title
stringlengths 8
1.02k
| content
stringlengths 7
306k
| author
stringlengths 0
255
| description
stringlengths 0
2.72k
| keywords
sequencelengths 3
26
| opinion
bool 2
classes | date_published_time_at
unknown | date_modified_at
unknown | __index_level_0__
int64 1.04k
1.1M
|
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Das Detail: Revival des Kurmandschi - taz.de | Das Detail: Revival des Kurmandschi
SPRACHE Ein Projekt in Syrien übersetzt Literatur ins Kurdische
Im Büro des „Hunar“-Projekts, einer spendenfinanzierten Organisation in Syrien, liegt Schnee. Das ist absolut neu, denn „Schnee“, der Erfolgsroman des französischen Schriftstellers Maxence Fermine, erscheint zum ersten Mal auf KURDISCH,in der Sprache, die in Syrien jahrzehntelang verboten war. Das „Hunar“-Projekt befindet sich im Nordosten des Landes, in Qamischli. Die Stadt wird – wie andere Teile Syriens – von Kurden selbstverwaltet.
„Schnee“ ist das erste Buch, das die „Hunar“ übersetzt hat. Der Preis für „Schnee“, knapp ein Dollar, deckt lediglich die Druckkosten, wie die AFP berichtete. Es ist eine Erfolgsgeschichte für die Kurden Syriens.
Jahrzehntelang war es verboten Kurmandschi in der Schule zu lernen. Es gibt drei kurdische Sprachen, Kurmandschi ist die meistverbreitete. Wer mit kurdischen Büchern erwischt wurde, musste mit einer langen Gefängnisstrafe rechnen.
2012 zog sich der syrische Staat aus den kurdischen Gebieten zurück, überließ den Kurden weite Gebiete in Nordsyrien, da diese sie gegen den IS verteidigten. Infolge der Selbstverwaltung konnte die Bevölkerung wieder Kurmandschi unterrichten.
Laut AFP soll es bald auch eine Übersetzung des Gilgamesch-Epos geben und eine Studie über das kurdische Volk. Auch Autoren sollen wieder auf Kurmandschi schreiben. Das Projekt ist Teil eines neuen kurdischen Kulturbewusstseins.
In der Türkei durfte man in den 1980er und 1990er Jahren nicht einmal im Privatbereich Kurmandschi sprechen. Seit 2009 gibt es nun einen kurdischsprachigen staatlichen Fernsehsender. Anlässlich der Eröffnung des Senders hatte sogar Erdoğan ein paar Begrüßungsworte gesprochen – auf Kurdisch. Johannes Drosdowski | Johannes Drosdowski | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,179 |
|
berliner szenen: OktoberimFreibad - taz.de | berliner szenen: OktoberimFreibad
Das Prinzenbad ist immer noch offen. Als Experiment. Mal gucken, wie viele Leute bei Herbsttemperaturen noch kommen, wenn das Becken nicht mehr geheizt wird. Das interessiert mich auch. Einfach um zu gucken, fahre ich ohne Badezeug hin, kaufe eine Karte und schiebe mich durchs Drehkreuz.
Eigentlich ist alles wie im Sommer, bloß halt kälter. An der Kasse sitzt sogar derselbe Mitarbeiter wie im September. Das hintere Becken ist abgesperrt. Das vordere, das bei Prinzenbadfans „Bergsee“ heißt, weil es immer eiskalt ist, kann benutzt werden.
Ein halbes Dutzend Badegäste ist da – alles Damen im mittleren Alter. Niemand trägt die Neopren-Schwimmanzüge, die neuerdings ausdrücklich erlaubt sind. Alle Besucherinnen sind im Badeanzug. Mich friert schon beim Hinsehen.
Ich schlendere auf den Wegen und der Liegewiese herum, als wäre ich im Stadtpark. Auf der Terrasse vor dem geschlossenen Imbiss sitzt eine vermummte Gestalt auf einer Bank und trinkt aus einer Thermoskanne. Auf dem Rasen liegt ein einsamer Mann in dicker Jacke mit einem Buch auf einem Handtuch und liest. Er wirkt, als hätte er nicht bemerkt, dass der Sommer vorbei ist, oder sei einfach im Juli hier vergessen worden.
Ansonsten ist es geisterhaft leer. Ich laufe weiter und komme zu der neuen Schwimmhalle an der Gitschiner Straße. Überraschenderweise ist sie offen, und ich werfe einen Blick hinein. Hier könnte man sogar schwimmen, wenn man keine Bibberrekorde brechen will, was auch drei Menschen tun.
Als ich wieder hinaus auf die Liegewiese trete, reißen plötzlich die Wolken auf und eine helle Sonne scheint auf den Rasen. Auf einmal sieht es wieder aus wie im Sommer, und man fragt sich unwillkürlich, wo denn die ganzen Leute sind.
Tilman Baumgärtel | Tilman Baumgärtel | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,205 |
|
Lehrer im Haushaltsloch verschollen - taz.de | Lehrer im Haushaltsloch verschollen
CDU und FDP wollen nun doch nicht tausende neue Lehrer einstellen. Der Grund: Die Haushaltslage sei katastrophaler als angenommen. Grüne: „Was die Koalition jetzt macht, ist nicht ehrlich“
VON ULLA JASPER
Zwei Wochen vor Amtsantritt der neuen Landesregierung rücken CDU und FDP von ihren Wahlversprechen ab. Anstatt der angekündigten 4.000 bis 8.000 neuen Lehrerstellen will man sich nun nicht mehr auf eine Zahl festlegen lassen. Die Kassenlage „ist viel dramatischer, als es Rot-Grün bisher eingeräumt hat“, erklärte FDP-Landeschef Andreas Pinkwart zur Begründung des Kurswechsels.
Wie viele Lehrer die neue Landesregierung einstelle, könne erst „im Gesamtkontext aller finanzwirksamen Maßnahmen“ geklärt werden, so Jürgen Rüttgers (CDU). Im Wahlkampf hatten Konservative und Liberale noch damit geworben, mindestens 4.000 (CDU), am besten aber gleich 8.000 (FDP) Lehrer zusätzlich einzustellen. Dass Lehrer gebraucht würden, sei offensichtlich, so Rüttgers. Doch dies gehe nur, „wenn es solide finanziert ist“.
Bereits zu Beginn der Koalitionsverhandlungen vor zwei Wochen hatte Schwarz-Gelb angekündigt, möglicherweise zwei weitere „heilige Kühe“ zu schlachten. Die Pendlerpauschale sei ebenso wie die Eigenheimzulage „nicht mehr in Stein gemeißelt“, erklärten die Parteien freimütig – wenige Tage nach der Landtagswahl. Begründung auch damals: der katastrophale Landeshaushalt, der noch viel schlimmer aussehe, als jemals gedacht. „Die SPD hat sich beim Erstellen des Haushalts offensichtlich verschätzt. Die Defizite, die im Laufe der Legislaturperiode aufgetreten sind, wurden dann vor der Landtagswahl unter der Decke gehalten“, erklärt ein FDP-Sprecher den neuen Wissensstand seiner Partei nach der Wahl vom 22. Mai.
Bei Experten stößt diese Auslegung der Haushaltszahlen jedoch auf Kritik: Man wisse zwar nie, „welche Zeitbomben eine Regierung in den letzten Wochen ihrer Amtszeit noch im Haushalt versteckt hat“, erklärt Helmut Seitz, Finanzwissenschaftler an der Uni Dresden. So könnten zum Beispiel in den letzten Wochen von Rot-Grün noch Investitionsprogramme vorgezogen worden seien, die jetzt den Haushalt belasten. Doch dass sich die Haushaltslage dramatisch anders darstelle als es allgemein bekannt gewesen sei, schließt Seitz aus: „Wer jetzt kommt und sagt, die finanzielle Lage sei noch katastrophaler als angenommen, der hat entweder die Wähler vor der Wahl bewusst an der Nase herumgeführt oder der hat überhaupt keine Ahnung.“ Bereits im Wahlkampf hätte jedem klar sein müssen, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen in NRW nicht möglich sei, 4.000 oder gar 8.000 neue Lehrerstellen zu schaffen. Man müsse die Wähler davor bewahren, solche „schwachsinnigen Versprechen“ zu glauben. Seitz: „Der Spielraum für zusätzliches Personal beträgt null Komma null Prozent.“
Und in der Tat ist die wirtschaftliche Situation des Landes Nordrhein-Westfalen desaströs. 110 Milliarden Euro beträgt der Schuldenstand, allein 40 Prozent des jährlichen Haushalts wendet das Land für Personalkosten auf. Doch auch die Grünen wollen sich nicht die Schuld für das Haushaltsloch in die Schuhe schieben lassen.
„Was CDU und FDP jetzt machen ist nicht ehrlich. Die vergießen doch nur Krokodilstränen“, sagt der Geschäftsführer der Grünen im Landtag, Johannes Remmel. Rot-Grün habe immer darauf hingewiesen, wie problematisch die Haushaltslage sei, nicht umsonst haben wir einen Doppelhaushalt verabschieden müssen. „Wir sind schon sehr weit gegangen in unseren Einschnitten“, so Remmel. Der Grünen-Politiker verweist auch auf die schlechte Einnahmesituation des Landes. „Die Einnahmeverluste auf Bundesebene schlagen sich eben auch auf NRW durch.“ | ULLA JASPER | CDU und FDP wollen nun doch nicht tausende neue Lehrer einstellen. Der Grund: Die Haushaltslage sei katastrophaler als angenommen. Grüne: „Was die Koalition jetzt macht, ist nicht ehrlich“ | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,259 |
Propaganda für Scharon - taz.de | Propaganda für Scharon
Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery kritisiert den Zentralrat der Juden. Interview in „Junge Freiheit“
BERLIN taz ■ Schwere Vorwürfe richtet der alternative Friedensnobelpreisträger Uri Avnery an den Zentralrat der Juden in Deutschland. Der Zentralrat scheine nur ein Propagandainstrument der Regierung Scharon zu sein, so Avnery in einem Gespräch in der heute erscheinenden Ausgabe der Jungen Freiheit, der Wochenzeitung der neuen Rechten.
Mit Blick auf den von dem Ex-Grünen Jamal Karsli und Jürgen Möllemann (FDP) ausgelösten Antisemitismusstreit betont Avnery, man dürfe Israel nicht nur kritisieren, sondern man müsse es tun. Die Aussage Karslis, Israel wende Nazimethoden an, bezeichnet Avnery zwar als „maßlos überzogen“, kritisiert aber gleichzeitig, dass die israelische Propaganda heute den Holocaust gegen die Palästinenser instrumentalisiere. Das führe leicht zu arabischen Gegenreaktionen, den Holocaust zu verharmlosen. Mit europäischem Antisemitismus hätte das nichts zu tun. Weiter meint Avnery, dass jede Sonderbehandlung Israels schon eine Form von Antisemitismus beinhalte. Gegenüber der taz betont Uri Avnery (siehe auch Kommentar auf S. 12), dass ihm die politische Ausrichtung der Jungen Freiheit unbekannt sei. Er sei es gewohnt, allen Zeitungen Interviews zu geben. ESE | ESE | Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery kritisiert den Zentralrat der Juden. Interview in „Junge Freiheit“ | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,261 |
Mit dem plauen Auge - taz.de | Mit dem plauen Auge
Eintracht Braunschweig müht sich zu einem 1 : 1 gegen die zweite Mannschaft von Werder Bremen. Nicht genug für Fans, die noch die goldenen Zeiten miterlebt und die Rettung am Ende der Vorsaison schon wieder vergessen haben
Wegen Aktionen wie dieser nennen sie ihn den „King“ in Braunschweig: Nach 36 Minuten pflückt Kingsley Onuegbu an der Strafraumgrenze einen feinen Ball von Deniz Dogan einfach runter, hält ihn sicher, schüttelt vier, fünf Bremer Gegenspieler ab und trifft formvollendet zum 1 1-Ausgleich.
Der King ist ungefähr zwei Meter fünfzig groß, zieht den Ball magnetisch an und bewegt sich dabei wie Roger Milla bei der WM 1994. Eintracht-Trainer Torsten Lieberknecht hat ihn entdeckt. Daneben stehen sechs weitere U 23-Akteure auf dem Platz. Lieberknecht, vor zwei Jahren selbst noch Eintracht-Profi, führt „seine“ Jugendspieler an die Mannschaft heran – und lässt dafür auch mal das alternde rumänische Kraftwerk Valentin Năstase draußen.
Höhepunkte bis zu Onuegbus Treffer: In der sechsten Minute musste der Linienrichter unter lautem Gejohle zu seinem Kofferraum rennen, um die genormte FIFA-Linienrichterfahne zu holen. Und nach 21 Minuten missglückte Christian Lenze eine Abwehr derart, dass er damit den eigenen Keeper Jasmin Fejzić zum 0 : 1-Rückstand überwand. Aber ab Mitte der ersten Halbzeit macht die Eintracht ordentlich Dampf, spielt schnell und klug.
Nach zwei Niederlagen in der englischen Woche steht Braunschweig immer noch halbwegs sicher im Mittelfeld der neuen Dritten Liga, aber schon unter Druck. 12.000 Fans trotzen der Kälte, darunter in der VIP-Loge der traditionsbewusste Braunschweiger Land- und Meckeradel, heutzutage demütigend eingeklemmt zwischen den Erstligisten in Hannover und Wolfsburg. Das soll die Reserve einer Champions-League-Truppe sein? Nicht zu fassen. Pah, wir kennen noch die Eintracht-Meisterelf von 1967 persönlich, haben 1977 mit Jägermeister Paul Breitner aus Madrid geholt, leisten uns auch zum Zweitliga-Abstieg fünf Trainer in einer Saison!
In der zweiten Halbzeit geht ein wenig der Gesprächsstoff aus. Am Ende hat Braunschweig Glück, das Werder seine zwei, drei Chancen in den letzten Minuten nicht nutzen kann. Abpfiff, Pfeifkonzert. Lieberknecht lässt sich zu einem kurzen Wortgefecht mit Motivkrawattenträgern hinreißen – und erinnert daran, dass die Eintracht mit einem „ganz plauen Auge“ davon gekommen ist, am Ende der letzten Saison, als er von seinem erfahrenen Vorgänger Benno Möhlmann eine zerstrittene Mannschaft übernommen hatte. Sonst hieße der Gegner in der vierten Liga heute: Plauen.GERALD FRICKE | GERALD FRICKE | Eintracht Braunschweig müht sich zu einem 1 : 1 gegen die zweite Mannschaft von Werder Bremen. Nicht genug für Fans, die noch die goldenen Zeiten miterlebt und die Rettung am Ende der Vorsaison schon wieder vergessen haben | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,288 |
Die Wahrheit: Wunderliches Winterweh - taz.de | Die Wahrheit: Wunderliches Winterweh
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte Leserschaft an einem poetischen Alliterationsgewitter erfreuen.
Foto: ap
Winterliche Wunderwelten:
Wiesen, Wälder, wattig weiß,
Waldemar wie Walli wandern
wohlig waldwärts, wisperleis,
wieseln, wuseln, wogen, wälzen,
Wollust wallet wunderbar,
während Wampen wuschig wabern,
Warnruf: Wildschwein, Waldemar!
Wunder wirken Wallis Worte,
Wildschwein wendet, wetzet weit,
wortlos Waldemar wie Walli:
wunderliche Winterzeit.
Die Wahrheit auf taz.de | Ulrike Erlhoefer | Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte Leserschaft an einem poetischen Alliterationsgewitter erfreuen. | [
"Gedicht",
"Winter",
"Sprache",
"Die Wahrheit",
"Wahrheit",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,292 |
Nieder mit den alten Knästen: Arbeitskreis macht weitreichende Reform-Vorschläge für den Strafvollzug - taz.de | Nieder mit den alten Knästen: Arbeitskreis macht weitreichende Reform-Vorschläge für den Strafvollzug | henrich fenner | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,296 |
|
Türkei zu Schwedens Nato-Beitritt: Die Flexibilität des Herrn Erdoğan - taz.de | Türkei zu Schwedens Nato-Beitritt: Die Flexibilität des Herrn Erdoğan
Um Schweden ging es Erdoğan immer nur am Rande. Vor allem wollte er aus der Isolation kommen und mit der Nato-Führungsebene und Joe Biden verhandeln.
Erdoğan will auf dem Nato-Gipfel vor allem mit den Großen spielen Foto: Kacper Pempel/reuters
Vordergründig ging es beim monatelangen Konflikt um den Nato-Beitritt Schwedens um dessen Rolle als Zufluchtsort für angebliche „kurdische Terroristen“ und Erdoğan-Kritiker. Tatsächlich war dieser Aspekt, durch die Rechtsentwicklung in Schweden ohnehin Vergangenheit, immer nur nebensächlich im politischen Poker des türkischen Ministerpräsidenten.
Erdoğan ging und geht es um das Verhältnis der Türkei zum Westen, zu den Führungsmächten der Nato, allen voran den USA und den wichtigsten Playern in Europa. Mit der Schweden-Nato-Frage hatte er einen Hebel, um sich Gehör zu verschaffen. Der Westen ist für die Türkei stets ein ambivalenter politischer Ort, zu dem es die Menschen in der Türkei einerseits hinzieht, von dem sie sich andererseits aber auch abgelehnt und von oben herab behandelt fühlen – und das nicht erst, seit Erdoğan den Alleinherrscher herauskehrt und die angeblichen Werte der EU mit Füßen tritt.
Erdoğan hat den Politpoker um Schweden über Monate durchgespielt, weil er große Teile der türkischen Bevölkerung hinter sich weiß, wenn er Ländern wie Schweden, aber auch anderen EU-Ländern und den USA moralische Doppelstandards vorwirft, sowohl was Demokratie als auch Menschenrechte angeht. Vor diesem Hintergrund hat er als Machtpolitiker versucht, aus dem schwedischen Beitrittsersuchen zur Nato so viel wie möglich für sich und die Türkei herauszuholen.
Zwar hat die Nato mit der EU erst einmal nichts zu tun, aber tatsächlich wird die Nato oder die EU für die Länder der Peripherie immer mal wahlweise in Betracht gezogen, wie jetzt im Fall der Ukraine. Aus türkischer Sicht gibt es daher durchaus einen Zusammenhang, der implizit auch akzeptiert wurde. Natürlich weiß Erdoğan, dass die EU die längst ad acta gelegten Beitrittsverhandlungen nicht wiederaufnehmen wird, aber immerhin konnte er Gespräche über Zollunion und visafreies Reisen auf die Tagesordnung setzen.
Am wichtigsten war ihm aber, US-Präsident Biden dazu zu bringen, sich mit ihm an einen Tisch zu setzen. Dabei geht es um Kampfflugzeuge, aber auch darum, als Partner im östlichen Mittelmeer akzeptiert zu werden. Erdoğan will nach seiner Wiederwahl aus der Isolation heraus, was ihm durch das Schweden-Spiel gelingen könnte. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise braucht Erdoğan dringend ein besseres Verhältnis zu den USA und Europa. Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, bis er gegenüber Schweden einlenken würde. Auch in anderen Fragen wird er sich flexibel zeigen, solange er seine Macht nicht bedroht sieht und es der Türkei wirtschaftlich nutzt. | Jürgen Gottschlich | Um Schweden ging es Erdoğan immer nur am Rande. Vor allem wollte er aus der Isolation kommen und mit der Nato-Führungsebene und Joe Biden verhandeln. | [
"Recep Tayyip Erdoğan",
"Nato",
"Schweden",
"Joe Biden",
"Krieg in der Ukraine",
"Europa",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,301 |
2001 Anschläge: Bremsen als notwendiges Prinzip - taz.de | 2001 Anschläge: Bremsen als notwendiges Prinzip
■ Der Kulturchef des Weser-Kurier, Arnulf Marzluf, hat die Kultur als Trivialmaschine abgekanzelt, von der keine wichtigen Impulse für die Gesellschaft ausgingen. „Das ist ein Todesurteil“, kontert die Politikerin und Ex-Kultursenatorin Helga Trüpel
Da staunten einige Bremer KulturproduzentInnen bei der Lektüre des Weser Kurier beziehungsweise der Bremer Nachrichten (alias WK/BN) kurz vor Ostern Bauklötze: Auf der Seite, über der früher das Wort „Feuilleton“ stand und heute „Kultur“ steht, schwang sich der Ressortleiter Kultur, Arnulf Marzluf, zu einer Generalabrechnung mit seinem Fachgebiet auf. Trotz der bescheidenen Textbezeichnung „Zwischenruf“ warf er der nicht näher definierten Kultur vor, ein Spiel mit der Wiederholung von Vergangenheiten zu spielen: „Man muss schon sehr gutwillig sein, um zu glauben, dass aus den Zirkeln der Kultur-Kultur, die sich derzeit so wichtig nimmt, in absehbarer Zeit wichtige Impulse für die Gesellschaft ausgingen.“ Und, so Marzluf weiter: „Da es ohnehin nichts Neues zu befürchten gibt, ist die Kultur so berechenbar geworden wie noch nie.“ Kultur sei ein leer laufendes Instrument der Bestätigung ihrer selbst und deshalb eine Trivialmaschine geworden. Aus diesem Grund falle es Weinhändlern und Futtermittelkonzenen leicht, sich zu ihr zu bekennen und Sparbürokraten zu zeigen, wer das Abendland rette.
Das ist schon ein starker Tobak. Deshalb wurde innerhalb der „Trivialmaschine“ auch über den Text diskutiert. Die Reaktionen reichten von „interessante Thesen“ bis zu „Unverschämtheit“. Auch die kulturpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, die ehemalige Kultursenatorin Helga Trüpel, hat reagiert. Sie wollte auf Marzluf an gleicher Stelle, also auf der „Trivialmaschinen“-Seite von WK/BN antworten. Doch Marzluf hat sie nach ihren Angaben an die Leserbrief-Redaktion verwiesen. Deshalb kam sie zu uns. Lesen Sie in der taz also heute Helga Trüpels Entgegnung. (ck)
Die Debatte über staatliche Kulturfinanzierung in Deutschland, im Bund und in den Ländern, geht in eine neue Runde. Es geht inzwischen nicht mehr nur um die Höhe der Kulturfinanzierung, sondern mittlerweile wird die fundamentale Frage gestellt, wozu überhaupt noch Kultur, wodurch legitimieren sich Kunst und Kultur für die gesamte Gesellschaft, was ist heute überhaupt noch Kultur?
Und mit diesen Fragen wird in einigen Stellungnahmen eine bestimmte Antwort gleich mitgeliefert, nämlich, dass es sich um einen gesellschaftlichen Bereich handelt, der sich selbst genügt, der eloquent nur seine eigenen Vorteile und staatliche Alimentierungen verteidigt, der rückwärtsgewandt sich den neuen Entwicklungen verweigert und bei den Beschleunigungsschüben, die die moderne Gesellschaft auszeichnen, nur als Bremser agiert. Das kommt einem Todesurteil gleich: Packt die Kultur auf den Müllhaufen der Geschichte. Das ist die ungeschminkte Botschaft, die sich hinter solchen Überlegungen ausdrückt. Und diese Botschaft ist gefährlich.
Es ist nicht prinzipiell falsch, Fragen nach der optimalen internen Organisation von Kultureinrichtungen und nach sparsamem Umgang mit Ressourcen zu stellen. Es gibt nicht einfach eine Lizenz zur Verschwendung, und gewachsene Kultureinrichtungen werden zu Recht nach ihrer Funktion befragt. Wer staatliche Ausgaben für Kunst und Kultur befürwortet, muss argumentieren können, warum Kunst und Kultur für die Gesamtgesellschaft notwendig sind.
Im Zusammenhang mit den leeren öffentlichen Kassen und der Verschuldung der Staatshaushalte wird zu Recht darauf gedrängt, Betriebsabläufe auch in Kultureinrichtungen zu optimieren, aber wenn die betriebswirtschaftliche Logik zur einzig relevanten wird, besteht die Gefahr, dass alle die Kunstproduktionen, die nicht gleich einem großen Publikum zugänglich sind, als nicht mehr förderungswürdig aussortiert werden. Dann regiert auch hier nur noch das quantitative Gesetz, das sich nur an Kategorien wie Besucherzahlen und Einschaltquoten bemisst. Kunst zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass sie anders als die Ökonomie und die Kultur- und Popindustrie nicht allein einen quantitativen Maßstab hat, sondern sich an Qualität misst. Kunst und Kultur haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, hier gilt Zweckfreiheit und nicht kurzfristiger ökonomischer Nutzen, hier gilt langfristige Wirkung und nicht schneller, verwertbarer Effekt. Hier gilt Nachdenken und Innehalten, Reflexion um der Reflexion willen und nicht schneller Output.
Natürlich ist es richtig, dass es sich bei den Trägern von Kunst und Kultur eher um eine privilegierte gesellschaftliche Gruppe handelt, zugleich hat sie eine Funktion für die gesamte Gesellschaft. Nur durch die Reibung von Qualität an Quantität, von Möglichkeitssinn an Realität, von Reflexion an direkter Verwertbarkeit kommt eine Dynamik in die Gesellschaft, die noch Entscheidungen und auch Werturteile zwischen verschiedenen Prinzipien ermöglicht und die Welt nicht eindimensional macht, nur noch das Herrschen einer einzelnen Logik kennt, der reinen Nützlichkeit und Schnelligkeit. Eine solche Entscheidung, ein solches Abwägen ist notwendig für die Offenheit und Weiterentwicklung der gesamten Gesellschaft. Ohne diese Reibung wäre die Gesellschaft als Ganzes ärmer.
Die Beschleunigung, der sich die Kultur angeblich als problematischer Bremser widersetzt, ist kein Selbstzweck. Die Beschleunigung ist nicht um ihrer selbst willen ein Wert, sondern man muss die Frage beantworten, welche Entwicklung beschleunigt wird und ob diese Entwicklung wünschenswert ist. Die Apologeten der Beschleunigung weichen dieser Frage aus.
Vergegenwärtigen wir uns diese Grundsatzfrage an der aktuellen Auseinandersetzung um den Umgang mit den neuen Möglichkeiten der Gentechnik. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch eine private Firma steht offensichtlich kurz bevor. Die wissenschaftlichen Ergebnisse werden nicht mehr in einem wissenschaftlichen Organ publiziert und damit der Forschergemeinde zur Verfügung gestellt, sondern die Firma geht mit ihren Ergebnissen an die Börse und will sich dort einzelne Gene patentieren lassen, um daraus den größtmöglichen ökonomischen Vorteil zu ziehen.
Der amerikanische Wissenschaftler Jeremy Rifkin stellt zu Recht die Frage, ob die Beschleunigung dieses Prozesses, nämlich nur noch auf die utilitaristische, die am reinen Nutzen orientierte Anwendung von Genen zu setzen wünschenswert ist oder nicht ungeheuer gefährlich, weil sie die Grundkoordinaten unserer Gesellschaft verschiebt. So würde mit dem verwertbaren Wissen um die menschlichen Gene ein Embryo künstlich herstellbar und dieser Organismus wäre das Eigentum desjenigen, der das Patent besitzt. Eine neue Form der Sklaverei würde eintreten. Diese Frage war aber schon einmal in schmerzhaften gesellschaftlichen Prozessen politisch kulturell entschieden: gegen die Sklaverei. Die Frage, wie man mit den Möglichkeiten der neuen Technik umgeht, ist für Rifkin eine grundsätzliche Frage unserer Kultur, die nur auf der Grundlage von kulturell verankerten Werten entschieden werden kann.
