Willigen“ – Länder oder auch Regionen – zu schmieden. Das setzt das Geständnis voraus: Nicht alle teilen die Werte, aber – viele.
Die Bild wütete immer wieder gegen die Anti-Corona-Maßnahmen. Überraschenderweise hieß es in der vergangenen Woche, als die Inzidenz erneut stieg und die Krankenhäuser Alarm schlugen, plötzlich: „Warum sind wir schon wieder nicht vorbereitet?“ Wissen Sie es?
Stefan Niggemeier hat bei Übermedien rund zwei Dutzend – also einige, oder wie Bild schreiben würde, „alle“ – Antworten. Und sie heißen alle: Bild. Nachdem Springer-Chef Döpfner sich versehentlich und unfreiwillig als paranoid geoutet hat („neuer DDR-Obrigkeitsstaat“), muss man seine Cheflein nicht mehr einzeln diskutieren. Bleibt Ambivalenz: Ist Bild gefährlich – oder so am Arsch, dass sie sich an Querdenker ranschmeißen muss? Ein „Systemmedium“, das willfährig lügt, was finstere Hintermänner befehlen – hm. Gibt es wirklich. Verwirrend.
Die AfD in Brandenburg musste ihren Parteitag absagen, weil offenbar viele ihrer Mitglieder nicht geimpft sind und den 2G-Regeln des vorgesehenen Hotels nicht entsprochen werden konnte. Wenn jetzt 2G bundesweit kommt, wird die AfD dann handlungsunfähig?
Gauland geimpft, Weidel genesen – für eine Übergangszeit könnten die beiden allein die „Corona gibt’s nicht“-Linie fortführen.
Die Anthroposophie, eine esoterische Weltanschauung, wird aktuell viel diskutiert. Im Spiegel hieß es, sie sei mit für die niedrige Impfquote verantwortlich. Wie finden Sie diese Erklärung?
Man muss nicht voll auf Bachblüte sein, um der typisch deutschen Ohnemichelei zu verfallen. Die Impfquote ist in den Dachländern, also auch Österreich und der Schweiz, am niedrigsten. Liegt es an der Sprache oder am Skifahren? Und vor allem: Was hilft es? Inzwischen ist gängige Sportart, dass jeder jeden beschuldigt. Da kommen Steiners Antisemitismus und die hirnige Globulisierungsfalle gerade recht. Müssen wir dringend mal diskutieren, sobald mehr Leute geimpft sind.
Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat seine parlamentarische Immunität verloren. Aber was können die weiteren Ermittlungen gegen ihn noch aufdecken? Der jüngste elder statesman aller Zeiten will zurückkommen und spielt deshalb Transparenz. Also geht es nicht nur darum, was die Ermittlungen aufdecken können, sondern: was sie aufdecken müssen, um ihn zu verhindern.
Was machen die Borussen?
Nach acht Spieltagen 24 Punkte – also schlicht: alle. Torverhältnis 62 zu null. Also 7,75 Treffer pro Spiel ohne Gegentor. Kreisliga A, Gruppe 2 Frauen.
Fragen: David Muschenich | Friedrich Küppersbusch | In Deutschland gibt es vielleicht bald eine Regierung und die Bild-Zeitung ist überrascht über steigende Infektionszahlen. Die Woche im Rückblick. | [
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Datensammeln beim Versicherer: Orwell joggt mit - taz.de | Datensammeln beim Versicherer: Orwell joggt mit
Bei Generali können Versicherte jetzt mit Joggen und gesunden Lebensmitteln Rabatte einfahren. Das ist nicht nur Gift für den Datenschutz.
Im Grünen Trainieren oder auf dem Laufband joggen – Hauptsache die Daten stimmen Foto: dpa
Ihr müsst ja nicht mitmachen. Wer nicht am Datenstriptease teilnehmen will, hat nichts zu befürchten. So wiederholt es der Privatversicherer Generali wieder und wieder. Und klingt wie der Wolf, den das Rotkäppchen nach seinen großen Ohren, Händen und Zähnen befragt. Zuerst erklärt der im Großmutterkostüm versteckte Wolf, alles habe seine Ordnung: Er wolle die Enkelin nur besser hören und sehen – und schon, happs, hat er das gutgläubige Rotkäppchen verschlungen.
Jedem steht frei, den „Vitality-Tarif“ von Generali zu buchen – und damit dem Versicherungskonzern freiwillig hochsensible persönliche Daten preiszugeben. Genauso frei steht es jedem, in der „Smart-Insurance-Offensive“ eine richtig böse Wolfsfinte zu sehen. Denn die Daten sind dann, happs, wirklich weg. Dass ein Konzern Hochprivates wie Gewicht, Blutdruck, Fitness- und sogar Kaufverhalten digital verquicken kann, ist schon Orwell pur. Da muss noch niemand Schindluder mit den Daten getrieben haben. Wird schon nichts schiefgehen – oder?
Das neue Modell wirft weitere grundsätzliche Fragen auf. Wird es zum Trend, gerät das Solidaritätsprinzip von Versicherungen in Gefahr. Was droht wohl Alten und chronisch Kranken? Jetzt schon haben Versicherte, die einmal durch Krankheiten aufgefallen sind, es schwer, beispielsweise ihre Berufsunfähigkeit zu versichern.
Wer immer noch denkt, er habe ja nichts zu verbergen, sollte vor allem eines: Noch mal nachrechnen. Bringt der Gutschein fürs Fitnessstudio was? Oder ist nicht der Tarif wegen des App- und Tracking-Tamtams derart überteuert, dass es dieselbe Leistung woanders viel günstiger gäbe?
Ein Vergleich der neuen Telematik-Tarife von Kfz-Versicherungen, die das Fahrverhalten von Kunden abscannen, zeigt: Während die Versicherer Schnäppchen versprechen, können wirkliche Preisfüchse allein durch einen normalen Versichererwechsel richtig Kasse machen. Immerhin: Auch bei Rotkäppchen wird ja am Schluss alles gut. | Kai Schöneberg | Bei Generali können Versicherte jetzt mit Joggen und gesunden Lebensmitteln Rabatte einfahren. Das ist nicht nur Gift für den Datenschutz. | [
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Kinder im Ukrainekrieg: „Mama, wann ist der Krieg zu Ende?“ - taz.de | Kinder im Ukrainekrieg: „Mama, wann ist der Krieg zu Ende?“
Wie kann man den eigenen Kindern erklären, warum die russischen Invasoren noch da sind? Erfahrungen aus Odessa.
Kinder in der Ukraine bemalen mitten im Krieg Lunchboxen für Soldaten, Odessa 28. Mai 2022 Foto: NurPhoto/imago
Vor dem Einschlafen kommen diese Fragen, die zu beantworten mir besonders schwer fallen: „Mama, wann können wir mal wieder unsere Freunde besuchen?“ „Mama, wann ist der Krieg zu Ende?“ „Mama, wann kann ich mich zum Schlafengehen endlich wieder ausziehen?“ Seit Kriegsbeginn schlafen wir in unserer Kleidung. Weil es auch während der Nacht Luftalarm gibt und man schnell in den Schutzraum muss.
Война и мир – дневникЧтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Tagsüber verhalten sich meine Söhne wie früher. Sie spielen, füttern Tiere, haben immer ein Stückchen Wurst für die Hunde und Katzen der Nachbarschaft in der Tasche. Aber bei Sonnenuntergang kann ich sehen, wie ihre Augen sich mit Angst und Hoffnungslosigkeit füllen, wie sie versuchen, sich erwachsen zu benehmen, aber gleichzeitig mit den Tränen kämpfen. „Mama, warum gehen die nicht weg?“, „Mama, ich will, dass das Böse stirbt.“ Meine Kinder – aufgewachsen mit Märchen über das Gute und das Böse – wissen, dass Krieg das Böse in Reinform ist, dass die, die diesen Krieg begonnen haben, böse Menschen sind.
Bis Kriegsbeginn haben wir wegen Covid-19 zwei Jahre mehr oder weniger isoliert gelebt. Vorm Schlafengehen habe ich mir für sie Geschichten darüber ausgedacht, wie Wale im Weltraum herumreisen, wie Wal-Astronauten Hindernisse überwinden müssen, wie sie Freunde finden. Jetzt kann ich mir nicht mal mehr Geschichten ausdenken. Es ist, als wäre ich selber vermint, ich muss gut aufpassen, nicht zu detonieren, weil meine Druckwellen auch sie treffen würden.
Ich weiß genau, dass Kinder Erwachsene beobachten und von ihnen lernen. Darum bemühe ich mich sehr zu lächeln, mir Ablenkungen auszudenken, ihnen beim Lernen zu helfen. Aber sobald ich aufhöre, um selber mal ein bisschen durchzuatmen, höre ich: „Mama, die bringen dich doch nicht bei deiner Arbeit um, oder? Und Oma?“ Ich bin Journalistin. Meine Mama – ihre Großmutter – ist bei der Polizei. „Nein, meine Lieblinge, die bringen uns nicht um …“
„Mama, warum sprechen wir eigentlich Russisch?“
An den Schulen in Odessa haben die Ferien begonnen. Die Jungs haben über Videocalls mit ihren Lehrern und Mitschülern geredet, sie haben sich versprochen, sich im September wiederzusehen. Es ist schwierig, über solch einen langen Zeitraum hinweg zu planen. Unsere Pläne reichen eigentlich nicht weiter als ein paar Minuten.
Und diese Minuten versuchen wir in guter Stimmung zu verbringen, trotz allem. Wir sind aus der Stadt an einen sichereren Ort gezogen, unsere Wohnung lag in der Nähe des Flughafens. Am Stadtrand gehen wir angeln. Aber selbst dort drehen sich alle Gespräche um den Krieg: „Mama, warum sprechen wir eigentlich Russisch? Ich will nicht, dass die denken, ich sei Russe. Ich bin doch Ukrainer!“, „Mama, warum ist das Böse immer noch nicht tot? Wir sind doch die Guten …“
Was ich wirklich überhaupt nicht will, ist, mit den Kindern über den Tod zu sprechen, aber ich wünsche mir auch, dass das Böse stirbt. Wie man mit all dem umgeht, weiß ich nicht. Kein Lehrbuch, kein Psychologe hat darauf eine Antwort. Seit drei Kriegsmonaten beantworte ich alle Fragen meiner Kinder intuitiv, nehme sie fest in den Arm – und verspreche, dass ich zum Kriegsende ein Buch mit den Märchen herausgebe, die ich mit ihnen in dieser schweren Zeit geschrieben habe.
In diesem Buch wird das Böse bestraft und die, die zum Fortgehen gezwungen wurden, können nach Hause zurück.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September als Dokumentation heraus. | Tatjana Milimko | Wie kann man den eigenen Kindern erklären, warum die russischen Invasoren noch da sind? Erfahrungen aus Odessa. | [
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Jadgesetznovelle in Niedersachsen: Jäger:innen dürfen aufrüsten - taz.de | Jadgesetznovelle in Niedersachsen: Jäger:innen dürfen aufrüsten
Niedersachsen möchte im Jagdgesetz künftig den Einsatz von besserer Technik bei Nacht erlauben. Tierschützer:innen wollen die Novelle verhindern.
So könnte es niedersächsischen Füchsen künftig öfter ergehen Foto: Friso Gentsch/dpa
OSNABRÜCK taz | Es gibt Gesetze, die kennt kaum jemand. Eines davon ist das Niedersächsische Jagdgesetz. Aber nun steht dazu eine Novelle an, und mit seinem Nischendasein ist es vorbei.
Es geht um Paragraph 24, Absatz 4. Der soll neu eingefügt werden und beinhaltet eine Erlaubnis von sogenannter Nachtzieltechnik – obwohl der Paragraph 19 des Bundesjagdgesetzes sie verbietet. Auch für die Jagd auf „Raubwild“ soll diese Erlaubnis gelten. Dieses hätte man, neutraler formuliert, auch „Beutegreifer“ nennen können. Stattdessen hat man zu Rhetorik der Jägersprache gegriffen. Räuber? Gefahr!
In einem Offenen Brief, der unter anderem an Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast (CDU) gerichtet ist, fordern der Wildtierschutzverband und die Bürgerinitiative Pro Fuchs Deutschland die Aussetzung der Novelle. Und weil zum „Raubwild“ auch der Fuchs zählt, fordern sie zugleich, dessen Bejagung komplett zu verbieten. Sie sei „unethisch, barbarisch und ökologisch falsch“. Auch eine Landtags-Petition ist dazu in Vorbereitung.
„Das wäre eine grausame Verschlechterung“, sagt Manuela Schleußner, Vorsitzende von Pro Fuchs Deutschland, der taz. „Die Jäger versuchen, ihr blutiges Hobby zu verteidigen, indem sie gegen Wildtiere hetzen.“
„Lizenz zum Töten“
Der Fuchs sei kein Problem, so Schleußner. Es sei längst widerlegt, dass er unbejagt Überhand nehme oder dass er die Ursache des Rückgangs von Bodenbrütern wie Rebhuhn und Feldlerche sei. Denn dieser entstehe aus einem Mangel an Lebensraum und Nahrung, verursacht durch die Agrarwirtschaft. „Leider fragt man dazu aber immer nur die Jäger“, sagt Schleußner. „Und die sind keine Experten für Wildtiere.“ Ein Jäger brauche für seine „Lizenz zum Töten“ nur eine Schulung von 120 bis 150 Stunden. Ein Wildbiologe brauche bis zur Promotion 10 bis 12 Jahre.
„Die Jagdlobby ist stark, auch im niedersächsischen Landtag“, bestätigt Peter Höffken, Fachleiter bei der Tierrechtsorganisation Peta Deutschland, die selbst eine Kampagne „Fuchsjagd stoppen!“ führt. „Da geben tierfeindliche Kräfte den Ton an“, sagt er der taz. Der Fuchs werde von den Jägern „als Konkurrent betrachtet“.
Johann Beuke von Pro Fuchs Deutschland – er ist selbst Jäger – sieht das genauso: „Jäger sind keine Naturschützer, sondern reine Naturnutzer. Und der Staat lässt sie einfach gewähren.“ Beuke ist ein Gegner der Nachtsichttechnik: „Damit sind Hobbyjäger militärtechnisch besser gerüstet als die Bundeswehr.“
In der Jagdsaison 2020/2021 wurden in Niedersachsen 60.900 Füchse getötet, im Jahr davor waren es 65.600. Durch die Nachtsichttechnik könnten es noch mehr werden.
„Das Ministerium ist da nicht sehr innovativ“, sagt Miriam Staudte, Vize-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Niedersächsischen Landtag und Sprecherin für Landwirtschaft. „Mit der Nachtsicht-Erlaubnis tut es den Jägern keinen Gefallen. Die Gesellschaft sieht die Jagd ja ohnehin schon kritisch.“
„Wir brauchen eine Reform der Agrarlandschaft“
Die Nachtsichttechnik verbessere die „tierschutzgerechte Tötung“, sagt Natascha Manski, Sprecherin des Landwirtschaftsministeriums, der taz. Staudte sieht das anders: „Wer die verbessern will, sollte keine Technik zulassen, die dazu verführt, Tiere zu erlegen, die man nur schemenhaft erkennt, sondern eine bessere Schießausbildung sicherstellen.“ Jagd per Nachtsicht führe zudem dazu, „dass Tiere rund um die Uhr von Jägern beunruhigt werden“. Das sei falsch.
Zur Fuchsjagd im Allgemeinen sagt das Ministerium: „Im Hinblick auf die in die Hunderttausende gehenden Finanzmittel, die jährlich in die Artenschutzprojekte eingebracht werden“ sei es verfehlt, die „ernstzunehmenden Fragen“ zu ignorieren, die „die Boden- und Wiesenbrüterschutzprojekte in Deutschland gegenwärtig mit dem Fuchs und anderen Beutegreifern haben.
„Der Einfluss des Raubwildes insbesondere auf bodenbrütende Arten“ könne sehr hoch sein. Als sogenannter generalistischer Prädator, also als Beutegreifer ohne spezialisierte Nahrung, könne es sich der Fuchs leisten, „einen Teil seiner Beute auch so stark zu nutzen, dass sie aus dem Nahrungsspektrum verschwindet“.
Manski räumt allerdings ein: „Unbestritten liegen die Hauptursachen für den Rückgang der Boden- und Wiesenbrüter in unser Kulturlandschaft in der Land- und Freizeitnutzung sowie in der Klimaveränderung.“ Das sieht Miriam Staudte ähnlich. Ihr Fazit: „Wir brauchen eine Reform der Agrarlandschaft.“ | Harff-Peter Schönherr | Niedersachsen möchte im Jagdgesetz künftig den Einsatz von besserer Technik bei Nacht erlauben. Tierschützer:innen wollen die Novelle verhindern. | [
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Jenseits der Konfrontationslogik - taz.de | Jenseits der Konfrontationslogik
Die Linke muss sich im Nahostkonflikt uneingeschränkt zum Existenzrecht Israels bekennen. Es kann keine Solidarität mit reaktionär-islamischen Bewegungen geben
„Antideutsche“ Linke stilisieren Israel und die USA zur strammen Bastion „linker“ und westlicher Werte
Wenn es um den Nahen und Mittleren Osten geht, scheiden sich in der deutschen Linken die Geister. Auf der einen Seite wird Israel gerne mal zum „imperialistischen Bollwerk der USA“ reduziert. Auf der anderen Seite ist schnell der Vorwurf des Antisemitismus zur Hand. Auch die Linkspartei, im Entstehen befindlich, bleibt angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten davon nicht unberührt.
Die historische Verantwortung angesichts der Schoah ist und bleibt ein Grund, innerhalb globaler linker Diskurse für das bedingungslose Existenzrecht Israels einzutreten. Eliminatorischer Antisemitismus war ein zentraler ideologischer Bestandteil des Nationalsozialismus, der von der Mehrheit der Deutschen getragen wurde. Der Umstand, dass jüdische Identität oder eine wie auch immer zugeschriebene jüdische Abstammung heute noch immer eine Gefährdung für Menschen darstellt, ist ein wichtiger Grund, der die Existenz Israels nicht nur rechtfertigt, sondern auch erforderlich macht: Auschwitz machte Israel zur Notwendigkeit.
Dabei handelt es sich nicht, wie von manchen Kritikern dieser Position vorgebracht, um einen deutschen Spleen. Dazu befinden sich antisemitische Ideologien, die auf eine Elimination Israels zielen, leider zu sehr im Aufwind. Auch in den arabischen Ländern werden antizionistische und antisemitische Ressentiments gern zur Verdeckung bestehender sozialer Antagonismen missbraucht. Dies ist ein weiterer Grund, warum gerade Linke Antisemitismus in arabischen Ländern nicht hinnehmen oder gar entschuldigen dürfen.
Mit dem Angriff auf den Libanon hat die israelische Regierung das Völkerrecht gebrochen, und mit den militärischen Reaktionen auf die Provokationen der Hisbollah hat sie leichtfertig zivile Opfer in Kauf genommen. Daran gibt es, bei aller Solidarität und allem Wissen um Israels besondere Situation, nichts zu relativieren und nichts zu entschuldigen. Auch wäre es vermessen, zu behaupten, Israel, seine Regierungen, sein Militär und seine Bürger trügen keine Verantwortung für die zahlreichen zivilen Opfer von Kriegen und Vertreibungen der Vergangenheit. Bis heute ist Israel Besatzungsmacht auf einem Territorium, das nicht zu seinem Staatsgebiet gehört. Und in den Jahrzehnten seiner Existenz hat es zahlreiche Kriege geführt, die allerdings meist unter dem Zeichen der Verteidigung standen und keinen „imperialistischen“ Zielen folgten. Dass dabei Menschenrechtsverletzungen stattfanden und stattfinden, steht außer Zweifel und gehört kritisiert.
Das ist aber kein Grund, sich auf die Seite derer zu stellen, die Israel und seine Bevölkerung vernichten wollen. Er rechtfertigt nicht, dass Existenzrecht Israels mit dem Verweis auf das Existenzrecht eines palästinensischen Staates zu relativieren. Und es gibt auch keinen erkennbaren Grund, mit jenen zu sympathisieren, die ihren Widerstand auf menschenverachtende Weise gegen Zivilisten richten. Die ohnehin oft fragwürdige Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen im Namen des Antiimperialismus lässt sich nicht ohne weiteres auf den radikalen, politischen Islamismus beziehen. Eine emanzipatorische Komponente ist bei diesen Bewegungen nicht erkennbar, weder für Einzelne noch für Kollektive.
Sind trotzdem, etwa mit Verweis auf die besondere Situation, Sympathien mit diesen Gruppen oder Verständnis für sie angemessen? Vermutlich möchte kein Linker in einer Gesellschaft leben, die nach dem Beispiel von Afghanistan zur Zeit der Taliban-Herrschaft organisiert ist. Warum also sollte dies den Menschen zugemutet werden, die im Aktionsradius dieser Bewegungen leben? Solidarität mit Reaktionären – und sei sie nur temporär – bringt den weltweiten Freiheitskampf nicht voran.
Die Position der so genannten „antideutschen“ Linken folgt ähnlichen Mustern, nur spiegelverkehrt. Zumindest einigen Vertretern dieser Richtung erscheinen Israel und die USA als ultimative Verteidiger westlicher, demokratischer oder gar „linker“ Werte. Diese so genannten „Antideutschen“ diskreditieren sich durch ihre Einseitigkeit und ihren leichtfertigen Umgang mit dem Vorwurf des Antisemitismus. Von einer antimilitaristischen und emanzipatorischen Orientierung kann bei ihnen keine Rede sein.
Es bedarf einer linken Kritik, die frei ist von Mystifizierungen und Verschwörungstheorien. Linke Kritik globaler Machtpolitik kann heute nicht bruchlos an die Imperialismuskritik aus Zeiten des Kalten Krieges anknüpfen. Diese Welt ist trotz der US-amerikanischen Dominanzansprüche viel zu komplex, um sie in ein einfaches Schema zu pressen. Die nach hegemonialer Teilhabe strebenden Kräfte – staatliche wie nichtstaatliche – sind vielfältig. Gerade die aktuellen Ereignisse im Irak und in Afghanistan zeigen zudem die Grenzen der US-amerikanischen Hegemonie auf.
Auf den Charakter von Protestbewegungen unterdrückter Bevölkerungen lassen sich die radikalislamischen Bewegungen ohnehin nicht reduzieren – auch wenn sich in ihrem Rahmen Protest kanalisiert. Linke Solidarität mit der libanesischen oder palästinensischen Bevölkerung kann deshalb nicht bedeuten, die dort verbreiteten Sympathien zu radikalen, gewaltverherrlichenden Bewegungen zu akzeptieren.
Schon im Sinne der Bekämpfung rechtsradikaler Unterwanderungsversuche von sozialen Bewegungen hierzulande müssen sich bestimmte Grundsätze durchsetzen. Schließlich dürfte niemandem die verlogene Palästina-Solidarität, der plumpe Antiamerikanismus und die geheuchelte Friedensrhetorik der radikalen Rechten entgangen sein. Zu einem solchen Essential gehört die bedingungslose Anerkennung des Existenzrechts Israels. Selbst wenn man keine strikt pazifistische Grundhaltung einnimmt: Es gibt triftige Gründe dafür, dass Linke in der Frage, welche Mittel bei der Durchsetzung von linken Zielen angewendet werden sollten und welche nicht, klar Partei für die Gewaltfreiheit ergreifen. Mit nationalen, vorgeblich antiimperialistischen Befreiungsbewegungen, die sich Methoden des Terrors bedienen, kann es kein Bündnis und keine Solidarität geben.
Niemandem dürfte die verlogene Palästina-Solidarität der radikalen Rechten entgangen sein
Bündnispartner muss sich die Linke unter den demokratisch orientierten Kräften in der Region suchen. Kräfte, die mit der herrschenden Logik und mit der herrschenden Macht brechen wollen, sind darauf angewiesen, dass es Räume gibt zur Verständigung. Im Schatten von drohenden Gewaltanschlägen können sich solche Räume nicht entwickeln – und zwar unabhängig davon, ob die Gewaltanschläge auf Gesundheit und Leben von Menschen, von Staaten oder von Einzelgruppen abzielen.
Für Linke gilt es deshalb, praktische Solidarität mit jenen sozialen Bewegungen zu üben, die sich der herrschenden Konfrontationslogik entziehen. Israels Existenzrecht steht dabei außer Frage und darf nicht zur Projektionsfläche für real empfundene, aber nicht hinterfragte Widersprüche innerhalb des globalen Kapitalismus werden.
KATJA KIPPING | KATJA KIPPING | Die Linke muss sich im Nahostkonflikt uneingeschränkt zum Existenzrecht Israels bekennen. Es kann keine Solidarität mit reaktionär-islamischen Bewegungen geben | [
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Grundsicherung in Italien gestrichen: Kein Geld mehr für „Beschäftigbare“ - taz.de | Grundsicherung in Italien gestrichen: Kein Geld mehr für „Beschäftigbare“
Italiens Regierung streicht Arbeitslosen die Unterstützung. Betroffene werden per SMS informiert – und die Kommunen sind nicht vorbereitet.
Wer wenig hat, bekommt jetzt nichts mehr vom Staat: von Armut betroffenes Wohnviertel in Neapel Foto: Marco Brivio/Zoonar/picture alliance
ROM taz | „Grundsicherung suspendiert, wie von Artikel 13 des Gesetzesdekrets 48/23 vorgesehen. Eventuelle Übernahme durch die Sozialdienste“. Bürokratisch in der Form, brutal in der Sache war die SMS, die Ende letzter Woche 169.000 Menschen in Italien auf ihr Handy geschickt bekamen: Seit dem 1. August erhalten sie keinen einzigen Cent mehr aus der staatlichen Grundsicherung.
Vor drei Monaten hatte die in Rom regierende Rechtskoalition unter Giorgia Meloni das entsprechende Gesetz beschlossen, mit dem die Grundsicherung in ihrer alten Form abgeschafft wird. Und schon im Wahlkampf vor einem Jahr hatten Meloni und ihre Verbündeten immer wieder gegen die Unterstützung für einkommens- und arbeitslose Menschen gewettert, die doch bloß eine Einladung zum Rumlümmeln „auf dem Sofa“ sei.
Erst 2019 war das „Reddito di cittadinanza“, das „Bürgereinkommen“, von der damaligen Regierung aus Fünf Sternen und der rechtspopulistischen Lega geschaffen worden. Wirklicher Befürworter der Unterstützungsleistung war jedoch bloß das Movimento5Stelle, während die Lega nur aus Koalitionsdisziplin mitspielte.
Italien war damit eines der letzten EU-Länder, die eine für alle Bürger*innen geltende Sozialhilfe einführten. Bis zu 500 Euro monatlich gab es, dazu noch 200 Euro für den*die Ehepartner*in und je 100 Euro pro Kind sowie maximal 280 Euro für die Miete.
Nur Familien mit Kindern oder Senioren erhalten Stütze
Doch jetzt trifft die von der Rechten inklusive Lega verabschiedete Streichung alle Haushalte, deren Angehörige zwischen 18 und 59 Jahre alt sind. Nur Familien mit minderjährigen Kindern oder älteren Personen über 60 erhalten noch Stütze. Wer über 18 ist, so die Rechtsparteien, sei doch „beschäftigbar“ und solle sich gefälligst einen Job suchen. Ob die „Beschäftigbaren“ auch vermittelbar sind, ob es überhaupt Jobs für sie gibt, ist eine Frage, die die Regierung nicht interessiert.
Nur noch sieben Monate im laufenden Jahr sollte die Grundsicherung für sie fließen, dann ist definitiv Schluss. Deshalb greift die Streichung jetzt für alle jene, die seit dem 1. Januar schon Geld aus der Sozialkasse bekamen. Rund 80.000 Menschen dagegen werden am 1. September eine SMS bekommen, diejenigen nämlich, die vom 1. Februar an Unterstützung bezogen.
Stattdessen, so die verschickte SMS, seien jetzt womöglich „die Sozialdienste“ der Kommunen für sie zuständig. Allerdings wurden die Sozialämter weder darüber informiert noch erhielten die Städte und Gemeinden auch nur einen einzigen zusätzlichen Cent für die Armenhilfe – entsprechend aufgebracht sind jetzt die Bürgermeister*innen quer durch Italien, auf deren Sozialämtern sich in den letzten Tagen Schlangen verzweifelter Menschen bildeten.
Einen Ausweg jedoch haben die „Beschäftigbaren“, denen der Unterhalt gestrichen wurde: Wenn sie an Fort- und Weiterbildungskursen teilnehmen, können sie für maximal ein Jahr 350 Euro monatlich erhalten, dann aber ist endgültig Schluss. Bis zum 1. August jedoch hat es das Arbeitsministerium nicht einmal geschafft, die versprochene Internetplattform einzurichten, auf der mögliche Kursangebote platziert werden sollen. Am Ende bleibt die Verantwortung, eine Bildungsmaßnahme zu finden – und so weiter die mehr als bescheidene Unterstützung zu bekommen –, sowieso an den Arbeitslosen hängen: Wer nicht selbst fündig wird, bekommt schlicht nichts.
„Kampf gegen die Armen“ statt Kampf gegen Armut
Als Kampf für die Menschenwürde präsentieren Meloni und ihre Kabinettskolleg*innen dieses sozialdarwinistische Vorgehen – es sei eben einfach „würdelos“, sich vom Staat alimentieren zu lassen, statt arbeiten zu gehen. Elly Schlein, Vorsitzende der oppositionellen Partito Democratico, dagegen befindet, Meloni habe den „Kampf gegen die Armen“ aufgenommen, statt die Armut zu bekämpfen. | Michael Braun | Italiens Regierung streicht Arbeitslosen die Unterstützung. Betroffene werden per SMS informiert – und die Kommunen sind nicht vorbereitet. | [
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Quoten-Streit in der Nord-SPD: Sozis werden weiblicher - taz.de | Quoten-Streit in der Nord-SPD: Sozis werden weiblicher
In der SPD in Schleswig-Holstein gibt es Unmut über die Kandidatenliste für die Europawahl – und ihren Landeschef Ralf Stegner.
Wird aller Voraussicht nach für die SPD ins EU-Parlament einziehen: Delara Burkhardt Foto: dpa
NEUMÜNSTER taz | Der Sieg war deutlich, der Gewinner strahlte: „Ich gehe mit Optimismus und Engagement in den Wahlkampf“, sagte Enrico Kreft Anfang November. Da hatte die SPD Schleswig-Holstein ihn gerade zum Spitzenkandidaten für die Europawahl bestimmt. Doch der SPD-Bundesvorstand kippte die Landesliste: Nicht Kreft, sondern seine unterlegene Gegenkandidatin Delara Burkhardt soll einen der aussichtsreichen Plätze erhalten. Nun rumort es in der Nord-SPD. Der Protest richtet sich gegen Landeschef und Bundesvorstandsmitglied Ralf Stegner. Der hatte sich schon zuvor für die 26-jährige Burkhardt eingesetzt.
Die Wahl des Lübeckers Enrico Kreft an die Listenspitze war auch ein Votum des Parteitags gegen den Landesvorstand, der Delara Burkhardt ins Rennen schickte. Burkhardt stammt aus Siek im Kreis Stormarn und studiert in Hamburg. Als Hobbys nennt sie „Fitnessstudios und Festivals“, im Juso-Bundesvorstand ist sie für Gleichstellung und Social Media zuständig.
Der 40-jährige Kreft ist seit rund 20 Jahren politisch aktiv, sitzt unter anderem im Landesparteivorstand und im Präsidium der „Europa-Union Deutschland“, einem überparteilichen Verein, der für die europäische Idee wirbt, Gesprächsrunden zu EU-Themen organisiert und eigene Vorschläge macht. Die Genossen bewegt nun die Frage: Wollte Stegner den Wunschkandidaten seiner Landespartei nicht durchsetzen, oder konnte er nicht?
Der Vorsitzende der Lübecker SPD, der Landtagsabgeordnete Thomas Rother, forderte laut Lübecker Nachrichten, Stegner soll als Vize-Parteivorsitzender zurücktreten, wenn er sich in dem Gremium nicht durchsetzen könne. Nach der Bundesvorstandssitzung habe Stegner in einer Telefonkonferenz mit etwa 30 Teilnehmenden das Ergebnis verkündet, berichtet einer, der dabei war. „Ralf sagte, er habe dagegen protestiert. Aber von einem Landeschef erwarte ich deutlich mehr Einsatz.“
Die Genossen bewegt die Frage: Wollte Stegner den Wunschkandidaten seiner Landespartei nicht durchsetzen, oder konnte er nicht?
Teils unter der Hand, teils offen auf Twitter äußern Mitglieder ihren Unmut: Wozu das aufwändige Verfahren, über Orts-, Regional- und Landesversammlungen eine Reihenfolge zu bestimmen, wenn der Bundesvorstand alles kippt?
Inzwischen trat ein Mitglied des Landesvorstands zurück. Als Grund nannte der bisherige Beisitzer Dirk Diedrich seine Arbeitsbelastung in Job und in seinen kommunalen Ehrenämtern. Aber zwischen den Zeilen seiner Twitter-Nachrichten lässt sich unschwer Kritik an Ralf Stegners Führungsstil herauslesen: „Vertrauen und Loyalität sind keine Einbahnstraße. Wer mich von oben herab behandelt, der kann nicht mein Kollege sein.“
Philipp Geiger, Sprecher des SPD-Bundesvorstands, stellt klar, dass Ralf Stegner keineswegs mit dem guten Listenplatz für Delara Burkhardt – sie soll nach Willen des Bundesvorstandes an die fünfte Stelle rücken – einverstanden war. „Ralf hat bei der Sitzung protestiert und gegen die Liste des Vorstands gestimmt“, so Geiger auf taz-Anfrage. Auch die Wünsche anderer Landesverbände seien nicht berücksichtigt worden.
Protest auch in Baden-Württemberg
Besonders starken Protest gibt es neben Schleswig-Holstein in Baden-Württemberg. „Es geht nicht darum, dass der Bund die Ländervoten nicht erfüllen will, aber wir haben nun einmal beschlossen, dass die SPD jünger und weiblicher werden soll“, sagt Geiger.
Konkret bedeutet das, dass jeder zweite Platz an eine Frau gehen muss. Da mit Katarina Barley eine Frau auf Platz eins steht, fallen die ungeraden Listennummern an Frauen. Da insgesamt immer noch mehr Männer als Frauen vorgeschlagen werden, zog der Bundesvorstand Burkhardt vor Kreft. Der Lübecker steht nun auf dem wenig chancenreichen 32. Platz.
Die endgültige Entscheidung trifft eine Bundesdelegiertenkonferenz am 9. Dezember. „Bis dahin ist die Liste offen“, betont Geiger. Üblicherweise werden KandidatInnen von ihren Landesverbänden vorgeschlagen. Um Enrico Kreft einen besseren Platz zu verschaffen, müsste Ralf Stegner also die Delegierten mit einer mitreißenden Rede überzeugen. | Esther Geißlinger | In der SPD in Schleswig-Holstein gibt es Unmut über die Kandidatenliste für die Europawahl – und ihren Landeschef Ralf Stegner. | [
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Übergang in den USA: Biden setzt auf Bewährtes - taz.de | Übergang in den USA: Biden setzt auf Bewährtes
Der langjährige Berater des gewählten Präsidenten Ron Klain soll Stabschef im Weißen Haus werden. Die Republikaner erobern weiteren Senatssitz.
Soll Stabschef im Weißen Haus werden: Ron Klain Foto: reuters
WASHINGTON ap/rtr/dpa | Der gewählte US-Präsident Joe Biden will seinem langjährigen Berater Ron Klain das wichtige Amt des Stabschefs im Weißen Haus übertragen. Dies teilte Biden am Mittwoch (Ortszeit) mit. Auf Klain sei die Wahl gefallen, weil dessen langjährige Erfahrung in Washington ihn auf diese Herausforderung vorbereitet habe. Klain erklärte, er fühle sich geehrt von dem Vertrauen des gewählten Präsidenten. Er werde alles geben, um ein talentiertes und diverses Team in einem Weißen Haus unter Biden und der künftigen Vizepräsidentin Kamala Harris zu führen.
Klain war während der ersten Amtszeit von Expräsident Barack Obama der Stabschef Bidens, der damals Vizepräsident war. Dieses Amt hatte Klain auch unter dem früheren Vizepräsidenten Al Gore Mitte der 90er Jahre inne.
Im Wahlkampfteam von Biden galt Klain als wichtiger Berater: So half er dem Kandidaten dabei, sich auf TV-Debatten vorzubereiten, und arbeitete den Fahrplan für dessen künftige Coronapolitik mit aus. Beide kennen sich schon seit vielen Jahren: Mit Biden arbeitet Klain schon seit dessen gescheiterter Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten 1987 zusammen.
Bidens Entscheidung für Klain unterstreicht, wie sehr der Fokus der künftigen Regierung auf der Bekämpfung der Pandemie liegen wird, die in den USA weiter wütet. Klain koordinierte unter Obama schon die Maßnahmen gegen die Ebola-Epidemie 2014. Fünf Jahre zuvor spielte der Berater zudem eine zentrale Rolle bei Ausarbeitung und Umsetzung der Strategie der Obama-Regierung für die wirtschaftliche Erholung der USA von der Finanzkrise.
Sanders will ins Kabinett
Der linke US-Senator Bernie Sanders hat Interesse am Job des Arbeitsministers im Kabinett von Joe Biden bekundet. „Wenn ich ein Ressort hätte, das es mir ermöglichen würde, für die Arbeiterfamilien einzutreten und zu kämpfen, würde ich es tun? Ja, würde ich“, sagte Sanders am Mittwoch (Ortszeit) dem Sender CNN auf die Frage, ob er den Job des Arbeitsministers annehmen würde, wenn es ein entsprechendes Angebot gäbe.
Er wolle alles dafür tun, um die Arbeiterfamilien des Landes zu schützen – im Senat oder in der Biden-Regierung. Seit Wochen gibt es Gerüchte, dass der frühere Präsidentschaftsbewerber Sanders Interesse am Arbeitsministerium hat. US-Medien halten ihn aber nicht für den einzigen möglichen Kandidaten.
Unterdessen haben sich die Republikaner bei der Senatswahl einen weiteren Sitz gesichert. Der Datenanbieter Edison Research erklärte am Mittwoch, Amtsinhaber Dan Sullivan habe seinen Sitz für Alaska gegen den demokratischen Herausforderer Al Gross vereidigt. Damit haben die Republikaner 50 der 100 Sitze im Senat sicher.
Im Bundesstaat Georgia finden am 5. Januar nun gleich zwei Stichwahlen statt. Sollten die Demokraten beide Abstimmungen gewinnen, würden beide Parteien genau die Hälfte der Sitze halten. Laut Verfassung darf der Vizepräsident bei einem Patt in der Kammer mit abstimmen. Damit könnte die Demokratin Kamala Harris die entscheidende Stimme liefern.
In Georgia werden alle bei der Präsidentenwahl abgegebenen Stimmen neu per Hand ausgezählt, wie der zuständige Staatssekretär Brad Raffensperger am Mittwoch mitteilte. Er begründete dies mit dem knappen Abstand zwischen beiden Kandidaten. Biden wäre der erste Politiker der Demokratischen Partei seit Bill Clinton 1992, der die Präsidentenwahl in Georgia gewinnt. Georgia war nicht entscheidend für den Wahlsieg Bidens. | taz. die tageszeitung | Der langjährige Berater des gewählten Präsidenten Ron Klain soll Stabschef im Weißen Haus werden. Die Republikaner erobern weiteren Senatssitz. | [
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Traditionsbar soll schließen: Mäzen killt Kultur - taz.de | Traditionsbar soll schließen: Mäzen killt Kultur
Nicolas Berggruen ist Milliardär und Investor – und lässt sich gern als Kunstförderer feiern. Aber tut er der Stadt wirklich gut?
Nicolas Berggruen: Was will er in Berlin? Foto: dpa
Es ist noch nicht rasend lang her, als Nicolas Berggruen einen seiner öffentlichkeitswirksamsten Auftritte in Berlin feiern durfte. Damals war er noch nicht wegen seines Geschäftsgebarens bei Karstadt in die Kritik, er habe, anders als Mitarbeiter und Staat, zu wenig in die Sanierung des Unternehmens investiert. Es war die Zeit, als auch das Künstlerhaus Bethanien wegen des anhaltenden Streits mit den linken Besetzern im alten Diakonissen-Krankenhaus am Kreuzberger Mariannenplatz in die Presse geriet. Der Mietvertrag über 400 Quadratmeter in Berggruens „Lichtfabrik“ in der Kohlfurter Straße, zu dessen Eröffnung Berggruen höchstpersönlich anreiste, erschien den Machern des Künstlerhauses wie ein Notausgang. „Es war eine Win-win-Situation“, erinnert sich Bethanien-Pressesprecherin Christina Sickert heute. „Wir waren gerettet, und Berggruen hatte die Auflage des Landes erfüllt, das Gebäude kulturell zu nutzen.“
Sieben Jahre später sieht die Situation anders aus in Berlin. Es scheint beinahe, als sei Berggruen weniger auf gute Presse angewiesen. Im Juli wurde bekannt, dass die Berggruen Holdings GmbH, in deren operatives Geschäft Berggruen angeblich nicht eingebunden ist, die Willner Brauerei verkauft hat. Künstler und Gastronomen werden sich dank Sanierung ab nächstem Sommer etwas Neues suchen müssen. Und dann die Nachricht im September: Der Kosmetiksalon Babette, eine der letzten Bars auf der Karl-Marx-Allee gleich gegenüber vom Kino International, bekommt den Mietvertrag nicht verlängert. Damit wird die Stadt dank Berggruen 2018 zwei Orte verlieren, die an den selbst gemachten Charme der Neunziger erinnern, wo man sein Bier noch in Jeans und Turnschuhen genießen darf.
Milliardär Nicolas Berggruen, geboren 1961, ist der Sohn von Heinz Berggruen, einem der größten Kunstsammler und Mäzene des 20. Jahrhunderts, dessen Berliner Museum der klassischen Moderne zahlreiche Werke umfasst, darunter auch von Pablo Picasso, mit dem er befreundet war. In Interviews lässt sich Berggruen junior am liebsten als Menschenfreund feiern. Gern spricht er von der Relektüre von Marx, Lenin und Trotzki, den „Denkern seiner Jugend“ – und von seiner spektakulären Denkfabrik in den Bergen über Los Angeles, die er sich gerade vom Schweizer Architekturbüro Herzog & de Meuron bauen lässt und wo unter anderem „eine gemeinsame gesellschaftliche Vision“ entwickelt werden soll. Auf der Website seiner Berliner Firma steht: „Immobilien sind für uns mehr als nur ein Investment, Architektur, Ästhetik und Kunst interessieren uns ebenso wie der cashflow.“
Obwohl es heißt, die Berggruen Holdings GmbH stoße nach und nach immer mehr Berliner Immobilien ab, verfügt sie nach wie vor über rund 100 Wohn- und Geschäftshäuser in Berlin, deren Wert auf rund 450 Millionen Euro geschätzt wurde: Darunter die Sarottihöfe, wo unter anderen die Konzertagentur der Fantastischen Vier residiert, die Knorr-Bremse mit Zalando als Hauptmieter – und das Wohn- und Geschäftshaus in der Oranienstraße 25, wo die Buchhandlung Kisch & Co angeblich nur deshalb weiter wenig Miete zahlen darf, weil der neue Mieter, ein niederländisches Brillenlabel, wegen der Proteste von Anwohnern wieder abgesprungen war.
Und warum jetzt ausgerechnet die Bar Babette? Darauf gibt die Berggruen Holdings derzeit noch keine Antwort – erst Ende des Jahres will man sich dazu äußern. Maik Schierloh, der die Bar seit 14 Jahren voller Enthusiasmus betreibt und hier auch Ausstellungen, Konzerte und Lesungen organisiert hat, vermutet, man wird den Pavillon dem benachbarten Café Moskau zuschlagen. Dieses hat die Berggruen Holdings GmbH 2007 von der Treuhandliegengesellschaft erworben und dann saniert. Während Anfang der nuller Jahre der WMF Club das Haus zugänglich machte, finden seit der Wiedereröffnung 2011 geschlossene Firmenevents statt. „Oft klopfen Leute bei uns an die Scheibe, weil sie vergebens den Eingang zum Café Moskau suchen“, sagt Schierloh.
Der Pavillon, den die Bar noch bis Ende September 2018 bespielt, gehört übrigens zu jenem Stück der Karl-Marx-Allee, der anders als der andere Teil nicht nach dem Vorbild des „sozialistischen Klassizismus“ der Sowjetunion gebaut wurde, sondern für Neues Bauen in der DDR steht: heiter, gelöst und weltoffen. Josef Kaiser ließ nicht nur den Kosmetiksalon Babette und die anderen vier flachen Pavillons bauen, in denen sich unteren der legendäre Treffpunkt Mokka-Milch-Eisbar befand, sondern auch das Café Moskau, das Kino Kosmos, das Kino International.
Ironie der Geschichte: Während Berlin noch vor zehn Jahren keine wichtigen Immobilien kaufen konnte, sondern im Gegenteil fast alles verschacherte, um den maroden Haushalt zu sanieren, versucht die Stadt heute, die Verödung der Karl-Marx-Allee wieder aufzuhalten. Gerade lässt sich der Bezirk Mitte ein Entwicklungskonzept für die Karl-Marx-Allee erstellen, das sechs einst geplante, aber nie verwirklichte Pavillons entlang der Allee zwischen Otto-Braun-Straße und Schillingstraße vorsieht. Sie sollen vor allem mit Kunst und Kultur bespielt werden. Vielleicht sollte der Bezirk Nicolas Berggruen fragen, ob er einen der Pavillons mieten mag. Für einen Berliner Ableger seiner Denkfabrik beispielsweise. | Susanne Messmer | Nicolas Berggruen ist Milliardär und Investor – und lässt sich gern als Kunstförderer feiern. Aber tut er der Stadt wirklich gut? | [
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Springer stellt sein Onlinekonzept vor: „Bild“ sucht zahlende Nutzer - taz.de | Springer stellt sein Onlinekonzept vor: „Bild“ sucht zahlende Nutzer
Die „Bild“-Gruppe des Springer-Konzerns hat ihr neues Bezahlangebot vorgestellt. Paywall darf man nicht sagen. Ein Abend in Rot.
Präsentation am 27. Mai im Berliner Axel-Springer-Haus: Geht Plan A schief, wird Plan B ausgepackt. Bild: dpa
BERLIN taz | Die Bild-Gruppe des Springer-Verlags stellt ihr neues Markenabo vor. Dafür wird der Raum sogleich abgedunkelt und das Rotlicht angeschaltet. „Das Licht sieht scheiße aus“, sagt der ARD-Kameramann. „Alles geflutet. Unprofessionell.“ Die Präsentation ist blau, das beißt sich.
Andreas Wiele, Vorstand der Bild-Gruppe gibt schnell noch ein Interview. Summa summarum: Bild ist toll. Und ab jetzt kostenpflichtig. So halb. Es gibt neben den sogenannten Bild-plus-Inhalten auch weiterhin kostenlose Inhalte. Man will niemand vergraulen. Das Wort „Paywall“ werde nicht fallen, ich solle es daher nicht benutzen, heißt es.
Dann spricht Donata Hopfen, Geschäftsführerin von Bild-digital. „Wir versuchen, die Marktführerschaft zu erhalten“, sagt sie. „Wir bauen die Marktführerschaft aus“, steht in der Presseinformation. Beruht die neue Bezahlschranke auf Hoffnung und Hilflosigkeit? „Wir hoffen, die Leser zumindest im Test begrüßen zu können“, sagt sie.
Krieg gegen die Nichtzahler im Netz
Der erste Monat kostet 99 Cent. Jeder weitere Monat zwischen 4,99 und 14,99 Euro, je nach Umfang des Abos. Bundesliga, genannt „persönliche Sportschau“, 2,99 Euro extra. Was genau die Bild-plus Inhalte auszeichnet, warum man sofort für sie bezahlen möchte, wird nicht richtig klar. Alles halt noch viel exklusiver. „Einzigartige Fotos“, weiß das Pressematerial.
Weiterhin möchte Frau Hopfen „den Nutzer befrieden“ und ihn direkter binden. Was das heisst? Werbung, wahrscheinlich. Und befrieden, weil man im Krieg ist mit dem Nichtzahler im Netz.
„Die Einfachheit wird es dem Nutzer nicht schwer machen, das Produkt zu kaufen“, so Hopfen. Ich stelle mir kurz ein Bild-minus-Angebot vor, in dem Unübersichtlichkeit dem Nutzer den Kauf nicht exklusiver Inhalte erschwert. „Drücken Sie uns wenigstens heimlich die Daumen“.
Das Bild-plus-System werde die Redakteure befeuern
Nun ist Matthias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, an der Reihe: Das Bild-plus-System werde die Redakteure befeuern, jeder werde nur für Bild-plus produzieren wollen. Sofort denke ich an Profilneurosen und Grabenkämpfe.
„In der Lage, Abozahlen zu kalkulieren, sind wir nicht. Wer das kann, kriegt sofort einen Job bei Springer“, sagt Döpfner. Das Angebot schießt also wirklich ins Blaue. Funktioniere es nicht, probiere man Plan B, danach Plan C. Das Alphabet lässt zur Not noch mehr Freischüsse zu. Im Anschluss sehen wir noch ein paar Clips, kurze Zusammenfassung: Bild ist spitze.
Für den Umtrunk bleibe ich nicht, nehme schnell wieder den Aufzug mit der rot bekleideten Fahrstuhlführerin. Die fummelt an ihrem iPad und möchte mir den gleichen kleinen Einspieler zeigen, den ich schon auf dem Weg nach oben präsentiert bekam. Sie ist nervös, drückt auf 19., da sind wir doch schon. „Hat Ihnen die Veranstaltung gefallen?“ möchte sie wissen. Wir kommen schließlich sicher unten an. | Malte Andre | Die „Bild“-Gruppe des Springer-Konzerns hat ihr neues Bezahlangebot vorgestellt. Paywall darf man nicht sagen. Ein Abend in Rot. | [
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Olympiaproteste in Paris: Citius, altius, fort damit! - taz.de | Olympiaproteste in Paris: Citius, altius, fort damit!
Gegen die Sommerspiele 2024 in Paris gab es von Anfang an Widerstand. Nun wird auch der Streit um die französische Rentenreform sportpolitisch.
Olympische Ringe vor dem Pariser Eiffelturm Foto: Ricardo Milani/imago
Noch sind es 462 Tage bis zu den Olympischen Sommerspielen in Paris. Die Arbeiter am Fließband des sozialen Netzes „The Olympic Games“ dachten wohl, es wäre eine gute Idee, wenn sie auf dem Twitter-Kanal folgendes fragten: „Auf welchen Athleten bei @Paris2024 freut ihr euch am meisten?“ Der Kanal hat 15,8 Millionen Follower, doch die Antworten fielen nicht so aus, wie sich das die Promotoren Olympias erwartet hatten, denn der Tweet wurde förmlich von Trollen gekapert, wobei das Wörtchen Troll etwas despektierlich daherkommt.
Man könnte auch sagen: Die Leute in Paris, ja in ganz Frankreich konnten mit der Frage nichts anfangen, weil sie grade anderes im Sinn haben als Unterhaltung und Sport. In Frankreich revoltiert das Volk gegen eine als ungerecht empfundene Rentenreform. Es gärt und brodelt. Und manchmal brennt es auch in den Straßen.
Weil Bilder die stärkste Botschaft vermitteln, wurde zuerst ein Vermummter gepostet, der eine Tränengaskartusche mit einem Tennisschläger mutmaßlich in die Reihen der Polizei zurückschießt. Dann surfte ein nackter Mann über eine Menschenmenge, auch dies ein Akt der Insubordination, der die heile Welt der Ringe-Bewegung konterkarieren soll. In Plakat-Adaptionen der Paris-Spiele springen Hürdenläufer einmal über einen großen Müllhaufen, und ein andermal ist eine apokalyptische Szene mit brennenden Barrikaden zu sehen. Untermalt wird das mit dem Hashtag PasDeRetraitPasDeJO: kein Rückzug, keine Olympischen Spiele.
Beliebt als Antwort auf den Tweet ist auch ein Video, das den ehemaligen Boxer Christophe Dettinger zeigt, wie er vor einigen Jahren Polizisten in voller Montur mit bloßen Fäusten bekämpfte. Dettinger wurde zu einem kleinen Helden der Gelbwesten-Bewegung. Angeklagt und verurteilt wurde der ehemalige französische Meister trotzdem. Kurzum: Der zivile Ungehorsam steht einem naiven Eventismus entgegen. Die im Grunde treudoofe Frage der Olympiafuzzis wird nach allen Regeln der Trollkunst auseinandergenommen.
Die Basis hat offensichtlich die Lust an den Olympischen Spielen verloren. Das wurde von der Obrigkeit feinsinnig registriert, von Organisatoren, die Angst haben dürften vor einer Politisierung der Spiele. Im Sportministerium sprach man daher auch von einem „schwachen Signal“, das aktuell durch die Netze wabere. Vorsichtshalber erinnerte die französische Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra, eine ehemalige Tennisspielerin, daran, dass es die Spiele der Franzosen und der Sportler seien, „auf keinen Fall die Spiele des Staates oder der Regierung“.
Die Gewerkschaften Confédération Générale du Travail (CGT) oder Fédération Syndicale Unitaire (FSU) hätten freilich nichts dagegen, wenn sich der Protest gegen die Rentenreform mit einem Widerstand gegen die Olympiaschen Spiele amalgamiert. So bekämen die Demos womöglich neuen Zulauf und eine neue Stoßrichtung. Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, möchte denn auch nicht, dass die Spiele „als Geisel“ genommen werden. Die Pariser sollten mal schön runterkommen, als Nation zusammenstehen und das Sportfest als Sportfest begreifen.
Es ist aber auch ein Kreuz mit dem Pöbel: Warum kann er sich nicht einfach freuen auf Fechter, Breakdancer oder Leichtathletinnen? Ihm wird die Rente gekürzt, er kämpft gegen Inflation? Oh mon Dieu, labe er sich am Wettstreit der Jugend der Welt. Et arrêtez maintenant! | Markus Völker | Gegen die Sommerspiele 2024 in Paris gab es von Anfang an Widerstand. Nun wird auch der Streit um die französische Rentenreform sportpolitisch. | [
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Rot-Grünes Gezänk im Bund: Öko-Fundis versus Betonköpfe - taz.de | Rot-Grünes Gezänk im Bund: Öko-Fundis versus Betonköpfe
Gabriel wirft den Grünen Fortschrittsfeindlichkeit vor. Künast ätzt, der SPD sei die Stadt scheißegal. Nach dem Scheitern ihrer Koalitionsverhandlungen in Berlin sind sich Rote und Grüne gram.
Unterschiedliche Auslegung der Verkehrsregeln bei Roten und Grünen. Bild: imago/Steinach
KÖLN dapd | Das rasche Ende der rot-grünen Koalitionsverhandlungen in Berlin sorgt auch auf der bundespolitischen Ebene für hefitge Kontroversen zwischen der SPD und den Grünen. Der Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten, Sigmar Gabriel, rief die Grünen auf, ihre Haltung zu Verkehrsprojekten generell zu überdenken. Eine moderne wirtschaftsfreundliche Infrastruktur sei die Grundlage des Wohlstands in Deutschland, dazu gehörten auch Autobahnen, Schienenwege, Stromtrassen und Pipelines, sagte er der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Es sei ein großer Irrtum der Grünen, wenn sie meinten, das alles sei im 21. Jahrhundert nicht mehr so wichtig.
Das Nein der Grünen zur Autobahn 100 in Berlin sei unverständlich. "Es geht nicht um die Zerstörung von Naturschutzgebieten durch überflüssige Autobahnen, sondern um eine moderne Verkehrsinfrastruktur für eine moderne und dynamische Großstadt." Auch beim Streit um das baden-württembergische Schienenbauprojekt "Stuttgart 21" treffe er auf eine Haltung, die man mit den Worten umschreiben könne: Ich will zwar Wohlstand, aber nicht die damit verbundenen Belastungen.
Renate Künast, Exspitzenkandidatin der Grünen für die Berliner Abgeordnetenhauswahl, geht von nachhaltigen Folgewirkungen der gescheiterten Berliner Koalitionsverhandlungen für die Zukunft von Rot-Grün insgesamt aus. "Grüne denken an die Glaubwürdigkeit. Das ist einer unserer höchsten Werte. Und ich bin mir sicher, kein Grüner wird das der SPD vergessen", was mit Wowereit in Berlin passiert sei, sagte Künast der Leipziger Volkszeitung. "Denen ist diese Stadt doch völlig egal, während sich die Grünen um eine Idee für die gesamte Stadt gekümmert haben", sagte sie.
Bereits bei den Sondierungen zwischen SPD und Grünen sei während der Kompromisssuche zur strittigen Autobahn-Fortführung Wowereit ein verräterischer Satz herausgerutscht: "Das ist alles gar nicht verhandelbar." Künast sieht dies als Teil einer Strategie bei den Gesprächen, deren einziges Ziel es gewesen sei, die Grünen aus der Koalitionsbildung herauszutreiben.
Ströbele: "Trickserei"
Der Parlamentarische Geschäftsführer der grünen Bundestagsfraktion, Volker Beck, sieht in der Entscheidung Wowereits eine Gefahr für den erhofften Regierungswechsel im Bund. "Das ist keine kluge Entscheidung im Hinblick auf die Ablösung von Schwarz-Gelb im Bund", sagte er dem Kölner Stadt-Anzeiger. Auch schwänden die Möglichkeiten, über den Bundesrat aktiv Einfluss auf die Politik der schwarz-gelben Bundesregierung zu nehmen. "Rot-Grün hätte seine Position optimieren können", sagte Beck. Und das sei nun verabsäumt worden. Er fügte hinzu: "Ein Mobilisierungsschub für die SPD wird aus diesem Manöver nicht." Der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele warf Wowereit "Trickserei" vor.
Der niedersächsische SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy forderte Wowereit auf, sich zu korrigieren. "Ich würde es begrüßen, wenn man einen zweiten Anlauf unternimmt", sagte er. Man lasse "keine Koalitionsregierung an drei Kilometern Autobahn scheitern".
Wowereit erhält für den Abbruch der Koalitionsverhandlungen mit den Grünen aber auch Rückendeckung aus der Bundes-SPD. Bei Koalitionen sei Verlässlichkeit "eine unverzichtbare Bedingung", sagte der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz der Berliner Zeitung: "Offenbar war das nicht der Fall." Der schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Ralf Stegner verteidigte den Regierenden Bürgermeister gegen die Kritik, er habe die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen zu Unrecht platzen lassen. "Über Koalitionen entscheiden die Landesverbände selbst", sagte er der Mitteldeutschen Zeitung.
"Offenbar sind Klaus Wowereit und Michael Müller zu der Überzeugung gelangt, dass eine stabile Regierung für fünf Jahre mit den Berliner Grünen nicht funktionieren würde." Das lasse aber keine Rückschlüsse auf Schleswig-Holstein oder den Bund zu. | taz. die tageszeitung | Gabriel wirft den Grünen Fortschrittsfeindlichkeit vor. Künast ätzt, der SPD sei die Stadt scheißegal. Nach dem Scheitern ihrer Koalitionsverhandlungen in Berlin sind sich Rote und Grüne gram. | [
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Expertin über häusliche Gewalt: „Gleichstellung hilft gegen Gewalt“ - taz.de | Expertin über häusliche Gewalt: „Gleichstellung hilft gegen Gewalt“
Das Lagebild zu häuslicher Gewalt ist alarmierend, sagt Expertin Katharina Göpner. Dabei sieht sie auch Handlungsbedarf im Sorge- und Umgangsrecht.
Vielen Betroffenen häuslicher Gewalt wird eine Mitschuld gegeben Foto: Fabian Sommer
taz: Frau Göpner, gegenüber dem Jahr 2021 sind die Meldungen zur häuslichen Gewalt im vergangenen Jahr um etwa neun Prozent gestiegen. Haben Sie eine Vermutung, woran das liegen könnte?
im Interview:Katharina GöpnerFoto: privatist Geschäftsführerin beim Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) Frauen gegen Gewalt e. V. Dazu gehören etwa 210 Frauennotrufe- und-Frauenberatungsstellen
Katharina Göpner: Man muss berücksichtigen, dass das das Hellfeld ist. Die Zahlen sind in den letzten Jahren mit leichten Schwankungen stetig gestiegen. Sie sind weiter viel zu hoch, aber eben begrenzt aussagekräftig darüber, wie viel Gewalt es gibt. Es gibt ein sehr großes Dunkelfeld. Dazu wird es eine neue Dunkelfeldforschung geben, die letzte ist schon alt. Aber aus der wissen wir, dass etwa jede vierte Frau häusliche Gewalt erlebt.
Ergebnisse der neuen Studie gibt es noch nicht, sie startete am Dienstag. Haben Sie Einblicke, wie sich das in den letzten Jahren veränderte – auch in Hinblick auf die Corona-Pandemie?
Ja, Klient_innen sind noch immer psychisch stark belastet von einer jahrelangen Auswirkung der Pandemie. Es sind häufig Fälle, in denen mehrere Gewaltformen auftreten. Wir nehmen schon länger wahr, dass die Beratungsanfragen in Beratungsstellen zunehmen, aber das Personal nicht aufgestockt wird. Dabei werden die Anfragen komplexer. Dazu kommen andere Problemlagen wie die Wohngungsnot in Großstädten.
Haben Sie ein Beispiel für das Aufeinandertreffen von Gewaltformen?
Wir hatten während der Pandemie häufig die Situation von sexualisierter Gewalt beim Online-Dating. Da war es bei den ersten Dates nicht möglich, sich im öffentlichen Raum zu treffen. Dazu nimmt die digitale Gewalt seit Jahren zu.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert Frauen dazu auf, Gewalt vermehrt zu melden. Wie schätzen Sie das ein?
Das ist eine wichtige Forderung, weil viele Betroffene sich schämen. Weil sie die Erfahrung machen, dass ihnen eine Mitschuld gegeben wird.
Mehr AnzeigenMeldungen zu Gewalttaten innerhalb von Familien und Partnerschaften nehmen zu. Das zeigt das aktuelle Lagebild des Bundeskriminalamts zur häuslichen Gewalt, das am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. 2022 wurden 230.946 Fälle angezeigt, im Vorjahr waren es 212.167. Das ist ein Anstieg um 8,9 Prozent. Die Zahl der Opfer stieg im Vergleich zu 2021 um 9,1 Prozent. Vier von fünf Betroffenen sind Frauen und etwa die Hälfte der Betroffenen häuslicher Gewalt lebt mit der tatverdächtigen Person zusammen.Das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen erreichen Sie unter 116-016 und unter hilfetelefon.de, das Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer unter 0800-1239900.
Können Sie denn nachvollziehen, dass manche Betroffenen keine Anzeige stellen?
Ja, dafür gibt es gute Gründe. Zum Beispiel, wenn die gewaltausübende Person der eigene Partner ist und man mit ihm gemeinsame Kinder hat. Eine Anzeige kann auch die Gewaltsituation eskalieren lassen. Und die Gerichtsprozesse dauern sehr lange und können retraumatisierend sein.
Das Lagebild zeigt, dass die Anzeigen zu sexualisierter Gewalt steigen. Warum ist die Anzeigenbereitschaft so hoch, obwohl mutmaßlichen Opfern oft nicht geglaubt wird, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen?
Die Reform des Sexualstrafrechts hat einiges verändert. Seit der Reform können Sachen angezeigt werden können, die vorher als nicht strafbar galten.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn Betroffene Nein gesagt, aber sich nicht körperlich gewehrt haben. Wir haben außerdem eine kleine Abfrage gemacht bei unseren Beratungsstellen, als sich die Reform zum fünften Mal jährte: Da haben sie gesagt, dass #MeToo und die öffentliche Debatte ein Empowerment für Betroffene bieten.
Zudem kündigte Faeser an, dass Täter direkt nach dem ersten Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden sollen – falls nötig auch mit Fußfesseln.
Diese Wegweisungen gibt es ja schon. Das Problem ist eher, dass die Umsetzung nicht kontrolliert wird. Das muss besser kontrolliert werden.
Ende Juni hatten Sie vom bff auch mit der Kampagne #HilfenachVergewaltigung auf die mangelnde medizinische Versorgung aufmerksam gemacht. Welche Reaktionen haben Sie darauf erhalten?
Wir haben vor allem von Betroffenen Rückmeldungen erhalten, die ihre Erfahrungen schilderten: dass sie auf den Kosten sitzen blieben oder nur männliche Ärzte im Krankenhaus anzutreffen waren. Wir haben leider keine Rückmeldung von der Gesundheitsministerkonferenz bekommen.
Was hätten Sie von dieser erwartet?
Es wird ja oft nur über die vertrauliche Spurensicherung gesprochen. Wir sagen, dass eine gute medizinische Versorgung wichtig ist. Damit Betroffene erst klären können: Bin ich schwanger? Habe ich eine Krankheit? Und danach entscheiden können, ob sie eine Spurensicherung machen, um dann im nächsten Schritt zu sagen: Ich mache eine Anzeige. Damit schließt sich der Kreis.
In Ihrer Kampagne machten Sie auch auf das schlechtmöglichste Szenario aufmerksam: dass es Fälle von Menschen gibt, die nach einer Vergewaltigung von Kliniken abgewiesen werden. Was empfehlen Sie Betroffenen hierbei?
Das ist wirklich das schlechtmöglichste Szenario. Wir würden sie ermutigen, dass sie sich woanders hinwenden. Wohlwissend, dass es extrem demotivierend ist, abgewiesen worden zu sein. Beratungsstellen können Unterstützung anbieten, sie sind gut vernetzt mit Kliniken.
Sie haben die Dunkelfeldstudie schon angesprochen, die Anhaltspunkte geben soll, welche Maßnahmen umgesetzt werden. Gibt es Mittel, die schon jetzt von der Politik ergriffen werden sollten?
Was wir immer wieder fordern: Die Istanbul-Konvention muss umgesetzt werden. In Deutschland ist sie ratifiziert, aber es hapert an einigen Stellen. Wir brauchen einen Ausbau von Beratungsstellen, es muss mehr Geld in Unterstützungssysteme fließen. Die Istanbul-Konvention gibt auch noch andere sehr gute Empfehlungen, zum Beispiel bei Hochrisikofällen.
Woran ist ein Hochrisikofall zu erkennen?
Das sind Fälle, in denen der Täter zum Beispiel Waffen besitzt oder es schon vorher zu Gewalt kam. Sie enden noch viel zu oft in Femiziden. Hier müssen Institutionen besser arbeiten, um gemeinsam mit betroffenen Personen einen Plan zu machen. Wobei wir sagen, dass alle Fälle von partnerschaftlicher Gewalt Hochrisikofälle werden können.
Nun haben wir viel über Maßnahmen gesprochen, die greifen, wenn die Gewalt schon passiert ist. Haben Sie Ideen, wie häusliche Gewalt effizienter verhindert werden könnte?
Es braucht mehr Präventionsprojekte und Projekte, die sich mehr mit Männlichkeit beschäftigen. Es braucht mehr Kampagnen, die potenziell gewaltausübende Personen adressieren. Letztendlich sind alle Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung sinnvoll. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Gleichstellung und geschlechtsspezifischer Gewalt. Das klingt jetzt sehr abstrakt …
… was wäre denn ein gutes Beispiel dafür?
Es ist schwer für Frauen, gewaltvolle Situationen zu verlassen, wenn sie finanziell vom Täter abhängig sind. Ein anderer großer Handlungsbedarf ist das Sorge- und Umgangsrecht: Häusliche Gewalt sollte sich darauf auswirken. Das geschieht im Moment nicht. Da haben wir viel zu tun. | Nicole Opitz | Das Lagebild zu häuslicher Gewalt ist alarmierend, sagt Expertin Katharina Göpner. Dabei sieht sie auch Handlungsbedarf im Sorge- und Umgangsrecht. | [
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StudentInnen streiken unbeirrt - taz.de | StudentInnen streiken unbeirrt
Proteste in der niedersächsischen Hauptstadt Hannover halten trotz kleiner Zugeständnisse an / StudentInnen bezeichnen Gelder des Wissenschaftsministers als Bluff, um die Streikfront zu brechen ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Tagtäglich StudentInnenproteste in Hannovers Innenstadt, nach Angaben der Studentischen Koordinationsgruppe für Öffentlichkeitsarbeit immer noch die Hälfte der Universität im aktiven Streik, und ein Niedersächsischer Wissenschaftsminister, der durch kleine Zugeständnisse die Protestfront zu beruhigen versucht - auch eine Woche nach Ausrufen des hochschulweiten Protestes hat sich die Situation an der Universität Hannover keineswegs beruhigt. So wie gestern einige Hundert protestierend in die Stadt zogen, um „das Wissenschaftsministerium zu vermessen“, so hatten am Tag zuvor ElektrotechnikstudentInnen mit Hilfe eines überdimensionalen (Ohmschen) Widerstandes deutlich gemacht, daß sie ihre Studienbedingungen nicht mehr hinnehmen wollen. Zuvor hatten schon SozialwissenschaftlerInnen in einem Sarg die Bildung zu Grabe getragen.
Der niedersächsische Wissenschaftsminister Johann-Tönnies Cassens hat in dieser Woche gleich zweimal Zugeständnisse an die Streikenden verkündet, die ein Sprecher der Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit allerdings als „Bluffs, die die Streikfront nur aufweichen sollen“, bezeichnete. Schon vor einigen Tagen hatte das Wissenschaftsministerium die Einsparauflagen, die im Jahre 1987 den Hochschulen verordnet worden waren, für die nächsten drei Jahre aufgehoben. Die Sparauflage von 26,5 Millionen Mark wurde allerdings nur mit der Maßgabe gestrichen, daß gleichzeitig 60 bis 80 Stellen innerhalb der Hochschulen bzw. von einer Hochschule zur anderen umzuschichten sind. Einer Delegation von StudentInnen versicherte Cassens dann am Donnerstag, daß die geplante Streichung einer Reihe von geisteswissenschaftlichen Studiengängen an der Uni Hannover fallengelassen werde. Für die Streikenden sind das alles aber bisher nur „minimale Zugeständnisse“. Für sie bleibt der Abbau der Studienplatzkapazitäten in den lehrerausbildenden, geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen um 30 Prozent der größte Stein des Anstoßes. Gegen diesen Abbau engagieren sich auch die protestierenden StudentInnen aus den naturwissenschaftlichen, technischen Fachrichtungen, die zahlreiche Erklärungen gegen diesen Versuch, die Studenten zu spalten verabschiedet haben. | jürgen voges | Proteste in der niedersächsischen Hauptstadt Hannover halten trotz kleiner Zugeständnisse an / StudentInnen bezeichnen Gelder des Wissenschaftsministers als Bluff, um die Streikfront zu brechen ■ Aus Hannover Jürgen Voges | [
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Wölfe im Norden: Ein Abschuss ist möglich - taz.de | Wölfe im Norden: Ein Abschuss ist möglich
Niedersachsens Umweltminister reist höchstpersönlich in den Landkreis Cuxhaven um mit Deichschäfern zu sprechen, die Wolfsrisse beklagen.
Im Gehege ist es sicher: ein Europäischer Grauwolf im Wolfcenter Dörverden Foto: dpa
HANNOVER taz | Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) wolle sich selbst ein Bild machen und mit betroffenen Schäfer*innen sprechen, heißt es am Donnerstag aus der Pressestelle seines Ministeriums. Am Samstag wird er im Landkreis Cuxhaven erwartet.
Und man sieht ihn sofort vor sich: Wie er über den Deich stiefelt, jedem die Faust oder den Ellenbogen hinstreckt, weil er keine Hände mehr schütteln darf, zuhört und nickt und Sätze sagt wie „Ich verstehe Sie, absolut.“ und: „Da bin ich ganz bei Ihnen.“ Er kann das wirklich gut, der Herr Lies, freundlich und zugewandt sein, selbst wenn seinem Gegenüber vor Frust und Wut schon sichtbar die Halsschlagader pocht.
Anlass sind wieder einmal Wolfsrisse. In der Region gab es in kurzem Abstand zwei Angriffe auf Schafherden auf dem Deich, die für großes Aufsehen gesorgt haben. Das lag zum einen daran, dass viele Tiere starben, darunter zahlreiche trächtige Mutterschafe. Mehr als 30 waren es insgesamt, die Föten nicht mitgerechnet. Die Zahl klettert noch, weil es oft Tage dauert, bis alle Tiere gefunden sind. Die meisten sterben nicht unbedingt an Bissverletzungen, sondern weil sie sich auf ihrer panischen Flucht verletzen oder ins Wasser fallen.
Dass der von Niedersachsen im Rahmen eines Pilotprojekts gesponserte Elektro-Schutzzaun nichts half, ist der zweite Grund für das Entsetzen. Passive Herdenschutzmaßnahmen gelten vielen Naturschützern als das A und O und zwar von Anfang an: Die Zahl der Risse steigt, wenn die Wölfe neu im Revier sind. Wenn sie von Anfang an lernen, dass die Jagd auf Weidetiere mühsam und riskant ist, konzentrieren sie sich auf andere Beutetiere. Wenn sie auf der Weide zu oft Erfolgserlebnisse haben, wird es schwierig.
Am Deich sind allerdings die Möglichkeiten begrenzt: Zum Beispiel können oft keine Schutzhunde eingesetzt werden, weil zu viele Touristen die Weiden passieren. Gleichzeitig ist die Beweidung durch die Schafe für die Stabilität der Deiche wichtig.
Stimmung droht zu kippen
In der Region droht die Stimmung in Sachen Wolf schon länger zu kippen: Erst vor zwei Wochen warf dort einer der zuständigen Wolfsberater hin, weil er meinte, die Probleme würden nicht ernst genug genommen. Hermann Kück, der das Amt seit 2012 ehrenamtlich ausübte, erklärte in lokalen Medien, die zunehmenden Wolfssichtungen in Dorfnähe und zwei Ponyrisse machten ihm Sorgen. Er habe früher sehr für die Rückkehr des Wolfs geworben, aber mittlerweile hält er die Zahl im Cuxland für zu hoch.
Die Analyse der DNA-Spuren ist bei den beiden aktuellen Fällen noch nicht abgeschlossen, aber wenn sich beide Ereignisse dem gleichen Wolf zuordnen lassen, wird dort vermutlich die nächste Ausnahmegenehmigung zum Abschuss eines Problemwolfs fällig. Mit allen Problemen, die das dann wieder mit sich bringt: Klagen, vergebliche Jagden, Fehlabschüsse.
Lies wirbt deshalb schon seit ein paar Jahren für einen anderen Ansatz. Er wünscht sich regionale Ober- und Untergrenzen für den Bestand. Auch für die Forderung der Deichverbände nach „wolfsfreien Zonen“ zeigte er sich aufgeschlossen.
EU geht gegen Niedersächsische Wolfsverordnung vor
Bisher war das durch die Bundesgesetzgebung allerdings ausgeschlossen. Unter der Ampel könnte sich das ändern. Im Koalitionsvertrag, den Lies mitverhandelt hat, steht nun, man wolle „europarechtskonform ein regional differenziertes Bestandsmanagement ermöglichen“. In dem Wort „europarechtskonform“ steckt aber die nächste Tücke: Experten streiten noch, wie viel Spielraum das EU-Recht überhaupt lässt.
Erst im Juni war bekannt geworden, dass die EU-Kommission auch die niedersächsische Wolfsverordnung in ein sogenanntes Pilotverfahren einbezogen hat, das ist die Vorstufe zu einem Vertragsverletzungsverfahren. | Nadine Conti | Niedersachsens Umweltminister reist höchstpersönlich in den Landkreis Cuxhaven um mit Deichschäfern zu sprechen, die Wolfsrisse beklagen. | [
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Weltsozialforum in Tunesien: Am Ende bleibt die Sinnfrage - taz.de | Weltsozialforum in Tunesien: Am Ende bleibt die Sinnfrage
Etwa 40.000 Teilnehmer diskutieren Migrationspolitik, Menschenrechte und Klimwandel. Aber auch die Frage, ob sich das Sozialforum erneuern muss.
Abschlusskundgebung am Samstag in Tunis. Bild: reuters
TUNIS taz | Regen und Sturmböen zerrten an den zahlreichen Zelten auf dem Campus der El Manar-Universität in Tunis – erschwerte Bedinungen für das 12. Weltsozialforum (WSF). Doch die Globalisierungskritiker ließen sich nicht abschrecken. Knapp tausend Veranstaltungen und Workshops wurden angeboten, die meisten waren gut besucht, wenn auch mit vielleicht 40.000 Teilnehmern nur gut die Hälfte der angekündigten Beteiligung erreicht wurde.
Wie immer bei dieser Großveranstaltung der weltweiten sozialen Bewegungen und der Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) war einiges chaotisch: Mal gab es keine Übersetzung, mal fanden Referenten und Zuhörer auf dem weitläufigen Uni-Gelände nicht zueinander.
Den Abschluss bildete am Samstagnachmittag eine Demonstration im Zentrum der tunesischen Hauptstadt. Offiziell als Solidaritätsmarsch mit Palästina angekündigt, dominierten Tunesien- und Palästina-Fahnen die Spitze des Zuges von rund 10.000 Aktivisten. Themenvielfalt war erst im hinteren Teil der Demonstration zu sehen.
Die Diskussionsergebnisse beim Abschlussforum zu bündeln, gelang allerdings kaum. Im Zentrum der Debatten standen Migrationspolitik, ungerechte Handelsstrukturen, Menschenrechte und der Klimawandel. Besonders stark diskutiert wurden regionale Fragen – Flüchtlingsprobleme, der Umgang mit autoritären Regierungen und die Frage, was aus dem Arabischen Frühling geworden ist. Auffällig war die Teilnahme Tausender junger Tunesier, für die das Forum offenbar eine Gelegenheit für intensiven Informationsaustausch war. Im Gegensatz dazu war die internationale Beteiligung geringer, vor allem asiatische Bewegungen waren kaum da und auch Lateinamerika wenig präsent.
Antisemitische Propaganda
Dennoch stellte sich in Tunis erneut die Frage, inwiefern Regierungen das Forum als Plattform zur Austragung nationaler Konflikte nutzen, denn gestritten wurde auch. Insbesondere einige Gruppen, die offenbar der algerischen Regierung nahestanden, provozierten bei aus ihrer Sicht unliebsamen Veranstaltungen. Frauenveranstaltungen wurden genauso gestört wie Workshops, die etwa Fracking-Projekte im Süden Algeriens kritisierten.
Zudem nutzten einige Gruppen die Vielfalt der Stände auf dem Campus für antisemitische Propaganda, so dass Sicherheitskräfte einzelne Stände räumten. Die nationalistischen Provokationen drückten bei vielen Teilnehmern die Stimmung und der Sinn der Weltsozialforen wurde in Frage gestellt. Vielen fehlt es schon seit Jahren an klaren politischen Linien, andere bemängeln, dass die Beliebigkeit der Inhalte dazu führe, dass sich Debatten nur wiederholen.
Auch im Internationalen Rat des WSF scheint es Konsens zu sein, dass sich das Weltsozialforum erneuern soll. Einige Mitglieder plädieren für kleinere, thematisch ausgerichtete Foren, andere wollen den Logistikaufwand vermindern und regionale Foren stärken. So unklar wie die Zukunft ist noch der Ort des nächsten WSF. Kanadische Gruppen wollen es 2016 ausrichten, aber auch aus Brasilien ist interessiert. | Andreas Behn | Etwa 40.000 Teilnehmer diskutieren Migrationspolitik, Menschenrechte und Klimwandel. Aber auch die Frage, ob sich das Sozialforum erneuern muss. | [
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Blühende Medina - taz.de | Blühende Medina
In Marrakesch werden traditionelle Häuser der Altstadt zu Hotels. Marokkanische Handwerker entdecken dadurch alte Traditionen wieder
VON CAROLINE DU BLED
Riads sind en vogue. Die uralten Häuser in der Altstadt von Marrakesch ohne Strom und Badezimmer schrecken zwar marokkanische Familien ab, europäische Investoren hingegen machen daraus Villen, die sie für wenig Geld erstehen und als Paradiese wieder verkaufen. Riad bezeichnet eigentlich einen arabischen Garten: einen Innenhof von hundert bis dreitausend Quadratmetern, an jeder Ecke eine Grünfläche mit mindestens einem Baum, meist ein Orangenbaum in der Mitte, eine Fontäne oder ein Wasserbecken, im ersten Stock eine Galerie und eine Dachterrasse. Fehlt eine dieser Bedingungen, sprechen die Marokkaner von Dar, arabisch für Haus. Die meisten Häuser in der Medina von Marrakesch sind zu klein, um genügend Platz für die kleinen Gärten zu bieten. Dennoch wird kaum auf sie verzichtet. Denn die Gärten und Brunnen sind Symbole des Paradieses in der muslimischen Kultur.
Mit der Wiederentdeckung der alten Herrenhäuser vor knapp zehn Jahren begann der Belgier Quentin Wilbaux. Er kaufte als Erster zerfallene Riads, um daraus Gästehäuser zu bauen. Bis dahin logierten nur wenige extravagante Franzosen, wie der Modedesigner Yves Saint Laurent, der Schauspieler Alain Delon oder der Philosoph Bernard Henry Lévy innerhalb der Mauern der Stadt. Kein Investor interessierte sich für Marrakesch und ihre zerfallene Medina. Noch waren die Riads spottbillig zu haben. Doch von elitärer Exotik zum großen Erfolg auf dem breiten Markt war es nur ein kleiner Schritt – spätestens als das französische Fernsehen die versteckten Paradiese zeigte.
Serge Meadow, Leiter der Agentur Riad au Maroc, erinnert sich: „Als 1999 die Sendung ‚Capital‘ einen Bericht über Marrakesch zeigte, wurde darin behauptet, dass man sich für 100.000 oder 200.000 Francs ein Palais in der Stadt kaufen könne. In der darauffolgenden Woche landeten Flugzeuge voll von potenziellen Käufern. Ich glaube, da hat diese Bewegung im großen Stil angefangen.“ Nach der Unterzeichnung des Vertrags und vor Genuss des Stücks Paradies sind lange und kostspielige Bauarbeiten notwendig. Die ein- bis dreijährige Bauzeit verdoppelt oder verdreifacht den Kaufpreis. Meist werden die original aus Lehm gebauten Wände niedergerissen und durch Beton ersetzt.
Um in dem Labyrinth enger Gassen, in denen nur Platz für einen einzigen Karren ist, die Umbauten durchführen zu können, werden alte Techniken genutzt. „Ich war verblüfft“, sagt Frau Zonca, Inhaberin des luxuriösen Riad Monika, „über die dutzenden Esel, die die Trümmer aus dem Haus transportierten.“ Mit keinen noch so großen finanziellen Mittel wird man je die Gässchen der Medina verbreitern können.
Sobald die Wände saniert sind, wird für die Innenarchitektur traditionelles Handwerk benötigt: Tadelakt, Stuck, Zellige. Know-how, das in Vergessenheit geriet, seitdem die einstigen Handwerker wegen der großen Nachfrage nach neuen Häusern Bauarbeiter geworden sind. Der Architekturnarr Abdellatif Ait Ben Abdallah zieht seit zwanzig Jahren durch die Medina. Er hat mehr als sechstausend Häuser besichtigt und fotografiert und war bei etwa dreißig Renovierungen nach traditionellem Bauhandwerk beteiligt. „Am Anfang habe ich die ganze Stadt durchsucht, um jemanden zu finden, der noch Tadelakt machen konnte. Nach ein paar Wochen habe ich einen siebzigjährigen Handwerkermeister aufgestöbert, der die Technik noch beherrscht.“ In den letzten Jahren wurden dem Nachwuchs die alten Handwerkstechniken mit Tadelakt, Zellige, Stuck, Holz und Eisen in der Werkstatt des alten Handwerkermeisters beigebracht. Das traditionelle Wissen ist vorläufig gerettet.
Gäbe es nicht das neue Interesse an renovierten Riads, wären die alten Techniken längst verschwunden. Ein Beispiel ist der Umgang mit Tadelakt. Der Kalk wird zuerst gesiebt und mit natürlichen Pigmenten gemischt. Nach einer Woche trägt der Handwerker den Kalkanstrich auf die Wände oder den Boden auf. Ist er getrocknet, durchtränkt er die Fläche mit schwarzer Seife und reibt sie mehrere Tage ein bis diese ganz aufgesogen ist. Das Geheimnis für eine schlagfeste und wasserdichte Fläche liegt in der Geduld und der Handfertigkeit des Arbeiters: Für einen zwölf Quadratmeter großen Raum brauchen zwei Arbeiter bis zu drei Wochen. Zellige sind aus Fez importierte bunte Fliesen, zerteilt in sehr kleine Drei- und Vierecke. Sie werden zu komplexen geometrischen Bildern zusammengefügt. Um alte Motive zu rekonstruieren, legt man Packpapier auf die alten Zellige und reibt sie dann mit frischer Minze ein: Das Motiv erscheint wieder wie frisch aufgedruckt.
Zehn Stunden Arbeit am Tag an sechs Tagen die Woche – für hundertsechzig Euro monatlich ist das traditionelle Handwerk alles andere als lukrativ. Doch die Arbeit ist gesichert, und alle Werkstätten in der Medina sind inzwischen wieder besetzt. Während manche Europäer um die Authentizität der Innenarchitektur besorgt sind, überladen andere das Innere der Häuser mit Dekorationen: Stuck, Holz und Zellige vermischen sich in geschmackloser Weise, und die Perfektion der ursprünglichen Architektur geht verloren. „Teppiche, Kissen, ab und zu eine Truhe. Mehr nicht“, beschreibt Abdellatif die traditionelle Einrichtung. Seine Dar Charifa aus dem 16. Jahrhundert ist ein Vorbild für Schlichtheit und erfolgreiche Renovierung. Was hinter den hohen Mauern passiert, bleibt verdeckt. Harmlos, wenn es nur um die Geschmacklosigkeit einiger Emporkömmlinge geht. Aber die Altstadt, die 1985 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde, ist so fragil wie ein Kartenhaus: Ein abgerissenes Haus gefährdet den gesamten Stadtteil.
Unkoordinierte und zu schnelle Wiederaufbauten von Riads haben zu einem absurden Resultat geführt: „Wenn man die Medina von oben betrachtet, ist sie ein Meer aus Beton“, bedauert Serge Meadow. Neunzig Prozent der Gästehäuser sind in europäischem Besitz, die Zimmer werden für bis zu dreihundert Euro pro Nacht vermietet. Dennoch hat der blühende Wirtschaftszweig, der eine Explosion des Handwerks mit sich brachte, Grenzen. Egal wie begehrt die Häuser sind, auf lange Sicht wird der Markt gesättigt sein. In ein paar Jahren könnte der Kauf eines Riads die finanziellen Erwartungen der Investoren nicht mehr erfüllen. Was wird dann aus den wiedererweckten Handwerkerberufen?
CAROLINE DU BLED ist Reisejournalistin und lebt in Berlin und Paris Die Agentur Riad au Maroc vermietet Zimmer in den schönsten Häusern in Marrakesch ab 45 Euro pro Nacht mit Frühstück. Das schönste ist das Riad Leila, www.riadomaroc.com, das allerdings kostet um die 125 Euro pro Nacht | CAROLINE DU BLED | [
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Auf der Sonneninsel: Die steinreiche Schöne - taz.de | Auf der Sonneninsel: Die steinreiche Schöne
Eine Wanderung auf der Insel Hvar: von ihrem höchsten Berg, dem Sveti Nikola, zum Meer. Grandiose Ausblicke auf schroffe Felswände und die grüne Inselwelt der Adria.
Insel Hvar. Hintergrund: Biokovo-Gebirge Bild: Ulrich Prokup
Dass es in Kroatien von "Heiligen" nur so wimmelt, lässt sich auf der Landkarte leicht überprüfen. Unzählige Berge und Orte gibt es, die den Beinamen "Sveti" - Heiliger oder Sankt - führen. Die Insel Hvar mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt bildet da keine Ausnahme. Hvar gilt zudem als die Sonneninsel Dalmatiens. Zweitausendsiebenhundert Sonnenstunden im Jahr versprechen die Reiseführer. Wandern kann man bis tief in den Herbst hinein.
Von ihrem höchsten Berg, dem Sveti Nikola (628 m), hat man einen wunderbaren Ausblick auf die Inselwelt rundum. Eine Wanderung vom Gipfel hinab nach Sveta Nedjelja, das übersetzt "Heiliger Sonntag" heißt, bringt eine Welt zwischen Felsen und Meer nahe.
"Fjaka", sagt Miloð, während er hinter Svirce den Bus über die Schotterpiste durch die engen Kurven bergwärts manövriert. "Fjaka" ist kroatische Umgangssprache und heißt "Entspann dich, nimms leicht".
Heiß brennt die Mittagssonne aufs Dach, und schon wieder hat einer den Wunsch angemeldet, zu halten, um Fotos zu machen. Fotos vom Gipfel des Sveti Nikola, der nun in Sicht kommt. Das Kreuz auf der Spitze glänzt im grellen Licht. Die prallen blauen Weintrauben machen sich gut vor dem kantigen Fels. Miloð hält an und lächelt. Bald ist sowieso die Fahrstraße zu Ende. Alle steigen dann aus und Miloð verabschiedet sich mit dem fahrbaren Untersatz Richtung Sveta Nedjelja.
Dort wird er auf die Gruppe warten. Die will auf einem Wanderweg die 628 Meter absteigen zu dem kleinen Ort auf der Landzunge, den man umspült von den Wellen des Mittelmeeres tief unten erkennt. Doch vorher gehts noch die wenigen Meter hoch zum Gipfel. Über blanke weiße Steine. Berühmt gewordene Steine, die überall auf Hvar anzutreffen sind. Sie bedecken auch den Boden am zentralen Treffpunkt der Einheimischen, dem Platz des Heiligen Stefan in der Stadt Hvar.
Piazza in Hvar-Stadt Bild: Ulrich Prokup
Es handelt sich um einen marmorähnlichen Kreidekalkstein, der auch auf den Nachbarinseln vorkommt und bis heute exportiert wird. Der Berliner Reichstag, das Weiße Haus in Washington, das Budapester Parlament "glänzen" mit diesem Gestein. Ein Gestein, das sich am Gipfel des Sveti Nikola nur so türmt.
Seit 1996 thront dort oben mitten im weißen Fels auch ein weißes Gipfelkreuz. Man weihte es - ebenso wie die kleine Kapelle - dem heiligen Nikolaus, dem Patron der Seeleute. Die See aber, die glitzert an diesem Tag so harmlos im Mittagssonnenlicht, dass sich wohl auch der Schutzheilige genüsslich zurücklehnen kann.
Wie träge Krokodile winden sich die Insel Korcula und die Halbinsel Peljeðac grün und langgestreckt in der tiefblauen Adria. Auf der anderen Seite liegt die Insel Brac. Man erkennt das Gipfelkreuz des Vidova Gora (780 m), des höchsten Berges der dalmatinischen Inselwelt. Direkt zu Füßen von Hvar liegt Pakleni otoci, eine Ansammlung buchtenreicher Winzlinge, außerdem die kleineren Inseln Ðcedro und Ðolta. Im Hintergrund am Festland erhebt sich steil und für Durchschnittswanderer ziemlich unnahbar das Felsmassiv des Biokovo-Gebirges.
Der Abstieg ist voller Überraschungen. Da trifft man zum Beispiel auf Gospa od Zdravlja - eine kleine Kirche, die sich mitten in eine Steinwüste verirrt zu haben scheint. Ein Einwohner von Sveta Nedjelja, der nach Amerika auswanderte, ließ sie bei seiner Rückkehr bauen - zum Dank dafür, dass er den Trip nach Übersee gut überstand.
Nach dem Gotteshaus mitten im Steinfeld verläuft der Wanderweg weiter als schmaler, steiler Pfad. Grandios sind die Ausblicke gegen schroffe Felswände und immer wieder hinunter auf den einsamen Ort Sveta Nedjelja, der auf einer kleinen Halbinsel liegt. Üppig behangene Weinreben tauchen auf - mitten im Fels: gerade recht für eine kleine Stärkung. Nun sieht man das Gipfelkreuz des Sveti Nikola von der anderen Seite.
Nach zahlreichen Schlenkern des abwärtsstrebenden Felspfades taucht linker Hand oben am Berg eine Felshöhle auf. Augustiner kamen im 15. Jahrhundert auf die originelle Idee, sich in diese Einöde zurückzuziehen. Bis 1787 hielt es der Orden hier aus. Ein kleiner Abstecher führt zu den Überresten ihres Refugiums. Es ist jetzt nicht mehr weit nach Sveta Nedjelja.
Nur 200 Menschen leben hier. In der engen Gasse bei der Kirche wartet ein Lastesel mit Holzbündel auf dem Rücken darauf, dass er losgehen kann. Daneben nimmt sich der Bus von Miloð wie ein Exot aus. Zwei Stunden musste der Fahrer sich gedulden. Restaurants hatten leider keine geöffnet. Fjaka, Miloð, take it easy! | Kornelia Stinn | Eine Wanderung auf der Insel Hvar: von ihrem höchsten Berg, dem Sveti Nikola, zum Meer. Grandiose Ausblicke auf schroffe Felswände und die grüne Inselwelt der Adria. | [
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Denn gemeinsam sind wir stärker - taz.de | Denn gemeinsam sind wir stärker
BEWEGUNG Der Verein Netzwerk Selbsthilfe fördert seit über 30 Jahren linke Projekte in Berlin und Brandenburg. Zuletzt unterstützte das Netzwerk das feministische Magazin „outside the box“
VON LUKAS DUBRO
Die Redaktion der Zeitschrift outside the box setzt sich für eine Gesellschaftskritik mit feministischem Blickwinkel ein. Im Dezember des letzten Jahres erschien die erste Ausgabe des zwischen Berlin und Leipzig entstandenen Magazins. Den Druck, so berichtet Pressesprecherin Nina Groß, habe der Berliner Verein Netzwerk Selbsthilfe ermöglicht. „Das Netzwerk hat uns sehr geholfen, nicht nur was die Finanzen anbetrifft“, berichtet sie.
Seit 1978 unterstützt der Verein linke und alternative Projekte in Berlin und Brandenburg mit Beratung, Vernetzung und Fördermitteln. Hervorgegangen aus dem berühmten Tunix-Kongress als Solidarfonds für vom Berufsverbot betroffene Menschen, finanziert sich der Förderfonds ausschließlich über Spenden- und Mitgliederbeiträge. „Und nicht über staatliche Gelder“, unterstreicht Katja Grabert, die seit dem Jahr 2001 für den Verein arbeitet.
Als eines der ersten geförderten Projekte erhielt die taz 1979 ein Darlehen, um sich davon die Anschaffung einer EDV-Anlage leisten zu können.
Zu den GründerInnen zählen unter anderem Rudi Dutschke, Otto Schily, Hans Magnus Enzensberger und Günter Wallraff. Derzeit zähle der Verein 550 Mitglieder und ehrenamtliche UnterstützerInnen.
Achtzig Projekte habe sie im vergangenen Jahr in den Räumen des Mehringhofs in Kreuzberg beraten, berichtet Katja Grabert. Dabei berate und unterstütze das Netzwerk Selbsthilfe in folgenden Bereichen: bei der Projektplanung, der Vernetzung mit anderen Gruppen, mit infrastruktureller Unterstützung der Projekte, durch die Bereitstellung von Computern, Räumen sowie Geld und Hilfestellung bei Problemen, die zum Beispiel eine Vereinsgründung mit sich bringen, wie etwa das Ausfüllen von Formularen.
„Die Atmosphäre von Berlin wird durch die vielfältigen alternativen Projekte geprägt“, erklärt Vorstandsmitglied Ralf Baumbach. Das Netzwerk wolle genau diese Projekte stärken. Ein wichtiges Kriterium für die Förderung sei, dass die Projekte nachhaltig, nicht kommerziell und selbstorganisiert seien und bisher keine Fördermittel von anderer Quelle erhielten, erklärt Vorstandsmitglied Ruben Wesenberg.
Diese Kriterien erfüllte das Projekt outside the box. Wie die AktivistInnen des RAW-Tempels, der Antisexistische Infoladen und viele andere Projekte wandte sich die Redaktion 2009 an das Netzwerk. An dem Magazin wirkten 10 RedakteurInnen mit, berichtet Groß. Das Projekt sei entstanden, weil „es kaum Magazine gibt, die feministische und linke Sichtweisen miteinander verbinden“, erklärt die Redakteurin. Es gebe bereits großen Zuspruch, sogar aus Österreich habe die Redaktion Bestellungen entgegengenommen.
Weil andere Förderfonds nur eingetragenen Vereinen zugänglich seien, habe das Kollektiv Netzwerk kontaktiert, mit Erfolg. Der Verein ermöglichte es durch eine Anschubfinanzierung, outside the box zu drucken. Als „unkompliziert“ beschreibt Groß die Arbeit des Netzwerks. Der Verein habe Groß und ihre Redaktion dabei unterstützt, in der Berliner Politszene Fuß zu fassen. „Das Netzwerk ist sehr bekannt in Berlin“, sagt Groß. Die Redaktion freut sich über die Zusammenarbeit mit dem Netzwerk und denkt auch an zukünftige Projekte, die mithilfe des Netzwerks umgesetzt werden können, zum Beispiel die Organisation von Debatten.
An der Zusammenarbeit mit outside the box lässt sich beweisen, dass der Verein einen wichtigen Teil zur politischen Szene der Stadt beiträgt. Das Netzwerk sucht immer nach neuen MitgliederInnen und UnterstützerInnen und freut sich natürlich auf weitere Projektanfragen.
■ Im Netz:
www.netzwerk-selbsthilfe.de www.outside.blogsport.de | LUKAS DUBRO | BEWEGUNG Der Verein Netzwerk Selbsthilfe fördert seit über 30 Jahren linke Projekte in Berlin und Brandenburg. Zuletzt unterstützte das Netzwerk das feministische Magazin „outside the box“ | [
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■ Der Grüne Klaus Müller zum Schröder/Blair-Papier: Nicht neoliberal, nur oberflächlich - taz.de | ■ Der Grüne Klaus Müller zum Schröder/Blair-Papier: Nicht neoliberal, nur oberflächlich
Das Timing war gut, der (Wahl-)Erfolg miserabel. Eigentlich hatte die Blair/Schröder-Initiative durchaus internationalistischen Charme: Gerade die Linke hat doch immer wieder beklagt, daß es zuwenig europäische Diskurse gebe.
In der Hoffnung, sich noch schnell an den vermeintlichen Wahlerfolg der „Neuen Mitte“ anzuhängen, ergoß sich Guido Westerwelle in Lobes- und Neidhymnen zugleich: Die Thesen seien eine billige Kopie seines FDP-Programms. Genutzt hat es ihm nichts, falsch war es obendrein. Wer sich die Mühe macht, das Papier bis zum Ende durchzulesen, und über die Floskeln hinwegsieht, kommt zu einem anderen Schluß: Schröder bekennt sich zu Rot-Grün.
Fünfmal proklamiert das Papier die Senkung der Lohnnebenkosten mit Hilfe von Umweltsteuern. Blair und Schröder erläutern sowohl die umweltpolitischen Ziele als auch die arbeitsmarktpolitische Dimension. Insbesondere Blair hat hier mehr als nur schöne Worte zu bieten. Großbritannien hat bereits unter Major einen „tax escalator“, einen jährlichen Anstieg der Mineralölsteuer beschlossen, den New Labour noch mal verschärft hat. Genau das will auch Rot-Grün. Inkompatibel mit der FDP, die die ökologische Steuerreform als „unmodern“ ablehnt.
Beide Sozialdemokraten plädieren für „gezielte Maßnahmen für die, die am meisten von Marginalisierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind“. Das „Sozialsystem soll Initiative und Kreativität fördern und neue Spielräume öffnen“. Wenn man diese Kriterien ernst nimmt, dann dürfte die Untauglichkeit der deutschen Sozialhilfe mit ihren bürokratischen und entwürdigenden Regeln offensichtlich sein. Der rot-grüne Koalitionsvertrag bekennt sich zur schrittweisen Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung. Sie ist zielgenau, fördert durch pauschalierte Unterstützung Eigeninitiative und ebnet durch geringe Anrechnung auf das Arbeitsentgelt den Einstieg in die Erwerbstätigkeit.
Größtes Anliegen der FDP waren immer Steuersenkungen. Ihre „neuen“ Bremer Beschlüsse senken die Steuerlast für Besserverdienende, erhöhen sie aber für Geringverdienende. Das Blair/Schröder-Papier will hingegen Investititonsanreize schaffen. Das heißt, nicht die private Gewinnentnahme (Shareholder Value) wird gefördert, sondern die einbehaltenen Gewinne, die zur Reinvestition im Unternehmen verbleiben. Die FDP läuft schon Sturm dagegen.
Eine hohe Staatsverschuldung ist unsozial. Sie verteilt Steuereinnahmen an die Besitzer von Wertpapieren, kurz „von unten nach oben“. Tony Blair hat durch die Erhebung der Einmalsteuer für privatisierte Staatsbetriebe direkt nach Amtsantritt für die finanziellen Mittel seiner Bildungspolitik gesorgt. Eichels Sparpaket muß seine soziale Ausgewogenheit noch unter Beweis stellen, das bereits beschlossene Steuerentlastungsgesetz hat jedoch vor allem Familien und Geringverdiener entlastet. Bereits jetzt zeichnen sich trotz der Rasenmähersparmethode drei finanzielle Schwerpunkte ab: Bildung, Familien sowie kleine und mittlere Unternehmen werden zu den Gewinnern des Reformpaketes gehören.
Das Dialogversprechen des Papiers scheint am deutlichsten im Widerspruch zur bisherigen Realität von Rot-Grün zu stehen. Die Steuerreform, das 630-Mark-Gesetz und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurden ohne öffentlichen Diskurs durchgesetzt. Ein Defizit, das wir mit der alten Regierung teilen; ein neuer Stil wird maßgeblich über den Erfolg der kommenden Reformprojekte entscheiden.
Zweifelsohne fehlen wichtige Themen bei Blair und Schröder, etwa die Integration von ZuwanderInnen oder eine nachhaltige Ökologisierung. Man kann ihr Papier für seine Oberflächlichkeit kritisieren, es als neoliberal zu deklarieren wertet die Westerwelle-FDP auf und verkennt die Chancen des Papiers für Rot-Grün. Klaus Müller
Finanzpolitischer Sprecher der Bündnisgrünen | Klaus Müller | [
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Wer die Leier hob auch unter Schatten - taz.de | Wer die Leier hob auch unter Schatten
Morgen wird in London der 17. Turner Preis verliehen. Die Werke der vier nominierten Künstler waren wie immer zuvor in der Tate Gallery zu sehen
von HOLM FRIEBE
Wieder einmal wird die inzwischen wohl bedeutendste Ehrung in Sachen bildender Kunst als spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen inszeniert – „oft kontrovers, manchmal schockierend, niemals weniger als faszinierend“, wie es vollmundig im Begleitheft zur Ausstellung heißt. Wieder überträgt Channel 4 das Ereignis als abendfüllendes Event und lässt diesmal eigens Popstar Madonna einfliegen, den mit 20.000 Pfund dotierten Preis zu übergeben.
Damit soll endgültig auch das ganz junge Publikum für die Kunst begeistert werden. Damit ist aber auch endgültig klar, dass der Turner Preis längst die Sphären des reinen Kunstsachverstandes verlassen hat und in die der Klientelpolitik eingetaucht ist.
Die Vergabe ist, wie schon in den vergangenen Jahren, ein Politikum, das um Repräsentanz von Minderheiten im öffentlichen Raum kreist. Daneben geht es darum, die sich pluralisierenden Strömungen innerhalb der bildenden Kunst abzubilden und in zeitlicher Abfolge gerecht zu bedenken – eine fast unlösbare Aufgabe.
Die klassische Tafelmalerei, wie sie der namensgebende Landschaftsmaler William Turner betrieb, ist dieses Jahr vollends hintenüber gefallen. Statt dessen werden die neueren Traditionslinien gepflegt, die sich bereits in den letzten Jahren als erfolgreich und publikumsträchtig abzeichneten: Für den Bereich Fotografie ist Richard Billingham nominiert, der mit seinen großformatigen Plattenfotografien von unspektakulären Orten in Großbritannien an die derzeit weltweit populären Becher-Schüler erinnert und anderererseits direkt in die Fußstapfen des letztjährigen Preisträgers Wolfgang Tillmans tritt.
Gleichzeitig verfügen Billinghams intime Schnappschüsse seiner subproletarischen Eltern, die auch schon in der genrestiftenden „Sensation“-Ausstellung zu sehen waren, über ein hohes Maß an ins Museum importierter sozialer Relevanz. Es ist jener drastische Sozialrealismus, der nicht erst seit Tracey Emins versifftem Bett aus der vorletzten Turner-Preis-Ausstellung als Merkmal der als unbequem apostrophierten Young British Artists (YBA) gilt. Darüber hinaus zeigt Billingham erstmals Videos, die in dieselbe Kerbe schlagen, wie die Großaufnahme der zuckenden Hände seines speedsüchtigen Bruders beim Playstation-Spielen.
Neben der Fotografie ist die Videokunst die andere vom Auswahlgremium stark gefeaturte neue Strömung. Nach Steve Mc Queen, der den Preis 1999 gewann, gilt der Videokünstler Isaak Julien nun als Favourit, jedenfalls bei den Buchmachern. Seine Videoinstallationen sind – ähnlich wie bei den 1999 ebenfalls nominierten Wilson-Zwillingen – gleichzeitig Rauminstallationen mit gesplitteten Großbildprojektionen: einmal zweigeteilt und achsensymmetrisch wie ein Rorschachtest, einmal dreiteilig wie ein Kirchenaltar.
Der eine Film ist ein skurriles Western-Roadmovie, das in einer homoerotisch aufgeladenen Swimmingpoolszene endet; der andere zeigt eine Fetischparty im pittoresken Ambiente des John-Soan-Museums. Markant sind die aufwendigen Inszenierungen: Es gibt richtige Kinoabspänne, in denen alle Beteiligten bis hin zum Bestboy erwähnt werden.
Anscheinend gemeindet sich die museale Kunst verstärkt das Genre des experimentellen Kurzfilms ein, was nur zu begrüßen ist, da dieses in zeitgenössischen Multiplexen – in Großbritannien zumal – längst nicht mehr vorkommt. Julien ist zweifellos einer der Vorreiter dieser Entwicklung und damit strategisch günstig positioniert.
Die klassische Außenseiterrolle fällt dagegen klar an den clownesken Minimalisten Martin Creed. Seine Installation „#227“ besteht aus nichts als einem großen Raum, in dem das Deckenlicht im Sekundentakt an- und ausgeht. Auf den ersten Blick eine provokante Arbeitsverweigerung. Der Guardian zitiert Creed dementsprechend hämisch mit den Worten: „Immer wenn es angeht, aktiviert es den gesamten Raum, den es beansprucht, ohne dass etwas Physisches hinzugefügt würde, und ich mag das, weil es irgendwie ein großes Werk mit nichts vor Ort ist . . .“
Tatsächlich ist Creeds Ansatz ein philosophisch abgehangenes Gesamtkunstkonzept, das die extreme Skrupulösität zur Maxime erhebt. Schon die minimalste künstlerische Setzung stellt eine widernatürliche Überforderung des Künstlers dar. Mit Wittgenstein ist eine Entscheidung für etwas ja gleichzeitig immer die Entscheidung gegen alles andere, was man im selben Raum in der selben Zeit hätte anstellen können. Warum also dies und nicht das? Creed scheint auf dieser basalen ersten Stufe der Kunstproduktion eingerastet zu sein und schlägt daraus mitunter humoristische Funken. Erklärungsbedürftig, gewiss, und nicht jedermanns Sache.
Der vierte Kandidat ist Mike Nelson, der mit seinen minutiösen architektonischen Nachahmungen von Interieurs das spannende Konzept von Ilja Kabakov oder Gregor Schneider vertritt und fortsetzt. An einer schummerigen Pförtnerloge vorbei gelangt man durch einen labyrinthischen Gang in ein undefinierbares Lager, das Requisitenraum, Asservatenkammer oder Luftschutzbunker sein könnte. Nicht nur das in einer Ecke liegende Boulevardblatt mit der ganzseitigen Headline „WAR!“ löst Beklemmungen beim Betrachter aus und gibt dem Raum etwas von Endzeitstimmung.
Obwohl Nelsons Labyrinth das subtilste und vielleicht eindrücklichste Werk der diesjährigen Auswahl darstellt, taucht er in der öffentlichen Diskussion um den Turner Preis kaum auf, und seine Wahl wäre eine echte Überraschung. Das mag daran liegen, dass selbst der Zugang durch eine unscheinbare Sicherheitstür so authentisch wirkt, dass viele Besucher es schlicht übersehen. Ein weiteres Ausschlusskriterium: Selbst die Pressestelle der Tate Gallery hielt es nicht für nötig, Bildmaterial zu Nelsons Werk mitzuschicken. Schade eigentlich. | HOLM FRIEBE | Morgen wird in London der 17. Turner Preis verliehen. Die Werke der vier nominierten Künstler waren wie immer zuvor in der Tate Gallery zu sehen | [
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Sudans Jugend demonstriert gegen Militärs: Die Straßen des Protests - taz.de | Foto: EPA-EFE
Sudans Jugend demonstriert gegen Militärs:Die Straßen des Protests
„Madaniya!“, Zivilregierung! Mit diesem Ruf leisten Menschen in Khartum Widerstand. Auch drei Jahre nach der Dezemberrevolution.
Ein Artikel von
Saskia Jaschek
19.12.2021, 18:43
Uhr
An einer Straßenkreuzung in der sudanesischen Hauptstadt Khartum versammelt sich nach Sonnenuntergang ein Gruppe junger Männer. Sie haben Autoreifen, Stöcke und leere Wasserkanister dabei. Einige legen die Reifen in die Mitte der Kreuzung und zünden sie an. Schwarzer beißender Qualm steigt in die Luft. Der Verkehr auf der Straße verlangsamt sich. Andere Männer trommeln auf ihren leeren Kanistern. Sie singen: „Die Menschen sind stärker, es gibt keinen Weg zurück!“
Zwei junge Männer verteilen Flugblätter. Mehr und mehr Menschen versammeln sich. Autos hupen und Passant:innen rufen „Madaniya!“, zu Deutsch: Zivilregierung. Nach einiger Zeit ziehen die jungen Männer mit ihren Trommeln singend weiter durch die Straßen der Fünf-Millionen-Stadt. Viele Menschen kommen aus den Häusern, schauen, gehen ein Stück mit, stimmen in die Gesänge ein.
Die jungen Männer mobilisieren zum „Miliyuniya“, dem Millionenmarsch, der am nächsten Tag stattfinden soll. Solche Demonstrationen finden mittlerweile wöchentlich in Khartum statt. Meist verlaufen sie friedlich, bis Polizei und Militär gewaltsam eingreifen.
Die jungen Männer betonen, dass in ihrem Stadtteil bisher noch niemand bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gestorben ist. „Wir sind anders als die anderen Revolutionäre“, sagt einer von ihnen stolz. „Wir sehen die Soldaten trotz allem als unsere Brüder an, wir reden mit ihnen, manchmal geben wir ihnen zu essen und trinken, um ihnen zu zeigen, dass wir alle zusammen in diesem Land leben können.“
Es ist ihm wichtig hervorzuheben, dass sich ihr Kampf allein auf die Selbstverteidigung beschränken würde. Denn ganz unvorbereitet gehen sie nicht zur Demonstration. Die Teilnehmer tragen medizinische Masken und Schwimmbrillen gegen das von der Polizei versprühte Tränengas. Manche von ihnen haben selbst genähte Lederhandschuhe dabei, mit denen sie die Tränengaskartuschen zurückwerfen, andere nehmen Steine und gelegentlich Molotowcocktails mit. Doch gegen die mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Soldaten und Milizionäre können sie nur wenig ausrichten.
Der Aufstand gegen den Diktator und die Folgen
Einen Tag später, nach der großen Demonstration, hat der Stadtteil 13 Tote zu verzeichnen, darunter ein 14-Jähriger. Die Menschen sind wütend und traurig, scheinen aber zugleich noch entschlossener, den Kampf fortzusetzen. Es geht ihnen, so sagen sie, um die „Vollendung der Revolution“. Der 19. Dezember gilt als der dritte Jahrestag dieser „Dezemberrevolution“, der den langjährig diktatorisch regierenden Machthaber Omar al-Bashir hinweggespült hat.
Der Aufstand beginnt im Dezember 2018 mit einer Erhöhung der Brotpreise. In den Städten Damazin und Atbara kommt es zu ersten Protesten. Sudans 43 Millionen Einwohner leben zur Hälfte in absoluter Armut, Verteuerungen von Grundnahrungsmitteln bedeuten für sie Hunger – derweil kontrolliert die regierende Elite um Diktator Bashir den größten Teil der Wirtschaft. Das Bashir-Regime hat ein System entwickelt, das nur einigen wenigen erlaubt, Teil einer vorwiegend arabisch-muslimischen Oberschicht zu sein. Die Mehrheit der Bevölkerung ist davon ausgeschlossen.
„Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit. Die Zivilregierung ist die Entscheidung der Menschen“ Foto: EPA-EFE
Die Proteste breiten sich rasch aus. Es geht bald nicht länger nur um wirtschaftliche Forderungen. Im April 2019 setzt das Militär Omar al-Bashir ab. Doch das genügt der Bevölkerung nicht, der Aufstand geht weiter. Die Millionenmetropole Khartum wird über Wochen durch Demonstrationen nahezu vollständig blockiert.
Am 3. Juni 2019 lösen Soldaten ein Sit-in vor dem Militärhauptquartier unter dem Einsatz von Schusswaffen auf. Mindestens 120 Menschen kommen ums Leben, Unzählige werden verletzt und vergewaltigt, bis heute gelten viele als vermisst.
Sudan: von der Diktatur zur Revolution
Die Bashir-Diktatur
Am 30. Juni 1989 ergreift Oberst Omar Hassan al-Bashir die Macht in Sudan an der Spitze einer von Islamisten unterstützten Militärjunta. Sein Regime unterdrückt die zivile Opposition, führt Krieg gegen Befreiungskämpfer im Süden und schlägt ab 2003 auch in der Region Darfur Aufstände nieder, den die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs als Völkermord bezeichnet. 2011 wird Südsudan in die Unabhängigkeit entlassen, Bashir gerät im Rest Sudans immer mehr unter Druck.
Die Revolution
Am 19. Dezember 2018 beginnen Demonstrationen gegen hohe Brotpreise. Daraus werden Massenproteste gegen das Bashir-Regime. Am 11. April 2019 setzen Sudans Generäle Bashir ab. Mit der Protestbewegung auf der Straße einigen sie sich später auf eine zivil-militärische Übergangsregierung.
Neuer Putsch, neue Proteste
Am 25. Oktober 2021 setzt General Abdel Fattah al-Burhan den zivilen Premierminister Abdallah Hamdok ab und löst die Übergangsregierung auf. Angesichts internationaler Sanktionen wird Hamdok vier Wochen später wieder eingesetzt. Die Demokratiebewegung mobilisiert nun erst recht für einen kompletten Rückzug der Generäle von der Macht.Tränengaseinsatz am SonntagAm diesem Sonntag, dem Jahrestag des Protestbeginns, gehen in Khartum Zehntausende mit dem Ruf „Das Volk will den Sturz Burhans“ auf die Straße. Die Polizei setzt Tränengas gegen die Demonstranten ein. (taz)
Doch auch das kann die Proteste nicht stoppen. Im August desselben Jahres einigen sich schließlich Militärs und Zivilgesellschaft auf eine Verfassungscharta. Eine Übergangsregierung wird gegründet, die zur Hälfte aus einer technokratischen Zivilregierung unter der Leitung des Premierministers Abdalla Hamdok besteht, zur anderen Hälfte aus einem Militärrat, geführt von General Abdel Fattah al-Burhan. Die Ziele: das Land ordnen, politische Strukturen aufbauen und die Wirtschaft stärken. Am Ende der Übergangsperiode winken für das Jahr 2022 freie Wahlen.
Viele Menschen auf der Straße fühlen sich verraten
Tatsächlich entwickelt sich ein Machtkampf zwischen den über einhundert verschiedenen Parteien des Landes, deren Anhänger:innen nun darauf hoffen, endlich aus der Opposition heraus an lukrative Regierungsposten zu gelangen. Viele der Revolutionär:innen, die zuvor auf der Straße ihr Leben riskiert hatten, sehen sich verraten. Sie wollten einen „neuen Sudan“, stattdessen erleben sie ein Ringen der alten politischen Kräfte. Zudem verschärft sich die wirtschaftliche Krise, Inflation und Arbeitslosigkeit steigen.
Doch auch innerhalb der revolutionären Kräfte gibt es Unstimmigkeiten. So spaltet sich der Gewerkschaftsbund „Sudanese Professional Association“. Der an der Übergangsregierung beteiligte Parteienzusammenschluss FFC (Kräfte für Freiheit und Wandel) wird von Grabenkämpfen zerrüttet. Am 25. Oktober dieses Jahres greift das Militär erneut nach der Macht. General Burhan putscht, Premierminister Abdalla Hamdok wird unter Hausarrest gestellt.
Protestszene aus Khartum, November 2021 Foto: EPA-EFE
Das ist allerdings kein besonders kluger Schachzug des Militärs, denn Hamdok erlangt nun kurzzeitig eine Art Heldenstatus. Überall auf den Straßen von Khartum finden sich seine Bilder, gepaart mit der Forderung nach seiner Freilassung. Die Militärs haben den Widerstand der Straße unterschätzt. Noch am Tag des Putsches entwickeln sich spontan erste große Proteste, die das Militär trotz drastischer Maßnahmen nicht in den Griff bekommt. Das Internet wird gleich über drei Wochen abgeschaltet, Telefonverbindungen an Protesttagen gekappt. Die Demonstrationen gehen dennoch weiter.
Am 21. November wird der Premierminister von General Burhan wieder in sein Amt eingesetzt. Abdalla Hamdok unterzeichnet ein neues Abkommen mit den Militärs. Doch auch das betrachtet die Protestbewegung nicht als einen Sieg, sondern sieht darin eine Verfestigung des Putsches. Hamdok verliert damit schlagartig an Rückhalt. Viele sehen ihn nun als einen Verräter, manche denken, er verfolge einen Plan. Das Gesicht der Revolution ist er jedenfalls nicht mehr.
Für eine reine Zivilregierung
Anders als zu Beginn des sudanesischen Aufstands geben sich die Protestierenden heute nicht mehr mit dem Kompromiss einer zivil-militärischen Übergangsregierung zufrieden. Sie wollen eine reine Zivilregierung, ohne Einmischung des Militärs, und sie sind entschlossen, so lange auf der Straße zu bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Bis heute.
Ein- bis zweimal wöchentlich wird nun in Khartum demonstriert. Aber was heißt demonstrieren? Es sind eher Festzüge, detailreich geplant. Mittags gegen 13 Uhr sammeln sich kleine Gruppen an zuvor festgelegten Orten. Eine Gruppe stimmt revolutionäre Gesänge an, andere Menschen kommen zusammen und bilden gemeinsam einen Protestmarsch, der einer zuvor vorgegebenen Route folgt. Am Ende vereinigen sich häufig verschiedene Proteste an einem zentralen Ort. Dort gibt es Kundgebungen, politische Gedichte und Sprechgesänge sind zu hören. Während in der Menschenmenge gesungen und getanzt wird, werden an den Rändern Tränengasangriffe der Polizei abgewehrt.
Kinder singen Lieder wie: „Zivilregierung!? Jajajajaja! Militärregierung!? Oooooh, nein!“
Waren die Initiator:innen früher vornehmlich Aktivist:innen aus dem gebildeten Mittelstand, so nehmen nun vermehrt auch solche Menschen an den Demonstrationen teil, die in Sudan „die Straße“ genannt werden. Am ersten großen Protest nach dem Putsch beteiligten sich Menschen aller sozialen Schichten und Altersklassen, Männer und Frauen. Sogar ganze Familien sind unterwegs, Kinder singen Lieder wie: „Zivilregierung!? Jajajajaja! Militärregierung!? Oooooh, nein!“ Bis das Militär immer brutaler reagiert.
In diesen Wochen sind es wieder größtenteils junge Menschen, die protestierend auf die Straße gehen. „Du musst rennen können“, erklärt eine junge Frau mit Kopftuch und zeigt auf ihre Sneakers. Für gewöhnlich trage sie kein Kopftuch, erklärt sie, aber das helfe, unerkannt zu bleiben, und sei zudem ein Schutz gegen das Tränengas.
Diese jungen Menschen, sie nennen sich „Shabab“ (die Jungen), sind unter dem Bashir-Regime geboren und aufgewachsen. Sie waren schon zu Beginn der Revolte die treibende Kraft der Straße. Der Unterschied ist: Heute sind auch viele Angehörige niedrigerer sozialer Schichten unter ihnen, die in diesem Land keine aussichtsreiche Zukunft haben, weil sie nicht über die Mittel verfügen, um auf eine Privatschule zu gehen und im Ausland zu studieren. Soziale Chancengleichheit ist zu einem weiteren Motiv der Protestbewegung geworden.
Ahmed, dessen vollständiger Name hier nicht genannt werden kann, ist Anfang zwanzig und stammt aus der Krisenregion Darfur im Westen Sudans. Schon als Kind floh er mit seinen Eltern nach Khartum. „Die alte Regierung hat bestimmt hundert Menschen aus meiner Familie getötet“, sagt er. Bei den Protesten gegen den Putsch habe er einen engen Freund verloren. „Ich stehe hinter dem Frieden, aber ich schwöre, würde Burhan vor mir stehen, ich würde ihn töten“, so äußert sich Ahmed über den Chef der Militärs.
Die Grausamkeiten des sudanesischen Militärs in Darfur finden langsam Eingang in das kollektive Gedächtnis der Protestierenden in Khartum, wo sie lange kaum Beachtung fanden. Sie singen: „Wo ist der Frieden, wenn Darfur blutet?“ 30 Jahre lang hat das Bashir-Regime die ethnische Spaltung Sudans vorangetrieben. Dies zu überwinden gehört ebenfalls zu den Zielen der Protestbewegung.
Die Koordination der Proteste in Khartum übernehmen sogenannte Widerstandskomitees. Sie bemühen sich darum, unter der Bevölkerung ein Bewusstsein für politische Themen zu schaffen. Bei Diskussionsrunden oder Filmabenden innerhalb der Nachbarschaft wird darüber debattiert, wie man politische Forderungen in Realpolitik umgesetzten könnte, welche Einflüsse geopolitische Mächte auf den Sudan haben oder wie es innerhalb der eigenen Reihen zu Entscheidungsfindungen kommen kann.