Die Argumentation von Rifkin angesichts der neuen ethischen Herausforderung der Erforschung des menschlichen Genoms zeigt mir, dass wir die Reibung zwischen den Werten und Maßstäben des kulturellen Diskurses und dem ökonomischen Nutzen unabdingbar brauchen, um uns in den Beschleunigungsschüben zu orientieren und diesen nicht nur ausgeliefert zu sein. Die Alternative ist nämlich nicht rückwärtsgewandte Kultur einerseits und technische Beschleunigung andererseits, sondern die Aufgabe besteht darin, in dem Spannungsverhältnis von kulturellen Werten und technischen Neuerungen Antworten zu finden, die begründete Entscheidungen auf die Frage erlauben, wie wir leben wollen. Das sind die großen kulturellen Fragen, die überhaupt erst politische Freiheit ermöglichen und uns nicht dazu verurteilen, dem Imperativ einer Beschleunigung als Selbstzweck ausgeliefert zu sein.
Es gibt mehr Logiken als die betriebswirtschaftliche und die der technologischen Revolution, der kulturelle Diskurs hat eigene Prinzipien. Diese Auseinandersetzung, diese Reibung zwischen den verschiedenen Prinzipien ist unerlässlich. Dazu brauchen wir Kultur. Helga Trüpel | Helga Trüpel | ■ Der Kulturchef des Weser-Kurier, Arnulf Marzluf, hat die Kultur als Trivialmaschine abgekanzelt, von der keine wichtigen Impulse für die Gesellschaft ausgingen. „Das ist ein Todesurteil“, kontert die Politikerin und Ex-Kultursenatorin Helga Trüpel | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,366 |
Neue Asylregeln für Balkanländer: Grüne erleichtern Abschiebungen - taz.de | Neue Asylregeln für Balkanländer: Grüne erleichtern Abschiebungen
Der Bundesrat hat der Asylrechtsreform zugestimmt. Das grün-rot-regierte Baden-Württemberg trug den Kompromiss mit. Die Grünen sind gespalten.
Flüchtlinge vom Balkan können künftig schneller in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden: Asylunterkunft in München. Bild: dpa
BERLIN taz/afp/dpa | Der Bundesrat hat am Freitag der Änderung des Asylrechts zugestimmt. Umstritten war bis zuletzt vor allem die Erweiterung der Liste der so genannten sicheren Herkunftsländer um drei Staaten des westlichen Balkans. Möglich wurde die Zustimmung durch das Ja auch des grün-rot-regierten Baden-Württembergs, nachdem die Bundesregierung Erleichterungen in anderen Bereichen des Asylrechts zugesichert hatte, besonders bei der sogenannten Residenzpflicht und der Möglichkeit der Arbeitsaufnahme.
Nach Informationen der taz war im Parteirat der Grünen bis spät in den Abend „lautstark“ gestritten worden. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann soll der grünen Verhandlungsführung mit der Bundesregierung mit seiner Position in den Rücken gefallen sein, hieß es aus Parteikreisen.
Auf Bundesebene hatten Vorstand und Parteirat der Grünen den Asylkompromiss am Donnerstagabend noch zurückgewiesen. In einem Beschluss heißt es: „Eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten löst keines der Probleme der deutschen Flüchtlingspolitik.“ Und weiter: „Es ist zynisch, wenn Union und SPD die Asylsuchenden aus dem westlichen Balkan für die Situation in den Kommunen verantwortlich machen.“ Der Beschluss sei einstimmig gefallen, twitterte Parteichefin Simone Peter am Abend.
Der Beschluss gesteht den Ländern allerdings eine abweichende Meinung zu. Es heißt: „Unabhängig von dieser Position respektieren wir, wenn grün-mitregierte Länder in ihren Kabinetten zu einer anderen Abwägung kommen sollten.“
Den Worten folgen andere Taten
Baden-Württemberg habe sich mit der Entscheidung nicht leicht getan. „Wir sind aber der Meinung, dass wir aufgrund der tatsächlich erreichten Verbesserungen für die Lage der Flüchtlinge einen Kompromiss mittragen können“, hieß es.
Bei den Verhandlungen mit der Bundesregierung seien substanzielle Verbesserungen für die Situation der Flüchtlinge rausgeholt worden, verlautete aus Parteikreisen. So werde die Residenzpflicht für Flüchtlinge abgeschafft. Asylbewerber sind dann nicht mehr gezwungen, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten. Auch könnten Flüchtlinge künftig einfacher und schneller Arbeit aufnehmen.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärte seine Entscheidung am Freitag in einem sechsseitigen Schreiben. Darin heißt es: „Wir wissen um die Diskriminierung und Ausgrenzung von Roma in den Staaten des westlichen Balkans. Wir wissen um die Drangsalierungen, denen homosexuellen Menschen dort ausgesetzt sind.“ Eine „relevante Entlastung der Aufnahmestellen und der Kommunen“ durch die erleichterte Abschiebung in die Balkanstaaten „muss bezweifelt werden“. Dass er dem Kompromiss dennoch zustimme, begründete Kretschmann mit der Zusage der Bundesregierung, die Lage für Flüchtlinge zu verbessern. Dafür hätten die Grünen „teilweise seit Jahren“ gekämpft.
Gegen diese Aufweichung des Asylrechts hatten sich prominente Grüne beider Parteiflügel öffentlich positioniert. Der ehemalige Fraktionschef im Bundestag, Jürgen Trittin, warnte im taz-Interview: „Es darf keinen Kompromiss geben, der den Gemeinden nicht die Erleichterung bringt, die sie eigentlich brauchen, und der eine nicht akzeptable Menschenrechtssituation für nicht existent erklärt.“
Auch die aktuelle Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt mahnte, es dürfte keinen „Deal“ auf Kosten des Asylrechts geben: „Mit dem Konzept der sicheren Herkunftsländer erweckt die Bundesregierung bewusst den falschen Eindruck, sie könnte die Zuwanderung aus dem Westbalkan stoppen und Engpässe bei der Unterbringung in den Ländern und Kommunen auflösen.“ Nun stehen weite Teile der Partei düpiert da.
Dieser Artikel wurde aktualisiert um 12.04 Uhr. | Astrid Geisler | Der Bundesrat hat der Asylrechtsreform zugestimmt. Das grün-rot-regierte Baden-Württemberg trug den Kompromiss mit. Die Grünen sind gespalten. | [
"Asyl",
"Asylrecht",
"Asylrechtsreform 2014",
"Flüchtlinge",
"Bundesrat",
"Abschiebung",
"Deutschland",
"Politik",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,368 |
Fanatismus des Abstrakten - taz.de | Fanatismus des Abstrakten
Ian Kershaw hat eine materialreiche Hitler-Biographie vorgelegt, scheitert aber, wie die anderen Biographen, an dem Unterfangen, das Böse intellektuell zu erfassen ■ Von Annette Jander
Hitler-Biographien kranken an ihrem Subjekt. Der Mensch Hitler gibt nicht viel her. Schon Joachim Fest äußerte sich 1973 fast resigniert: „Über weite Strecken verflüchtigt sich... die ohnehin schwer greifbare Person dieses Mannes und widersetzt sich dem biographischen Zugriff.“
Vielleicht ist es Adolf Hitlers letzter und größter Triumph, daß sich sein Innenleben bis heute dem öffentlichen Blick entzieht. Seit 1989 arbeitet Ian Kershaw an dem zweibändig angelegten Werk, von dem jetzt der erste Band erschienen ist, der den Zeitraum 1889 bis 1936 umfaßt. Eine neue, große Hitler-Biographie, die mit Spannung erwartet wurde. Weit mehr als 100.000 Bücher existieren über das Dritte Reich, aber „nur eine Handvoll ausführlicher, ernstzunehmender wissenschaftlicher Biographien des NS-Führers“. Diese Vorgabe erfüllt das Buch des renommierten englischen Historikers ohne Zweifel. Kershaw beruft sich auf die Werke seines Landsmanns Alan Bullock und auf Joachim Fest, die sich intensiv mit der Persönlichkeitsstruktur Hitlers auseinandergesetzt haben. Er versteht sich jedoch nicht als Biograph im Sinne derer, die den Menschen Hitler ergründen wollen, um den Holocaust zu erklären. Ein Schlüsselerlebnis in Hitlers Leben, das den grenzenlosen Haß, der in der Vernichtung mündet, verursacht, kann er nicht finden. Er unternimmt auch nicht den Versuch, Hitler als isolierte Persönlichkeit zu untersuchen oder als machtbesessenen Psychopathen zu betrachten wie Bullock in seinen frühen Arbeiten (die er später revidierte). Er verläßt sich auf die Analyse einer Epoche, darauf, daß die Weltgeschichte ohne Hitler zweifellos anders verlaufen wäre und er deshalb nur in den Zusammenhängen betrachtet werden kann. Als Kenner der Sozialgeschichte des Dritten Reiches, der sich aber bereits in kürzeren Arbeiten mit Hitler auseinandergesetzt hat, bleibt er seiner intentionalistischen Linie treu und zeigt, daß Hitler seit 1919 die „Vernichtung des Judentums“ als festen Bestandteil in seinen Reden führte, noch vor der Verknüpfung mit dem Bolschewismus. Er mißt ihn an seinen Reden und nimmt ihn als „politisches Genie“, wie Goebbels es ausdrückt, ernst. Den „Mythos Hitler“ hat Kershaw bereits in einer Studie, die 1980 Aufmerksamkeit erregte, abgehandelt. Leider ergibt die nun vorliegende, nüchterne Annäherung an Hitler auch ein mitunter langweiliges Buch. Stilistische Brillanz, die Fests Annäherung an die „Unperson“ Hitler auszeichnet, hat hier keinen Platz. Aber Kershaw ergänzt Fests Standardwerk von 1973 um ein erweitertes und in Teilen intensiveres Quellenstudium. Was über Hitlers Vita bekannt und verbürgt ist, können wir hier nachlesen.
Nach dem frühen Tod des Vaters wächst Adolf Hitler mit seiner kleinen Schwester Paula bei der Mutter in der Provinz auf. In der Schule versagt er. Was überrascht, ist der 18jährige Adolf, der seine Mutter kurz vor ihrem Krebstod pflegt und den Verlust schwer verwindet. Er geht nach Wien. Nach der zweimaligen Ablehnung durch die Kunstakademie wird Hitler, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommt, ein sozialer Absteiger: möblierte Zimmer, schließlich das Obdachlosenasyl und dann Jahre im Männerheim. Er malt Postkarten ab, um existieren zu können, aber bald schon hält er flammende Reden im Männerheim – auch über das „verderbliche Judentum“. Auf echte Gespräche läßt sich Hitler selten ein, seine politischen Meinungen sind angelesen. Seine „Gesprächspartner“, von den Bewohnern des Männerheims bis zu den ausländischen Botschaftern in Berlin, berichten einmütig von den stundenlangen Monologen Hitlers. Seine Zuhörer haben sich jedoch keineswegs immer gelangweilt, und sein Aufstieg zum „Führer“ liegt in seiner unermüdlichen Redekunst und seiner Bereitschaft, sich dabei völlig zu verausgaben, begründet. Er mag den größten Teil seines Lebens als Redner verbracht haben.
1914 verläßt Hitler Wien und geht nach München. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist ein Glücksfall für ihn. Obwohl er Österreicher ist, tritt er sofort ins bayerische Heer ein, wird Meldegänger, bekommt zweimal das Eiserne Kreuz verliehen und lebt mit seinem Hund Foxl beim Regiment, das ihm Familie und Lebenszweck wird. Am Ende des Krieges findet sich Hitler nach einem Gasangriff vorübergehend erblindet und traumatisiert von der unerwarteten Niederlage wieder – ein weiterer Wendepunkt. Aber der Zeit im Lazarett in Pasewalk kann Kershaw nicht viel Interessantes abgewinnen. Zuviel ist ihm da von anderen hineininterpretiert worden.
Da um Hitler bereits zu Lebzeiten mehr spekuliert als gewußt wurde, ist Kershaw auch in der Auswahl und der Bewertung der Quellen, vor allem bei Zeitzeugen, oft skeptisch. Die vor 1945 verfaßten Berichte orientieren sich vornehmlich an Hitlers Version der Ereignisse, wie sie in „Mein Kampf“ dargelegt und oft geschönt wurden. Kershaw liefert hier eine in sich lesenswerte Interpretation von Hitlers Manifest. Die nach 1945 verfaßten Berichte oder Interviews sind wiederum oft apologetischer Natur und verraten mehr über die Augenzeugen als über Hitler. Das gleiche gilt für die Tagebücher und Notizen von Joseph Goebbels, die zwar authentisch und ausführlich sind und eine von Kershaw häufig zitierte Quelle, aber allenfalls ein Beweis für Goebbels' neurotische Hitler- Anbetung. Der sich wie ein enttäuschter Liebhaber gebärdende Goebbels ist fast schon komisch, aber auch typisch für viele Deutsche, die nach Hitlers Charisma lechzten. 1926 schreibt er nach einem Redeauftritt Hitlers: „Wohl eine der größten Enttäuschungen meines Lebens. Ich glaube nicht mehr restlos an Hitler. Das ist das Furchtbare: Mir ist der innere Halt genommen.“ Und kurz darauf: „Ich glaube, er hat mich wie keinen in sein Herz geschlossen. Adolf Hitler, ich liebe Dich, weil Du groß und einfach zugleich bist. Das, was man Genie nennt.“
Politisches Gespür bescheinigt ihm Kershaw durchweg. Rückschläge wie den gescheiterten Putschversuch 1923 wandelt Hitler in Erfolge um. Der Prozeß, in dem Hitler unbegreiflich viel Gelegenheit zu politischen Reden und Rechtfertigung gegeben wird, und die anschließende Festungshaft von nur 13 Monaten betrachtet Kershaw – wie andere vor ihm – als den eigentlichen Wendepunkt im Leben Hitlers. Er liefert eine detaillierte Analyse des Prozesses. Kershaw resümiert trocken: „Hitlers Machtübernahme war keinesfalls unvermeidlich, war kein Naturereignis... Sein Aufstieg hätte schon lange vor dem Schlußakt Januar 1933 gestoppt werden müssen. Es gab einige Gelegenheiten, doch die beste ging vorüber, als die Justiz es nach dem Putsch vom November 1923 versäumte, Hitler jahrelang hinter Gitter zu bringen, und dieser Unterlassung ein weiteres Versäumnis hinzufügte, als sie ihn im Dezember 1924 auf Bewährung entließ und ihm einen Neuanfang ermöglichte. Doch diese Fehlkalkulationen... waren keine zufälligen Entscheidungen, denn sie gingen von einer politischen Klasse aus, deren Entschlossenheit, die neue, verhaßte, höchstens geduldete demokratische Republik anzugreifen... ihrem Zerstörungstrieb folgte und die nicht etwa voller Eifer Hitler den gewundenen Weg ins Kanzleramt bahnte.“
1931 erschießt sich Hitlers Nichte Geli Raubal mit seiner Pistole, um sich seiner Herrschsucht und Eifersucht zu entziehen. Die gescheiterte Liebesbeziehung, deren Natur im unklaren bleibt, ist der zweite große Fehlschlag im Leben Hitlers, den er romantisch verklärend in eine totale Hinwendung zu Deutschland ummünzt. Der Skandal versandet, da Hitler zur Zeit des Selbstmordes auf Redetour war, und ab da kennt Hitler nur noch eine Geliebte: Deutschland.
Kershaw zeichnet ein umfassendes Bild von Hitlers Umgebung, die ihm seinen Glauben an sich gegeben und konsequent aufrechterhalten hat. Hitler hat es immer verstanden, seinen Untergebenen klarzumachen, was in seinem Sinne getan werden sollte. „Dem Führer zuarbeiten“ ist das zentrale Kapitel von Kershaws „Hitler“ und richtungsweisend für den zweiten Teil der Biographie, der September 1999 erscheinen soll. Nach dem Tod von Geli Raubal ist Hitler ein Mann völlig ohne innere Bindungen, ohne erkennbare Laster im üblichen Sinn, dessen Triebfeder der fanatische Glaube an etwas Abstraktes ist: an seine Bedeutung für Deutschland, an die Bedeutung Deutschlands für Europa und – vor allem – an die Rolle des Judentums als Symbol für alles Schlechte. Hitler hatte ein sehr gutes Gedächtnis, eine schnelle Auffassungsgabe, schauspielerisches Talent und eine Neigung zur Hybris. Letztere brachte ihn immer wieder dazu, alles auf eine Karte zu setzen, und je öfter er gewann, desto höher wurden die Einsätze. 1923, 1933 und schließlich 1936 mit dem Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland riskiert Hitler alles und kommt damit durch, der Einmarsch wird geduldet. Kershaw macht deutlich, daß Hitler zu stoppen war, daß er Angst hatte zu verlieren. Nur, keiner setzte ihm ernsthaft Widerstand entgegen.
„Nicht jeder von euch sieht mich, und nicht jeden von euch sehe ich. Aber ich fühle euch, und ihr fühlt mich! Es ist der Glaube an unser Volk, der uns kleine Menschen groß gemacht hat... Nun sind wir beisammen, sind bei ihm und er bei uns, und wir sind jetzt Deutschland!“ Dieses nationalsozialistische Vaterunser rief Hitler seinen Anhängern auf dem „Parteitag der Ehre“ in Nürnberg 1936 entgegen. Es ist eine realistische Einschätzung seiner Macht zu diesem Zeitpunkt. Kershaw findet in Hitler bis 1936 einen Politiker mit einem fanatischen Rassenhaß, aber das Böse hat seinen Auftritt hier noch nicht. Die faszinierende Frage nach der Natur des Bösen versucht der amerikanische Journalist Ron Rosenbaum in seinem soeben auf englisch erschienenen Buch „Explaining Hitler. The Search for the Origins of Evil“ zu beantworten. Die Kommentare der Zeitzeugen, die Rosenbaum befragt hat, lassen aber eher die Hilflosigkeit erkennen, die auch die Biographen Hitlers plagt: Das Böse ist nicht intellektuell zu erfahren.
Auch wenn Kershaws „Hitler“ keine Diskussionen entfachen wird und die Leser immer etwas Unbestimmtes entbehren läßt, ist es lesenswert in seiner distanzierten Darstellung dessen, was wir heute über Hitlers Leben mit einiger Bestimmtheit sagen können.
Ian Kershaw; „Hitler 1889–1936“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, 972 S., 88 DM | Annette Jander | Ian Kershaw hat eine materialreiche Hitler-Biographie vorgelegt, scheitert aber, wie die anderen Biographen, an dem Unterfangen, das Böse intellektuell zu erfassen ■ Von Annette Jander | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,405 |
Krieg in Sudan hält an: Verbrannte Erde, verwesende Leichen - taz.de | Krieg in Sudan hält an: Verbrannte Erde, verwesende Leichen
Aus der sudanesichen Region Darfur fliehen immer mehr Menschen ins Nachbarland Tschad. Sie berichten von systematischen Massakern.
Die Stadt El Geneina liegt in der sudanesischen Region West-Darfur Foto: Amir Cohen/reuters
BERLIN taz | Sultan Saad Bahreldin hat es geschafft. Der traditionelle Führer des Masalit-Volkes in der Stadt El Geneina im äußersten Westen Sudans erreichte vorletzte Woche die Stadt Adré im Nachbarland Tschad. „Die Straße zwischen El Geneina und Adré ist voller Leichen“, erklärte der Sultan nach seiner Ankunft einem lokalen TV-Sender. 70 Prozent der Stadtbewohner seien auf der Flucht, es gebe „systematische“ Tötungen.
Das bestätigen unzählige andere Flüchtige aus der Provinzhauptstadt von West-Darfur, die in Adré mit UN-Vertretern, Helfern und lokalen Medien gesprochen haben. „Überall hängt Leichengeruch“, El Geneina sei eine „Geisterstadt“ geworden, wird einer zitiert. Es zirkulieren Fotos von Straßen voller verwesender Toter, manche davon Kinder. „Die Milizen kamen plötzlich und feuerten auf die Leute“, erinnerte sich ein Bewohner an einen Tag.
Der zivilgesellschaftliche Aktivist Ibrahim Shamou, der Adré am 18. Juni erreichte, zählte unterwegs 350 Tote. Von über 1.100 Getöteten in El Geneina sprach das US-Außenministerium bereits am 15. Juni. Der Masalit-Sultan brachte bei seiner Flucht nach Tschad einen Bericht über die Massaker in der Stadt seit 24. April mit und zählte darin „über 5.000 Tote und mindestens 8.000 Verletzte“.
Er sprach von einer „Reihe systematischer und blutiger Angriffe der RSF (Rapid Support Forces), also der Janjaweed-Miliz, die Völkermord und ethnische Säuberung rassistischer Art gegen afrikanische Zivilisten zum Ziel haben“. Am 25. Juni vermeldete ein lokaler BBC-Journalist, in El Geneina seien 1.760 Kinder unter 16 Jahren getötet worden.
Eine Stadt, gezeichnet vom Darfur-Konflikt
Seit dem 15. April herrscht Krieg in Sudan. Aus dem Machtkampf zwischen dem Anführer der paramilitärischen RSF (Rapid Support Forces), Hamdan Daglo Hametti, und Staats- und Armeechef Abdelfattah al-Burhan wurde ein Krieg, der nach den Worten von UN-Generalserkretär António Guterres Sudan „in den Abgrund“ zerrt, mit rasanter Geschwindigkeit. Die UN zählt mittlerweile 2,8 Millionen Geflüchtete inner- und außerhalb des Landes.
El Geneina war bis vor Kurzem eine einigermaßen friedliche, gleichwohl von den Spuren des grausamen Darfur-Konflikts gezeichnete Großstadt nahe der Grenze zu Tschad. Rund 200.000 Menschen von meist arabischen Volksgruppen leben in der Stadt. Drumherum, in den elendigen Vertriebenenlagern, sammelten sich indes die nichtarabischen Völker wie die Masalit – eine Spätfolge des Krieges, als die Masalit in den Aufstand traten und Sudans Regierung sie mithilfe der Janjaweed-Reitermiliz brutal niederkämpfte. Aus den Janjaweed wurde Hamettis RSF.
Als ab 2019 Massenproteste gegen die Militärherrschaft Sudan erschütterten, schloss sich die jüngere Masalit-Generation aus den Lagern der Protestbewegung an. Sie legte sich gern mit arabischen RSF-Ordnungshütern an, immer wieder gab es bewaffnete Zusammenstöße mit vielen Toten.
Ab dem 24. April versuchte die RSF, gewaltsam die Kontrolle über Darfurs Städte mit ihren Militäreinrichtungen zu gewinnen. Der Bericht des Sultans dokumentiert zahlreiche Angriffe und Kämpfe in El Geneina ab diesem Zeitpunkt. Am 14. Juni wurde sogar der Provinzgouverneur von West-Darfur, General Khamis Abdullah Abbakar, ermordet: Er besuchte in El Geneina die Zentrale der Antiaufstandspolizei CRF (Central Reserve Forces) und wurde dort an die RSF übergeben, die ihn und seine Personenschützer umbrachte und die Leichen verstümmelte. Zuvor hatte Abbakar der RSF „Genozid“ vorgeworfen und der Armee mangelnden Schutz der Bevölkerung.
Damit war klar: In dieser Stadt ist niemand mehr sicher. Zu Fuß, auf Kamelen, in Autos, auf Motorrädern machten sich die Menschen auf den Weg Richtung Tschad. Innerhalb von drei Tagen erreichten 15.000 Menschen die Grenze. Eine unbekannte Anzahl kam gar nicht so weit. Immer wieder berichteten Augenzeugen, an Straßensperren kontrolliere die RSF die Menschen: Masalit durften nicht durch, die anderen mussten meist ihr Hab und Gut zurücklassen.
Erinnerungen an Ruanda
„Die Janjaweed stoppten die fliehenden Frauen mit ihren Kindern und zwangen sie, die Kinder nach Geschlecht zu sortieren, und töteten dann die männlichen“, heißt es im Bericht des Sultans über die Flucht der Masalit aus El Geneina. „Was in Ruanda geschah (beim Völkermord an den Tutsi 1994, d.Red.), wiederholt sich jetzt in El Geneina“, erklärte die Ärztevereinigung der Stadt. „Ganze Familien wurden ausgelöscht und in Massengräbern verscharrt“, sagte der stellvertretende Flüchtlingskommissar der Provinz.
In El Geneina herrscht jetzt die RSF. Auswertungen von Satellitenaufnahmen durch das „Sudan Conflict Observatory“ belegen großflächige Zerstörungen in der Stadt: eine Fläche, die 98 Fußballfeldern entspricht, sei verbrannt.
Das ist aber möglicherweise erst der Anfang. Der US-amerikanische Aktivist und Sudan-Experte Eric Reeves berichtet von systematischen Angriffen auf andere Städte durch die RSF seit dem 21. Juni. In El Fasher, Hauptstadt von Nord-Darfur, hätten ehemalige Darfur-Rebellen, die jetzt in die Regierungsarmee integriert sind, den Angriff noch zurückgeschlagen. In diesen Tagen sei nun Zalingei in Zentral-Darfur an der Reihe.
Analysten warnen, dieser Krieg sei nicht identisch mit dem vor zwanzig Jahren. RSF-Chef Hametti habe sich eigentlich als Friedensbringer für seine Heimatregion Darfur profilieren wollen, sagt der französische Analyst Jerôme Tubiana. Aber er habe es nicht vermocht, Sympathien in Darfur für seine Revolte zu gewinnen. Eric Reeves nennt die Eroberung von Darfur einen „Plan B“ für Hametti, falls die Eroberung von Khartum scheitere.
Bereits 245.000 Geflüchtete
Die Strategie hinter den Massenmorden ist den Opfern egal. Darfur brennt. Und nun muss Tschad, wo schon vor den neuen Kämpfen fast eine halbe Million Darfur-Flüchtlinge lebten, eine neue Massenflucht bewältigen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zählte am 19. Mai 72.000 neue Darfur-Flüchtlinge in Tschad. Ende vergangener Woche waren es knapp 175.000. Die aktuelle Planzahl: 245.000.
Erst kurz vor dem neuen Krieg hatte das UN-Welternährungsprogramm WFP aus Geldmangel seine Versorgung für Darfur-Flüchtlinge in Tschad halbiert und gewarnt, ab Mai gebe es überhaupt nichts mehr. Das ist jetzt abgewendet. Aber die Preise steigen, und in wenigen Tagen dürfte in dieser Region die Regenzeit einbrechen. Wer dann keinen Schutz hat, findet keinen mehr. | Dominic Johnson | Aus der sudanesichen Region Darfur fliehen immer mehr Menschen ins Nachbarland Tschad. Sie berichten von systematischen Massakern. | [
"Tschad",
"Genozid",
"Krieg in Sudan",
"Afrika",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,420 |
Union schwach, SPD schwächer - taz.de | Union schwach, SPD schwächer
EUROPAWAHL Die CDU verliert Prozente – und siegt trotzdem. SPD stagniert erneut auf historischem Tief. CSU schafft es ins europäische Parlament. FDP, Grüne und die Linkspartei gestärkt
„Das Ergebnis ist deutlich schlechter als erhofft“Franz Müntefering, SPD-Vorsitzender
AUS BERLIN THILO KNOTT
Die Union hat die Europawahl in Deutschland trotz deutlicher Verluste gewonnen. Die SPD schafft den erhofften Befreiungsschlag nicht. Nach den Prognosen von ARD und ZDF könnten die Sozialdemokraten am Sonntag sogar unter ihren historischen Tiefpunkt von 21,5 Prozent vor fünf Jahren rutschen. Sie erreichten 21 bis 21,5 Prozent. CDU und CSU kommen auf 38 bis 38,5 Prozent – mehr als fünf Punkte weniger als 2004. Die CSU kommt in Bayern auf 49,5 Prozent und schafft damit klar den Sprung über die bundesweite Fünfprozenthürde. Sie erreicht ein deutlich besseres Ergebnis als bei der Landtagswahl im September, wo sie mit 43,4 Prozent ein Debakel erlebt hatte.