Widerstandskomitees mobilisieren für Märsche, fachen direkte Aktionen an und rufen zu zivilem Ungehorsam auf
Die Widerstandskomitees sind Graswurzelorganisationen, die ihren Ursprung in den Protesten des Jahres 2013 haben, als vom Arabischen Frühling inspirierte Proteste in Khartum mit Gewalt niedergeschlagen wurden. Die Komitees geben Informationen weiter und mobilisieren Menschen für Märsche, fachen direkte Aktionen an und rufen zu zivilem Ungehorsam auf. Zuletzt konzentrierten sich viele von ihnen darauf, logistische Probleme in ihren Nachbarschaften zu lösen, etwa für ausreichend Brot und Wasser zu sorgen. Damit erreichen die meist sehr jungen Protestierenden auch Menschen, die schon etwas älter sind oder sich nicht als Teil der Bewegung verstehen. Zivile Strukturen entstanden, Vertrauen wurde aufgebaut.
Dass das gefährlich ist, hat das Militär erkannt, Viele Mitglieder der Komitees sind inhaftiert worden. Doch die flachen Hierarchien ermöglichen es, die Arbeit fortzusetzen. „Sie funktionieren wie die Hydra“, sagt ein Student, dessen Name hier nicht genannt werden kann. „Wenn sie einen verhaften, kommen zwei nach.“
Es ist ein Merkmal dieser Bewegung, dass sie keiner Führungspersonen bedarf. Zwar gibt es Sprecher:innen, die hervortreten, auch Influencer:innen auf den sozialen Medien. Aber insgesamt zeichnet sich dieser Widerstand durch seine horizontale Organisation aus und bildet damit nicht nur einen klaren Gegenentwurf zu Militär und Diktatur, sondern macht Basisdemokratie für die junge Generation erstmalig leb- und erfahrbar.
„Die Straße“ besteht aus mehr als den jungen Menschen, die körperlich in ihr in Erscheinung treten. Sie ist auch das Netzwerk um sie herum, die Nachbar:innen, Freund:innen und Familie, die Diaspora. Ob Kommunikation über Social Media, finanzielle und materielle Unterstützung für die Protestierenden, Versorgung der Verwundeten oder Hilfe für Hinterbliebene – die Möglichkeiten der Teilhabe sind vielfältig.
Nicht nur in Khartum, auch in anderen Teilen des Landes wird protestiert. Die Widerstandskomitees sind landesweit vernetzt. Sie folgen einem gemeinsamen Eskalationsplan, der pünktlich zum Jahrestag am 19. Dezember in neuen Großprotesten gipfeln soll.
„Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“
„Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“, unter dieser Parole sind die Ziele der Bewegung genannt. Dazu zählen Rede- und Religionsfreiheit, politisches Mitspracherecht, das Recht zur selbstständigen Gestaltung des eigenen Lebens. Der Traum ist ein friedliches Zusammenleben ohne Rassismus oder religiöse Diskriminierung, ohne Gewalt durch Sicherheitsbehörden und ohne staatliche Unterdrückung, ohne Diktatur, ohne Islamismus.
Vielen Aktiven in den Widerstandskomitees gefällt die Idee eines föderalen Systems für Sudan, da es der ethnischen Vielfalt im Land entgegenkommen könnte. Eine weitere Idee ist die Gründung einer eigenen Revolutionspartei, sodass sie ihre Forderungen nach einer demokratischen Wahl selbst in die Tat umsetzen können. Auf andere politische Kräfte möchte man sich jedenfalls nicht mehr verlassen.
Vereint ist die heterogene Bewegung durch einen gemeinsamen Feind: das Militär. „Gib deinen Rücken nicht dem Militär, das Militär wird dich nicht beschützen! Gib deinen Rücken der Straße, die Straße wird dich nicht betrügen!“, so lautet einer der häufigsten Slogans bei den Millionenmärschen. „Die Straße ist ehrlich, sie beschützt dich. Das Militär hingegen tötet.“
Viele Teenager:innen stehen in den ersten Reihen der Proteste, werfen Tränengasbomben zurück und stellen sich vor die Soldaten, mit dem Wissen, womöglich erschossen zu werden. Fragt man die jungen Leute nach ihrer Angst vor dem Tod, lautet die Antwort immer wieder: „Allah hat den Zeitpunkt des Todes für jeden Menschen bereits festgeschrieben.“ Lieber, so sagen sie, wollten sie für die Revolution sterben, als ohne Zukunft am Leben zu bleiben.
Saskia Jaschek promoviert in Anthropologie und forscht derzeit in Sudan zu sozialen Bewegungen und gesellschaftlichem Wandel | Saskia Jaschek | „Madaniya!“, Zivilregierung! Mit diesem Ruf leisten Menschen in Khartum Widerstand. Auch drei Jahre nach der Dezemberrevolution. | [
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Internationale Wirtschaftsverflechtungen: Es hapert an der Umsetzung - taz.de | Internationale Wirtschaftsverflechtungen: Es hapert an der Umsetzung
Replik zum Gastkommentar „Neue europäische Handelsagenda“ von Robert Habeck und Katharina Dröge in der taz vom 21. Mai 2022.
„Handelsfremde“ Werte in einer globalisierten Welt: Containerterminal im Hamburger Hafen Foto: Daniel Reinhardt/dpa
Anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos haben Wirtschaftsminister Robert Habeck und Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge erklärt, wie sie sich die künftige EU-Handelspolitik vorstellen. Sie setzen damit einen wichtigen Impuls und erinnern zu Recht, dass die Welt auch vor Pandemie und Krieg weder intakt noch sicher war.
Die mangelnde Kohärenz unserer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik einerseits und der internationalen Wirtschaftspolitik andererseits trägt zu fatalen Abhängigkeiten und der Stärkung autokratischer Kleptokraten weltweit bei. Die Glaubwürdigkeit unserer propagierten Werte leidet, hierzulande wie im Globalen Süden.
Die Klarheit der Aussage von Habeck und Dröge, dass es keine Rückkehr zur alten vermeintlichen Normalität geben wird, ist daher wohltuend. Sie hat das Potenzial, die lähmenden Phänomene der Ignoranz einerseits und der Zukunftsangst andererseits überwinden zu helfen und sie in Mut und Lust zur kollektiven Kreativität umzuwandeln. Allerdings muss diese Lagebestimmung von allen Ressorts kohärent vertreten werden, um ihre Wirkung zu entfalten.
Was Habeck und Dröge als Leitgedanken für eine neue Handelspolitik anführen, bedarf einiger Präzisierung. Es geht um die Umsetzung der globalen Prinzipien der Vereinten Nationen, zu denen sich fast alle Staaten dieser Erde verpflichtet haben – allen voran die Menschenrechtscharta (193 Staaten), die völkerrechtlich verbindlichen Sozial- und Zivilpakte (160 bzw. 167), die 17 Nachhaltigkeitsziele (197), das Pariser Klimaabkommen (194), die verbindlichen ILO-Kernarbeitsabkommen (183) und die UN-Konvention gegen Korruption (UNCAC, 189).
Reform der WTO-Regeln
Nichts davon setzen die WTO oder unsere Investitions- und Handelsabkommen mit anderen Staaten durch. Diese mühsam ausgehandelten Werte wurden bisher als „handelsfremd“ deklariert und bestenfalls in Präambeln erwähnt, während der grenzüberschreitenden Wirtschaft mächtige Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen mitgegeben wurden. Es ist eine Parallelwelt der Wirtschaft entstanden.
Die WTO-Regeln bedürfen also dringend einer Reform. Ungewiss ist, wann dies gelingen wird. Die Corona-Impfstoffpolitik des Westens hat den Einigungswillen des Globalen Südens nicht gerade gefördert. Die laufenden E-Commerce-Verhandlungen tragen alle Zutaten, die alte Politik der Wirtschaftsmacht fortzusetzen, diesmal mit Daten als Rohstoff.
Wichtige Bausteine neuer Handelsregeln müssen Transparenz, Partizipation sowie die Bekämpfung von Korruption, Geldwäsche, organisierter Kriminalität und illegitimer Finanzflüsse sein, die alle feste Bestandteile der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und des UN-Nachhaltigkeitsziels 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ sind.
Warum dies so entscheidend ist, das wird angesichts der Auseinandersetzungen mit Russland überdeutlich. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie bezeichnet das Ziel 16 als Schlüsselziel zur Erreichung der anderen Ziele, vom Klima- und Umweltschutz bis hin zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Denn einen fairen Handel und ein level playing field können wir nur erreichen, wenn korrupte Konkurrenten den Wettbewerb nicht verzerren. Kaum ein anderes Ziel der Agenda 2030 kann so wirksam und so breit zur Nachhaltigkeit beitragen.
Daher ist eine Sorgfaltspflicht für Korruptionsbekämpfung ein Muss für eine gute Handelspolitik und ein effektives EU-Lieferkettengesetz. Auch handfeste Sanktionen im Falle korrupter Handelsgeschäfte dürfen kein Tabu sein. In ihrer Sondersitzung zur Korruptionsbekämpfung im Juni letzten Jahres rief die UN-Vollversammlung die UNCAC-Vertragsstaaten auf, ihre Hausaufgaben zu machen.
Zeitenwende auch im Handel
Auf die Mängel bei der juristischen Verfolgung von Straftaten im internationalen Handel weist Transparency in den „Exporting Corruption“-Berichten regelmäßig hin, eine aktuelle Recherche von Correctiv bestätigt dies auch für Deutschland. Angesichts der vielen Skandale hat Deutschland allen Grund, an sich selbst zu arbeiten und Integrität im Handel auch im Rahmen der G7-Präsidentschaft, innerhalb der WTO sowie der EU bei einzelnen Handelsabkommen voranzutreiben.
Habeck und Dröge erklären, dass man auch keine Scheu vor unilateralen Vereinbarungen haben sollte. In diesem Kontext muss es konkret etwa beim europäisch-kanadischen Handelsabkommen CETA möglich sein, zwischen befreundeten Demokratien wie Kanada und der EU eine Einigung für fairen Handel zu finden, die klare Maßnahmen gegen Korruption beinhaltet. Zwischen Kanada und den USA ist das der Fall.
Die EU hingegen hat zum Beispiel mit den transpazifischen Staaten Handelsabkommen ohne umfangreiche Antikorruptionsklauseln abgeschlossen. Außerdem darf es keine Schiedsgerichte entsprechend dem „ISDS-Modell“ geben, durch die wirtschaftliche Akteure überzogene Interessen außerhalb der nationalen Rechtsordnungen gegen einzelne Staaten durchsetzen können. Denn so wird dem Primat der Politik der Teppich unter den Füßen weggezogen. Folgerichtig schwindet dann das Vertrauen in faktisch entmachtete demokratische Institutionen.
Die Zeitenwende muss auch im Handel Einzug halten, die beste Orientierung dafür bieten die Vereinbarungen im Rahmen der Vereinten Nationen. Diese Grundsätze müssen ihren robusten Niederschlag in der Handelspolitik finden. Die Billigwirtschaft ist an ihrem Tiefpunkt angelangt. Die Zukunft der Investitionen und des Handels liegt in einem fair und nachhaltig regulierten Handelsregime, das zur Resilienz des Friedens, der Demokratie und der Wirtschaft beiträgt. Interessen und Werte müssen miteinander in Einklang gebracht werden. | Helena Peltonen-Gassmann | Replik zum Gastkommentar „Neue europäische Handelsagenda“ von Robert Habeck und Katharina Dröge in der taz vom 21. Mai 2022. | [
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Winterklausur der CSU in Kloster Banz: Söder kümmert sich jetzt - taz.de | Winterklausur der CSU in Kloster Banz: Söder kümmert sich jetzt
Wohnen, pflegen, abschieben: Markus Söder startet ins bayerische Wahljahr. Populistische Parolen vermeidet er. Hat sich da einer neu erfunden?
Gibt sich den Anschein eines Fürsorglichen, der nur das Land im Blick hat: Söder im Kloster Banz Foto: dpa
BAD STAFFELSTEIN taz | Das hätte man nicht von ihm gedacht: Da hat er das Amt noch gar nicht mal angetreten, und schon denkt Markus Söder wieder ans Aufhören. Zehn Jahre seien ja nun wirklich genug, meint der designierte bayerische Ministerpräsident. Deshalb schlägt er jetzt eine Verfassungsänderung vor, um die Amtszeit des Regierungschefs im Freistaat entsprechend zu begrenzen. Es gebe da ja auch in anderen Ländern eine „gute Form der demokratischen Tradition“, in den USA etwa oder Frankreich. Zehn Jahre seien eine gute Zeit, sagt der 51-Jährige. Und: „Was man in zehn Jahren nicht schafft, ist dann wahrscheinlich auch später nicht mehr möglich.“
Schon bei der Landtagswahl im Herbst möchte Söder mittels eines parallelen Volksentscheids die Zustimmung des Volkes dazu einholen. Die von SPD, Freien Wählern und Grünen scheint er schon zu haben. Der Wechsel gehöre zur Demokratie, sagt Söder – ein Satz, den man in Bayern öfter hört, allerdings eher von der Opposition. Schließlich regiert hier die CSU seit über 60 Jahren ohne Unterbrechung. Die Amtszeitbegrenzung sei ein Signal für mehr Demokratie, meint Söder, auch ein Signal nach Deutschland. Aber nein, als Ratschlag an die Kanzlerin, solle seine Initiative nicht verstanden werden.
Den Vorstoß macht der künftige Ministerpräsident gleich zu Beginn der Winterklausur der CSU-Landtagsfraktion in Kloster Banz und setzt damit schon mal die neue Tonart fest. Hier präsentiert sich ein Söder, den man so bisher nicht kannte; einer, der spätestens seit der krachenden Niederlage der CSU bei der Bundestagswahl eine bemerkenswerte Metamorphose durchgemacht hat. Als er merkte, dass das Ziel der Ministerpräsidentenwerdung nun doch in greifbare Nähe rücken würde, schaltete der ehemalige Polterer in den neuen Modus um, gab sich betont staatsmännisch, geradezu unüberhörbar leise. Seine Äußerungen waren wohl bedacht, fast schon diplomatisch.
„Bavaria First“, die von Horst Seehofer ausgegebene Parole, nein, das sei nicht sein Stil, verkündete er etwa, das habe etwas von Ausgrenzung. Oder: Es gebe nur einen bayerischen Ministerpräsidenten, keinen fränkischen oder oberbayerischen. Man müsse die Transparenz erhöhen, wieder näher an den Bürger ran; und natürlich zielt auch der überraschende Vorstoß der Amtszeitbegrenzung in diese Richtung.
Programmatisches Feuerwerk
Es soll nicht die Person sein, die im Vordergrund steht, und schon gar nicht die seine. Und natürlich fällt dabei immer wieder das Wort „Demut“, Söders neue Lieblingsvokabel. Im Machtkampf mit Noch-Ministerpräsident Seehofer dürfte er im Hintergrund durchaus eine maßgebliche Rolle gespielt haben, in der Öffentlichkeit hielt er sich zurück. Nur ein einziges Mal, es war bei der Landesversammlung der Jungen Union, ließ er sich hinreißen: Als die Parteijugend Schilder mit der Aufschrift „MP Söder!“ in die Kameras hält, stellt er sich neben sie und lobt sie als „Rückgrat in der Partei“.
Banz nun, das hat Söder mit seinem baldigen Vorgänger vorab so vereinbart, sollte sein erster großer Auftritt als Ministerpräsident in spe werden. Die Bühne in dem ehemaligen oberfränkischen Kloster gehört allein ihm. Seehofer schaute nur am Dienstag mal kurz vorbei, informierte die Abgeordneten über die Sondierungsgespräche in Berlin, und reiste noch am gleichen Tag wieder ab. Die Staatskanzlei rufe.
„Ausblick auf die Landtagswahl“ heißt der Tagesordnungspunkt schlicht, den die Fraktion für Donnerstag, 10 Uhr, angesetzt hat. Referent: „Staatsminister Dr. Markus Söder, MdL; Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2018“. Doch der Vortrag hat es in sich. Denn es ist ein programmatisches Feuerwerk, das Söder hier zündet.
„Wir können es schaffen“
„Bayern geht’s super, aber nicht jedem geht’s super in Bayern“, ist Söders Leitsatz. Als Ministerpräsident will er sich vor allem derer annehmen, denen es nicht so super geht. Söder, der Kümmerer – das ist das neue Bild, das der Franke von sich zeichnet und mit dem er in den Wahlkampf ziehen möchte – vor allem gegen die AfD, der auch in Bayern ein zweistelliges Ergebnis prognostiziert wird.
„Wir wollen einen Aufbruch, wir trauen uns und wir können es schaffen“, wird er von Teilnehmern der Sitzung zitiert. „Ziel muss sein: Wir interessieren uns nicht nur für uns, sondern wir kümmern uns um die Probleme der Menschen.“ Mittags tritt Söder dann gemeinsam mit Fraktionschef Thomas Kreuzer vor die Presse und präsentiert auch hier seinen „Zehn-Punkte-Plan“.
Das Programm, das sich Söder vorgenommen hat, ist Landespolitik pur. Ein Schwerpunkt: der angespannte Immobilienmarkt. Eine staatliche Wohnungsbaugesellschaft soll für 20.000 neue Wohnungen in Bayern sorgen, 4.000 davon sollen schon in den kommenden zwei Jahren entstehen, etwa auf dem Areal der Münchner McGraw-Kaserne. Aber auch der Hausbau soll mit einer Eigenheimzulage und einem Baukindergeld gefördert werden.
Die Zahl der Hospizplätze in Bayern will Söder verdoppeln, ein neues Landesamt für Pflege soll die Ausbildung koordinieren, wer Angehörige zu Hause pflegt, mit einem Landespflegegeld unterstützt werden. Den Öffentlichen Personennahverkehr will Söder „gesamtbayerisch“ denken und „total digital vernetzen“. Einheitliche Tickets in ganz Bayern, W-Lan in Bussen und Regionalbahnen stehen hier auf Söders Agenda – auch wenn er zugibt, dass das ein langfristiges Unterfangen sei.
Schnellere Abschiebungen und ein Bayern-BAMF
Bei der Forschung zum Thema Artenschutz soll Bayern einen Spitzenplatz einnehmen, Glyphosat will Söder noch schneller vom Acker verbannen als der Bund, und Start-Ups können sich auf ein „bürokratiefreies erstes Jahr“ freuen. Und in der Staatskanzlei soll es künftig einen Bürgerbeauftragten geben. Die Botschaft ist klar: Hier kommt einer, der nicht nur redet, sondern der auch was tut.
Natürlich fordert Söder auch mehr Polizeipräsenz in den Innenstädten oder schnellere Abschiebungen; eine eigene Zentralstelle für Asyl und Abschiebung, „eine Art Bayern-BAMF“, soll sie sicherstellen. Darüber hinaus soll es eine eigene, aus 500 Beamten bestehende bayerische Grenzpolizei geben.
Insgesamt 1000 neue Polizeistellen kündigt Söder dafür an. Es ist ein Spagat: Einerseits will Söder dem neuen Image des Landesvaters entsprechen, andererseits aber auch seinen bisherigen Markenkern nicht völlig aufgeben, um seine besonders treue Anhängerschaft bei der Stange zu halten.
Aber die ganz starken Sprüche, das ist offensichtlich, will er künftig zu einem großen Teil anderen überlassen. Generalsekretär Andreas Scheuer etwa oder dem Chef der CSU-Landesgruppe, Alexander Dobrindt, der sich jüngst als „konservativ-bürgerlichen Revolutionär“ in Szene gesetzt hat. Söder spricht stattdessen lieber von Bürgernähe und Empathie. Aber natürlich auch von der bayerischen Identität und davon, dass ihm Brauchtum und Tracht sehr wichtig seien. Und dann versichert der Franke einer Reporterin des Bayerischen Rundfunks noch, dass ihm die Lederhose sehr gut stehe. Sie dürfte demnächst häufiger zum Einsatz kommen. | Dominik Baur | Wohnen, pflegen, abschieben: Markus Söder startet ins bayerische Wahljahr. Populistische Parolen vermeidet er. Hat sich da einer neu erfunden? | [
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Mietendeckel Berlin: Showdown um den Mietendeckel - taz.de | Mietendeckel Berlin: Showdown um den Mietendeckel
In zwei Wochen will der Senat über den Mietendeckel entscheiden. Die Mietenbewegung ruft zur Großdemonstration auf.
Schon im April wurde für bezahlbaren Wohnraum demonstriert Foto: dpa
BERLIN taz | Kommt der Deckel oder kommt er nicht? Und vor allem: Kommt ein Deckel, der auch wirklich deckeln kann? Zwei Wochen vor der Senatsentscheidung zum Mietendeckel, die für den 15. Oktober angekündigt ist, wird um diese Fragen weiter gekämpft – mit zunehmend härteren Bandagen.
„Jetzt, wo es wirklich an die Substanz des spekulativen Immobilienmarkts gehen könnte, werden massive Gegenkampagnen aufgefahren“, sagt Jonathan Diesselhorst vom Bündnis Stadt von Unten am Montag. Verschiedene stadtpolitische Initiativen vom Berliner Mieterverein bis zur Enteignungskampagne haben zu einer Pressekonferenz geladen, auf der sie über die für Donnerstag geplante Mietendemonstration berichten, Motto: „Erst richtig deckeln, dann enteignen.“ Der entscheidende Zeitpunkt sei genau jetzt, sagt Diesselhorst: „Wir sehen, wie Teile des Senats Angst vor der eigenen Courage bekommen. Aber wir wollen einen echten Mietendeckel, und werden uns nicht mit einem verwässerten Beschluss zufrieden geben.“
Der Ende August veröffentlichte Referentenentwurf für einen Mietendeckel aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wurde gegenüber einem früheren, weitreichenderen Entwurf bereits in mehreren entscheidenden Punkten verändert. Zuungunsten der Mieter:innen, wie Franziska Schulte vom Mieterverein am Montag betont: „Dass ein Absenken der Miete nur noch auf Antrag und unter eng definierten Bedingungen möglich sein soll, wird dafür sorgen, dass sich gerade für die sozial schlechter gestellten Mieter:innen die Dinge nicht zum Besseren wenden werden“, sagt Schulte. Zudem sei die Kopplung der Absenkungsmöglichkeit ans Einkommen auch rechtlich bedenklich.
Hört man in diesen Tagen dem Regierenden Bürgermeister zu, ist allerdings schon fraglich, ob der Mietendeckel überhaupt eine Absenkungsmöglichkeit enthalten wird. „Wir werden keine Absenkungsmöglichkeit schaffen“, hatte Michael Müller (SPD) bereits vor zwei Wochen in einer Talkshow behauptet, in einem Interview bei Phoenix bekräftigte er diese Marschrichtung.
Die Absenkung ist derweil nicht der einzige strittige Punkt beim Mietendeckel. Auch die Tatsache, dass Modernisierungen, die bis zu 15 Jahre her sein dürfen, die erlaubten Mietobergrenzen erhöhen sollen, stößt unter anderem beim Mieterverein auf Ablehnung: „Diese Modernisierungen sind ja bereits in den Mietspiegel eingeflossen, der die Grundlage für den Deckel ist, zudem haben sie sich in den meisten Fällen längst amortisiert“, sagt Franziska Schulte. Der Mieterverein bezweifle, dass der aktuelle Entwurf Erleichterungen für die Mieter:innen bringen könnte: „Wir fordern deutliche Nachbesserungen vom Senat.“
Aufruf zum Kündigen
Die Seite der Vermieter bläst derweil ungeachtet der Frage, ob der Mietendeckel überhaupt in einer wirksamen Form kommen wird, weiter zum Angriff. In der Branchenzeitung Das Grundeigentum etwa werden Vermieter aufgerufen, bei Inkrafttreten eines Mietendeckels ihren Mietern fristlos zu kündigen. „Die richtige Strategie aus Eigentümersicht ist deshalb, zu überlegen, welche Mieter am Tag des Inkrafttretens des Mietendeckelgesetzes gekündigt werden sollen, weil man unter den neuen gesetzlichen Vorgaben an sie nicht vermietet hätte, und diese Kündigungen dann auszusprechen“, führt der Berliner Mietrechtsanwalt Tobias Scheidecker im entsprechenden Artikel aus.
Aus der Immobilienwirtschaft heraus wird derweil eine wohlklingend benannte Kampagne nach der anderen gestartet: Der Zusammenschluss „Berlin kann mehr“ gibt sich mit dem Aufruf „Mut statt Wut“ das Aussehen einer Bürgeriniative, der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen macht schon länger unter dem Motto „Weiterdenken“ mobil, und die Deutsche Wohnen hat eine mehrstufige Kampagne mit dem Titel „Faires Wohnen“ gestartet. „Diese Versuche, mit Fake-Initiativen Bürgerwille zu simulieren, sind angesichts der starken Mieterbewegung zum Scheitern verurteilt“, sagt dazu der Mietenaktivist Michael Prütz.
Die Mietenbewegung kritisiert nicht nur die Verwässerung des Mietendeckels, sondern auch die Verschleppung des Volksbegehrens „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“, das seit Juni zur Prüfung bei der Innenverwaltung liegt. „Es kann nicht sein, dass direkte Demokratie auf diesem Weg ausgehebelt wird, deswegen erhöhen wir jetzt den Druck“, sagt Ralf Hoffrogge, einer der Sprecher des Volksbegehrens.
Mittlerweile sei nicht nur durch zahlreiche Gutachten belegt, dass die angestrebten Enteignungen rechtlich möglich seien, auch die Finanzierung sei kein Problem: „Wenn eine einzelne landeseigene Wohnungsbaugesellschaft völlig überhöhte Spekulationspreise ohne Landeszuschüsse stemmen kann, dann kann die von uns geplante Anstalt öffentlichen Rechts auch die Entschädigungskosten stemmen“, so Hoffrogge mit Blick auf den am Wochenende bekannt gewordenen Riesen-Deal der Gewobag, die für fast eine Milliarde Euro 6.000 ehemals kommunale Wohnungen in Reinickendorf und Spandau zurückgekauft hat. Das Volksbegehren zielt auf die Kommunalisierung von rund 200.000 Wohnungen, deren Mieteinnahmen dann in die Landeskasse fließen würden. Die Entschädigungskosten bezifferte Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) zuletzt auf rund 20 Milliarden Euro. | Malene Gürgen | In zwei Wochen will der Senat über den Mietendeckel entscheiden. Die Mietenbewegung ruft zur Großdemonstration auf. | [
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Tausche „Berlin“ gegen Parteisprecher - taz.de | Tausche „Berlin“ gegen Parteisprecher
Der Ost-Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen fordert den schnellen Umzug der Parteizentrale nach Berlin / Bei der Besetzung des Parteivorsitzes ist der Osten weniger ambitioniert ■ Von Matthias Geis
Werden die Ost-Landesverbände von Bündnis 90/Die Grünen auch in Zukunft eine ParteisprecherIn stellen? Wollen sie es überhaupt? Mit dieser Frage beschäftigte sich der Ost-Länderrat am Mittwoch in Berlin. Daneben wurde über die organisatorischen und inhaltlichen Konsequenzen aus den deprimierenden Wahlergebnissen der jüngsten Vergangenheit debattiert. Nach langer und unstrukturierter Debatte wurden dann endlich zwei Beschlüsse gefaßt, die als Anträge dem Bundesparteitag am 3. und 4. Dezember in Potsdam vorgelegt werden sollen. Zum ersten: Der Ost-Länderrat fordert den Umzug der Parteizentrale aus Haus Wittgenstein bei Bonn „an den satzungsmäßigen Sitz der Partei nach Berlin“. Termin: Ende 1996. Zum zweiten: EineR der beiden ParteisprecherInnen soll aus dem Osten kommen. Soweit die Beschlußlage.
Doch die Sache mit den Parteivorsitzenden aus dem Osten ist sehr kompliziert. Bislang hat Marianne Birthler diese Position inne. Sie wird aber in Potsdam, wo das gesamte Führungsgremium neu gewählt wird, nicht wieder kandidieren. Der Assoziationsvertrag, in dem Bündnis 90 und die Grünen ihren Zusammenschluß geregelt haben, sieht keine Ost-West-Quotierung der beiden SprecherInnen vor. Festgelegt ist lediglich, daß vier der insgesamt neun Vorstandssitze aus dem Osten besetzt werden müssen. Ein verbriefter Anspruch auf einen Ost-Sprecher besteht also nicht, aber kandidieren kann selbstverständlich jedes Parteimitglied.
Zwei Parteimitglieder aus den neuen Bundesländern haben ihre Kandidatur schon angekündigt: Christiane Ziller, die frühere Bundestagsmitarbeiterin von Konrad Weiß und Beisitzerin im Bundesvorstand, sowie der ehemalige Abgeordnete Klaus-Dieter Feige, der den Wiedereinzug in den Bundestag verpaßt hat. Beide Bewerber stritten in Berlin für eine Ost-Repräsentanz an der Parteispitze. Doch beide lehnten es ab, ein Votum des Ost-Länderrates zu ihrer Kandidatur einzuholen, vermutlich weil beide sich der ungebrochenen Zustimmung des Partei- Ostens nicht sicher sein können. Selbst der allgemein und bescheiden gehaltene Antrag, einer der beiden Sprecher solle doch aus dem Osten kommen, erhielt in Berlin nur eine relative Mehrheit. Sechs Delegierte stimmten dafür, fünf enthielten sich, zwei stimmten dagegen. Kommentar des Kandidaten Feige: „Das Votum war so eindeutig beschissen, da brauche ich kein weiteres.“
Besonderer Druck auf den Bundesparteitag wird von diesem Antrag kaum ausgehen, zumal einflußreiche Bündnispolitiker wie Werner Schulz oder Marianne Birthler keinen Hehl daraus machen, daß sie „den Osten“ von beiden Kandidaten nicht vertreten sehen. Motto: Der Kampf für einen Ost-Sprecher oder eine Ost-Sprecherin mache nur Sinn, wenn die Kandidaten ihr Amt entsprechend ausfüllen.
Streit würde es, selbst wenn sie es tun würden, auf jeden Fall geben. Denn die beiden West- KandidatInnen, die Hamburgerin Krista Sager sowie der niedersächsische Ex-Minister Jürgen Trittin sind in sich bereits ein austariertes Duo. Sager gilt als Reala, Trittin wird dem linken Parteiflügel zugerechnet, beide gelten für die jeweilige Strömung als ausgesprochen starke Besetzung. Beide garantieren, daß der oder die andere nicht übermütig wird. Das kann produktiv oder neutralisierend wirken. Auf jeden Fall muß sich aber bei dieser Kombination keine Strömung übervorteilt fühlen. Unter Berücksichtigung der unstrittigen Mann/Frau-Quotierung hieße die Ost/West-Alternative: Sager/ Feige beziehungsweise Ziller/Trittin. Damit jedoch wäre die schöne Balance dahin. Zwar gilt auch Feige als Parteilinker. Doch als Alternative zu Trittin kann er sich in Potsdam kaum Chancen ausrechnen. Die Ziller/Trittin-Variante wiederum hätte für die Parteilinke durchaus Charme – und gilt dementsprechend den Realos als unannehmbar. Christiane Ziller gilt zwar als Linke, nicht aber als ein Gegengewicht zu Trittin.
Parteiarithmetik und mangelnde Ost-Unterstützung – die Zeichen für das West-Duo stehen gut. Im Gegenzug, so ist zu erwarten, wird sich der Ostflügel in Potsdam für den schnellen Umzug der Parteizentrale nach Berlin und für einen finanziellen West-Ost- Transfer für den Aufbau der Landesverbände stark machen. Der Umzug gilt dabei nicht nur als symbolischer Schritt, der den Schwerpunkt der künftigen Parteiarbeit verdeutlichen soll. Manche, auch im Westen, versprechen sich von der Verlagerung der Parteizentrale auch eine gewisse personelle Durchmischung des umfangreichen MitarbeiterInnenstabes. | Matthias Geis | Der Ost-Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen fordert den schnellen Umzug der Parteizentrale nach Berlin / Bei der Besetzung des Parteivorsitzes ist der Osten weniger ambitioniert ■ Von Matthias Geis | [
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„Baseball ist Krieg“ - taz.de | „Baseball ist Krieg“
SPORTHISTORIE Wie der Unternehmer Albert Goodwill Spalding im Stile eines Strategen den Cricketsport in den Vereinigten Staaten desavouierte und dafür seinen geliebten Baseball groß machte. Er schuf nicht nur eine Profiliga, sondern baute auch gleich noch ein Sportartikelimperium auf
Die Baseball-Saison■ Spielbetrieb: Am Samstag geht die Major League Baseball in ihre 113. Saison. Das Eröffnungsspiel bestreiten die Los Angeles Dodgers und die Arizona Diamondbacks im australischen Sydney. Bis September muss dann jedes der 30 Teams 162 Spiele bestreiten. Dann geht es in die Playoffs, an deren Ende sich 2013 die Boston Red Sox als Sieger der World Series feiern lassen konnten.■ Business: 5 Milliarden US-Dollar werden in der MLB pro Saison umgesetzt. Damit liegt sie im Weltranking der Sportligen, das die Wirtschaftsprüfer von Deloitte errechnet haben, hinter der National Football League auf Platz zwei.■ Doping: Raus ist Alex Rodríguez von den New York Yankees. Der Topverdiener der Liga (30 Millionen Dollar pro Saison) ist für 162 Spiele gesperrt worden. Drin ist wieder der ewige Dopingleugner Barry Bonds. Der ungeliebte Homerun-König der MLB, war Übungsleiter beim Trainingscamp der San Francisco Giants.
VON PETER MÜNDER
Wenn der Basketballstar Dirk Nowitzki sich für seine Dallas Mavericks in die Luft schraubt und den großen hellbraunen Ball in den Korb zwirbelt, dann ist der auf dem Ball fett aufgedruckte Markenname Spalding garantiert unübersehbar.
Auch bei Baseballspielen, beim American Football, Volleyball oder beim amerikanischen Soccer ist auf den verwendeten Schlägern und Bällen der Name des US-Sportartikelherstellers zu sehen. Für fast alle Sportarten liefert die Firma Schläger, Bälle, Handschuhe, Hemden und komplette Ausrüstungen, sodass man getrost von einer Art Monopolstellung der Firma in den USA sprechen kann. Wer aber war dieser umtriebige, geschäftstüchtige Sportler, Funktionär und Unternehmer, der mit seinen guten politischen Beziehungen bis ins Weiße Haus und mit seiner gnadenlosen Vermarktungsstrategie jederzeit als leuchtendes Vorbild von Formel-1-Mogul Bernie Ecclestone oder dem umstrittenen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter durchgehen könnte?
Albert Goodwill Spalding (1850 bis 1915) organisierte eine schöne neue Sportwelt, die ganz auf sein eigenes profitables Renditekalkül zugeschnitten war. Und auf die Verhöhnung und den Niedergang des um 1900 noch populären Konkurrenzsports Cricket, der für Spalding eine lächerliche Freizeitbeschäftigung für verweichlichte Milchbubis war.
Saubere Bubis
So höhnte er etwa in seinem 1911 veröffentlichten Band „America’s National Game“: „Wenn der britische Cricketspieler mittags sein Tagewerk vollbracht hat, sein Negligé anlegt, die weißen Hosen mitsamt den schmucken Strümpfen überstreift und die Leinenschuhe festschnürt, dann zieht er mit seinem Mädel an einem Arm und dem Cricketschläger am anderen zum Sportplatz, wohl wissend, dass er bei seinem Nationalsport seinen Dress nicht beschmutzen und die Dame seines Herzens nicht vernachlässigen wird.“ Weiter schreibt er: „Wenn aber der amerikanische Baseballspieler seinen Dress überzieht, verabschiedet er sich von der Gesellschaft und verwandelt sich in einen einfachen Ballspieler! Er weiß, dass es sein Business ist, sich auf den Ball zu konzentrieren.“ Cricket sei „ein Zeitvertreib für sanftmütige Schöngeister – Baseball ist Krieg!“
Der aus Illinois stammende Spalding war nicht nur ein guter Baseballspieler bei den Boston Red Stockings und den Chicago White Stockings, der 1939 posthum in die Hall of Fame aufgenommen wurde, sondern auch umtriebiger Unternehmer und National-League-Funktionär. Seine Sportartikelfirma an der New Yorker 5th Avenue besteht immer noch, inzwischen gehören auch Ledertäschchen, exquisite Uhren und andere Accessoires zum Luxusrepertoire, das wohl schon der große Gatsby goutierte.
Spalding organisierte eine effiziente Baseballliga, er gab die offiziellen Baseballspielregeln als Büchlein heraus, und er organisierte 1888 und 1889 eine spektakuläre, medienwirksame Baseballtour über Hawaii, Neuseeland, Australien, Ceylon, Ägypten, Italien, Frankreich und England rund um die Welt und wurde bei der Rückkehr mit seinem Team in New York, Philadelphia und Chicago mit bombastischen Paraden und Staatsbanketten gefeiert, bei denen auch Teddy Roosevelt, der Baseballfan Mark Twain, diverse Lokalpolitiker, Baseballoffizielle, Yale-Studenten und Mitarbeiter der New Yorker Börse anwesend waren.
Gleichzeitig produzierte Spalding alle Sportartikel, die junge Sportler so brauchten – vom Baseballschläger bis zum Football, vom Tennisschläger bis zum Baseballhandschuh, den er selbst als Erster benutzte und bei seinen Spielen als unerlässliches Utensil vorführte. Der notorische Selbstvermarkter ließ dann auch in den Spielregeln festschreiben, welche seiner Sportartikel zu benutzen waren.
Schon bevor er 1900 von Präsident McKinley beauftragt wurde, als US-Vertreter bei den Olympischen Spielen in Paris für Baseball als olympische Disziplin zu werben, hatte Spalding längst die kommerziellen Aspekte des Baseballs im Visier: Die Zuschauer strömten zu Tausenden in die Stadien, um spannende Spiele zu sehen, und waren auch bereit, dafür ein paar Dollar springen zu lassen. Und diese Event-Schiene bediente er mit einem Rundum-Paket: Mit einer neuen Liga und professionellen Spielern, mit einem Baseballmagazin, mit seinen Stores und all den dazugehörigen Sportartikeln.
Spalding kannte keine Hemmungen, wenn es darum ging, gegen Cricket zu polemisieren: Er sah Baseball als rein amerikanischen, männlichen Sport und mokierte sich über angeblich feminine Typen, die in weißen Hosen statt zum Tee zum Cricketrasen marschierten. Die Diskussion über die Ursprünge von Cricket und Baseball und darüber, ob etwa das englische Schlagballspiel „Rounders“, das bei Kindern und Gouvernanten sehr beliebt war, die gemeinsame Mutter von Cricket und Baseball war, versetzte ihn in Rage: Das durfte einfach nicht sein, und so sorgte er dafür, dass die amerikanische Sportgeschichte neu geschrieben werden musste.
Nachdem er eine Historikerkommission installiert hatte, die einen amerikanischen „Erfinder“ des Baseball eruieren sollte, kam diese Revisionistentruppe nach dreijähriger Recherche zu dem grotesken Ergebnis, dass Baseball vom berühmten Bürgerkriegsgeneral Abner Doubleday aus Cooperstown, dem späteren Sitz der Baseball Hall of Fame, erfunden wurde. Weder Doubleday noch andere Experten hatten dies bis dahin je behauptet, aber Spalding wollte für den populären amerikanischen Nationalsport unbedingt einen patriotischen Vorzeigepromi als Erfinder haben.
Als modifizierte Cricketvariante und Vorbild des „uramerikanischen“ Baseballs hätte er diese nach seiner Ansicht eher tuntige Freizeitaktivität für Memmen nie gelten lassen. Zu Spaldings überheblicher Kritik am Cricket-Outfit sei nur bemerkt, dass das typische Baseballdress ja wie eine Kombination aus Pyjama und Knickerbocker anmutet, aber das ist wieder ein anderes Thema, das Kostümexperten und Spalding-Fans diskutieren sollten.
Baseballpropagandist Spalding polemisierte hemmungslos gegen Cricket. Da würden feminine Typen in weißen Hosen statt zum Tee zum Cricket- rasen marschieren
Wahrscheinlich führte Spaldings reaktionär-chauvinistische, mit großer öffentlicher und medialer Begeisterung unterstützte Einstellung dazu, dass der mit Spalding gut bekannte Mark Twain seine Idealisierung von Baseball als zivilisationsförderndem Sport verwarf. Twain war zusehends desillusioniert ob der rapide zunehmenden Kommerzialisierung im Baseball. Und er war auch entsetzt, dass die Vorurteile gegenüber Schwarzen sich über Jahrzehnte perpetuierten und Schwarze von Spielen in der Major League strikt ausgeschlossen waren.
Reaktionäres Potenzial
Erst 1947 erstritt Jackie Robinson von den Brooklyn Dodgers ein Gerichtsurteil, das ihm die Teilnahme in der Major League erlaubte. Bis dahin durften Schwarze nur in den segregierten „Negro Leagues“ spielen. In seiner satirischen Erzählung „A Connecticut Yankee at King Arthur’s Court“ (1889) hatte Twain ja noch im 40. Kapitel ironisch demonstrieren wollen, mit welch demokratisch-revolutionärem Impetus der Baseballsport unter den britischen Royalisten die Klassenschranken niederreißen würde. Und er hatte zuvor regelmäßig in das selbe PR-Horn wie Spalding gestoßen und Baseball als „vollkommenen Ausdruck eines neuen, dynamischen und vorwärts stürmenden Jahrhunderts“ gepriesen.
Auf seiner ausgiebigen Englandreise hatte Mark Twain zwar einige Cricket-Matches gesehen, doch mit diesem Spiel konnte er sich nicht anfreunden. Ähnlich wie Spalding mokierte sich der amerikanische Humorist in etlichen verkrampft-satirischen Impressionen über die Regeln, die Wickets und das Outfit der Cricketer.
Der Baseballpropagandist Albert Spalding war übrigens 1900 nach San Diego übergesiedelt und Theosoph geworden. In den am Meer gelegenen Sunset Cliffs erbaute er ein riesiges Anwesen mit einem historischen Park. Dort starb er 1915. | PETER MÜNDER | SPORTHISTORIE Wie der Unternehmer Albert Goodwill Spalding im Stile eines Strategen den Cricketsport in den Vereinigten Staaten desavouierte und dafür seinen geliebten Baseball groß machte. Er schuf nicht nur eine Profiliga, sondern baute auch gleich noch ein Sportartikelimperium auf | [
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Zensur der Presse in Belarus: Das Lager der Extremisten - taz.de | Zensur der Presse in Belarus: Das Lager der Extremisten
Die Machthaber wollen das Infoportal TUT.BY als extremistisch einstufen. Janka Belarus erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 92.
TUT.BY hat auch Interviews mit hohen Staatsbeamten publiziert, darunter auch mit Lukaschenko Foto: Vasily Fedosenko/reuters
Das Innenministerium fordert, dass alle Beiträge des Nachrichtenportals TUT.BY (eine der beliebtesten unabhängigen Informationswebsites in Belarus, Anm. d. Redaktion) als extremistisch eingestuft werden, um damit den Zugang zu diesen Beiträgen zu begrenzen. Und zwar sowohl die Beiträge auf der Website selber als auch auf allen Profilen in den sozialen Netzwerken.
Das Ministerium ist der Meinung, dass die Nachrichten und Informationen von TUT.BY den nationalen Interessen und der nationalen Sicherheit von Belarus schaden.
Auf Bitte des Ministeriums hat die Republikanische Experten-Kommission (von deren Existenz und Zusammensetzung kein Belarusse bislang überhaupt wusste) die Publikationen von TUT.BY bewertet und ist zu der Einschätzung gekommen, dass dort „linguistische Anzeichen von Spott und Beleidigung enthalten sind, eine negative Einschätzung der Arbeit von Alexander Lukaschenko, von Vertretern staatlicher Macht sowie einzelner Personengruppen verschiedener Berufe.“
Записки из БеларусиЗаписи из дневника на русском языке можно найти здесь.
Jetzt wissen wir, dass die bösen Gangster von TUT.BY die Strategie und Taktik der Diskreditierung von Menschen, die an der Protestbewegung gegen die aktuelle Regierung teilgenommen haben, perfekt umgesetzt haben und die soziale Feindschaft schüren wie anständige gesetzestreue Bürger das Grillfeuer abends in ihrem Garten.
Zwischen Burnout, Schock und Müdigkeit
Und das sagten die „Übeltäter“ selbst zu ihrer Verteidigung: „Die Idee, Beiträge als extremistisch einzustufen, zerstört nicht nur die Arbeit von Journalisten und des ganzen Unternehmens. Es ist im Wesentlichen der Versuch, die Geschichte des Landes zu löschen, über die die Journalisten von TUT.BY in den letzten zwanzig Jahren geschrieben haben. Und alles, was auf unserem Portal gesagt oder geschrieben wurde, indem man alles als illegal deklariert, was zu Diskussionen und Informationsverbreitung beiträgt.“
Alle Beiträge von TUT.BY – Artikel, Bilder und Videos – wurden unzählige Male zitiert und in belarussischen und ausländischen Medien nachgedruckt und gezeigt. Wie will man es schaffen, alle Feeds anderer Nachrichtenkanäle, Agenturen und TV-Sender zu „bereinigen“? Und schließlich hat TUT.BY auch Interviews mit hohen Staatsbeamten publiziert, darunter auch mit Alexander Lukaschenko. Gelten diese Interview dann auch als extremistisch?
Es besteht darüber hinaus noch eine weitere Gefahr: Viele Menschen haben nach dem Lesen die Beiträge des Nachrichtenportals geteilt. Im Falle eines positiven Gerichtsbeschlusses nach gängiger Praxis ist jeder dieser Bürger wegen der Verbreitung verbotener Informationen bedroht. Ganz unabhängig davon, ob diese Beiträge oder Zitate schon vor vielen Jahren und auf persönlichen Profilen in den sozialen Medien veröffentlicht wurden. So kann man dann quasi unter dem Vorwand „Extremismus“ Menschen dafür verurteilen, dass sie ihre Lieblingstexte von TUT.BY öffentlich geteilt haben.
Ich kenne als Journalistin viele der Kollegen, die bei diesem Portal arbeiten, persönlich. Die schon Hausdurchsuchungen und die Verhaftung ihrer gesamten Chefetage erlebt und faktisch ohne rechtskräftige Kündigung ihren Job verloren haben, und sich jetzt nach all diesen Ereignissen in einem Zustand zwischen Burnout, Schock und Müdigkeit befinden.
Ich fungiere als „Gratis-Therapeutin“ von Lena (Name auf ihren Wunsch geändert), ich hören ihren Monologen zu und versuche, sie mit Witzen aufzumuntern. Sie weiß nicht, ob sie überhaupt noch weiter als Journalistin arbeiten möchte. Sie sagt: „Wenn ich nicht Hungers sterben will, werde ich in der nächsten Zeit nur noch das essen, was ich in meinem eigenen Garten anbaue und meine Kinder schicke ich auf den Markt, um überschüssige Erdbeeren zu verkaufen. Meine Marketingstrategie besteht darin, dass man Kindern aus Mitleid mehr Geld gibt.
Ich versuche außerdem gerade, meine angespannten Nerven durch Kreativität zu beruhigen. Ich bastele Deko-Objekte zur Verschönerung meiner Wohnung. Neulich hab' ich mal in den sozialen Medien ‚rumgefragt, ob jemand so etwas gegen Bargeld kaufen würde. Und stell dir vor, man hat mir sogar Summen genannt, die man mir für meine Basteleien zahlen würde. Das war eine angenehme Überraschung. Ich komm‘ schon irgendwie durch.“
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | Janka Belarus | Die Machthaber wollen das Infoportal TUT.BY als extremistisch einstufen. Janka Belarus erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 92. | [
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Kinder im Auge behalten - taz.de | Kinder im Auge behalten
Vierjähriger in Alsterschwimmhalle vor dem Ertrinken gerettet. Überfüllte Bäder fordern verstärkte Aufmerksamtkeit. Erste Offzielle Elbe-Badestelle eröffnet
Die Meldungen häufen sich. Ein vierjähriges Kind ist am Sonntag vor dem Ertrinken gerettet worden. Laut Polizei hatte es mit Freunden im Außenbecken der Alsterschwimmhalle gebadet, als es plötzlich das Bewusstsein verlor und unterging. Der Vater des Jungen und der Bademeister konnten das Kind retten und erfolgreich reanimieren.
Erst am Samstag hatten zwei Mädchen einen Dreijährigen vor dem Ertrinken in der Elbe gerettet. Das kleine Kind hatte sich unbemerkt von der Mutter entfernt. Die Mädchen zogen das Kind an Land, wo es wiederbelebt werden konnte.
„Es passiert sehr oft, dass Eltern ihr Kind aus dem Auge verlieren“, sagt Bäderland-Sprecherin Kirsten Morisse. Kinder, selbst welche mit „Seepferdchen“-Abzeichen oder Freischwimmer, müssten kontinuierlich von Erwachsenen im Blickfeld behalten werden. Den Bademeistern allein könne man bei der hohen Besucherzahl die Aufsicht nicht überlassen. Morisse: „Die Verantwortung für die Kinder wird nicht an der Kasse abgegeben.“ Doch auch in privaten Pools und Planschbecken besteht für kleine Kinder Gefahr. Sie können schon bei geringer Wassertiefe ertrinken.
Müttern, die mehrere Kinder haben, rät die Bäderland-Sprecherin, mit mehreren Müttern gleichzeitig ins Bad zu gehen. Die Bademeister sind zudem angehalten, bei volleren Becken strengere Regeln gelten zu lassen. So dürfen Kinder mit dem Seepferdchen-Abzeichen bei leerem Becken schon mal in Erwachsenenbegleitung ins Tiefe. Ist das Bad voll und unübersichtlich, könnten Bademeister dies nicht mehr erlauben, zumal, wenn der Beckengrund nicht einsehbar ist.
„An die Baderegeln halten“, ist der Tipp von DLRG-Mitarbeiter Kay Maaß. 18 Punkte, die den Kindern bei der Seepferdchen-Prüfung per Malheft nahe gebracht werden, sind zu beachten. Maaß: „Man sollte sich immer abkühlen, bevor man ins kalte Wasser springt.“ Der Sprung von 40 Grad Außentemperatur in 22 Grad kühle Wassermassen sei für manchen Kreislauf zu viel. Freilich sollten Nichtschwimmer nicht unbeaufsichtigt sein und sollte niemand in unbekannte Gewässer springen. Ein Problem bei früheren Baggerseen seien zudem die Abbruchkannten unter Wasser, bei denen es drei bis vier Meter in die Tiefe geht. Wenn dann die Eltern am Strand grillen und nicht auf die Kinder achten, seien diese in Gefahr.
Der nur ehranamtlich arbeitende DLRG hat in ganz Hamburg übrigens nur 60 Leute und sucht noch Helfer (☎ 81956690). Die Lebensretter bewachen neben den Bergedorfer Seen hauptsächlich Unter- und Süderelbe, an denen das Baden zwar nicht erlaubt, aber auch nicht verboten ist. Dies wird sich am Freitag ändern, wenn am Finkenrieker Hauptdeich die erste offizielle Elbe-Badestelle eröffnet. KAJ/ULL | KAJ / ULL | Vierjähriger in Alsterschwimmhalle vor dem Ertrinken gerettet. Überfüllte Bäder fordern verstärkte Aufmerksamtkeit. Erste Offzielle Elbe-Badestelle eröffnet | [
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Australien will wilde Katzen töten: So ein Katzenjammer - taz.de | Australien will wilde Katzen töten: So ein Katzenjammer
Wilde Katzen bedrohen die Artenvielfalt in Australien. Deswegen will der Umweltminister nun zwei Millionen von ihnen umbringen lassen.
Mörderisch: Katzen in Australien sind mitverantwortlicht für das Aussterben zahlreicher Arten. Foto: dpa
CANBERRA taz | Wer durch die Weiten des australischen Outbacks fährt, muss nicht lange warten, bis er sie sieht: verwilderte Hauskatzen oder ihre Nachkommen, oftmals doppelt so groß wie eine normale Hauskatze, huschen über die Straße und verschwinden rasch im Gebüsch. Oft tragen sie einen Vogel oder andere Beute im Maul. Damit könnte es bald vorbei sein.
Die meisten sind Nachkommen von Hauskatzen, die erstmals vor rund 200 Jahren mit den weißen Siedlern nach Australien gebracht wurden. Die Eindringlinge fordern von der australischen Fauna einen hohen Zoll. „Wir stehen am Rande der Ausrottung etwa der Hälfte der einheimischen australischen Fauna“, sagt Michael Archer, bekannter Wissenschaftler und früherer Direktor des Australischen Museums in Sydney. Er ist einer von vielen Experten, die seit Jahren ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Räuber fordern.
Jetzt will die Regierung ernst machen. In den kommenden fünf Jahren sollen rund zwei Millionen Katzen getötet werden, so Umweltminister Greg Hunt am Donnerstag. Ein Tropfen auf den heißen Stein, glauben Kritiker: Rund 30 Millionen wilde Katzen sollen frei in der australischen Wildnis leben.
Die meist gestreiften Tiere gleichen eher einem Tiger als einem typischen Hauskätzchen – langbeinig, muskulös, aggressiv. Generationen in der Wildnis haben sie zu Wildtieren lassen werden. Laut Hunt sind Katzen für das Aussterben von 27 Tierarten mit verantwortlich, 120 weitere seien bedroht.
Hungrige Wildtiere
Vor der Ankunft der Räuber gab es auf dem australischen Festland über Tausende von Jahren keine bodenbewohnenden Raubtiere. Damit konnten sich verschiedene Arten von kleinen Säugern entwickeln. Gegen die Katzen hatten sie aber keine Chance.
Forschern zufolge frisst eine wilde Katze in Australien pro Nacht bis zu fünf Beutetiere. Oft sind es viel mehr. Michael Archer bringt den Beweis: das Bild des Mageninhalts einer Katze, die nach einer Nacht des Jagens erschossen worden war. „50 einheimische Säugetiere und Reptilien fanden wir im Bauch, die meisten waren ganz geschluckt worden“, so Archer.
Viele Experten machen allerdings nicht nur wilde Katzen für das Blutbad verantwortlich, sondern auch die vielen Familienkatzen, deren Besitzer erlauben, dass die Tiere nachts unterwegs sind. Das sei nicht nur eine zusätzliche Belastung für einheimische Tierarten, die geliebten Familienmitglieder seien ebenfalls gefährdet, sagt der Wildnisexperte Rodney Falconer.
Natürliche Fressfeinde
„Die Hauskatzen können von wilden Tieren getötet werden. Oder sie werden durch sie mit Krankheiten infiziert“. Die meisten Fachleute glauben, dass das Erschießen von wilden Katzen, das Vergiften oder das Aufstellen von Fallen nicht genügt, um dem Problem Herr zu werden.
Man müsse die Verbreitung natürlicher Fressfeinde wie dem Wildhund Dingo oder dem fleischfressenden Tasmanischen Teufel fördern. „Nicht, dass wir Katzen hassen“, erklärt Gregory Andrews, der Beauftragte für bedrohte Arten. „Wir wollen nur den Schaden, den sie in unserer Tierwelt anrichten, nicht dulden.“ | Urs Wälterlin | Wilde Katzen bedrohen die Artenvielfalt in Australien. Deswegen will der Umweltminister nun zwei Millionen von ihnen umbringen lassen. | [
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schlagloch: Abschied von Arkadien - taz.de | schlagloch: Abschied von Arkadien
Früher ging es um Sehnsucht, jetzt um Grenzen. Am Streit über die Migration kann mehr als das deutsch-italienische Verhältnis zerbrechen
: Nora Bossong,
Jahrgang 1982, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zu ihren wichtigsten Romanen zählen „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012) und „36,9°“ (2015). Kürzlich erschien ihr Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“ bei Suhrkamp
Auch ich in Arkadien!, schrieb Goethe einst verzückt und fasste damit das Verhältnis der Deutschen zu Italien prägnant zusammen. Italien war der Sehnsuchtsort par exellence, in Deutschland war, in Italien lebte man. Heute klebt ein handgeschriebener Zettel darunter: Fuori funzione, außer Funktion.
Wer als Tourist in die Ewige Stadt kommt, mag das noch als liebevolles Klischee aufgreifen. Wer wie ich einmal tatsächlich vorgehabt hat, in Rom zu leben, kann mit jedem Besuch eigentlich nur weiter deprimieren. Seit zehn Jahren höre ich von jungen Akademikern das immer Gleiche: keine Perspektive, kein Geld, der Unibetrieb verfilzt, die meisten Zeitungen zahlen nicht oder nicht gut. Zwar wechseln die Regierungen und heute ist das Schlagwort der Stunde Sovranismo, was man als Nationalismus im neuen Gewande verstehen mag. Die Schönheit Roms jedenfalls, vor der ich einmal in die Knie gegangen bin, macht mich heute angesichts der Perspektivlosigkeit vor allem wütend. Der Feudalismus feiert sich im festgefahrenen Marmorgeld und mit Perlenketten im Café Greco, als wäre nie etwas geschehen.
Die junge Mittelstandsgeneration bleibt derweil von den Eltern und Großeltern abhängig, wobei hier jung alles unter 50 meint. Glücklich dabei, wer abhängig von der Familie sein kann. Die römischen gilet gialli (Gelbwesten)können das nicht; jene, die in den Neubauten von Ponte Mammolo wohnen und mittlerweile wie ihre französischen Leidensgenossen auf die Straße gehen. Gleichermaßen beachtet werden sie allerdings nicht, lieber schreibt man noch mal über den populistischen Innenminister Matteo Salvini, der sich stets so zu inszenieren versteht, dass die Presse, gerade auch die deutsche, darauf anspringt, gern mit ablehnender Arroganz, frei nach dem Motto: Jemand wie Salvini kann doch auch wirklich nur in Italien zum Politstar werden.
Vorbei die Zeiten, in denen sich zumindest die bundesdeutsche Linke mit vielleicht verklärender Begeisterung Italien zuwandte, den Texten Gramscis und Filmen Pasolinis, der Idee des Eurokommunismus und der Toskana, in der sie als Aussteiger verfallene Bauernhöfe ausbaute, um ihr dolce vita jenseits der bundesdeutschen Tristesse zu finden. Natürlich, es waren auch der Wein und das Wetter, die diese Utopie so verführerisch machten – vom verregneten Deutschland aus gesehen, in dem die Schuldenlast der Vergangenheit schwer wog. Die Fantasie eines leichtfüßigeren Lebens, an das man sich vom Norden aus nur steif und zögernd heranwagte, erschien da umso mehr als Befreiung.
Versteht man von Deutschland aus italienische Politik aus Prinzip nicht und wirft ihr lieber mit leichter Überheblichkeit wahlweise Undiszipliniertheit oder Nationalismus vor, so wirkt umgekehrt in Italien die deutsche Politik allzu leicht wie eine herzlose und übermächtige Garde von Austeritätswächtern, in der man von Migration gut reden hat, kommen über die Nordsee schließlich nur ein paar Fähren aus Dänemark an. Als Deutschland im Sommer 2015 seine Gastfreundschaft fand, hatte man Italien bereits über Jahre mit einer Migration alleingelassen, die nicht, wie sich das Wirtschaftsliberale erträumen mögen, mit Fachkräften das Wachstum in atemberaubende Höhen steigert. Nicht nur Deutschland schaute weg, die ganze EU tat es – genauer gesagt hatte sie sich mit Paragrafen dagegen abgesichert.
Als die Vertragspartner in den 1990er Jahren das erste Dublin-Abkommen unterzeichneten, mit dem die Verantwortung für Asylverfahren bereits vornehmlich jenen Ländern aufgebürdet wurde, in denen die Asylsuchenden zuerst europäischen Boden betraten, müssen sie sich die Migration der nächsten Jahrzehnte wie ein Mittelklasseproblem vorgestellt haben, das sich als sanfte Bewegung über die Flughäfen Europas verteilen würde. Naheliegender scheint mir aber, dass jene Staaten, die nicht über südliche EU-Außengrenzen verfügten, die Verantwortung dafür nicht haben, ja nicht einmal sehen wollten. So kann Gemeinschaft nicht funktionieren.
Nicht mehr Arkadien, sondern Grenzen sind das Sehnsuchtswort der Gegenwart. Wollen die einen sie ganz auflösen, wünschen sich die anderen hohe Zäune, Mauern und geschlossene Häfen, um ihre Wirkmacht zu demonstrieren. Die Frage nach geregelter Migration und nach der Verantwortung für jene, die neu nach Europa kommen, ist einer der großen Zankäpfel, unter dem nicht nur das deutsch-italienische Verhältnis leidet, sondern an dem möglicherweise die EU, so wie sie derzeit besteht, zerbrechen könnte. Dabei kann Sovranismo kaum der Ausweg sein: Fragen der Migration lassen sich langfristig nur multilateral lösen.
Die Schönheit Roms, vor der ich mal in die Knie gegangen bin, macht mich heute angesichts der Perspektivlosigkeit wütend
Dafür allerdings braucht es gute und faire Verträge und eine nüchterne, differenzierte Debatte, auch von links. Will man das Thema nicht den Rechtspopulisten überlassen, muss man unterscheiden zwischen dem Problem des Rassismus, der sich gern auch an Orten zeigt, an denen man Migranten hauptsächlich aus dem Fernsehen kennt, und den Sorgen von Gemeinden, die tatsächlich überfordert sind. Vermischt man beides in aufhetzenden Parolen oder in Schwarz-Weiß-Moralismus, so wird man den Fragen nicht gerecht, sondern lädt das Thema nur weiter emotional so sehr auf, dass es alles andere überdeckt.