Die FDP erreicht nach starken Gewinnen mit 10,5 bis 11 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis bei einer Europawahl. Die Linke verbessert sich leicht und kommt auf 7 bis 7,5 Prozent. Die Grünen liegen mit 11,5 bis 12 Prozent in der Nähe ihres Rekordergebnisses von 11,9 Prozent vor fünf Jahren. Die erstmals bei einer Europawahl antretenden Freien Wähler schafften den Sprung ins Europaparlament nicht. Rechtsextreme Parteien spielten so gut wie keine Rolle.
„Das ist für uns ein schwieriger Abend“, sagte der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering nach Bekanntwerden der Prognose. „Das Ergebnis ist deutlich schlechter als erhofft“, sagte Müntefering. „Wir sind sehr enttäuscht“, sagte auch das SPD-Vorstandsmitglied Andrea Nahles. Sie sagte aber, Kanzlerin Merkel könne „kontinuierlich nicht gewinnen“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel stimmte die Unionsparteien schon vor Schließung der Wahllokale am Sonntag auf Verluste bei der Europawahl ein. „Vor fünf Jahren hatten wir eine außergewöhnliche Situation“, sagte die CDU-Vorsitzende der Bild am Sonntag auf die Frage, ob CDU und CSU wieder ein Ergebnis über 40 Prozent erzielen würden. Bei der Europawahl 2004 waren die Unionsparteien zusammen auf 44,5 Prozent der Stimmen gekommen. Die SPD stürzte auf 21,5 Prozent ab. Die Grünen kamen auf 11,9 Prozent, die FDP auf 6,1 Prozent und die Linke – damals noch die PDS – auf 5,8 Prozent. Merkel verwies darauf, dass die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder seinerzeit wegen ihrer Arbeitsmarktreformen massiv in der Kritik gestanden und deshalb ein „außergewöhnlich schlechtes Ergebnis“ erzielt habe. „Von der Schwäche der SPD konnte die Union als damals größte Oppositionspartei überdurchschnittlich profitieren“, sagte Merkel.
Freude dagegen gab es bei den drei kleinen Parteien. „Wir haben ein sehr starkes Ergebnis. Und wir sind von einem hohen Niveau gekommen“, sagte der Grünen-Parteivorsitze Cem Özdemir. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Andreas Pinkwart sagte, dies sei ein „historisches Spitzenergebnis“. FDP-Parteichef Guido Westerwelle sagte: „Keine Partei hat so zugelegt wie wir.“ Petra Pau, Mitglied im Fraktionsvorstand der Linkspartei, sagte, sie freue sich, dass keine rechtsextreme Partei aus Deutschland ins Europaparlament gewählt wurde.
Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl in Deutschland war erneut schwach. Bei oft regnerischem Wetter blieb die Zahl der Wählerinnen und Wähler in vielen Teilen des Landes nach Angaben der Wahlleiter hinter der Beteiligung im Jahr 2004 zurück. Bis gestern Nachmittag gaben 20,2 Prozent der Wahlberechtigten und damit geringfügig weniger als bei der letzten Abstimmung vor fünf Jahren ihre Stimme ab, wie der Bundeswahlleiter mitteilte. Bei der letzten Europawahl hatten zum selben Zeitpunkt 20,4 Prozent der Wahlberechtigen abgestimmt. 2004 gingen 43 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl. 1994 gab es immerhin noch eine Wahlbeteiligung von 60 Prozent, während sie 1999 auf 45,2 Prozent einbrach.
In der Bundesrepublik waren am Sonntag insgesamt 64,3 Millionen Wahlberechtigte zur Stimmabgabe aufgerufen, darunter 62,2 Millionen Deutsche und 2,1 Millionen hier lebende EU-Ausländer. Sie wählten 99 Abgeordnete für das Europaparlament. Dafür bewarben sich insgesamt 1.196 Kandidaten aus 32 Parteien und Gruppierungen, wovon 30 Bundeslisten aufgestellt hatten. Mit 99 Politikerinnen und Politikern stellt Deutschland als größter EU-Staat die meisten Abgeordneten.
Neben den Europawahlen fanden noch Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen statt. | THILO KNOTT | EUROPAWAHL Die CDU verliert Prozente – und siegt trotzdem. SPD stagniert erneut auf historischem Tief. CSU schafft es ins europäische Parlament. FDP, Grüne und die Linkspartei gestärkt | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,478 |
Mr. Doc entschuldigt sich - taz.de | Mr. Doc entschuldigt sich
Land Of The Free (1): Angst vor der Gesundheitsreform? Sie waren wohl noch nie bei einem US-Frauenarzt
Beim Annual Check-up, also der jährlichen Vorsorgeuntersuchung zur Krebsfrüherkennung, muss frau in den USA zuerst einmal bezahlen. Wer nicht vorab per Kreditkarte den $20-Krankenkassen-Eigenbetrag überweist, kann direkt wieder gehen.
Urinproben, die in Deutschland zur Routine gehören, interessieren hier nicht. Stattdessen bringt eine Krankenschwester die Patientin direkt in ein enges, fensterloses Behandlungszimmer, wo außer einem Spreizstuhl kein Platz für weitere medizinische Geräte ist. Ist auch nicht nötig, denn die daheim obligatorische Ultraschalluntersuchung entfällt ebenfalls.
Auf die Frage, ob man sich zunächst oben oder unten „freimachen“ soll, lacht die Arzthelferin schallend. „Baby, this is America“, sagt sie und holt ein gefaltetes Papierpaket aus dem Hängeschrank, das sich als ein überdimensionalisierter weißer Wickelumhang entpuppt. Dann schließt sie die Tür von außen mit der Anweisung, erst wieder zu öffnen, wenn man untersuchungsbereit sei.
Der Supersize-Papierkittel, dreimal um den nackten Leib gewickelt, raschelt und kitzelt bei jeder Bewegung, dafür ist bestimmt kein Stück unzüchtiger Haut mehr zu sehen. Als der Arzt endlich den Behandlungsraum betritt, löst sich der Umhang unter den Achseln bereits in durchgeweichte Zellulosepartikel auf, denn eine Klimaanlage gibt es in der Praxis nicht.
Mr. Doc, ein graumelierter Herr in den 50ern, stellt sich nicht vor, aber er entschuldigt sich. Die Untersuchung werde leider „very uncomfortable“, sehr unangenehm werden, sagt er und verschwindet in den ungeahnten Tiefen des Wickelumhangs. Statt einfach zu erklären, dass er die Standarduntersuchung von Vagina und Gebärmutter durchführt, schallt es dumpf zwischen den Beinen hervor, dass er weiterhin „very sorry“ sei, sich aber beeile und verspreche, dass die Unannehmlichkeiten schnell vorbei seien.
Dass die Amis in Sachen Sex total verklemmt sind, ist bekannt. Aber dass sich selbst ein Frauenarzt mit 30-jähriger Berufserfahrung bei der Genitaluntersuchung so peinlich aufführt wie ein pubertierender Halbstarker, das verwundert dann doch.
Wer trotz dieser puritanischen Untersuchungs-Erfahrung auch jetzt noch nordeuropäisch-freizügig-unverkrampft im Spreizstuhl liegt, verliert spätestens dann die Fassung, wenn der Arzt vor lauter Verhüllung die Brüste nicht mehr finden kann und sich hilflos durchs Papierkostüm wühlt. Blickkontakt vermeidet er um jeden Preis und rot wird er noch dazu, als er die Brüste endlich doch zu fassen bekommt.
Um die Patientin abzulenken (oder vielleicht eher sich selbst?), erzählt er zum Abschluss schnell noch von Mark Twains lustigem Essay über die schreckliche deutsche Sprache, die sich für Amerikaner anhöre wie Gänsefürze, und damit ist der Annual Check-up so abrupt vorbei, wie er begonnen hat. Mr. Doc verlässt fluchtartig den Behandlungsraum und frau schwört sich, die nächste Kontrolluntersuchung garantiert erst beim kommenden Heimaturlaub in Deutschland durchführen zu lassen.KIRSTEN GRIESHABER
Unter dem Titel „Land Of The Free“ berichtet Kirsten Grieshaber unregelmäßig über den Alltag in New York City | KIRSTEN GRIESHABER | Land Of The Free (1): Angst vor der Gesundheitsreform? Sie waren wohl noch nie bei einem US-Frauenarzt | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,504 |
Rebellen in Goma: Kongos Regierungsarmee kapituliert - taz.de | Rebellen in Goma: Kongos Regierungsarmee kapituliert
In Ostkongos wichtigster Stadt Goma haben die Rebellen von General Nkunda die Regierungstruppen dazu gebracht, ihre Waffen niederzulegen. Zehntausende Menschen sind auf der Flucht.
Die Flucht Zehntausender geht weiter - denn das Vertrauen in die Rebellen ist gering. Bild: ap
Die Menschen in Goma staunen. Am Mittwochnachmittag hat Kongos Regierungsarmee in der wichtigsten Stadt im Osten der Demokratischen Republik Kongo die Waffen gestreckt. "Sie sind dabei, die Stadt zu räumen, und das sogar ziemlich diszipliniert", wundert sich ein Augenzeuge. Er hat einen Militär gefragt, was das soll, und zur Antwort bekommen: "Das ist ein politischer Krieg, und die Politik besteht darin, dass wir kein Geld haben und nichts zu essen. Und da sollen wir kämpfen?"
Erst am Wochenende hatten die Kämpfer der von Tutsi-General Laurent Nkunda geführten Rebellenbewegung CNDP (Nationalkongress zur Verteidigung der Demokratie) mit ihrer neuen Offensive in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu begonnen. Schon am Dienstag räumte die Regierungsarmee kampflos und plündernd die Distrikthauptstadt Rutshuru 80 Kilometer nördlich von Goma. Jetzt, unter der Rebellenherrschaft, sei in Rutshuru alles ruhig, erzählt der dort residierende traditionelle König der kongolesischen Hutu, Mwami Paul Ndeze, der aus Goma heraus Telefonkontakt mit seinem Hof hält. "Die ,Anderen' spazieren in der Stadt herum", berichtet er über die CNDP-Kämpfer. "Wir warten, dass sie uns sagen, was sie vorhaben." Die Hutu von Rutshuru trauen den Tutsi der CNDP nur wenig - aber einzelne geflohene Stadtbewohner wagen sich jetzt zurück.
Der König von Rutshuru hofft, dass Kongos Regierung jetzt Verhandlungen zustimmt: "Wenn es keine militärische Lösung gibt, lautet die Alternative Dialog." Die internationale Gemeinschaft müsse das durchsetzen: "Die Regierung akzeptiert alles, was die internationale Gemeinschaft fordert."
Die internationale Gemeinschaft fordert allerdings derzeit überhaupt nichts, sondern scheint wie gelähmt. Auf einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York am Dienstagabend verhallte ein Appell der UN-Blauhelmabteilung, ihre Kongo-Mission Monuc - mit 17.000 Soldaten bereits die größte der Welt - weiter aufzustocken, ungehört. Monuc-Chef Alan Doss sagte, man werde den Sturz der Regierung des Kongo nicht zulassen. Von der Verteidigung der Städte Ostkongos war keine Rede mehr.
Die kampflose Räumung Gomas war bereits seit Dienstag im Gespräch. UNO und Hilfswerke evakuierten alle "nichtessentiellen" ausländischen Mitarbeiter über die nahe Grenze nach Ruanda. Zugleich flogen UN-Hubschrauber am Dienstagabend und am Mittwochvormittag Luftangriffe auf die Rebellen um Kibumba, 20 Kilometer nördlich von Goma. Aber die Regierungstruppen, so ein Augenzeuge, stellten gestern am frühen Nachmittag das Kämpfen ein und wollten Geld, bevor sie weiterschießen. Später gaben sie ganz auf.
Die Rebellen scheinen vom Zusammenbruch des Gegners überrascht. Noch vormittags hatte CNDP-Sprecher René Abandi der taz erklärt: "Wir haben noch nicht entschieden, Goma einzunehmen, aber alles ist möglich. Wenn wir Goma einnehmen, ist das humanitäre Drama innerhalb einer Woche beendet. Andererseits kann es auch ein Blutbad geben, wenn sich die Monuc (UN-Mission im Kongo) einmischt." Am besten wären jetzt sofortige Verhandlungen. "Wir können die Revolution jederzeit unterbrechen, wenn die Regierung in Kinshasa Verhandlungen in einem neutralen Land zustimmt."
Unmittelbar aber stehen die Rebellen vor der Herausforderung, das Machtvakuum im 500.000 Einwohner zählenden Goma zu füllen. Das Überleben von über einer Million Kriegsvertriebenen in Nord-Kivu hängt davon ab. | Dominic Johnson | In Ostkongos wichtigster Stadt Goma haben die Rebellen von General Nkunda die Regierungstruppen dazu gebracht, ihre Waffen niederzulegen. Zehntausende Menschen sind auf der Flucht. | [
"Afrika",
"Politik",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,546 |
Passkontrolle am Flughafen Istanbul: Das große Zittern - taz.de | Passkontrolle am Flughafen Istanbul: Das große Zittern
Bei der Passkontrolle am Istanbuler Flughafen schwitze ich jedes Mal Blut und Wasser. Denn ich weiß: Mit türkischen Bullen ist nicht zu spaßen.
Allzeit präsente Machthaber: der Flughafen Istanbul bei seiner Eröffnung im Jahr 2018 Foto: dpa / Ahmed Deeb
Nach der Landung auf dem Istanbuler Flughafen gebe ich bei der Polizeikontrolle meinen Pass ab und schon geht das große Zittern los. Wenn man kein großer Sympathisant der dortigen Regierung ist, kann es leicht passieren, dass man plötzlich als Vaterlandsverräter, als Terrorist, als Gülenist, als Putschist und noch ungefähr ein Dutzend weiterer Extremisten beschuldigt werden kann.
Die beiden Polizisten in dem kleinen Holzhäuschen vor mir wissen natürlich, dass die armen Kreaturen, die an ihnen vorbeigeschleust werden, alle eine Höllenangst haben, und lassen sie bei der Passkontrolle möglichst lange Blut und Wasser schwitzen.
Mit aufgerissenen Augen starrt der Bulle unendlich lange auf seinen Computer, blättert dann wieder in meinem Pass herum, schüttelt bedenklich den Kopf, schlürft einmal an seinem winzigen Teeglas, glotzt mich dann erneut prüfend an, ändert seine Sitzposition und kratzt sich dabei intensiv unterhalb des Tresens. Dann kneift er die Augen zu und schaut den Kollegen neben sich vielsagend an.
Warum sitzt denn dort, in dem ohnehin viel zu kleinen Häuschen, eigentlich noch ein weiterer Polizist, obwohl er offensichtlich nichts zu tun hat? Ist er Praktikant? Ist er der Aufpasser? Oder ist heute Girl’s Day? Für meinen Geschmack hat der Kerl für ein Girl etwas zu dicke, schwarze Schnurrbarthaare, die inzwischen sehr verräterisch vibrieren.
„Hey, wann bekomme ich endlich meinen Pass wieder zurück, du Idiot?“, sage ich selbstverständlich nicht. Das denke ich nicht mal, aus Angst, dass diese selbstmörderischen Wörter meinen Mund unkontrolliert verlassen könnten.
Plötzlich kommt ein Lächeln
Das war doch nur ein Test, um mal kurz die Türkei-Kenntnisse der Leser zu prüfen. Mit türkischen Bullen redet man nicht so. Mit türkischen Bullen redet man am besten überhaupt nicht. Mit türkischen Bullen schweigt man und schwitzt man und hofft inständig, dass dieser Albtraum bald vorüber ist.
Während mich der böse Bulle weiterhin streng und vorwurfsvoll anstarrt, setzt der Girl’s-Day-Bulle unter seinem dicken schwarzen Schnurrbart plötzlich zu einem Lächeln an.
Na, super. Jetzt spielen sie auch noch den lieben und den bösen Bullen mit mir. Sie wollen mit diesem alten Polizeitrick meinen Widerstand brechen. Da ist nichts mehr zum Brechen da, da ich gar keinen Widerstand mehr habe!
Auf einmal, so ganz ohne Vorwarnung, sozusagen quasi aus dem Nichts, schlürft der böse Bulle erneut an seinem Tee. Das heißt ganz bestimmt nichts Gutes! Außerdem ist das ein Novum. In der ganzen langen Geschichte der Gastarbeiter hat noch nie ein Bulle während der Passkontrolle zweimal an seinem Tee geschlürft.
Das war’s! Ich ertrage diese Qualen nicht mehr! Ich gebe alles zu. Ich werde alle Mitglieder unserer kommunistischen Zelle der „Roten-Ford-Transit-Fraktion“ verraten.
In dem Moment schiebt der böse Bulle meinen Pass rüber: „Schönen Urlaub, der Herr.“ | Osman Engin | Bei der Passkontrolle am Istanbuler Flughafen schwitze ich jedes Mal Blut und Wasser. Denn ich weiß: Mit türkischen Bullen ist nicht zu spaßen. | [
"Pass",
"Polizei",
"Istanbul",
"Kolumne Alles getürkt",
"Nord",
"Serie",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,576 |
Zappa lebt!: Der Freund - taz.de | Zappa lebt!: Der Freund
VON VÁCLAV HAVEL
Frank Zappa war während der 70er und 80er einer der Götter des tschechischen Untergrunds. Es war eine Zeit vollständiger Isolation. Die lokalen Rockbands und ihr Publikum wurden von der Polizei gejagt. In dieser Zeit hing Frank Zappa ganz oben in den Himmeln. Er war ein Star, so unerreichbar wie Velvet Underground oder Captain Beefheart. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich ihm eines Tages begegnen würde. Aber kurz nach der Revolution – damals war ich schon Präsident – tauchte Zappa in Prag auf. Er kam in einer Phase, als die Stadt noch vibrierte vor revolutionärer Energie. Eines Tages besuchte er mich auf der Burg.
Wir gingen dann zusammen einen trinken. Er war die erste Rock-’n’-Roll-Berühmheit, die ich in meinem Leben traf. Und zu meiner Freude war er ein ganz normaler Mensch, mit dem ich mich ganz normal unterhalten konnte. Er wollte alles wissen über die radikalen Veränderungen, die gerade in den Staaten des vormaligen Ostblocks vor sich gingen. Was ihn faszinierte und aufregte, war die Idee, dass der Künstler eine Rolle in der aktiven Politik spielen musste. Er dachte ernsthaft darüber nach, unserem Land inoffizielle Unterstützung zukommen zu lassen, und zwar sowohl kulturell als auch ökonomisch. Möglicherweise hat ihn seine Krankheit daran gehindert, die Sache auch praktisch anzugehen. Ich habe Frank Zappa als Freund betrachtet. Wenn mir heute nach Flucht ist, zumindest in Gedanken, denke ich an ihn.
Václav Havel ist Schriftsteller und war Präsident Tschechiens. Diesen Text stellte er der taz zur Verfügung. Er datiert von 1993. | VÁCLAV HAVEL | VON VÁCLAV HAVEL | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,584 |
Die Angst der Führung vor den Frauen - taz.de | Die Angst der Führung vor den Frauen
Die chinesischen Behörden haben das Forum der regierungsunabhängigen Gruppen bei der Weltfrauenkonferenz ausquartiert: Isoliert und 50 Kilometer von Peking entfernt ■ Aus Huairou Sheila Tefft
„Diese Konferenz wird unseren Ort verändern“, sagt ein Bewohner Huairous. „Ich bin nicht davon überzeugt, daß es besser wird.“ Was macht dieses staubige Kaff zum Veranstaltungsort für eine Frauenkonferenz mit 40.000 Aktivistinnen und Journalistinnen aus aller Welt? In Huairou, an der Straße zur Großen Mauer und zu den Minggräbern – zwei der wichtigsten Touristenattraktionen Pekings – gelegen, soll im August und September das Forum der regierungsunabhängigen Organisationen (NGO-Forum) der UN-Weltfrauenkonferenz stattfinden.
Aber Huairou hat nur eine beschränkte Hotelkapazität; es fehlen die technischen Einrichtungen für die Durchführung einer großen Tagung; und der Ort liegt relativ abgelegen, mehr als eine Stunde Fahrzeit auf verstopften Schnellstraßen vom Pekinger Zentrum entfernt.
Das Kino wird als Haupthalle für die Plenumsveranstaltungen des Forums umgebaut, obwohl nur etwa 1.700 Personen hineinpassen. Davor steht ein riesiges Schild mit roten chinesischen Zeichen: „Willkommen bei der Teilnahme an der Entwicklung und dem Aufbau Huairous.“
In der Nähe des Huairouer „Kang De Le Bodybuilding- und Entspannungscenters“ liegt eine große Baustelle, umgeben von einem Drahtzaun, auf dem ein Schild mit roten Schriftzeichen auffordert „Mit allen Kräften in 100 Tagen bereit sein, die Weltfrauenkonferenz zu begrüßen“. Hier wird ein neues sechsstöckiges Viersterne- Hotel gebaut, wo die höherrangigen Delegationen untergebracht werden sollen. Andere Delegierte werden in einfachen Hotels, Schulwohnheimen und allen möglichen weiteren Unterkünften untergebracht werden.
Der Bezirk Huairou verfügt nur über 16.000 Betten, verstreut in 100 Hotels, Wohnheimen und Wohnungen. So werden viele ausländische Delegierte mit Bussen aus Pekinger Hotels transportiert werden müssen.
Gerüchten zufolge sollen die 5.000 chinesischen Delegierten separat untergebracht werden, um ihren Kontakt mit radikalen ausländischen Gruppen zu minimieren.
Im Longshan-Hotel, das sich in der Nähe des Veranstaltungszentrums befindet, sagt eine Angestellte, das Hotel sei im März von der Verlegung des NGO-Forums informiert worden. Die offiziellen Organisatoren des NGO-Forums wurden von dem Schritt erst Anfang April per Fax in Kenntnis gesetzt.
Auf einem Sportplatz hinter dem Viersterne-Hotel soll nach den Plänen der Behörden ein stoffüberdachtes Behelfsstadion für 15.000 Personen gebaut werden, wo die täglichen Plenarsitzungen abgehalten werden sollen. Anders als in dem ursprünglich vorgesehenen Tagungsort, wo die Delegierten nach Belieben zwischen verschiedenen Aktivitäten hätten pendeln können, sind die Veranstaltungsorte in Huairou in dem ganzen Ort verstreut, mehrere Kilometer voneinander entfernt. Es scheinen fast keine Parkplätze eingeplant zu sein.
Beim Verlassen des Ortes kommt man an einem Schild vor bei, auf dem es heißt: „Hoffentlich lieben Sie Huairou“ – eine traurige Botschaft an die NGO-Delegierten, die dort gar nicht hinwollen.
Denn schon jetzt ist klar, das das NGO-Forum in Huairou so recht isoliert vor sich hinwerkeln würde. Gerade deshalb, so vermuten Kritikerinnen, hat die chinesische Regierung diesen Ort ja ausgesucht. Offiziell freilich gaben die Pekinger Behörden eine andere Begründung für die Verlegung des NGO- Forums aus dem Stadtzentrum: Der ursprünglich vorgesehene Veranstaltungsort, das Pekinger Arbeiterstadion und die dazugehörige Sporthalle (ein riesiger Komplex mit genug Platz zum Aufbau von Zelten für die voraussichtlich täglich 200 Veranstaltungen), habe „bauliche Mängel“, die bei einer kürzlichen Inspektion entdeckt worden seien. Dieses Stadion liegt nur wenige Kilometer vom zentralen Tagungszentrum entfernt, in dem die offizielle UNO-Frauenkonferenz stattfinden wird.
Es folgte ein Sturm der Entrüstung. Die chinesische Regierung wolle den Handlungsspielraum der Teilnehmerinnen beschränken, argwöhnten Kritikerinnen. Man wolle verhindern, daß es zu einem engen Zusammenwirken zwischen den beiden Konferenzen und reger Lobbyarbeit kommt, so wie das bei den letzten großen UNO-Konferenzen üblich geworden ist.
Westliche Diplomaten sagen, daß Premierminister Li Peng die Verlegung des NGO-Forums vorantrieb, nachdem er die NGO- Gruppen beim Kopenhagener UNO-Sozialgipfel in Aktion gesehen hatte. Es muß den chinesischen Politikern eine schreckliche Vision gewesen sein, tausende Frauen aus aller Welt durch die Straßen der chinesischen Hauptstadt ziehen und Menschenrechte, Verbot von Abtreibung, offenes lesbisches Leben und die Unabhängigkeit Taiwans und Tibets fordern zu sehen.
Die Veranstaltung droht zu einer von Kontroversen überschatteten Enklave zu werden, zu einer regelrechten Katastrophe in Sachen Public Relations. Der chinesische Versuch, mit der Ausrichtung der Weltfrauenkonferenz das internationale Image aufzumöbeln, scheint schon jetzt gescheitert.
„Diese Kontroverse wird den wirklichen Zweck des Treffens überlagern, die Frauenbewegung und die Probleme der Frauen darzustellen“, sagt eine westliche Diplomatin. Sie erinnerte auch daran, daß Peking vor zwei Jahren nur knapp bei der Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Spiele für das Jahr 2.000 gescheitert ist. „Die einzige klare Lektion ist, daß China noch nicht bereit ist, eine wichtige internationale Konferenz durchzuführen.“
Die Organisatorinnen des NGO-Forums haben im April ein Team nach Peking geschickt, um die chinesischen Behörden umzustimmen, aber vergeblich. Und obwohl inzwischen auch einige Regierungen gegen die Verlegung des Forums protestieren, gar den Boykott der offiziellen Konferenz androhen, und UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali einen Vermittler nach Peking geschickt hat, sind die chinesischen Behörden offensichtlich nicht in Verhandlungslaune. Die Vorbereitungen in Huairou laufen in aller Hektik weiter. | Sheila Tefft | Die chinesischen Behörden haben das Forum der regierungsunabhängigen Gruppen bei der Weltfrauenkonferenz ausquartiert: Isoliert und 50 Kilometer von Peking entfernt ■ Aus Huairou Sheila Tefft | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,587 |
Bahnexperte über ÖPNV und Corona: „Testpflicht ist nicht praktikabel“ - taz.de | Bahnexperte über ÖPNV und Corona: „Testpflicht ist nicht praktikabel“
Bahnfahren muss auch in der Pandemie attraktiv bleiben, sagt Bastian Kettner vom ökologischen Verkehrsclub. Testen hindere die Mobilität.
Wie geht sicheres Reisen mit der Bahn? Foto: Paul Langrock
taz: Herr Kettner, während der Pandemie sind viele Reisende von der Bahn auf das Auto umgestiegen. Warum?
Bastian Kettner: Viele Menschen denken beim Bahnfahren vor allem an überfüllte Züge und haben Angst vor einer Infektion. Öffentliche Verkehrsmittel haben da zum Teil ein schlechtes Image. Dabei haben Untersuchungen ergeben, dass die Ansteckungsgefahr im Zug und im öffentlichen Nahverkehr nicht höher ist als an anderen öffentlichen Orten.
Vorausgesetzt, die Abstände werden eingehalten und alle Fahrgäste tragen eine Maske.
Richtig, aber gerade im Fernverkehr achtet die Bahn darauf, dass bei Reservierungen nur jeder zweite Platz angeboten wird, sodass die Abstandsregelungen eingehalten werden können.