Dabei könnte etwa die Emigration Italien härter treffen als die Immigration. Was wird aus dem Land, wenn gerade die jungen, gut ausgebildeten Leute wegziehen, in die Schweiz, nach Frankreich und nicht zuletzt auch nach Deutschland? Berlin ist nicht Arkadien, aber für viele junge Italiener scheint es wenn nicht ein Sehnsuchtsort, dann doch einer mit Perspektive zu sein. Man redet nicht mehr so viel von Sehnsucht, man will erst einmal einen Job und eine bezahlbare Wohnung. Das Träumen ist nicht vorbei, aber es setzt bekanntlich erst dann ein, wenn man nicht mehr schlaflos liegt. | Nora Bossong | Früher ging es um Sehnsucht, jetzt um Grenzen. Am Streit über die Migration kann mehr als das deutsch-italienische Verhältnis zerbrechen | [
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Natürlich gesund? Test ist Pflicht - taz.de | Natürlich gesund? Test ist Pflicht
Auf der Vivaness werden Naturheilmittel, Nahrungsergänzung und Medizinprodukte präsentiert. Das boomende Segment „Naturapotheke“ ist eine Ergänzung zur „Schulmedizin“. Die EU setzt zur Bewerbung der Produkte enge Grenzen
VON SOPHIE DIESSELHORST
Man findet sie in Drogerien, Apotheken und Supermärkten. Sogar Discounter wie Aldi und Lidl haben sie im Sortiment: natürliche Heilmittel, die einen gesund machen und vor allem gesund halten sollen. Schwarzkümmelölkapseln, die laut Verpackung das Abwehrsystem stärken und einem neue Energie verschaffen, Franzbranntwein, der bei Zerrungen und Verstauchungen helfen soll, und natürlich eine riesige Palette von Heilkräutertees, die gegen fast alle Beschwerden helfen, die man sich so vorstellen kann – glaubt man dem Beipackzettel. Und dem glauben viele. „Es kommen immer mehr Menschen zu mir in die Apotheke, die möglichst „etwas Natürliches“ wollen“, bestätigt der Berliner Apotheker Ralf Wittenbröker. „Vor allem seit der Einführung der Praxisgebühr. Viele schrecken nun davor zurück, zum Arzt zu gehen. Sie gehen stattdessen in die Apotheke oder in die Drogerie und kaufen rezeptfreie Naturheilmittel.“
Oft verstecken sich hinter den Kapseln und Tees traditionelle Hausmittel. „Bei Erkältung Salbeitee zu trinken, hilft schon – zumindest erst mal“, sagt Ralf Wittenbröker. Doch es passiere immer öfter, dass Leute mit völlig vereitertem Hals in seine Apotheke kämen und sich nur mit Salbeitee kurieren wollten. „Denen rate ich dann doch, zum Arzt zu gehen und sich etwas ‚Richtiges‘ verschreiben zu lassen.“
Dem stimmt Stefanie Binnewies zu. Sie ist Produktmanagerin bei Fitne Health Care, einer der 67 Firmen, die sich auf der Vivaness im Bereich „Naturapotheke“ präsentieren. „Manchmal müssen es eben Antibiotika sein“, sagt Binnewies. Eine Alternative zur Schulmedizin seien Naturheilmittel nicht. „Aber eine wertvolle Ergänzung – die den Körper zum Beispiel nach der Einnahme von Antibiotika wieder ins Gleichgewicht bringen kann.“ Stefanie Binnewies beobachtet, dass vor allem die Nahrungsergänzungsmittel boomen. Doch sie warnt vor einem populären Missverständnis: „Nahrungsergänzungsmittel ersetzen keine gesunde Ernährung. Sie können nur dann wirken, wenn man auch sonst eine bewusste Lebensweise pflegt.“
Die Produkte von Binnewies’ Firma Fitne Health Care entsprechen der EG-Bioverordnung. Sie sind nicht synthetisch und ohne gentechnisch veränderte Organismen hergestellt. Reiner Claus vom Zertifizierungsunternehmen BCS Öko Garantie berät die Messen Biofach und Vivaness, welche Unternehmen sie zulassen können. „Im Gesundheitsbereich gibt es keine harten Richtlinien“, sagt er. Er richtet sich deswegen für seine Empfehlungen nur nach der EG- Bioverordnung. Die angebliche Wirkung der Heil- und Nahrungsergänzungsmittel wird nicht getestet, bevor sie auf der Messe präsentiert werden dürfen. Und auch außerhalb der Messe müssen Naturheilmittel nicht auf ihre Wirkung überprüft werden, bevor sie auf den Markt kommen. Gütesiegel, wie es sie für Naturkosmetik und Biolebensmittel gibt, existieren im Bereich der Naturheilmittel noch nicht. So ist es bisher schwierig gewesen, das Quacksalberische vom Seriösen zu unterscheiden.
Seit Beginn dieses Jahres gibt es jedoch zumindest für die Werbung gewisse Einschränkungen. So müssen nach einer neuen EU-Regelung Unternehmen, die die gesundheitsfördernde Wirkung ihrer Produkte in der Werbung anpreisen, diese Wirkung vorher mit wissenschaftlich anerkannten Methoden beweisen – entweder durch bereits existierende wissenschaftliche Literatur oder durch eine neue klinische Studie. Der Nachweis ist in Zukunft notwendig, um eine Wirkung auch nur andeuten zu dürfen.
Solch einen Test würden nach Ansicht von Hans-Jörg Freese nur wenige der Naturheilmittel auf dem Markt bestehen. Freese ist Sprecher der Bundesärztekammer. Die Institution steht dem Boom der Naturapotheke kritisch gegenüber. „Es gibt im Bereich der Naturheilmittel viele Präparate, deren Unwirksamkeit erwiesen ist“, sagt Freese. In einem Statement der Bundesärztekammer zu „außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehenden Methoden der Arzneitherapie“ heißt es: „Erst mit dem Instrumentarium der wissenschaftlichen Medizin ist eine in ihrer Wirksamkeit gesicherte Behandlung ernsthafter Erkrankungen möglich geworden.“ Den therapeutischen Wert der wissenschaftlich belegten Methoden der Schulmedizin hätten große Studien belegt, was auf die meisten alternativen Heilmethoden nicht zuträfe.
Trotzdem nimmt auch Hans-Jörg Freese nicht sofort Antibiotika, wenn er erkältet ist – sondern trinkt erst mal Salbeitee. „Manche der natürlichen Heilmittel haben sich einfach über Jahrhunderte bewährt und sind durchaus eine willkommene Ergänzung zur Schulmedizin“, schränkt er sein Urteil ein. Doch völlig auf die Naturapotheke verlassen solle man sich nicht. | SOPHIE DIESSELHORST | Auf der Vivaness werden Naturheilmittel, Nahrungsergänzung und Medizinprodukte präsentiert. Das boomende Segment „Naturapotheke“ ist eine Ergänzung zur „Schulmedizin“. Die EU setzt zur Bewerbung der Produkte enge Grenzen | [
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Wahlkreis der Kanzlerin: In Merkels Fußstapfen - taz.de | Georg Günther, CDU, bewirbt sich um das Bundestagsmandat im Wahlkreis von Angela Merkel Foto: Martin Pauer
Wahlkreis der Kanzlerin:In Merkels Fußstapfen
Georg Günther will für die CDU den Wahlkreis der Kanzlerin verteidigen. Von einem, der aus den Tiefen der Kommunalpolitik in den Bundestag strebt.
Ein Artikel von
Julia Boek
8.7.2021, 12:42
Uhr
Was für ein Reinfall. Georg Günther hatte die Reporterin nach Stralsund eingeladen, damit sie ihn bei seiner allerersten Bürgersprechstunde im Wahlkreis mit dem sperrigen Namen „Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald I“ begleitet. Jenem Wahlkreis 15 an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns, den die CDU seit der Wiedervereinigung stets gewann, der Angela Merkel seit 1990 acht Mal in Folge das Bundestagsmandat sicherte und den die Bundeskanzlerin ihre politische Heimat nennt. Für die Ära nach Merkel läuft sich derzeit der 33-jährige Günther aus der Gemeinde Süderholz bei Greifswald warm. Bei der Bundestagswahl im September möchte der Kommunalpolitiker erstmalig das Direktmandat für die CDU in Berlin holen.
Doch nun das: Zur ersten Bürgersprechstunde tauchen nur zwei Männer auf, die aus ihren Sympathien für die AfD keinen Hehl machen. Zur zweiten Sprechstunde, später in Ribnitz-Damgarten, unweit der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, kommt überhaupt niemand. Sind Merkels Fußstapfen etwa zu groß für einen wie Georg Günther?
Aber der Reihe nach: Am späten Freitagvormittag geht es in der Hansestadt Stralsund mit ihren hübsch sanierten Giebelhäusern und Backsteinkirchen beschaulich zu. An den Ständen am Neuen Markt unweit der dreischiffigen St.-Marien-Kirche packen die Händler den RentnerInnen das Gemüse in die Drahtkörbe ihrer Rollatoren. In der Ossenreyerstraße, dort, wo Angela Merkel ihr Wahlkreisbüro hat, bummeln Familien zwischen Schuhgeschäften und Eisdiele. Ein Straßenmusiker spielt rhythmisch „Tico-tico“ auf seinem Akkordeon, dazu kreischen die Möwen im Wind.
Ein paar Ecken weiter betritt Georg Günther, dezente Retrobrille, Hemd und Leder-Sneakers, die dunkelblonden Haare kurz geschnitten, zusammen mit einem Wahlkampfhelfer das Büro der CDU-Kreisgeschäftsstelle. Drinnen stellt er Kaffeegeschirr und Mineralwasser auf die Tische mit den orangefarbenen Platzdeckchen. Im Regal dahinter beobachtet Angela Merkel auf mehreren CDU-Flyern das Geschehen. „Da könnte ich meine Karten mal dazulegen“, sagt Günther und legt ein paar der frisch gedruckten Vorstellungskarten auf den Tisch.
„Zuhören und anpacken“ steht unter dem Foto geschrieben, das den jungen Mann lächelnd im Gespräch zeigt. Das Motto seiner Wahlkampftour habe er sich selbst ausgedacht, sagt Günther, „das passt so gut“. Er arrangiert die Wasserflaschen nochmals auf dem Deckchen, alles soll perfekt sein, gleich beginnt die Bürgerstunde. Günther wirkt etwas nervös.
Die interessierten Bürger sind AfD-Anhänger
Kurz vor zwölf Uhr klingelt es an der Tür der CDU-Kreisgeschäftsstelle. Zwei Männer, der eine wohl Ende fünfzig, der andere Mitte sechzig, ihre Hemden tragen sie leger über die Hosen, wollen Günther kennenlernen. Der CDU-Politiker bittet, Platz zu nehmen, die ersten Fragen der Herren wirken fast großväterlich. Was der junge Mann studiert habe, wollen sie wissen. Ob er sein Studium abgeschlossen habe, woher er komme und warum er sich gerade für die CDU engagiere.
Günther stellt sich vor: 1988 in Greifswald geboren, duales Studium zum Diplom-Finanzwirt an der Fachhochschule Güstrow, Metier Steuerrecht, Arbeit als Betriebsprüfer im Finanzamt Stralsund, Weg zur CDU über die Kommunalpolitik, „in die Partei, die sich für Arbeitsplätze vor Ort einsetzt“. Sollte Günther hier gerade zwei Stimmen für die Bundestagwahl gewinnen?
In den Balkankriegen, Mitte der Neunziger, setzt der Mittsechziger mit dem gestreiften Hemd über der Bauchwölbung nun an, hätte Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen, die nach Kriegsende größtenteils wieder nach Hause gegangen seien. Wie, so fragt er den CDU-Bundestagskandidaten, sähe es jetzt mit den Flüchtlingen aus, „die zuletzt zu Millionen nach Deutschland kamen?“
Stimmungswechsel – aber Günther bleibt gelassen. Erklärt, die Hände liegen ineinander gefaltet auf dem Tisch, dass es darauf ankäme, wie sich diese Menschen in die deutsche Gesellschaft einbringen würden. Dass die Lebensbedingungen in Syrien und Afghanistan entscheidend seien, um den Geflüchteten in ihren Herkunftsländern eine Perspektive zu geben.
Merkels WahlkreisCDU-Stammland Der ländlich geprägte Bundestagswahlkreis „Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald I“ liegt im Nordosten der Bundesrepublik und ist Stammland der CDU. Angela Merkel holte hier achtmal hintereinander das Direktmandat, zuletzt 2017 mit 32,9 Prozent.Günther statt Merkel Ihr Nachfolger im Wahlkreis, der CDU-Bundestagskandidat Georg Günther, will erstmals in den Bundestag. Er steht zudem auf Platz vier der CDU-Landesliste. Bei der letzten Bundestagswahl gewann die CDU in Mecklenburg-Vorpommern aber alle sechs Wahlkreise direkt. (taz)
Die Antwort stellt die Herren nicht zufrieden, es wird kompliziert. Der Mittsechziger, er kommt gebürtig aus Sachsen, wie er sagt, hakt noch einmal nach, fragt, ob Sozialleistungen wie Kindergeld, das Geflüchteten in Deutschland zustehe, nicht viel zu hohe finanzielle Anreize biete? „Wie viele Millionen Menschen sollen denn noch kommen?“, poltert es aus seinem Mund.
Spätestens jetzt ist die Maskerade der Männer gefallen. Was hier nach nur fünf Minuten Bürgersprechstunde passiert, ist ein Feuerritt durch die Brandherde der zündelnden AfD. Der Getriebene: Georg Günther. Abwechselnd feuern die Männer, „die sich nur um Deutschland sorgen“, Salven in Richtung des CDU-Direktkandidaten, der immer weniger zu Wort kommt: Es geht um den Islam, „kreuzgefährlich“, ums Gendern, „Goethe würde sich im Grab umdrehen“, Nationalstaaten, „die Deutschen sind eine aussterbende Ethnie“, die AfD, „bürgerliche Partei“, die CO2-Besteuerung, „Nonsens!“, Angela Merkel, „Wischiwaschi“ und die Antifa, „Terrororganisation“.
Günther hat Nehmerqualitäten
Und Günther? Hört geduldig zu, ohne eine Miene zu verziehen, und fragt nach: Etwa woran die Herren es festmachen würden, dass die Geflüchteten größtenteils Analphabeten seien? Oder wo genau im Land die Antifa Angst und Schrecken verbreite? Er argumentiert, warum er – der CDU-Mann – ungern mit den Grünen koalieren würde, sagt, dass viele Menschen seiner Generation über ein starkes europäisches Gemeinschaftsgefühl verfügen würden.
Eines wird dabei klar: Georg Günther hat Nehmerqualitäten. Zuhören kann er, aber kann er auch austeilen? Die Männer jedenfalls, so sagen sie nach einer guten halben Stunde, haben genug gehört. Per Handschlag bedanken sie sich für das Gespräch – fast so, als hätte man hier gerade einen heiteren Abend miteinander verbracht.
Georg Günther kennt Gespräche wie diese zur Genüge. Auf den Wahlkampftouren durch sein Bundesland, die er seit 2011 als Kreisvorsitzender und seit 2018 als Landesvorsitzender der Jungen Union Mecklenburg-Vorpommerns begleitete, habe er die Unzufriedenheit einiger Menschen deutlich zu spüren bekommen. Dem Flächenland geht es durchwachsen: Rund jeder Fünfte im Nordosten ist von Armut bedroht, die Arbeitslosenquote lag – trotz boomendem Tourismusgeschäft – im Juni 2021 mit 7,5 Prozent deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 5,7 Prozent.
Die Schiffswerften, früher Wirtschaftsmotor der Region, befinden sich in der Dauerkrise, der Küstenfischerei machen immer strengere Quoten und der Hunger der wieder angesiedelten Kegelrobben zu schaffen. Im Kreistag Vorpommern-Rügen hält die AfD 10 Sitze (CDU 20), im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns sind es 14 (CDU 18). Tragen die Christdemokraten eine Mitschuld am aufbrisenden Gegenwind von rechts?
Gewiss, auch seine Partei habe dazu beigetragen, sagt Günther, der sich selbst eher im liberalen denn konservativen Flügel der CDU verortet wissen will. So fehle es im Land an Personal bei Polizei und Gerichten, zudem habe man es versäumt, den Mittelstand zu stärken oder berufliche Ausbildungswege zu fördern. „Eingebrannt haben sich auch die Bilder der Flüchtlingskrise 2015“, als in vielen Landkreisen und Kommunen Fehler mit dem Flüchtlingsmanagement passierten, auch die Kommunikation sei damals nicht optimal gelaufen. Trotzdem – und das betont Georg Günther mehrfach an diesem Vormittag – „ist Flüchtlingshilfe ein Akt der Humanität und die Abgrenzung zur AfD eine klare Sache“.
Vom Schülersprecher zum Bundestagskandidaten
Wie Integration besser gelingen kann, beweist Georg Günther bereits während seiner Schulzeit am Gymnasium im Grimmen. Weil in der Schule ein Kind sri-lankischer Herkunft von den MitschülerInnen gemobbt wird, organisiert der Schülersprecher mit anderen einen Toleranzworkshop. Er wird von Mitgliedern der Neonazi-Szene bedroht. Auch die Verbesserung des Kantinenessens und ein neuer Sportplatz, der alte ist ein Feuchtbiotop, gehen auf sein Konto.
All diese Initialzündungen, die rückblickend den Weg für Günthers politische Karriere ebnen, denn damals realisiert der Oberstufenschüler aus einem eher unpolitischen Elternhaus, dass er durch Eigeninitiative einiges bewegen kann. „Ich merkte, dass sich etwas tut“, erinnert sich Günther, „dass es etwas gibt, wofür man sich einsetzen kann“.
Georg Günther, über die Vergangenheit„In meinem Bekanntenkreis gab es nach der Wende viel Angst, den Job zu verlieren oder keinen Ausbildungsplatz zu finden“
Dabei liegt der Eintritt in die Junge Union anfänglich gar nicht so nahe. Kurz vor seinem Abitur überlegt Günther, welche Partei zu ihm passen könnte, und schreibt diverse Partei-Jugendorganisationen an. Die Junge Union meldet sich zuerst, 2007 tritt er ein, 2010 wird er Mitglied der CDU. Überzeugt hätten ihn die Christdemokraten, so sagt er, damals vor allem wegen ihres Bekenntnisses zur sozialen Marktwirtschaft und des Versprechens, Jobs in der ländlichen Region zu schaffen. „In meinem Bekanntenkreis gab es durch die Umbrüche nach der Wende viel Angst, den Job zu verlieren oder keinen Ausbildungsplatz zu finden“, erinnert sich Günther. Das Gefühl der Unsicherheit hätte ihn geprägt. Vor dem Mauerfall arbeitete sein Vater als Elektriker im Kernkraftwerk Lubmin, das 1990 abgeschaltet wurde. Wie viele DDR-BürgerInnen musste er sich einen neuen Job suchen, pendelt heute in die gut 80 Kilometer entfernte Hansestadt Rostock.
Günther schaut auf die Uhr. In anderthalb Stunden beginnt die nächste Bürgersprechstunde in Ribnitz-Damgarten. Nun aber los, flink werden das Kaffeegeschirr in der Büroküche und seine Wahlkampfwerbung in der Ledertasche verstaut. Kurz vor dem Aufbruch kramt Günther hektisch in den Taschen seiner Hose, er stockt: Das Parkticket ist weg, wahrscheinlich aus der Hose gefallen. „Das ist mir noch nie passiert“, Günther ärgert sich. Vielleicht weil er befürchtet, dass das jetzt komisch rüberkommen könnte.
Sowieso ist er nach den ersten Erfahrungen mit der Presse, die sich zuletzt stark für den potenziellen Nachfolger im Merkel-Wahlkreis interessierte, vorsichtiger geworden. Denn dass ein Kollege der Süddeutschen Zeitung schrieb, dass in seinem Golf CDs von Coldplay, Udo Lindenberg und den Beatles liegen und ein Bändchen des Fußballklubs FC Hansa Rostock die Gangschaltung ziert, war ihm entschieden zu privat.
Und so fährt Günther jetzt mit einem von einem regionalen Autohändler gesponserten nigelnagelneuen Kleinbus vor, der bis zur Bundestagswahl sein mobiles Wahlkampfbüro sein wird. Auch das Radio bleibt während der einstündigen Autofahrt – vorbei an goldgelben Kornfeldern, gepflegten Einfamilienhäusern, Kirchtürmchen, Wald und Wiesen – ausgeschaltet.
Vorsichtig lenkt Günther den Wagen über die B 105, hält sich strikt an das vorgegebene Tempolimit von 80 Kilometern pro Stunde. Erst am vergangenen Wochenende hat er den Kleinbus mit der meterlangen Wahlwerbung beklebt. „Georg Günther. Ihr Bundestagskandidat für den Wahlkreis 15“, rollt die Botschaft nun über den Asphalt Mecklenburg-Vorpommerns – da darf kein falscher Eindruck entstehen.
Richtig in Fahrt kommt Günther, wenn er über seine kommunalpolitischen Projekte spricht, die er mit in den Bundestag nehmen möchte. Der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke Stralsund–Lübeck ist so ein Thema oder die Erweiterung der Radwege über die Landkreise hinweg. Auch die Entbürokratisierung durch verständliche, verschlankte Gesetze sind sein Anliegen, so wie regionale Wasserstoff-Speicherkapazitäten für den aus erneuerbaren Energien erzeugten Strom und schnellere Förderungsprogramme für die Digitalisierung, gerade in den Schulen.
Wie herausfordernd das Homeschooling zuletzt auch in seinem Landkreis war, hat er von seiner als Lehrerin tätigen Freundin erfahren. In den vergangenen Jahren engagierte sich der Kommunalpolitiker – neben der Mitarbeit in Finanz- und Haushaltsausschüssen – vor allem für Infrastrukturprojekte, setzte durch, dass die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr LkW-Führerscheine machen können, brachte sich für die Sanierung des Barockschlosses Griebenow bei Greifswald ein.
Georg Günther, CDU-Bundestagskandidat„Ich habe so viele Themen, wir könnten noch bis nach Hamburg fahren“
Wenn er das Direktmandandat für den Bundestag gewinnt, wird er sich vor allem für seinen Wahlkreis und sein Bundesland starkmachen, sagt Günther. Aber auch jenseits von Norddeutschland könne er sich einbringen, etwa zu den angespannten deutsch-russischen Beziehungen und der Fertigstellung der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2, die er unbedingt befürwortet. Zur starken transatlantischen Partnerschaft oder zum Nahostkonflikt, in dem er auf Deeskalation und zu einem klaren Bekenntnis von Deutschland an der Seite von Israel setzt. „Ich habe so viele Themen, wir könnten noch bis nach Hamburg fahren“, sagt Günther und parkt den Wagen auf dem Marktplatz in Ribnitz-Damgarten.
Einen kurzen Fußmarsch entfernt befindet sich die CDU-Geschäftsstelle auf dem Hof des ehemaligen Klarissenklosters, das heute ein Bernsteinmuseum und eine Galerie beherbergt. Davor blühen prächtig die Rosen. Dort wo noch in den sechziger Jahre Nonnen lebten, stellt Günther nun erneut Kaffeegeschirr und einige Flaschen Mineralwasser auf den Tisch und wechselt ein paar Worte mit zwei Parteikollegen, die gerade zu einer Wahlkampfveranstaltung für den Landtag aufbrechen.
Georg Günther am Hafen von Stralsund Foto: Martin Pauer
Auch jetzt am späten Nachmittag zeigt der CDU-Bundestagskandidat keinerlei Ermüdungserscheinungen, sondern hofft erwartungsfroh, dass die Anwohner der Kleinstadt auf sein Gesprächsangebot zurückkommen werden. Nicht die schlechteste Voraussetzung für eine politische Karriere im Bundestag, immerhin ist Angela Merkel für ihre gute Kondition bei Verhandlungen bekannt.
Telefonate mit „Frau Dr. Merkel“
Zuletzt telefonierte Georg Günther öfter mit „Frau Dr. Merkel“, wie er sie nennt. Die Bundeskanzlerin, deren pragmatischen Politikstil er schätzt und deren Krisenfestigkeit er bewundert, unterstütze seinen Wahlkampf, gebe ihm den einen oder anderen Hinweis. „Natürlich kann sie viel aus ihrem Wahlkampf und aus der Zeit, als sie Abgeordnete wurde, berichten“, sagt Günther. Auch habe Angela Merkel viel für die Region getan und stets ein offenes Ohr für die Anliegen in ihrem Wahlkreis gehabt.
„Das erwarten die Leute jetzt auch von mir“, sagt Günther, „dahingehend ist der Erwartungsdruck schon ziemlich hoch“. Trotzdem sei dies hier „sein Wahlkampf“, für den er „richtig durchpowern“ und dabei seine „eigene Schiene fahren“ wolle. So ein Neuanfang beinhalte schließlich auch eine Chance.
Georg Günther will sie nutzen. Für die kommenden Wochen hat er gemeinsam mit seinem Team eine ambitionierte Wahlkampftour auf die Beine gestellt, wird auf Marktplätzen und an Haustüren seines Landkreises für WählerInnenstimmen werben und Tagespraktika in Pflegeeinrichtungen, Kindergärten, Tankstellen und Handwerksbetrieben absolvieren. Ob das für den Bundestag reicht?
Die Antwort weiß allein der Wind. Bei geöffnetem Fenster in Ribnitz-Damgarten lässt er am Nachmittag die Tür leise klappern, sodass der CDU-Bundestagskandidat mehrmals aufspringt und nachschaut, ob jemand zur Bürgersprechstunde möchte. Heute aber wird niemand erscheinen. | Julia Boek | Georg Günther will für die CDU den Wahlkreis der Kanzlerin verteidigen. Von einem, der aus den Tiefen der Kommunalpolitik in den Bundestag strebt. | [
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Auftakt 69. Berlinale: Warten auf den Systemsprenger - taz.de | Auftakt 69. Berlinale: Warten auf den Systemsprenger
Die 69. Berlinale steht im Zeichen des Abschieds vom Direktor Dieter Kosslick. Außerdem setzt das Programm genderpolitische Akzente.
Rückblick auf die Berlinale: Trine Dyrholm (r.) in „Bungalow“ (2002) von Ulrich Köhler Foto: Peter Stockhaus Filmproduktion
Ist der Berlinale-Bär eine Berlinale-Bärin? Das aktuelle Hauptplakat der Internationalen Filmfestspiele Berlin legt das nahe. Da ist eine Frau zu sehen, die in einem Bärenkostüm steckt, den pelzigen Tierkopf hebt sie in die Höhe, als hätte sie ihn soeben abgenommen. Vielleicht setzt sie ihn auch gerade auf.
In mancher Hinsicht erscheint die 69. Ausgabe der Berlinale als Berlinale der Frauen. Der Wettbewerb hat, sofern es um die Filme geht, die um die metallenen Bären konkurrieren, einen Frauenanteil von 41,2 Prozent gegenüber 58,8 Prozent Filmen von Männern, in absoluten Zahlen sind das sieben Frauen und zehn Männer. Bei anderen A-Festivals wie Cannes oder Venedig wäre so ein nahezu ausgeglichenes Verhältnis nicht denkbar, gegenwärtig jedenfalls.
Die Retrospektive zeigt unter dem Titel „Selbstbestimmt“ ausschließlich „Perspektiven von Filmemacherinnen“. Die Hommage ehrt dieses Jahr die großartige britische Schauspielerin Charlotte Rampling. Und die Jury-Präsidentin ist ihre ebenfalls verdienstvolle französische Kollegin Juliette Binoche.
Die Berlinale kann dieses Jahr mit Recht stolz sein auf viele Frauen im Programm. Auch wenn sich die „klassischen“ Sektionen Forum und Panorama durch eine deutliche Männerdominanz nicht so ganz ins Bild fügen wollen. Letztlich ist zwar entscheidend, ob ein Film künstlerisch überzeugt oder nicht. Aber dass das unabhängig von Genderfragen gilt, trifft eben in beide Richtungen zu. Mit andern Worten: Weiblich dominierte Sektionen wären allemal wünschenswert. Hier kann die Nebenreihe des Forums, das Forum Expanded, mit 57,2 Prozent Frauen eigentlich ganz zufrieden sein.
Historisierung des Festivals
Eine ganz andere Frage ist die, wie sich die Berlinale, die letzte unter ihrem Direktor Dieter Kosslick, in ihrer Filmauswahl präsentiert. Was zunächst ins Auge springt, ist die Aufspaltung der ohnehin schon stark ausdifferenzierten einzelnen Sektionen in weitere Subsektionen, die sich dem Abschied von Kosslick und den damit einhergehenden Neigungen zur Rückschau verdanken dürften.
Das Panorama, in dem es schon neben den Spielfilmen die „Panorama Dokumente“ als eigene Dokumentarfilmreihe gibt, hat sich zusätzlich das „Panorama 40“ zum 40. Jubiläum der Sektion gegönnt. Darin kann man sich noch einmal Filme vornehmen, die einmal im Panorama ihren Anfang genommen und von da mitunter ins Kino gefunden haben. Ulrich Köhlers Spielfilmdebüt „Bungalow“ von 2002 ist dort ebenso zu sehen wie „Buddies“ (1985) von Arthur J. Bressan Jr., der damals erste Spielfilm zur Aids-Krise.
18 Jahre sorgte Dieter Kosslick als Direktor für Heiterkeit, Publikumszuwachs und ein dezidiert politisch aufgestelltes Programm –– aber eben auch für ein aufgeblähtes Angebot
Desgleichen hat das Forum seine eigene Geschichte betrachtet und bietet in den „Archival Constellations“ klassische Gegenkultur-Filme wie Bette Gordons „Variety“ (1983) oder Derek Jarmans „The Garden“ von 1990, der in einer restaurierten Fassung zu sehen ist. So gelungen die Auswahl dabei sein mag: Das Festival droht sich damit in seiner eigenen Historisierung etwas zu verlieren. Dass der ehemalige Panorama-Leiter Wieland Speck, der von 1992 bis 2017 deren Programm verantwortete und sie gegenwärtig noch „berät“, zudem eine Berlinale-Kamera als Auszeichnung erhalten wird, unter anderem neben der französischen Filmemacherin Agnès Varda, erscheint da fast ein bisschen viel des Guten.
Kein Hollywood-Film im Wettbewerb
Wie überhaupt das eigentlich Interessante am Programm ja die aktuellen Filme der Sektionen sein sollten, für Historisches gibt es mit der Retrospektive und den Berlinale Classics immerhin gleich zwei eigene Abteilungen. Was die neuen Filmproduktionen angeht, muss man sich, wie seit Langem unumgänglich, seine eigene Berlinale zurechtsuchen. Man sollte sich dabei von den Leitthemen im Einzelnen nicht zu sehr einschüchtern lassen. Die „Schriftlichkeit“, die etwa für die Auswahl des Forums steht, lässt ein breites Spektrum an Themen und Filmsprachen zu.
Vom deutschen Filmemacher Thomas Heise, der in „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ anhand von Familienbriefen die Geschichte der Judenverfolgung in Nationalsozialismus und des intellektuellen Lebens in der DDR auf sehr persönliche Weise filmisch erzählt, steht mühelos neben der Literaturverfilmung „A Portuguesa“ der portugiesischen Regisseurin Rita Azevedo Gomes nach Robert Musil oder dem nach strengem Regelwerk in Schwarz-Weiß-Bildern erstellten britischen Beitrag „Bait“ von Mark Jenkin über das Konkurrenzgebaren von Fischern in Cornwall. Bei Letzterem erschließt sich der Aspekt der Schriftlichkeit nicht einmal unmittelbar.
Und der Wettbewerb? Hat mit der Polin Agnieszka Holland, der Spanierin Isabel Coixet, dem Franzosen François Ozon, dem Kanadier Dénis Côté und dem Deutschen Fatih Akin einige alte Bekannte im Angebot. Freuen kann man sich insbesondere auf den Wettbewerbs-Einstand der deutschen Regisseurin Angela Schanelec, die unter dem Titel „Ich war zuhause, aber …“ ins Rennen geht. Hollywood fehlt dieses Jahr vollständig unter den Bären-Anwärtern, dafür kann man gleich drei Mitbewerber aus China begrüßen, darunter Wang Xiaoshuai, der 2001 auf der Berlinale den Silbernen Bären für „Beijing Bicycle“ erhielt. Und mit „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt hat es ein Debütfilm aus Deutschland unter die 17 Wettbewerbskandidaten geschafft.
Festival unter Interimsleitung
Bei der letzten Berlinale des noch amtierenden Direktors ist die Versuchung groß, im Programm nach altersbedingten Ermüdungserscheinungen zu suchen. Die 18 Jahre, die Dieter Kosslick als Direktor für Heiterkeit, Publikumszuwachs und ein dezidiert politisch aufgestelltes Programm, aber eben auch für Kritik am Aufblähen des Angebots bei wenigen klaren Setzungen gesorgt hat, haben strukturell Spuren hinterlassen. Abgesehen von den erwähnten aktuellen Binnenretrospektiven einzelner Sektionen kann man etwaige Symptome der Altersschwäche jedoch nicht unbedingt diagnostizieren. Die Berlinale „ist“ schließlich auch nicht Dieter Kosslick.
Vielmehr hat man es, wie in solchen Situationen nicht unüblich, mit einer Berlinale des Übergangs zu tun. Das Forum und das Panorama stehen unter Interimsleitung, wie es mit den verschiedenen Sektionen insgesamt unter der künftigen Geschäftsführerin Mariette Rissenbeeck und dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian weitergehen wird, bleibt abzuwarten. Wie überhaupt abzuwarten ist, welche neuen Akzente das Gespann setzen wird.
So kann man sich noch einmal, wie bei den 400 Filmen kaum anders möglich, auf Höhepunkte freuen oder über weniger Gelungenes ärgern. Dass sich an dieser Lage bei der Berlinale als Publikumsfestival, was sie auch weiterhin bleiben soll, in Zukunft grundsätzlich nicht allzu viel ändern wird, ist allemal wahrscheinlich. Und auch wenn es eine Binse ist: Über das Gelingen eines Films gibt es selten einhellige Urteile. In der Filmkritik genauso wenig wie beim interessierten Publikum. Man kann sich daher auch wieder auf die 69. Berlinale freuen. Es wird kein schlechter Jahrgang gewesen sein. | Tim Caspar Boehme | Die 69. Berlinale steht im Zeichen des Abschieds vom Direktor Dieter Kosslick. Außerdem setzt das Programm genderpolitische Akzente. | [
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■ Steueraffäre Graf offenbart fehlende Stammesidentität: ... und der Amigo lacht - taz.de | ■ Steueraffäre Graf offenbart fehlende Stammesidentität: ... und der Amigo lacht
Jetzt sitzt auch noch der Finanzberater. Dringender Verdacht: Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall. Joachim Eckardt soll zehn Millionen Mark am Fiskus vorbeigeschwiemelt haben. Zum Wohle von Stefanie Graf und ihrer Familie.
Die Steuergeschichte kommt daher wie eine Show von David Copperfield: Wo eben noch eine Batzen Geld war, ist plötzlich das Nichts – und eine paar Länder weiter liegt's gemütlich unter einer warmen Deck(adress)e. It's magic. Da staunt der Laie. Gestern noch hat er DM 16 ans Finanzamt überwiesen – Säumnisgebühr für die Verspätung von einem Tag.
Blickt noch jemand durch? Papa Graf offenbar auch nicht. Vielleicht zwei Rechercheure beim Spiegel. Es geht einfach zu exotisch zu. Wer die Meldungen liest, nimmt auf der Reise vom Finanzdschungel dieser Bananenrepublik zu den prächtigsten Steueroasen dieser Welt besser den Globus zu Hand. Curaçao, Niederländische Antillen, Guernsey, Vaduz ...
Aber Obacht, bald ist so richtig der Teufel los im Ländle. Nicht wegen Erwin, dem Ministerpräsidenten, sondern wegen dessen Monetenminister. Gestern stand die offene Drohung in der Stuttgarter Zeitung: „Mayer-Vorfelder will sich vor Beamte stellen.“ Gefährlicher geht's nimmer. Gerhard mit dem Kürzel MV ist ja im Nebenamt Präsident des VfB Stuttgart, und jeder Trainer weiß, was diese Formulierung heißt: Morgen bist du weg vom Fenster! Und der MV bleibt.
Derweil wird munter debattiert: Hat er oder hat er nicht ... – die schützende Hand über die Grafs gehalten? Die Behörden gebremst? Getrickst? Er: der Späth, der Teufel, der MV. Das aber zeigt nur, daß es mit der Stammesidentität dieses südlichen Sprengels nicht mehr weit her ist. Der Meineid, die Protektion, der sprichwörtliche Kuhhandel, das gehört doch seit jeher zur Folklore des Politikers. Zünftige Kerle, Amigos eben – in Bayern funktioniert das noch.
Bei den Schwaben ist das Stammesgefüge erodiert (Späth wurde geschaßt eines Urlaubs wegen!). Die Identität wird künstlich geschaffen, und zwei Figuren haben nicht wenig dazu herhalten müssen: die Brühlerin, der Leimener. Allzugern hat man die zwei aus Baden (!) nach Stuttgart gebeten, Fototermin hier, ein bißchen Showtennis mit dem Landesvater dort. Am Mittwoch erinnerte Erwin Teufel an Steffis Verdienste „vor allem für das Land Baden-Württemberg“.
Verzweifelte Reden. Der Amigo in München kann da nur lachen. Herr Thömmes | Herr Thömmes | [
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Mumie in der Elbe - taz.de | Mumie in der Elbe
Ägyptische Locke entdeckt. Zufallsfund entstammt Ladung der 1822 untergegangenen „Gottfried“
Otterndorf taz ■ Für altägyptische Gräber ist der Norden nicht bekannt. Und doch trieben einst Mumien bei Otterndorf an den Strand der Unterelbe. Es war die Nacht des 11. März 1822: Im schweren Sturm war der Lastensegler „Gottfried“ gesunken und mit ihm eine erstrangige Sammlung ägyptischer Altertümer, die Heinrich Carl Freiherr Menu von Minutoli im Auftrag von König Friedrich Wilhelm III. gekauft hatte. Während die leichteren Dinge an Land trieben, liegt der Rest bis heute unter bis zu acht Metern Sand in der Außenelbe.
Ein großer Steinsarkophag aus Sakkara, Hunderte Kanopen, 50 Stelen, 97 Kisten mit kleineren Schätzen und acht Mumien waren an Bord. Die weit zurückliegende Havarie gewinnt Interesse durch einen aktuellen Zufallsfund. Die Ägyptologin Renate Germer fand jetzt bei der Sichtung von koptischen Stoffen des 6. Jahrhunderts in der Textilabteilung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe ein Stück einer Mumienbinde und eine Haarlocke, die eindeutig einer Mumie von der „Gottfried“ zuzuordnen sind.
Es handelt sich um ein weibliches Mitglied der Archontenfamilie Soter aus Luxor. Denn Locken waren erst in römischer Zeit in Mode und auf die Zeit verweist im Tagebuch des Freiherrn Minutoli nur jenes Grab. Die beiden laut einer Beischrift am 5. April 1822 im damals zuständigen Gericht in Freiburg (Elbe) „mitgenommenen“ Mumienteile waren 1877 ins Museum gekommen – aber in der falschen Abteilung verschollen.
Nach den Kriterien von 1820 waren Schiff und Ladung verloren. Seltsamerweise sind auch die Unterlagen zur späteren Hamburger Auktion der angeschwemmten Ägyptiaca verloren gegangen und eine von Berlinern Ägyptologen 1983 durchgeführte intensive Suche brachte keine Spuren. Der jetzige Fund aber lässt hoffen, dass vielleicht doch noch schwer als ägyptische Pfostensärge erkennbare Zedernholzkisten irgendwo auf dem Dachboden eines Bauernhofs stehen. Das Museum für Kunst und Gewerbe hofft zudem, in nächster Zeit Sponsoren für eine Ausgrabung in der Unterelbe zu finden. Hajo Schiff | Hajo Schiff | Ägyptische Locke entdeckt. Zufallsfund entstammt Ladung der 1822 untergegangenen „Gottfried“ | [
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Optimistische HipHop-Beats für Garbi - taz.de | Optimistische HipHop-Beats für Garbi
■ Abschiebe-Gegner protestierten friedlich – ohne die NPD
Ungezwungen und beinahe gelöst war die Stimmung, als am Samstag rund 100 Anhänger des Internationalen Menschenrechtsvereins (IMRV) gegen die drohende Abschiebung des 18jährigen Kurden Garbi Y. protestierten. Aus den Lautsprechern des Demo-Wagens dröhnten optimistische Hip-Hop-Beats. Auch die Mienen der Garbi-Sympathisanten ließen eher Erleichterung denn Besorgnis vermuten. Das ist verständlich – denn entgegen aller Befürchtungen blieben Vertreter der rechten Szene der Veranstaltung fern.
Der Solidaritäts-Zug vom Ziegenmarkt in Richtung Domsheide hatte im Vorfeld für einigen Wirbel gesorgt. Grund: Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) hatte angekündigt, zeitgleich mit dem IMRV im Steintor aufzumarschieren. Zwar hatte das Stadtamt eine NPD-Kundgebung verboten – die Angst vor eventuellen Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten war damit aber noch nicht vom Tisch.
Erst als sich die Menschenrechtler vollständig versammelt hatten, war definitiv klar: Der Ziegenmarkt bleibt NPD-frei. Die diensthabenden Ordnungshüter konnten sich entspannt zurücklehnen. „Alles falsche Panikmache“, murrte ein Beamter. Das Polizei-Aufgebot war schnell auf ein Minimum reduziert.
Für Roberto Rodriguez, IMRV-Mitglied und Bekannter von Garbi, stand rückblickend fest: „Die NPD wollte doch nur gezielt gegen angeblich kriminelle Ausländer agitieren.“ Da die antifaschistischen Kräfte im Viertel äußerst geballt sind, wäre eine rechte Kundgebung geradezu selbstmörderisch gewesen.
Viel wichtiger als derlei Provokationen ist dem Menschenrechtsverein das Schicksal des Abschiebekandidaten selbst: Wie die taz berichtete, sitzt Garbi seit anderthalb Wochen in Hameln in Abschiebehaft. Da sein Asylfolgeantrag abgelehnt wurde, kann er im Prinzip jederzeit in die Türkei ausgewiesen werden. Dort befürchtet er gezielte Terror-Akte durch die zuständigen Machthaber.
Der IMRV nutzt daher die letzmöglichen Momente, um eine Abschiebung zu verhindern. „Wir versuchen, politischen Druck auszuüben – und zwar mit allen rechtlich erlaubten Mitteln“, sagt Roberto Rodriguez. Es gehe ihm darum, Aufmerksamkeit zu erregen – egal ob per Demonstration, über die Medien oder über Fax-Kampagnen an die Ausländerbehörden. Nur so könne man dem Ziel des Menschenrechtsvereins – einem dauerhaften Bleiberecht für Garbi – näherkommen. tin | tin | ■ Abschiebe-Gegner protestierten friedlich – ohne die NPD | [
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Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? - taz.de | Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?
Morgen ist der 1. Mai, was ist da nicht alles passiert: Russland schoss ein Flugzeug ab, in Kreuzberg brannten Supermärkte, und Tony Blair enterte das Unterhaus. Was die Zukunft bringt? Erst mal die Fusion von Ikea und DGB
Beim Raketenschild handelt es sich um eine Waffe, die sich ihren passenden Feind erst schaffen muss. Viel dümmer geht’s nicht
taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht letzte Woche?
Friedrich Küppersbusch: Beck fährt den Streit mit der CDU an nicht nachvollziehbaren Themen hoch.
Was wird besser in dieser?
Beck liest taz und setzt, siehe Frage zu Blair, Prioritäten neu, gern geschehen, das ist doch kein Thema, Kurti, wir Zweitligisten müssen doch zusammenhalten, logo.
Morgen ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit. Haben die Demonstrationen heute noch einen Sinn oder sind sie ein bedeutungsloses Ritual?
„Du hast mehr verdient“, slogant der DGB dieses Jahr wie Ikea. Während Ikea mit „Mehr Schlaf für alle“ ungefähr für das wirbt, was auch Arbeitnehmer unter dem Tag verstehen. Das spricht mittelfristig für eine Fusion beider. (Die DGB-Chefs Lasse Vorbeilaufen und Michael Mittsommer erklärten auf der zentralen Kundgebung, es seien noch Restposten da, und man lasse sich von niemandem den Köttbullar vom Wasa nehmen.) Dahinter verwendet die DGB-Agitation dieses Jahr den Begriff „Respekt“ ohne ihn auf Migrationspolitik zu verengen – schlau, endlich: Weder Gewerkschaft noch Arbeitnehmer werden ernst genommen beim Durchmarsch der Standortenführer, und genau diese Erkenntnis scheint langsam angekommen. Es ist noch Hoffnung !
Der 1. Mai wurde von den Nationalsozialisten 1933 zum gesetzlichen Feiertag („Tag der nationalen Arbeit“) bestimmt. Hat das die Bedeutung des Tages nachhaltig geändert?
Hier in Dortmund wurden Arbeiter ins KZ verschleppt, weil sich noch ’34 an Mallinckrodtstraße und Borsigplatz am Maifeiertag rote Fahnen aus den Fenstern hängten. Umso erbaulicher, dass die NPD dieses Jahr hier einen „Tag der nationalen Arbeit“ verüben will. Ergäbe ja, dass ältere Mitbürger den jungen Nazis zuriefen: „Unter Adolf wärt ihr ins KZ gekommen!“, und da sind wir aber mal froh, dass in den fraglichen Straßen heute bevorzugt Migranten wohnen, die so’n Scheiß nicht sagen. Jedenfalls nicht auf Deutsch. Übrigens waren beim „Haymarket-Riot“ in Chicago, der zum 1. Mai als Arbeiterfeiertag führte, acht Rädelsführer verurteilt worden, sechs davon: Deutsche. Das ist zwar 120 Jahre her, aber die NPD sollte schon von den USA die Herausgabe fordern.
Am 1. Mai 1960 schossen sowjetische Truppen über Russland ein U-2-Spionageflugzeug der USA ab. Die Amerikaner stellten deshalb die Spionageflüge keineswegs ein. Stehen ähnliche Konflikte mit dem neuen Raketenschild von George W. Bush wieder an?
Strategisch gesprochen ist ein „Raketenschild“ wohl eine „symmetrische“ Antwort auf eine asymmetrische Lage: Seit dem 11. 9. ist „Raketenschild“ als Technikdino vorgeführt. Es handelt sich also um eine Waffe, die nicht einen vorhandenen „Feind“ meint, sondern um eine, die ins Leere drohend sich ihren passenden Feind erst schaffen muss. Noch viel dümmer geht’s nicht.
Am 1. Mai 1987 brannten ein Bolle-Supermarkt und diverse Autos in Berlin-Kreuzberg, viele Demonstranten bauten Barrikaden und plünderten Geschäfte. Die Polizei zog sich aus Angst zurück. Das wirkt aus heutiger Sicht fast surreal. Warum?
Weil das mitursächliche Thema „Wohnungsnot“ in Berlin seit 18 Jahren mächtig gelindert ist. Es hat halt schon was Folkloristisches und ist mir von der ebenso bescheuerten „dritten Halbzeit“ beim Fußball nur schlecht zu unterscheiden. Der Kampf um die Hausbesetzungen ist vorbei, und wo es um Immobilienterrorismus geht, wird er jedenfalls nicht durch Kreuzberger Maikrawalle thematisiert.
Am 1. Mai 1997 hat die Labour Party unter Tony Blair die Wahlen zum britischen Unterhaus gewonnen und 18 Jahren Opposition beendet. Bald scheidet Blair aus dem Amt. Was hat er erreicht – und wie weit die deutsche Politik verändert?
Größer als Blair und Schröder, „New Labour“ und „Old Hirsch“, scheint der Unterschied nicht sein zu können. Blair konnte auf einer grundlegenden Neuerfindung sozialdemokratischen Programms aufbauen, Schröder ersetzte eine komplette Partei durch seine Intuition. Bei der Gelegenheit zu Protokoll zu nehmen, dass die sozusagen contentgestützte Version schon drei Jahre länger läuft. „New Labour“ war, nach Ewigkeiten Opposition, die Verwirtschaftlichung alter so$zialdemokratischer Positionen. Die SPD müsste, umgekehrt, erst mal die Sozialdemokratisierung ihrer Wirtschaftspolitik hinbekommen.
Am 1. Mai 1999 wird Nauru Vollmitglied des Commonwealth of Nations. Was zeichnet die kleinste Republik der Welt aus?
Dass sie, wenn man bei Wikipedia Fragen und Antworten für diese Kolumne generiert, irgendwann auch drankommt? Wie auch die jeweils ersten Maitage 1775 (in Wien wird der Augarten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht), 1844 (schwere Ausschreitungen in München nach fast 30-prozentiger Erhöhung der Sommerbierpreise) und 1974 (Wiederholung der theoretischen Fahrprüfung für Punktesünder wird obligat).
Am 1. Mai 2003 hat US-Präsident Bush größere Kampfhandlungen im Irak offiziell für beendet erklärt. Wie stellt sich für Sie die Lage vier Jahre später da?
Mir fällt spontan kein schlechterer Präsident als dieser mehr ein.
Und was werden Sie am 1. Mai machen?
Bücherregal einräumen („Tag der Trauerarbeit“, ich muss welche wegwerfen, das geht so nicht weiter.) Radfahren („… der Beinarbeit“).
Und was macht die Borussia Dortmund AG?
Rettet den Arsch knapp in die nächste Saison, kann das Stadion schmücken für die Meisterfeier der Unaussprechlichen und die vorsorglich geblockte Domain www.50-jahre-kein-deutscher-meister.de festlich verbrennen.
FRAGEN: DAH | DAH | Morgen ist der 1. Mai, was ist da nicht alles passiert: Russland schoss ein Flugzeug ab, in Kreuzberg brannten Supermärkte, und Tony Blair enterte das Unterhaus. Was die Zukunft bringt? Erst mal die Fusion von Ikea und DGB | [
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Armin Petras am Staatstheater Stuttgart: Nebenbei geht die Welt unter - taz.de | Armin Petras am Staatstheater Stuttgart: Nebenbei geht die Welt unter
Gleich mit sechs Premieren startete Armin Petras in seine erste Spielzeit am Stuttgarter Staatstheater. Atemlos? Reflektiert!
Szene aus „Die Reise“ nach dem Roman von ernward Vesper mit Paul Schröder, Christian Schneeweiß, Svenja Liesau und Manolo Bertling. Bild: Conny Mirbach
Wenn ein Intendant zu Beginn einer neuen Spielzeit das Ziel formuliert, ein breiteres Publikum ansprechen zu wollen, macht das in der Regel so viel Eindruck, wie wenn Politiker Steuersenkungen versprechen. Nämlich gar keinen.
Umso größer ist die Überraschung, wenn das scheinbar Unmögliche dann doch in Ansätzen einzutreten scheint. Sechs Stücke feierten am Wochenende Premiere bei der Eröffnung der neuen Spielzeit des Stuttgarter Schauspiels unter der Intendanz von Armin Petras. Trotz der Unterschiedlichkeit der Inszenierungen bleibt der Eindruck, dass es ein zentrales Thema gibt, das auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt wird.
„Kunst ist erst einmal nichts außer Reflexion über die Gesellschaft, über unser Leben, deren Abbild in konzentrierter Form“, schreibt Petras und dieser Aussage bleibt die Auswahl der Stücke treu. Sie bilden eine Reflexion über die unterschiedlichen Ängste und Konflikte unserer Gesellschaft mit dem Ergebnis, dass Angst, so unterschiedlich ihr Ursprung auch sein mag, letztendlich Angst bleibt.
Da wäre zum Beispiel die schminkeverschmierte junge Missy in Unterwäsche in der Uraufführung „5 morgen“, von Petras Autoren-Alter-Ego Fritz Kater geschrieben und von ihm selbst inszeniert. Verfeiert und verbittert rotzt das eben noch wasserstoffblonde Püppchen: „Ich werde nächstes Jahr fünfundzwanzig, ich bin eine Niete.“
Der perfekte Körper muss es ssein
Hübsche, normale Körper interessieren sie nicht, es muss der perfekte Körper unterhalb der 50-Kilo-Grenze sein. Das gilt erst recht, weil der Erfolg in der Abschlussprüfung des Studiums ausgeblieben ist und ein Virus das Fortleben der Menschheit bedroht.
„Dass ich nicht weiß, wer ich bin, wenn ich verheimliche, was ich dachte. Dass ich mein Leben lang versucht habe zu gefallen, dass ich dachte, was will der andere, was ich jetzt wollen soll?“ monologisiert mehr enttäuscht als wütend Marianne in „Szenen einer Ehe“ nach Ingmar Bergmans Film, inszeniert von Jan Bosse im Schauspielhaus, wiedereröffnet nach pannenreicher Umbauphase.
Marianne ist ehemalige Ehefrau, Mutter zweier Kinder und Anwältin. Hinter ihr erhebt sich eine verschachtelte, dreistöckige Einfamilienburg im Stil der Siebziger. Unverkleidete Kulissenrückwände wechseln sich mit heiter tapezierten Innenseiten des komplexen Baus ab. Ein Flokati, Kamin und die obligatorische Makramee-Eule malen die inszenierte Gemütlichkeit aus, aber auch die beengende Alltäglichkeit.
„Ist die Psychose Antwort auf die Frage der Bewusstwerdung?“ Das fragt eine der fünf Persönlichkeiten, in die die Rolle des Erzählers aufgespalten ist in der Inszenierung von Bernward Vespers Buch „Die Reise“, inszeniert von Martin Laberenz in der Nebenspielstätte Nord. Beantworten können die Stücke des Stuttgarter Beginns diese Frage natürlich nicht, aber dort ansetzen wo die Konflikte entstehen.
Das lebendige Spiel von Astrid Meyerfeldt und Joachim Król
Der tosende Applaus und die begeisterten Zwischenrufe des Publikums, durchschnittlich im Rentenalter, bei „Szenen einer Ehe“, ist wohl der beste Beweis, dass die Thematik direkt den Nerv der Zuschauer getroffen hat. Um kein falsches Bild zu vermitteln: Für die Begeisterung war das fortgeschrittene Alter nicht notwendig; auch wer den Titel „Szenen meiner Kindheit“ persönlich passender gefunden hätte, konnte sich dem lebendigen Spiel von Astrid Meyerfeldt und Joachim Król nicht entziehen.
Mit Tempo und einer unglaublichen emotionalem Wandlungsfähigkeit spielen sie sogar die endlich funktionierende neue Drehbühne an die Wand, die schließlich inklusive der darauf aufgebauten kleinbürgerlichen Festung im Boden versinkt.
In gewisser Weise schließt Armin Petras mit „5 morgen“ an „Szenen einer Ehe“ an. Denn was passiert, wenn der Zusammenbruch des privaten Raumes öffentlich wird, weil das Innen und Außen längst eins geworden sind? Fühlte man eben noch eine paradoxe Nostalgie beim Anblick des nun versunkenen bürgerlichen Wohnzimmers, drängt sich in „5 morgen“ die Ahnung auf, dass auch der Gegenwart eine ähnliche Zukunft bevorstehen könnte.
Natürliche Farben gibt es nicht, alles ist entweder grau oder künstlich im Bühnenbild. Überlebt haben in dieser Interpretation der Zukunft der Selbstdarstellungszwang und der Erfolgsdruck, gestorben ist die Hoffnung.
Die obligatorischen bunten Hipstersocken
Nicht nur die Projektionen medialen Bildsalates, die unkommentiert das Stück begleiten, sondern auch die Charaktere erinnern an den eigenen Alltag. So wie beispielsweise Jungakademiker August mit schlecht sitzender BWL-Seitenscheitelfrisur und den obligatorischen bunten Hipstersocken. Oder Paul, Schnauzerträger mit rausgewachsener Vokuhilafrise, Bauchansatz und zu kurzer Neunzigerjahre Printjogginghose.
Nebenbei geht die Welt unter, was im Grunde egal ist, denn Überlebenskampf ist sowieso alltäglich. Statt der Panik zu verfallen, spitzt sich die Atemlosigkeit und der Geltungszwang unter dem Funktionsdiktat der Leistungsgesellschaft einfach weiter zu. Bis alle gemeinsam im modern reduzierten Clownskostüm eine Art grotesk alltägliche Hochleistungschoreografie tanzen.
Wo man bei dieser Zukunftsvision das Gefühl hat, sehr nah dran zu sein am eigenen Umfeld und der vielleicht eigenen Krise, verschiebt sich die Wahrnehmung von scheinbar völlig vertrauter Umwelt im „Autostück. Belgrader Hund“ von Anne Habermehl, das Stefan Pucher tatsächlich für zwei Schauspieler und drei Zuschauer auf einer Autofahrt inszeniert hat. Auf der Rückbank sitzend folgt man dem Gespräch von Bogdan und Beifahrerin Liljana, während an den Autoscheiben vorbeizieht, was man schon tausendmal gesehen hat.
Auf befremdliche Weise ändert sich mit dem Dialog der Beiden auch das bekannte Bild der Stadt. Man erfährt von der serbischen Herkunft, von Perspektivlosigkeit und dem Zerrissen sein zwischen zwei Welten. Laut denkend erzählt die verlebte Blondine Liljana, gespielt von Marietta Meguid, von ihrem Wunsch dazuzugehören. Alltäglichkeiten transformieren sich, Mercedes wird vom starken Finanzpartner Stuttgarts zum Panzerexporteur. Liljana macht diese Welt krank aus der Gewissheit, dass ihre Vergangenheit nicht mit der Geschichte dieser Stadt übereinstimmt.
Zurück bleibt man als Teilnehmer an diesem Petras-Marathon am Ende selbst mit einer unzuverlässigen Wirklichkeit. Es sind viele Anstöße, die das Eröffnungswochenende gibt und wenn Armin Petras meint „Ich vermittle allerhöchstens zwischen Menschen und Texten und noch mal Menschen, da unten und da draußen“, dann ist ihm das auf vielseitige Weise gelungen. Denn vermitteln bedeutet, denjenigen zu kennen, dem man vermittelt. An diesem Punkt siegt Armin Petras mit Sensibilität für die Diversität von Gesellschaft und Theaterpublikum. | Judith Engel | Gleich mit sechs Premieren startete Armin Petras in seine erste Spielzeit am Stuttgarter Staatstheater. Atemlos? Reflektiert! | [
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Börne-Preis für Robert Habeck: Der Staatsmann - taz.de | Börne-Preis für Robert Habeck: Der Staatsmann
Mit einer Art Deutschland-Rede in der Frankfurter Paulskirche erklärt Vizekanzler Robert Habeck den heftigen gesellschaftlichen Streit dieser Tage.
Der Redner: Robert Habeck beim Kirchentag Foto: Daniel Karmann/dpa
Man kann gar nicht so viel kotzen, wie man müsste, im Angesicht der rechtslinken Reaktionäre, die sich an diesem Sonntag vor der Frankfurter Paulskirche versammelten, um den bundesdeutschen Vizekanzler Robert Habeck der Ökodiktatur, des Kriegstreibens, der sozialen Verelendung und was sonst noch alles zu bezichtigen. So scharf könnte Ludwig Börne geurteilt haben, in dessen Namen dem Wirtschafts- und Klimaminister drinnen in der Paulskirche ein Preis für herausragendes Sprechen und Schreiben überreicht wurde. Habeck selbst würde so niemals reden, aber darauf kommen wir noch.
Auch die zum Zwecke der Herabwürdigung Habecks gern benutzte Etikettierung als „Kinderbuchautor“ und „der Philosoph“ kann man sich künftig sparen. Ersteres ist von einer unverständlichen Respektlosigkeit gegen kompetente und gesellschaftsrelevante Kinderbuchautoren, zweiteres verkennt – absichtlich oder tatsächlich selbst ahnungslos – die Lage, in der wir, die deutsche und die globale Gesellschaft, sind.
Angesichts der vielen Eskalationsmöglichkeiten braucht es ja gerade Philosophie, es braucht jetzt großes und freies Denken, das die Normalitätsvorstellungen und auch die sich selbst genügende linksliberale Werte-Rhetorik erschüttert und damit neue diskursive und im Anschluss daran politische Wege öffnet, jenseits der populistischen Sackgasse, auf die wir zusteuern.
Einen Punkt haben die Kritiker allerdings, wenn auch in ihrer Verkennung der Entwicklung des gelernten Exekutivpolitikers Habeck, der ja viele Jahre ein Ministerium leitete und in Gummistiefeln mit Bauern und Fischern herumstritt, bevor er nach Berlin ging. Der Punkt ist, dass Politiker keine Philosophen sein dürfen. Sie dürfen eben nicht ganz oben und allein auf weiter Flur denken, sie müssen nicht am Großen herumdenken, sondern am Ganzen.
Habeck und seine „Deutschland-Rede“
Es war klar, dass Robert Habeck bei der Entgegennahme des Börne-Preises in der – of all places! – Frankfurter Paulskirche eine besondere Rede halten wollen würde. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie er verschiedene Entwürfe ausprobierte, verwarf und sich schließlich für die Rede entschied, die er dann am Sonntag hielt. Nennen wir sie die „Deutschland-Rede“.
Habeck ist der erste Spitzenpolitiker in Verantwortung, der den Preis der Ludwig Börne-Stiftung bekommt; Joachim Gauck bekam ihn, aber vor seiner Zeit als Bundespräsident. Insofern hat FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, der als One-Man-Jury den Preisträger auswählte, großes Gespür für das bewiesen, was Joschka Fischer „Zeitenbruch“ nennt. Habecks Leistung, sagte Kaube, bestehe darin, in seinen Essays und Büchern „die veränderte Zeit in die reflektierte Erfahrung des Politikers“ hineinzubekommen.
Habeck selbst hat dann in seiner Rede den Unterschied herausgearbeitet zwischen einem oppositionellen und oft zensierten Publizisten, Kritiker und Großdenker, wie es der Frankfurter Revolutionsdemokrat Börne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, und einem – im Sinne des Wortes – Staatsmann in der „Verantwortung des Handelns, das sich vor der ganzen Republik zu rechtfertigen hat“. Es seien eben nicht nur Urteile und Debattenbeiträge, die zur Diskussion stünden, sondern „die eigenen Handlungen“.
Nicht beißend scharf oder irritierend
Habeck sagte das nicht, aber im Zentrum eines langsam abklingenden mediengesellschaftlichen Hurrikans – vordergründig um ein neues Gebäudeenergiegesetz – hat er erfahren, was das bedeuten kann. Habecks nächster Punkt ist aber ein anderer: Sprechen in Verantwortung, Erklären, Offenlegen, wie man zu einer Handlungs-Entscheidung kommt, sei eine „Pflicht“ – klar, dass man hier an Bundeskanzler Scholz und auch seine Vorgängerin denken muss, die das offenbar anders sehen.
Die Sätze dürfen aber nicht beißend scharf und irritierend sein wie jene Börnes oder die von tatsächlich relevanten Gegenwartsintellektuellen und schon gar nicht unverständlich, sie müssen reparativ sein, also zusammenführen. Habeck nennt es in der Paulskirche „die Mit-Verantwortung für eine geteilte Öffentlichkeit, die für demokratisches Handeln unverzichtbar ist.“ Die Philosophie ist eine Grundlage des Sprechens, ein Bewusstsein für die ungeteilte Verantwortung für eine heterogene Gesamtgesellschaft eine zweite.
Robert Habeck hat schon in seiner Zeit als faktischer Oppositionsführer und Grünen-Vorsitzender zwischen 2018 und 2021 eine andere Sprache und damit ein neue politische Kultur entwickelt; eben keine klassisch-spitze und vereinfachende Oppositionssprache, wie sie jetzt Union und die rollenverwirrte FDP pflegen. Sondern eine in vielerlei Hinsicht ausgreifende Sprache, die nicht mehr auf exklusive „Haltung“ zielte, wie das Grünen-Tradition war und teilweise noch ist, sondern auf möglichst viele Bündnisse mit anderen Gruppen.
Habeck geht es um die Freiheit
Wenn man sein Sprechen jetzt analysiert, auch was er am vergangenen Freitag beim Gespräch mit dem Großphilosophen Peter Sloterdijk bei der Phil.Cologne ablieferte, dann hat er sich weiter entutopisiert, fast schon entakademisiert, jedenfalls dann, wenn ihn das nicht zum Handeln, zum Machen führt. Schluss mit Visionen, vor allem auch mit Apokalypsen, während Philosophen geschäftlich in großen Zeitspannen denken wollen, ist dieser Politiker der Aufklärer des Hier und jetzt, manchmal so detaillistisch, dass erfahrene Spindoktoren aufstöhnen. Noch wird auch in den Salons der Gegenwart gemurrt, wenn er Sätze raushaut wie diesen: „Der Gedanke ist so radikal, dass er nichts nützt.“
Wenn Habeck an diesem Sonntag in der Paulskirche über Börne spricht, etwa dessen unrealisiertes Zeitschriftenprojekt „Der Vermittler“, dann redet er – bewusst oder unbewusst – darüber, wie er sich sehen will und worum es ihm gehen soll, nämlich die – hier lässt er Börne sprechen – „widerstrebenden oder wetteifernden Ansprüche und Erwartungen der verschiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft auszugleichen“.
Am Ende geht es Habeck – auch das war früher grünenuntypisch – immer um die Freiheit, die sich, wie er sagt, nur als gesellschaftliche Freiheit realisieren kann. Woraus ernsthafte Wirtschafts- und Klimapolitik – sein Ceterum Censeo – logisch folgt, denn je weniger gelingende Transformation, desto weniger Freiheit (Demokratie, Emanzipation, Wohlstand, Individualismus undsoweiter) in einer kriseneskalierenden Welt.
Überraschende Wende am Ende
Im Kern von Habecks Denken steht jetzt die Frage unserer Zeit, die sich offenbar aus seinen jüngsten negativen Reaktionen auf sein politische Handeln geformt hat: „Wie verhindert man, dass gerade eine aktive Politik, die versucht, im Angesicht der großen Zukunftsherausforderungen Gräben zu überwinden, diese neu aufreißt?“ Tja. Darauf gibt es derzeit keine Antwort. Es regiert das Motto: Soooo geht es auf keinen Fall.
Jedenfalls kommt am Ende in der Paulskirche dann eine überraschende Wende, vor allem für die, die den Vizekanzler unbedingt als von der Kritik beleidigten Mimimi hinstellen wollen. Habecks Antwort ist: Weiterhandeln. Denn, so zitiert er Börnes Biografen Ludwig Marcuse: „Es gibt keinen Realismus außer dem des Handelnden“. Und: Weiterstreiten. Streit für ihn keine Eskalation, sondern die Normalität in einer heterogenen Gesellschaft der Vielfalt.
„Wir streiten, solange wir uns noch zuhören können“, sagt er. Kritik dürfe man nicht als Beleidigung begreifen, sondern sei Ausdruck demokratischer Anerkennung und Voraussetzung einer neuen Verständigung. Bei allem Interesse am Zuschütten von Gräben und seiner strategischen und auch echten Liebe zum Pathos: Das kommt dann doch etwas fett als Versuch einer souveränen Antwort, gerade auch auf die Infamien der jüngsten Zeit. | Peter Unfried | Mit einer Art Deutschland-Rede in der Frankfurter Paulskirche erklärt Vizekanzler Robert Habeck den heftigen gesellschaftlichen Streit dieser Tage. | [
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Polizei räumt Wagenplätze in Leipzig: Eroberung der Wagenburgen - taz.de | Polizei räumt Wagenplätze in Leipzig: Eroberung der Wagenburgen
In Leipzig räumt die Polizei zunehmend Wagenplätze. Die Stadt will nicht zu viele davon zulassen. Ein Besuch bei den Bewohnern in der Klingenstraße.
Bauwagenidyll in Leipzig: Der Platz wird immer enger, denn woanders räumt die Polizei. Foto: Foto: JoJo
Mit großen Schritten geht Stöpsel, klein und drahtig, mit an der Seite geschorenen Haaren, zwischen den dicht stehenden Wagen umher. Es gibt fahrtüchtige und solche, die keinen Meter mehr schaffen werden, Pferdetransporter, LKWs und auch tatsächliche Bauwagen. Bretter liegen über den tiefsten Matschkuhlen, Stöpsel geht quer durch die Pfützen durch, sie will zur Perle des Platzes: dem Badwagen. Eine Eckbadewanne ist mit einem Mosaik verziert. Nebenan steht eine Sauna, die sie nach Bedarf mit einem Ofen beheizen, beides selbst gebaut. Der Wagenplatz in der Klingenstraße im Leipziger Stadtteil Plagwitz ist ein Biotop. Und es gedeiht.
Von draußen dröhnen Bässe aus einem offenen rostigen Bus. Die 33-jährige Stöpsel lebt seit sechs Jahren hier und versteht sich als Sprecherin des Platzes. Wie die anderen bevorzugt sie es, nicht ihren vollständigen Namen zu nennen.
Menschen, die in Wagen leben wollen, gibt es immer mehr, erzählt sie. Auch immer mehr Normalos wie Studenten, auch Chirurgen, oder Anwälte. „Nicht alle, die hier leben, sind politisch aktiv. Wir sind bunt zusammengewürfelt“, sagt sie.
Die Wagenburg Klingenstraße liegt direkt neben einem Gewerbegebiet im Leipziger Südwesten. Auch die Fläche des Wagenplatzes war früher ein Gewerbegebiet. Das Wasser, das aus einem Brunnen am hinteren Teil der Fläche kommt, ist so verschmutzt, dass die Bewohner es nicht trinken können.
Jeder der 65 Bewohner wohnt in seinem eigenen Wagen. Bis auf eine Freifläche in der Mitte ist nicht mehr viel Platz. Dort erahnt man unter Gestrüpp einige Holzspielgerüste und offene Kochstellen.
Die Stadt befürchtet Dominoeffekte
Leipzig wirbt seit Jahren mit Raum für alternativen Lebenswandel. 2008 wurde die Stadt zum „Ort der Vielfalt“ gekürt, in der kreative Lebensräume Platz haben. Bürgermeister Burkhard Jung (SPD) hatte kurz nach seiner Wahl 2013 bekräftigt, mehr Platz für alternatives Wohnen zu schaffen und die bestehenden Projekte zu schützen.
Das gelingt auch, meint Linken-Politikerin Juliane Nagel. „In Leipzig gibt es im Vergleich zu anderen Städten sehr viele Wagenplätze“, sagt sie. In den letzten Jahren seien immer mehr entstanden, im Moment gibt es 10 Plätze, vielleicht auch 20.
Nagel sitzt im Mensacafé neben dem Kulturzentrum Moritzbastei im Stadtzentrum. Studenten trinken Kaffee, während Nagel, die in der linken Szene schlicht „Jule“ heißt, Fragen beantwortet. Seit 2014 ist sie Mitglied im Sächsischen Landtag. Für die Wagenburgbewohner ist sie eine Vertraute, auch wenn sie wissen, dass „Jule“ das wohl nicht alles verändern kann.
Als rechtlich eingetragene Lebensform existiert das Leben im Wagen auch in Leipzig nicht
„Leipzig bekennt sich zu seinen Wagenplätzen und möchte sie schützen“, sagt Nagel. Aber die Stadt befürchte einen „Dominoeffekt“ und wolle nicht, dass noch mehr Wagenplätze entstehen. Deshalb gehen Einsatzkräfte gegen eigenmächtige Besetzungen vor. Sie räumen immer öfter.
Eine der Geräumten ist Katrin. Sie lebt im Moment zu Gast bei Stöpsel und den anderen in der Klingenstraße. Die schwarze Schminke um die Augen der 28-jährigen ist verwischt, ihre dunklen Haare fallen aus der Kapuze, kalter Wind weht über den Platz. Katrin redet langsam, macht in den Sätzen längere Pausen, während sie die Orte zeigt, an denen sie schon ihren Wagen abgestellt hat. Katrin ist vor einigen Jahren mit einer Gruppe von etwa 15 Leuten aus Regensburg nach Leipzig gezogen.
Die städtischen Brachflächen
Sie dachten, Leipzig kriminalisiere das Leben im Bauwagen nicht. Mittlerweile sehen sie die Sache etwas anders. Als rechtlich eingetragene Lebensform existiert das Leben im Wagen auch in Leipzig nicht. Aber geduldet wird lange, und so kommen sie für eine Zeit auf einer städtischen Brachfläche im Stadtteil Plagwitz unter, dem Jahrtausendfeld. Einer großen Wiese, umgeben von gut sanierten Wohnhäusern.
Katrin hat Psychologie studiert, kann sich die Ausbildung zur Therapeutin aber nicht leisten. Ohnehin kann sie es sich nicht vorstellen, immer nur zu arbeiten. Gern würde sie zwei Wochen lang arbeiten, dann wieder nicht. Darf man solche Träume aussprechen? Katrin macht es, und dabei schwingt die Frage mit, wie frei wir sind, wenn sich Menschen die Erlaubnis, ein einfaches Leben draußen zu führen, so hart erkämpfen müssen.
Von der städtischen Brachfläche müssen sie und die anderen nach einiger Zeit wieder runter, die Stadt plant, eine Schule zu bauen. Eine Alternativfläche wird ihnen nicht angeboten. Weil sie sich nicht anders zu helfen wissen, fahren sie ihre Wagen Anfang Dezember 2015 auf einen Platz im Leipziger Osten nach Paunsdorf. „Wir haben uns Mühe gegeben, einen Ort zu finden, an dem wir niemanden stören“, sagt Katrin. Gleich nach der Besetzung nehmen die Bewohner Gespräche mit dem Sportverein Fortuna Leipzig auf, der die Fläche pachtet.
Eines Morgens gegen sechs Uhr hören die Bewohner laute Motorengeräusche. Die Polizei fährt mit Transportern auf den Platz und schleppt die Wagen auf den Seitenstreifen der anliegenden Hauptstraße. Die Bewohner haben jetzt eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch.
Sie bitten seitdem um einen Termin beim Ordnungsbürgermeister der Stadt. Sie wollen eine neue Fläche und über die Anzeige sprechen. Doch die Kommunikation ist schwierig, die Ansichten sind zu verschieden. Auf der einen Seite die Bürokratie der Stadt, die keine Regel kennt, die das Leben im Bauwagen erlaubt. Auf der anderen die Bewohner, die auch „aufmüpfig“ sein können, wie sie selbst von sich sagen, und wenig Verständnis für klare Verwaltungswege haben. Als der Bürgermeister sie nicht zu einem Termin vorlassen will, „besuchen“ sie ihn, wie sie es formulieren. Bei einer Demonstration dringen sie in das Rathaus zu ihm ins Büro vor. Sie sprechen mit ihm, aber ein Angebot für eine neue Fläche gibt es nicht.
Die Gentrifizierung lauert schon
Die Politikerin Juliane Nagel glaubt, dass die Kommunikation besser laufen würde, wenn es einen festen Ansprechpartner gäbe, der sich mit der Lebenswelt auf Wagenplätzen auskennt. „Die meisten Menschen, die auf Wagenplätzen leben, verstehen ihr Leben nicht mehr als politische Intervention, sie wollen das legal praktizieren.“
Stöpsel und die Bewohner der Klingenstraße pachten die Fläche bei einem privaten Vermieter seit sieben Jahren. Sie zahlen Nebenkosten, Trinkwasser holen sie in einem Wohnprojekt gegenüber. Allerdings steht die Fläche zum Verkauf. Immer wieder gibt es Interessenten. Dauerhaft an die Wagenplätzler verpachten möchte der Vermieter nicht. Einige vermuten, dass er mit dem Verkauf wartet, bis die Umgebung luxuriöser geworden ist.
In Plagwitz ist die Gentrifizierung noch nicht eingeschlagen. Aber jeder vermutet, dass sie kommt. Der alte Güterbahnhof ist schon in Einfamilienreihenhäuser verwandelt. Es gibt noch ganze Straßenzüge mit sich selbst verwaltenden Hausprojekten oder leer stehenden Wohnhäusern. Plagwitz ist dort, wo Berlin noch vor zehn Jahren gewesen sein muss: an einem Punkt, an dem sich vielleicht noch etwas entscheiden lässt, etwas gedrosselt oder abgewendet werden kann.
„Die neu Hergezogenen sind eigentlich positiv interessiert an uns“, meint Stöpsel. Das hat sie vorher auch anders erlebt. Bevor sie nach Leipzig zog, hat sie in Braunschweig im Bauwagen gelebt und ist dort mehrfach von Rechten bedroht worden. Seitdem hat sie alles Wichtige nachts neben sich liegen: Schuhe, Klamotten und eine Axt.
So eine Intoleranz hat sie in Leipzig noch nicht erlebt. Bis zum letzten Herbst. Da hat etwas Neues angefangen, was immer stärker zu spüren ist. Die Stimmung verschärft sich. In Leipzig hat es Brandanschläge auf Wohnungen von Linken gegeben. Busse, die zur Demonstration gegen Pegida fahren wollten, wurden mit Steinen beworfen.
Nachtwache wegen Nazis
Linken-Politikerin Juliane Nagel hält geheim, wo sie wohnt. Häufig erhält sie Drohungen über Facebook, vier davon hat sie im letzten Jahr zur Anzeige gebracht.
Auch in der Klingenstraße fühlen sie die Veränderung. „Viele haben dadurch Angst gekriegt“, meint Stöpsel. Sie sitzen zu sechst in einem der ausgebauten Wagen, die meisten auf dem Boden oder einigen Matratzen. Krümel und Sägespäne aus dem Ofen liegen zwischen den Schaffellen, die den Boden bedecken. Es riecht nach Rauch von Zigaretten und Feueranzünder. Brot, Blauschimmelkäse und Honig liegen in der Mitte, und jeder bedient sich. „Es ist nur ausnahmsweise so unordentlich“, sagt Arun über sein Heim, während er Kaffeebohnen in einer Mühle mahlt.
Sein pinkfarbener Irokesenhaarschnitt hängt schlapp zur Seite. Am Vortag hätten hier einige gefeiert. Nach einer Party wollten sie eigentlich schlafen gehen. „Da wurde eine Nachricht von den Nazis abgefangen: Jetzt geht‘s los“. Jemand hat sie an Arun weitergeleitet, und dann war an Schlafen nicht mehr zu denken. „Wir standen bis vier oder fünf Uhr morgens am Tor, aber nichts ist passiert“.
Das ist nicht immer so. In der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember wurden in drei Leipziger Stadtteilen 13 ausgebaute Wagen angezündet. In Plagwitz waren es vier, die vor einer Reihe linker Hausprojekte parkten. Durch Zufall haben Arun und ein paar andere die brennenden Reifen gesehen und konnten die Brandsätze von den Reifen reißen. Die Wagen in Plagwitz sind nicht ausgebrannt. Ob die Taten politisch motiviert waren – dazu möchte die Leipziger Polizei nichts sagen. „Koordiniert“ seien sie gewesen, da alle Autos etwa zur selben Zeit angezündet wurden.
Umso unwohler fühlen sich Katrin und die anderen, als sie von der Polizei nach der Räumung mitten auf einer Hauptstraße abgestellt werden. Sie beeilen sich, mit ihren Wohnwagen in einen Park zu gelangen, in dem sie sich geschützter fühlen. „Aber es dauerte nur einige Stunden, bis die ersten Nazis pöbelnd vor unseren Wagen standen“, sagt Katrin. Dieses Mal kommt die Polizei, um nicht sie, sondern die Rechten zu vertreiben. Nachts hören sie oft, wie Menschengruppen an ihnen vorbeiziehen und ihnen drohen. Zwei Wochen stehen sie im Park, bis sie in der Klingenstraße schließlich einen Unterschlupf finden. Vorläufig. | Anna Bordel | In Leipzig räumt die Polizei zunehmend Wagenplätze. Die Stadt will nicht zu viele davon zulassen. Ein Besuch bei den Bewohnern in der Klingenstraße. | [
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Weltgeist auf stählernem Roß - taz.de | Weltgeist auf stählernem Roß
■ Leo Trotzki - Lebensroman und Daseinsverfehlung
Von allen schrecklichen großen Männern dieses Jahrhunderts war Trotzki gewiß die phantastischste, begabteste, lebensvollste Figur. Eben deshalb ist er jetzt der toteste von allen. Er ist so radikal gestoren, wie er gelebt hat.
Was bleibt, ist die Metapher seines Lebens, das er selbst literarisch verewigt hat. Der Mann hat ja nicht nur - im ironischsten Gegensatz zum historischen Materialismus Geschichte „gemacht“ (wirklich gemacht), sondern sie immer auch als seinen ureigensten Lebensroman gleich mitgeschrieben. Und wann ist echte Literatur jemals so geschrieben worden! Auf der Pritsche im zaristischen Gefängnis (aus dem er bald wieder freikommen würde - keiner seiner Feinde ist später so billig davongekommen); im Panzerzug zwischen den Schlachten, auf den Knien notierend; am Schreibtisch im Exil, von Attentätern umschlichen. Und immer die Feder gewissermaßen in ein Meer von Blut, Schweiß und Tränen getunkt, das er selbst mit angerührt hatte...
Ob seine Geschichte der russischen Revolution oder seine Autobiographie Mein Leben Caesars Gallischen Krieg, Bonapartes Oevres oder Bismarcks Betrachtungen an stilistischem Glanz übertreffen, sei dahingestellt. Aber mit Sicherheit an welthistorischem Sendungsbewußtsein: „Die ganze Geschichte - das ist eine große Maschine im Dienste unserer Ideale. Sie arbeitet barbarisch langsam, mit fühlloser Grausamkeit, aber sie tut ihre Sache.“ So der siebenundzwanzigjährige Trotzki, nachdem er 1905 einen kurzen revolutionären Sommer lang als Vorsitzender des spontan gebildeten Petersburger „Sowjet“ Lokomotivführer und Weltgeist gespielt hatte. Es stellte sich heraus, daß in Rußland diese Maschine statt mit Dampf gewissermaßen noch mit Pferdekraft arbeitete. „Gaul Geschichte - du hinkst!“, wie Majakowski dichtete. Macht nichts. Das Jahr 1917 brachte den Zusammenbruch des Zarenreichs im Weltkrieg und die totale Atomisierung der russischen Gesellschaft wie in einem Naturprozeß. Als die politische Massenbewegung im Spätsommer 1917 auf dem Nullpunkt angelangt war, warf Lenin die Frage auf: Können die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? und antwortete selbst: wenn hunderttausend Gutsbesitzer Rußland regieren konnten, können es 400.000 Bolschewiki erst recht...
Die eigene Partei scheute zurück. Dafür sprang ihm der Nicht-Bolschewik Trotzki zur Seite, als Tribun und Kommandeur eines „Revolutionären Militärkomitees“, auf das ein paar tausend meuternde Matrosen und Soldaten der Petrograder Garnison hörten. Mehr bedurfte es nicht. Der Machtwechsel geschah nahezu unbemerkt und (zunächst) fast ohne Blutvergießen. Um so phantastischer das Kolossalgemälde, das Trotzki später von der „Nacht der Entscheidung“ malte - worin die völlige Abwesenheit des Proletariats als ein Fall mythischer Übereinstimmung erscheint:
„In der Nacht zum 25. Oktober begaben sich die Mitglieder des revolutionären Komitees in die Bezirke. Ich blieb allein (...) in dem kleinen Eckzimmer des dritten Stocks, das in dieser entscheidenden Nacht der Revolution der Kommandobrücke eines Kapitäns glich. (...) Die Bürger und das Beamtentum, zusammengekauert in ihren Betten, versuchen zu erraten, was wohl in den geheimnisvollen und gefährlichen Straßen vor sich gehe. Den wachsamen Schlaf eines Kriegslagers schlafen die Arbeiterviertel. Komissionen und Beratungen der Regierungsparteien tagen, vor Ohnmacht erschöpft, in den Zarenpalästen (...) An den Scheiterhaufen wärmen sich die Straßenpatrouillen. An zwei Dutzend Telefonen konzentriert sich das geistige Leben der Hauptstadt, die in dieser Herbstnacht den Kopf aus der einen Epoche in die andere zwängt.“
Lenin kommt aus seinem Versteck. Und die beiden bilden den ganzen Bürgerkrieg hindurch eine Art Duumvirat. Wenn es Lenins eigentliche historische Leistung ist, aus einem kleinen Parteikader einen allumfassenden Machtapparat zu schmieden, so die Leistung Trotzkis, eine rote Armee aus dem Boden zu stampfen, die am Ende fünf Millionen Mann zählt. Er ist der Kriegsgott dieser Jahre. Mit seinem Stahlroß, dem legendären Panzerzug, umgeben von einer Leibgarde schwarzer Ledermänner, rast er von Front zu Front und führt eine Disziplin ein, wie sie keine Armee der Welt bis dahin gekannt hatte. Nicht nur auf Feigheit, auch auf Versagen, Unachtsamkeit, ja bloße taktische Fehler hieß das Urteil: Erschießen! Und kein anderer als Trotzki ist es, der im Juni 1918 die Errichtung von Konzentrationslagern („Konzentrazionnyjelagerja“) anordnet und vorschlägt, dort sämtliche „undurchsichtigen Agitatoren, konterrevolutionären Offiziere, Saboteure, Parasiten, Spekulanten“ hinter Stacheldraht zu bringen - Teil einer neuartigen sozialen Kriegsführung mit Brotkarte und Arbeitsbuch, Geiselnahmen und systematischem Massenterrorismus.
In einer Rundumverteidigung, die zugleich Rückeroberung und Neukolonisierung ist, wird Zug um Zug das alte Vielvölkerreich auf neuer Grundlage zusammengefügt. Bertrand Russell erlebt Trotzki auf einem Meeting im Sommer 1920, während des Kriegs mit Polen, als eine nationale Figur: „Dann sprach er ein paar Sätze, kurz und scharf, mit militärischer Genauigkeit, und endigte damit, daß er ein 'dreifaches Hoch unseren Burschen an der Front‘ ausbrachte (...)“ Trotzki und die Rote Armee haben jetzt zweifellos ein starkes Nationalgefühl hinter sich.“
Daß er sich selbst damit immer mehr den Boden unter den Füßen wegzog - er merkte es nicht. Stattdessen erzählte er mit Wonne die Anekdote von jenem Bäuerchen, das ihm (unwissend, mit wem es sprach) gesagt habe: Lenin, diesen Juden, sollte man zum Teufel schicken - „aber Trotzki, das ist einer von uns...“
Im März 1921 ließ er die revoltierenden Kronstädter Matrosen, die auf der Wiederherstellung der Sowjetdemokratie beharrt hatten „wie Rebhühner abschießen“ - so, wie er es ihnen wortwörtlich angedroht hatte. Danach wurde jede, selbst innerparteiliche Demokratie ausgeschaltet. Daß er selbst, der ursprünglich fraktionslose Sozialist und radikale Literat, sich damit die Luft zum Atmen nahm, hätte er wissen können. Aber er wußte ja längst nicht mehr, was er eigentlich tat und welches geschichtliche Unwesen er zum Erscheinen gebracht hatte.
So wenig wie Lenin, der am Ende seines Lebens, von Gehirnschlägen gelähmt, vor seinem eigenen Golem, dem Sowjetstaat und Parteiapparat, tödlich erschrak. Noch einmal suchte er das Duumvirat mit Trotzki, um ein paar hilflose Gegenmaßnahmen einzuleiten. Vergeblich. Trotzki, noch immer von der Aura eines potentiellen Bonaparte umgeben, war selbst von einer unerklärlichen Schwäche befallen. In der entscheidenden Phase des Kampfes um die Macht, im Dezember 1923, meldete er sich zur Kur ans Schwazre Meer ab. Dort wurde er - verspätet - von Lenins Tod unterrichtet. Er konnte nicht einmal an der Grablegung auf dem Roten Platz teilnehmen, bei der Stalin dreist die Toga des legitimen Nachfolgers überstreifte. Ende einer kurzen, schwindelerregenden Karriere als Machtmensch und Weltgeist auf stählernem Roß: „In Suchumi lag ich lange Tage auf dem Balkon mit dem Gesicht zum Meere (...) Das ständige Gefühl erhöhter Temperatur vermischte sich mit dem bohrenden Gedanken an Lenins Tod (...) Mit dem Einatmen der Meeresluft sog ich mit meinem ganzen Wesen die Gewißheit ein, daß im Kapmf gegen die Epigonen das historische Recht auf meiner Seite steht.“
Nur daß dieses „historische Recht“, das sich auf das Bewußtsein der Kongenialität berief, gegenüber den „Epigonen“ keinen Pfifferling wert war. Es gab überhaupt kein historisches Recht in der Sache. Revolution und Konterrevolution waren längst dasselbe. Die Ablösung als Kriegskommissar erreicht Trotzki im Frühjahr 1925, nein, nicht auf der Rebhuhn-, aber auf der Entenjagd. Seine Schwächeanfälle hielten an. Ihr Kern war die prinzipielle Weigerung, gegen die Partei an das Volk oder auch nur die Arbeiterklasse zu appellieren. Aus guten Grund: „Sozialismus“, das hieß Kollektivierung, gab es nur mit der Partei. Gegen die Partei gab es ergo keine Berufung. Innerhalb der Partei gab es keine Berufung gegen die Entscheidungen des Zentralapparats. So wurde Trotzki zum „Parteifeind“ und die sogenannten „Trotzkisten“ zum Punchingball interner Machtkämpfe. Immerhin erschoß man noch nicht, sondern verhaftete „nur“ oder schloß aus. Trotzki schickte man ins Exil. Auf einem jüngst veröffentlichten Foto, das ihn während der Abschiebung im Februar 1929 in die Türkei zeigt, wirkt er beinahe heiter.
Und genau so kommt er, ungebrochen von allen Bitternissen des Exils, im Januar 1937 in Mexiko an, seiner letzten Station. Alice Rühle-Gerstel schilderte den Empfang so: „Trotzki war sehr unbefangen, heiter, agil, ziemlich jugendlich und benahm sich wie ein Hocharistokrat bei einem Empfang der Dorfbevölkerung, das heißt, ohne jede Spur von Herablassung, mit feinster Betonung der absoluten Gleichheit, sehr höflich und ganz zwanglos (...) Er sieht ganz anders aus als auf den Bildern (...) Nie hätte ich gedacht, daß Trotzki blaue Augen haben könnte. Das sind zutiefst unschuldige Auigen, unschuldig in dem Sinne eines naiven Weltvertrauens, Selbstvertrauens und Menschenglaubens, ein Mensch, der nicht zweifelt, weil ihn das traurig machen würde, weil er sich vielleicht fürchtet, im Zweifel die Balance zu verlieren...“ Später lernt sie ihn näher kennen. Aber der Eindruck bleibt derselbe: „Der ganze Trotzki macht den Eindruck, daß man ihn nicht beschmutzen dürfe, nicht einmal mit Zigarettenrauch. Er ist so rein (...), so bruchlos. Er trägt einen alten Anzug, abgeschabte, derbe Sandalen, das Zimmer ist unfreundlich, düster, sein Schicksal jammervoll, fürchterlich, voller Komplikationen. Das alles merkt man nicht, man muß es sich immer dazu denken.“
Noch immer spielt er den sozialistischen Weltdiktator außer Dienst. In der Wirklichkeit ist er Schriftsteller und Ankläger von unglaublicher Wortgewalt und beklemmender Scharfsicht. Keiner hat so genau wie er das fatale Zusammenspiel von Stalinismus und Nationalsozialismus entlarvt, von der „Sozialfaschismusthese“ 1929 bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939. Freilich, davon sticht der groteske Revolutionalismus seiner Prognosen ab. Am verfehltesten die nach Ausbruch des Weltkrieges: „Der Sieg der Volksmassen über die Nazityrannei wird eine der größten Explosionen in der Weltgeschichte sein...“ (Dezember 1939) - „Die Frage ist, ob als Ergebnis des gegenwärtigen Krieges die gesamte Weltwirtschaft auf planmäßiger Grundlage aufgebaut wird...“ (Februar 1940) - „Das Ziel der IV.Internationale ist die Ausbreitung der Oktoberrevolution über die ganze Welt und zugleich die Wiederbelebung der UDSSR (...) durch den Aufstand der Arbeiter, Bauern, roten Soldaten und Matrosen gegen die neue Kaste der Unterdrücker und Parasiten.“ (April 1940)
Aber dem überspannten Revolutionalismus der Aufrufe entspricht kein Versuch eines ernsthaften revolutionären Widerstands gegenüber dem stalinistischen Regime, das sogenannte Trotzkisten zu Tausenden henkt und abschlachtet wie Rebhühner. Trotzki sieht der äußersten Möglichkeit ins Auge: Wenn „der gegenwärtige Krieg keine Revolution“ hervorbringt, könnte sich die UdSSR sehr wohl als „Vorläufer eines neuen Ausbeuterregimes im internationalen Maßstab“ erweisen. Dann allerdings müßte man den Marxismus selbst revidieren und die „grundlegende Unfähigkeit des Proletariats, eine herrschende Klasse zu werden“, anerkennen. (So schon bei Kriegsbeginn im September 1939)
Aber als sich der Kreis der Mörder enger um ihn zieht, verwirft er in seinem politischen „Testament“ diesen Gedanken schnell wieder: „Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute stärker noch als in meiner Jugend. Natascha hat das Fenster noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren Himmel darüber und die Sonne über allem. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt, und es voll genießen. L. Trotzki, 27.2.1940“
Trotzkis Vorstellung von Revolution, sein eigenes kurzes und verheerendes Wüten als Revolutionär, folgte dieser mehr als schlichten, kindlichen Vorstellung einer vom Übel gereinigten Welt, die funkelnagelneu „auf planmäßiger Grundlage“ aufgebaut werden könnte. Daraus entstand ein ganzes System politisch-ökonomischer Fehlgedanken, und Lew Dawydowitsch Bronstein, genannt Trotzki, hat es mit der höchsten theoretischen Potenz ausgearbeitet und mit phantastischer literarischer Vehemenz verfochten. Aber: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Diesen Satz Spenglers, den Bucharin in seiner letzten Rede vor Gericht verwendet hat, hatte Trotzki dutzendemale ähnlich formuliert. Fast scheint es, als hätte auch er (wie Bucharin) seinen eigenen Tod akzeptiert, um die literarische Metapher seines Lebens unversehrt zu erhalten.
Gerd Koenen | gerd koenen | ■ Leo Trotzki - Lebensroman und Daseinsverfehlung | [
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Jüdisches Leben in Niedersachsen: Dialog und Stärke - taz.de | Jüdisches Leben in Niedersachsen: Dialog und Stärke
Ein Festival und ein neues Web-Angebot erzählen von der langen jüdische Geschichte und aktueller jüdischer Kultur in Niedersachsen.
Besuch vom Bundespräsidenten: Rabbinerordination 2022 in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Hannover Foto: dpa | Michael Matthey
BRAUNSCHWEIG taz | Wo Niedersachsen besonders typisch erscheint, war es historisch auch stets jüdisch. Selbst wenn Jüdinnen und Juden vielleicht nicht schon seit 1.700 Jahren ansässig sind, wie es 2021 die Festivitäten für andere Landstriche Deutschlands reklamierten: Spuren weisen zumindest zurück bis ins 10. Jahrhundert.
So soll etwa im Harzvorraum die frühe Kunst der Salzgewinnung und des Salinenwesens in jüdischen Händen gelegen haben. Oder, neuzeitlicher: Selbstverständlich unterhielt die Ferieninsel Norderney bis in die 1930er-Jahre hinein eine Synagoge, finanziert durch seine großbürgerlichen, vornehmlich hanseatisch jüdischen Badegäste.
Auf diese dann doch recht lange und vielfach symbiotische Geschichte verwies in der vergangenen Woche der Historiker Jörg Munzel: Da stellte er zusammen mit der Judaistin und Geschichtswissenschaftlerin Rebekka Denz in der Jüdischen Gemeinde Hannover das neue Internetportal „Jüdisches Niedersachsen online“ vor.
Die Website www.juedisches-niedersachsen.de ist ein Projekt des 2016 gegründeten Israel Jacobson Netzwerks, das Städte und Landkreise sowie Institutionen der Wissenschaft, Forschung und Kultur wie auch Privatpersonen aus dem Südosten Niedersachsens zusammenschließt – um die Bedeutung dieser Region als Wiege eines modernen Judentums im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.
Das FestivalJüdische Kulturtage zwischen Harz und Heide: 14. 8.–22. 9., Programm unter: ij-n.de
Namensgeber Israel Jacobson (1768–1828), Braunschweiger Bankier und Rabbiner, richtete 1801 in Seesen eine Freischule für jüdische wie christliche Schüler ein. Die örtliche Synagoge, der Seesener Jacobstempel, wurde durch seine landessprachlichen Predigten mit Orgelmusik weltweiter Impulsgeber eines reformierten Judentums.
Dieser bundesweit erste Onlineauftritt seiner Art ist als offenes System angelegt, eine visualisierte Datenbank für ganz Niedersachsen, und deshalb alles andere als vollständig. Schwerpunkte sind Kulturtourismus, Bildung und Wissenschaft. Wesentlich ist der Button „Mitmachen“ unter jedem Kapitel: Inhalte sollen sich auch erweitern, aber vor allem soll das interaktive Moment wohl etwaige Berührungsängste gar nicht erst aufkommen lassen.
Die niedersächsischen Interessensvertreter:innen jüdischen Glaubens und seiner Kultur gehen damit in die Offensive: Mit Dialog und zivilgesellschaftlicher Stärke gegen ein „alarmierendes Gedankengut“, wie es der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, in der Hannoverschen Auftaktveranstaltung formulierte.
Gleichwohl musste auch die dortige Jüdische Gemeinde handfest nachrüsten: Schusssichere Glaswände sichern mittlerweile den Zugang zu Synagoge und Versammlungsstätte, auf Polizeipräsenz soll bis auf Weiteres aber verzichtet werden.
Wer jüdische Kultur und jüdisches Leben lieber anlog erleben möchte: Die am 14. August beginnenden 4. „Jüdischen Kulturtage zwischen Harz und Heide“ – ebenfalls eine Initiative des Israel Jacobson Netzwerks und dieses Jahr von der Stadt Peine ausgetragen – bieten unter dem Titel „Jung und jüdisch“ mehr als 60 Veranstaltungen (auch im benachbarten Sachsen-Anhalt). Gewidmet ist das Programm dem gebürtigen Peiner Sally Perel (1925–2023), dessen abenteuerliche Biografie als „Hitlerjunge Salomon“ verfilmt wurde. Bis zum Lebensende setzte er sich von Israel aus für die Versöhnung ein – und gegen die salonfähig werdende neue Judenfeindlichkeit. | Bettina Maria Brosowsky | Ein Festival und ein neues Web-Angebot erzählen von der langen jüdische Geschichte und aktueller jüdischer Kultur in Niedersachsen. | [
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Olympische Winterspiele 2018: Garnix-Partenkirchen? - taz.de | Olympische Winterspiele 2018: Garnix-Partenkirchen?
Eigentlich bewirbt sich München. Doch alle Schneewettkämpfe sollen in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Da fühlten sich viel übergangen – jetzt wird abgestimmt.
Sie wollen kein Olympia: die Gruppe "Nolympia" beim Protest in München. Bild: dpa
MÜNCHEN taz | Die Nervosität steigt. Selbst glühende Olympiabefürworter wie der ehemalige Skirennläufer Christian Neureuther wissen, dass es eng wird. "Wir müssen kämpfen", sagte er der taz. "Am Sonntag feiern wir dann oder wir trauern - eine Niederlage wäre das Aus für Olympia." Ein Ort mit 26.000 Einwohnern kann die Olympiabewerbung von München, Schönau am Königssee und eben Garmisch-Partenkirchen zu Fall bringen.
Seit Ende Februar laufen im Ort zwei Bürgerbegehren, eines gegen, eines für die Spiele. Den einen sind die Spiele zu groß, sie fürchten, dass ihre Heimat darunter leidet. Die anderen hoffen auf einen Schub für den seit Jahren stagnierenden Wintertourismus. Beide Seiten haben tausende Unterschriften gesammelt - deswegen nun ein doppelter Bürgerentscheid, bei dem im Zweifel eine Stichfrage entscheidet. Das Interesse ist riesig: 5.200 Bürger haben Briefwahl beantragt, Politiker im Ort erwarten eine hohe Beteiligung. Viele Bürger sind froh, dass endlich abgestimmt wird - das Thema "Olympia 2018" hat einen Keil durch den Ort getrieben; niemand wagt vorherzusagen, wie der Entscheid ausgeht.
Die Olympiaplaner hoffen immer noch, dass sie eine klare Mehrheit bekommen. Ein knapper Sieg wäre schon eine Niederlage. Plötzlich spüren alle, wie schnell der olympische Traum vorbei sein kann. Bei einer Podiumsdiskussion in den Räumen der BMW-Welt am Münchner Olympiapark am Donnerstag appellierte der Oberbürgermeister der Stadt, Christian Ude (SPD), geradezu flehentlich: "Eine Niederlage wäre ganz, ganz schlimm. Die Mehrheit muss abstimmen - das ist das Gebot der Stunde." Unterstützung bekam Ude vom ehemaligen Außenminister Joschka Fischer (Grüne), der sich zum ersten Mal offiziell als Olympiafan outete und - ganz Elder Statesman - fragte: "Warum könnt ihr euch nicht einigen?"
Fehler zugegeben
Die Olympiaplaner geben mittlerweile offen zu, dass in Garmisch-Partenkirchen Fehler gemacht wurden. Vor zwei Jahren wäre eine Einigung kein Problem gewesen. Doch die Planer haben die Bürger einfach nicht eingebunden: keine Aufklärung über das Milliardenprojekt Olympia, keine Gespräche mit den Grundstückseigentümern. Dazu ein großkopfertes Verhalten - allen voran vom damaligen Bewerbungschef, dem Unternehmer Willy Bogner. Er ist im Ort immer noch für zwei Sätze bekannt: "Der Einzelne muss im Zweifel auch zurückstecken. Das gehört zu seinen staatsbürgerlichen Pflichten."
Der BürgerbescheidAuf dem Stimmzettel beim Olympia-Bürgerentscheid am Sonntag in Garmisch-Partenkirchen können die knapp 21.000 Stimmberechtigten insgesamt drei Kreuze machen.*** Bürgerentscheid 1: Die Befürworter fragen, ob die Marktgemeinde die Bewerbung um die Olympischen und Paralympischen Winterspiele im Jahr 2018 als Partner von München wie geplant weiter vorantreiben soll.*** Bürgerentscheid 2: Die Gegner richten sich gegen Spiele am Fuße der Zugspitze. Er sieht im Kern vor, dass die Gemeinde sämtliche mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) geschlossenen Verträge auf ihre Rechtsgültigkeit überprüfen muss, um einen Weg zu finden, doch noch aus der Bewerbung auszusteigen.*** Stichfrage: Falls beide Bürgerentscheide mehrheitlich mit "Ja" beantwortet werden sollten und dabei jeweils die 20-Prozent-Hürde der Stimmberechtigten nehmen, würde das Ergebnis der Stichfrage ergeben, welche Entscheidung dann gelten soll: "Ja" zu Olympischen Winterspielen oder "Nein". Hier können die Bürger von Garmisch-Partenkirchen das dritte Kreuz machen. (dpa)
Im Alpenort sollen 2018 alle Schneewettbewerbe stattfinden: Ski, Skispringen, Snowboard - alles Wettbewerbe, die tolle Bilder garantieren, mit denen eine Olympiastadt glänzt. Doch für viele Menschen in Garmisch-Partenkirchen ist das Thema Olympia durch. Die meisten Grundstückseigentümer wollen gar nicht mehr reden: 63 von ihnen lassen sich seit Monaten von Rechtsanwalt Ludwig Seitz vertreten.
"Die Bewerberseite möchte uns totschweigen", klagt Seitz gegenüber der taz. "Ansonsten werfen sie gern mit Falschbehauptungen um sich." Es gebe keine aussichtsreichen Gespräche, außerdem würden nach wie vor 50.000 Quadratmeter Fläche im Kernbereich der Sportstätten fehlen. Die Olympiabewerbungsgesellschaft spricht dagegen immer wieder von einer Handvoll Grundstücke, von denen eines sehr wichtig sei, da es im Zielbereich der Kandahar-Abfahrt liegt.
"75 Prozent der Sportstätten für 2018 sind bereits vorhanden", sagt Bewerbungschef Bernhard Schwank der taz. "Nur 1 Prozent der eingeplanten Flächen müsste neu, dauerhaft bebaut werden." Nach Vorstellungen der Planer sollen die Spiele 2018 nicht nur nachhaltig, sondern vor allem grün sein. "Wir investieren über 100 Millionen Euro in 18 Umweltprojekte, bauen zum Beispiel ein Zentrum für Nachhaltigkeit", sagt Schwank.
Es sei falsch, dass so viele Sportstätten bereits stehen, widerspricht der Vorsitzende des Bundes Naturschutz in München, Christian Hierneis. Der Olympiagegner beklagt die Arbeitsweise der Befürworter. Bei vielen Kleinigkeiten in den Bewerbungsunterlagen, im sogenannten Bid Book, würde die Bewerberseite Tatsachen falsch darstellen.
"Der Deutsche Naturschutzring ist zum Beispiel schon lange ausgestiegen", sagt Hierneis. "Und nirgendwo steht, dass für das olympische Dorf 2.000 Bäume gefällt werden müssen." Anfang März hat Hierneis mit anderen Olympiagegnern Mitgliedern einer IOC-Evaluierungskommission seine Argumente vorgetragen. Der Naturschützer befürchtet neben der ökologischen Komponente, dass die Kosten für die Spiele explodieren.
Kostenstreit
Über die Kosten gibt es bei sportlichen Großereignissen immer Streit. Aktuell erwähnen die Olympiaplaner gern, dass die Ski-WM im Februar in Garmisch-Partenkirchen einen Gewinn von 5 Millionen Euro gebracht hätte. Die Gegner erwidern, dass im Vorfeld 80 Millionen Euro investiert werden mussten, um das Skigebiet auf Vordermann zu bringen. Bei Olympia 2018 rechnen die Befürworter mit Milliardengewinnen, die Gegner befürchten ein Milliardengrab. "Die Kommunen zahlen, es profitiert nur das Internationale Olympische Komitee", sagt Hierneis.
Selbst Olympiabefürworter sehen das IOC kritisch; Christian Ude hat die Verträge einmal als "Zumutung" bezeichnet. Doch anscheinend ist auch bei Ude der Traum größer, weltweit die erste Stadt zu sein, die sowohl Sommer- als auch Winterspiele ausrichtet. Vor rund zehn Jahren soll der SPD-Politiker auf die Idee gekommen sein, Olympia nach München zu holen. Kritiker spotten, dass Ude nur in die Geschichtsbücher eingehen will.
Sie monieren auch, dass Ude, der München seit 1993 regiert, sich in den vergangenen Jahren merklich geändert habe - Ude agiere mittlerweile abgehoben, impulsiv und dulde vor allem beim Thema Olympia keinen Widerspruch. "Ein großes Projekt hat noch nie so viel Zustimmung wie Olympia erfahren", sagt Ude immer wieder gern. Nach taz-Informationen gibt es aber sogar in Udes Partei, der SPD, durchaus Kritik an der Olympiabewerbung - nur offen sagen will das keiner.
Hartmann ist der Glücksfall für die Gegner
Keine Angst hat Ludwig Hartmann, für viele das Gesicht der Olympiagegner. Der 32-Jährige sitzt erst seit drei Jahren im Landtag, gilt aber schon als kommender Spitzenpolitiker der Grünen in Bayern. Hartmann ist ein Glücksfall für die Olympiagegner. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass die Grünen auf ihrem Bundesparteitag im Herbst gegen die Bewerbung stimmten - die Olympiabefürworterin Claudia Roth verließ daraufhin das Kuratorium der Bewerbungsgesellschaft.
Für die Bewerbungsgesellschaft arbeiten aktuell 32 fest angestellte Personen. Zwar fehlen noch mehrere Millionen Euro, um das Budget von 33 Millionen Euro zu erreichen, doch das Team arbeitet mittlerweile recht professionell; insbesondere die ehemalige Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Kati Witt hat die Bewerbung noch einmal nach vorn gebracht: Witt steht für die emotionale Komponente: "Durch Olympische Spiele entstehen gemeinsame Momente, die alle Menschen teilen", sagte sie vor Kurzem bei einer Diskussion - das Publikum war entzückt.
Am besten gar nicht mehr sprechen soll dagegen der Garmischer Bürgermeister Thomas Schmid. Nach taz-Informationen hat die Bayerische Staatskanzlei dem ehemaligen Diplomaten Schmid einen regelrechten Maulkorb verpasst. Das hält Schmid, der dem Christlich-Sozialen Wählerbündnis vorsteht, aber nicht davon ab, weiter seine Art Politik zu machen. Olympia hält den Ort seit Monaten auf Trab - der Gemeinderat wird nächsten Mittwoch trotzdem nicht über das Thema diskutieren, Schmid will es nicht. Dafür genehmigte er vor Kurzem Plakate, die sich klar gegen die Olympiagegner richten.
Morddrohung im Sommer
Olympiagegner Axel Doering (63) arbeitet seit 1972 als Förster in Garmisch-Partenkirchen und muss wegen Olympia einiges aushalten - im Sommer bekam er eine Morddrohung, vor Kurzem verglich ihn ein Mitbürger mit Goebbels. "Da habe ich dann Strafanzeige gestellt", sagt Doering. Die vergangenen Wochen seien insgesamt sehr an die Substanz gegangen. Drei Flyer haben die Olympiagegner in Umlauf gebracht. Die Olympiabefürworter dagegen glänzen mit aufwendigen Broschüren und Anzeigen.
Sein Anliegen hat Axel Doering oft vor Augen - als Förster ist er auch für die bekannte Kandahar-Abfahrt zuständig. Selbst die notwendige Rodung im Vorfeld der Ski-WM hat Axel Doering geleitet. "Meine persönlichen Befindlichkeiten spielen da keine Rolle", sagt der Olympiagegner pragmatisch. 2018 wird Doering in Ruhestand sein. "Wenn die Spiele kommen, muss dann jemand anderes die Kandahar umbauen", sagt Förster Doering mit ruhiger Stimme. Er hofft, dass es nicht so weit kommt, dass die Bürger am Sonntag mit ihrer Stimme das Thema Olympia beenden. Ansonsten setzt er auf den 6. Juli, wenn das IOC entscheidet: Aktuell gilt Pyeongchang in Südkorea als der Favorit schlechthin - dort gibt es keinen Widerstand gegen Olympia. | Sebastian Kemnitzer | Eigentlich bewirbt sich München. Doch alle Schneewettkämpfe sollen in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Da fühlten sich viel übergangen – jetzt wird abgestimmt. | [
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Konflikt im Kohlerevier: Lützerath soll weg - taz.de | Konflikt im Kohlerevier: Lützerath soll weg
RWE will den Ort im rheinischen Kohlerevier noch im Winter räumen, um weiter Kohle zu fördern. AktivistInnen behaupten, der Konzern lüge.
Soll abgebaggert werden: Der Ort Lützerath in NRW Foto: Federico Gambarini/dpa
BERLIN taz/dpa | KlimaaktivistInnen haben Ankündigungen des Energiekonzerns RWE widersprochen, noch in diesem Winter müsse der Ort Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier abgebaggert werden, um Kohlekraftwerke in Gang zu halten. „Das ist gelogen“, twitterte die Initiative Alle Dörfer bleiben am Donnerstag. Die Restkohlemenge im Tagebau reiche „für die nächsten 4 Jahre aus“, ohne das von AktivistInnen besetzte Dorf vernichten zu müssen. „Technisch“ sei es „gar nicht möglich, vor 2025 an die Kohle unter Lützerath zu gelangen“.
Lützerath ist zu einem symbolischen Ort für die Klimabewegung geworden. Die grün geführten Wirtschaftsministerien in Bund und NRW hatten Anfang Oktober mit RWE einen auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg in der Region vereinbart.
Fünf weitgehend verlassene Dörfer am Tagebau sollen erhalten bleiben, Lützerath zur Kohlegewinnung jedoch abgebaggert werden. Das wollen Aktivisten vor Ort unbedingt verhindern. In mittlerweile von den Bewohnern verlassenen Häusern von Lützerath halten sich etwa 100 AktivistInnen auf, die um den Ort „kämpfen“ wollen, der inzwischen direkt an der Kante des Tagebaus liegt.
RWE-Finanzvorstand Michael Müller hatte am Donnerstag betont, die Räumung von Lützerath im Winter sei unbedingt notwendig. Es gehe darum, die aus der Sicherheitsbereitschaft zurückgeholten Braunkohleblöcke sowie die zwei jetzt länger laufenden Blöcke mit Braunkohle zu versorgen, sagte Müller. Dazu sei es „erforderlich, dass der Tagebau wie geplant fortschreite. „Insofern muss auch im Rahmen der Rodungsperiode im Winter eine Räumung von Lützerath erfolgen.“
„Wie das genau vorgeht, das ist ein Thema, da sind wir natürlich in Abstimmung mit der Landesregierung“, so der RWE-Manager. Wann genau RWE roden wolle, wisse er „schlichtweg nicht. Das ist eine Entscheidung, die im Grunde genommen jetzt auch gemeinsam mit den Behörden getroffen werden muss.“ Die Gebiete würden benötigt. Es sei gerichtlich so entschieden worden, „dass wir entsprechend fortfahren können“, sagte Müller weiter. Die Rodungssaison endet laut Bundesnaturschutzgesetz am 28. Februar. | Kai Schöneberg | RWE will den Ort im rheinischen Kohlerevier noch im Winter räumen, um weiter Kohle zu fördern. AktivistInnen behaupten, der Konzern lüge. | [
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Politische Krise im Irak: Des Predigers Lichtschalter - taz.de | Politische Krise im Irak: Des Predigers Lichtschalter
Im Irak rief der schiitische Kleriker Sadr seine Anhänger zu gewalttätigen Protesten auf. Dann pfiff er sie zurück – und wartet nun auf Entgegenkommen.
Ein Anhänger Al-Sadrs mit dessen Konterfei in Bagdad am Montag Foto: Ameer Al-Mohammedawi/dpa
KAIRO taz | Der einflussreiche Schiitenprediger und Politiker Muktada Sadr hat einmal mehr bewiesen, dass er seine Anhänger wie einen Lichtschalter aus- und einschalten kann. 24 Stunden lang lieferten sich seine Gefolgsleute wilde Schusswechsel mit proiranischen Milizen und den offiziellen Sicherheitskräften des Irak, mitten in der eigentlich schwer bewachten Grünen Sicherheits-Zone in Bagdad.
Dann rief Sadr am Dienstagmittag seine Anhänger auf, innerhalb einer Stunde die Gewalt zu beenden und sich zurückzuziehen. In weniger als 60 Minuten räumten diese friedlich das Gebiet, in dem Regierung, Parlament, UN-Büros und die meisten ausländischen Botschaften ihren Sitz haben. Doch über Nacht hatten sie die Grüne Zone in ein Schlachtfeld verwandelt. Videos in den sozialen Medien zeigen den Einsatz von Raketenwerfern und auf dem Boden liegende Patronenhülsen. Mindestens 30 Menschen sind ums Leben gekommen.
Auch in anderen schiitischen Teilen im Süden des Landes gab es zwischen Sadristen und proiranischen Milizen Auseinandersetzungen.
Es war ein Zusammenstoß, der sich seit Monaten zusammengebraut hatte. Begonnen hat es vor zehn Monaten bei den Parlamentswahlen. Die Partei Sadrs erhielt dabei die meisten Stimmen – aber nicht genug, um die irakische Politik fortan im Alleingang zu bestimmen und vor allem nicht, um jenseits der Konkurrenz anderer, proiranischer schiitischer Parteien zu regieren. Die schiitischen Parteien bilden zusammen die absolute Mehrheit im Parlament und bestimmen somit letztlich die irakische Politik.
Sadr präsentiert sich als irakischer schiitische Nationalist
Nachdem die Verhandlungen um eine neue Regierung ins Nichts geführt hatten und kein innerschiitischer Deal gefunden wurde, zog Sadr im August seine Abgeordneten ab und forderte eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Seitdem herrschte eine Pattsituation, die das ganze Land lähmte – bis Sadr am Montag seine Anhänger von der Leine ließ.
Das Ganze ist eine innerschiitische Auseinandersetzung, Sunniten, Kurden, Christen sowie weitere Minderheiten im Irak sind hier nur Zaungäste. Im Kern geht es darum: Wer dominiert die Schiiten des Landes, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, politisch? Es ist ein Machtkampf zwischen proiranischen Parteien und Milizen und Sadr, der sich in letzter Zeit zunehmend vom Einfluss Teherans auf die Politik im Irak distanziert hat und sich als irakischer schiitischer Nationalist präsentiert.
Was zunächst relativ friedlich begann, als Sadrs Anhänger in den Präsidentenpalast eindrangen und im dortigen Swimmingpool ein Bad nahmen, eskalierte schnell in heftige Schusswechsel in und vor der Grünen Zone zwischen den rivalisierenden Gruppen. Ganz Irak hielt den Atem an, in der Befürchtung, dass das geschundene Land erneut in einen Bürgerkrieg, diesmal einen innerschiitischen, schlittern könnte.
Sadr und seine proiranischen Rivalen spielten mit dem Feuer. Auch wenn es ihnen am Ende wahrscheinlich nur darum ging, sich mit Waffengewalt an den Verhandlungstisch zu schießen: Sie hatten eine gefährliche Dynamik losgetreten, die jederzeit völlig außer Kontrolle hätte geraten können.
Sadrs Anhänger zeigten ihr Waffen
Sadr setzte seine Lichtschalter-Politik ein, wie er es so oft zuvor getan hatte, etwa als er seine Anhänger in einer Machtdemonstration dazu aufrief, das Parlament zu besetzen, nur um sie kurz darauf wieder zurückzupfeifen.
Doch diesmal eskalierten die Sadristen diese bewährte Methode einen Zacken weiter und tauchten mit Waffen auf. Damit zeigten sie den rivalisierenden proiranischen Milizen, dass sie auch fähig sind, militärisch auf Iraks Straßen Flagge zu zeigen. Sie hofften damit wohl, ihre Verhandlungsmasse zu erhöhen.
Nun hat Sadr die Seinen wieder an die Leine genommen. Jetzt wird er, in dieser erneuten zynischen Episode irakischer Politik, warten, was ihm angeboten wird. Möglich ist, dass die andere Seite nun doch einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen zustimmt. Möglich ist auch, dass man sich für eine begrenzte Zeit auf eine neue Regierung einigt, in der weder Sadristen, noch die Vertreter der proiranischen Parteien, sondern nur Technokraten sitzen.
Das würde beiden Seiten und dem Land eine Atempause verschaffen. Denn wenn die letzten beiden Tage im Irak eines bewiesen haben, dann wie sehr das Land sich in der Geiselhaft schiitischer Parteien und Milizen, sowie deren Ringen um Macht und Einfluss befindet. | Karim El-Gawhary | Im Irak rief der schiitische Kleriker Sadr seine Anhänger zu gewalttätigen Protesten auf. Dann pfiff er sie zurück – und wartet nun auf Entgegenkommen. | [
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Die Hauptstadt auf der Suche: L'Odeur de Berlin - taz.de | Die Hauptstadt auf der Suche: L'Odeur de Berlin
Knut ist tot, Klaus Wowereit als Maskottchen der Stadt zurückgetreten. 2015 braucht es also einen neuen Botschafter Berlins in der Welt. Ein Essay.
Ein Buddy-Bär – das ist doch so Nuller-Jahre-Berlin. Weg damit! Bild: ap
Kaum hatte es in der Nacht auf Montag geschneit, fielen die S-Bahnen aus. Wie vorhersehbar. Wie wunderbar. Wie Berlin. Das könnte noch was ganz Großes werden.
So was wie Knut oder Klaus Wowereit. Zum Knuddeln waren beide, Wowi wurde überdies zum Role Model, zum Gesicht einer Stadt, die nicht mehr immer nur alles ernst nahm. Die auch Feiern konnte. Fünfe mal grade sein lassen. Und damit – die Ausnahmen sind bekannt – auch noch Erfolg hatte. So wurden Knut, der Eisbär, und Wowi, der Partybär, zu Berliner Maskottchen. Das beste daran: Beide waren auch anschlussfähig ans Berliner Wappentier. „Be Berlin“, da steppt der Bär.
Das ist jetzt allerdings Geschichte. Knut ist tot, Wowereit zurückgetreten, kein neues Maskottchen in Sicht. Oder glaubt etwa einer, Michael Müller sei knuddelfähig? Oder dass Meret Becker und Mark Waschke, die neuen „Tatort“-Kommissare der Stadt, zum Gesicht des neuen Berlin würden? Oder vielleicht gar der Hirscheber Eberhard, das hässlichste Lebewesen im Zoologischen Garten?
Immerhin: Wo kein neues Gesicht in Sicht ist, kann man sich jetzt am Anfang des noch neuen Jahres einfach mal zurücklehnen und darüber nachdenken, was eigentlich die Botschaft ist, die Berlin in der Nach-Wowereit-Ära in der Welt verbreiten möchte.
Ist es Kontinuität? Soll das, was erreicht wurde, nunmehr ordentlich verwaltet werden? Das Maskottchen wäre dann eine putzig ausstaffierte Aktenklammer. Und Berlin leider so verwechselbar wie München oder Freiburg. Also nüscht.
Ist es die Zuwanderung, das Wachstum der Stadt? Dann wäre das Symbol eine große Zähluhr, die man am Roten Rathaus aufstellen könnte. Auf ihr wäre nicht nur die ganz aktuelle Zahl der Berliner ablesbar, sondern dazu der Anstieg der Durchschnittsmiete. Schließlich hat jeder Erfolg auch seinen Preis.
Warum nicht auch die Freiheit? Kein Ort wäre da geeigneter als das Tempelhofer Feld. Der Rosinenbomber gehört hierher, dieses Maskottchen der Berlin-Blockade. Und natürlich die Feldlerche, dieser Vogel des Jahres 1998, den die Berliner bei ihrem Volksentscheid im Mai vergangenen Jahres davor bewahrt haben, in den Käfig des sozialen Wohnungsbaus gesperrt zu werden.
Allerdings spräche gegen die Feldlerche als neues Maskottchen, dass sie halt so gar kein Bär ist.
Schluss also mit dem Versuch, einen Nachfolger für den Knuddel-Wowi-Bär zu finden. Den gibt es nicht. Wohl aber gibt es das, was die Essenz dieser wunderbaren Stadt ist, von der Klaus Wowereit bei einem Parteitag 2010 einmal gesagt hat: „Diese Stadt hat etwas, was man mit Geld nie kaufen kann: eine Ausstrahlung, eine Anziehung, eine Wildheit und eine Schönheit, wie es sie in dieser Kombination nicht noch mal auf dieser Welt gibt.“
Recht hat er, und warum soll man das, was Berlin hat, nicht auch vermarkten. Warum nicht das Berlin-Parfüm kreieren, den Odeur de Berlin? Diesen einzigartigen Duft nach Bodenständigkeit und Übermut, Armut und Kreativität, Größenwahn und sympathischem Scheitern?