In Frankreich müssen Reisende in Fernzügen nachweisen, dass sie entweder geimpft, getestet oder genesen sind. Wäre das auch in Deutschland sinnvoll?
Ich stelle mir das schwierig vor. Wenn ich täglich mit der Bahn unterwegs bin und für jede Fahrt einen Gesundheitstest vorlegen muss…. Das ist doch nicht praktikabel.
Aber in Restaurants gab es das ja auch. Und ein Schnelltest wäre bereits ausreichend.
Ein zu Hause durchgeführter Antigentest würde aber nicht anerkannt werden. Ich muss also zu einer offiziellen Teststelle gehen. Das würde die Menschen in ihrer Mobilität erheblich einschränken. Gerade im Pendelverkehr ist es nicht angebracht, das zu fordern. Wichtiger ist, dass die Abstände eingehalten werden.
Wie lässt sich das sicherstellen? Trotz der geringeren Fahrgastzahlen kommt es ja gelegentlich zu vollen Zügen.
Da können die Zugbegleiter:innen eine wichtige Rolle spielen, indem sie Fahrgäste darauf hinweisen, dass eben auch in anderen Teilen des Zuges noch Platz ist. Es kann auch sein, dass Züge so voll sind, dass die Abstandsregelungen nicht mehr gewährleistet werden können. Dann ist es wichtig, dass die Maske getragen wird, Desinfektionsmittel bereitsteht und es die Möglichkeit gibt, Masken beim Zugpersonal zu kaufen.
Halten Sie eine Reservierungspflicht für sinnvoll?
Nein, wir lehnen eine Reservierungspflicht ab, weil das immer ein Einschnitt in die Mobilität bedeutet. Wir stehen dafür ein, dass Menschen auch spontan die Bahn benutzen können. Das Problem einer Reservierungspflicht besteht darin, dass die Menschen dann vor allem in den Zügen reservieren, bei denen die Auslastung ohnehin schon relativ hoch ist. Menschen mit Flexticket wären dann eingeschränkt.
Was muss die Bahn tun, um die Sicherheit zu erhöhen und Bahnfahren auch jetzt attraktiv zu machen?
Eine gute Möglichkeit wäre es, die Auslastungsanzeige auf der Homepage zu verbessern. Da ist aktuell keine Echtzeitdarstellung möglich, die Daten beruhen auf den Buchungen und Erfahrungswerten. Wichtig ist auch, dass die Kapazitäten nicht zurückgefahren werden.
im Interview:Bastian KettnerJahrgang 1991, ist Sprecher für Bahn, ÖPNV und Multimodalität beim ökologischen Verkehrsclub Deutschland.
Jetzt haben wir viel über den Fernverkehr geredet, aber auch auf kurzen Strecken sind viele Menschen auf das Auto umgestiegen. Wie lassen sich diese Fahrgäste wieder zurückgewinnen?
Im Nahverkehr gilt zum Teil das, was auch im Fernverkehr gilt. Die lokalen Verkehrsunternehmen sind in der Pflicht, die Reinigungsintervalle zu verdichten und die Kapazitäten auszubauen.
Manche Virolog:innen gehen davon aus, dass Corona nie ganz verschwinden wird. Wie kann Bahnfahren dennoch attraktiv bleiben?
Wir brauchen eine Zukunftsvision für den ÖPNV. Da ist zum einen die Frage mit der Maskenpflicht. Momentan ist es natürlich angezeigt, daran festzuhalten. Das kann sich aber auch ändern. Zum anderen brauchen wir eine Investitionsoffensive. Denn der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel braucht natürlich Geld. Das sehe ich die Politik in der Verantwortung. | Kathrin Becker | Bahnfahren muss auch in der Pandemie attraktiv bleiben, sagt Bastian Kettner vom ökologischen Verkehrsclub. Testen hindere die Mobilität. | [
"Öffentlicher Nahverkehr",
"ÖPNV",
"Pandemie",
"Bahnfahren",
"Deutsche Bahn",
"Coronavirus",
"Verkehr",
"Öko",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,591 |
Emojis und andere Widrigkeiten: Wasserpistole ja, Stagediving nein - taz.de | Emojis und andere Widrigkeiten: Wasserpistole ja, Stagediving nein
Welches Emoji passt zu wem? Und zu einem selbst? Eine Frage, die viel existenzieller ist, als es zunächst aussieht.
Rund 3500 Emojis sind gerade im Unicode und die einzige Schusswaffe ist eine Wasserpistole Foto: Westeind61/imago
Kürzlich fiel ich mal wieder in einen Abgrund des digitalen Lebens. Jemand erzählte mir, eigentlich beiläufig, sich jetzt endlich, endlich für ein Signature- Emoji entschieden zu haben. Ähm, was? Dachte ich erst. Bis ich eine Sekunde später verstand: Ein Emoji, das man unter Messenger-Nachrichten setzt, wenn sich gerade kein anderes inhaltlich aufdrängt. Und das die eigene Persönlichkeit in der üblichen witzig-nachdenklich-ironisch-beiläufigen Netzansprechhaltung auf den Punkt bringt.
Die Auswahl ist jedenfalls eine echte Herausforderung – und zwar ganz unironisch. Schließlich sind viele Emojis alles andere als eindeutig. Zum Beispiel der Smiley, der kopfüber lächelt. Steht er nun für Ironie? Für Sich-lachend-auf-dem-Boden-kugeln, was nur noch jemand ROFL schreibt, der das Icon für die Emoji-Auswahl noch nicht gefunden hat? Oder wollte die Absenderin einfach nur ein lachendes Gesicht und fand die zahlreichen anderen zu langweilig?
Und wenn schon ein simples Lach-Emoji Zweifel auslösen kann – was ist dann erst mit dem Zwinkergesicht? Den diversen Herzen? Mit der Aubergine? Und der Chili-Schote? Zumal die meisten Emojis unterschiedlich dargestellt werden – je nachdem ob die Nutzer:innen sie im Browser, bei Android, Apple, Facebook, Gmail oder jeweils einem anderen der zahlreichen Dienste verwenden.
Alleine über die unterschiedlichen Darstellungen des Nagellack-Emojis ließe sich eine abendfüllende Debatte führen. Rot, rosa oder lila? Die Hand gerade oder schräg? Und warum ist da eigentlich keine Farbe und Handform, die etwas non-binärer daherkommt?
Da ist es doch viel leichter, Signature-Emojis für andere zu finden. Olaf Scholz zum Beispiel bekommt gleich mal die gute alte Mauer aus roten Backsteinen. Nancy Faeser darf von ihren Innenminister-Vorgängern das Überwachungsauge übernehmen und der FDP-Finanzminister signalisiert mit gekreuzten Armen schon von Weitem, gut sichtbar, sein Nein, bevor er auch nur die Frage gehört hat.
Gespenst versus Roboter
Zu RWE gehörte eigentlich die angezündete Bombe, aber weil das in diesen Zeiten nicht geht, muss das Rauchverbot-Zeichen herhalten. Das 49-Euro-Ticket verdient die Sanduhr, und der Kapitalismus hat längst das Gespenst gegen den Roboter getauscht. Die Erde bekäme das schmelzende Gesicht, daher bleibt für die Wohnungsmärkte der deutschen Großstädte nur das vor Hitze rot angelaufene.
Rund 3.500 Emojis sind gerade im Unicode – umso spannender also zu schauen, was nicht dabei ist. Ein Stagediving-Emoji? Fehlt. Ebenso wie eine Windkraftanlage. Wie soll Robert Habeck da glücklich werden? Auch nicht drin: die Merkel-Raute. Daraus Rückschlüsse auf die digitalpolitische Bedeutung der ehemaligen Kanzlerin zu ziehen ist natürlich unzulässig.
Immerhin: Nicht nur Windkraft ist nicht drin, auch Kohle- und Atomkraftwerke fehlen. Dafür gibt es zwei echte Dinosaurier – die in den meisten Darstellungen eher knuffig als gefährlich aussehen. Und die einzige Schusswaffe ist eine Wasserpistole.
Die Auswahl neuer Emojis trifft übrigens das Unicode-Konsortium. In dem haben vor allem die großen Tech-Konzerne das Sagen. Konzerne also, die in Sachen Algorithmen, Transparenz, Hatespeech und besserer Moderation nur dann aktiv werden, wenn der Druck aus Politik und Gesellschaft doch arg zu groß wird. Wie gut, dass sie da mit knuffigen Dinos und rosarot lackierten Fingernägeln ein bisschen nette Welt spielen können. | Svenja Bergt | Welches Emoji passt zu wem? Und zu einem selbst? Eine Frage, die viel existenzieller ist, als es zunächst aussieht. | [
"Internet",
"Emojis",
"Kolumne Digitalozän",
"Alltag",
"Gesellschaft",
"Serie",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,617 |
Animationsfilm von Charlie Kaufman: Ein Menschlein an unsichtbaren Fäden - taz.de | Animationsfilm von Charlie Kaufman: Ein Menschlein an unsichtbaren Fäden
Charlie Kaufman ist ein Spezialist für Gefühle der Entfremdung und Verlorenheit. In „Anomalisa“ schleicht sich der leise Horror langsam an.
Künstlich und zugleich hyperrealistisch: die Figuren in „Anomalisa“. Foto: PPG
Stellen wir uns folgenden Auftritt für die kommende Oscar-Verleihung vor: Eine animiertes Puppenmännchen im unauffälligen Businessanzug schlurft schweren Schrittes über den roten Teppich. Für den Mann, der sich wie ein Fremdkörper fühlt, und Michael Stone heißt, sehen die Gesichter der extravagant gekleideten Galagäste allesamt identisch aus. Die Mundwinkel sind leicht nach oben geschoben, das Gesicht ist in einem Dauergrinsen erstarrt. Noch dazu sprechen alle mit der gleichen Stimme, geben Floskeln über Hollywood, das Business oder ihren neuen Film zum Besten.
Michael Stone ist der merkwürdig anrührende Held aus „Anomalisa“. Sein Blick scheint von einem Gleichmachervirus infiziert zu sein, das auch auf sein seelischen Befinden schließen lässt. Bei den Oscars ist der liebevoll gestaltete, sehr eigenwillige Puppenfilm von Charlie Kaufman und Duke Johnson nur in der Kategorie bester Animationsfilm nominiert. Es handelt sich um eine große, irritierende, mit der Stop-Motion-Technik gedrehte Entfremdungsfantasie, die allerdings realer als mancher Realfilm ist.
Von Beginn an scheint der graumelierte Michael Stone sich und seinem Leben abhanden gekommen. Der Film begleitet ihn auf eine Geschäftsreise nach Cincinnati. Dort soll Stone, Autor eines Bestsellers über Verkäufer-Kunden-Kommunikation, einen Vortrag auf einem Kongress halten. Aber irgendetwas ist seltsam: Der Taxifahrer, der ihn vom Flughafen ins Hotel bringt, beginnt allzu routinemäßig einen Smalltalk über das Wetter. Die freundliche Begrüßung des Rezeptionisten kommt wie vom Band, während der Barkeeper roboterhaft sein Cocktailangebot aufsagt.
Erst nach einer Weile wird man gewahr, dass in Stones Umwelt alle Menschen dasselbe Gesicht haben und mit derselben männlichen Stimme (Tom Noonan) sprechen. Einschließlich seiner Frau, mit der er telefoniert, und seiner Jugendliebe, die Stone nach langer Zeit in der Hotellobby wiedertrifft. Letztlich ist Stone in dieser Welt schon ein Außenseiter, weil er anders spricht. Synchronisiert wird er von dem britischen Schauspieler David Thewlis, dessen Akzent ihn als Fremdling im amerikanischen Stimmenallerlei kennzeichnet.
Vorsicht! Zerbrechlich!
Ganz langsam beschleicht den Zuschauer ein leiser Horror angesichts der bedrückend gleichförmigen Umgebung. Dieser Animationsfilm kopiert die Welt eines amerikanischen Handlungsreisenden mit einem hyperrealistischen Effekt, der zum Kommentar auf die Eintönigkeit der modernen Zivilisation wird. Hier verströmen das 300-Dollar-Zimmer der gehobenen Hotelkette die sterile Langeweile aller amerikanischen 300-Dollar-Zimmer. Hier sieht die Hotelbar aus, wie alle Hotelbars in globalisierten Großstädten, und hier benehmen sich die Menschen so konform und unpersönlich wie es Dienstleistungscodes und Rollenbilder erfordern.
In seiner Verlorenheit kommt uns der Puppenmann seltsam nahe. Vielleicht ist es gerade seine Künstlichkeit, die ihn so zerbrechlich, verwundbar erscheinen lässt. Einerseits wirkt Stone in seinem Verhalten und Aussehen realistisch. Andererseits ist da diese Furche, die die Stirn vom Rest des Gesichts trennt und ihn wie eine klassische Marionette erscheinen lässt. Ein Menschlein, das von unsichtbaren Fäden durch seinen Alltag gezogen wird, dabei eher funktioniert als lebt.
Dieser Animationsfilm kopiert die Welt eines amerikanischen Handlungsreisenden mit einem hyperrealistischen Effekt, der zum Kommentar auf die Eintönigkeit der modernen Zivilisation wird
Willkommen im vertraut unvertrauten Universum von Charlie Kaufman! Mit „Anomalisia“ nimmt er einen Perspektivwechsel vor. Bisher nahm er in seinen Filmen die Position des Strippenziehers ein. In seinem von Spike Jonze verfilmten Drehbuch zu „Being John Malkovich“ geht es um einen Marionettenspieler, dessen selbstgeschriebene Stücke für das Publikum zu anspruchsvoll und zu melancholisch sind. „Adaption“, die nächste Zusammenarbeit mit Jonze, kreist um einen mehrfach ausgezeichneten Drehbuchautor in der Schaffenskrise. Er wird den konventionellen Vorstellungen der neuen Auftraggeber nicht gerecht, da es in seinem Skript keine richtige Handlung gibt.
Naturgesetze außer Kraft
Mit diesem Film reflektiert Kaufman seine ganz eigene Art des Drehbuchschreibens und Filmemachens. Seine Arbeiten sind versponnene, fantastische Visionen, in denen Liebende Teile ihre Gedächtnisses löschen lassen, um ihre Gefühle neu zu entdecken (“Vergiss mein nicht!“). In denen moderne Bürohäuser über eine 71/2 Etage verfügen, durch deren halbhohe Räume sich die Angestellten mit eingezogenem Kopf bewegen (“Being John Malkovich“).
Es hat eine gewisse Logik, dass Charlie Kaufman so gern mit Spike Jonze und Michel Gondry zusammenarbeitet, weil diese beiden Regisseure in ihren Musikvideos die Naturgesetze außer Kraft setzen, die Welt aus den Fugen geraten lassen, um ihre Bestandteile besser betrachten zu können.
In Kaufmans Universum scheint es ganz normal, wenn eine kleine Tür hinter einem Aktenschrank direkt in den Kopf von John Malkovich führt. So entdeckt der Puppenspieler Craig aus „Being John Malkovich“, dass er die Bewegungen des Schauspielers und dessen Verhalten manipulieren kann. Der Prozess des Strippenziehens – und letztlich des künstlerischen Schaffens – wird auf skurrile Weise zum Thema.
„Anomalisa“Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson. USA 2015, 90 Min.
In „Adaption“ kann man einem Drehbuch bei der Entstehung zu sehen. Das geschriebene Wort verwandelt sich in reale Bilder, die ihre Fiktion, ihre „Gemachtheit“ miterzählen. Nicht anders funktioniert die Künstlichkeit der Puppe in „Anomalisa“. Wir begegnen einem Verfremdungs- und Entfremdungseffekt, der uns auf andere Weise teilhaben lässt.
Eben auch an der nächtlichen Begegnung Michael Stones mit Lisa, dem Mädchen aus der Provinz, das eigens in die große Stadt gefahren ist, um seinen Vortrag zu hören. Mit Stone wird man hellhörig, denn Lisa hat eine andere Stimme. Gesprochen wird sie von Jennifer Jason Leigh, die ihr eine Mischung aus Rauheit und Schüchternheit verleiht. Eine Haarsträhne verdeckt ihre vernarbte Gesichtshälfte. Ohnehin scheint es sich hier um ein verletztes Wesen zu handeln, oder besser, um ein Wesen, das seine Verletzung nicht verdrängt, sondern sein Anderssein zu Sprache bringt und damit aus der Gleichförmigkeit hervortritt. Etwa wenn sie in einem berührenden Moment Cyndie Laupers „Girls just want to have fun“ singt.
Beamen wir uns noch einmal in die Zukunft, zur kommenden Oscar-Verleihung und schrauben uns in die Gehirnwindungen von Charlie Kaufman. Was würde also passieren, wenn der Entfremdungsspezialist einen Oscar-Abend gestalten dürfte? Würde er wie sein Alter Ego, der von Nicolas Cage verkörperte Drehbuchautor in „Adaption“, schwitzend im Wege rumstehen,und von der Prominenz übersehen werden? Würde das Virus von „Anomalisa“ auf die Veranstaltung überspringen?
Vielleicht sieht für die Preisträger tatsächlich alles gleich aus. Ein Star steht auf der Bühne und blickt in einen Saal mit klatschenden Menschen, die alle das gleiche Gesicht machen. | Anke Leweke | Charlie Kaufman ist ein Spezialist für Gefühle der Entfremdung und Verlorenheit. In „Anomalisa“ schleicht sich der leise Horror langsam an. | [
"Animationsfilm",
"Film",
"Kultur",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,635 |
Kampf gegen Corona in Berlins Schulen: Eine echte Luftnummer - taz.de | Kampf gegen Corona in Berlins Schulen: Eine echte Luftnummer
Eltern besorgen für eine Grundschul-Klasse im Oktober auf eigene Faust einen teuren Luftfilter. Einsetzen dürfen sie ihn bis heute nicht.
Zu Weihnachten ein Luftfilter? Daraus wird nichts in Berlin Foto: dpa
BERLIN taz | Die Eltern einer dritten Klasse an der Koppenplatz-Grundschule in Mitte hatten nach den Herbstferien eine Idee: Über private Kontakte konnten sie ein Luftfiltergerät bekommen, das sie gerne im Klassenzimmer aufstellen wollten – „quasi als Spende“, sagt Kirsten Grieshaber, deren Kind in die Klasse geht. Immerhin stiegen die Infektionszahlen zu dem Zeitpunkt im Oktober wieder kräftig an. „Und es gibt einige Kinder aus Risikogruppen in dieser Klasse“, sagt Grieshaber, deren Sohn Asthmatiker ist.
Insofern vermuteten die Eltern, kurzen Prozess machen zu können. Immerhin betont auch die Bildungsverwaltung, Engagement von Eltern in diese Richtung werde „ausdrücklich begrüßt“. Allerdings müsse der Schulträger die Geräte „aus Gründen des Haftungsrechts“ abnehmen.
Inzwischen ist fast Weihnachten. Die Bildungsverwaltung selbst hatte Anfang November den Schulen 4,5 Millionen Euro für die Beschaffung von Filtergeräten zur Verfügung gestellt, als „eine von zahlreichen Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen deutlich einzuschränken“. Allein, der Luftfilter in der 3 b darf noch immer nicht in Betrieb gehen.
Dabei hatte die Leitung der Grundschule mit dem Konrektor sogar einen Beauftragten für Lüftungsfragen ernannt. Und die Eltern hatten wiederholt gebeten, sich doch für die Abnahme des Geräts ans bezirkliche Schulamt als den zuständigen Schulträger zu wenden, wie auch aus einem Mailwechsel hervorgeht, der der taz vorliegt. „Da fragt man sich schon: Warum passiert nichts?“, sagt Grieshaber.
Kirsten Grießhaber, Mutter eines Schülers„Da fragt man sich schon: Warum passiert nichts?“
Noch maximal eine Woche, dann retten sich die Berliner Schulen erst mal in die Weihnachtsferien. Die Frage nach einem funktionierenden Lüftungskonzept an jeder Schule dürfte nach den – möglicherweise um eine Woche verlängerten – Ferien umso drängender werden. Denn der Kampf gegen das Virus wird die Schulen sicher noch bis zu den Sommerferien beschäftigen.
Eine Umfrage der taz in einigen Bezirken ergibt: Wenn alles glattläuft, könnten tatsächlich die ersten Geräte bereits im Januar in Schulen mit schlecht oder gar nicht öffnenden Fenstern ankommen – auch dank eines vereinfachten Ausschreibe- und Vergabeverfahrens. Wobei der Optimismus in den Bezirken angesichts einiger Unwägbarkeiten recht unterschiedlich ausfällt: „Erste Angebote liegen vor. Die Lieferung der Geräte im Januar ist nach jetzigem Sachstand realistisch“, schreibt Pankows Schulstadtrat Torsten Kühne (CDU) knapp. Man gehe „von einer Größenordnung von circa 120 Geräten für 69 Schulen im Bezirk aus.“
Auch in Reinickendorf ist man grundsätzlich optimistisch, die Geräte bis Ende Januar „an maximal 54 öffentliche Schulen ausliefern zu lassen“. Man gehe von einem Durchschnittspreis von 3.000 Euro pro Filtergerät aus, schreibt das Schulamt – das reiche, um jene Schulen auszustatten, bei denen eine Abfrage im November ergeben habe, dass Fenster oder Türen klemmen.
Die 4,5 Millionen Euro werden jedoch anteilig je nach SchülerInnenzahl auf die Bezirke verteilt – nicht nach dem abgefragten Bedarf in den Bezirken. Ob das Geld tatsächlich reicht, wird sich also vermutlich erst im Laufe des Februars herausstellen. Neuköllns Bildungsstadträtin Karin Korte (SPD) hatte bereits im November angemerkt, ob die Filter reichten, müsse man erst noch sehen.
Auch in Mitte, wo die Koppenplatz-Grundschule steht, formuliert man etwas vorsichtig: „Eine detaillierte Zeitangabe zur Beschaffung (und Anzahl der Geräte) kann erst nach Ablauf der Angebotsfrist und Wertung der eingereichten Angebote erfolgen“, schreibt Schulstadtrat Carsten Spallek (CDU). Zudem seien die „Lieferfristen/-kapazitäten der Hersteller relevant“. Mit anderen Worten: Sicher ist noch gar nichts.
Harter LockdownDer Weg Am Sonntag beraten Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten über einen harten Lockdown über den Jahreswechsel. Am Dienstag will Berlins Senat über dessen Umsetzung entscheiden.Die Vorgaben Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) geht von einem dreiwöchigen harten Lockdown ab dem 20. Dezember aus. Dafür solle der Einzelhandel „deutlich“ heruntergefahren werden, so Müller im ZDF. Was die Schulen angeht, sei „ganz klar: Bis zum 10. Januar wird es keinen Präsenzbetrieb geben.“ Ob die Ferien nach dem 4. Januar verlängert werden oder nur digital unterrichtet wird, ist noch unklar. Kitas sollen offen bleiben. (dpa, taz)
Immerhin an der Grundschule am Koppenplatz gibt es Bewegung. In einem wochenlangen Mailwechsel konnten die Eltern der Schulleitung nicht viel mehr abringen als die Antwort, man bitte die Eltern um Geduld, da „der Dienstweg“ eingehalten werden müsse. Zuvor hatte eine Anfrage der taz beim Schulamt ergeben, dass genau das zunächst offenbar nicht geschehen war. Für Kirsten Grieshaber und andere Eltern ist das zögerliche Vorgehen unverständlich: „Angesichts der Infektionszahlen wünscht man sich da schon ein beherzteres Vorgehen.“
Nun kümmert sich die Schulleitung: „Selbstverständlich“ habe man „alle Anfragen bzgl. spezieller Luftfiltermodelle dem Schulträger zur Überprüfung vorgelegt“, schreibt Schulleiterin Iljana Lott am Freitag. Und: Man erwarte jetzt „eine zeitnahe Rückmeldung“. | Anna Klöpper | Eltern besorgen für eine Grundschul-Klasse im Oktober auf eigene Faust einen teuren Luftfilter. Einsetzen dürfen sie ihn bis heute nicht. | [
"Bildungssenatorin",
"Grundschule",
"Eltern",
"Coronavirus",
"Berlin",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,650 |
Diskussion um BPK-Mitglied: Bühne für Verschwörer - taz.de | Diskussion um BPK-Mitglied: Bühne für Verschwörer
Der frühere Online-Chef von RT Deutsch wurde in die Bundespressekonferenz aufgenommen. Dagegen äußern bestehende Mitglieder nun Bedenken.
Seit 1949 findet die Bundespressekonferenz regelmäßig statt Foto: Florian Gaertner/photothek/imago
Für die Bundespressekonferenz (BPK) ist es die Diskussion Reitschuster 2.0. Nach heftigen Auseinandersetzungen im vergangenen Jahr um den rechten Blogger Boris Reitschuster gibt es im Verein der Hauptstadtkorrespondent:innen eine neue Kontroverse. Diesmal im Mittelpunkt: Florian Warweg, früherer Online-Chef des russischen Propagandamediums RT Deutsch. Er arbeitet seit Juni für den vom früheren SPD-Politiker Albrecht Müller herausgegebenen Blog Nachdenkseiten, in dem regelmäßig eine angebliche „Meinungsmache“ der etablierten Presseorgane angeprangert wird und öffentlich-rechtliche Medien als „Propagandamaschinerie“ diffamiert werden.
Der Mitgliedsausschuss der BPK hat vor ein paar Tagen die Aufnahme des Bewerbers Warweg beschlossen. Seither läuft eine zehntägige Einspruchsfrist. Bis Mitte dieser Woche haben sechs Mitglieder ihre Bedenken vorgetragen, unter ihnen auch der Autor dieses Textes, der seit 1994 Vereinsmitglied ist. Gestritten wird um die Frage: Was hat ein Kreml-Propagandist in einem Verein zu suchen, der sich laut Satzung einer „an Tatsachen orientierten und fairen Vermittlung von politischen Informationen, Aussagen und Positionen“ verpflichtet fühlt? Problematisch an dem Fall ist dabei allerlei: das frühere Medium von Warweg, das heutige Medium von Warweg und Warweg selbst.
Die BPK ist ein traditionsreicher Verein, 1949 in Bonn gegründet. Die zentrale Idee: Politker:innen und Sprecher:innen kommen als Gäste der Journalist:innen – wird bis heute fortgeführt. Um den neuen Konflikt um Warweg zu verstehen, lohnt der Rückblick ins vergangene Jahr, als unter anderem der Blogger Reitschuster Unruhe ins Geschehen brachte. Ihm wurde vorgeworfen, die Pressekonferenzen immer wieder als Bühne für Verschwörungsideologien zu nutzen.
Mehr als 60 Mitglieder schrieben damals einen offenen Brief. Sie warnten vor einer drohenden Eskalation. Unter anderem hieß es: „Die Bundespressekonferenz ist ein Ort der Pressefreiheit. Wer sie für propagandistische Zwecke und für die Verbreitung von Verschwörungsmythen und Desinformationen benutzt, für Polarisierung und Profilierung, hat keinen Platz.“ Die Rede war sogar davon, dass „Kolleginnen und Kollegen während ihrer Arbeit öffentlich und physisch attackiert wurden“.
Reitschuster 2.0
Namen der Kritisierten wurden in dem Brief nicht genannt. Allerdings verstanden ihn viele, wohl nicht zu Unrecht, als Anspielung sowohl auf Reitschuster als auch auf Warweg, der damals als Mitglied des Vereins der Ausländischen Presse (VAP) an den Pressekonferenzen teilnahm. Die BPK diskutierte auf ihrer Mitgliederversammlung ausführlich. Im Ergebnis wurden die Vereinsziele in der Satzung präzisiert und die Rolle beim „freiheitlichen, kritischen und unabhängigen Diskurs in der demokratischen Öffentlichkeit“ betont. Zuvor war als Vereinszweck lediglich benannt worden, Pressekonferenzen zu veranstalten und den Mitgliedern so „Möglichkeiten einer umfassenden Unterrichtung der Öffentlichkeit zu verschaffen“.