Die Zutaten sind ganz einfach. Man muss einfach die Berliner Luft an den Orten abfüllen, die für die Berliner Lokaleigenschaften stehen. Die Bodenständigkeit in Tempelhof (Geburtsort Wowereits und Müllers!), den Übermut im Partykeller beim Präsidenten des Landessportbundes Klaus Böger, der unbedingt Olympia will. Die Armut vor dem Jobcenter in der Charlottenstraße, und die Kreativität füllt man am besten in Oberschöneweide ab, weil die Luft in Mitte und Prenzlauer Berg für den Größenwahnanteil des Odeurs bestimmt ist.
Der größte Anteil am Parfüm von Berlin muss aber auf der Baustelle des BER oder im Berliner Olympiastadion abgefüllt werden. Denn was wäre Berlin ohne seinen Pleitenairport oder seinen Pannenfußball.
Der Werbepartner für den Odeur de Berlin wäre natürlich der Club der polnischen Versager. Dessen Betreiber in der Ackerstraße machen sich schon lange Sorgen, dass Berlin über kurz oder lang schneller polonisiert werden könnte als Polen deutscher wird. Deshalb müssen sie natürlich auf den Zug mit dem Berliner Duft aufspringen – in der Hoffnung, dass auch der ein Riesenflop wird.
Doch das Gegenteil wird wohl der Fall sein. Ist das sympatische Scheitern nicht genau das das Erfolgsrezept dieser Stadt? So lange stolpern und straucheln, bis man irgendwann auf dem Boden liegt, sich auf die kaputte Schulter klopft und sagt: „Von nun an kann es nur noch aufwärts gehen!“? So viel Note an Selbstironie wird sogar die Nettozahler aus München und Stuttgart dazu bringen, ein paar Mitleidskäufe mit Berlin zu tätigen.
A propos Scheitern: Das Odeur de Berlin, dieser Maskottchenersatz und neue Berlin-Botschafter des Jahres 2015, wird sich natürlich am besten in der Mall of Berlin verkaufen.
Und im Winter auf den Bahnsteigen der S-Bahn. Denn eine kleine Prise Kaltluft beim Warten auf den nächsten Zug gehört natürlich auch zum unverwechselbaren Duft von Berlin.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Schwerpunkts in der Wochenendausgabe der taz.berlin. Darin außerdem: Sechs Ereignisse, die uns 2015 in Atem halten werden. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk. | Uwe Rada | Knut ist tot, Klaus Wowereit als Maskottchen der Stadt zurückgetreten. 2015 braucht es also einen neuen Botschafter Berlins in der Welt. Ein Essay. | [
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Reform der Betriebsrenten: Mehr abzwacken fürs Alter - taz.de | Reform der Betriebsrenten: Mehr abzwacken fürs Alter
Das neue Betriebsrentengesetz kommt. Es soll Kleinverdiener ermuntern, eine betriebliche Zusatzrente abzuschließen, und „Riestern“ fördern.
Frisst der Staat uns die Haare vom Kopf? Foto: dpa
BERLIN taz | Die Betriebsrentenreform kommt – und sie soll das zusätzliche Sparen fürs Alter vor allem für kleine und mittlere Einkommen attraktiver machen. Die Neuregelung sei eine „gute und verlässliche Möglichkeit für die Arbeitnehmer, zusätzlich zur gesetzlichen Rente vorzusorgen“, betonte am Montag Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD).
Die Reform, auf die sich die Koalition jetzt einigte und die am Donnerstag vom Bundestag verabschiedet werden soll, sieht vor, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber künftig in Tarifverträgen Betriebsrentenmodelle vereinbaren können. An diese Modelle können sich auch nicht tarifgebundene Unternehmen anschließen. Dabei wird ein Teil des Bruttolohns vom Arbeitnehmer als Beitrag für die Betriebsrente abgezweigt, der Arbeitgeber legt dann noch 15 Prozent des Beitrags obendrauf, denn er spart für diesen eingezahlten Lohnanteil schließlich den Sozialversicherungsbeitrag.
Verdient der oder die Beschäftigte nur bis zu 2.200 Euro im Monat, kann sein Arbeitgeber noch einen Zuschuss von jährlich 240 bis 480 Euro drauflegen und bekommt dann 30 Prozent davon als Subvention vom Staat.
Das Heikle an dem Konzept ist, dass die Arbeitgeber nicht mehr für eine bestimmte Höhe der späteren Betriebsrente haften. Für die Rente aus den eingezahlten Geldern, die über die Tarifpartner etwa bei Pensions- oder Versorgungswerken angelegt werden, gibt es keine Garantie außer den üblichen Absicherungen im Finanzwesen, über die die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) wacht. Man vertraue „auf die Tarifvertragsparteien, dass diese eine seriöse Anlagepolitik verfolgen“, sagte die sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Katja Mast, bei der Vorstellung der Gesetzesreform.
Riestern könnte sich rechnen
Um es gerade für Kleinverdiener attraktiv zu machen, eine Betriebsrente abzuschließen, enthält die Reform zudem erstmals Freibeträge in der Grundsicherung im Alter für alle, die eine Betriebs- oder Riesterrente abgeschlossen haben. Dazu ein Beispiel: Eine alleinstehende Altenpflegehelferin hat später nur eine gesetzliche Rente von 500 Euro zu erwarten. Damit hat sie Anspruch auf ergänzende Grundsicherung im Alter von 250 Euro und mehr. Hat sie aus einer Betriebs- oder Riesterrente 100 Euro im Alter zusätzlich zu bekommen, so soll dieses Geld nicht mehr wie bisher mit der Grundsicherung verrechnet werden. Das heißt, die Frau hätte in dieser Schemarechnung dann im Alter statt 750 Euro etwa 850 Euro im Monat zur Verfügung.
Diese Freibeträge sollen für alle Grundsicherungsempfänger gelten, die Betriebs- und Riester-Renten abgeschlossen haben. Möglicherweise machen sie auch das „Riestern“ für schlecht verdienende Freiberufler attraktiv, die damit rechnen, später in die Grundsicherung im Alter zu fallen und wenig eigenes Vermögen haben.
Das Gesetz soll am Donnerstag im Bundestag verabschiedet werden. | Barbara Dribbusch | Das neue Betriebsrentengesetz kommt. Es soll Kleinverdiener ermuntern, eine betriebliche Zusatzrente abzuschließen, und „Riestern“ fördern. | [
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Stricken, Freiheit, sich nicht verbiegen - taz.de | Stricken, Freiheit, sich nicht verbiegen
HAUSBESUCH Sie ist Journalistin, er Student – und das Baby fast da. Jacqueline Piwon und Samuel Walter in Erfurt
VON MICHAEL BARTSCH (TEXT) UND SVEN DÖRING (FOTOS)
Thüringens Landeshauptstadt Erfurt. Zu Hause bei Jacqueline Piwon (28) und Samuel Walter (27), sie erwarten gerade ihr erstes Kind.
Draußen: Lückenbebauung im historischen Erfurter Andreasviertel. Zweigeschossiges, schlichtes Haus zwischen teils schiefen, sanierten Häusern, kleine Fenster, nebenan Kneipe mit Biergarten, „die etwas Toleranz braucht“ (Samuel). Unweit die alte Universität, der Domplatz mit dem Domberg und St. Severi und die ehemalige Stasi-Bezirksverwaltung.
Drinnen: Erster Stock, Dreizimmerwohnung, 90 Quadratmeter. Vieles noch provisorisch, Jacqueline und Samuel wohnen hier erst seit Februar. „Wir sind gern ein bisschen altmodisch mit Dingen, die eine Geschichte erzählen, auch eine von uns.“ (Jacqueline) Die Küchenkommode bekamen sie geschenkt, das Vertiko ist aufgearbeitet, auf dem Nähmaschinenschrank eine „Erika“-Schreibmaschine aus der DDR, in der Küche ein „Stern“-Transistorradio. Im Schlafzimmer: ein modernes Stahlrohr-Doppelbett und ein geborgtes Himmelbett fürs Baby. „Wir leisten uns den Luxus, noch nicht alles vollgestellt zu haben – dazu haben wir noch genug Zeit.“ (Samuel) In Samuels Arbeitszimmer, das mal Kinderzimmer werden könnte, eine Arbeitsplatte auf zwei Holzböcken. Außer dem Bad noch eine Toilettenattraktion: Ein separates Männerklo.
Wer macht was? Jacqueline ist Journalistin, nach einem Volontariat beim ZDF in Magdeburg zunächst ein Vertretungsangebot in Erfurt, dann eine feste Stelle. Jetzt ist sie im Mutterschutz, Geburtstermin Mitte Mai, die Schwangerschaft verlief problemlos, das Geschlecht bleibt Überraschung. Jacqueline: „Samuels Bachelorarbeit und unser Kind sollen gleichzeitig geboren werden.“ Samuel, „Sam“, studiert seit 2007 in Magdeburg Cultural Engineering – interdisziplinär zwischen Kulturwissenschaften, Management und Logistik. Er neigt bei den vielen Einsatzmöglichkeiten eher zu Event- und Veranstaltungsmanagement. Seine Bachelorarbeit steht kurz vor dem Abschluss, es geht um Stadtentwicklung – die Belebung eines Magdeburger Stadtteils mit Kulturszene. In den Schreibpausen legt er ein Tomatenbeet im Innenhof an.
Wer denkt was? Beide denken jetzt natürlich ans Baby. „Aber bloß nicht kirre machen lassen von den Warnungen anderer!“ (Jacqueline) „Unsere Großmütter haben unter viel schwierigeren Bedingungen viel mehr Kinder bekommen.“ (Sam). Sie sind sich sicher, dass das Kind ihre lebendige Partnerschaft und ihre Interessen nicht einschränken wird. Samuel: „Wir leben vergleichsweise im Luxus.“ Er sieht alles gelassener, ist spontaner, fragt zuerst danach, was geht und nicht nach dem, was angeblich nicht geht. Jacqueline: eher auf Sicherheit bedacht, planender, hat manchmal Skrupel: „Darf man das?“
Jacqueline: Geboren und aufgewachsen in Bergheide bei Potsdam. Studierte Journalistik und Medienmanagement an der Fachhochschule Magdeburg bis 2009. Dort schon Radio und Fernsehen beim MDR ausprobiert. Kann gar nicht verstehen, dass man sie nicht als Ostdeutsche ansehen könnte.
Samuel: In Weißenfels geboren, die Eltern zogen nach der Wende nach Berlin, im Prenzlauer Berg groß geworden, will da aber nicht mehr wohnen. Hat ein FSJ in den USA und in Asien absolviert.
Das erste Date: „Wir haben uns im Stasi-Knast kennen gelernt.“ Samuel organisierte 2008 in der Magdeburger Stasi-Gedenkstätte eine Art Adventskalender. Jeden Abend ein anderes Türchen. Jacqueline war Moderatorin, es ging um jugendliche inoffizielle Mitarbeiter damals. Publikum blieb weitgehend aus, Kaffee, Lebkuchen waren massenhaft übrig. Ein Abend für die Mitwirkenden. Beide wetteten: Wer trinkt mehr Kaffee? Es zündete sowohl optisch als auch beim Gespräch. „War schon ein kleiner Flirt!“ (Jacqueline) Freude übers Wiedersehen, Entschluss von Jacqueline, Samuel nach Indien und Thailand zu begleiten. Danach zwei Jahre Fernbeziehung Magdeburg-Erfurt.
Heiraten? Nicht in absehbarer Zeit. „Eine Beziehung wird durch Staat oder Kirche nicht stärker.“ (Sam) Könnten sich aber mal ein privates Bekräftigungsritual vorstellen. „Ich verspreche auch nicht dem Staat, dass ich Dich lebenslang begleiten will.“ (Jacqueline) Unverheiratete sollten absolut gleiche Rechte bekommen wie Verheiratete. Mit dem Kind bekomme ihre Verbindung allerdings eine neue Qualität.
Alltag: Beide finden: „Fühlt sich nicht anders an als im Ausland, wo wir auch jeden Tag zusammen waren.“ Maximen: Viel miteinander reden, Respekt haben, keinesfalls anschreien, Ängsten begegnen. Wenige Rituale, viel Freiheit, aber in der Regel morgens beim Frühstück (Tee mit klassischem Tee-Ei) das Heute-Journal im ZDF gucken. Sam findet, dass die Flexibilität des derzeitigen Freiberufler-Daseins der nahenden Familie entgegenkommt. Die wird, das ahnen sie, neue Gewohnheiten und Routine entwickeln.
Wie finden Sie Merkel? Jacqueline mag sie gar nicht politisch bewerten. Findet sie aber lange unterschätzt, bewundert ihre Behauptung und Durchsetzungsfähigkeit als Frau. Ambivalent die häufige Korrektur früherer Entscheidungen: Fähnchen im Wind oder Mut zum Eingeständnis von Fehlern? Auch Samuel will gar nicht „rumbashen“ auf ihr. „Ich fände es aber extrem spannend, wenn Peer Steinbrück Kanzler würde!“ Die dynamische Welt brauche neue Ansätze, Veränderung sozusagen aus demokratiehygienischen Gründen sei schon ein Wert an sich.
Wann sind Sie glücklich? Verlegenheit. „Eine etwas alberne Frage.“ (Jacqueline) Viele Kleinigkeiten, der Job, manchmal einfach stricken, sagt sie, und: „Dass jemand einen so nimmt, wie man ist.“ Nicken bei Samuel. Der braucht viel Freiheit, auch für seine Freunde und die eigenen Interessen. „Sich nicht verbiegen müssen.“
■ Nächste Woche treffen wir Markus Kluge in Berlin. Wenn Sie auch einmal von uns besucht werden möchten, schicken Sie uns eine Mail an hausbesuch@taz.de | MICHAEL BARTSCH / SVEN DÖRING | HAUSBESUCH Sie ist Journalistin, er Student – und das Baby fast da. Jacqueline Piwon und Samuel Walter in Erfurt | [
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Kommentar Datenschutz: Öffentlichkeit als Gefahr - taz.de | Kommentar Datenschutz: Öffentlichkeit als Gefahr
Die Idee des Datenschutzes hat potentiell paternalistische Züge. Angehörige von Minderheiten sind jedoch bis auf weiteres auf ihn angewiesen.
Post-Privacy-Aktivisten sind die Lieblinge des Feuilletons. Sie kritisieren den Datenschutz mit teils guten Argumenten, ihre eigenen Ideen sind jedoch keine politische Alternative, sondern postmoderner Lifestyle.
Die Bewegung wirft Datenschützern vor, mit ihrem Appell an die "rettende Regierung" eine Entwicklung zum orwellschen Staat zu fördern, der zum Schutz aller Daten auf massive Kontrollinstrumente angewiesen ist. Schnüffelt er selbst, raten sie höchstens zu "Verhältnismäßigkeit".
Dagegen setzen die Aktivisten auf die vollständige Offenlegung der Daten aller sowie den Verzicht auf Privatsphäre. Konsequenterweise dokumentieren sie intime persönliche Daten im Netz. Ziel ist die "transparente Gesellschaft", in der Konflikte durch gegenseitige Kontrolle vermieden werden. Von Menschen, die – auch unbewusst – privilegiert sind, mag diese mit revolutionärem Gestus vorgetragene Forderung als private Spielerei abgetan werden.
Der grundlegende Fehler ist jedoch zu glauben, umfassende Transparenz wirke sich auf alle mehr oder weniger gleich aus. Die Menschen würden sich im "anarchischen" Netz besser als im realen Leben verhalten, wo bekanntlich Ressentiments großen Einfluss haben, die durch Transparenz allein nicht verschwinden werden. Wer gesellschaftlichen Normen nicht entspricht, muss die Aufforderung zum Verzicht auf die eigene Privatsphäre als Drohung empfinden. Die Forderung nach allgemeiner "Transparenz" fällt somit selbst hinter die traditionelle Forderung nach dem "gläsernen Staat" zurück.
Regressive Technikkritik hilft nicht
Dass Daten, die einmal im Netz aufgetaucht sind, nicht zu kontrollieren sind, ist eine Binsenweisheit. Die Antwort auf die Frage nach dem Datenschutz darf keine regressive Technikkritik sein, die das Internet dämonisiert und ihm grundsätzlich eine Verflachung der menschlichen Beziehungen vorwirft.
Die Beziehungen der Menschen sind stark durch die Gesellschaft und ihre soziale Lage geprägt. Durch einen krisenbedingten erhöhten Konkurrenzdruck sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch im internationalen Wettbewerb werden sie zunehmend unsolidarischer, ausgrenzende Ideen breiten sich aus.
Sowohl Datenschützer als auch Post-Privacy-Aktivisten beschäftigen sich jedoch lediglich mit den Kommunikationswegen, die Menschen gebrauchen, und blenden die Gründe für das Entstehen antipluralistischer Ideologien aus, die ein vollständig transparentes Zusammenleben auf absehbare Zeit unmöglich machen. Beide geben somit keine befriedigende Antwort auf die Frage einer wünschenswerten Zukunft der Informationsgesellschaft.
taz Panter WorkshopDieser Text ist entstanden in der taz.akademie im Rahmen des 1. taz Panter Workshops Online "Internet Hauptstadt Berlin" für angehende Journalisten.
Anstatt das freiwillige Aufgeben der Privatsphäre zu propagieren, bräuchte es eine neue gesellschaftliche Debatte über solidarisches Zusammenleben und eine gerechte Antwort auf die multiple Krise Europas. | Kai Schubert | Die Idee des Datenschutzes hat potentiell paternalistische Züge. Angehörige von Minderheiten sind jedoch bis auf weiteres auf ihn angewiesen. | [
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Aus für Literaturzeitschrift "Bunter Hund": Eltern sind Hundemörder - taz.de | Aus für Literaturzeitschrift "Bunter Hund": Eltern sind Hundemörder
"Der Bunte Hund", die einzige Literaturzeitschrift für Kinder, wird eingestellt. Das hat wirtschaftliche Gründe, sagt aber auch etwas über Eltern in Pisa-Zeiten aus: Sie sind doof!
Trotz Pisaschocks: Eltern wollen nicht erkennen was gut ist für ihre Kinder. Bild: dpa
Das ist ein Schlag ins Gesicht kindlicher Leseratten. Der Bunte Hund wird eingestellt, die einzige Literaturzeitschrift für, wie es etwas betulich hieß, "Kinder in den besten Jahren". Das aktuelle Juli/August-Heft dieser formidablen Zeitschrift wird das letzte sein. Kinder in den besten Jahren, das sind die Kids zwischen sieben und elf - die spannendste Zielgruppe also, seitdem der Pisaschock den Bedarf an Leseverführung deutlich machte. Dennoch ging Der Bunte Hund ein. Genauer: Der Beltz-Verlag, eines der besten Häuser mit pädagogischer Expertise, drehte ihm in brutaler save-shareholder-value-Manier den Hals um. Was sagt das über den Post-Pisa-Markt? Was über die Eltern der deutschen Generation Legasthenie?
Seit 1981 gab es den Bunten Hund in kleiner, aber feiner Ausgabe dreimal im Jahr im Abonnement. Ende 2007 stromerte er als relaunch auch an Kiosken umher, Gesamtauflage 60.000 Stück. Er war erweitert, gebürstet und auf Hochglanz poliert worden, für jedes Kind 10 Mal im Jahr für knapp 5 Euro im Direktverkauf zu haben. Doch da ging die Rechnung des Verlags nicht auf: Der Hund konnte sich gegen die über hundert Kinderzeitschriften von Barbie über Geolino bis Wendy am Kiosk nicht durchsetzen. Während die Abonnements leicht anstiegen, konnten "die geplanten Verkaufszahlen" im freien Verkauf nicht erreicht werden. Das ist zunächst kein Wunder, denn keines der Konkurrenzheftchen kommt ohne die Tüte auf dem Titel aus, in dem irgendein Plastikgimmick die Kinder zu Kaufbefehlen an ihre Eltern provoziert.
Wer da mithalten will, braucht zweierlei. Erstens einen längeren Atem als die Galgenfrist von acht Monaten, mit dem Beltz den Bunten Hund wie einen räudigen Köter auf die Straße und an den Kiosk gejagt hat. Und zweitens eine kluge Strategie, um die Erstlesekinder auf die Pretiosen im Heft aufmerksam zu machen. Und die gab es zuhauf. Der Hund war eine Literaturzeitschrift vom Feinsten. Hier gab es Geschichten, Gedichte, Märchen, Reiseberichte - erzählt und gezeichnet von den besten Autoren und Illustratoren. Und das alles in knapper Form, appetitanregend, um die Eltern zum Gang in die nächste Buchhandlung zu animieren. Der Hund verzichtete auch nicht auf Witze, Comics oder Mangas, auf Mitmach-Seiten oder Lesetipps von Kindern für Kinder. Das Herzstück aber bildete der Erzählwettbewerb: zu einem ganzseitigen Bild eines bekannten Illustrators waren Kinder aufgefordert eine Geschichte zu erfinden. Zum Teil gingen 500 Zusendungen beim Verlag ein, eine riesige Zahl, die Ausdruck des Potenzials ist, dass Der Bunte Hund zum Schreiben reizte. Für Lehrer gab es das Beiblatt "Der bunte Hund macht Schule" mit Unterrichtsideen und Kopiervorlagen.
Der bevorstehende Tod des Hundes sagt aber auch etwas über die pisagepeinigten Eltern. Sie sind wirklich die döfste Gruppe unter all denen, welche die Schulleistungsstudie zu Reaktionen genötigt hat. Lehrer und Kultusminister schalteten seitdem, von Ausnahmen abgesehen, weitgehend auf Durchzug. Aber der Aktionismus und die gleichzeitige Blindheit der Kinderzeuger und -bemutterer ist an Peinlichkeit schwer zu überbieten. Väter und Mütter würgen an Elternabenden beinahe alles ab, was irgendwie nach vorne weist. Sie können es sich in ihrer alten Feuerzangenbowlenromantik gar nicht vorstellen, dass Kinder nicht nur frontal und notengespickt lernen. In den Buchhandlungen aber kaufen Eltern noch jedes zusammengeheftete Machwerk - solange Pisa drauf steht und "Was ihr Kind wissen muss". Der Geschäftsführer der umtriebigen Stiftung Lesen, Heinrich Kreibich, sagt, "dass pädagogische Kinder- und Jugendzeitschriften insgesamt mehr in das Bewusstsein junger Eltern rücken müssen". Das ist vornehm ausgedrückt.
Es ist Zeit, dass die Eltern endlich aufwachen. Vielleicht weckt sie das letzte Bellen des Bunten Hundes. Das jüngste Heft liegt am Kiosk. | S. Wildeisen | "Der Bunte Hund", die einzige Literaturzeitschrift für Kinder, wird eingestellt. Das hat wirtschaftliche Gründe, sagt aber auch etwas über Eltern in Pisa-Zeiten aus: Sie sind doof! | [
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Transgene Tiere als Ersatzteillager: Schweinezellen im Menschenbauch - taz.de | Transgene Tiere als Ersatzteillager: Schweinezellen im Menschenbauch
Tier-Mensch-Chimären und transgene Schweine sollen genutzt werden, um Ersatzorgane mit menschlichen Eigenschaften wachsen zu lassen.
Geklonte Ferkel in Chinas Biotechzentrum in Tianjin: Dort wird auch versucht, Tiere herzustellen, die als Organspender dienen können Foto: imago/Xinhua
Geht es nach Transplantationsmedizinern, kommen Schweinenieren demnächst nicht nur als Delikatesse auf den Teller, sondern auch als Organersatz in den menschlichen Körper. Denn der Allesfresser ist uns anatomisch ziemlich ähnlich – und Forscher bekommen auch die Abstoßreaktionen des Immunsystems immer besser in den Griff.
Allein in Deutschland stehen mehr als 10.000 Patienten auf der Warteliste für Herz, Lunge, Niere oder Leber eines anderen Menschen. Doch es gibt zu wenige Spenderorgane, und ihre Zuteilung funktioniert ebenfalls nicht optimal. Forscher suchen daher nach Alternativen für die Organspende von Mensch zu Mensch.
Eine davon ist die Xenotransplantation, bei der man einem Tier Organe entnimmt – und der Fokus liegt hier nicht etwa auf den uns nahe stehenden Affen, sondern ausgerechnet auf den Schweinen.
Der Grund dafür ist, dass es sie als traditionelle Masttiere in reichlicher Anzahl gibt, und auch ihre Organe ähneln oft denen des Menschen. Gelenke und Herz der Huftiere würden zwar nicht mit unserer aufrechten Körperhaltung klarkommen, doch Augennetzhaut, Leber, Niere und Bauchspeicheldrüse würden auch im Homo sapiens arbeiten.
Attacken des Immunsystems
Das Problem ist jedoch, dass dem menschlichen Immunsystem die Ähnlichkeit nicht weit genug geht. Es empfindet implantierte Schweineorgane als Fremdkörper, die so heftig attackiert werden, dass sie binnen weniger Minuten absterben.
Selbst Medikamente zur Unterdrückung der Immunantwort können dagegen nichts ausrichten. Ganz zu schweigen davon, dass bei einer Organverpflanzung vom Schwein auf den Menschen problematische Viren überspringen, woran auch die absolut keimfreie Aufzucht der Huftiere nichts ändern würde. Denn diese Viren schlummern von Geburt an verborgen im Erbgut der Schweine, und niemand weiß, was sie im menschlichen Körper anrichten können.
Die Paviane überlebten mit ihrem neuen Herzen durchschnittlich 298 Tage
Die forschende Pharmaindustrie hat daher in den letzten Jahren das Interesse an dem Thema verloren. Doch das ändert sich gerade. Denn immer häufiger gelingt Forschern die Züchtung transgener Schweine, deren Erbgut keine Problemviren mehr enthalten sollen und deren Organe so verändert sind, dass sie im Körper des Menschen keine Abstoßungsreaktionen hervorrufen.
Wie etwa an den National Institutes of Health (NIH) im US-Staat Maryland, wo man fünf Pavianen die Herzen von vier bis acht Wochen alten Schweinen eingesetzt hat. Dazu wurde die Immunabwehr der Affen mit einem speziellen Mix aus Antikörpern und Medikamenten ruhiggestellt. Zudem benutzte man als Spender transgene Schweine, auf deren Zelloberflächen ein bestimmtes Zuckermolekül fehlte, das für die Mehrzahl aller Abstoßungsreaktionen verantwortlich ist. Stattdessen wurden die Zellen mit zwei Genen nachgerüstet, die auf das Blutgerinnungssystem der Affen abgestimmt waren. Dadurch sollten typische Transplantationsprobleme mit Blutgerinnseln vermieden werden.
Paviane mit Schweinherz
Das Ergebnis der Spendenaktion: Die Paviane überlebten mit ihrem neuen Herzen durchschnittlich 298 Tage. Einer von ihnen brachte es sogar auf 945 Tage, also mehr als zweieinhalb Jahre, was einem Zehntel der Lebenserwartung dieser Affen in Freiheit entspricht. Und Muhammad Mohiuddin, NIH-Studienleiter, betont, dass seine Probanden eigentlich nur starben, weil man ihre Medikation eingestellt hatte, um zu testen, ob sich ihre Immunabwehr mittlerweile mit dem neuen Herzen arrangiert hatte.
Was umgekehrt aber auch bedeutet, dass trotz der gentechnischen Anpassung immer noch Medikamente zum Überleben der Tiere notwendig waren. Transplantationschirurg Bernhard Hering von der University of Minnesota setzt daher in seiner Forschungsarbeit noch entschiedener auf Gentechnologie. Wobei er sich auf einen bestimmten Zelltypus spezialisiert hat: die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Diese kann man bereits vom Schwein auf den Menschen übertragen, doch bisher muss dieser dann noch immunsuppressive Medikamente einnehmen, was letztendlich gegenüber der bisher üblichen Insulinbehandlung kein wirklicher Fortschritt ist. Also plant Hering, das Immunsystem zu überlisten: „Wir wollen so perfekte Inselzellen vom Schwein, dass sie nicht mehr abgestoßen werden und immunsuppressive Medikamente überflüssig machen.“
Einen Sponsor für das Projekt hat Hering bereits gefunden, weswegen sein Team demnächst damit beginnen wird, transgene Schweine mit exakt passenden Inselzellen zu züchten. Insofern es ja nur um einen Zelltypus und nicht um ein komplettes Organ geht, könnte er schon bald Erfolg haben.
Fremde Insulinzellen
Einer seiner Konkurrenten auf dem Biomedizinmarkt ist trotzdem schon etwas weiter. Einem neuseeländischen Labor gelang es nämlich, die Inselzellen vom Schwein in gelatineartigen Tautropfen zu verpacken, sodass die menschliche Immunabwehr die Spende widerstandslos durchwinkt. Es gibt bereits Patienten, die seit zehn Jahren damit leben, ohne Anzeichen von Immunreaktionen oder Infektionen – allerdings produzieren viele ihrer Inselzellen kein Insulin mehr.
Einen anderen Ansatz – jenseits von Genmanipulation und Gelatinehülle – verfolgt das Hybridexperiment des Salk Institute for Biological Sciences in Kalifornien. Dort hat man menschliche Stammzellen in einen Schweineembryo und diesen anschließend in die Gebärmutter einer Sau eingepflanzt. Aus Stammzellen können bekanntlich alle möglichen Organe werden, und so dauerte es in dem Test nur vier Wochen, bis sich im Schweinebauch Vorläuferzellen entwickelt hatten, aus denen man komplette Herzen, Lungen oder Nervenzellen hätte züchten können.
Das Ziel solcher Versuche ist klar: Das Schwein soll zu einem Ersatzteillager für Organe werden, die prinzipiell vom Menschen stammen, sodass sie nach der Transplantation nicht mehr abgestoßen werden. Auch dieser Plan könnte aufgehen. Technisch zumindest. Ethisch betrachtet klingt er jedoch nach einem Mischwesen, beispielsweise einem Schwein mit Menschenhirn. Solche Visionen stoßen in der Öffentlichkeit meistens auf großen Widerstand. | Jörg Zittlau | Tier-Mensch-Chimären und transgene Schweine sollen genutzt werden, um Ersatzorgane mit menschlichen Eigenschaften wachsen zu lassen. | [
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die taz vor zehn jahren über die intellektuellen und den tod von prinzessin diana - taz.de | die taz vor zehn jahren über die intellektuellen und den tod von prinzessin diana:
Die Intellektuellen werden vom Strom des öffentlichen Bewußtseins mitgerissen, das sich jetzt mit Diana beschäftigt. Aber sie strampeln dagegen. Man merkt an ihren Kommentaren, daß ihre Faszination von zwei Impulsen bekämpft wird: einem republikanischen und einem elitären. Der republikanische Impuls verbietet es ihnen, sich mit Monarchen zu beschäftigen. Ihre Gleichheitsüberzeugung duldet deren Erhöhung nicht. Nur in Wartezimmern blicken sie in die Zeitungen der Unterklasse, die sich nicht geniert, ein königliches Baby im Taufkleid zu betrachten. Und daher kommt der zweite Impuls, der die Intellektuellen bei ihrer jetzigen Faszination so verlegen macht: It’s not quite our class – die Beschäftigung mit solchen Ikonen.
Die Bewegung, die Dianas Tod ausgelöst hat, wird sich darüber hinwegsetzen. Es ist die Bewegung der unteren Millionen – der unteren Milliarden, so muß man angesichts der Einschaltquote sagen. Dianas Tod ist ein spirituelles Ereignis. Darf man sie als Heilige ansehen? Auch die Heiligen hatten Schwächen. Aber sie produzierten in der Phantasie die richtigen Bilder. Die Visualisierung des Guten und Schönen bestand in dem Bild eines sich dem Kranken und Schwachen zuwendenden Menschen – sie schien ein Blick in den Himmel zu sein. So ist Franz von Assisi ein Heiliger, weil das Bild eines die Aussätzigen umarmenden Yuppies Leuchtkraft entfaltete.
Im Mittelalter sah das Volk Bilder nur in der Kirche. Die Heiligenbilder konkurrierten nicht mit der TV-Werbung. Was für eine Anstrengung muß es den Weltgeist gekostet haben, wieder einmal das Imago des Guten durchzusetzen. Er wählte sich als Bühne ein Königshaus und als Darstellerin ein schönes junges Mädchen. Und er ließ Mutter Teresas Tod mit dem Ereignis zusammenfallen. Was Diana in Schönheit symbolisiert, hat Mutter Teresa im Staube gelebt. Der Spot, der die Umarmung der beiden zeigt, könnte von Giotto gemalt sein. Sibylle Tönnies taz vom 8. 9. 1997 | Sibylle Tönnies | [
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„Sozialismus oder Barbarei“ - taz.de | „Sozialismus oder Barbarei“
Die etwas andere Feier zum Tag der Einheit
taz: Herr Reinking, morgen ist der 60. Jahrestag der deutschen Republik. 1949 - 2009. Ist das für Sie ein Grund zu feiern?
Ulrich Reineking: Aus jedem Fehler kann man lernen und sich freuen. Privat will ich nicht feiern, denn ich hatte geplant, die Nachfolge von Karl Eduard Schnitzler im DDR-Fernsehen anzutreten. Mit mir als Moderator wäre die DDR ein besserer deutscher Staat gewesen.
Wie würde die Party denn aussehen, wenn wir den 60. Jahrestag der DDR feiern würden?
Ich hätte Gestaltungsideen, die das Weser-Stadion füllen würden. Aber auch bei unserer kleinen Feier besteht ein Zugangsverbot für Mitglieder des ADAC. Als Nichtkraftfahrer bin ich dafür, dass die Leute mit dem Fahrrad kommen.
Hätte es vor 60 Jahren auch anders kommen können?
Diese Frage ist ein lebenslanger Forschungsprozess. Wir tun heute Abend zumindest so als ob. Egon Krenz wird auftreten und Dr. Angela Merkel als seine Wissenschaftsministerin.
Sind die Zeiten für so viel Ostalgie nicht langsam vorbei?
Wir haben doch nur die Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei. Ulrike Meinhof hat gesagt: „Wir können sie nicht dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Aber wir können sie zwingen, immer unverschämter zu lügen.“ Daran arbeite ich schon seit 50 Jahren. INTERVIEW: CHRISTOPH PAGEL
Kabarett der Literarischen Gewalttätigkeiten, 19.30 Uhr, Sportklause, Vegesacker Straße 84a | CHRISTOPH PAGEL | Die etwas andere Feier zum Tag der Einheit | [
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Gedenken an Berkin Elvan in Berlin: Wer kommt nach Erdogan? - taz.de | Gedenken an Berkin Elvan in Berlin: Wer kommt nach Erdogan?
Auch in Berlin gedenken die Menschen des verstorbenen 15-jährigen Berkin Elvan. Die Menschen sind wütend auf Erdogan und die AKP.
Istanbul, Ankara, Hamburg, Berlin: Überall gedenken die Menschen des 15-jährigen Berkin Elvan. Bild: reuters
BERLIN taz | „Mörder! Katil! Erdogan!“ Diese Rufe hört man am Mittwochabend nicht nur in der Türkei, sondern auch in Berlin. 450 Menschen ziehen laut Polizeiangaben von der alevitischen Gemeinde in der Waldemarstraße im Stadtteil Kreuzberg zum Kottbusser Tor, um des Todes des 15-jährigen Berkin Elvan zu gedenken. Dort treffen sie mit anderen Demonstrierenden zusammen, auf einem zweiten Rundgang wächst die Menge so auf 750 Personen an. Weitere 130 Personen gedenken Berkins am Winterfeldtplatz im Stadtteil Schöneberg.
Berkin wurde während der Proteste um den Istanbuler Gezi-Park im Sommer 2013 von einem Tränengasgeschoss der Polizei am Kopf getroffen. Er hatte nichts mit den Protesten zu tun, war nur auf dem Weg, Brot zu kaufen. 269 Tage lag Berkin im Koma, am Dienstag erlag er seinen Verletzungen. Am Mittwoch wurde er beigesetzt. Sein Tod hatte überall in der Türkei zu neuen Demonstrationen geführt, die von der türkischen Regierung abermals mit Wasserwerfern, Tränengas und Gewalt beantwortet wurden.
Anders die Demonstration in Berlin. Die Menschen ziehen friedlich durch die Straßen und fordern in lautstarken Sprechchören die regierende AKP und Ministerpräsident Erdogan zum Rücktritt auf. „Der Junge war 14, als er getroffen wurde“, sagt Numan Emre, Generalsekretär der alevitischen Gemeinde zu Berlin, der taz. „Wir sind hier, um unsere Solidarität zu bekunden und zu zeigen, dass wir Berkin und die anderen Opfer aus Gezi nicht vergessen.“ Er betont, es könne nicht sein, dass die verantwortlichen Polizisten nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Stattdessen würden in der Türkei weiter Jugendliche gefoltert und verhaftet. „Das sind die Mörder von Berkin.“
Berkin selbst stammte ebenfalls aus einer alevitischen Familie. Auch die anderen sechs Todesopfer der Proteste im Sommer 2013 waren Aleviten. Insgesamt war die Mehrheit der Demonstrierenden alevitisch, sagt Selim Ay, einer der Demonstrierenden. Das geht auch aus einer Untersuchung des türkischen Innenministeriums hervor. Ay erklärt diesen Umstand unter anderem mit der Unterdrückung der Aleviten in der Türkei. Dadurch seien diese der Regierung gegenüber besonders kritisch, ihre Beteiligung an den Protesten besonders hoch.
Unterdrückte alevitische Minderheit
Die Aleviten sind in der Türkei nicht als religiöse Minderheit anerkannt. Sie haben vielerorts mit Unterdrückung und Diskriminierung zu kämpfen. In der Geschichte der Türkei kam es immer wieder zu blutigen Übergriffen auf Aleviten, so beispielsweise 1978, als in der Stadt Kahranmaras im Südosten der Türkei eine Bombe in einem alevitischen Café explodierte. Über 100 Menschen kamen ums Leben. Im Jahr 1993 griff eine religiös motivierte Menge im zentral-anatolischen Ort Sivas die Teilnehmenden eines alevitischen Festivals an. 37 Menschen starben.
Ay bezeichnet sich als Atheisten und als Linken. Er engagiert sich bei Allmende, einem Verein für alternative Migrationspolitik und Kultur. Die Mitglieder der Gemeinde kennt er aus seiner politischen Arbeit. Auch ihn erschütterte das Schicksal des 15-jährigen Jungen. Deswegen hat er sich der Demonstration angeschlossen.
Doch die Rufe nach einem Rücktritt Erdogans und der AKP sieht er kritisch. „Wir brauchen eine bürgerliche Demokratie in der Türkei“, sagt er. Es gebe aber keine wirkliche Alternative unter den Parteien. „Wenn die AKP abtritt, wer kommt dann? Die MHP? Die CHP? Die sind nationalistisch und rassistisch.“
Die CHP ist eine der wichtigsten parlamentarischen Oppositionsfraktionen in der Türkei. Obwohl dem Namen nach sozialdemokratisch, vertrat sie in der Vergangenheit einen sehr nationalen Kurs und näherte sich dem rechten Lager an. Bei der MHP handelt es sich um eine ultranationalistische Partei, in Deutschland kennt man sie als „Graue Wölfe“.
Zersplitterte Opposition
Stellten diese Parteien eine neue Regierung in der Türkei, für Ay wäre das keineswegs ein Fortschritt. „Das ist doch alles das Gleiche“, sagt er. „Die AKP will eine religiöse Diktatur aufbauen, die CHP und die MHP eine nationalistische.“
Um eine wirkliche oppositionelle Bewegung ins Leben zu rufen, seien die Gruppierungen in der Türkei viel zu zersplittert. „Hier ist eine Demo, am Kottbusser Tor ist eine Demo, am Winterfeldplatz ist eine Demo“, erklärt Ay. „Warum können wir nicht gemeinsam demonstrieren?“ Eine Frage, auf die Emre von der alevitischen Gemeinde eine deutliche Antwort hat. Bei der Demonstration seien auch Mitglieder der Jugendorganisation der CHP anwesend. „Solange die die Aleviten nicht als gleichberechtigt anerkennen, setzen wir uns nicht mit ihnen an einen Tisch.“
In einem anderen Punkt jedoch stimmen Ay und Emre überein. „Die Türkei braucht eine neue, unbelastete Regierung, die die Gewalt gegen Demonstranten aufarbeitet“, sagt Emre. Doch auch er kann sich momentan keine Regierung vorstellen, die das bewältigen könnte. Der demonstrierenden Menge ist das egal. Sie zieht unter Rücktrittsforderungen an Erdogan und „Schulter an Schulter gegen Faschismus“ oder „Berkin ist unsterblich“ rufend weiter Richtung Kottbusser Tor. Dort endet der Umzug mit einer Schweigeminute für Berkin Elvan, den Jungen, dessen Schicksal die Menschen wieder auf die Straße brachte. | Dinah Riese | Auch in Berlin gedenken die Menschen des verstorbenen 15-jährigen Berkin Elvan. Die Menschen sind wütend auf Erdogan und die AKP. | [
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NRW-Linke gegen den Spaltpilz: Rote Karte für Wagenknecht - taz.de | NRW-Linke gegen den Spaltpilz: Rote Karte für Wagenknecht
In Nordrhein-Westfalen attestiert der Landesverband der Linken der einstigen Spitzenkandidatin Wagenknecht parteischädigendes Verhalten.
Altes Bild einer gar nicht so jungen Partei: Schon 2007 fand ein Parteitag in Dortmund statt Foto: ap
DORTMUND taz | In Nordrhein-Westfalens Linkspartei wächst der Widerstand gegen das mit Spaltung liebäugelnde Lager um Sahra Wagenknecht. Ein Landesparteitag hat am Wochenende in Dortmund einen „Dringlichkeitsantrag“ beschlossen, in dem der einstigen Spitzenkandidatin der Linken in NRW parteischädigendes Verhalten attestiert wird. Im Düsseldorfer Landtag ist Die Linke nicht mehr vertreten.
„Linke Gegenentwürfe für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens und für die Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen“ würden nicht mehr ernst genommen, heißt es zur Begründung: „Unsere Vorschläge dringen nicht nach vorn, weil sie aus einer Partei kommen, die sich nicht sicher sein kann, ob sie zusammenbleibt.“
Erwartet werde jetzt „ohne Wenn und Aber ein klares Bekenntnis zu unserer Partei“ – nicht nur von Wagenknecht selbst, sondern auch von den anderen fünf „Bundestagsabgeordneten der Linken in NRW“.
Wagenknechts Verhältnis zur Linkspartei gilt spätestens seit Erscheinen ihres Buches „Die Selbstgerechten“, in dem sie 2021 sogenannten „Lifestyle-Linken“ vorwarf, die Klassenfrage zu vernachlässigen und stattdessen auf Sekundärthemen wie Klimaschutz zu setzen, als zerrüttet. Erst Anfang März hatte die einstige Parteiikone erklärt, sie schließe eine erneute Kandidatur für Die Linke aus. Über eine Parteineugründung abseits der Linkspartei werde allerdings „an vielen Stellen diskutiert“.
Angst essen Linke auf
In der Linken geht seitdem die Angst um, Wagenknecht könne bei der Europawahl im Frühjahr 2024 mit einer eigenen Liste antreten. Meinungsforscher:innen sehen dafür ein Potenzial von bis zu 25 Prozent, während die Linke bundesweit um 5 Prozent dümpelt. In NRW dürfte Wagenknecht dabei auf die Unterstützung von mindestens drei weiteren Bundestagsabgeordneten zählen können, die bisher auf dem Ticket der Linkspartei ins Parlament gewählt wurden.
So gilt die Bochumer Abgeordnete Sevim Dağdelen als eine ihrer engsten Vertrauten. Zum Wagenknecht-Lager zählen auch der einstige NRW-Landessprecher Christian Leye und der Aachener Andrej Hunko, der 2021 über Platz 4 der Landesliste in den Bundestag einzog. Klar zur Partei bekannt hat sich bisher nur die aus dem münsterländischen Emsdetten stammende Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler, die auch amtierende Co-Landesvorsitzende der Linken in NRW ist.
Wagenknecht, Dağdelen und Hunko waren bei dem Dortmunder Landesparteitag gar nicht erst anwesend. Wie sehr sich deren Lager bereits von der Partei verabschiedet hat, zeigt auch ein Blick auf das Bochumer Wahlkreisbüro Dağdelens, bei dem schon heute jeder Hinweis auf die Linke fehlt.
Dank geschickter Regie arbeitete die Partei auf dem Parteitag in Dortmund trotzdem auch inhaltlich. Beschlossen wurde unter anderem ein verkehrspolitischer Leitantrag, der einen „absoluten Vorrang für die Schiene“ und perspektivisch einen öffentlichen Nahverkehr „zum Nulltarif“ fordert. Eine „Verkehrswende nach links“.
Ebenfalls beschlossen wurde aber auch ein als innerparteilicher Kompromiss geltender Antrag, der ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine, „insbesondere von Kampfpanzern und schwerem Gerät“, fordert. | Andreas Wyputta | In Nordrhein-Westfalen attestiert der Landesverband der Linken der einstigen Spitzenkandidatin Wagenknecht parteischädigendes Verhalten. | [
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Nach dem Kahlschlag herrscht Ruhe am Kai - taz.de | Nach dem Kahlschlag herrscht Ruhe am Kai
Mit Edelholzexporten finanzierte sich Taylor einst. Der Sektor liegt heute still. Taylors damalige Partner warten im Exil auf eine neue Chance
HARPER taz ■ Die Klumpen stinken erbärmlich und sehen aus wie Erbrochenes. Wie kleine Schweinehälften liegt das Kautschuk auf einem Haufen. Das Naturgummi wird auf ein kleines Schiff gehievt, das den Rohstoff aus dem Hafen von Harper bringt. „Noch vor fünf Jahren luden die hier nicht Kautschuk, sondern Baumstämme“, sagt der Lokaljournalist Aaron Collins. Er erzählt, wie sich in diesem Hafen im äußersten Südosten Liberias seit Beginn der 90er-Jahre bis 2003 das Tropenholz meterhoch stapelte. Das war die Zeit, in der Charles Taylor die Region kontrollierte – erst als Kriegsfürst, später als gewählter Präsident Liberias. Die Weltbank schätzte damals, dass jährlich bis zu 53 Millionen Dollar aus dem Tropenholzgeschäft in die Taschen der Bürgerkriegsfraktion von Taylor flossen.
Das liberianische Holz ging vor allem nach Europa, wichtigster Kunde war Frankreich. Um Harper herum betrieb das Holzschlagunternehmen „Maryland Wood Processing Industry“ (MWPI) Raubbau in den dichten Wäldern. Swen Nyekan, ein Exmanager des Unternehmens, sagt, dass er im Jahr 2003 insgesamt 24 Schiffe gezählt habe. Ein Schiff kann 1.000 Kubikmeter Holz laden. Nach dem Marktpreis wäre das ein Volumen von 6 Millionen Dollar. Andere nennen viel höhere Zahlen. Varo Gray, Ex-MWPI-Angestellter und heutiger Sprecher ehemaliger Baumfäller, sagt, er habe in einigen Monaten allein bis zu acht Schiffe gezählt.
Von der alten Zeit zeugen heute nur ein paar zurückgelassene Baumstämme im kleinen Hafen von Harper, in dem nicht mehr als zwei oder drei Frachtschiffe auf einmal andocken können. Harper galt neben den anderen liberianischen Häfen in Buchanan und Greenville als Hauptausfuhrstation für Tropenholz. Die MWPI wurde vom libanesischen Fawas-Clan gesteuert und war Taylor gegenüber loyal. „Der Chef hieß Abbas Fawas, aber nichts ging ohne Charles Taylor in Monrovia. Er war wie der große Pate und größter Profiteur hinter den Aktivitäten von MWPI“, sagt Exmanager Nyekan. Die Aktivitäten von MWPI waren beherrschend im Südosten sowie im Nordwesten Liberias. MWPI galt als Staat im Staate. Die Holzfäller-Firma hatte die gesamte Verwaltung des Hafens Harper von der Regierung Taylor übertragen bekommen. Behördliche Kontrolleure waren zu Statisten degradiert und bekamen ihr Gehalt vom Unternehmen. MWPI füllte seine Exportpapiere selbst aus. Wenn ein Beamter vom Forstschutz auf die Idee kam, MWPI wegen illegalen Baumschlags anzuschwärzen, dann bekam nicht das Unternehmen Ärger, sondern er.
„Schnell war uns klar, dass es nur darum ging, ohne Rücksicht auf Verluste Profit aus dem Wald zu holen“, sagt Swen Nyekan. Normalerweise sah das liberianische Forstgesetz „Block logging“ vor, dass also Holzschlag nur in einem bestimmten abgesteckten Areal stattfinden darf. Das habe MWPI nicht interessiert, sagt der 49-Jährige. Auch vorgesehene Entschädigungsleistungen etwa für beschädigte Bäume, die beim Fällen stehen bleiben sollten, habe das Unternehmen einfach nicht gezahlt.
MWPI genoss Protektion von höchster Stelle. „Es war ein offenes Geheimnis zu jener Zeit, dass MWPI die Bürgerkriegsmilizen von Taylor unterstützte und mit Waffen ausrüstete“, sagt Nyekan. Er sei mehrfach dabei gewesen, als Schiffe mit verdächtiger Fracht entladen wurden. Schaulustige wurden dann vom Kai verscheucht.
Die Rolle, die im Bürgerkrieg in Sierra Leone Diamanten zukam, spielte in Liberia das Tropenholz. Mit dem Geld von MWPI wurden Rebellen unterstützt, die ab 2002 beim östlichen Nachbarn Elfenbeinküste Tod und Zerstörung brachten. Die Holzwirtschaft erhielt die Quittung, als die ivorische Regierung eine eigene Miliz für Liberia aufstellte. Die Rebellen der MODEL, die vom Osten her Richtung Monrovia marschierten, plünderten im Jahr 2003 die Produktionsstätte von MWPI. Damals hatte das liberianische Tropenholzgeschäft bereits seit zwei Jahren unter internationalen Sanktionen gestanden. Der Boykott wurde von der UNO im Juni 2006 aufgehoben – trotz scharfer Kritik internationaler Umweltorganisationen. Liberias neue Regierung habe den Sektor noch nicht richtig im Griff, sagten sie.
Anfang vergangenen Jahres erklärte die neue Regierung von Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf sämtliche alten Forstlizenzen für ungültig und erstellte neue Kriterien für die Vergabe neuer Baumschlagkonzessionen. Danach kann von der Vergabe ausgeschlossen werden, wer mit Waffen oder illegalen Geldgeschäften im Bürgerkrieg mitgemischt hat.
Nun warten die Ex-MWPI-Arbeiter in Harper auf die Rückkehr der Holzfäller. Der Holzeinschlag war früher der größte Arbeitgeber der Region, und es fehlt jetzt auch an Bau- und Möbelholz. Sie-Teba Neufville, der Präfekt, hofft auf einen Wiederbeginn noch in diesem Jahr. Das französische Holzunternehmen „Groupe Rougier“ habe bereits Interesse an Investitionen angemeldet. Varo Gray, Sprecher der ehemaligen Holzarbeiter, oder Exmanager Swen Nyekan sorgen sich mehr um Arbeitsplätze denn um den Wald. Viele, sagen sie, wären auch bereit, den alten Chef von MWPI, Abbas Fawas, wieder zu empfangen. Der Libanese, der sich angeblich in seiner Heimat aufhält, soll an einer Rückkehr interessiert sein. HAKEEM JIMO | HAKEEM JIMO | Mit Edelholzexporten finanzierte sich Taylor einst. Der Sektor liegt heute still. Taylors damalige Partner warten im Exil auf eine neue Chance | [
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Zoff zwischen Volkswagen und Lichtblick: Das Aus für die Zuhause-Kraftwerke - taz.de | Zoff zwischen Volkswagen und Lichtblick: Das Aus für die Zuhause-Kraftwerke
Die Kooperation für kleine Blockheizkraftwerke ist geplatzt. Lichtblick wirft dem Autokonzern Preistreiberei vor. Nun seien Jobs bedroht.
Als die Kooperation begann: Ein sogenanntes „Zuhausekraftwerk“ wird 2010 bei VW in Salzgitter zum Transport vorbereitet. Bild: dpa
WOLFSBURG/HAMBURG dpa | Der Streit zwischen Volkswagen und dem Hamburger Ökostrom-Unternehmen Lichtblick eskaliert. Die einst mit hochfliegenden Zielen angekündigte Kooperation bei kleinen Blockheizkraftwerken (BHKW) mündete am Mittwoch in eine auch öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung, in der Lichtblick schwere Vorwürfe gegen den Autoriesen erhebt.
Die Wolfsburger hätten „wesentliche wirtschaftliche Vertragsvereinbarungen" verletzt und am Ende die Zusammenarbeit mit angeblich realitätsferner Preistreiberei vor die Wand gefahren, erklärte Lichtblick in einer Mitteilung. Die 1998 gegründete Firma mit 470 Mitarbeitern bangt nun nach eigenen Angaben um Jobs „im höheren zweistelligen Bereich“.
Für das entgangene künftige Geschäft will sie Schadenersatz von VW fordern. „Letztendlich wollte VW uns Bedingungen diktieren, die vollkommen inakzeptabel sind“, sagte Lichtblick-Chef Heiko von Tschischwitz.
Volkswagen sprach von Schwierigkeiten bei Vertragsverhandlungen und bedauerte das Ende der Kooperation für die kleinen Kraftwerke, die dezentral über Gasmotoren Häuser, kleine Firmen, Kitas, Kirchen oder Hotels versorgen. Die Wolfsburger setzten nun auf ihre „bestehenden alternativen Vertriebspartner“. Laut Lichtblick hätte man nur zu gern weitergemacht. Doch alle Rettungsversuche seien gescheitert.
Pikant ist, dass die Partner noch zwei weitere gemeinsame Projekte vorantreiben. Ob auch diese durch den Streit in Gefahr geraten, war zunächst unklar. VW glaube weiter an den Erfolg der laufenden übrigen Projekte mit Lichtblick, sagte ein Sprecher. Und Lichtblick ließ wissen: „Wir würden die Kooperationen gern fortführen.“
Kooperation auch bei Ökostromtarifen und Elektroautos
Lichtblick und Volkswagen arbeiten auch bei Ökostromtarifen für die Elektroautos der Marken VW-Pkw, Audi und Porsche zusammen. Außerdem testen sie seit kurzem in Berlin mit einem Feldversuch, inwieweit batteriebetriebene Wagen aus E-Fahrzeugflotten während des Parkens als intelligente Stromspeicher taugen. Der Weg weg von den großen Atom- oder Kohlemeilern und hin zur dezentralen Versorgung über alternative Quellen wie Sonne und Wind gilt als eine der größten Herausforderungen der Energiewende.
Zum Start der Kooperation hatte es vor fünf Jahren nicht an großen Sprüchen gemangelt. 100.000 dezentrale „Zuhause-Kraftwerke“, so der Name für das von Gasautomotoren betriebene BHKW-Produkt, wollte Lichtblick langfristig verkaufen - und dabei zu Deutschlands größtem virtuellen Gaskraftwerk vernetzen. Ganze zwei Atomkraftwerke sollten damit überflüssig werden, hieß es Ende 2010 zum Startschuss der ersten Installationen bei Privat- und Gewerbekunden. Nach eigenen Angaben sind bisher aber nur 1500 Mini-Kraftwerke verkauft worden. | taz. die tageszeitung | Die Kooperation für kleine Blockheizkraftwerke ist geplatzt. Lichtblick wirft dem Autokonzern Preistreiberei vor. Nun seien Jobs bedroht. | [
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Sex mit Folgen: Heterosex ist nicht natürlich - taz.de | Sex mit Folgen: Heterosex ist nicht natürlich
Unsere Autorin hat nur ab und an Sex mit Cis-Männern, aber auch die biologischen Fakten geben ihr Recht: Heterosex bringt Tücken mit sich.
Ich habe ja nichts gegen Heteros, aber… Foto: Fred Leveugle/Plainpicture
Ich habe nichts gegen Heteros. Ich habe heterosexuelle Freunde. Manchmal schlafe ich sogar selbst mit Cis-Männern. Alle sollen von mir aus Sex haben, wie und mit wem sie wollen. Aber ich muss jetzt trotzdem mal was sagen: Heterosex ist einfach nicht natürlich. Ich denke mir das ja nicht aus, das sind die biologischen Fakten. Sperma und Scheidenflora haben völlig unterschiedliche PH-Werte. Die Vagina hat ein saures Milieu, um Krankheitserreger abzuwehren. Durch das basische Sperma steigt der PH-Wert zumindest kurzzeitig an – die Scheidenflora wird also weniger sauer – und Krankheitserreger können sich leichter ausbreiten. Viele Menschen mit Vagina bekommen deshalb von ungeschützem Geschlechtsverkehr mit Penissen eine Pilzinfektion.
Noch ein Klassiker: Blasenentzündung. Bei Menschen ohne Penis ist der Weg zwischen Blase und Harnausgang nicht weit. Und auch Anus, Vagina und Harnausgang liegen unpraktisch nah bei einander. Durch die mechanische Rein-raus-Bewegung, die für die meisten Heteros zum Sex dazugehört, werden Darmbakterien in die Harnröhre transportiert. Viele meiner Heterofreundinnen bekommen ständig nach Penetrationssex eine Blasenentzündung.
Ich bin davon lange verschont geblieben, erst als ich mit einem Cis-Mann zusammen kam, habe ich verstanden, was sie meinten: Du musst ständig auf Klo, pinkeln brennt, Unterleibskrämpfe, die mich schon Nächte hindurch wach gehalten haben. Fiese Sache. Wenn es schlecht läuft, hilft nur ein Antibiotikum. Das ist verschreibungspflichtig. Das bedeutet, mit besagten Symptomen regelmäßig Stunden in einem überfüllten Gynäkolog*innen-Wartezimmer zu sitzen. Heterofrauen müssen sich quasi entscheiden, ob sie Sex oder ein Leben haben wollen. Antibiotika wiederum töten die guten Milchsäurebakterien in der Scheidenflora. Also kommt als Nächstes wieder eine Pilzinfektion.
Geschlechtskrankheiten wie Chlamydien oder Gonorrhoe können zwar durch alle möglichen Sex-Praktiken übertragen werden, aber Penis-Vagina-Penetration bringt ein höheres Risiko mit sich als beispielsweise Lecken oder Fingern. Wo es an medizinischer Versorgung mangelt, ist eines der größten Risiken von Heterosex immer noch: schwanger werden. 295.000 Frauen starben im Jahr 2017 weltweit im Zuge von Schwangerschaft oder Geburt.
Ich frage mich oft, was sich die Natur dabei gedacht hat. Weil ich aber, wie gesagt, dafür bin, dass alle Sex haben können, wie sie möchten, sollten wir als Gesellschaft zumindest zwei Dinge tun: die medizinischen Kosten umverteilen, die insbesondere Frauen durch Heterosex entstehen. Zum Beispiel durch eine Sex-Abgabe für Heteromänner. Außerdem müssen wir das Risiko für alle Beteiligten verringern. Dafür brauchen wir mehr Forschung zu Krankheiten, die weibliche Körper betreffen. Und vor allem: Die Früchte dieser Forschung müssen weltweit gerecht verteilt werden. | Lou Zucker | Unsere Autorin hat nur ab und an Sex mit Cis-Männern, aber auch die biologischen Fakten geben ihr Recht: Heterosex bringt Tücken mit sich. | [
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Die Angst vor dem FCKW-Kühlschrank - taz.de | Die Angst vor dem FCKW-Kühlschrank
■ Rollende Container-Ausstellung informiert über FCKW und die Folgen/ Trotz Teilverbots verwendet die Industrie den Ozonkiller munter weiter/ Nur bei Sprays ist FCKW inzwischen »out«
Berlin. Vor FCKW-Kühlschränken haben die Leute Angst, FCKW-haltige Sprays sind inzwischen fast völlig aus den Geschäften verschwunden. Das Votum der Verbraucher war bei den Sprays eindeutig, die Hersteller reagierten ausnahmsweise auch ohne Gesetze. Doch in Kühlschränken, Turnschuhen, Heckspoilern und anderen Dingen werden die Ozonkiller weiterhin verwendet. Durch den Erfolg bei den Sprays angeregt, zieht zur Zeit ein Container von Greenpeace als »rollende Ausstellung« durch deutsche Städte und verrät, was sonst noch alles verschwinden muß.
Zwar tritt im Juli dieses Jahres ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von sogenannten „vollhalogenierten FCKWs“ ab spätestens 1995 verbietet, aber die »weichen«, teilhalogenierten FCKWs dürfen weiterhin verwendet werden. Auch diese vergrößern die Ozonlöcher am Nord- und Südpol.
Allein die Bauindustrie verbraucht in Westdeutschland 200.000 Tonnen FCKW jährlich. Schon seit langem fordert Greenpeace, daß der Berliner Senat mit gutem Beispiel vorangehen und in seinen Neubauten auf FCKW verzichten sollte. Aber weder der rot-grüne noch der schwarz-rote Senat sahen bisher Handlungsbedarf.
Zahlreiche alltägliche Gegenstände sind in dem 30 Quadratmeter großem Container wiederzufinden: Surfbrett, Autolenkrad, Schaumstoffverpackung, Computer. Sie alle stehen auf der schwarzen Liste der Ozonschützer. Von den Käufern erhofft sich Johannes Walter, daß sie künftig konkret nach FCKW-freien Waren verlangen und das Umdenken der Hersteller erzwingen. Er begleitet den Ausstellungscontainer als wissenschaftlicher Mitarbeiter und steht den Besuchern bei Fragen zu Verfügung.
Am weitesten ist das FCKW-Bewußtsein mittlerweile bei Kühlschränken. Viele Hersteller machen mit »FCKW-reduzierten« Geräten Reklame. Die BSR entsorgt jährlich über 40.000 alte FCKW- Kühlschränke. Kostenpunkt: 25 Mark das Stück. Der Kühlschrankbesitzer muß nichts zahlen — Service der BSR. Allerdings bereitet die BSR bisher nur die FCKW-haltigen Kühlflüssigkeiten wieder auf, der Isolierschaum mit ebenfalls etwa 250 Gramm FCKW wandert dagegen auf die Sondermülldeponie, so Harald Abraham von der BSR auf Anfrage der taz. Doch gefährlich ist FCKW im Kühlschrank nicht, Milch und Käse bleiben unbehelligt. Erst in der Atmosphäre zerstört die Kühlflüssigkeit die Ozonschicht. Greenpeace empfiehlt den Kauf eines FCKW- freien Ammoniak-Kühlschranks. Besser jedoch: den alten Kühlschrank bis zum Exzeß reparieren, sofern er kein übermäßiger Stromfresser ist.
Sinnigerweise steht der Greenpeace-Container auf dem menschenleeren Parkplatz gegenüber der Kongreßhalle am Alexanderplatz. Für einen besseren Platz bekam Greenpeace keine Genehmigung. Einziger Vorteil des Standortes: Der umweltbewußte Ausstellungsbesucher kann sein Auto direkt neben der Ausstellung parken. Rochus Görgen
Die Ausstellung ist noch bis Donnerstag von 11 bis 18 Uhr auf dem Parkplatz 1 in der Alexanderstraße (Berlin-Mitte) kostenlos zu sehen. | rochus görgen | ■ Rollende Container-Ausstellung informiert über FCKW und die Folgen/ Trotz Teilverbots verwendet die Industrie den Ozonkiller munter weiter/ Nur bei Sprays ist FCKW inzwischen »out« | [
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Betr.: Zitat der Woche - taz.de | Betr.: Zitat der Woche
„Die Chance, dass die Russen oder die Chinesen irgendein Dokument erhalten haben, liegt bei null Prozent“
EDWARD SNOWDEN VERSICHERT DER „NEW YORK TIMES“, DASS ER VOR SEINER FLUCHT NACH MOSKAU ALLE NSA-GEHEIMDOKUMENTE ABGEGEBEN HAT | EDWARD SNOWDEN | [
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Das Ende von Chinas „Null-Covid“-Politik: Schmerzhafter Exit-Plan für China - taz.de | Das Ende von Chinas „Null-Covid“-Politik: Schmerzhafter Exit-Plan für China
Die Volksrepublik probt schrittweise Lockerungen für ein „Leben mit Covid“. Doch die Impfraten unter den Älteren sind zu niedrig.
Der Zugang zu einem Wohnblock in Peking wird am 04. Novermber 2022 noch überwacht Foto: Thomas Peter/reuters
PEKING taz | In Peking sind die Zeichen des Wandels mit bloßem Auge sichtbar: Etliche PCR-Teststationen wurden am Wochenende abmontiert, Tore vor den Wohnsiedlungen wieder geöffnet und Geschäfte aufgeschlossen. In einigen Fällen wird den Corona-Infizierten in der Hauptstadt die Zwangsquarantäne im Krankenhaus erspart: Sie dürfen ihre Viruserkrankung nun in den eigenen vier Wänden auskurieren. Das tiefe Aufatmen vieler Hauptstädter ist deutlich zu spüren.
Praktisch drei Jahre nachdem der erste Coronapatient in Wuhan identifiziert wurde, hat Chinas Staatsführung nun also zur pandemischen Kurskorrektur angesetzt. Ob die „Null Covid“-Politik nun vollkommen verabschiedet oder nur flexibler umgesetzt wird, wie es im offiziellen Narrativ heißt, wird sich wohl zeigen. Doch es scheint mehr als offensichtlich, dass die Volksrepublik ihre Bevölkerung mental auf das „Leben mit dem Virus“ vorbereiten möchte.
Der Propagandaapparat stellt dafür bereits die Weichen. „Chinesische Wissenschaftler haben bewiesen, dass die Pathogenität von Omikron im Vergleich zu früheren Varianten deutlich abgenommen hat!“, lautet etwa eine Schlagzeile der Parteizeitung Global Times. Was für den Rest der Welt keine Neuigkeit ist, muss in China als „Eilmeldung“ präsentiert werden, damit niemand der 1,4 Milliarden auf die Idee kommt, dass Xi Jinpings Prestigeprojekt „Null Covid“ möglicherweise gescheitert sei.
Die nun eingeleitete Öffnung erfolgt dabei weniger aus innerer Überzeugung denn auf äußeren Druck: Die Protestbewegung der letzten Wochen hat Peking vor Augen geführt, dass die Geduld der Leute nach über zweieinhalb Jahren „Null Covid“ am Ende ist. In den nächsten Wochen steht die Bevölkerung vor großen Herausforderungen. Denn die Lokalregierungen haben seit zwei Jahren ihre Gelder vor allem für die täglichen Massentests oder den Bau von Quarantänezentren ausgegeben und dadurch wurden die Investitionen in Notfallbetten vernachlässigt.
Der nur langsame Ausbau des Gesundheitssystems dürfte sich nun rächen: Es kursieren mehrere Prognosen, wie viele Menschenleben ein unkontrollierter Virusausbruch kosten könne. Allesamt sind sie ernüchternd: Das in London ansässige Unternehmen „Airfinity“ geht zwischen 1,3 und 2,1 Millionen Toten aus. In einer aktuellen Studie der Infektionsschutzbehörde im südostchinesischen Guangxi wird von mehr als zwei Millionen Toten und bis zu 233 Millionen Infizierten ausgegangen. Eine ähnliche Öffnung wurde bereits zuvor in Hongkong durchgeführt.
Keine Zulassung für ausländische Vakzine
Gemindert werden könnte der gesundheitspolitische Schaden nur durch eine höhere Impfrate. Doch diese ist ausgerechnet bei den älteren Generationen viel zu niedrig: Nach wie vor haben lediglich 40 Prozent der über 80-Jährigen bislang eine Booster-Impfung erhalten. Das Ziel ist jetzt laut dem Magazin Caixin, in dieser Altersgruppe bis Ende Januar eine Booster-Rate von 90 Prozent zu erzielen. Wie dies erreicht werden soll, ist allerdings noch völlig offen.
Die niedrige Impfrate hat vor allem mit der verbreiteten Wissenschaftsskepsis der Senioren zu tun, die lieber der traditionellen chinesischen Medizin vertrauen. Zudem hat der Staat im Vergleich zu anderen Generationen weniger Hebel, um sozialen Druck auszuüben. Die Impfkampagne lief schließlich vor allem über Parteiinstitutionen, Arbeitgeber und Schulen. Vor einem Impfzwang hat Peking bislang zumindest zurückgeschreckt.
Ein wenig Abhilfe schaffen könnten zudem die Mrna-Impfstoffe von Biontech und Moderna, die in ihrer Wirksamkeit den chinesischen Totimpfstoffen überlegen sind. Aber der chinesische Staatspräsident Xi Jinping ist auf absehbare Zeit nicht bereit, westliche Impfstoffe zu akzeptierten.
Keine ausländischen Vakzine wurde bis heute in China zugelassen. Erklärt wird dies gemeinhin mit nationalistischem Stolz. Doch „es ist auch der paranoide Glaube, dass es ein nationales Sicherheitsrisiko darstellt, sich auf westliche Impfstoffe zu verlassen“, kommentiert auf Twitter Tong Zhao, der derzeit an der US-Princeton-Universität recherchiert.
Ein Erfolg bleibt den Chinesen unbenommen: Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern hat man die tödliche Welle der Delta-Variante nahezu ohne Virustote überstanden. | Fabian Kretschmer | Die Volksrepublik probt schrittweise Lockerungen für ein „Leben mit Covid“. Doch die Impfraten unter den Älteren sind zu niedrig. | [
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Handelsabkommen zwischen EU und Kanada: Zypern stoppt Ceta - taz.de | Handelsabkommen zwischen EU und Kanada: Zypern stoppt Ceta
Das Parlament in Nikosia stimmt gegen die Annahme des europäisch-kanadischen Wirtschaftspakts. Abgeordnete sehen Agraprodukte nicht genug geschützt.
Der zypriotische Präsident Nikos Anastasiades will, dass Ceta nachverhandelt wird Foto: dpa
BERLIN taz | Das zypriotische Parlament in Nikosia hat am Freitag die Ratifizierung des europäisch-kanadischen Handelsabkommen abgelehnt. Weil die Abgeordneten den auf der Insel hergestellten Halloumi-Käse und andere landwirtschaftliche Produkte nicht ausreichend geschützt sehen, sprachen sie sich mit einer Mehrheit von 37 zu 18 Stimmen gegen den Wirtschaftspakt aus, berichten zypriotische Medien. Die Ceta-KritikerInnen aus den Reihen der SozialistInnen, der linken Partei Akel und der Grünen monierten, dass das Abkommen multinationale Unternehmen stärke und der Umwelt schade. Die Regierung will nun Nachverhandlungen anstrengen.
Mit dem Wirtschaftspakt sollen nahezu alle Zölle zwischen der EU und Kanada abgeschafft und der Handel vereinfacht werden. Gegen Ceta und den mittlerweile gescheiterten Schwesterpakt TTIP mit den USA hatte es in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern große Proteste gegeben. KritikerInnen fürchten, dass Verbraucherstandards abgesenkt und der Einfluss der Industrie größer wird, da Unternehmen etwa bei der Angleichung von Standards weitgehende Mitspracherechte eingeräumt werden. Vor allem die Möglichkeit von Klagen von Unternehmen gegen unliebsame politische Entscheidungen sorgen für Unmut.
Seit 2017 sind weite Teile vorläufig in Kraft. Um vollständig Geltung zu bekommen, muss Ceta von allen EU-Staaten ratifiziert werden. Das ist in Deutschland wie in etlichen anderen EU-Staaten noch nicht geschehen. „In Deutschland werden wir das Vertragsgesetz dem Parlament vorlegen, sobald eine noch ausstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist“, sagte ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Entscheidung in Nikosia wollte er nicht kommentieren.
Die Grünen im Europaparlament begrüßen das Abstimmungsergebnis. „Die Ablehnung von Ceta durch das zyprische Parlament zeigt, wie hoch umstritten das Abkommen ist“, sagte die grüne Europa-Abgeordnete Anna Cavazzini. Angesichts der Klimakrise sei ein Kurswechsel in der EU-Handelspolitik hin zu hohen Umwelt- und Sozialstandards und weg von einseitigen Klagerechten für Konzerne dringend nötig. | Anja Krüger | Das Parlament in Nikosia stimmt gegen die Annahme des europäisch-kanadischen Wirtschaftspakts. Abgeordnete sehen Agraprodukte nicht genug geschützt. | [
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Kennedy-Besuch in Berlin: Richtig rostrotes Haar - taz.de | Kennedy-Besuch in Berlin: Richtig rostrotes Haar
Vor 50 Jahren kam John F. Kennedy nach Berlin. Der Sender Freies Berlin berichtete sieben Stunden lang live. Unser Autor hat die Bilder angesehen.
John F. Kennedy am 26. Juni 1963 bei seiner historischen Rede vor dem Rathaus Schöneberg. Bild: dpa
BERLIN taz | Am Ende kommt man zu einem Beschluss: Der RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) sollte nachts – es gab da mal einen großen Erfolg mit endlosen S-Bahn-Fahrten – unkommentiertes Nachrichtenmaterial senden, für die Schlaflosen ein idealer Meditationsstoff.
„Am schönsten ist doch das Warten.“ Der Flughafen Tegel, damals nur die leere Fläche des Flugfeldes und ein paar Baracken, wo sie herumstanden, Willy Brandt und der schildkrötenhafte Bundeskanzler Adenauer, der junge Walter Scheel und der junge Rainer Barzel und Egon Bahr. Ein windiger Tag. Ausgiebig zeigt die Kamera die anfliegende Präsidentenmaschine. Wie sie landet.
Und dann ist er da, der berühmte junge Mann, und es beginnt ein schwer verständliches Hin- und Herlaufen. Die Ehrenformationen der französischen, britischen und amerikanischen Streitkräfte müssen abgeschritten werden.
Richtig, wir befinden uns ja im französischen Sektor Berlins, und der uniformierte Herr an der Seite des Präsidenten, das ist der französische Stadtkommandant. Richtig, die alliierten Stadtkommandanten übten die eigentliche Herrschaft über die ehemalige Hauptstadt des Deutschen Reichs aus.
Kennedy spricht frei
Erst nach dem militärischen Zeremoniell spricht der Präsident. Dann der Regierende Bürgermeister. Kennedy, so scheint es, spricht frei; Willy Brandt liest ab.
Er schaut dick aus – wie alle deutschen Politiker – im Gegensatz zu dem jungen Präsidenten und dem alten General Clay, der später immer wieder extra umjubelt wird von den begeisterten Westberlinern und das mit Winken und verlegenem Lächeln quittiert. Er hatte ja 1948 die Luftbrücke für die blockierte Teilstadt organisiert.
Dann ist ein anderer dicker Mann im Bild, Harald Karas, ein verdienter Moderator des Westberliner Fernsehens, onkelhaft vertrauenerweckend, mit einem dicken Ring am kleinen Finger. Mittels einer handgemalten Karte und eines Stöckchens erläutert er die Tour des Präsidenten durch Westberlin.
Die Kongresshalle; das Brandenburger Tor; der Checkpoint Charlie; das Rathaus Schöneberg (wo die Westberliner Stadtregierung residiert); die Freie Universität; das US-Hauptquartier. Dann flink zurück nach Tegel und zur Abschiedszeremonie.
Im offenen Wagen durch die Stadt
Ja, der Präsident fährt im offenen Wagen durch die Stadt, links neben ihm Brandt, links neben Brandt Adenauer, die Westberliner jubeln und winken an den Straßenrändern. Man sieht das unweigerlich im Licht der Zukunft: dass er vier Monate später, links neben ihm Jackie, in einem solchen offenen Wagen erschossen wird.
Ich habe den Präsidenten damals bei seiner Rede auf dem Römer in Frankfurt gesehen (die Freundin wünschte es dringend), und mir blieb sein rotes Haar in Erinnerung, richtig rostrotes Haar. Man kannte ihn doch nur von Schwarz-Weiß-Bildern.
Der dicke Herr Karas hatte auch vertrauenerweckend erklärt, wie das Fernsehen die Tour aufzeichnet, durch fixe Kameras an gewissen Knotenpunkten und durch „drahtlose Kameras“, die ihre Bilder an „Relais-Stationen“ funken. Toll. Das Fernsehen präsentierte sich selbst sogleich als Akteur neben den Politikern.
Der Präsident schaut ernst, ja grimmig. Er lächelt und winkt, eine knappe, standardisierte Geste, die militärisch anmutet. Ja, der Präsident war Kriegsteilnehmer, schwer verwundet. Vermutlich trägt er wieder sein Korsett; die hochgezogenen Schultern wirken schmerzhaft verkrampft.
Ansturm vor dem Rathaus Schöneberg
Aber er steigt schwungvoll die Treppe des Holzgerüsts hinauf, von dem man am Checkpoint Charlie nach Ostberlin hinüberschauen kann. An der Leipziger Straße stehen Ostberliner Bürger und schauen ruhig-neugierig her, von keinen Vopos kujoniert. Hier hört man auch Reste eines Off-Kommentars, und dass im Übrigen das Material bei der Wiederaufführung im Zeughaus Kino in Berlin ohne den gewohnten Textschleim zu apperzipieren ist, man lernt es erst recht zu schätzen.
Die Massen vor dem Rathaus Schöneberg bilden das sprichwörtliche Meer. Ihre Bereitschaft zum Jubeln scheint unbegrenzt, und die „Kennedy“-Rufe bewegen ihn immer wieder zu einem amüsierten, auch dankbaren Lächeln. Die berühmte Rede ist im Gestus wie im Inhalt kriegerisch. Nach ein paar amerikanischen Sätzen hört (und sieht) man immer wieder den Übersetzer, einen korrekten Herrn mit Brille, der einen öligen und gleichzeitig schmetternden Sound pflegt.
Wir befinden uns auf einer Insel der Freiheit. Ringsum regiert der Feind und lauert auf Gelegenheiten zum Angriff. Wir dürfen uns über seine Absichten keine Illusionen machen. Aber die Insel ist mit den Vereinigten Staaten von Amerika innig verbunden …
Die Lage war verzwickt. Die Westmächte hatten zwei Jahre zuvor den Mauerbau hingenommen – was wäre die Alternative gewesen? Dass die Rote Armee Westberlin besetzt? Aber der Mauerbau schien die Schwäche und Unentschlossenheit der Westmächte zu bekräftigen. „Wann fällt die Mauer?“, fragt vorwurfsvoll ein Transparent vor dem Rathaus Schöneberg. Der Präsident weiß es nicht zu sagen.
Die aggressive Wiedervereinigungspolitik Adenauers war stecken geblieben. Die Entspannungspolitik, „Wandel durch Annäherung“, den dann der Bundeskanzler Brandt verfolgte, lag verhüllt in der Zukunft.
Vor der Freien Universität
Der offene Wagen fuhr dann zur Freien Universität nach Dahlem, vorneweg die ganze Zeit eine Kavalkade „weißer Mäuse“, wie man sie nannte, Motorradpolizisten in weißen Uniformjacken. Anhaltender Jubel – er war ja ein Star, der junge Präsident.
Den Massen bereitete es Vergnügen, ihren Star zu feiern, darin feierten sie sich selbst – ein Mechanismus, den man gerade an den Popstars erlernte. Ängstlichkeit erfüllt die Massen, dass womöglich doch noch die Sowjetunion Westberlin übernimmt.
Sie schienen mir etwas weniger enthusiastisch, die FU-Studenten, aber massenhaft traten auch sie in Erscheinung. Die Professoren präsentierten sich in den sprichwörtlichen Talaren, und die Studenten störten sich noch nicht an dem Muff darunter, dem Muff von tausend Jahren. Allerdings liest der Rektor die Urkunde, die den amerikanischen Präsidenten zum akademischen Ehrenbürger macht, in toto auf Latein vor.
Der Präsident hält vor der Universität eine richtige Universitätsrede. Er verweist darauf, dass die Vereinigten Staaten Gelehrte zu ihren Gründern zählen; er feiert die Universität als Ort der Freiheit – die USA wirkten großzügig mit am Aufbau der FU als Gegengründung zur stalinistischen Humboldt.
Studenten stören sich nicht an Muff
Der Präsident erläutert Truth, Justice and Liberty als Grundprinzipien der Bildung – die Studenten applaudieren. Was sie vier Jahre später gegen ihre Universität, die Bundesrepublik, den Spätkapitalismus und den amerikanischen Imperialismus in höchster Wut vorzubringen haben, nichts deutet jetzt und hier darauf hin.
Ganz in der Nähe der FU siedelte ja das Hauptquartier der Berlin Brigade, und der Präsident muss vor dem Abflug seinen Leuten seine Reverenz erweisen. In mir kam Nostalgie auf, ja, dort lag das amerikanische Dorf, wie häufig ist man auf der Clayallee hindurchgefahren, um zur FU zu gelangen, zur Gelehrsamkeit, zur Revolte …
Was die Ermordung Kennedys zum Aufstand der sechziger Jahre beigetragen hat, ich neige dazu, das Ereignis zu überschätzen. Aber gewiss existiert ein Zusammenhang. Die grimmige Miene, das gelungene Lächeln, das militärische Winken, der Handgriff, mit dem er den Haarschopf wieder aus der Stirn schiebt, der versteifte Gang: Man erwartete ja so viel von ihm – und dann war der Kopf mit dem rostroten Haar zerschossen.
Das Berliner Zeughauskino zeigt die siebenstündige Live-Fernsehberichterstattung des Berlinbesuchs von John F. Kennedy am Mittwoch ab 10.30 Uhr. Info unter: www.dhm.de/kino | Michael Rutschky | Vor 50 Jahren kam John F. Kennedy nach Berlin. Der Sender Freies Berlin berichtete sieben Stunden lang live. Unser Autor hat die Bilder angesehen. | [
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Neues Album der Frickelband Deerhoof: Aus dem Hut gezaubert - taz.de | Neues Album der Frickelband Deerhoof: Aus dem Hut gezaubert
Deerhoof aus San Francisco gilt als kompromisslose Band mit Willen zum Experiment. Das neue Album „The Magic“ ist wie ein irres Mixtape.
Immer auf dem Sprung: Deerhoof, Satomi Matsuzaki, links, Drummer Greg Saunier, rechts Foto: Joe Singh
Mit Magie verbindet die menschliche Vorstellungskraft Dinge wie: Hasen aus dem Hut zaubern, zersägte halbnackte Frauenkörper oder auch Claudia Schiffer, ähm, David Copperfield. „The Magic“, also reinste Magie, so ist auch das neue Album der US-Experimentalrockband Deerhoof betitelt.
Veröffentlicht beim Leipziger Label Altin Village, wirken die 15 Songs wie ein Mixtape: Lieblingslieder und instrumentaler Wahnsinn, kaum Atempausen. Das musikalische Material wird während einer Tour de Force durch sämtliche Popgenres geschreddert, verschraddelt und geschiggert.
Dabei entsteht „die Magie“ im Deerhoof’schen Sinne von allein. Naheliegend, dass die ersten 600 Käufer tatsächlich ein Mixtape erhalten, auf dem Deerhoof beispielsweise „Fight the Power“ (Public Enemy), „Goo“ (Sonic Youth) oder auch Van Halens „Dance the Night Away“ covern. Bereits vor der Veröffentlichung prasselten nur so die Lobeshymnen für Künstler und Album.
Sieben Tage
Deerhoofs Stärke, heißt es, habe schon immer darin gelegen, sich Album für Album neu inspirieren zu lassen. Erwähnt wird gerne auch, dass Bassistin und Sängerin Satomi Matsuzaki erst nach Eintritt in die Band, 1996, Bassspielen erlernte. Für „The Magic“ ist eine Tatsache besonders verheißungsvoll: Die Songs wurden in einer Woche aufgenommen. Dabei bleibt allerdings der Kompositionsprozess außer acht. Das bestätigt Matsuzaki der taz: „Sieben Tage, ja gut, vorher haben wir monatelang über die Musik nachgedacht.“
Die in San Francisco gegründete Band hat also mit „The Magic“ ihren Hasen aus dem Hut gezaubert, um alles mögliche aufzusaugen. Es klingt fast wie Spongebob. Was durchaus passt, denn genau wie bei dieser Cartoon-Figur verwischen bei Deerhoof die Grenzen zwischen lustig-anders-gut und anstrengend-krass-nervig. Matsuzaki selbst bezeichnet den Sound von Deerhoof als Amalgam aus Glamrock, Funk, Punk und Electronica. Es geht für sie aber vor allem darum, Songs zu kreieren, mit denen ZuhörerInnen etwas assoziieren können. Ausgelassenheit ist wichtig, denn „wir sind eine Party-Band“.
Deerhoof-Album &KonzertDeerhoof: „The Magic“ (Altin Village/Morrmusic/Indigo)live: 10. September, „Bi-Nuu“ Berlin
Ganz schön bescheiden! Denn oftmals eilt Deerhoof der Bilderstürmer-Ruf voraus. Unkonventionell waren alle ihre bisherigen 14 Alben. Inzwischen werden die Musiker für ihr Gesamtwerk gefeiert, gehuldigt, geliebt. Vor allem aber wegen ihrer Haltung – Art-Punk, Art-Rock, Art-was-auch-immer zu machen.
Immer anders, immer neu, immer gut? Spätestens beim zweiten Song auf „The Magic“, „Kafe Mania“ ist ein Wiedererkennungswert zu hören. „Cappuccino!/Macchiato!/Affogato!/ Cortado!“, singt Matsuzaki, dabei trinkt sie am liebsten Espresso. „Super Idee, dass das Tässchen in Italien seit Langem einen Euro kostet. Man macht eine Pause, nimmt Espresso am Tresen ein, fertig!“
„Twin Peaks“ im Park
Ihr Gesang bezaubert auch in dem Song „Criminal of the Dream“, der Refrain ist extrem eingängig, blumig, poppig. Im dazugehörigen Videoclip wird man in der Anfangsfrequenz unweigerlich an „Twin Peaks“ erinnert, zu sehen sind Spielkarten – aaaah! Magie! –, und dann befindet sich Matsuzaki in einem Park. Mit ihrer von keiner anderen Künstlerin so intonierbaren fiepend-flüsternden Stimme singt sie: „You can dream / You can dream / I know you can dream“, gefolgt vom schweren Bass. Matsuzaki spielt Bass, wie sie singt: schief.
Gleich im anschließenden Song „That Ain’t No Life To Me“ tritt Deerhoof den Hörern mächtig in den Arsch. Ein Song wie ein Déjà-vu. Gitarrist Ed Rodriguez fungiert als erste Hauptstimme in einem schäbig-schmierigen, simplen Punk-Song, wie er von Deerhoof eigentlich nicht zu erwarten war. Dieser Band wird keine Laid-Back-Attitüde nachgesagt. Sie geben immer Vollgas, sind Zauberkünstler darin, anspruchsvolle Songs auszuhecken und Strukturen zu sezieren, so auch bei „The Magic“.
Vor allem eindrucksvoll, diese Wucht die sich in 20 Jahren Bandgeschichte angesammelt hat. Zuletzt womöglich durch die unkomfortable Körperhaltung Matsuzakis. Als ihr Gesang für die Songs im Haus von Schlagzeuger und Bandleader Greg Saunier aufgenommen wurden, waren die Kabel der beiden Mikrofone so kurz, dass sie sich verrenken musste: „Es war, als hätte ich auf einem Schwebebalken gestanden.“ Dazu die saunierische Art, Drums zu spielen: wie das zottelhaarige „Animal“ der Muppet-Show. Ed Rodriguez und John Dieterich an den Gitarren sind Zwillinge die ihr Blut gegenseitig zum Kochen bringen. „Im Studio war es so heiß wie in einer Sauna.“
Das fehlende Puzzleteil
Ein perfektes Zusammenspiel also? Matsuzaki hat es so empfunden: „Meine Gesangsmelodien korrespondieren mit den Gitarrenhooks. Es ist wie das eine, noch fehlende Puzzleteil. Ich brauche einen exakt definierten Platz in den Songs!“ Greg Saunier definiert „The Magic“ als Versuch, das wiederzugeben, was den Mitgliedern der Band gefallen hat, als sie im Kindesalter waren. So unterschiedlich Geschmäcker auch sind, so vielfältig sind die einzelnen Songs, und der Band ist es gelungen, alles unter einen Hut zu bringen.
Kein Mixtape ohne James-Brown-Song. Genauso hört sich „Model Behavior“ an. Ein funkylicious Track, in dem sich alles um Improvisation und Präzision dreht. Um das Gefühl, auf der Tanzfläche nichts falsch machen zu können. James Brown tanzte einst in einem japanischen Werbeclip zu Miso-Ramen-Suppe so andächtig, dass jedeR diese Instant-Nudeln sofort schlürfen wollte.
Über das Bassspiel von Matsuzaki wäre er wohl nicht erfreut: „James Brown hätte mich dafür bestraft, wie ich über die Noten schmatze. Wenn ich rumhüpfe auf der Bühne, verspiele ich mich gern.“ Die schönste Reise zurück in die Kindheit erklingt bei „Patrasche Come Back“. In dem Song geht es um Patrasche, einen japanischen Animehund. Der Song dauert 47 Sekunden, das reicht, damit sich Matsuzakis zarte Stimme mit dem dumpfen Bass und der schrägen Flöte vereint.
Mit „The Magic“ haben Deerhoof ihre Kräfte gebündelt und auf die Umwelt übertragen. Das Album vertraut dem Spontanen und lässt Innenwelten frei. | Du Pham | Deerhoof aus San Francisco gilt als kompromisslose Band mit Willen zum Experiment. Das neue Album „The Magic“ ist wie ein irres Mixtape. | [
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Alternativen zur Fußball-WM: Mit dem Wind - taz.de | Alternativen zur Fußball-WM: Mit dem Wind
Für Boykoteur:innen der Fußball-WM in Katar probiert die taz Alternativen aus. Dieses Mal: Segeln mit dem Auslandsredakteur auf dem Wannsee.
Nach drei Stunden am Ziel: die taz-Crew auf dem Wannsee Foto: privat
„Klar zur Wende?“ „Öffnen – und los!“ Bei diesem Kommando löse ich die Fockschot aus der Klemme, also die Leine für das vordere Segel. Der Skipper dreht das Boot durch den Wind, wir wechseln unterm Großbaum auf die andere Seite, dort wird die andere Fockschot dicht genommen. Unsere Füße hängen wir dann in Gurte und die Körper außenbords, um das Boot aufrecht zu halten.
Es ist der 3. Oktober auf dem Berliner Wannsee: 115 Kielboote von großen wie kleinen Segelvereinen treffen sich zur hier größten Regatta des Jahres. Männer und Frauen, Alte und Junge treten in unterschiedlichsten Jachten und Booten nach einer Verrechnungsformel gegeneinander an. Ich segle die Regatta mit taz-Redakteur Sven Hansen. Sein acht Meter langes H-Boot wird mit dreiköpfiger Crew gesegelt, ich auf der vorderen Position. Ich bin ein Journalist aus Myanmar. Vor einem Jahr musste ich nach dem Militärputsch aus meinem Land fliehen.
Im Sommer bin ich schon einige Male mitgesegelt. Nie hätte ich mir träumen lassen, jemals in meinem Leben zu segeln. Und dann noch bei einem so großen Rennen. In meiner Heimat ist Segeln nicht beliebt und nichts für gewöhnliche Menschen. Es gilt als Sport der Generäle und ihrer Günstlinge. Gelegentlich taucht es in staatlichen Propagandaberichten auf, ansonsten habe ich es mal in Hollywoodfilmen gesehen. Ein Sport aus einer anderen Welt.
Das Leben in Deutschland ist so anders. Hier können auch Menschen aus der Mittelschicht segeln. Inzwischen habe ich gelernt, was Skipper, Crew, Mast, Großsegel, Baum, Bug, Kiel, Spinnaker, Fock und Schot bedeuten. Auch kann ich inzwischen den Wind lesen: Böen erkennt man an der dunklen Kräuselung des Wassers in Luv, die Windrichtung zeigt der Pfeil auf dem Mast. Als ich das erste Mal mitgesegelt bin, habe ich mich gewundert, warum die anderen so oft zur Mastspitze schauen.
Bei mehr Wind neigt sich das Boot und fährt schneller. Dann ist Segeln wie Windreiten. Ich muss Balance halten und schnell reagieren. Der Skipper muss sorgfältig steuern und sich mit Wind, Wellen, Wassertiefe und Kurs auskennen. Der Taktiker in der Mitte beobachtet die Konkurrenz und liefert Informationen für Entscheidungen.
Reihen sich die Boote an der Startlinie auf, ist das für mich der aufregendste Moment. Der Schiedsrichter gibt das Startsignal. Wird es eng, warnen sich Segler mit lautem Gebrüll. Da ich noch kein Deutsch spreche, kann ich noch nicht mitbrüllen. Wir sind mehrmals den See auf und ab um Bojen herum gesegelt. Kam der Wind von hinten, musste ich auf dem Vordeck den Spinnakerbaum an- und abbauen und die Fock bergen und setzen. Nach drei Stunden kamen wir als sechste ins Ziel. | Kyaw Soe | Für Boykoteur:innen der Fußball-WM in Katar probiert die taz Alternativen aus. Dieses Mal: Segeln mit dem Auslandsredakteur auf dem Wannsee. | [
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Debatte Frauen in Afghanistan: Von wegen Frauenförderung - taz.de | Debatte Frauen in Afghanistan: Von wegen Frauenförderung
Die Situation der Frauen in Afghanistan hat sich systematisch verschlechtert. Wie konnte das unter den Augen der internationalen Gemeinschaft passieren?
Weshalb wird so wenig von Friedensförderung und Konfliktbearbeitung gesprochen? Wie kann es sein, dass Frauen wieder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, während ultrakonservative Strömungen sich in Gesellschaft und Staat breitmachen? Mit Wissen und Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wohlgemerkt! Warum schenkt niemand den Stimmen afghanischer Frauen Gehör?
Die Reihe der Fragen ließe sich ohne Mühe fortsetzen. Denn: Zu wenig wurde erreicht und vieles mehr wäre möglich gewesen während des nunmehr fast neunjährigen internationalen Afghanistan-Einsatzes, den auch die Bundesregierung 2001 noch euphorisch gefeiert hatte. Einfache Antworten gibt es nicht, aber Fehler, die gemacht wurden, gilt es zu erkennen und zu revidieren - bevor der geplante Truppenabzug noch selbst zum Erfolg stilisiert wird.
Jahrelang stand das Primat des Militärischen im Vordergrund der Afghanistan-Strategie. Es war, wie sich längst gezeigt hat, nicht nur die gänzlich verkehrte Strategie, sie war zudem konfliktverschärfend, hat zu einer Brutalisierung afghanischer Männer, zu mehr Armut, Gewalt und Korruption beigetragen. Dabei stehen andere wirksame Konzepte zur Verfügung, wie etwa die UN-Resolution 1325 zu "Frauen, Frieden und Sicherheit", deren sicherheits- und friedenspolitische Relevanz bis heute weitestgehend unterschätzt wird. Auch Deutschland hat diese Resolution unterzeichnet, sich einer kohärenten Anwendung und Umsetzung als friedensstiftendes Instrument bislang jedoch verweigert.
Nicht nur der Aufbau tragfähiger demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie eines funktionierendes Staatsapparates wurde von Anfang an sträflich versäumt - auch mangelte es an einer klaren Ausrichtung auf die Menschenrechte. Zivilgesellschaftliche Organisationen standen nie im Mittelpunkt des Staatsaufbaus.
Vor allem Frauen galten nicht als vorrangige Zielgruppe, so dass Frauenrechtsorganisationen kaum von internationalen Programmen profitieren konnten. Das rächt sich nun. Ihre Situation hat sich in den letzten Jahren erneut verschlechtert: Laut einer Studie von Unifem von 2008 sind rund 87 Prozent aller Frauen in Afghanistan familiärer Gewalt ausgesetzt. Die Unama erklärte 2009 zu Menschenrechten in Afghanistan: "Frauen werden ihre fundamentalsten Menschenrechte verweigert, und sie riskieren weitere Gewalt, wenn sie versuchen, Gerechtigkeit für die Straftaten zu erreichen, die ihnen angetan wurden."
MONIKA HAUSERist geschäftsführendes Vorstandsmitglied von medica mondiale. Die Frauenärztin iniitierte 1993 in Bosnien Hilfsaktionen für vergewaltigte Frauen im Balkankrieg und gründete anschließend medica mondiale. Seit 2001 setzt sich die Organisation verstärkt in Afghanistan für kriegstraumatisierte Frauen und Mädchen ein. 2008 wurde Hauser mit dem alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Angesichts dieser Situation kam der 2010 verkündete Strategiewechsel in Afghanistan hin zur Verstärkung des zivilen Aufbaus und zu Friedensgesprächen entschieden zu spät und war, gelinde gesagt, nur wenig überzeugend. Seit Jahren mahnt der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen Venro eine stärkere Fokussierung auf den Wiederaufbau und auf die Zivilgesellschaft an. Die Zahlen des Bundes für Soziale Verteidigung ergeben ein schockierendes Bild: Bis 2009 hat die Bundesregierung im Afghanistan-Einsatz 30-mal so viel für Militär wie für Ziviles ausgegeben. Die Vorgabe von Entwicklungsminister Niebel, zivile Hilfe an militärische Vorgaben zu koppeln, ist skandalös.
Seitdem strotzt die Rhetorik der Staatengemeinschaft nur so vor Dialogbereitschaft; eine der wichtigsten Fragestellungen lässt sie dabei jedoch außen vor, nämlich wer da mit wem verhandeln darf? Und vor allem zu welchem Preis?
Der Ausschluss der afghanischen Frauen von politischen Prozessen hat Tradition, nicht nur in Afghanistan selbst, sondern auch auf internationaler Ebene. Schon bei der Petersberger Afghanistan-Konferenz waren Frauen nicht beteiligt, wohl aber viele Warlords. Männer wie Raschid Dostum & Co hätten auf die Anklagebank nach Den Haag gehört und nicht an den Verhandlungstisch auf den Petersberg. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Frage der Warlords seitens der Bundesregierung hat es nie gegeben.
Auch aktuell werden Frauen als kompetente Akteurinnen kaum ernst und wahrgenommen. An der Londoner Konferenz nahmen von 63 TeilnehmerInnen aus Afghanistan gerade einmal vier Frauen mit insgesamt 20 Minuten Redezeit teil.
Statt Frauenrechtsaktivistinnen zu fördern, die seit Jahren unter extrem gefährlichen Umständen für Gleichberechtigung und Demokratie kämpfen, schaut die Weltgemeinschaft lieber zu, wie sich ein weiteres Mal die Clanchefs und Warlords in Afghanistan die Posten zuschachern und ihre auf Machterhalt ausgerichtete und auf Drogen und Korruption basierende Interessenpolitik betreiben. Dass im neu geschaffenen afghanischen hohen Friedensrat nur wenige demokratische Kräfte und stattdessen hauptsächlich ehemalige Kriegsherren oder Taliban-nahe Politiker vertreten sind, ist ein Schlag ins Gesicht.
Wie die konservativen Kräfte Afghanistans vor den Augen der Weltöffentlichkeit Zug um Zug die Menschenrechte von Frauen und Mädchen weiter einschränken, verdeutlicht ein Beispiel vom Oktober letzten Jahres: Laut einer neuen Rechtsverordnung des Obersten Gerichtshofes werden Frauen und Mädchen, die - meist aufgrund von Gewalt und Zwangsehen - von zu Hause fliehen, mit einer perfiden Logik kriminalisiert: Suchen sie Zuflucht bei Fremden, können sie gemäß der neuen Verordnung wegen Ehebruchs oder Prostitution verurteilt werden.
"Früher hat die internationale Gemeinschaft Druck auf die Regierung ausgeübt. Das tut sie jetzt nicht mehr", beschreibt Humaira Rasuli, Leiterin der Frauenrechtsorganisation medica mondiale Afghanistan, die Sorge von Frauenrechtsverteidigerinnen. So zwiespältig die Afghaninnen auch auf die Rolle der US-Amerikaner und auf die UNO- und Nato-Einsätze blicken, ihre Befürchtungen, dass der internationale Blick auf die Situation afghanischer Frauen gänzlich verloren gehen könnte, sind allemal größer. Mit der alles dominierenden Debatte um Militär und seit kurzem auch um den Truppenabzug ist noch deutlicher geworden, dass der Westen sich mehr und mehr aus seiner Verantwortung zurückzieht. Dieser Rückzug ist vor dem Hintergrund einer emotional gesteuerten Antiterrorpolitik der USA nicht vereinbar mit den Leitlinien einer konfliktbearbeitenden und -präventiven Politik, wie sie unter anderem die Resolution 1325 vorgibt. Würden Frauen maßgeblich an Wiederaufbau und Friedenspolitik beteiligt, können wir davon ausgehen: Es würden andere politische Inhalte zustande kommen!
In dem Mitte Dezember von der Bundesregierung vorgelegten "Fortschrittsbericht zur Lage in Afghanistan" heißt es: "Die Bundesregierung wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass sich Sicherheit und Menschenrechte nicht widersprechen." Daran muss sie sich messen lassen. | Monika Hauser | Die Situation der Frauen in Afghanistan hat sich systematisch verschlechtert. Wie konnte das unter den Augen der internationalen Gemeinschaft passieren? | [
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Lesesäle der Republik: Bibliotheken voller als die Bundesliga - taz.de | Lesesäle der Republik: Bibliotheken voller als die Bundesliga
Der Bibliotheksverband schlägt Alarm: Obwohl die Bibliotheken von 200 Millionen Nutzern jährlich überrannt werden, streichen Länder und Kommunen die Budgets zusammen.
Schlau und schön: Lesezentrum im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Bild: dpa
"Hier kann man nicht Chef spielen!", sagt Dagmar Sonnenkalb, Leiterin der Gemeindebücherei Teutschental im Saalkreis, Sachsen-Anhalt. Sie lacht - und dann putzt die Bibliothekarin die lang gestreckten Räume ihrer Einrichtung selbst. Sie muss das "Hotel Fantasia" nach einer Lesenacht wieder in eine öffentliche Bibliothek zurückverwandeln.
Am Nachmittag wird hier die Vernissage für die neue Fotoausstellung stattfinden. Gleich kommen die Kinder, die ihren Bibliotheksführerschein machen wollen. Sonnenkalb und ihre Mitarbeiter bespielen die Räume mit Handpuppen. So vermitteln sie den Kindern, was eine Bibliothek kann.
Die Teutschentaler Gemeindebücherei ist sehr aktiv. 150 Veranstaltungen stemmen die Bibliotheksleiterin und ihre zwei Mitarbeiter im Jahr. Die Bücherei übernimmt außerschulische Bildungs-, Kultur- und Sozialaufgaben. In den Räumen mit selbstgezimmerten Regalen und alten Möbeln stehen drei Internetplätze zur Verfügung, seit 1994 schon ist hier alles auf Computer umgestellt. Neben Büchern gehören CDs, DVDs, MCs, Spiele und Videos zu den 35.000 Medien, die für rund 10.000 Einwohner bereitstehen. 3,5 Medien pro Kopf, das ist überdurchschnittlich für deutsche Verhältnisse.
Ortsbüchereien sterben
Es sieht schlecht aus für Deutschlands Bibliotheken. Erstmals gab nun der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) in einem Bericht zur Lage bekannt, wie es um die Bibliotheken in Deutschland steht. Nur 41 Prozent des ohnehin dünnen deutschen Bibliotheksnetzes erfüllen die Mindeststandards. Das sind: Zwei Medien pro Einwohner, egal wie alt diese Medien sind. Die öffentlichen Bibliotheken zählen mit 200 Millionen Nutzern im Jahr zu den bestbesuchten Einrichtungen in Deutschland. Ins Kino gehen jährlich 146,3 Millionen Menschen, die Spiele der 1. und 2. Fußballbundesliga werden nur von 17,6 Millionen besucht. In den letzten Jahren stiegen die Besucherzahlen und die Entleihungen in Bibliotheken stetig an. Selbst bei Migranten sind die Lesehäuser beliebt. Rund 20 Prozent der Bibliotheksnutzer sind junge Menschen mit Migrationshintergrund - das entspricht ihrem Anteil bezogen auf die deutsche Gesamtbevölkerung.
Bei den meisten der kommunalen und städtischen Bibliotheken reichen die Mittel allerdings nicht mal mehr für die Grundausstattung. Kürzungen oder das Einfrieren des Medienetats sind an der Tagesordnung. Das setzt einen Teufelskreis in Gang, bei dem die Öffnungszeiten verkürzt und der Service schlechter werden.
"Das Kernproblem ist eine nicht hinreichende Ausfinanzierung der kommunalen Haushalte", erklärt Harald Pilzer, Vorsitzender des Bibliotheksverbandes von Nordrhein-Westfalen. NRW hat es hart getrofffen: In Essen und Duisburg werden bis auf weiteres keine neuen Medien mehr angeschafft, in Hagen müssen die zwei verbliebenen Stadtbibliotheksfilialen geschlossen werden. Schließungen gibt es auch in Herne und Bottrop. Es findet so etwas wie eine kulturelle Kernschmelze statt. Die Liste ließe sich fortsetzen, quer durchs ganze Bundesgebiet. Schlimmer sieht es nur noch in Mecklenburg-Vorpommern aus, dem Land, wo ganze Orte und auch die Bibiotheken sterben.
Dabei stellen Bibliotheken das bereit, was so dringend gebraucht wird: Informations- und Medienkompetenz. Bibliothekare sind längst nicht mehr nur die Wissensverwalter des vordigitalen Zeitalters, sie wissen, wo man welche Information finden kann und wie welche Informationen zu bewerten sind. Ein Wissen, was heute schon früh gefordert wird. So stehen an Deutschlands Schulen schon von der ersten Klasse an Referate und das Gestalten von Themenplakaten auf der Tagesordnung. Dass man heute die nötigen Hintergründe zunächst im Internet sucht, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber kaum jemand vermag zu sagen, wie fundiert und sachlich die Informationen sind, die Suchmaschinen wie Google oder Online-Lexika wie Wikipedia auswerfen. Selbst Lehrer geraten bei dieser Frage ins Schleudern.
Weil viele Bibliothekare diese Kompetenz besitzen, sind Kooperationen von Bibliotheken und Schulen wichtig. "Bibliothek und Schule, Schule und Bibliothek gehören zusammen," fasst Frank Simon-Ritz, Direktor der Universitätsbibliothek Weimar und zweiter Vorsitzender des Bibliotheksverbandes zusammen. So wie Universität und Bibliothek. Während niemand auf die Idee käme, diesen Zusammenhang anzuzweifeln, scheint es den lokalen Entscheidungsträgern besonders schwerzufallen, schulische (Selbst-)Bildung und Bibliotheken zwangsläufig zusammenzudenken.
Unibibliotheken erstrahlen
Die Unterschiede zwischen den länderfinanzierten Hochschulbibliotheken und den städtischen und kommunalen Bibliotheken sind enorm. Erstrahlen Universitätsbibliotheken in aufsehenerregender Gestaltung namhafter Architekten, basteln sich kommunale Bibliotheken wie die von Teutschental ihre Ausstattung selber. Der Neubau der Bauhaus-Universitätsbibliothek in Weimar etwa eckt mit seiner schräg in die historische Stadtlandschaft gesetzten kahlen Putzfassade gewollt an, der Münchner Architekt Andreas Meck hat ihn entworfen. Der zweiflügelige Bau bietet seinen Studenten lichtdurchflutete Arbeitsplätze und multimedial ausgestattete Gruppenräume von schlichter Eleganz.
Gut, wenn sich Prestigeobjekte wie diese zum Schulterschluss mit den städtischen Bibliotheken entschließen. Für das Projekt "Wissen erobern" haben sich in Weimar wissenschaftliche und städtische Bibliotheken zusammengetan. Um auch Schülern zu vermitteln, wie man die Literatur und die Informationsdienstleistungen einer Bibliotheken für sich nutzbar machen kann, bietet die Unibibliothek Weimar allen Gymnasiasten der zehnten Klasse eine Einführung in reale und virtuelle Recherchemöglichkeiten und klärt über die Vorzüge verschiedener Quellen auf. Neu daran ist die verpflichtende Teilnahme als Bestandteil des Lehrplans. Weil die Aktion auch bei den Lehrern an der Neugier kratzte, erhalten auch sie seit diesem Jahr einen ganz auf sie zugeschnittenen "Wissenseinstieg".
Eine derartige Kooperation zwischen öffentlichen und Wissenschaftsbibliotheken mit Unterstützung des Schulamtes macht die Potenziale deutlich, die in der Traditionsinstitution Bibliothek stecken: Sie sind weit mehr als die Nachlassverwalter der Gutenberg-Revolution, sondern die Vermittler jedweder Informations- und Medienkompetenz.
Die großen Unterschiede in der Finanzierung entstehen dadurch, dass Bibliotheken als freiwillige Aufgaben der Kommunen gelten, wie sämtliche anderen Kultureinrichtungen auch. Anders als bei den Pflichtaufgaben, etwa den Unterhalt von Schulen, für die Städte, Länder und Gemeinden sogar Schulden machen dürfen, kann hier gespart werden. Dass Bibliotheken als außerschulische Bildungspartner eine wichtige Rolle spielen können, zeigen viele Kooperationen. Diese stehen aber auf der Kippe, wenn die Bibliotheken so ungenügend ausgestattet sind, dass Informations- und Medienkompetenz in ihnen nicht mehr zu vermitteln ist.
"Wir brauchen Bibliotheksgesetze, die die Finanzierung von Standards regeln und die Länder zur Beteiligung verpflichten", fordert Monika Ziller, Vorsitzende des Bibliotheksverbandes - und kritisiert im selben Atemzug die drei in den letzten Jahren verabschiedeten Bibliotheksgesetze. Thüringen hat in seinem Bibliotheksgesetz zwar Bibliotheken zu Bildungseinrichtungen erklärt, aber da man sich nicht zu einer Festschreibung bestimmter Standards für die Bibliotheken entschließen wollte, biete das Gesetz gegenüber dem vorherigen Zustand nur wenig Verbesserung. Immerhin war Thüringen Vorreiter, dem in diesem Jahr Sachsen-Anhalt und Hessen gefolgt sind. Auch in Schleswig-Holstein liegt derzeit ein Gesetzentwurf auf dem Tisch, dessen konkrete Formulierungen die Hoffnungen des Verbandes wecken. Was davon bis zur Verabschiedung übrig bleibt und ob das Bibliotheksgesetz überhaupt durchkommen wird, ist noch unklar. In Brandenburg war 2007 ein Bibliotheksgesetz abgelehnt worden. Festgeschriebene Fördersummen und Standards würden Bibliotheken in ihrer Entfaltung und ihren Spielräume einengen, so die Argumentation.
Es fragt sich jedoch, wie viel Möglichkeiten zur Entfaltung bleibt, wenn kein Geld mehr da ist. Ähnlich absurd sind die Vorwürfe, mit denen in Hamburg das Sparen bei Bibliotheken gerechtfertig wird: "Die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen sind der zweitgrößte Zuwendungsempfänger innerhalb des Haushalts der Behörde. Sie haben gleichzeitig die niedrigste Deckungsquote", so die Senatspressemitteilung. Dass die Deckungsquote im Falle von Bibliotheken gering ist, wundert jedoch nicht, schließlich bezahlt man - anders als beim Gang ins Theater oder Museum - keinen Eintritt. Dabei sind ausgerechnet die Hamburger Bücherhallen die Bibliotheken, die ihren Nutzern die höchsten Jahres- und die Mahngebühren abverlangen.
Kostenlos ist die Ausleihe dagegen in der Teutschentaler Gemeindebücherei, lediglich der Benutzerausweis kostet einmalig 1 Euro. Für André Herzog, dem parteilosen, 36-jährigen Bürgermeister von Teutschental, ist ein festes Budget für die Bücherei ein unbedingtes Muss. Als "bürgerschaftliche Basisarbeit" sieht er seinen Einsatz für die Bibliothek, in der er sich regelmäßig als Vorleser betätigt. | Sarah Wildeisen | Der Bibliotheksverband schlägt Alarm: Obwohl die Bibliotheken von 200 Millionen Nutzern jährlich überrannt werden, streichen Länder und Kommunen die Budgets zusammen. | [
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Ukrainischer Ex-Präsident vor Gericht: Vorwurf Staatsverrat - taz.de | Ukrainischer Ex-Präsident vor Gericht: Vorwurf Staatsverrat
Petro Poroschenko ist in die Heimat zurückgekehrt. Er wird beschuldigt, Kohlegeschäfte mit pro-russischen Separatisten gemacht zu haben.
Petro Poroschenko spricht am Tag seiner Rückkehr am 17. 01. 2022 aus Warschau vor Anhängern Foto: Efrem Lukatsky/dpa
BERLIN taz | Er wurde sehnsüchtig erwartet, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Petro Poroschenko, von 2014 bis 2019 Präsident der Ukraine, ist nach einem vierwöchigen Auslandsaufenthalt wieder in seiner Heimat. Begeistert winkte Poroschenko seinen Anhängern zu, die ihn am Montagmorgen am Kiewer Flughafen Schuljany erwartet hatten.
Direkt in der Eingangshalle ergriff er das Mikrofon und wandte sich an seine Weggefährten. „Gesetzwidrig bin ich an der Grenze festgehalten worden.“ erklärte er, weil der Grenzschutz 15 Minuten gebraucht habe, um seinen Pass zu studieren. Hier werde die Opposition verfolgt, schimpfte er weiter. Dann stieg er in einen wartenden Wagen und fuhr zum Gericht, um rechtzeitig zum Prozessauftakt gegen ihn zu erscheinen.
Etwas anders schilderte Tatjana Sapjan vom staatlichen Ermittlungsbüro die Rückkehr von Poroschenko aus Warschau nach Kiew. Er habe sich geweigert, die ihm ausgestellten Papiere zur Vorladung zum Prozess entgegenzunehmen. Dabei hätten Begleiter von Poroschenko den Beamten Widerstand geleistet, zitiert das Onlinenachrichtenportal Ukrajinska Prawda die Sprecherin.
Poroschenko habe sich schon auf dem Flughafen provokativ verhalten, kommentierte Michail Podoljak von der Präsidialadministration dessen Weigerung, direkt auf dem Flughafen eine Vorladung zur Gerichtsverhandlung entgegenzunehmen.
Langes Rätselraten
Lange hatte man in der Ukraine gerätselt, ob Poroschenko, der am 17. Dezember die Ukraine fluchtartig verlassen hatte, nachdem Beamte des Staatlichen Ermittlungsbüros vergeblich versucht hatten, ihm eine Vorladung zum Verhör auszuhändigen, überhaupt zurückkehren werde. Es galt als wahrscheinlich, dass er sofort bei einer Ankunft in Kiew verhaftet werden würde.
Wenige Tage später, Poroschenko war bereits außer Landes, wurde er am 20. Dezember in einem von dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt der Ukraine, Alexej Simonenko, unterzeichneten Schreiben des Staatsverrates, der Finanzierung von Terrorismus und der Gründung einer terroristischen Vereinigung verdächtigt.
Konkret wird ihm vorgeworfen, 2014 und 2015 Kohle aus den von den Separatisten kontrollierten Gebieten der Ostukraine eingekauft und gleichzeitig einen Vertrag über Kohlelieferungen aus Südafrika gekündigt zu haben. Damit, so der Vorwurf, habe er die Ukraine „in eine Abhängigkeit von Energie aus Russland und den von Russland kontrollierten Pseudorepubliken gebracht“.
Am 6. Januar beschlagnahmte ein Kiewer Gericht Poroschenkos Vermögen. Für Poroschenkos Partei war damit klar: der Verdacht gegen ihren Chef ist politisch motiviert, nun verfolge Präsident Wolodymir Selenski die Opposition, hieß es in einer Erklärung der „Europäischen Solidarität“ im Dezember.
Bombe geplatzt
Doch vergangenen Samstag platzte die Bombe. In einer Video-Botschaft an Präsident Selenski kündigte Poroschenko furchtlos seine Rückkehr an: „Herr Selenski, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie“, so der Ex-Präsident: „Am 17. Januar um 09:10 Uhr fliege ich von Warschau aus zurück in die Ukraine.“
Ungefähr zeitgleich schien eine andere Bombe hochzugehen. Ebenfalls am Samstagnachmittag sperrten die ukrainischen Behörden den Kiewer Flughafen, auf dem Poroschenko landen sollte, für mehrere Stunden. Man habe telefonisch eine Bombendrohung erhalten, begründete der Inlandsgeheimdienst SBU das Vorgehen.
Auf Twitter verurteilte die britische Botschafterin in der Ukraine, Melinda Simmons, indirekt das Vorgehen gegen den Ex-Präsidenten. „Alle politisch Verantwortlichen in der Ukraine müssen sich jetzt gegen die russische Aggression zusammenschließen. Es ist jetzt so wichtig, dies nicht aus den Augen zu verlieren und sich nicht durch polarisierende Innenpolitik davon ablenken zu lassen,“ so die Diplomatin am Montag. | Bernhard Clasen | Petro Poroschenko ist in die Heimat zurückgekehrt. Er wird beschuldigt, Kohlegeschäfte mit pro-russischen Separatisten gemacht zu haben. | [
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Bergarbeiterstreik in Südafrika: Friedensschluss ohne Frieden - taz.de | Bergarbeiterstreik in Südafrika: Friedensschluss ohne Frieden
Die Streikenden in Südafrika harren vor der Mine in Marikana aus, während Regierung und Gewerkschaft verhandeln. Ihre Stimme ist nicht erwünscht.
Die Berarbeiter gehen im Tanzschritt voran. „Wir starben wegen Jacob Zuma“ singen sie. Bild: dpa
MARIKANA taz | Kaum kommen die Hubschrauber näher, gehen Tausende in die Hocke. Die streikenden Bergleute verharren in dieser Haltung auf der Zufahrtstraße und in den Feldern rund um den Schacht, bis die beiden Helikopter weiterziehen. Wie auf Kommando erheben sich die Kumpel und marschieren, ihre Zweige und Stöcke schwingend, auf die von der Polizei errichteten Barrikaden vor dem Werkseingang der Mine zu.
Dann dröhnen wieder Polizeihubschrauber. Erneut gehen die Männer in die Knie, das haben sie vor dem Marsch mit ihren Anführern ausgemacht. Damit es nicht noch mal zu einem Blutvergießen kommt. Aus gepanzerten Polizeifahrzeugen – wegen ihres Aussehens Nyala (Nilpferd) genannt – ragen die Köpfe von Polizisten in Kampfausrüstung.
Anspannung liegt in der eiskalten Winterluft. Es ist der größte Protestmarsch der streikenden Minenarbeiter seit den tödlichen Schüssen auf 34 ihrer Kumpel vor zwei Wochen. Die Männer gehen im Tanzschritt voran. Sie singen „Wir starben wegen Jacob Zuma“. Südafrikas Präsident ist nicht beliebt bei ihnen, der sich nicht um ihre Lebensbedingungen kümmere. Und sie beschuldigen die mächtige Gewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers), mit der Regierung zu paktieren.
Einige Kumpel tragen Pappkartons, auf denen sie 12.500 Rand (1.250 Euro) Lohn fordern. Dem Firmenboss wollen sie klarmachen, dass die Streikbrecher – die genaue Zahl ist unklar – nicht arbeiten dürfen, solange es kein klares Verhandlungsergebnis gibt. Die zuständige Handelskammer stellte sich hinter das weltweit drittgrößte Platinunternehmen Lonmin: „Die streikenden Arbeiter fordern praktisch ihren derzeitigen Lohn als Nettogehalt, das würde für Lonmin Zahlungen von rund 20.000 Rand pro Kopf bedeuten. Das ist nicht machbar“, erklärte Vusi Mabena, Sprecher der südafrikanischen Chamber of Mines.
„Gewalt löst das Problem nicht“
Die demonstrierenden Bergleute – um die 3.000 sind es an diesem Mittwoch – versuchen, die Polizeibarrikaden zu durchstoßen. Dem Werksmanager Jan Thirion drohen sie, das Werk niederzubrennen, wenn er den Schacht nicht schließe. Thirion schickt sie „zurück an den Verhandlungstisch. Gewalt löst das Problem nicht.“
Die Bergleute tanzen, in Decken gehüllt, mit ihren traditionellen Stöcken, vor den Polizeibarrikaden. Manche halten Fotografien ihrer toten Angehörigen hoch, die vor zwei Wochen im Kugelhagel der Polizei starben. Bischof Paul Verryn, in schwarzem Anzug mit pinkfarbenem Kirchenhemd, eilt auf die Menge zu. Er hat die Werksleitung zum Gespräch mit den Bergleuten aufgefordert, er vermittelt.
„Wenn wir den Reichtum nicht gerechter verteilen, haben wir eine düstere Zukunft“, begründet der Bischof sein Engagement. In seiner Methodistenkirche in Johannesburg beherbergt er seit Jahren Tausende illegale Simbabwer, die in Südafrika Zuflucht suchen. Die Menge marschiert zu den runden Felsen nahe der Townships Nkaneng und Wonderkop. Es ist die Stelle, an der ihre Freunde und Nachbarn am 16. August von der Polizei erschossen worden sind.
Inzwischen werden die Anschuldigungen immer lauter, dass die Polizei die meisten Streikenden gar nicht in einer frontalen Schießerei getötet habe, sondern aus nächster Nähe hinter diesen Felsen, abseits der Fernsehkameras. Der Fotograf Greg Marinovich hat mit Wissenschaftlern der Universität Johannesburg tagelang den Tatort untersucht.
Kaltblütig ermordet
Nach Augenschein und Aussagen überlebender Streikender seien die meisten kaltblütig ermordet worden, als sie nach dem Kugelhagel der Polizei auseinanderliefen und sich am Felsen nahe des Townships Wonderkop versteckt hätten, behauptet Marinovich. Die Regierung hat eine Untersuchung eingeleitet, die Ergebnisse werden erst in vier Monaten vorliegen.
Die Wellblechhütten der Townships Nkaneng und Wonderkop ziehen sich wie ein Meer kleiner, oft rostiger Würfel am Fuße des Hügels entlang. Manche sind bunt angestrichen, Stacheldraht trennt die Hütten voneinander. Der Glanz nagelneuen Wellblechs hebt sich gegen den grauen Himmel ab. Primrose Sonti taucht aus dem Dunkeln der großen Hütte mit einer roten Pudelmütze auf. Die 51-Jährige leitet hier das Sanco-Büro (South African National Civic Organisation), die mit der Regierungspartei ANC zusammenarbeiten.
Während die Männer auf den Felsen Kraft für ihre Forderungen sammeln, singen einige Frauen in der Hütte, lassen Dampf ab, denn sie sind auch sauer auf Jacob Zuma: „Den wählen wir nicht wieder“, sagen sie. Ihre Männer und Söhne haben hart in der Mine gearbeitet, doch zum Leben reichte es kaum.