Ein Ausschlusskriterium für Reitschuster war die Satzungsnovelle nicht. Der musste den Verein in diesem Jahr deshalb verlassen, weil er nach Montenegro umgezogen ist. Und ein Kriterium gegen die Aufnahme von Warweg, so die Prüfung des Mitgliedsausschusses, ist die veränderte Satzung offenbar auch nicht. „Meinungspolizei“ oder „Gesinnungs-TÜV“ will die BPK nicht sein, heißt es aus der Führung.
Aber sieht der Verein nicht die Gefahr, vor der beispielsweise Pia Lamberty warnt? Die Expertin für Verschwörungsmythen sagt der taz: „Die Nachdenkseiten sind immer wieder dadurch aufgefallen, mindestens verschwörungsideologisches Geraune zu verbreiten, und erfüllen damit eine Art Scharnierfunktion.“ Wenn nun der frühere Online-Chef von RT Mitglied werden solle, sei das „durchaus besorgniserregend“. Er erfahre so eine Aufwertung und könne seine Narrative setzen. „Darauf sollte die BPK vorbereitet sein.“
Gewarnt ist die BPK. Im Februar 2021 schickte der Journalist und Autor Manfred Quiring, unter anderem früherer Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung und der Welt, einen Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung und bedankte sich, dass das Blatt beleuchtet hatte, wie sich „obskure Journalisten über die demokratische Institution der Bundespressekonferenz hermachen“. In dem damals erschienenen „gut recherchierten Stück“ seien die „subversiven Methoden solcher Leute wie Boris Reitschuster (Blogger) oder Florian Warweg (RT.de)“ aufgedeckt worden, „die versuchen, die in ihrer Art weltweit einzigartige Einrichtung zynisch für ihren Kampf mit der Demokratie in Deutschland zu missbrauchen“.
Gespaltene Ansichten
Der Publizist Wolfgang Storz, von 1985 bis 1996 als Parlamentskorrespondent der Badischen Zeitung in Bonn BPK-Mitglied, stört sich vor allem daran, dass die Nachdenkseiten erstmals im Verein der Parlamentskorrespondent:innen vertreten sein wollen. „Journalismus ist unter anderem: Vielfalt an Perspektiven, Meinungen, Interessen darstellen, vollständig informieren. Die Nachsdenkseiten pflegen das Gegenteil: Meinungsmache, mit dem Handwerkskasten des Journalismus. Ich finde: In die BPK gehört, will sie ihre Autorität behalten, jedoch nur Journalismus“, sagt Storz der taz.
Ein Geheimnis haben die Nachdenkseiten aus ihrer Agenda nie gemacht. Im Oktober 2021 schrieb Herausgeber Müller: „Wir sind umgeben von Propaganda, von gezielter Propaganda – für das Impfen, gegen die Russen“. Er bezweifelte, dass „unsere eigenen Medien einigermaßen plural und kritisch wären“. Und lobte RT Deutsch. Ohne den Sender „wären wir noch schlechter informiert“. Die Amadeu-Antonio-Stiftung ordnete die Nachdenkseiten in einer vor einem Jahr erschienenen Analyse den „linken Verschwörungsideolog:innen“ zu und warf dem Blog unter anderem vor, die „Glaubensgrundsätze um die Machenschaften des, tiefen Staates“ zu teilen.
In der BPK sind manche der Ansicht, dass der Verein auch ein Neumitglied Warweg aushalten kann – und muss. Ein Mitglied, das namentlich nicht genannt werden möchte, widerspricht: „Es besteht durchaus die Gefahr, dass Verschwörungsmythen und Desinformationen verbreitet und am Ende auch normalisiert werden durch Leute wie Warweg oder früher Reitschuster.“ Sollte Warweg doch aufgenommen werden, liege es aber „auch an den anderen Mitgliedern selbst, durch Präsenz und eigene Fragen in den Pressekonferenzen die Deutungshoheit nicht diesen Akteuren zu überlassen“.
Eine Kollegin regt an, auf Paragraf 14 der Vereinssatzung zu schauen, wonach ein Mitglied ausgeschlossen werden kann, wenn es „den Zweck des Vereins gefährdet oder dessen Ansehen oder Belange schädigt“. Vielleicht geht die Sache am Ende sogar vor Gericht. Warweg selbst will sich auf taz-Anfrage zu dem laufenden Verfahren um seinen Aufnahmeantrag nicht äußern: Sobald er die Bestätigung der BPK erhalten habe, melde er sich gerne, schreibt er. | Matthias Meisner | Der frühere Online-Chef von RT Deutsch wurde in die Bundespressekonferenz aufgenommen. Dagegen äußern bestehende Mitglieder nun Bedenken. | [
"Bundespressekonferenz",
"Verschwörung",
"Amadeu-Antonio-Stiftung",
"GNS",
"Medien",
"Gesellschaft",
"Feed",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,715 |
Der vergängliche Reiz der Städte: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort - taz.de | Der vergängliche Reiz der Städte: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Der Hype ist weitergezogen: Leipzig hat gerade das, was Berlin verliert. Doch die, die schon da sind, haben Angst vor jenen, die kommen.
Leipzig boomt, braucht also eine U-Bahn. Und voll ist es auch schon. Bild: dpa
Südlich von Berlin liegt eine Stadt, die sich vor ihrer Stärke fürchtet. Die Stadt heißt Leipzig. Und weil es um Angst geht, speziell um die Angst, etwas zu verlieren, sollte man, wenn man über Leipzig spricht, auch an die Schweiz denken.
Das kleine, schöne, aber manchmal unheimliche Land hat neulich ein verräterisches Wort hervorgebracht: „Dichtestress“. Mit Dichtestress bezeichnen dort Zuwanderungsgegner das Gefühl, ihr Land sei überfüllt; die Städte seien überfüllt, die Züge, die Autobahnen. Alles zu voll.
Es folgte eine Volksabstimmung, bei der sich eine knappe Mehrheit der Schweizer für eine drastische Begrenzung weiterer Zuwanderung aussprach. Man könnte sagen: Ein Land verschafft sich Platz – in einem kollektiven Akt von Stressabbau.
Es gibt tatsächlich ein Platzproblem in der Schweiz: Im Mittelland, zu dem die Städte Zürich, Bern, Genf und Lausanne gehören, leben rund 430 Menschen pro Quadratkilometer, fast doppelt so viele wie in Deutschland. Dort, in den urbanen Zentren, stimmte die Mehrheit jedoch nicht gegen die Zuwanderung.
Das taten vornehmlich die Schweizer, die viel Platz haben, die Schweizer aus ländlichen, dünn besiedelten Gebieten. Das zeigt: Gefühle waren wichtiger als Fakten. Für manchen ist es eben schon stressig, wenn ihm am Ende des Tals drei Menschen entgegenkommen. Vor allem, wenn er die Menschen nicht kennt. Oder sie anders aussehen und sprechen als er.
Dichtestress bezeichnet also eher die Unfähigkeit und den Unwillen mancher Menschen, etwas zu teilen. Es geht auch um das seltsame Gefühl von Alteingesessenheit. Seltsam deshalb, weil es schwer zu sagen ist, ab wann jemand irgendwo alteingesessen ist.
Es lohnt sich, für einen Augenblick die Perspektive derjenigen einzunehmen, die sich bedroht fühlen. Denken wir beispielsweise an einen Urlaub am Meer. An der Mittelmeerküste gibt es Strände, die nur so lange öffnen, bis sie von einer gewissen Anzahl von Badegästen bevölkert sind. So hat jeder Platz, sein Handtuch auszubreiten, Strandmuscheln aufzubauen, über große Distanz Wasserball zu spielen.
Hier entsteht das Gefühl von Alteingesessenheit bei denen, die schon um neun Uhr am Strand sind. Sie fühlen sich gegenüber jenen überlegen, die erst mittags kommen. Das Früher-da-gewesen-Sein – daraus entsteht Heimat und Tradition. Und daraus leitet der Einheimische seine Rechte ab.
taz am wochenendeVon wegen 20.15 Uhr: Das Fernsehen, so wie wir es kannten, ist tot. Wie zwei Unterhaltungsprofis versuchen, es wiederauferstehen zu lassen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 26./27. April 2014. Außerdem: Warum Leipzig das neue Berlin ist. Wie zwei Schulen in der Sexualmedizin um den Umgang mit Transsexuellen kämpfen. Und: Preisgekrönte Fotos von ägyptischen Bodybuildern und ihren Müttern. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
In Deutschland ist das Wort „Dichtestress“ nicht im Umlauf, aber es kursieren Begriffe, hinter denen ähnliche Ängste stehen. Der deutsche Dichtestress findet sich am rechten Rand der Gesellschaft, dort zugespitzt zur Kampfparole „Das Boot ist voll“. Aber es gibt ihn auch, sozial verträglich übersetzt, in der Mitte – und bei Linken.
Berlin verglüht
Er äußert sich indirekt, in Form von Gentrifizierungskritik – aber ebenso feindselig. Der linke Dichtestress macht sich in den Städten breit, in Hamburg, Berlin und Leipzig. Er lebt von einer Stadtromantik, die eigentlich eine Dorfromantik ist, er steht irgendwo zwischen Landlust und selbstverwaltetem Hausprojekt. Er gibt vor, das Gute zu bewahren: die niedrigen Mieten, die Freiräume, die unsanierten Altbauwohnungen. In Wahrheit geht es auch hier nur um den Unwillen zu teilen.
In Berlin gab es unlängst eine Debatte über zugezogene Schwaben. Sie wurde auf der einen Seite ironisch geführt, weil die tatsächliche Wichtigkeit von regionaler Herkunft abnimmt. Auf der anderen Seite waren die Diskussionen ernsthaft, teilweise gar verbissen und aggressiv. Geführt mit der Arroganz derjenigen, die schon länger da sind. Obwohl doch jeder irgendwann in die Stadt zugewandert ist. Wenn nicht er selbst, dann seine Vorfahren. Eine Stadt entsteht nur durch Einwanderung. Man kann sogar sagen: Städte sind Einwanderung.
Die Aggression hätte auch Spanier oder Türken treffen können. Dann allerdings hätten jene Diskutanten, die sich als links bezeichnen, wohl Schwierigkeiten gehabt, in die Pöbelei einzustimmen. Der linke Dichtestress kaschiert die Fremdenfeindlichkeit, die in der Diskussion steckt. Er findet über Umwege zum Ziel.
Die Schwaben-Debatte war eigentlich Ausdruck einer Nostalgie, einer Sehnsucht nach einer vergehenden Zeit. Man kann das auch ohne Gefühle feststellen, ohne Aggressionen: Die Zeit Berlins ist tatsächlich vorbei. Wenn man Berlin als Stadt urbaner Freiräume sieht, als Stadt niedriger Mieten. Wenn man Berlin als leuchtenden, anarchischen Kometen betrachtet, der von der Wendezeit in die Umlaufbahn gefeuert wurde. Dieser Komet ist verglüht. Aber: Das ist der Lauf der Dinge. Aufstieg und Fall. Leben und Tod.
Leipzig leuchtet
Kurz vor dem Verglühen überdreht Berlin: Das Hipstertum ist das letzte nervöse Zucken vor dem Tod. Ein anderer Komet leuchtet jetzt umso heller. In Leipzig kann man in die Vergangenheit Berlins sehen, eine leichte, unprätentiöse Zeit. Manche Straßenzüge sehen aus wie der Prenzlauer Berg vor zehn Jahren. Mitten in der Stadt klaffen Baulücken, es herrscht der Charme der Brachflächen, der abbröckelnden Fassaden. Ganze Häuser stehen leer.
Die Stadt liegt da wie eine blanke Leinwand. Man kann günstig wohnen, sich günstig betrinken. Es gibt Altbaupartys, Luft und weiten Himmel. Man hat das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Dieser Reiz ist nicht statisch, er existiert nur, weil er irgendwann vergehen wird. Dieser Reiz – das ist das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Leipzig hat das, was Berlin verliert – das ist kein Geheimnis mehr. Nicht nur die Stadt beginnt zu boomen, sondern auch die Berichterstattung über den Boom. Das Phänomen hat schon einen Namen: „Hypezig“. Es lässt sich kaum mehr auseinanderhalten, was der eigentliche Boom ist – und was Erzählung. Letztendlich ist das egal, denn Städte sind immer Versprechen. So ist es, seit es Städte gibt: Menschen kommen zusammen und suchen ihr Glück. Und die Versprechen, die Städte geben, sind weniger aus Zahlen und Fakten gemacht denn aus Hoffnung.
Mit der Hoffnung jener, die kommen, wächst die Angst derjenigen, die schon da sind. Am Leipziger Hauptbahnhof prangte bis vor kurzem der Graffiti-Schriftzug „Schwaben zurück nach Berlin“. Und es gibt nicht wenige Leipziger, die sich ärgern, wenn positiv über ihre Stadt berichtet wird. Wie ein Tourist, der sein verstecktes Tapas-Restaurant in der Altstadt von Barcelona plötzlich als Geheimtipp in einem Reiseführer entdeckt.
Aber ist es nicht verständlich, dass Menschen in Bussen lieber sitzen als stehen? Dass niemand eine Dreiviertelstunde nach einem Parkplatz suchen will? Dass Wohnungsbesichtigungen mit 120 Menschen unangenehm sind? Ja – sehr verständlich. Die entscheidende Frage ist aber, welche Konsequenzen man daraus zieht.
Die politischen Rahmenbedingungen müssen derart gesetzt sein, dass ein Hype wie in Leipzig nicht wie eine Heuschreckenplage über eine Stadt kommt. Eine flächendeckende Mietpreisbremse muss, anders als von der Großen Koalition geplant, ohne Ausnahmen in allen Städten gelten. Gut ist, dass ab 2015 nicht mehr Mieter für Immobilienmakler zahlen müssen, sondern der, der ihn bestellt. Also meistens der Vermieter.
Den Hype an sich kann jedoch keiner verhindern. Zum Glück. Man bekommt eine Stadt nicht zu den Bedingungen eines Dorfs. Das Paradoxe ist, dass oft diejenigen, die sich weltoffen geben, ihre Stadt am entschiedensten abschirmen wollen. Manche vollbringen das Kunststück, einen Pullover mit der Parole „Refugees welcome“ zu tragen und sich gleichzeitig darüber aufzuregen, wenn neben ihnen ein neuer Nachbar einzieht. Man sollte diese Menschen nicht allzu ernst nehmen.
Leipzig wird das neue Berlin. Der Ansturm beginnt. Wie schön.
Felix Dachsel, 27, ist taz-Autor und Schwabe. Er ist kürzlich von Berlin nach Leipzig gezogen. | Felix Dachsel | Der Hype ist weitergezogen: Leipzig hat gerade das, was Berlin verliert. Doch die, die schon da sind, haben Angst vor jenen, die kommen. | [
"Städte",
"Hype",
"Leipzig",
"Angst",
"Berlin",
"Alltag",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,727 |
Coronaverstöße vor Berliner Gericht: Alle 15 Minuten Recht - taz.de | Coronaverstöße vor Berliner Gericht: Alle 15 Minuten Recht
Seit fast zwei Jahren muss sich die Berliner Justiz mit etlichen Coronaverstößen herumschlagen. Ein Tag im Amtsgericht.
Bill Gates taucht in den Erzählungen der Verschwörungsanhänger vor Gericht auch auf Foto: Kevin Lamarque
BERLIN taz | Ab 9 Uhr morgens dürfen die BürgerInnen ihre Beschwerden vortragen. In einem kargen Raum des Amtsgerichts Tiergarten in der Moabiter Kirchstraße warten zwei Justizmitarbeiterinnen bei offenem Fenster auf die Masse der klagenden Menschen. ZuschauerInnen oder andere JournalistInnen sind nicht anwesend bei den Verhandlungen an dem Tag, aber auch sie würden alle auf Impfung, Genesung oder Test kontrolliert werden. Und auf Waffen natürlich, die häufig in die Berliner Gerichte mitgeführt werden.
Seit fast zwei Jahren muss die eh schon überlastete Justiz in Berlin auch noch den Berg an Coronabeschwerden von BürgerInnen abarbeiten, die ihre Bußgelder nicht zahlen können oder wollen. Eine Sisyphusarbeit. Aber die von der Politik beschlossenen und mit Strafen bewehrten Pandemiemaßnahmen müssen eben umgesetzt werden.
So geht viel Zeit für 50-Euro-Knöllchen verloren. Selbst wenn die einzelnen Verhandlungen gar nicht so lange dauern: 15 bis 30 Minuten. Etwa die Hälfte wird vertagt oder endet mit einem Freispruch. Die andere Hälfte führt zu einer Verurteilung.
Frau L. ist eine von zwölf RichterInnen, die sich jeden Tag mit den eingelegten Einsprüchen beschäftigen: „Ich möchte meinen Namen aus verständlichen Gründen nicht in der Zeitung lesen“, sagt die Dame mit Perlenkette. Ihre Arbeit beschreibt sie so: „Ich schaue, ob die Klagen ordnungsgemäß sind. Und ich verhänge Bußgelder.“ Normalerweise beschäftigt sie sich mit organisierter Kriminalität und Spielhallenbetrug. Dafür aber ist jetzt weniger Zeit.
Nichtwissen schützt nicht
Die erste Person, die pünktlich vor Gericht erscheint, arbeitet bei der Deutschen Bank. „Ich wusste nicht, dass ich draußen in der Friedrichstraße eine medizinische Maske tragen musste. Ich parke immer in der Tiefgarage von Galerie Lafayette und hatte auf dem Weg zum Büro überhaupt kein Schild gesehen“, erklärt sie.
Das kostete die 26-jährige Angestellte 55 Euro. Ein Bußgeld, das sie nicht zahlen wollte. Weswegen sie geklagt hat. „Ich mache die Coronabestimmungen nicht. Das sind die Regeln des Parlaments. Und die BürgerInnen wollen, dass wir besser kontrollieren“, betont die Richterin und lehnt die Klage ab. Nun darf die 26-Jährige neben dem Bußgeld auch noch die Gerichtskosten zahlen.
Zuvor waren bereits mehrere KlägerInnen nicht vor Gericht aufgetaucht. Bei einem ging es um 100 Euro, weil er einen Mindestabstand nicht eingehalten habe. Was jetzt auch fällig wird für den Kläger, der schon persönlich hätte erscheinen müssen. Einen neuen Termin gibt es nicht. Auch Gerichtsprozesse über geringfügige Verstöße werden in Deutschland nicht per Video geführt. So digital sind die überlasteten Gerichte nicht, die selbst im Jahre 2022 noch mit Faxgeräten arbeiten.
Bußgelder brachten der Stadt 3 Millionen ein
Im Amtsgebäude, das einem Labyrinth ähnelt, gibt es ununterbrochen Diskussionen über Corona. Allein in Berlin wurden seit Frühjahr bis Weihnachten 2021 bis zu 62.000 Corona-Bußgelder verhängt. Ein Drittel der Verfahren ist noch nicht einmal abgeschlossen. Auf jeden Fall brachten die Bußgelder dem Land Berlin fast 3 Millionen Euro und eben auch viel Arbeit ein.
Die extra Belastung durch die Coronastrafen ist der Richterin egal: „Arbeit ist Arbeit“, sagt sie lapidar. Dann wird Recep K. hereingebeten, ein geschiedener Vater (36). „Sie bekommen eine Geldstrafe von 1.000 Euro, weil Sie im Lockdown ein großes Grillfest mit Freunden organisiert haben.“ Quatsch, antwortet der türkeistämmige Berliner. „Ich brachte als Fahrer ein repariertes Auto zu einem Kunden und bekam dort auf dem Hof ein Stück Fleisch angeboten. Darf ich das nicht akzeptieren?“ Die Richterin bietet einen Kompromiss an. Der Mann will die halbierte Geldstrafe aber nicht akzeptieren, weshalb nun in einem weiteren Gerichtstermin demnächst fünf PolizeibeamtInnen als Zeugen kommen und aussagen müssen.
Zwei weitere von Coronastrafen Betroffene werden aufgerufen. Zwei adrett gekleidete Unternehmer betreten den Raum mit dem moosgrünen Teppich. Sie hatten zu Hause in Charlottenburg eine Party organisiert. Nach den damals geltenden Pandemiebestimmungen waren aber mit etwa sechzig Menschen zu viele Gäste anwesend. „Wir finden, dass die Geldstrafe zu hoch ist. Es waren nur halb so viele Menschen da“, behaupten beide wie im Chor.
Der eine, ein 41-jähriger ehemaliger Banker von Goldman Sachs, muss angeben, was er verdient und besitzt, „Ich habe seit Langem keine Einnahmen wegen Corona. Ich lebe vom Ersparten“, sagt der geschiedene Unternehmer, der Apps entwickelt. Deshalb könne er die Geldstrafe von 6.000 Euro nicht bezahlen. Wie hoch seine Miete sei, will die Richterin wissen. Fast 2.000 Euro warm, antwortet er nach einigem Zögern.
Er hatte die Namen seiner Gäste mit den Adressen nicht vorschriftsgemäß auf Zetteln notiert. „Ich möchte Ihnen gerne widersprechen, Euer Ehren. Im Durcheinander, als die Polizei kam, sind unsere Formulare mit den Daten offenbar verschwunden. Und die vielen betrunkenen Jugendlichen, die die Einsatzkräfte überprüft hatten, waren nicht von uns eingeladen, sie standen draußen auf der Haustreppe.“ Sein Freund, der selbst auch Anwalt ist, nickt dazu.
Der Anwalt seufzt
Zur Überprüfung des Sachverhalts sind zwei Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung aus Charlottenburg gekommen. Da die beiden Unternehmer sich gegenseitig decken und kein Geständnis abgeben, müssen alle damals beteiligten Uniformierten im Dienst aussagen. Richterin L. schlägt einen Deal vor: Da einer der beiden nicht zahlen kann, muss der andere seine Schuld eingestehen, und die Strafe wird halbiert. Der Anwalt seufzt, will sich unter vier Augen beraten. In der Pause sagt die Richterin: „Zum Glück haben wir heute keine Anwälte, die selbst Coronaleugner sind, alles anfechten und aus der Pandemie ein Geschäftsmodell entwickelt haben.“
Kurz darauf stimmen die zwei Kläger nach der Pause dem vorgeschlagenen Kompromiss zu. Im nächsten Fall geht es um eine Flasche Bier, die der Kläger nach der Arbeit vor einem Köpenicker Supermarkt getrunken haben soll. Was aber zu der Zeit damals, 2020, nicht gestattet war. Die Polizei wies ihn vor Ort auf die Ordnungswidrigkeit hin und verhängte ein Bußgeld von 60 Euro.
Die will der 51-jährige Servicetechniker im roten Vodafone-Overall nicht zahlen. „Ich hatte eine leere Flasche gefunden“, entschuldigt er sich. „Sie haben die Wahl“, droht die Richterin, die seine Geschichte nicht glaubt: „Entweder Sie zahlen die Geldstrafe oder Sie gehen für sechs Tage ins Gefängnis.“ Neben normalen Ordnungswidrigkeiten zählte die Berliner Polizei im Zusammenhang mit der Pandemie auch über fünftausend Straftaten.
Und immer mehr BürgerInnen legen inzwischen Einspruch gegen die Geldbußen ein, die sie ungerechtfertigt finden. Im ersten Jahr der Coronabeschränkungen, 2020, gab es nur 26 Personen, die sich beschwerten. Im vergangenen Jahr wollten schon fast 200 Menschen, dass die Berliner Justiz ein Urteil spricht.
Maskenattest zu Hause gelassen
So wie eine Kubanerin, die am Alexanderplatz ein Glas Sekt trank: „Ich wusste nicht, dass das verboten war.“ „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht“, so die Richterin. Schließlich wird Henrik P. (60) aus Magdeburg dem Gericht vorgeführt, er fühlt sich schikaniert. Der erwerbsunfähige Elektromonteur wollte eine Demonstration vor dem Reichstag besuchen. „Ich befand mich noch außerhalb des Versammlungsgeländes auf dem Gehsteig, trug da keine Maske. Die Polizei verbat mir trotzdem, zur Demo zu gehen. Mein Arzt sagte mir, ich muss wegen meiner Gesundheit keine Maske tragen.“ Dass er die Papiere mal zeigen solle, sagt die Richterin. Sie will prüfen, ob die ärztlichen Atteste überhaupt echt sind.
Henrik P. hat sie nicht dabei und muss sie zu Hause holen. Draußen droht er der Justiz: „Der Wind wird sich drehen.“ Der Mann, der an Verschwörungstheorien glaubt, warnt auch noch vor Bill Gates, Rockefeller und der „Blut trinkenden Elite“. | Rob Savelberg | Seit fast zwei Jahren muss sich die Berliner Justiz mit etlichen Coronaverstößen herumschlagen. Ein Tag im Amtsgericht. | [
"Coronaleugner",
"Protokoll Arbeit und Corona",
"Bußgeld",
"Gerichtsentscheid",
"Berlin",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,739 |
Apokalypse im Midtempo - taz.de | Apokalypse im Midtempo
Akribisch genau geplanter Krach: Die japanische Postrockband Mono trat im Mudd Club außerordentlich geordnet auf
„Postrock“, dieses kurz nach seiner Erfindung wieder verschwundene Genre, rumort weiter im musikalischen Untergrund. Bands wie „Sonna“, „Diario“ oder „I’m not a gun“ spielen instrumentale Musik, die die Möglichkeiten der traditionellen Besetzung auslotet und dabei ohne jegliche Rockismen auskommt. Von der hiesigen Musik- und Tagespresse werden sie dafür meist mit Ignoranz gestraft.
Auch Mono, die japanische Postrockband, ist nur einem kleinen Kreis von Fans bekannt. Erstaunlich also, dass der Mudd Club im Donnerstagabend immerhin zu zwei Dritteln gefüllt ist, als die Band mit einer knappen Stunde Verspätung ins rote Bühnenlicht tritt. Ein bäriger Japaner setzt sich hinters Schlagzeug, zwei weitere bärige Japaner nehmen mit ihren Gitarren am linken und rechten Bühnenrand Platz und in die Mitte stellt sich eine zierliche Japanerin, die hinter ihrem Bass fast verschwindet. Das also sind Mono. Die ihre erste Platte für das Tzadik-Label des legendären John Zorn aufgenommen haben und dann zwei weitere mit Steve Albini in Chicago.
Das erste Stück beginnt so, wie danach jedes weitere beginnen wird: leise. So leise, dass selbst der Cocktailshaker von der Bar die streicherartigen Gitarrendrones noch übertönt. Zur ersten Gitarre gesellt sich eine zweite, die einen langsamen Melodiebogen beisteuert. Nach einer ganzen Weile kommt der Bass dazu, der zwischen zwei Tönen variiert, dann das Schlagzeug. Mehr und mehr steigert sich das Ganze bis es in melodichem Krach angekommen ist. Dann verebbt der Song und klingt langsam aus.
So oder so ähnlich funktioniert jedes Stück von Mono. Mal mit langsamerer Steigerung, mal mit abrupterem Ausbruch, ansonsten aber ohne Variation. Im Vergleich zu Mogwai oder Godspeed You Black Emperor! zeichnen sich Mono allenfalls durch die lieblicheren Melodien aus. Die Bassistin kann einem wirklich leid tun. War sie vor dem Konzert schon dazu abkommandiert am Merchandising-Stand zu stehen und sich dort zu langweilen, macht sie jetzt die Hälfte der Zeit auf der Bühne genau dasselbe. Steht die ersten ein bis zwei Minuten der Stücke jeweils da und macht ein bedröppeltes Gesicht.