Die Frauen überlegen, wie sie mit Näharbeiten Geld verdienen können. „Für den Fall, dass unsere Männer mal nicht wiederkommen.“ Primrose will, wie die meisten Frauen hier, dass von dem Reichtum der Bergwerke etwas an die Arbeiter zurückfließt: „Wir müssen die Minen verstaatlichen.“ Der Frust ist groß. Primrose hofft darauf, dass ihr Sohn entlassen wird. Mehr als 100 Bergleute befinden sich noch in Haft.
Anklage nach dem Massaker
Die Staatsanwaltschaft hatte nach dem Massaker 270 Kumpel des Mordes angeklagt, mit dem Vorwurf, sie hätten sich mit den angeblichen Tätern solidarisiert und seien deswegen aufgrund eines „gemeinschaftlichen Vorsatzes“ für den Tod ihrer Kollegen mitverantwortlich. Die Polizei hatte behauptet, sie sei aus der Menge der Demonstranten heraus bedroht worden. Außerdem waren zwei Polizisten während des Streiks von Arbeitern getötet worden. Ein Aufschrei ging durch das Land, die absurden Anklagen wurden fallengelassen.
Primroses Nachbar Thembiso Mayengesi hat Angst. Er ist gerade aus seiner Heimatstadt Butterworth im armen Ostkap zurückgekommen. Dort hat er an der Beerdigung seines Freundes teilgenommen, der bei dem Schusswechsel mit der Polizei starb. Angeblich sei er von der Polizei weggeschleppt worden, sie fanden ihn in der Leichenhalle wieder. Die Gerüchte, die Polizei habe Kumpel misshandelt, ist auch bei den Mayengesis angekommen.
„Nyalas haben auch einige überfahren und ihnen das Gehirn zerquetscht“, behauptet Thembiso. Er sitzt in seiner hellblauen Wellblechhütte und will keinen Streik. Aber wenn er zur Arbeit gehen würde, könnten ihn die Kumpel angreifen. „Ich verdiene nur 5.000 Rand netto, aber ich würde auch weniger als die geforderten 12.500 Rand akzeptieren.“ Seine Frau Novuzumzi nimmt ihre kleine Tochter aus dem Handtuch vom Rücken.
Die anderen fünf Kinder sind bei Verwandten in Butterworth. Der 45-jährige Bergmann zahlt auch noch für seine vier Schwestern in der Heimat, ihm und seiner Familie bleibt kaum etwas zum Leben übrig. In der kleinen Einraumhütte steht ein Bett, Töpfe hängen geordnet an der Wand in einem Regal, das mit Spitze dekoriert ist. Rote Plastikblumen ragen von der Decke. Die Hütte bleibt auch an diesem trüben Tag dunkel – es gibt keinen Strom.
„Wir sind immer noch arm“
Und ein Wasseranschluss kostet 90 Euro. Novuzumzi holt Wasser und trägt den Eimer auf dem Kopf aus einem Gemeinschaftshahn in der Nachbarschaft. Sie kocht mit Parafin. „Nichts hat sich seit Beginn der Demokratie geändert, wir sind immer noch arm“, sagt sie. Es gibt Maisbrai, meistens Brot. Selten mal ein Huhn.
Auf dem nahen „Hügel des Todes“ haben sich die Bergmänner jetzt versammelt und beraten. Am Donnerstagmorgen erfahren sie, dass die Minen-Bosse mit Vertretern der NUM-Gewerkschaft einen Friedensvertrag ausgehandelt haben. Die meisten der Streikenden gehören jedoch der nicht anerkannten Gewerkschaft AMCU an – und die war bei den Verhandlungen in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ausgeschlossen.
Ihre Unterschrift für den Friedensschluss, der jetzt die Lohndebatten eröffnen soll, haben sie verweigert. Am Donnerstag setzen heftige Regenfälle in Marikana ein. Die noch am Streik Beteiligten bleiben zu Hause. Die meisten Familien gedenken der Toten, die am Donnerstag vor zwei Wochen am Hügel starben. Laut Lonmin-Management seien die meisten Streikenden an die Arbeit zurückkehrt.
Trotz des Unwetters hat sich Primrose mit dem Minibus auf den Weg zum benachbarten Gericht in Ga-Rankuwa gemacht. Dort kann sie ihren Sohn in Empfang nehmen, der zusammen mit weiteren 102 Bergarbeitern freigelassen worden ist. | Martina Schwikowski | Die Streikenden in Südafrika harren vor der Mine in Marikana aus, während Regierung und Gewerkschaft verhandeln. Ihre Stimme ist nicht erwünscht. | [
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Türkei im Berg-Karabach-Konflikt: Abhängig von Baku - taz.de | Türkei im Berg-Karabach-Konflikt: Abhängig von Baku
Mit Entschlossenheit unterstützt Ankara die Führung Aserbaidschans. Erdoğan ist auf das Geld Aliyevs und auf Öl- und Gaslieferungen angewiesen.
Jens Stoltenberg besucht den türkischen Präsidenten Foto: Turkish Presidency via AP
ISTANBUL taz | Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei seinem Besuch Anfang der Woche in Ankara gebeten wurde, doch auf einen Waffenstillstand im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach zu drängen, hatte dieser eine einfache Antwort parat: Armenien solle sich aus den besetzten Gebieten in Aserbaidschan zurückziehen, dann würden auch die Waffen schweigen.
Tatsächlich gibt sich Erdoğan fest entschlossen, seinen aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Aliyev dieses Mal bedingungslos bei dessen Versuch zu unterstützen, das von armenischen Truppen 1994 eroberte aserbaidschanische Gebiet zurückzugewinnen. Jahrelang hat Aliyev seine Truppen mit dem Geld aus Ölverkäufen aufgerüstet – mit militärischem Gerät aus der Türkei, vor allem aber auch aus Russland und Israel.
Aliyev ist ein Autokrat, der sich durch Repression und gefälschte Wahlen an der Macht hält und für dessen Legitimation die Propaganda über die „Rückeroberung der Heimat“ eine wichtige Stütze ist. Tatsächlich wurden die rund 800.000 Aserbaidschaner, die 1994 von den Armeniern aus ihren Dörfern vertrieben wurden, jahrelang rund um Baku in erbärmlichen Hütten untergerbacht, nicht zuletzt, um den Konflikt am Kochen zu halten.
Zwar bestreitet die Türkei, direkt militärisch involviert zu sein, doch Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sagte bei einem Besuch in Baku am Dienstag, man werde Militär schicken, wenn Aserbaidschan dies wünsche. Bislang hat sich Erdoğan darauf beschränkt, nach bewährter Taktik zunächst einmal syrische Söldner für die Front in Berg-Karabach zu rekrutieren.
Obwohl die Angaben über ihre Anzahl schwanken, wird die Tatsache an sich kaum noch bestritten. Während die syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London zunächst von 300 Söldnern sprach und die armenische Regierung 4.000 gesehen haben will, berichteten ausländische Reporter von rund 1.000.
Liz Cookman schrieb in der Zeitschrift Foreign Policy von 1.500 syrischen Kämpfern und beruft sich dabei auf Quellen aus der FSA, der Freien Syrischen Armee, unter deren Dach mittlerweile die von der Türkei kontrollierten ehemaligen Rebellen zusammengefasst sind. Sie werden für 1.000 bis 2.000 Dollar angeheuert und nach Aussagen von Angehörigen in Syrien an der Front verheizt. Bereits am vergangenen Sonntag seien die ersten 50 Toten nach Syrien zurückgebracht worden.
Abhängig vom Öl aus Aserbaidschan
Während Armeniens Regierungschef Nikol Paschijan im Interview mit dem Spiegel sagte, Erdoğan wolle jetzt den Völkermord an den Armeniern, der 1915 im damaligen Osmanischen Reich stattgefunden hat, beenden, sind Erdoğans Motive hinter der Unterstützung Aliyevs wohl weit weniger dramatisch: Erdoğan ist auf das Geld Aliyevs und die aserbaidschanischen Öl- und Gaslieferungen aus dem Kaspischen Meer angewiesen.
Die Türkei ist de facto pleite, ihre letzten Geldgeber sind die Führung in Katar, die Erdoğan am Donnerstag in Doha besuchte, sowie Ilham Aliyev. Aserbaidschan ist in den letzten Jahren zu einem der größten Investoren in der Türkei aufgestiegen und die Öllieferungen aus Baku übertreffen in diesem Jahr sogar die von Russland.
Deshalb wird in der Türkei auch darauf hingewiesen, dass dem jetzigen Angriff Aserbaidschans ein militärischer Zwischenfall in der Grenzstadt Tovuz im Juli dieses Jahres voranging. Tovuz ist weit entfernt von Karabach, aber durch den Ort läuft die Baku-Tiflis-Ceyhan Ölpipline, die für Aliyev und Erdoğan lebenswichtig ist. Eine parallele Gaspipline ist im Bau und soll Ende des Jahres in Betrieb gehen. Erdoğan will die Sicherheit dieser Pipelines gewährleistet sehen und er will die Macht Aliyevs absichern. | Jürgen Gottschlich | Mit Entschlossenheit unterstützt Ankara die Führung Aserbaidschans. Erdoğan ist auf das Geld Aliyevs und auf Öl- und Gaslieferungen angewiesen. | [
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Maler des Jahrhunderts: Grüße an den Überkünstler - taz.de | Maler des Jahrhunderts: Grüße an den Überkünstler
In den Hamburger Deichtorhallen läuft die Ausstellung „Picasso in der Kunst der Gegenwart“, die ohne ein einziges Original auskommt.
Der Heilige Geist der modernen Kunst schwebt in den Deichtorhallen. Bild: dpa
HAMBURG taz | Zwei Jahre lang wurde die ehemalige große Markthalle am Hamburger Deichtor für 16 Millionen Euro saniert und auf internationalen Museumsstandard gebracht. Jetzt sind die Bauarbeiten abgeschlossen und die Ausstellung „Picasso in der Kunst der Gegenwart“ läuft. Das klingt erst einmal sehr nach Lockruf mit einem großem Namen. Doch Dirk Luckow, der Leiter der Deichtorhallen, bezeichnet Picasso als „Jahrhundertgenie“, dessen Malerei und künstlerischer Individualismus sich bis heute nicht verbraucht hätten.
Die 200 Arbeiten von 87 Künstlern, die sich allesamt auf den Großmeister beziehen, scheinen das klar zu bestätigen. Aber Picasso und manche seiner berühmten Werke sind längst schon Klischee.
Dieser spanisch-französische egomane Künstler-Macho in seiner singulären Spezifik ist Allgemeingut geworden: eine Marke, ein Synonym für Kunst an sich. Niemand ist für so viele so sehr der Inbegriff des Künstlers. Das liegt auch daran, dass kaum ein anderer Künstler so sehr für unerschöpfliche Kreativität steht. Der Mann, der sagte, „Ich suche nicht, ich finde!“, hat ohne theoretische Konzepte stets in allen Stilen und Methoden produziert.
Er war kreativ und destruktiv, kunsthistorisch gebildet suchte er die klassische Form, aber er war genauso auch wild, emotional und primitiv. Es gibt nicht den einen Picasso, stets wirkt immer nur eine Facette seines Lebens und seines Werkes.
Die Künstlergruppe Art & Language hat 1980 versucht, den kommunistischen Maler von „Guernica“ und den überschwänglich emotionalen Genussmenschen, die Propaganda und die Abstraktion zusammenzubringen: Herausgekommen ist „Picassos Guernica in the Style of Jackson Pollock“, ein Action-Dripping-Bild mit den Grundlinien des Anti-Kriegsbildes. Überhaupt ist es immer wieder dieses besondere Bild und seine Geschichte, das die Jüngeren zu Kommentaren reizt.
Robert Longo hat extra für die Ausstellung in den Deichtorhallen eine Großkopie erstellt, diese aber teilweise abgedeckt mit schwarzen Balken, die den Zugang verstellen und zugleich die Betrachter in die Situation hinein spiegeln. Thomas Zipp hat in seiner Variation das Bild von Personen und Tieren entleert und zeigt eine auf bloße Formen und leere Sprechblasen minimalisierte Fassung. Goshka Macuga erinnert in ihrer großen Installation daran, dass Guernica als Wandteppich-Reproduktion im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hängt – die ultimative Karriere einer weiterhin wirksamen Ikone: Als der damalige US-Außenminister Colin Powell 2003 zum Irak-Krieg aufrief, wurde sie mit einem blauen Vorhang verhüllt.
Das Aufbrechen des malerischen Bildraums in der picassoesken Variante des Kubismus ist ein weiteres Unterthema der Ausstellung, die konsequent darauf verzichtet, auch nur ein Original von Picasso zu zeigen. Penk und Strawalde etwa stehen für die Rezeption in der DDR, in der Bücher über den kommunistischen Genossen aus formalen Gründen im Giftschrank standen. Zu sehen ist auch so manche Fotografie aus Picassos Umfeld und die erneut inszenierten Nachstellungen: So stellen Yasumasa Morimura und Zhou Tiehai das Foto mit den Croissant-Fingern nach, das Robert Doisneau 1952 von Picasso machte. Und Sandro Miller inszeniert den Hollywood-Schauspieler John Malkovich in der Pose des verschattet unter dem Hut nur ein Auge zeigenden, ikonischen Porträts von Irving Penn. Auch das deutsche Lieblings-Enfant-Terrible Kippenberger hat sich in Unterhose als Picasso abbilden lassen und auch Jonathan Meese lässt die Pinsel nicht vom großen Übervater. Nach so viel Ironie und Appropriation werden die Sichtweisen der Frauen auf den ausbeuterischen Macho nicht vergessen und die Tränen der Dora Maar gewürdigt.
Es ist erstaunlich, dass es diese zweieinhalb Jahre vorbereitete Ausstellung noch nicht vorher gegeben hat. Wirkungsgeschichten werden kunsthistorisch sonst gerne bearbeitet. Auch das Lernen von Vorbildern, das Kopieren und Imitieren, das Zitieren und ironische Posieren ist in der traditionell durch Meister-Schüler-Verhältnisse geprägten Kunstausbildung und im Aufgreifen medial präsenter Vorbilder im Copy & Paste-Verfahren durchaus Thema.
Alle sind Picassos Schüler
Picasso hatte keinen speziellen Schüler. Man kann aber sagen, dass irgendwie alle seine Schüler geworden sind. Doch niemand wagt es, sein Werk ganz dem Meister zu widmen. So findet die Ausstellung auch keinen hundertprozentigen Adepten, sondern zeigt intelligent und bunt versammelt zahlreiche, mitunter eher für die jeweiligen Künstler nur periphere Referenzen, die zusammengenommen das Universum Picasso spiegeln, vielleicht auch erst als solches konstruieren.
Auf dem Kunstmarkt werden Picasso-Originale inzwischen mit eigentlich unbezahlbaren Millionenbeträgen gehandelt. Warum soll man sich die gewünschten Bilder also nicht selbst malen? Das wäre ganz in Picassos Sinne. Sein „Aneignungsfanatismus“, wie Dirk Luckow von den Deichtorhallen es formuliert, hat ihn zu andauernd produzierender Beschäftigung mit vielen großen Künstlern vor ihm geführt: Velasquez, Cranach, Rembrandt, El Greco oder Manet, um nur einige wenige zu nennen. In der Phase der Entwicklung des Kubismus gab es sogar einen direkten malenden Dialog mit Georges Braque oder Juan Gris.
Warum soll man sich also nicht mit dem Übervater der Kunst in deutlich erkennbarer Weise konfrontieren und zumindest einmal auch im eigenen Werk eine künstlerische Aneignung des Stils oder der Haltung Picassos wagen? Marcel Duchamp hätte einen solchen Einfluss. Seine Konzepte begründen fast alle aktuelle Kunst, die sich nicht gerade auf Joseph Beuys bezieht. Und dann sind da noch die Surrealisten für die Traumdeuter und ihre Freunde. Aber Picasso bleibt der monumentale Maler-Löwe.
Bei so viel Weltkunst bietet die Ausstellung auch einen lokal-historischen Bezug: Fritz Fenzl hat 1956 in der großen Hamburger Picasso-Ausstellung in der Kunsthalle, in der sogar das Original von „Guernica“ zu sehen war, die Betrachter beim Betrachten fotografiert. Das betont noch einmal: Das Spiel geht weiter. Es sollte den Besuchern und Betrachtern auch jetzt ein Vergnügen sein, ebenso wie die Künstler mit den verschiedenen Kunstbegriffen und Kunstoptionen zu jonglieren. Und man muss es dem großen Meister dabei nicht recht machen: Jede halbwegs begründbare Assoziation nährt den Mythos. Denn nur wer so sehr im Gespräch bleibt, wie Picasso, bleibt unsterblich.
„Picasso in der Kunst der Gegenwart“: noch bis zum 12. Juli, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Deichtorhallen, Deichtorstraße 1, Hamburg | Hajo Schiff | In den Hamburger Deichtorhallen läuft die Ausstellung „Picasso in der Kunst der Gegenwart“, die ohne ein einziges Original auskommt. | [
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Sosyal medya düzenlemesi yasalaştı: Almanya değil Çin modeli - taz.de | Sosyal medya düzenlemesi yasalaştı: Almanya değil Çin modeli
Tartışmalı sosyal medya düzenlemesinin kabul edilmesiyle birlikte sosyal medya platformları ve haber sitelerinde yer alan içeriklerin tamamen kaldırılması mümkün hale geldi.
Deniz-Atalay: „Amaçlanan unutulma hakkı kavramını tersyüz ederek temiz bir internet yaratmak.“ Foto: dpa
Kamuoyunda sosyal medya düzenlemesi olarak bilinen kanun teklifi, Çarşamba sabah erken saatlerde TBMM'de AKP ve MHP'lilerin verdiği oylarla yasalaştı. İktidardarın „kişisel hak ve özgürlükleri güvence altına almak“ iddiasıyla hazırladığı yasa değişikliği uyarınca sosyal medya platformları ve haber sitelerinde yer alan içeriklerin tamamen kaldırılması mümkün hale geldi. Günlük erişimi bir milyondan fazla olan Twitter, Facebook ve YouTube gibi yurt dışı kaynaklı sosyal ağ sağlayıcılarına Türkiye'de en az bir temsilci bulundurma zorunluluğu getiren düzenleme, aynı zamanda kullanıcı verilerinin Türkiye'de saklanması gerektiğini öngörüyor. Yasaya uymayan sosyal ağ sağlayıcılarına verilecek yüksek idari para cezalarının yanı sıra, yüzde 90 oranına kadar bant daraltması (throttle) ve reklam alma yasağı gibi yaptırımlar da yeni düzenlemede yer alıyor.
Yasa teklifiyle sonuçlanan tartışma, Twitter'da anonim bir kullanıcının Cumhurbaşkanı Erdoğan'ın kızı ve torunu hakkında kullandığı hakaret içeren ifadelerin ardınan başlamıştı. 1 Temmuz tarihinde sosyal medyayı ve internet platformlarını hedef gösteren Erdoğan, „Sosyal medya mecralarının tamamen kaldırılmasını“ istediğini belirtmişti. Kısa sürede hazırlanan „İnternet Ortamında Yapılan Yayınların Düzenlenmesi ve Bu Yayınlar Yoluyla İşlenen Suçlarla Mücadele Edilmesi Hakkında Kanunu“, 28 Temmuz 2020 tarihinde meclis gündemine alındı. Benzer yasaların bazı Avrupa ülkelerinde de olduğunu ve düzenlemenin Anayasa'ya uygun olduğunu iddia eden AKP Grup Başkanvekili Cahit Özkan ise, Salı günü meclis önünde yaptığı açıklamada, „Tamamen başına buyruk olan, hesap vermeyen, mağduriyet yaratan sosyal medyayı“ devlet denetimi altına alacaklarını ifade etti.
TBMM'deki görüşmeler sırasında eleştiride bulunan HDP Grup Başkanvekili Saruhan Oluç, bu düzenlemenin hazırlanmasında ne kamuoyunun ne de muhalefetin görüşüne başvurulduğunu belirtti. „İnternetin kullanılamaz hale geleceğini“ belirten Oluç, düzenlemedeki ifade özgürlüğü kısıtlamalarının anayasaya aykırı olduğunu vurguladı: „Bu Almanya değil, Çin modeli.“
„A Haber gibi temiz“
Yasayla birlikte sosyal ağ sağlayıcıları, içeriklerine getirilen erişim engellerinin yanı sıra doğrudan içeriği kaldırmakla yükümlü olacaklar. İçerik kaldırma konusunda Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu'na (BTK) düzenli bildirimde bulunmak zorunda olan sosyal ağ sağlayıcılarına, aksi takdirde 10 milyon liraya kadar para cezası uygulanacak. Taz'a konuyla ilgili görüş bildiren Bilişim Hukuku Uzmanı Avukat Gülşah Deniz-Atalay'a göre hükümetin bu değişiklikle amaçladığı, „unutulma hakkı kavramını tersyüz ederek tüm geçmiş yolsuzlukların ve tutarsız açıklamaların unutulduğu temiz bir internet yaratmak. A Haber gibi...“
Temsilci bulundurma zorunluluğu getirilen günlük erişimi bir milyondan fazla olan yurt dışı kaynaklı sosyal ağ sağlayıcıları, yeni düzenlemeyle birlikte kullanıcı verilerini Türkiye'de saklamakla yükümlü hale geliyor. Siber Haklar uzmanı akademisyen Yaman Akdeniz, bu şartlar altında Twitter ve Facebook'un „kolay kolay ofis açmayacağını“ düşündüğünü ifade etti. Hükümetin yasa teklifi oluştururken bu şirketlerin görüşlerini almadığını belirten Akdeniz, Twitter'dan yaptığı açıklamada, „Bu sistemi kabul etmeleri uluslararası itibarlarını sarsacak, Türkmenistan ve başka ülkelerden gelecek teklifleri de kabul etmek zorunda kalabilecekler. Daha da önemlisi kullanıcı datalarını lokalize ederek ciddi risk altında bırakacaklar.“ dedi. Avukat Gülşah Deniz-Atalay ise, kişisel verilerin Türkiye'de saklanması ve makamlarla paylaşılmasının, temel bir hak olan „anonimlik hakkının“ ihlali anlamına geldiğini belirtti.
Twitter'a giden mahkeme kararlarının yüzde 74'ü Türkiye'den
Halihazırda sosyal medya platormlarına çeşitli kurumlar (BTK, RTÜK, Diyanet ve bazı bakanlıklar) aracılığıyla erişim engeli gelebiliyordu. İfade Özgürlüğü Derneği'nin „Engelli Web“ raporuna göre Türkiye'de 2019 sonu itibarı ile 400 binden fazla websitesi, 7 bin kadar Twitter hesabı, 40 bin tweet, 10 bin YouTube videosu ve 6 bin 200 Facebook içeriği erişime engellendi.
2012 ve 2019 Haziran ayı arasında Twitter’a dünya genelinde gönderilen 7396 mahkeme kararından yüzde 74'ü Türkiye'dendi. Türkiye hükümeti yalnızca 2019 yılının ilk altı ayında Twitter'dan altı bin içeriğin kaldırılmasını talep etti. Twitter ise şu ana kadar bu taleplerin yalnızca yüzde 5'ine uyduğunu açıklamıştı. | taz.gazete | Tartışmalı sosyal medya düzenlemesinin kabul edilmesiyle birlikte sosyal medya platformları ve haber sitelerinde yer alan içeriklerin tamamen kaldırılması mümkün hale geldi. | [
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Konflikt in Mali: Explosive Lage in der Sahara - taz.de | Konflikt in Mali: Explosive Lage in der Sahara
Der Tod dreier französischer Soldaten zeigt, wie brüchig der Frieden ist. Frankreichs Krieg gegen den Terror erschwert die Arbeit der UN-Mission.
Soldaten der Bundeswehr bei der Ausbildung malischer Soldaten Anfang April dieses Jahres in Koulikoro. Foto: dpa
BERLIN taz | Der Konvoi aus 60 Militärfahrzeugen fuhr am Freitag in Gao los, wo Bundeswehrsoldaten als Teil der UN-Mission in Mali (Minusma) stehen. Das Ziel: Tessalit, 550 Kilometer weiter nördlich. Die Reise durch die Sahara-Wüste war beschwerlich. Kurz vor der Einfahrt in Tessalit fuhr am Dienstag gegen 9.20 Uhr eines der Panzerfahrzeuge an der Spitze der Kolonne auf eine Mine. Ein französischer Soldat war sofort tot, zwei weitere starben in der Nacht zum Mittwoch. Es war der schwerste einzelne Verlust der französischen Streitkräfte in Mali seit der heißen Phase des Krieges gegen bewaffnete Islamisten Anfang 2013.
Die Bergregion um Tessalit ist das heikelste Einsatzgebiet für ausländische Truppen in Mali, denn hier verschanzen sich islamistische Untergrundkämpfer aus der gesamten Sahelzone. Die französische „Operation Barkhane“ geht mit Luftangriffen, Spezialoperationen und gezielten Kampfeinsätzen gegen sie vor.
Zuletzt stand die Region zwischen Gao und der Grenze zum Niger im Fokus: 600 französische Soldaten, so der Generalstab in Paris, halfen der malischen Armee, „die Bevölkerung zu beruhigen“, wobei auch Kampfhubschrauber zum Einsatz kamen. Luftlandetruppen überprüften mutmaßliche Waffenverstecke und spürten „von den malischen Streitkräften aufgezeigte terroristische Elemente“ auf.
Es verwundert wenig, dass in diesem Klima die Stationierung deutscher Soldaten im Norden Malis weiterhin als hochgefährlich gilt. Immer wieder werden die UN-Basen im Norden Malis mit Raketen beschossen. Aber weder die UN-Blauhelmmission Minusma noch die EU-Ausbildungsmission EUTM ist in die operative Planung des französischen Militärs einbezogen.
Keine Kampfhandlungen durchgeführt
Für die Franzosen sind die internationalen Truppen Luft. Der letzte UN-Vierteljahresbericht über französische Unterstützung für die UN-Mission vom 29. März besteht aus einem einzigen Satz: „Seit 1. Dezember 2015 wurden keine Kampfhandlungen als Antwort auf eine unmittelbare und ernsthafte Bedrohung durchgeführt.“
Auf dem Papier ist die Arbeitsteilung klar: Frankreich hilft Malis Armee bei der Bekämpfung von Terroristen, die UN-Truppen helfen Malis Armee bei der Umsetzung des geltenden Friedensabkommens mit den bewaffneten Gruppen im Norden Malis. In der Praxis ist die Grenze zwischen als Partnern zu behandelnden und als Terroristen zu bekämpfenden Gruppen nicht immer eindeutig. Wichtigster Partner des Friedensvertrages ist der Tuareg-Dachverband „Koordination der Azawad-Bewegungen“ (CMA), aber er hat auch lokale Rivalen.
Aktueller Streitpunkt ist die Einsetzung der im Friedensvertrag von 2015 vorgesehenen neuen lokalen Interimsverwaltungen, für die die Tuaregrebellen erstmals eigene Vertreter benennen dürfen. Das entsprechende Gesetz ging am 31. März durch Malis Parlament. Die Opposition aber sagt, damit entmachte die Regierung gewählte Kommunalvertreter und marginalisiere politische Parteien zugunsten bewaffneter Gruppen.
Umgekehrt drängen nun solche Gruppen, die nicht im Dachverband CMA sitzen, ebenfalls auf Vertretung in den neuen Verwaltungen. In solchen Konstellationen gehört die Denunziation, ein ungeliebter politischer Rivale sei in Wirklichkeit ein islamistischer Terrorist, schon fast zur Spielregel.
Nach wie vor haben die Tuaregrebellen auch ihr Ziel nicht aufgegeben, im Norden Malis einen eigenen Staat „Azawad“ zu errichten. Den hatten sie 2012 schon einmal, kurz bevor Islamisten sie von dort verdrängten. Am 6. April feierte der CMA-Dachverband den vierten Jahrestag der Azawad-Unabhängigkeitserklärung mit einer Militärparade in Kidal und hisste die Tuaregflagge über der Stadt. | Dominic Johnson | Der Tod dreier französischer Soldaten zeigt, wie brüchig der Frieden ist. Frankreichs Krieg gegen den Terror erschwert die Arbeit der UN-Mission. | [
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Historiker Ruchniewicz über Vertriebene: „Es gibt einen Geburtsfehler“ - taz.de | Historiker Ruchniewicz über Vertriebene: „Es gibt einen Geburtsfehler“
Die Geschichte der Zwangsmigration soll ein Forum bekommen – nur leider ohne europäische Perspektive. Ein Gespräch.
Das Deutschlandhaus in Berlin-Kreuzberg. Nach umfangreichen Sanierungsarbeiten sollen die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und ihr Dokumentationszentrum 2018 hier ihren Sitz erhalten. Foto: AP
Im Juni dieses Jahres wählte der Beirat der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung Winfried Halder zum Direktor jener Stiftung, die CDU/CSU und SPD vor zehn Jahren im Deutschlandhaus in Berlin gegründet haben, um „an die Vertreibung von 60 bis 80 Millionen Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zu erinnern.
Hierzulande wird dieses Projekt gern als Projekt des Bundes der Vertriebenen (BdV) verstanden – und Winfried Halder galt bei seiner Wahl als politisch geeigneter Kandidat für diesen Posten. Er siegte in der Abstimmung gegen den Historiker Michael Schwartz, der unter anderem durch seine Arbeiten zur Verstrickung des Bundes der Vertriebenen in braune Erbschaften wissenschaftlich starke Meriten errang.
Nach Halders umstrittener Wahl – unter anderem befördert durch die Unionsvertreter im Beirat, auch aus Koalitionsräson durch die SPD und den BdV – traten alle ausländischen Vertreter im wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung zurück, neben dem Berliner Professor Michael Wildt der Pole Piotr Madajczyk, Stefan Troebst, Michael Schwartz und Krzysztof Ruchniewicz, Historiker an der Universität Wrocław in Polen. Inzwischen hat sich Halder von seinem Posten zurückgezogen, er wird sein Amt nicht antreten. Über die genauen Gründe schweigen sich alle Beteiligten aus.
taz: Herr Ruchniewicz, wie beurteilen Sie den Verzicht von Herrn Halder auf den Posten als Stiftungsdirektor?
Krzysztof Ruchniewicz: Ich kenne die Hintergründe zu wenig, um mich dazu zu äußern. Doch kann ich wiederholen, was einige meiner Kollegen und mich zum Rücktritt aus dem wissenschaftlichen Beraterkreis gezwungen hat. Es war nicht die Person Halder, sondern die Art und Weise, wie unser Expertenkreis bei dieser wichtigen Personalentscheidung behandelt wurde.
Ich habe Herrn Halder nur einmal während einer Veranstaltung zum 25. Jahrestag der Versöhnungsmesse in Krzyżowa/Kreisau getroffen. Er war mir bislang nicht als Experte zu den Themen der Stiftung bekannt – im Unterschied zu seinem Gegenkandidaten, Prof. Dr. Michael Schwartz. Deshalb war ich über die Wahl von Herrn Halder persönlich sehr verwundert.
Irgendwie scheint mir der Wurm in dieser Stiftung zu stecken, irgendetwas läuft schief. Können Sie mir, aus polnischer Sicht, einschätzen, warum diese Stiftung nicht in einem guten demokratisch-europäischen Sinne gelingt?
Es gibt meiner Meinung nach einen schwerwiegenden Geburtsfehler dieser Stiftung, der bis heute nicht behoben werden konnte. Dieser wird in der Besetzung des Stiftungsrats sichtbar, in dem es einen zu großen Einfluss der Vertreter des Bunds der Vertriebenen sowie der CDU/CSU gibt, wobei Letztere sich mit dem BdV auf unterschiedliche Art und Weise verbunden fühlen.
Es gibt aber noch ein zweites Dilemma: Man konnte bislang den Eindruck gewinnen, dass sich andere Parteien beziehungsweise Vertreter der Kirchen und wichtige gesellschaftspolitische Akteure zu wenig engagiert haben und vieles im Stiftungsrat eher der national-konservativen Mehrheit überlassen haben. Aus diesem Grund wird die Bundesstiftung in den Medien fälschlicherweise als Vertriebenenstiftung bezeichnet. Dabei zeigt die aktuelle Flüchtlingsfrage, wie dringlich Fragen der Stiftung uns alle angehen.
Haben Sie den Eindruck, dass in Wirklichkeit in diese Stiftung – gegen ihren ausdrücklichen Gründungszweck – gar keine europäische Perspektive mit einfließen soll?
In der Arbeit des internationalen Beraterkreises haben wir – wie unterschiedlich wir auch fachlich und national aufgestellt waren – versucht, die unterschiedlichen Arten der Migrationsbewegungen europäisch zu behandeln. Dabei sind wir von einem für die Historiker selbstverständlichen Ursache-Wirkung-Schema geleitet worden.
Wir hatten eine große und breit angelegte internationale Fachkompetenz im Beraterkreis, die von manchen Politikern nicht immer geschätzt wurde. Leider mussten wir bei der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV) die Erfahrung machen, dass sich einige Politiker angemaßt haben, sich in unsere wissenschaftliche Arbeit einzumischen. Das fand ich sehr fragwürdig und gefährlich.
Können Sie sich für die Stiftung noch ein Engagement von Wissenschaftlern aus Polen vorstellen?
Ich habe fünf Jahre meiner Arbeit in diese Stiftung investiert. Im Jahr 2010 war meine Entscheidung und die meines Kollegen in Polen nicht selbstverständlich. Wir haben uns zu Hause nicht immer Freunde gemacht.
Weil diese Stiftung in Osteuropa das Image hat, ein Zirkel von Erika-Steinbach-Freunden zu sein.
Dank der kollegialen Zusammenarbeit des internationalen Beraterkreises haben wir gemeinsam mit dem Kollegen Piotr Madajczyk einen kleinen Beitrag zur Entemotionalisierung und zur Versachlichung der Debatte über diesen wichtigen Aspekt der europäischen Geschichte leisten können. Nach fünf Jahren unserer Arbeit waren in Polen keine Vorwürfe gegen uns mehr zu hören. Wir haben zum Schluss nicht national gearbeitet oder gedacht, sondern uns als internationales Gremium zu den inhaltlichen Themen geäußert.
Was sind Ihre Wünsche, um wieder mit anderen Kollegen und Kolleginnen etwa aus Tschechien, Ungarn, vielleicht der Ukraine in dieser Stiftung kuratorisch tätig zu werden?
In der Vergangenheit haben wir immer wieder auf den strukturellen Geburtsfehler im Stiftungsgesetz hingewiesen. Es kann nicht sein, dass die Arbeit von 15 engagierten Universitätsprofessoren zu einem unbedeutenden Beratergremium degradiert wird. Dafür ist uns unsere Zeit zu schade. Wenn unser Fachwissen und internationale Kompetenz gefragt ist, sind wir selbstverständlich bereit, zu helfen.
Meiner Meinung nach muss das Gesetz dringend novelliert und die wichtigsten Aufgaben der beiden Gremien müssen noch einmal gründlich überarbeitet werden. Die Kompetenzen des wissenschaftlichen Beraterkreises sollten gestärkt werden und der Stiftungsrat sollte eine breitere gesellschaftliche Basis erhalten. Es kann und darf nicht sein, dass ein einziger Interessenverband …
… wie der Bund der Vertriebenen …
… die Oberhand hat und damit die wichtigsten Entscheidungen der SFVV überstimmen kann. Das Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof in Berlin wird momentan für viel Geld ausgebaut. Die historische Fassade bleibt erhalten, das Innere wird entkernt, damit dort von 2018 an die Dauerausstellung der Bundesstiftung präsentiert werden kann. Wie diese Ausstellung beschaffen sein soll, ist noch offen.
Gewiss ist nur, dass es schon vom Satzungszweck her keine Geschichte der deutschen Zwangsmigration aus Tschechien, Polen, Ungarn und anderen deutschen Siedlungsgebieten werden soll – es muss, sonst wäre es nie gelungen, osteuropäische Wissenschaftler für ihre kuratorische Tätigkeit gewinnen, eine europäische Perspektive haben.
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung■ Idee: Bund der Vertriebenen (BdV) und Freunde (u. a. Erika Steinbach und Peter Glotz).■ Gegründet: 2005 als Bundesstiftung, die ausdrücklich keine Stiftung der deutschen Vertriebenen sein soll, sondern die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts insgesamt thematisieren soll.■ Entscheidungsgremium: Stiftungsrat mit 19 Mitgliedern – 4 Mitglieder des Bundestags, je eines vom Auswärtigen Amt, Innenministerium und Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, 6 des BdV, je 2 der evangelischen und katholischen Kirche sowie des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Inzwischen ist Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, zum kommissarischen Vorsitzenden der SFVV berufen worden. Wie bewertet man diese Personalie in Polen, Herr Ruchniewicz?
Ich verstehe sie als eine Übergangslösung. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich Frau Ministerin Grütters dem Projekt stärker widmet und Vorschläge für die Krisenlösung macht.
Wird sich an der möglichen Kooperation mit polnischen Stellen zur Vertriebenenstiftung durch den Regierungswechsel in Warschau etwas ändern?
Es handelt sich, wie meine Kollegen und ich unermüdlich betonen, um keine Vertriebenenstiftung, sondern um eine Bundesstiftung, die sich dem Thema Zwangsmigration im 20. Jahrhundert widmet. Wobei die Vertreibung der Deutschen einen Schwerpunkt darstellt. Die ausländischen Mitglieder dürfen kein Spielball der deutschen Politik sein, von welcher Seite auch immer. | Jan Feddersen | Die Geschichte der Zwangsmigration soll ein Forum bekommen – nur leider ohne europäische Perspektive. Ein Gespräch. | [
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Gazetecileri hapse atacak kadar gerçek: Propaganda Bakanlığı - taz.de | Gazetecileri hapse atacak kadar gerçek: Propaganda Bakanlığı
“Yabancı propaganda ve dezenformasyonla mücadele“ ifadesiyle asıl kastedilen, Türk hükümetinin kendi propagandasının yabancı basın kuruluşları tarafından engellenmesine karşı mücadele etmek.
Yabancı basın, hükümet dilini kullanmamakla suçlanıyor. Foto: dpa
Geçtiğimiz aylarda, AKP İstanbul milletvekili Metin Külünk'ün “Yabancı Propaganda ve Dezenformasyonla Mücadele“ için bir kanun teklifi hazırladığı ortaya çıktı. Teklife göre, Dışişleri Bakanlığı, Milli Savunma Bakanlığı ve Milli İstihbarat Teşkilatı gibi ilgili kurumların yetkilileri bir komisyon kuracaklar ve “yurt dışında Türkiye'nin ulusal güvenlik çıkarlarını tehdit eden gerçeğe aykırı anlatıları“ takip edip, bunlarla mücadele edecekler. Teklifin adı belki yeni ama yöntemi ya da yazarı değil.
Aralık ayında, Başbakanlığa bağlı Diyanet İşleri Başkanlığı’nın 38 ülkedeki imamlara talimat göndererek istihbarat topladığı ortaya çıkmıştı. Gelen istihbaratla hazırlanan raporda, Müslüman cemaat içinde Fethullah Gülen’e yakın olduğu iddia edilen kişilerin fotoğrafları, ibadet sıklıkları ve cami dışındaki ticari faaliyetlerine dair ayrıntılı bilgiler vardı. Bu skandal üzerine Hollanda Diyanet Vakfı Başkanı Yusuf Acar Türkiye’ye geri çağrılırken, Almanya Diyanet İşleri Türk İslam Birliği (DİTİB) soruşturma başlattı.
Ağustos 2016'da, Başbakanlığa bağlı başka bir kuruluş, Basın Yayın Enformasyon Genel Müdürlüğü (BYEGM), yabancı basında çıkan binlerce haberde Fethullah Gülen’in nasıl tanıtıldığını araştırdı. Araştırmada, Gülen’i “din adamı“ olarak tanıtan ve “Erdoğan’ın eski müttefiki“ olduğunu hatırlatan haberler yeriliyor, Gülen için “terörist başı“, Gülen Cemaati için de “FETÖ terör örgütü“ denilmemiş olması eleştiriliyor.
Özetle, yabancı basın hükümet dilini kullanmamakla suçlanıyor.
Dezenformasyonun kurumsallaşması
Bu anlayış, Türkiye’deki yerel basının ana maddi kaynağı olan resmi ilanlardan sorumlu Basın İlan Kurumu (BİK) için de geçerli. Hatta BİK yönetmeliğinde darbe sonrası yapılan bir düzenlemeyle, hakkında “terör propagandası“ndan dava açılmış olan gazetelerin ilan yayınlama hakkı ellerinden alındı.
Nisan 2016'da ise Türkiye’nin Rotterdam Konsolosluğu, Hollanda’daki Türk derneklerine bir e-posta göndererek, Erdoğan’a hakaret edenlerin bildirilmesini istemişti. Konsolosluk daha sonra talebin yanlış anlamalara yol açtığını iddia etti, ama bundan sadece üç gün sonra Erdoğan’ı eleştiren Türk kökenli Hollandalı köşe yazarı Ebru Umar Türkiye’de tatil yaparken gözaltına alındı.
Kanun teklifinin kendisi bir „doublethink.“ “Yabancı propaganda ve dezenformasyonla mücadele“ ifadesiyle asıl kastedilen, yabancı kaynakların hükümet propagandasına engel olmamasını sağlamak ve hükümet eliyle yayılan dezenformasyonu kurumsallaştırmak. Teklifin sahibi Metin Külünk ise bunun uygulamasını ilk ortaya koyanlardan biri.
17 Aralık 2013’te hükümete yakın iş adamlarının evlerine yapılan baskınlarda milyonlarca dolar kayıt dışı para bulunmuş, üç bakanın oğulları da dahil 26 kişi tutuklanmıştı. Soruşturma kapsamında kaydedilen telefon görüşmeleri arasında en çok ses getireni, Başbakan Erdoğan ile oğlu Bilal Erdoğan arasında geçen “sıfırlama“ kaydıydı.
Ses kayıtlarına „montaj ve dublaj“ ayarı
Türkiye’den pek çok ses mühendisi kayıtlarda oynama olmadığını ortaya koyarken, Erdoğan ısrarla bu kaydın “montaj ve dublaj“ olduğunu söylüyordu. Tam da o günlerde hükümete yakın basında ses kayıtlarının sahte olduğuna dair iddialara yer verildi. RedHack tarafından sızdırılan Enerji Bakanı Berat Albayrak e-posta arşivi sayesinde, bu iddiaların kaynağının Metin Külünk olduğunu artık biliyoruz.
AKP’nin Dış İlişkiler Başkan Yardımcısı Külünk, 26 Şubat 2014’te ABD’deki bir bağlantısı aracılığı ile New York’taki iki adet sıradan ses kayıt stüdyosundan görüş almış, bunları hükümete yakın Sabah-ATV grubunun o günlerde yöneticisi olan Berat Albayrak’a göndermiş. Külünk bununla da yetinmeyip, bu stüdyoları dünyaca ünlü ses uzmanları gibi sunan bir dezenformatif metin kaleme almış. Bu metin ve gönderilen görüşler, Albayrak’ın gazetesi Sabah’ta yazım hataları bile değiştirilmeden imzasız bir haber olarak yayınlandı.
Bu iddialar ABD’ye kadar ulaşınca, hem ses stüdyoları, hem de çalışanları kınama açıklamaları yaparak, adli bilişim uzmanı olmadıklarını, ses kayıtlarının incelenmesi talebinde bulunan bir kişi tarafından kandırıldıklarını belirttiler. Stüdyolardan görüş alıp Metin Külünk’e ileten o kişi, ABD’deki Türkiyeli göçmenlerin lobi gruplarından Turkish American Cultural Society (TACS) başkanı Murat Berk idi. E-posta ile ulaşılan Berk, sıradan bir vatandaş olarak bu görüşleri aldığını, 2014’ten itibaren AKP’nin ABD’deki seçim koordinatörü olarak görevlendirilmesinin bu konuyla ilgisi olmadığını iddia etti.
Gazetecileri hapse atacak kadar gerçek
Devam eden haftalarda Erdoğan’ın “montaj ve dublaj“ iddiasını yalanlayan ciddi adli bilişim raporları da yayınlandı, ancak Türkiye’nin ana akım medyasında sadece hükümet propagandasına yer verildi. Sızan e-postalarda AKP’nin danışmanları, “orijinal ses kayıtlarını alan istihbarat polisleri kendilerini ifşa etmedikçe kayıtların şaibeli olduğu söylemini sürdürmek“ üzerine strateji üretiyordu. İktidara yakın medyada tekrarlanan dezenformasyon böylelikle yolsuzluk soruşturmasında delil olarak toplanan ses kayıtlarını etkisizleştirdi.
Bugün, o yalan haberi üreten Külünk’ün “Dezenformasyonla Mücadele“ için kanun teklifi vermesi, o yalan haberi basan medya patronu Albayrak’ınsa hükümete bakan yapılması kulağa gerçek dışı gelebilir. Fakat Türkiye’nin Propaganda Bakanlığı bir gerçek, iktidarın beğenmediği gerçekleri yazan gazetecileri hapse atacak kadar gerçek. | Efe Kerem Sözeri | “Yabancı propaganda ve dezenformasyonla mücadele“ ifadesiyle asıl kastedilen, Türk hükümetinin kendi propagandasının yabancı basın kuruluşları tarafından engellenmesine karşı mücadele etmek. | [
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Nach Boris Johnsons Parlamentsrücktritt: Ein Spuk in London - taz.de | Nach Boris Johnsons Parlamentsrücktritt: Ein Spuk in London
Boris Johnson tritt aus dem Parlament zurück. Er kommt damit einer Suspendierung zuvor – und sagt der Regierung den Kampf an.
Schnell als die Suspendierung: Boris Johnson ist als Abgeordneter zurückgetreten Foto: Peter Nicholls/reuters
LONDON taz | Drei Rücktritte aus dem Parlament und drei Nachwahlen zum Unterhaus – das ist das Resultat des neuesten Aufstandes innerhalb der regierenden britischen Konservativen gegen Premierminister Rishi Sunak. Ausgelöst hat dies, so analysieren es manche, der Geist des Ex-Premiers Boris Johnson. Auch Johnson selber trat am Freitag von seinem Parlamentsmandat zurück.
In einer 1.000-Worte-Attacke auf Sunak, seine Partei und die Labour-Opposition sprach Johnson am Freitagabend von einer undemokratischen „Hexenjagd“ gegen ihn.
Die laufende parlamentarische Untersuchung darüber, ob er über seine Brüche der Coronaregeln während seiner Zeit als Premierminister das Parlament belogen habe, solle ihn einfach aus dem Parlament entfernen, als „ersten Schritt“ dazu, den Brexit rückgängig zu machen.
Johnson reagierte damit auf den bevorstehenden Partygate-Untersuchungsbericht des „Privilege Committee“ – der Parlamentsausschuss, der Fehlverhalten von Abgeordneten untersucht und Strafmaßnahmen empfehlen kann. Bei einer im Parlament bestätigten Suspendierung eines Mandats von mehr als zehn Tagen kann per Volksbegehren eine Nachwahl erzwungen werden.
Die Party war das Ende
Eine solche Suspendierung hatte der Ausschuss nach eigenen Angaben einstimmig beschlossen – nun kam Boris Johnson den zu erwartenden Folgen mit seinem Rücktritt zuvor.
Johnson war als Premierminister im vergangenen Juli zurückgetreten, unter anderem wegen der Partygate-Vorwürfe gegen ihn. Die parlamentarische Untersuchung darüber, ob er bei seinen Reaktionen darauf im Parlament bewusst gelogen hat, lief danach weiter. Johnson hatte von Anfang an erklärt, er werde eine Verurteilung nicht akzeptieren.
Die Vorsitzende in seinem Fall ist die Labour-Abgeordnete Harriett Harman, doch im Komitee herrscht eine konservative Mehrheit. Laut Johnson sind die jedoch wohl keine richtigen Tories, sondern Teil eines Angriffs auf ihn, den bereits im Januar die hohe Beamte Sue Gray mit ihrer Partygate-Untersuchung geführt hatte. Gray trat im März zurück und wird Stabschefin von Labourchef Keir Starmer, was ihre Untersuchung ins Zwielicht rückt.
Neue Enthüllungen, dass Johnson und seine Frau auf dem Landsitz britischer Premierministers Chequers während eines Lockdowns womöglich unerlaubten Besuch hatten, könnten Johnsons ohnehin prekäre Stellung weiter verschlechtert haben.
Eine weitere Krise war über Johnsons Whatsapp-Nachrichten während der Pandemie entstanden. Es läuft nämlich eine öffentliche Untersuchung des staatlichen Umgangs mit der Pandemie, geleitet von der ehemaligen Richterin Baronin Heather Hallett. Als sie forderte, dass das Büro des Premierministers die Whatsapp-Nachrichten des Ex-Premiers offen und unverschlüsselt übergeben solle, stimmte Boris Johnson zu – nicht aber das Büro des Premierministers in 10 Downing Street, dem Johnson sein Diensttelefon übergeben hatte.
Das letzte Zünglein auf der Waage war die „Honours List“, ein Privileg scheidender Premierminister:innen, um neue Abgeordnete des Oberhauses „House of Lords“ zu ernennen. Auf Johnsons Liste stehen Ex-Innenministerin Priti Patel und Ex-Kulturministerin Nadine Dorries, zwei von Boris Johnsons engsten ehemaligen Weggefährtinnen.
Wahlkreise angeln
Dorries wurde aber nach einer Überprüfung nicht zugelassen, und am Freitagnachmittag kündigte sie ihren Rücktritt aus dem Parlament an und brachte damit die Rücktrittslawine ins Rollen. Laut Sunday Times hatte Dorries nicht rechtzeitig die notwendige Erklärung abgegeben, dass sie als Unterhausabgeordnete binnen sechs Monaten zurücktreten werde.
Damit verschob sich ihre Nominierung, aber Premierminister Sunak, der Johnsons Liste billigen muss, soll sich geweigert haben, eine Nominierung in der Zukunft zu garantieren. Das soll Johnson verärgert haben. Also trat auch er zurück. Am Samstag folgte auch der Johnson-Alliierte Nigel Adams.
Was bedeutet das alles? Boris Johnson könnte sich, sofern das Privilege Committee und die konservative Parteiführung es zulassen, nun einen der beiden freigewordenen Wahlkreise angeln.
Der durch Johnson ebenfalls ins Oberhaus beförderte Brexiteer Jacob Rees-Mogg prophezeite einen Bürgerkrieg innerhalb der Partei, sollte Johnson eine Kandidatur verwehrt werden. Doch andere forderten die Tories zum Zusammenhalt auf: Die Welt hätte sich seit Johnson weiterbewegt und keiner hätte Lust auf ein neues Johnson-Drama. | Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | Boris Johnson tritt aus dem Parlament zurück. Er kommt damit einer Suspendierung zuvor – und sagt der Regierung den Kampf an. | [
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Ausfall bei Antidiskriminierungsstelle: Kein Anschluss unter dieser Nummer - taz.de | Ausfall bei Antidiskriminierungsstelle: Kein Anschluss unter dieser Nummer
Mitten in der Pandemie hat die Antidiskriminierungsstelle ihre telefonische Beratung eingestellt. Zugleich steigt die Zahl der Hilfesuchenden.
Bei der Antidiskriminierungsstelle geht niemand mehr ans Telefon Foto: Alexander Limbach/imago
BERLIN taz | Immer mehr Menschen suchen Hilfe, weil sie diskriminiert werden – doch mitten in der Pandemie fällt eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene teilweise weg. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bietet derzeit keine telefonische Beratung bei Diskriminierungserfahrungen mehr an. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage der Abgeordneten Katja Suding (FDP) hervor, die der taz vorliegt. Betroffene können sich zwar weiterhin schriftlich an die Stelle wenden, müssen jedoch mit verlängerten Bearbeitungszeiten für ihr Anliegen rechnen.
Grund sei, dass es deutlich mehr Beratungsanfragen gebe als zuvor, so die Bundesregierung. Demnach hat sich die Anzahl der Anfragen von Januar bis Anfang Dezember 2020 im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt.
Das dürfte vor allem mit der Corona-Krise zusammenhängen: Bis Ende November 2020 habe die Antidiskriminierungsstelle etwa 1.500 Beratungsanfragen zu Benachteiligungen im Kontext der Pandemie erhalten, berichtet die Einrichtung auf ihrer Website. Zahlen für das Gesamtjahr 2020 und Informationen zu den Diskriminierungsgründen sollen im Jahresbericht der Stelle Mitte Mai vorgestellt werden.
Die Fälle reichten von „von unverhohlenem rassistischem Verhalten bis hin zu körperlichen Übergriffen“. Zu Beginn der Pandemie sei es häufig zu antiasiatischem Rassismus gekommen, derzeit meldeten sich besonders oft Personen, die aufgrund einer Behinderung keine Schutzmaske tragen können.
Leitungen bleiben vorerst stillgelegt
Angesichts des sehr hohen Beratungsaufkommens habe man im Herbst 2020 entscheiden müssen, die telefonische Beratung einzustellen, um zumindest auf schriftlichem Wege weiterhin eine seriöse Beratung gewährleisten zu können, bestätigt Sebastian Bickerich, Sprecher der Antidiskriminierungsstelle. Dabei sei man bemüht, die Anliegen weiterhin innerhalb von zehn bis 15 Arbeitstagen zu bearbeiten. In einigen Fällen könne es derzeit aber auch länger dauern.
Für Katja Suding, stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP, ist diese Situation inakzeptabel: „Dass mitten in der Krise eine Beratungsstelle des Bundes wegen Überlastung telefonisch nicht mehr erreichbar ist, macht mich fassungslos.“
Bereits im April vergangenen Jahres habe sich gezeigt, dass der Beratungsbedarf steigt, dennoch fehle es bis heute an Personal. „Hilfesuchende müssen in ihrer Not wieder jemanden in der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erreichen, die Zahl der Beraterinnen und Berater muss daher sofort erhöht werden“, fordert Suding.
Tatsächlich wurden laut der Antidiskriminierungsstelle die Ressourcen im Haushaltsjahr 2021 um drei Stellen und 600.000 Euro aufgestockt. Darüber hinaus sei man derzeit gemeinsam mit der Bundesregierung und dem Familienministerium dabei, die Voraussetzungen für eine neue Servicestelle zur Antidiskriminierungsberatung zu schaffen. Diese solle dann unter anderem die telefonische Erstberatung übernehmen. Ziel sei es, auch bei gestiegener Beratungslage eine gleichbleibende Beratungsqualität bieten zu können.
Bis die Antidiskriminierungsstelle ihre Telefonleitungen wieder öffnet, könnte es allerdings noch einige Monate dauern, möglicherweise startet die Hotline erst im Juni wieder.
Die telefonische Beratung schon vor Einrichtung der Servicestelle wieder anlaufen zu lassen, sei nicht sinnvoll, sagt Bickerich, die Berater*innen seien derzeit völlig überlastet. Für Betroffene von Diskriminierung, die bei der Antidiskriminierungsstelle unbürokratisch und schnell Hilfe suchen, heißt es also weiterhin vor allem: warten. | Alena Weil | Mitten in der Pandemie hat die Antidiskriminierungsstelle ihre telefonische Beratung eingestellt. Zugleich steigt die Zahl der Hilfesuchenden. | [
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Palästinenser im Hungerstreik: Khader Adnan kann jederzeit sterben - taz.de | Palästinenser im Hungerstreik: Khader Adnan kann jederzeit sterben
Zum zehnten Mal ist der Palästinenser in Israel in Haft. Nicht ein einziges Mal wurde er angeklagt oder vor Gericht gestellt.
Solidarität mit Khader Adnan in einem Fußballstadion in Gaza. Foto: ap
JERUSALEM taz | Ein ordentliches Verfahren oder die Freiheit fordert Khader Adnan, andernfalls will er seinen Hungerstreik fortsetzen. Seit dem 5. Mai nimmt der 37-jährige Palästinenser nur noch Wasser zu sich. Zum zehnten Mal sitzt er hinter Gittern, zehnmal ohne jeden Prozess und insgesamt beinah sechs Jahre lang.
Am 8. Juli letzten Jahres ist er wieder verhaftet worden. Einmal in sechs Monaten wird er seither einem Militärrichter vorgeführt, der ihn für weitere je sechs Monate in die Administrativhaft schickt. Viermal ist er in einen offenen Hungerstreik getreten und war beim letzten Mal, im April 2012, nach 66 Tagen seiner Verweigerung, Nahrungsmittel aufzunehmen, tatsächlich auf freien Fuß gekommen. Es war der längste palästinensische Hungerstreik. Kurzfristig hatten sich 2.000 Häftlinge solidarisch angeschlossen.
Adnan konnte nur durchhalten, weil er Vitamine, Mineralien und Zucker aufnahm, was er diesmal verweigert. Seit Anfang Juni liegt er im Krankenhaus, inzwischen soll er so entkräftet sein, dass er sich kaum noch bewegen kann. „Khader Adnan kann nun jeden Augenblick sterben“, so sollen Ärzte seinem Anwalt Dschawad Boulus versichert haben.
Die Inhaftierungen ohne Anklage, ohne Prozess und mit massiv eingeschränktem Besuchsrecht gehören zu den umstrittenen Maßnahmen, mit denen Israel gegen politisch aktive Palästinenser vorgeht. Laut aktueller Statistik sitzen derzeit noch 5.800 Palästinenser hinter Gittern, davon 414 in Administrativhaft, inklusive acht Mitglieder des palästinensischen Parlaments.
Strategischer Kopf des Islamischen Dschihad
Amnesty International (AI) berichtet über „grausame und entwürdigende Behandlung“ der Gefangenen, „auch als Strafmaßnahme für Hungerstreiks“. Seit zehn Jahren fordert AI, der Praxis der Administrativhaft ein Ende zu machen. Die Gefangenen riskieren Besuchs- und Fernsehverbote, wenn sie sich einem Hungerstreik anschließen.
Trotzdem kam es in den israelischen Gefängnissen immer wieder zu umfangreichen Aktionen im Kampf gegen die Administrativhaft. Zum letzten Mal verweigerten über 70 Männer so lange die Nahrungsaufnahme, dass sie auf stationäre Behandlung angewiesen waren.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon appellierte noch während des Hungerstreiks an Israel, die Häftlinge zu entlassen oder vor Gericht zu stellen. Israel hält trotzdem weiter an der Praxis fest, außerdem ermöglicht eine Rechtsreform seit vergangenem Jahr bei akuter Lebensgefahr die Zwangsernährung.
Auf aktuellen Fotos sieht er aus wie ein alter Mann, er trägt einen langen Bart und ist nur noch Haut und Knochen. Wenige Monate vor seiner letzten Verhaftung brachte seine Frau Drillinge zur Welt, insgesamt haben die beiden sechs Kinder.
Israel wirft Adnan vor, dem Islamischen Dschihad anzugehören, konkrete Mittäterschaft bei Terroranschlägen werden ihm bislang nicht zur Last gelegt. Sollte Adnan im Gefängnis sterben, so verkündete die Bewegung Islamischer Dschihad in Gaza Ende letzter Woche, dass wäre das Waffenstillstandsabkommen in Gefahr, das im vergangenen August den Krieg im Gazastreifen beendete. „Adnan liebt sein Leben“, erklärte am Samstag sein Anwalt, „aber wenn er Märtyrer sterben sollte, würde er es begrüßen.“ | Susanne Knaul | Zum zehnten Mal ist der Palästinenser in Israel in Haft. Nicht ein einziges Mal wurde er angeklagt oder vor Gericht gestellt. | [
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Die Tafelrunde - taz.de | Die Tafelrunde
■ Jahrestagung der mehr als 1000 deutschen „Tafeln“ begann in Hamburg
Der Bundesverband Deutsche Tafeln e. V. ist am Sonntag vormittag in Hamburg zu seiner Jahrestagung zusammengekommen. Dabei wollten sich 200 „Tafelhelfer“ bis heute über mehr Kooperation und die künftige Gestaltung ihrer ehrenamtlichen Arbeit verständigen. Im Mittelpunkt der gestrigen Diskussionen stand der Umgang mit und das Verhältnis zu Sponsoren. Dabei wollten sich auch Sponsoren dazu äußern, was sie von den „Tafeln“ erwarten.
Seit vier Jahren deckt die „Hamburger Tafel“ die Tische der Armen mit Spenden überschüssiger Lebensmittel. Die Initiative der Hamburgerin Annemarie Dose fand inzwischen bundesweit 143 Nachahmer von Flensburg bis zum Bodensee. Derzeit gibt es in Deutschland rund 2000 ehrenamtliche Helfer und einige festangestellte „Tafel“-Mitarbeiter vor allem in Großstädten. Sie holen von Großmärkten, aus Großküchen, Supermärkten und Bäckereien ab, was übrigbleibt und verteilen es an Arme, Obdachlose und sonstige Bedürftige.
Die Idee für die „Tafel“ stammt aus den USA. Seit 1982 arbeiten dort an der amerikanischen Ostküste die Helfer der Armen mit großem Erfolg. Die Geschichte der „Tafeln“ in Amerika gehe aber weiter zurück, erklärte Dose: 1967 wurde „St. Mary's Food Bank“ in Phoenix, Arizona, gegründet.
Die Tagung geht heute nachmittag mit der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes zu Ende. Auf dem Programm stand außerdem eine „kleine Warenkunde für das Abholen und Ausgeben von Lebensmitteln“. lno | taz. die tageszeitung | ■ Jahrestagung der mehr als 1000 deutschen „Tafeln“ begann in Hamburg | [
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