Auf den Namen Mono hört die Band wohl, weil sie ein ziemlich egomanisches Projekt des Gitarristen Taka ist. Er schreibt alle Songs und arrangiert sie am Computer. Auch auf der Bühne dirigiert er mittels Geste oder japanischem Zuruf die Länge der einzelnen repititiven Parts. So erhalten die Stücke einen sehr geordneten Eindruck. Alles ist da, wo es dem Masterplan nach sein soll. Der Musik geht das kathartische Moment ziemlich ab. Ein solch akribisch genau geplanter Krach befreit keine Köpfe.
Und wenn man weiß, dass es das erklärte Ziel des Mono-Masterminds war, auf der letzten CD den Atombombenangriff auf Hiroshima musikalisch zu beklagen, klingen die Ausbrüche erstaunlich harmlos. Die Trägerpfeiler des Mudd-Club-Gewölbes wollen nicht wackeln und außer zustimmendem Kopfnicken im Midtempo-Takt kommt auch ins Publikum kaum Bewegung. Alles in allem also eine recht sterile Apokalypse. GUIDO KIRSTEN | GUIDO KIRSTEN | Akribisch genau geplanter Krach: Die japanische Postrockband Mono trat im Mudd Club außerordentlich geordnet auf | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,767 |
hörprobe - taz.de | hörprobe:
Musik als Medizin – manchmal passt das einfach zu gut. Akinetón Retard, das ProgRock-Kollektiv aus Chile, trägt das Versprechen auf Heilung festgefahrener Musikgeschmäcker schon im Namen. Unter dem Titel eines krampflösenden Parkinson-Medikaments basteln die fünf Musiker seit zehn Jahren an ihrer Soundformel zur Amalgierung von Rock, Jazz und experimenteller Neutönerei. Immer den Patienten im Blick, haben sie dabei einen extrem freien und ironischen Umgang mit Genregrenzen kultiviert.
Die Dosierung überraschender Crossover-Ideen wird auch auf ihrem dritten Studioalbum 21 Canapés konstant hoch gehalten. Das Resultat lässt sich am ehesten als Avantgard-Rock der Marke King Crimson mit akuten Gleichgewichtsstörungen beschreiben. Da kippen entspannte Soundtrackpassagen in atonale Saxophon-Exkursionen, werden Jazzstrukturen behutsam eingeführt und kurz darauf rockend gegen den Strich gebürstet.
Ihre volle therapeutische Wirkung entfaltet die musikalische Rezeptur der Chilenen allerdings erst live auf der Bühne. Hier erweitern sie ihre Soundentwürfe mit visuellen Effekten und unter Mitwirkung von Gastmusikern zu einem künstlerischen Gesamtkonzept, das Hirn und Beine gleichermaßen anregt. Beim diesjährigen Freakshow Artrock Festival in Würzburg haben Akinetón Retard jedenfalls reihenweise offene Münder und entzückte Mienen im Publikum zurückgelassen. Michael Unterberg
Heute, 22 Uhr, Schilleroper | Michael Unterberg | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,773 |
|
Prozessbeginn „Osmanen Germania BC“: Mordversuch an einem Abtrünnigen? - taz.de | Prozessbeginn „Osmanen Germania BC“: Mordversuch an einem Abtrünnigen?
Mutmaßliche Anführer der Straßengang „Osmanen Germania“ stehen vor Gericht. Ihnen wird vieles vorgeworfen.
Polizisten beobachten ein Treffen der „Osmanen Germania“ Foto: dpa
STUTTGART dpa | Unter starken Sicherheitsvorkehrungen hat im Gerichtssal am Gefängnis Stuttgart-Stammheim ein Prozess gegen die mutmaßlichen Anführer der türkisch-nationalistischen Straßengang „Osmanen Germania BC“ begonnen. Verantworten müssen sich seit Montag acht Männer: fünf Türken und drei Deutsche im Alter von 19 bis 46 Jahren, darunter der selbst ernannte „Weltpräsident“ der rockerähnlichen Gang und sein Vize.
Ihnen wird eine Vielzahl von Gewalt- und anderen Delikten vorgehalten, mit denen vor allem die innere Ordnung der „Osmanen“ aufrecht erhalten werden sollte. Laut Anklage wurde ein Abtrünniger fast getötet. Gut 50 Verhandlungstage sind angesetzt. Demnach würde der Prozess bis Januar 2019 gehen.
Um das Gefängnis in Stammheim sind Straßenkontrollen aufgebaut, Hunderte Polizisten sind im Einsatz, Hubschrauber kreisen über dem Justizgebäude. Strikte Kontrollen der gut 120 Zuschauer verzögern den Prozessstart um zwei Stunden. Grüppchenweise werden meist komplett schwarz gekleidete Anhänger der Angeklagten unter Polizeischutz durch den Ort geführt.
Es gebe eine Bedrohungslage, sagte Jan Holzner, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stuttgart, ohne Details nennen zu dürfen. Im Saal wird auf die Verlesung der Adresse des „Osmanen“-Weltpräsidenten verzichtet, aus Sicherheitsgründen. Die acht Angeklagten sitzen in acht verschiedenen Gefängnissen in Untersuchungshaft.
Bis zu seiner Verhaftung im vergangenen Jahr lenkte der 46 Jahre alte „Weltpräsident“, ein Deutscher türkischer Abstammung, und sein 38 Jahre alter Vize die „Osmanen“ von Südhessen aus. In Deutschland sind den Behörden 33 Ortsgruppen (Chapter) mit rund 400 Mitgliedern bekannt.
„Osmanen“ gegen „Bahoz“
Auseinandersetzungen gab es zuletzt vor allem mit türkischen Kurden der verfeindeten Straßengang „Bahoz“. Immer wieder kam es im Raum Stuttgart zu gewaltsamen Zusammenstößen um die Vorherrschaft in der Region. „Wir „Osmanen“ beherrschen die Straße“, beschreibt Staatsanwalt Michael Wahl die Absicht hinter diversen Machtdemonstrationen.
Im Stuttgarter Prozess geht es aber in erster Linie um Strafaktionen gegen eigene Leute, etwa weil sie die „Osmanen“ verlassen wollten. Konkret geht es um einen Fall aus Herrenberg nahe Stuttgart. Dort soll ein Teil der Angeklagten – im Wissen der Anführer – ein abtrünniges Mitglied schwer traktiert haben. Auch weil dieser sich weigerte, gegen Kurden vorzugehen, wie es heißt.
Die Liste der Straftaten, die den Männern vorgehalten wird, ist lang: versuchter Mord, versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Zuhälterei, räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, diverse Waffen- und Drogendelikte
Ein „Osmanen“-Trupp habe dem Abtrünnigen Zähne ausgeschlagen, in den Oberschenkel geschossen, ihn bis zur Bewusstlosigkeit getreten und ihm dann die Patrone ohne Betäubung aus dem Bein geholt. Der Mann sei drei Tage gefesselt festgehalten worden, bis er fliehen konnte.
Die Liste der Straftaten, die den Männern vorgehalten wird, ist lang: versuchter Mord, versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Zuhälterei, räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, diverse Waffen- und Drogendelikte. In wechselnden Besetzungen sollen sie diese Taten an verschiedenen Orten in Baden-Württemberg begangen haben. Man könne bei Verurteilungen von „mehrjährigen Haftstrafen“ für jeden Einzelnen ausgehen, heißt es bei der Staatsanwaltschaft.
Verbindungen zur AKP
Die „Osmanen Germania“ stehen nach Einschätzung des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen in Verbindung zur türkischen Regierungspartei AKP und zum Umfeld des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dieser Umstand spiele im Stuttgarter Prozess allerdings gar keine Rolle, sagte Holzner, der Sprecher der Staatsanwaltschaft.
Der „Osmanen Germania Boxclub“ wurde erst vor wenigen Jahren gegründet. Als Hochburgen der gut 400 Mitglieder gelten die Regionen Frankfurt, Stuttgart und Wuppertal. „Es ist mit Sicherheit nicht der Boxclub, als der er offiziell gegründet wurde. Es ist mit Sicherheit auch keine Wohltätigkeitsorganisation, die Jugendliche von der Straße holt“, beschreibt Holzner die „Osmanen“. Sie seien als rockerähnliche Gruppierung einzustufen, mit einer strengen Hierarchie, in der man sich durch Straftaten nach oben arbeite. | taz. die tageszeitung | Mutmaßliche Anführer der Straßengang „Osmanen Germania“ stehen vor Gericht. Ihnen wird vieles vorgeworfen. | [
"Rocker",
"Kriminalität",
"Nationalismus",
"AKP",
"Deutschland",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,775 |
Watschen kassieren oder Pfründe verteidigen - taz.de | Watschen kassieren oder Pfründe verteidigen
■ Geldmangel und Dreiviertel-Lehrer: Anna Ammonn, Vorsitzende der GEW und GAL-Sprecher Peter Schaar streiten über rot-grüne Bildungspolitik
taz: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) grollt, die GAL freut sich über die Koalitionsvereinbarungen zum Thema Schule. Wie kommt's?
Anna Ammonn: Die rot-grünen Beschlüsse im Bildungsbereich sind hochgradig enttäuschend. Es gibt zwar gestalterische Ansätze, die ich begrüße, etwa den muttersprachlichen Unterricht oder die Produktionsschule. Auch die sechsjährige Grundschule ist ein interessantes Projekt, wenn ein gutes Konzept entwickelt wird. Aber zugleich hat die GAL mitverabredet, daß es zu weiteren drastischen Einschnitten im Bildungsbereich kommen wird. Ab 1999 rechnet die GEW sogar mit Stellenstreichungen bei den Lehrern.
Peter Schaar: Klar ist, daß wir angesichts der Haushaltsknappheit vor dem Zwang stehen, sparsam mit den Finanzmitteln umzugehen. Deshalb haben wir uns ja gerade bemüht, wichtige Bereiche wie die Bildung besser zu stellen als andere. Und das ist uns auch gelungen. Mal abgesehen von mehr Schulautonomie: Im nächsten Schuljahr werden Hamburgs Schulen einen unverändert hohen Personalhaushalt haben. Allerdings war es nicht möglich, diese starke Privilegierung für die gesamte Legislaturperiode festzuschreiben.
Ammonn: In diesem Zusammenhang von Privilegien zu sprechen, ist der GAL nicht würdig. Die Schulen waren auch in den vergangenen Jahren an der Sparquote beteiligt, und das bei wachsenden Schülerzahlen. Kein Mensch denkt doch bei Euch mehr daran, die Schule zu entlasten. Es wird weiter zu einer Arbeitsverdichtung kommen, zu größeren Klassen, zu Mehrarbeit. Uns da standespolitische Argumente vorzuwerfen, ist ein Unding. So was könnte eine Gewerkschaft ja nur unter Verlust ihrer Selbstachtung hinnehmen. Das werden wir so nicht mitmachen!
Da entsteht leicht der Eindruck, die GEW verteidigt nur ihre Pfründe und ignoriert die Finanzkrise.
Ammonn: Die Haushaltslage ist uns durchaus bewußt. Enttäuschend ist doch die grüne Bewertung der Verhandlungsergebnisse. Es kann doch kein Erfolg sein, wenn bei 13.500 zusätzlichen Schülern in den nächsten vier Jahren keine einzige Lehrerstelle neu geschaffen wird. Wenn sogar noch Stellen abgebaut werden. Das Signal, das in Hamburg von Rot-Grün ausgeht, ist doch beschämend – zumal es auch ein Signal für eine bundespolitische Wende sein sollte. Ich weiß nicht, wo die grünen Prozentpunkte für einen Wechsel in Bonn herkommen sollen, wenn man diese Beschlüsse auch noch als Erfolg darstellt!
Schaar: Sicher kann man mit den schulpolitischen Ergebnissen nicht völlig zufrieden sein. Aber die Schule ist immer noch besser gestellt als andere Bereiche. Wir stehen nunmal vor der Entscheidung, entweder in anderen Bereichen noch schärfer zu sparen oder mehr Tafelsilber zu verscherbeln. Die Frage ist: Wollen wir eine Politik, die auch noch die letzten 25 Prozent der HEW-Aktien verkauft?
Ammonn: Wenn es da keine anderen Signale auf grüner Ebene gibt, müssen wir uns nach anderen Bündnispartnern umgucken, selbst der Bundespräsident hat ja mehr Visionen hinsichtlich der Bildungspolitik. Sie dagegen, Herr Schaar, forderten die GEW erst unlängst auf, sich an der Realität zu orientieren und nicht ständig altbekannte Positionen wiederzukäuen. Aber die Realität an Hamburgs Schulen ist Ausgrenzung, ist Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Und auch der hohe Krankenstand unter älteren Kollegen, das Burn-out-Syndrom sind Realität. Damit wird sich die GEW nie und nimmer abfinden. Unsere Aufgabe ist es, die Realitäten zu verändern.
Die sechsjährige Grundschule bietet dafür ja Ansätze.
Ammonn: Zunächst fand ich die Idee sehr gut. Aber wenn es kostenneutral laufen soll, dann kann das nicht gehen.
Schaar: Für die GEW ist wohl nur gut, was etwas kostet.
Ammonn: Wenn die Grundschule einfach nur um zwei Jahre verlängert wird, kann das nicht funktionieren! Das bedarf differenzierter Konzeptionen.
Schaar: Aber das muß ja nicht unbedingt mehr kosten. Auch die fünften und sechsten Klassen an Gesamtschulen verursachen Kosten. Die fallen dann eben entsprechend an den Grundschulen an. Ich bin ein Absolvent der sechsjährigen Grundschule in Berlin und einer ihrer Verfechter. Denn bei vielen Kindern ist in der vierten Klasse einfach noch nicht klar, welche weitere Schullaufbahn sie einschlagen wollen.
Zurück zum Koalitionsvertrag. Junge Lehrer werden künftig nur noch als 3/4-Pauker eingestellt.
Ammonn: Das ist auch ein Teil dieser Demotivationspolitik. Der ganze Erwartungsdruck von Eltern und Kollegen liegt auf den jungen Lehrern. Und dann stehen sie mit circa 2.200 Mark monatlich da, müssen ihr Bafög abzahlen, wollen eine Familie gründen. Und das nach einer langen qualifizierten Ausbildung.
Schaar: Natürlich darf die Last der Arbeitslosigkeit nicht vollends auf die Neueingestellten abgewälzt werden. Aber es gibt 5.000 arbeitslose Lehrer in Hamburg. Wir müssen die vorhandene Arbeit aufteilen. Idealerweise sollten Lehrer mit vollen Stellen ihre Arbeitszeit reduzieren und auf Einkommen verzichten. Bei einem Oberstudienrat mit 6.500 Mark Nettoverdienst in der Endstufenbesoldung von A 13 müßte das doch gehen. Leider sind dazu aber viele nicht bereit. Trotzdem ist es vertretbar, diejenigen, die nachrücken, zunächst auf 3/4-Basis einzustellen.
Wo sie als Angestellte weniger verdienen als Beamte.
Schaar: Natürlich. Aber deshalb alle zu Beamten zu machen, wäre doch kurzsichtig.
Ammonn: Ich finde es katastrophal, daß den Grünen mittlerweile Sätze über die Lippen kommen wie „die Last der Arbeitslosigkeit nicht vollends auf die Neueingestellten abwälzen“. Da fehlt doch eine grundsätzliche Aussage, daß die Arbeitslosigkeit durch die ungerechte Verteilung in diesem Land hervorgerufen wird. Diese Aussage hört man bei der GAL gar nicht mehr. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit braucht es mehr als die Frage: Sollen die Alten oder lieber die Jungen die Lasten tragen? An Hamburgs Schulen haben wir im Moment ein Zweiklassenrecht unter den Lehrern. Das ist eine unhaltbare Situation.
Schaar: Ist die GEW denn für die Verbeamtung? Das möchte ich wirklich mal wissen.
Ammonn: Solange der Staat dieses Konstrukt vorsieht, kann es keine zwei Klassen in den Lehrerkollegien geben.
Schaar: Da haben wir Dissens. Wir sind der Auffassung, daß Lehrer auch in Zukunft als Angestellte beschäftigt werden sollen.
Ammonn: Eine Möglichkeit, Stellen zu schaffen, wäre das Alters-Teilzeitmodell, das wir entwickelt haben. Aber das wird im Koalitionsvertrag mit keiner Silbe erwähnt.
Schaar: Ein Modell, das natürlich wieder mehr kosten soll.
Ammonn: Natürlich, es gibt kein Altersteilzeitmodell, das nichts kostet. So etwas rechnet sich nur, wenn man den gesamten Kontext betrachtet: Der Arbeitsmarkt wird entlastet, die Krankenquote bei Älteren wird geringer...
Schaar: Es ist derzeit einfach nicht vertretbar, über Altersteilzeit nachzudenken ohne einen finanziellen Ausgleich.
Realpolitik pur. Die GAL hat also mit Einblick in die städtischen Kontoauszüge eine ganz neue Sichtweise dafür entwickelt, was möglich und was nötig ist.
Schaar: So ist es. Je realistischer die Möglichkeit war, die Verantwortung für diese Stadt mitzutragen, desto stärker traten die Finanzen ins Blickfeld.
Ammonn: Und deshalb gibt es mit den Grünen keinerlei neue Beschäftigungsmöglichkeiten im Bildungsbereich.
Schaar Doch.
Ammonn: Nur durch Umverteilung und 3/4-Stellen. Und das, obwohl die Aufgaben wachsen, obwohl die Schülerzahlen wachsen. Ich kann mich nicht damit trösten, daß es jetzt pro Jahr eine Ganztagsschule mehr gibt und ein Schulversuch zur sechsjährigen Grundschule womöglich in acht Jahren zu ersten Ergebnissen führt. Das löst nicht die Probleme. Von dieser rot-grünen Regierung in Hamburg gehen keine Signale aus.
Schaar: Wir haben doch diese Probleme nicht nur bei der Bildung. Wir haben sie im Gesundheits-, im Sozialwesen, überall.Vielleicht kann eine Gewerkschaft das einfach ignorieren, wir können das nicht. Im Prinzip geht es jetzt darum, einen Mangel zu verwalten. Das ist so. Trotzdem gibt es auch bei der schlechten Haushaltslage Gestaltungsspielräume. Und die gilt es zu nutzen. Moderation:
Karin Flothmann, Judith Weber | K.Flothmann/ J.Weber | ■ Geldmangel und Dreiviertel-Lehrer: Anna Ammonn, Vorsitzende der GEW und GAL-Sprecher Peter Schaar streiten über rot-grüne Bildungspolitik | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,783 |
Sun Ra Arkestra in Hamburg: Kosmische Töne zur Heilung der Welt - taz.de | Sun Ra Arkestra in Hamburg: Kosmische Töne zur Heilung der Welt
Die Hamburger Afro-Futurismus-Reihe steuert auf ihren glitzernden Höhepunkt zu: Am Sonntag spielt das Sun Ra Arkestra in der Elbphilharmonie.
Kosmisch: Marshall Allen am Saxophon Foto: Oliver Heisch/dpa
HAMBURG taz | Am Anfang war die Frage: „Kann eine Gemeinschaft, deren Vergangenheit mutwillig ausradiert wurde und deren Kräfte infolgedessen von der Suche nach lesbaren Spuren ihrer Geschichte absorbiert werden, sich überhaupt eine mögliche Zukunft ausmalen?“ Der amerikanische Autor Mark Dery stellte sie mit Blick auf die afro-amerikanische Gemeinschaft in seinem 1993 erschienen Aufsatz „Black to the Future“
Ja, kann sie, führte Dery aus. Weniger als klassische Science-Fiction, eher als etwas größeres, weitgehenderes, unglaublicheres. Dery nannte es Afro-Futurismus und seither steht der Begriff. Gerade bringt die Elbphilharmonie ihm ein mehrwöchiges Ständchen, das mit dem Auftritt des Sun Ra Arkestras auf seinen Höhepunkt zusteuert.
Afro-Futurismus stoppt nicht bei der Beschreibung des Anderen. Während in den USA weiße Raumfahrer wie Buck Rogers und Flash Gordon sich seit den 1930er-Jahren ohne soziale Vision, aber mit mächtigen Strahlenpistolen in einem feindlich-fremden Morgen behaupteten, entwirft Afro-Futurismus eine bessere Schwarze Zukunft. Ohne darüber die afro-amerikanischen Wurzeln zu vergessen.
Als Verlängerung der Bürgerrechtsbewegung ins extraterrestrische, bietet George Clinton mit Bands wie Parliament und Funkadelic in den 70ern ein technologisch runderneuerte Schwarze Arche Noah, das Mothership. Herbie Hancock steuert ein Raumschiff auf seinem 74er-Album „Thrust“ durch lilafarbene Wolken, befeuert von Space-Funk-Synthesizern.
Sun Ra Arkestra in HamburgSun Ra Arkestra live: 13. 11., 20 Uhr Hamburg, Elbphilharmonie, Großer Saal„Space Is the Place“: 13. 11., 11 Uhr und 14. 11., 18 Uhr, Zeise Kinos, Hamburg
Ein Prophet und Mystiker
Seither taucht das Thema von HipHop über Detroit Techno bis zum Dub-Reggea in einer ganzen Reihe Schwarzer Musikstile auf. Der erfahrenste Raumfahrer des musikalischen Afro-Futurismus aber, sein Prophet und Mystiker heißt Sun Ra. Kein anderer hatte in seinem Pass als Geburtsort „Saturn“ stehen. Und niemand konnte seine Musik auch so klingen lassen.
Fragte ihn später jemand, warum ein Jazzmusiker wie er so viel über das Weltall und die Raumfahrt doziere, antwortete Sun Ra manchmal, er habe in Huntington, Alabama dasselbe College besucht, an dem Wernher von Braun Amerikas ersten Satelliten entwickelte. Das Wissen ist dann wohl osmotisch zu ihm gelangt.
Wobei sich Sun Ra weniger für Schubumkehr und Umlaufbahnen interessierte als für die Versprechen des Weltalls: grenzenlose Freiheit in Raum und Zeit. Für jemanden, der 1914 geboren als Schwarzer in der gesellschaftlichen Enge der Südstaaten aufwächst, sind es sehr attraktive Aussichten da oben.
Also formte er aus seinen Privatstudien ägyptischer Mythologie, äthiopischer Theologie und einem tiefen Interesse an Linguistik eine spirituelle und auf Freiheit ausgerichtete Weltsicht, die beginnend in den 50er-Jahren seine Arbeit, sein Leben und das Leben seiner Musiker durchdringt. Ihre Stärke zeigt sich schon daran, dass sein Arkestra noch heute auftritt – 29 Jahre nachdem Sun Ra den Planeten verlassen hat.
Sun Ra interessierte sich weniger für Satelliten-Umlaufbahnen als fürs Freiheits-Versprechen des Weltalls
Geleitet wird dieses musikalische Theater inzwischen von Marshall Allen, seit den späten 50ern Sun Ras Weggefährte. Auch mit unglaublichen 98 Jahren spielt Allen noch ein furchteinflößendes Altsaxophon, navigiert aber hauptsächlich dieses gute Dutzend mit seinen Trompeten und Saxophonen, Flöten und Percussioninstrumenten, Keyboards und Kontrabässen durch einen unvorhersehbaren Strom kosmischer Töne. „Cosmic Tones For Mental Therapy“, wie es eine der weit über 100 Sun-Ra-Platten nennt.
Astronomische Gospel-Chants
Wohin die Energien dabei fließen, lässt sich im Voraus kaum absehen. Mal spielt das Arkestra als Meer wogender Gewänder und glitzernder Umhänge astronomische Gospel-Chants wie „Rocket #9“ oder „We Travel the Spaceways“, dann wiederum verwandelt sich die drei Generationen umspannende Gruppe nach wenigen Minuten in einen glühende Lava speienden Freejazz-Vulkan.
Wie weit Sun Ras Werk über seine Musik hinausgeht, wurde 1974 in Technicolor festgehalten. „Space Is The Place“ ist eine grelle low-budget-Mixtur aus Blaxploition-Movie, Science Fiction und radikalem Befreiungskampf. Der Zeitreisende Sun Ra schwebt darin in seinem von Musik angetriebenen Raumschiff auf die Erde, um für die Befreiung der Schwarzen Bevölkerung und gegen die Nasa zu kämpfen. Alles untermalt von atemberaubenden Liveauftritten des Arkestras.
„Black Power und Free Jazz kollidieren mit dem Modestil von ‚Superfly‘“, schrieb die New York Times über den Film, der damals nicht in die Kinos kam und viele Jahren lediglich als raubkopierter Mythos unter VHS-Sammler:innen kursierte. Inzwischen liegt das Zeitdokument restauriert und in voller Länge wieder vor und ist zum Abschluss des Afro-Futurismus-Programms noch zweimal in Hamburg zu sehen.
Für Sun Ra war Musik eine universelle, spirituelle Sprache. Verstehen kann sie jeder, sie sprechen zu lernen aber erfordert Disziplin. Die Musiker:innen, die er seit den 50ern um sich scharte, hatten sich strengen Regeln zu beugen. Tägliche Proben von bis zu acht Stunden, kein Alkohol, keine Drogen. „Kunst beginnt nicht mit Imitation, sie beginnt mit Disziplin“, lautet ein bekannter Sun-Ra-Spruch. Ein weiterer: „Das Mögliche wurde probiert und ist gescheitert. Jetzt ist es Zeit, das Unmögliche zu probieren.“
Anhaltende Relevanz
In seinem Fall besteht das Unmögliche aus ungewöhnlichen Takten und komplexen Wechseln, die selbst erfahrene Musiker:innen vor Herausforderungen stellt. Gleichzeitig aber bieten die Stücke Raum für Freiheit und Improvisation. Früher füllte vor allem Arkestra-Saxophonist John Gilmore diesen Raum. Sein freies Spiel prägte nicht nur über 40 Jahre die Musik Sun Ras, der 1995 gestorbene Musiker war auch ein maßgeblicher Einfluss für den Wegbereiter des modernen Jazz, John Coltrane.
Die anhaltende Relevanz der Arbeit Sun Ras zeigt sich nicht allein in einem schier endlosen Strom an Veröffentlichungen. Vielleicht ist der Bedarf für diese Musik heute sogar größer denn je. „Die Welt ist einem derart schlechten Zustand“, sagte Sun Ra schon im vergangen Jahrhundert, „wenn sie nicht bald denjenigen finden, den ihr Erlöser nennt, dann wird jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf diesem Planeten ausgelöscht.“ Was er wohl heute sagen würde? | Gregor Kessler | Die Hamburger Afro-Futurismus-Reihe steuert auf ihren glitzernden Höhepunkt zu: Am Sonntag spielt das Sun Ra Arkestra in der Elbphilharmonie. | [
"Spiritual Jazz",
"Jazz",
"Black Power",
"Sun Ra",
"Kultur",
"Nord",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,862 |
Herkunft der Fauna Madagaskars geklärt: Lemuren auf dem Einbaum - taz.de | Herkunft der Fauna Madagaskars geklärt: Lemuren auf dem Einbaum
Vom Mini-Chamäleon bis zum Giftfrosch, Madagaskar hat eine weltweit einzigartige Tierwelt. Braunschweiger Wissenschaftler haben herausgefunden, warum das so ist.
Ein echter Madegasse: das Miniaturchamäleon Brookesia micra. Bild: dpa
BRAUNSCHWEIG dpa | Auf Madagaskar leben viele erstaunliche Tierarten. Das Land ist bevölkert von zwergenhaften Chamäleons, Riesenschlangen, Giftfröschen und Lemuren. Zahlreiche dieser Arten kommen nur auf der südostafrikanischen Insel vor.
Die Vorfahren der meisten Tiere seien vor etwa 60 bis 70 Millionen Jahren aus Afrika auf schwimmenden Baumstämmen an die Küste Madagaskars gespült worden, erklärte der Zoologe Miguel Vences von der Technischen Universität Braunschweig. Dies gehe aus molekulargenetischen Daten hervor.
Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA“ (PNAS). „Seit 15 Millionen Jahren kamen kaum noch neue Tiergruppen über das Meer nach Madagaskar, so dass die Tierwelt Madagaskars in fast völliger Isolation ihre heutigen Spezialisierungen entwickeln konnte“, erklärte Vences. Der Grund dafür sei die Änderung der Hauptwindrichtungen.
Der Mensch besiedelte die Insel vor etwa 2000 Jahren. In dieser kurzen Zeit rottete er Riesenschildkröten, Riesenlemuren und Riesenvögel aus. Viele weitere Tierarten sind aktuell vom Aussterben bedroht. | taz. die tageszeitung | Vom Mini-Chamäleon bis zum Giftfrosch, Madagaskar hat eine weltweit einzigartige Tierwelt. Braunschweiger Wissenschaftler haben herausgefunden, warum das so ist. | [
"Wissenschaft",
"Öko",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,886 |
Interview: "Dieses ganz alte Denken …" - taz.de | Interview: "Dieses ganz alte Denken …"
Umweltsenator Reinhard Loske (Grüne) über lokalen Klimaschutz, Kopenhagen als Vorbild und die Handelskammer, die in den 1980er Jahren verharrt
Reinhard Loske findet, dass man in Bremen ganz gut ohne Auto auskommen kann. Er hat trotzdem eins. Bild: Jan Zier
taz: Herr Loske, am Dienstag haben sie das "Klimaschutz- und Energieprogramm 2020" vorgestellt. Das Ziel lautet: 40 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2020 im Vergleich zu 1990. Sie nannten es ein Signal, wo doch gerade in Kopenhagen über die Rettung der Welt diskutiert wird. War das nicht etwas vermessen?
Reinhard Loske: Das hat mit Vermessenheit nichts zu tun. Wir arbeiten seit einem dreiviertel Jahr an dem Programm und wollten es bis Ende 2009 vorlegen - auch in dem Bewusstsein, dass da die Klimakonferenz ist. Man sollte sich nicht wichtiger nehmen, als man ist, sein Licht aber auch nicht unter den Scheffel stellen. Bremen und der Nordwesten kann eine Menge beitragen zur Bekämpfung des Klimaproblems, ist aber auch in besonderer Weise von ansteigenden Meeresspiegeln betroffen.
Zur Zeit sind wir bei etwa zehn Prozent weniger CO2-Ausstoß als 1990. 30 Prozent in zehn Jahren - ist das zu schaffen?
Wenn wir so weiter machen wie jetzt, erreichen wir bis 2020 20 Prozent weniger CO2, wenn wir lokale und regionale Maßnahmen ergreifen, schaffen wir 33 Prozent. Für die Lücke von sieben Prozent müssen wir uns anstrengen, aber es ist zu schaffen.
Sie waren neulich in Kopenhagen und haben bei der Vorstellung des "Klimaschutz- und Energieprogramms 2020" voller Begeisterung erzählt, was dort so getan wird …
… ja, das ist sensationell, wenn ich mir angucke, was Kopenhagen da vorhat: Der Anteil des Fahrradverkehrs soll bis 2020 auf 50 Prozent steigen, der Öffentliche Personennahverkehr wird entschlossen ausgebaut, man nutzt Abwärme aus Fäkalien zur Energieerzeugung. Da wird eine ganze Stadt systematisch auf Nachhaltigkeit getrimmt. Da wird Energie- und Umweltpolitik nicht als sektorales Politikfeld betrachtet, das neben allen anderen existiert, sondern ist Teil der Identität der Stadt. Das müssten wir hier auch schaffen.
Und dann haben Sie es - so wie gestern - mit einer Phalanx aus Handelskammer, ADAC und Unternehmerverbänden zu tun, die freie Fahrt für freie Bürger fordern.
Dieses ganz alte Denken, das die Handelskammer hier repräsentiert, erlebt man dort kaum noch.
Schwer vorstellbar, dass Handelskammer und ADAC zustimmen, wenn Sie - in Anlehnung an Kopenhagen - etwa die Martinistraße zur Hälfte für den Fahrradverkehr reservieren würden.
Ja, aber ich bin froh, dass das nicht bremischer Mainstream ist. Die Grundstimmung ist eine andere hier.
Handelskammer oder ADAC sind aber auch nicht irgendwer.
Ach, die spielen mit Klischees. Autofeindlichkeit ist so eins. Das sind Positionen aus den 1980ern. Wenn die so weiter reden, dann glaubt irgendwann wirklich jemand, man käme nach Bremen mit dem Auto gar nicht mehr rein. Um mal in deren Sprache zu reden: Die reden den Standort schlecht. Was wir fordern, ist überall Standard: Umweltzone, Tempo 50 auf innerstädtischen Straßen wie der Kurfürstenallee, Lärmschutzprogramme mit Flüsterasphalt und hier und da auch Tempo 30, weil das effektiv und günstig ist.
Haben Sie eigentlich ein Auto?
Ja, ich verstecke das auch nicht. Aber ich komme mit dem Rad oder der Straßenbahn zur Arbeit. Ich finde, dass man in Bremen ganz gut ohne Auto auskommen kann. | Felix Zimmermann | Umweltsenator Reinhard Loske (Grüne) über lokalen Klimaschutz, Kopenhagen als Vorbild und die Handelskammer, die in den 1980er Jahren verharrt | [
"Bremen",
"Nord",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,895 |
Demonstrationen in Russland: Wladimir Putins letztes Aufgebot - taz.de | Demonstrationen in Russland: Wladimir Putins letztes Aufgebot
Die Gegenoffensive des Kreml in Form einer Jubelkundgebung für die Regierung in Moskau geht in die Hose. Denn viele junge Leute hatten keine Wahl. Sie mussten teilnehmen.
Jubeln für Putin: Kundgebung für die russische Regierung am Montag in Moskau. Bild: reuters
MOSKAU taz | "Sie haben den Irak bombardiert, Libyen zerschlagen und denken jetzt an Russland", heizt der Redner den Versammelten ein. Der Funken will nicht überspringen, wie düster der Agitator die Bedrohung aus dem Westen auch schildern mag. Es ist Dmitri Rogosin, Russlands Emissär bei der Nato in Brüssel. Ein Falke, klug, gefährlich und verschlagen. Er soll an diesem Montagnachmittag die Massen mobilisieren für die Wiederwahl Putins ins Präsidentenamt. Einige tausend Demonstranten - laut Polizei 25.000, bestenfalls jedoch 5.000 - haben sich auf dem Manege-Platz in Moskau versammelt.
Die Veranstaltung war als Antwort auf die Großdemonstration gegen Wahlfälschungen mit mehr als 50.000 Teilnehmern am Wochenende gedacht. Viele Jugendliche und Studentinnen wurden gegen ihren Willen mit Bussen aus Schulen und Universitäten hingebracht, flüchteten aber, sobald sich die Chance ergab. Wer ausharrte, waren Rentner und Jugendliche, die nicht zu den Gewinnern der satten Putin-Jahre gehören. Ärmlich gekleidet, eingeschüchtert und hilflos.
Auf Fragen wollten nur wenige antworten. Funktionäre meist, die Masse war angewiesen worden, mit der Presse nicht zu sprechen. Sie waren überhaupt etwas mundfaul. Auch Sprechchöre vom Podium, "Putin! Russland!", "Putin - unser Präsident", fanden im Volk keinen Verstärker. Umgerechnet 5 bis 10 Euro sollen die Organisatoren Teilnehmern geboten haben, berichtete der Moskowski Komsomolez.
Heiterkeit zum Schluss
Zum Schluss kam dann doch noch etwas Heiterkeit auf. Der 75-jährige Schnulzensänger Josif Kobson stimmte die Nationalhymne an. Kobson ist nicht nur wegen seines Toupees eine Legende, schon zu Sowjetzeiten wurden ihm enge Kontakte zur Unterwelt nachgesagt. Kobson hält sich immer an die Regierenden und sitzt als Abgeordneter der Staatspartei für Burjatien in der Duma. Ein angeheiteter Vierzigjähriger, der eine Fahnenstange des "Jungen Russlands" hielt oder sie ihn, rief begeistert: "Was, der lebt immer noch!"
Die Gegenoffensive der Kremlpartei misslang. Sie glich einem bedrückenden Requiem. Dabei war die Totenmesse glänzend organisiert, erstmals standen mehr mobile Toiletten bereit als Bedürftige.
Die Demonstranten vom Samstag warten unterdessen darauf, dass die Machthaber auf die Forderungen nach Neuwahlen und Entlassung des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission reagieren. Der Kreml hat jedoch anderes zu tun. Das verunsichert auch jene, die dem Führungsduo lange loyal gegenüberstanden. Studentinnen eines Eliteinstitutes äußerten sich im persönlichen Gespräch ratlos. Sie wagen es nicht, an Demonstrationen teilzunehmen, da sie fürchten, den Studienplatz zu verlieren. "Unsere Angst sitzt in den Genen!", meint ein Student. "Was sollen wir noch glauben?" Auch ihnen wird eingebläut, die USA wollten in Russland eine orange Revolution wie in der Ukraine anzetteln. Sie baten, weder Namen noch Universität zu nennen. "Das Schlimmste aber ist, wir werden abgehört und wissen nicht, welcher von unseren Kommilitonen schon für den Geheimdienst arbeitet".
Am Montag gab der Milliardär Michail Prochorow bekannt, bei den Präsidentenwahlen als Kandidat für die Wähler des liberalen Spektrums anzutreten. In oppositionellen Kreisen ist jedoch umstritten, ob er als unabhängiger Kandidat oder als gedungener Statthalter des Kreml auftritt. Auch Alexander Kudrin, der im September entlassene Finanzminister, kündigte die Gründung einer liberalen Partei an. Nie sei er ein Gleichgesinnter Putins gewesen, sagte der Finanzexperte. | Klaus-Helge Donath | Die Gegenoffensive des Kreml in Form einer Jubelkundgebung für die Regierung in Moskau geht in die Hose. Denn viele junge Leute hatten keine Wahl. Sie mussten teilnehmen. | [
"Europa",
"Politik",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,904 |
Voll der Sinnsprüche - taz.de | Voll der Sinnsprüche
Die vermeintliche Stärke von Sam Mendes’ Verfilmung des Kriegsromans „Jarhead“ – dessen radikale Binnenperspektive – ist leider ihre Schwäche
VON JAN DISTELMEYER
Dies ist mein Gewehr – ohne mein Gewehr bin ich nichts, ohne mich ist mein Gewehr nichts. Und: Was auch immer die Hände eines Exsoldaten berühren werden, sie bleiben immer die eines Soldaten. „His hands remember the rifle.“
Die gut zwei Stunden dieses Films sind voll von Sinnsprüchen. Einige werden uns und den Rekruten um den Marine Anthony „Swoff“ Swofford (Jake Gyllenhaal) von den Vorgesetzten eingedrillt, andere erfahren wir von Swoff, unserem Erzähler, aus dem Off. Die einen geben bekannten Regeln neue Wendungen, „The Bible says thou shalt not kill – now hear this: fuck that shit“, die anderen kommentieren diese Neuigkeiten und ihre Folgen. Über dem Alltag der Marines während des ersten Golfkriegs 1990/91 liegt Swoffs Stimme. Für alles habe das Militär eine Standardlösung vorgesehen, Krankheit, Verwundung und Tod kennen klare Dienstanweisungen, nur der verlorene Verstand ist auf sich allein gestellt.
Anthony Swoffords autobiografischer Roman „Jarhead“ ist durch die Beschreibung genau dieses unvorhergesehen und dennoch unweigerlichen Moments berühmt geworden. Der spezifische Wahnsinn dieses Krieges oder besser: dieser persönlichen, literarischen Kriegserfahrung lag im entleerten und hochgradig angespannten Nichtstun – in einem unter den Titeln „Desert Shield“ und „Desert Storm“ stattgehabten Warten auf den Krieg, der zuvor in den Ausbildungscamps eingepflanzt worden war. Nun regiert „the madness of inaction in the desert“, Wechsel zwischen Masturbation, Waffenreinigung, Streit und Freundschaft im platoon, nochmals Masturbation, sinnlosen Übungen und der Angst vor den näher rückenden Explosionen. Die Frauen der Frontmänner sind allein in sehnlich erwarteten Briefen präsent, in Bildern als Wichsvorlage und in den zahllosen Fantasien, mit wem sie ihn gerade betrügen mag.
Jene besondere Leere also könnte es sein, die uns die ständige Präsenz der Sinnsprüche, Fragen und Erkenntnisse in Sam Mendes’ Literaturverfilmung erklären. Das Innere von Swoff legt sich über alle Bilder, macht sie zu seinen. Stellvertretend für jene US-Filmkritiker, die in „Jarhead“ ein Meisterwerk sehen, hat Roger Ebert die Kraft gelobt, mit der wir hier direkt in eine subjektive Kriegserfahrung gezogen werden. Die Kritik an Sam Mendes’ drittem Film nach „American Beauty“ und „Road to Perdition“ bemängelte nicht selten eine fehlende Klarheit des Films, seine seltsame Leere oder vermisste eine politische Haltung. Ein Problem von „Jarhead“ jedoch beginnt wesentlich früher als alle jene Kritikpunkte, denen sich der Film zudem offen stellt. Dieses Problem ist die Entscheidung für die Perspektive des Anthony Swofford.
In diesem Punkt muss jeder Kritik, der Film äußere sich nicht politisch, entschieden widersprochen werden. Die Idee, aus Swoffords „Jarhead“ einen Film zu machen, zum abermillionsten Mal den Krieg als Erfahrung von Soldaten zu repräsentieren (und sei dieser auch noch so gespenstisch oder absent oder inhärent wie in „Jarhead“), ist hochgradig politisch. Wir mögen so sehr an diese Perspektive gewöhnt sein, dass sie alternativlos erscheint – aber die Haltung eines Kriegsfilms bemisst sich nicht nur daran, wie „kritisch“, „realistisch“, „hart“, „philosophisch“ oder „sinnlos“ er Leben, Taten und Sterben der Soldaten zeigt. Solange Kriege nicht nur von Männern in Uniform erfahren werden, sondern in alle Lebensbereiche der Bevölkerungen eindringen und sie verändern, so lange ist es reine Ideologie, Krieg im Kino immer schon als Frontschwein-Happening zu inszenieren. Wer hat eigentlich bestimmt, dass es mich immer zuerst und vor allem zu interessieren hat, wie sich Soldaten fühlen, sobald es um einen erklärten Krieg geht, also was etwa in Anthony Swofford vorgeht, als sein Krieg zu Ende ist, bevor er auch nur einen Schuss abfeuern konnte?
Ein außergewöhnlicher Kriegsfilm müsste sich vielleicht gerade dazu verhalten. Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“ hat die Funktionsweise dieser Ideologie untersucht, Oliver Stones „Heaven and Earth“ ist bei dem Versuch gescheitert, von und mit der „anderen Seite“ zu erzählen. Sogar in Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“, dem umjubelten Gottesdienst der männlich-militärischen Kriegs-Ikonografie, blinkte direkt nach der endlos scheinenden Eröffnungsschlacht am Omaha Beach kurz ein anderes Zeichen auf: Frauen, die im Akkord Kondolenzschreiben der Regierung an die Hinterbliebenen der Gefallenen produzieren. So anders war diese Einstellung, das sie inmitten des authentischen Schlachtkitschs fast wie ein entlarvendes Spiegelbild dieses Films und seines klar bestimmten Spielraums wirkt: Hier wird Geschichte geschrieben.
Sam Mendes’ „Jarhead“ will dieses Terrain nicht verlassen, sondern es – so scheint es – von innen aushöhlen. Wenn dabei die Grundlagen des Herrschaftsdiskurses mit dem Titel Krieg unangetastet bleiben, wird auf die eine oder andere Weise das Kameradschaftsethos und „Ich war in der Scheiße“-Pathos weiterleben. So jedenfalls könnte man das Ende von „Jarhead“ vereinfachend beschreiben. Das Unrecht, das damit diesem komplexen Film angetan wird, ist nichts im Vergleich zum Diktat der Soldatenseele.
„Jarhead“. Regie: Sam Mendes. Mit Jake Gyllenhaal, Jamie Foxx, Peter Saarsgaard u. a. 122 Min., USA 2005 | JAN DISTELMEYER | Die vermeintliche Stärke von Sam Mendes’ Verfilmung des Kriegsromans „Jarhead“ – dessen radikale Binnenperspektive – ist leider ihre Schwäche | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,919 |
Game of Thrones 8. Staffel Zwischenfazit: Niemand kann den Tod besiegen - taz.de | Game of Thrones 8. Staffel Zwischenfazit: Niemand kann den Tod besiegen
Bei Game of Thrones treten alle Held_innen gegen den Endboss an: eine epische, mitunter langweilige Schlacht der Lebenden gegen die Toten.
„The Night King is Coming / You gotta keep on runnin'“ Foto: dpa
Staffelmitte, Zwischenfazit. Erfüllt die letzte Staffel von Game of Thrones die (geschrumpften, aber dennoch hohen) Erwartungen? Tatsächlich: Weitestgehend ja. Auf zwei eher vorbereitende Episoden folgt eine epische Schlacht: Der Nachtkönig mit seiner Untoten-Armee gegen die vereinigten Armeen fast aller Menschen in Winterfell. SPOILERWARNUNG – wer die Folge noch nicht gesehen hat und nicht verraten haben möchte, wie sie ausgehen wird, sollte jetzt nicht weiterlesen.
Natürlich erreicht Game of Thrones nicht mehr die Finesse der ersten Staffeln, schon mit der vorangegangen siebten Staffel gab es keine Buchvorlage mehr und alles steuerte deutlich auf den TV-tauglichen Klimax von Gut gegen Böse hin. Entsprechend plätscherten auch die ersten beiden Folgen der achten Staffel vor sich hin und bereiteten die epische End-Schlacht vor.
Diese Folgen „Ach, du auch hier auf Winterfell?“ und „Was ich Dir vor der großen Schlacht noch sagen wollte“ könnte man als kunstvolle Zusammenführung der Geschichten und der Protagonist_innen der vorangegangenen sieben Staffeln lesen. Aber leider ist wieder so viel gewollt und zurechtgebogen. Wie schafft es etwa Theon Greyjoy, innerhalb kürzester Zeit das Schiff mit seiner gefangengehaltenen Schwester ausfindig zu machen, sie zu befreien und dann schnell in Winterfell aufzutauchen?
Egal. Es geht hier nicht um Storyline-Details, sondern um den Kampf von Gut gegen Böse, den Kampf gegen den Tod. Naja.
Die Frauen prägen den Kampf
„Wir kämpfen gegen den Tod! Den kann ich nicht besiegen!“ schreit Sandor „The Hound“ Clegane verzweifelt zur Mitte der Folge im Schlachtgetümmel. Korrekt wäre gewesen: „Niemand kann den Tod besiegen.“ Und es ist das Glück der Lebenden, dass sie einen Niemand in ihren Reihen haben.
Arya Stark verschafft sich zwar nicht das Gesicht eines der Untoten, um am Ende die Schlacht zu entscheiden, wie zuvor spekuliert worden war. Doch es ist charmant, dass ausgerechnet sie mit einem Trick den Nachtkönig zur Strecke bringt, und nicht etwa Danaerys und Jon mit ihren Drachen. Immerhin hier bricht Game of Thrones mit den Traditionen des Genres (ein Hauch von Fantasy-Matriarchat) – ein Tod des Nachtkönigs durch das Schwert von Jon Snow, nachdem dieser durch Horden an Untoten gestapft war, um zu vollenden, was Danys Drache nicht geschafft hat, wäre nur schwer zu ertragen gewesen.
Schlimm genug, dass so viele Protagonist_innen die Schlacht überleben (wer stirbt, wer lebt? Hier eine Liste). Schon zur Mitte der Folge überrennen die Untoten die Burgmauern, Leute wie Ser Jamie, Sam und Ser Brienne stehen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand gegen die Zombiemassen, und sie stehen und stehen und stehen bis ENDLICH die Zombies zu Staub/Eis zerfallen. Solch wundersames Überleben mag zwar schön für die Zuschauer sein, aber die selbst gesetzten Standards, eine weitestmöglich realistische Darstellung der Geschehnisse zu bieten, werden (mal wieder) nicht erfüllt.
Hätte dann nicht wenigstens Lyanna Mormont überleben können? Immerhin bleibt uns eine Turtelei von Theon und Sansa erspart, der ausgiebige Blickkontakt zwischen beiden vor der Schlacht (zweite Folge) ließ einen schon Schlimmstes befürchten.
Fast anderthalb Stunden Schlacht – vorspulen, bitte
Die große Herausforderung, die längste Schlacht der Filmgeschichte unterhaltsam zu erzählen, wird auch nicht komplett gemeistert. Wie schwierig das ist, zeigte schon die Schlacht um Helms Klamm im zweiten Teil der „Herr der Ringe“-Trilogie. Sie dauerte 40 Minuten und hatte eine eigene Dramaturgie (gut herausgearbeitet in einem Nerdwriter-Video) mit Momenten von Hoffnung und Verzweiflung, die die Spannung halten sollen (und es auch hier nicht immer vermochten).
Ähnlich versucht es Game of Thrones. Melisandre taucht auf und entzündet die Sicheln der Dothraki (Hoffnung!), deren Fackel-Angriff erlischt in der Ferne (Verzweiflung!). Danaerys und Jon greifen mit Drachen in die Schlacht ein (Hoffnung!), doch sie kommen im Sturm vom Kurs ab (Verzweiflung!). Daenerys' Drache speit Feuer auf den Nachtkönig (Hoffnung!), ihn juckt's nicht (Verzweiflung!), Jon stapft mit gezücktem Schwert los (Hoffnung!), der Nachtkönig erweckt einfach wieder alle Toten zum Leben (Verzweiflung!).
Sogar stille Momente gibt es, als Arya zur Schlachtmitte durch die Burg schleicht und Untoten ausweicht (wie den Velociraptoren bei Jurassic Park) – Szenen von allerdings beschränkter Sinnhaftigkeit mit dem einzigen Ziel, Arya und Lady Melisandre zusammenzuführen und den Zuschauenden in der Mitte der Schlacht ein kurzes Atemholen zu ermöglichen.
Insgesamt sind es tolle Szenen, aufwändig gedreht, was wahrscheinlich eine Kinoleinwand erfordern würde. Bei einem zweiten Gucken der Folge dürfte die Hand allerdings sehr in Richtung Vorspulen zucken.
Und nun: Viva Cersei?
Wenn das der Herr der Ringe wäre, würden jetzt drei Folgen voller Hochzeiten und Lobreden kommen, noch ein Abschlussgeplänkel mit Saruman im Auenland vielleicht (in den Büchern, nicht in den Filmen). Doch es ist Game of Thrones, der Kampf um den Eisernen Thron. Und auf dem sitzt weiterhin Cersei, sie ist nicht Saruman.
Ihre Strategie scheint aufzugehen: Sich aus dem Kampf gegen die Untoten heraushalten, um dann gegen die Reste des Siegers leichtes Spiel zu haben. Sie hat Söldnerunterstützung, wenn auch ohne Elefanten. Dany und Jon haben nur noch einen Drachen (oder doch zwei?), ihre Armeen sind vernichtet. Dass Daario Naharis aus dem Osten auftaucht, erscheint eher unwahrscheinlich. Zudem wird es jetzt Zoff um die Thronfolge geben: Eigentlich steht ja Jon vor Dany. Oder beide gemeinsam? Nicht gut.
Und so ist die Niederlage des Nachtkönigs zur Staffelmitte eine gute Nachricht: Wo die Schlacht von Gut gegen Böse geschlagen ist, kann jetzt das eigentliche Spiel der Throne weitergehen, der Kampf um den Eisernen Thron in Königsmund. Wermutstropfen: Den in Staffel Sieben getöteten Ränkeschmied Littlefinger wird man dabei arg vermissen. | Malte Göbel | Bei Game of Thrones treten alle Held_innen gegen den Endboss an: eine epische, mitunter langweilige Schlacht der Lebenden gegen die Toten. | [
"Game of Thrones",
"Fantasy",
"HBO",
"Fernsehserie",
"George R. R. Martin",
"Serien-Guide",
"Medien",
"Gesellschaft",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,920 |
Kommentar Rechtsruck in Frankreich: Aufwachen, Monsieur Le President! - taz.de | Kommentar Rechtsruck in Frankreich: Aufwachen, Monsieur Le President!
Hollande kann in der Debatte um die Homoehe zeigen, dass er für ein fortschrittliches Frankreich steht. Tut er es nicht, kann er einpacken.
Jetzt kann der französische Staatspräsident verhindern, dass Frankreich ernsthaft nach rechts abdriftet. Hollande hat jetzt die Chance, die Sozialisten doch noch als links zu profilieren. Paradoxerweise liefern ihm die reaktionärsten Kreise diese Steilvorlage.
Sie machen aus der Homoehe eine Grundsatzfrage: Der Fortbestand der Familie, ja, der menschlichen Zivilisation stehe auf dem Spiel. Die pseudochristlichen Warnungen und Mahnungen verbergen dabei nur notdürftig die eigentlichen Motive: homophobe Vorurteile und die Ablehnung jeder sexuellen Freiheit.
Auch für Hollande und Frankreichs Linke muss es jetzt ums Prinzip gehen: den Kampf gegen die jahrhundertealte Diskriminierung und Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Paaren.
Die Einmischung der Bischöfe und ihrer noch weiter rechtsstehenden religiösen Alliierten muss zurückgewiesen werden. Geben sie bei dieser Reform nach, verrät die regierende Linke die Grundwerte der Revolution und der Aufklärung, auf die sich die Republik beruft.
Hollande kann bei der Debatte über die Homoehe zeigen, dass er – im Unterschied zu Sarkozy und der zwischen extrem rechten und liberalen Positionen schwankenden UMP – der französischen Gesellschaft ein fortschrittliches Antlitz geben will. Genau dafür ist er gewählt worden.
Diese Reform eignet sich wegen der klaren Fronten besser als seine anderen 60 Wahlversprechen, um Profil zu gewinnen - und vor allem: Sie kostet (noch) nichts. Hollande hat also fast freie Hand – was im Umkehrschluss bedeutet: Er kann ein eventuelles Einknicken nicht mit finanziellen Sachzwängen rechtfertigen. Geht Hollande jetzt nicht gegen den Rechtsdruck vor, dann können er und seine Partei einpacken und nach Hause gehen. | Rudolf Balmer | Hollande kann in der Debatte um die Homoehe zeigen, dass er für ein fortschrittliches Frankreich steht. Tut er es nicht, kann er einpacken. | [
"Frankreich",
"Homo-Ehe",
"Hollande",
"Sozialisten",
"Homophobie",
"Debatte",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,921 |
Klimawandel schädigt Weltnaturerbe: Great Barrier Reef droht Rote Liste - taz.de | Klimawandel schädigt Weltnaturerbe: Great Barrier Reef droht Rote Liste
Eine UN-Mission schlägt Alarm: Das größte Korallenriff der Welt soll auf die Liste der stark gefährdeten Welterbestätten.
Ein Inspekteur unterwegs zu den Korallen des Great Barrier Reefs Foto: Sam McNeil/ap
CAIRNS taz | In ihrem Bericht an die Unesco kommen Forscher zu dem Schluss, der fortschreitende Klimawandel sei eine „ernste Herausforderung“ für die das Great Barrier Reef, das sich vor der nordöstlichen Küste Australiens befindet. Der Bestand sei gefährdet, das Riff könnte auf die Rote Liste gesetzt werden. Die Fortschritte bei der Verringerung der Verschmutzung des Riffs durch Landwirtschaft seien viel zu langsam. Es seien mehr Investitionen erforderlich, um die Ziele für eine Verbesserung der Wasserqualität zu erreichen, heißt es in dem Bericht.
Der Entscheid der Experten muss nun von der Unesco evaluiert werden, bevor sie dem Welterbekomitee vor seiner nächsten Sitzung eine formelle Empfehlung abgibt.
Der Abschlussbericht enthält zehn Empfehlungen, die „mit äußerster Dringlichkeit“ angegangen werden sollten. Ihre Umsetzung könne Australiens Fähigkeit, die Erhaltung des Schutzgebietes zu gewährleisten und voranzutreiben, drastisch verbessern und seinen „herausragenden universellen Wert“ für künftige Generationen erhalten.
Das Kernstück der Regierung, der Plan Reef 2050, müsse noch in diesem Jahr gestärkt werden, um „klare Regierungsverpflichtungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in Übereinstimmung mit den Anstrengungen, die erforderlich sind, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“, zu enthalten, so der Bericht. Seit dem Besuch der Mission im März hat die im Mai gewählte sozialdemokratische Regierung von Premierminister Anthony Albanese ein verbessertes nationales Ziel festgelegt, um die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 43 Prozent gegenüber 2005 zu senken und bis 2050 netto null zu erreichen.
Folgen für die Tourismusindustrie
Eine Abstufung des Great Barrier Reefs würde nicht nur das Ansehen Australiens schädigen, sondern hätte auch verheerende Folgen für die Tourismusindustrie. Das Riff ist eine der Hauptattraktionen für Besuchende. Der Rifftourismus stellt über 60.000 Arbeitsplätze.
Trotzdem kritisierte die australische Umweltministerin Tanja Plibersek die Empfehlung der Experten. Die Regierung habe im jüngsten Haushaltsplan Hunderte von Millionen Dollar budgetiert, um die Wasserqualität zu verbessern. Auch würden mehr Mittel in die Forschung gesteckt, um die Widerstandsfähigkeit der Korallen und Riffe zu stärken. Korallenexperten aber bleiben skeptisch. Forschungen zufolge ist das neue Klimaziel Australiens nur mit einer Begrenzung der Erwärmung auf 2 Grad Celsius vereinbar – das sind deutlich mehr als 1,5 Grad Celsius, dem Wert, der für die langfristige Gesundheit des Riffs als entscheidend gesehen wird.
Steigende Meerestemperaturen, die durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe verursacht werden, haben in den Jahren 1998, 2002, 2016, 2017, 2020 und 2022 eine weit verbreitete Korallenbleiche verursacht. Die führende australische Korallenexpertin Dr. Katharina Fabricius fürchtet, dass es im kommenden australischen Sommer zu einer weiteren Unterwasserhitzewelle kommen könnte – mit potenziell katastrophalen Folgen für das Riff. „Korallen können eine Bleiche überstehen, aber nur, wenn sie Zeit haben, sich zu erholen“, so Fabricius im Gespräch mit der taz.
Trotz der negativen Folgen für das globale Klima will die neue australische Regierung scheinbar am Ausbau der lukrativen Kohle- und Gasindustrie festhalten. Australien ist der größte Exporteur von Kohle, die Wissenschaftler als „Klimakiller“ beschreiben. Analysten zufolge sind über 100 Projekte für neue Minen und Verarbeitungsanlagen geplant. Klimatologen meinen, die globale Erhitzung könne nur unter Kontrolle gebracht werden, wenn keine neuen Gas- und Kohleressourcen mehr erschlossen und fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien ersetzt werden. | Urs Wälterlin | Eine UN-Mission schlägt Alarm: Das größte Korallenriff der Welt soll auf die Liste der stark gefährdeten Welterbestätten. | [
"Australien",
"Korallenriff",
"Great Barrier Reef",
"Klimawandel",
"Ökologie",
"Öko",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,956 |
■ Der Brčko-Schiedsspruch ist eine Chance für Bosnien-Herzegowina: Strafe für die Extremisten - taz.de | ■ Der Brčko-Schiedsspruch ist eine Chance für Bosnien-Herzegowina: Strafe für die Extremisten
Es verwundert nicht, wenn die serbischen Extremisten jetzt schäumen. Leute wie der bisherige Präsident Nikola Poplašen sind vier Jahre nach dem Krieg intolerante Kriegstreiber geblieben. Nach wie vor legitimieren sie die ethnischen Vertreibungen und die damit zusammenhängenden Verbrechen. Sie outen sich dadurch erneut als engstirnige, faschistische Geister und Kriminelle. Und demonstrieren, daß sie eine friedlichen Zukunft nicht gestalten wollen.
Mehr muß verwundern, daß auch serbische Moderate wie der bisherige Premierminister Milorad Dodik und Živko Radišić, das serbische Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, aus Protest gegen die Brčko- Entscheidung zurückgetreten sind oder ihre Ämter zumindest ruhen lassen wollen. Sie muß man fragen, was schlecht an einem internationalen Schiedsspuch ist, der aus Brčko wieder eine multiethnische, multireligiöse und demokratisch regierte Stadt machen will.
Die Brčko-Entscheidung gesteht allen Bewohnern der nordostbosnischen Stadt gleiche Rechte zu. Sie gibt allen Menschen in Brčko Hoffnung auf eine Normalisierung des Lebens. Nur von den Nationalisten fordert der Kompromiß Opfer: Brčko wird eben nicht, wie vom bosnisch-muslimischen Präsidenten Alija Izetbegović gefordert, Teil der Föderation sein.
Man kann nur hoffen, daß die Haltung von Ex-Premier Dodik einem wahltaktischen Kalkül entspringt und er bald wieder auf die politische Bühne zurückkehrt. Denn dort könnte er die Interessen der serbischen Bevölkerung am besten vertreten: Im Schiedsspruch wird ausdrücklich Zusammenarbeit gefordert. Wer nicht mitmacht, kann also nur verlieren. Auch sollte Dodik nicht in den Chor der serbischen Extremisten einstimmen, die Brčko-Entscheidung habe die Republika Srpska in zwei Teile zerrissen. Denn hinter diesem Argument steckt nichts als die reale Angst der Hardliner, daß es nun nicht mehr möglich sein wird, die durch den Krieg zum ethnisch rein serbisch gemachte Republika Srpska aus Bosnien-Herzegowina herauszulösen und mit Serbien zu vereinen.
Tatsächlich ist der großserbische Traum mit dem Schiedsspruch ausgeträumt. Von nun an wird es leichter werden, viele Bestimmungen des Vertrages von Dayton durchzusetzen – auch die Rückkehr der Flüchtlinge. Die Brčko-Entscheidung gibt erstmals wieder Hoffnung, daß Bosnien-Herzegowina als gemeinsamer Staat aller Bürger wiedererstehen kann. Davon werden auch die von den Extremisten in die Sackgasse geführten bosnischen Serben profitieren. Erich Rathfelder | Erich Rathfelder | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,965 |
|
Legaler Handel mit Spendernieren im Iran: Die Schulden mit der Niere bezahlt - taz.de | Legaler Handel mit Spendernieren im Iran: Die Schulden mit der Niere bezahlt
Im Iran können Spender ihre Nieren legal verkaufen. Das höchst umstrittene System verhindert Wartelisten und schwächt den Schwarzmarkt.
Hohe Quote an Spenden von Lebenden: Ärzte im Iran bei einer Nierentransplantation Foto: ap
TEHERAN AP Noch muss Sahra Hadschikarimi dreimal die Woche zur Dialyse. Doch nicht mehr lange. Schon bald wird für die Frau aus Teheran ein neues Leben beginnen. Dank eines speziellen Systems, das im Iran den direkten Verkauf von Nieren erlaubt, muss sie nur wenige Monate auf ein neues Organ warten.
Wer sich als Spender zur Verfügung stellt, erhält umgerechnet etwa 4000 Euro. Nach Ansicht von Kritikern ist genau das aber ein Problem. Denn die Verlockung, sich für diesen Preis freiwillig unters Messer zu legen, dürfte vor allem für ärmere Menschen groß sein.
Um eine indirekte Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen zu verhindern, lehnt die Weltgesundheitsorganisation WHO vehement jede Form der „Kommerzialisierung“ von Organtransplantationen ab. In fast allen Ländern wird dies auch so gehandhabt. Der Sonderweg des Irans hat zum Teil historische Gründe. Einige Experten fordern inzwischen aber, zumindest Teile des Modells auch anderswo einzuführen. Denn das Ergebnis ist – bei aller Kritik – in zweifacher Hinsicht bemerkenswert.
Während in Ländern wie Indien, Pakistan oder den Philippinen ein kaum zu kontrollierender Schwarzmarkt für menschliche Organe entstanden ist, gelten im Iran klare Regeln. Und während in vielen westlichen Ländern unzählige Patienten auf eine Spenderniere warten, und jedes Jahr Tausende von ihnen sterben, weil sie nicht rechtzeitig eine bekommen konnten, ist die Warteliste im Iran seit Einführung des Systems praktisch vollständig abgebaut.
Jeder Mensch wird mit zwei Nieren geboren. Im Normalfall ist eine aber ausreichend, um das Blut zu reinigen und damit ein gesundes Leben zu ermöglichen. Wer das Risiko einer Operation in Kauf nimmt, kann also eine seiner Nieren abgeben. Die Blutgruppen von Spender und Empfänger sollten zwar zusammenpassen. Die beiden Personen müssen aber nicht miteinander verwandt sein. Aus rein medizinischer Sicht steht einem umfassenden „Handel“ also nichts im Wege.
Selbst für die USA interessant
„Einige Spender haben durchaus finanzielle Motive. Das können wir nicht bestreiten“, sagt Haschem Ghasemi, Leiter des Iranischen Patientenverbandes für Dialyse und Transplantationen. „Und einige Leute wollen einfach nur etwas Gutes tun.“ Anders als im globalen Schwarzmarkt gibt es im Iran keine dubiosen Zwischenhändler, die an dem Geschäft kräftig mitverdienen. Wer hier eine Niere braucht, wird an den Patientenverband verwiesen. Der kümmert sich dann um die Vermittlung. Die Kosten für die Operation werden vom Staat übernommen.
Nieren wurden im Iran erstmals 1967 verpflanzt. Nach der Islamischen Revolution im Jahr 1979 waren solche Operationen aber zunächst kaum noch möglich, vor allem wegen der internationalen Sanktionen. In den 80er Jahren durften Patienten für eine Transplantation ins Ausland reisen. Aber die fast überall länger werdenden Wartelisten, die hohen Kosten und vor allem die Folgen des langjährigen Krieges gegen den Irak machten schließlich auch dies unmöglich. Im Jahr 1988 wurde deswegen das System etabliert, das im Wesentlichen bis heute besteht.
Nach Angaben der Regierung profitieren im Iran inzwischen jährlich etwa 1.500 Patienten von einer Lebendnierenspende, und damit 55 Prozent der insgesamt 2.700 Menschen, die eine neue Niere erhalten. Zum Vergleich: In den USA erhält nur etwa ein Drittel der Empfänger das neue Organ von einem lebenden Spender – und dieser Unterschied ist bedeutend, denn nach Angaben des United Network for Organ Sharing (UNOS), das in den USA die Transplantationen koordiniert, „hält“ eine Ersatzniere von einer verstorbenen Person im Durchschnitt etwa 10 Jahre, während es bei einer Lebendnierenspende 15 Jahre sind.
Die Gesamtzahl der Transplantationen in den USA im Jahr 2015 lag laut UNOS bei 17 878. Insgesamt 4.481 Patienten seien gestorben, weil keine passende Niere zur Verfügung gestanden habe. Fast 100.000 Personen stünden weiter auf der Warteliste.
Aufgrund dieser Zahlen haben zuletzt namhafte Wissenschaftler angeregt, Möglichkeiten des legalen Kaufs von Nieren auch für die USA in Betracht zu ziehen – etwa in einem Fachartikel des „American Journal of Transplantation“. Auch Sigrid Fry-Revere, Präsidentin und Mitbegründerin des American Living Organ Donor Network, sagt, dass einige Aspekte des iranischen Programms aus ihrer Sicht auch für andere Länder interessant sein könnten, wenngleich sie jede Art eines profitorientierten Handels ablehne.
Niere gespendet, um Schulden abzubezahlen
Dass das Geld im iranischen System für viele Spender ein wesentlicher Antrieb ist, steht allerdings außer Frage. Im Umkreis vieler Krankenhäuser in Teheran wird gezielt dafür geworben, eine Niere gegen Bares einzutauschen. Er sei hier, um mit dem Geld, das er für sein Organ bekommen werde, seine Schulden abbezahlen zu können, sagt ein Mann, der anonym bleiben möchte – im Iran drohen Schuldnern Gefängnisstrafen. „Mein Leben und mein Ruf sind in Gefahr. Das hat mich dazu gebracht, das hier zu tun“, sagt er.
Für die, die dringend eine neue Niere benötigen, ist das System trotzdem ein Segen. Die 52-jährige Hadschikarimi hängt seit vier Monaten regelmäßig an den Dialyse-Geräten, weil die Ärzte erhöhte Proteinwerte in ihrem Urin festgestellt hatten. „Es wäre sehr schwer, sich ein Leben ohne die Möglichkeit einer Nierenspende vorzustellen“, sagt sie. Dann gäbe es für sie keine Möglichkeit, wieder gesund zu werden. „Es wäre ein totales Chaos und sehr qualvoll.“ | Nasser Karimi | Im Iran können Spender ihre Nieren legal verkaufen. Das höchst umstrittene System verhindert Wartelisten und schwächt den Schwarzmarkt. | [
"Iran",
"Organhandel",
"Organspende",
"Gesundheit",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,966 |
Kommentar Todesfall Hambacher Wald: Kommt jetzt mal runter - taz.de | Kommentar Todesfall Hambacher Wald: Kommt jetzt mal runter
Der Unfall im Hambacher Wald muss eine Pause bewirken. Und zwar bei allen Beteiligten: Aktivisten, Polizisten, Politikern – und bei RWE.
Aktivisten bei einer Schweigeminute im Hambacher Forst Foto: dpa
„Selbst Schuld!“, schreibt jemand im Internet. Wieso sei der Mann auch da oben herumgeklettert? „RWE“, schreibt jemand anderes, habe diesen „Mord“ zu verantworten. Viele Menschen, viele Trolle, viele Bots schreiben gerade bei Twitter und Facebook ungehöriges Zeug – wenn es um den Unfalltod eines Mannes geht, der am Mittwoch von einem Baumhaus hinabgestürzt ist in den Tod. Es ist ja auch immer wieder so einfach: von Schuld zu sprechen und davon, dass die anderen sie tragen.
Schuld, das ist ein Wort, mit dem man alles erschlagen kann. Aber man sollte damit nicht auf die Würde eines Menschen zielen.
Dies ist gerade nicht die Zeit für Parolen. Und vor allem ist der tragische Unfall vom Mittwoch kein Anlass, daraus politisch Kapital schlagen zu wollen. Der Tod im Hambacher Wald ist Anlass für Demut und Respekt vor dem Leben.
Als vor einigen Wochen Aktivisten, Politiker und Journalisten auf die bevorstehende Räumung im Hambacher Wald blickten, fürchteten viele, dort könne „ein zweites Wackersdorf“ entstehen. Dort war einst durch Protest eine atomare Wiederaufbereitungsanlage verhindert worden. Auch im Rahmen dieser Proteste kamen vor über 30 Jahren Menschen ums Leben. Eine Frau erlitt einen Herzinfarkt, ein Mann starb an den Folgen eines Asthmaanfalls, nachdem die Polizei CS-Gas eingesetzt hatte.
Es ist nicht richtig, dass Menschenleben zur Währung für politische Erfolge werden.
Eine Pause muss her
Und ebenso wie es falsch ist, dass Opfer von Messerangriffen von Wutbürgern und Rechtsextremen instrumentalisiert werden, ebenso falsch und verwerflich ist es, den Tod des Mannes aus dem Hambacher Wald zu instrumentalisieren. Nicht nur weil seine Freunde sagen, er hätte das nicht gewollt.
Sicher, es widerspricht der Logik der Auseinandersetzung, freiwillig die selbst gebauten Barrikaden abzubauen. Aber es entspricht dem Gebot der Vernunft, es jetzt zu tun.
Der Unfall im Hambacher Wald muss eine Pause bewirken. In einem verfahrenen politischen Konflikt, in dem der Frontverlauf klar und das Territorium strittig ist, muss es nun Raum geben, verbal und materiell abzurüsten. Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, hat damit in einer bewegenden Stellungnahme begonnen und die Räumung bis auf Weiteres ausgesetzt. Besetzer im Wald misstrauen ihm aber, auch weil sie sehen, dass Räumpanzer weiterhin Barrikaden abräumen. Derzeit, sagt die Polizei, räume sie nur Rettungswege.
Sicher, es widerspricht der Logik der Auseinandersetzung, freiwillig die selbst gebauten Barrikaden abzubauen. Aber es entspricht dem Gebot der Vernunft, es jetzt zu tun. Jeder konnte sehen, wie schwierig die Räumung im Hambacher Wald sich darstellt und dass Menschen bereit sind – ob Baum- oder Tunnelbesetzer –, sich dafür in Lebensgefahr zu begeben. Der Preis also ist nun bekannt.
Dies darf nicht der Preis von Politik sein. Daher sollten jetzt die Menschen herunterkommen von den Bäumen, die Polizei abziehen und die nordrhein-westfälische Landesregierung sollte RWE erklären, dass es derzeit nichts zu wünschen gibt. Es ist ansonsten nicht ausgeschlossen, dass der politische Preis dieses Konflikts in weiteren Menschenleben bemessen wird. | Martin Kaul | Der Unfall im Hambacher Wald muss eine Pause bewirken. Und zwar bei allen Beteiligten: Aktivisten, Polizisten, Politikern – und bei RWE. | [
"RWE",
"Todesfall",
"Herbert Reul",
"Hambacher Forst",
"Ökologie",
"Öko",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,995 |
Serie über Band Sex Pistols bei Disney+: Trau dem, was du siehst - taz.de | Serie über Band Sex Pistols bei Disney+: Trau dem, was du siehst
Die Disney-Miniserie „Pistol“ erzählt die Geschichte der revolutionären Punk-Band Sex Pistols. Sie basiert auf der Autobiografie des Gründers Steve Jones.
Louis Partridge als Sid Vicious, Anson Boon als John Lyndon und Toby Wallace als Steve Jones (l.n.r) Foto: Disney+
Das Folgende ist von tatsächlichen Ereignissen inspiriert: Die zweite Folge der Miniserie „Pistol“ trägt den schlichten Titel „Rotten“. Sie erzählt davon, wie aus der Band Kutie Jones and his Sex Pistols die Sex Pistols wurden, nachdem John Lydon vorgesungen und den neuen Nachnamen Rotten erhalten hatte. Sie erzählt aber auch von Pamela Rooke, die sich selbst mit 14 den Namen Jordan gegeben hat.
Jordan fuhr zwei Jahre lang jeden Tag zwei Stunden mit der Bahn von Seaford, East Sussex, nach London. Dort arbeitete sie in Vivianne Westwoods Boutique „Sex“. Jordan gilt als Muse der Modedesignerin und als das erste Gesicht von Punk. Mit ihrer äußerst knappen Bekleidung versuchte sie den taxierenden Blick der Männer auf diese zurück zu reflektieren. Ihre expressiven Make-ups und radikalen Outfits jagten den Männern Angst ein.
Dass mehrere Geschichten, auch unter Zuhilfenahme von dokumentarischem Material, parallel erzählt werden, ist das erzählerische Prinzip der nun auf Disney+ gestreamten Serie, die auf der Autobiografie des Pistols-Gründers und Gitarristen Steve Jones basiert. Die Kritik hatte 2017 Jones’ Buch gut aufgenommen, weil der Mann eine bemerkenswerte Offenheit an den Tag legt, die nun auch der Serie zugute kommt, bei der Danny Boyle Regie geführt hat.
Anders als die anderen Bandmitglieder kamen lediglich Steve Jones und Drummer Paul Cook aus armen Verhältnissen. Jones aber hatte das härteste Schicksal von allen. Seine Mutter ist nicht in der Lage, sich um das Kind zu kümmern. Der Stiefvater übt psychische und sexuelle Gewalt gegen den Jungen aus. Steve wird seit der Pubertät immer wieder straffällig. Seine größten Coups als Dieb bestehen darin, Equipment seiner Lieblingsbands zu klauen. Das ist seine Art, sein Fantum auszuleben und an deren Geschichte teilzuhaben.
Gerechtigkeit für alle Figuren
Malcolm McLaren bewahrt Jones durch einen Auftritt als seriöser Arbeitgeber vor Gericht davor, eine längere Haftstrafe antreten zu müssen. Der vaterlose, von Vaterfiguren immer nur enttäuschte und missbrauchte Jones ist McLaren dafür so dankbar, dass er immer wieder falsche Entscheidungen trifft, wenn McLaren die Band lediglich als Vehikel für seine Pläne benutzt.
Die Hauptfigur von „Pistol“ ist also Steve Jones, und die Geschichte der Pistols von ihren Anfängen im Jahr 1975 bis zu ihrem Ende 1978 wird aus seiner Perspektive erzählt.
Nach allem, was man bisher aus verschiedenen Quellen über diese Geschichte gehört hat, ist Jones trotz einer notgedrungen subjektiv gefärbten Sicht ein Erzähler, der den Figuren Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte. Niemand erscheint hier als Bösewicht. Alle Figuren werden mit ihren Schwächen, Vorzügen und Widersprüchlichkeiten gezeigt, die wahrhaftig erscheinen. Die Rollen sind allesamt gut besetzt.
Inspiriert von wahren Ereignissen
Bei aller Skepsis, die man dem Genre Biopic gegenüber haben kann und sollte, erklärt „Pistol“ doch auf brillante Weise, wie es den Sex Pistols auf spektakuläre Weise gelang, die situationistische Theorie der Gesellschaft des Spektakels, deren gelehriger Schüler Malcolm McLaren war, in eine kulturrevolutionäre Praxis zu verwandeln. „Pistol“ bedient sich da etwa des genialen Moves, mittels eines von Heroinkonsum leicht vernuschelten Monologs von Sid Vicious’ Freundin Nancy Spungen zu erzählen, dass Punk nicht in London, sondern in New York erfunden wurde.
Die Serie kann dann aber auch plausibel darstellen, warum es das historische Zusammentreffen von Leuten wie Steve Jones, John Lydon, Malcolm McLaren, Vivienne Westwood, Jordan und aller anderen in dieser furchtlosen Gang war, das Punk eine Stimme, einen Sound und eine Erzählung gab, die Jugendlichen weltweit eine revolutionäre Botschaft vermittelte: Trau dem, was du selbst siehst, hörst und wahrnimmst. Du kannst die von Tabus, Klischees und Normen kaschierte Gewalt in der Gesellschaft auf kreative Weise bekämpfen.
Die SerieDie sechs Folgen der Miniserie „Pistol“ laufen auf Disney+
Auch „Pistol“ ist dieser Haltung verpflichtet. Und damit das kein juristisches Nachspiel hat, heißt es vor jedem Teil: „The following is inspired by actual events.“ | Ulrich Gutmair | Die Disney-Miniserie „Pistol“ erzählt die Geschichte der revolutionären Punk-Band Sex Pistols. Sie basiert auf der Autobiografie des Gründers Steve Jones. | [
"Miniserie",
"Streaming",
"Sex Pistols",
"Punks",
"Punkrock",
"Medien",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 22,996 |
Was wird die Welt beschäftigen?Hermann Scheer - taz.de | Was wird die Welt beschäftigen?Hermann Scheer
Diese Menschen wollen oder müssen 2008 etwas Neues anfangen. Da haben wir drei Fragen. 1. Was wird die Welt beschäftigen und was sollte die Welt 2008 beschäftigen? 2. Wie retten Sie die Welt? 3. Von welchen drei Menschen erwarten Sie 2008 etwas?
63, SPD-Bundestagsabgeordneter und Präsident von Eurosolar, will 2008 Wirtschafts- und Umweltminister in Hessen werden. Sein Angebot: ein Programm für die komplette Energiewende ohne Kohle und Atom.
1. In „der Welt“ sollte endlich erkannt werden, dass die Klimakatastrophe nicht mit Weltkonferenzen bekämpft werden kann, die den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen.
2. Ich werbe und wirke weiter für eine technologische Revolution hin zu erneuerbaren Energien nach dem Prinzip „Global denken, lokal handeln“.
3. Zuerst von mir selbst. Wen soll ich sonst noch nennen, ohne jemand zu vergessen, der oder die auch genannt werden müsste?
Patrick Breyer
Jurist, hat die größte Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland initiiert. Über 20.000 Menschen wollen 2008 gegen das Gesetz zur sechsmonatigen Speicherung sämtlicher Telefon- und Internetdaten nach Karlsruhe ziehen.
1. Medien und Politik werden sich auch 2008 mit Terrorismus und spektakulären Straftaten, mit „Sicherheitsgesetzen“ und Bundeswehreinsätzen beschäftigen. Unsere wirklichen Bedürfnisse sind aber andere: Wir müssen Selbstbestimmungs- und Freiheitsrechte zurückerobern, aber auch genügend Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen und Armut in Deutschland und der Welt wirksam reduzieren.
2. Wir werden der Hydra des entgrenzten Sicherheitsstaates einen Kopf abschlagen, indem wir die anlasslose Erfassung des Kommunikations- und Bewegungsverhaltens der gesamten Bevölkerung (Vorratsdatenspeicherung) vor den Gerichten stoppen werden.
3. Im Deutschen Bundestag haben unter anderem Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Jan Korte (Linke) und Jerzy Montag (Grüne) das Wort ergriffen gegen unser Abgleiten in Richtung autoritärem Hochsicherheitsstaat. 2008 muss es nun darum gehen, ein breites Freiheitsnetzwerk zu bilden und eine nachhaltige, konstruktive Innenpolitik zu entwickeln, der die Menschen sowohl ihre Freiheit wie auch ihre Sicherheit anvertrauen können.
Hanna Maier
19, bekommt am 21. Juni 2008 ihr Abiturzeugnis. Noch ist völlig offen, was danach kommt – Auslandspraktikum, Ökologisches Jahr, Jobben oder Studium? Eins ist klar: Gar nichts tun, wird nicht finanziert, sagen die Eltern.
1. Ich denke, dass der Klimawandel und alles, was damit zusammenhängt, noch für ziemlich viel Aufsehen sorgen wird, und das ist auch ganz gut so. Bis jetzt gibt es ja schon wieder keinen Schnee in diesem Winter.
2. Wenn ich genug Zeit habe, werde ich mich wie Forrest Gump auf den Weg machen und versuchen, mit so vielen Menschen wie möglich um die Erde zu laufen. Auf dem Weg gibt es nur Handtücher mit Friedenssprüchen und absolut gerechte Wasserverteilung. Nebenbei würde ich gern noch ein paar bedrohte Tierarten retten und die Formel zur Vernunft entdecken.
3. Ich erwarte von Bob Marley, dass er wieder aufersteht, von Jan Delay, dass er noch mal eine neue CD rausbringt, und von meiner Mami, dass sie mir auch im letzten Schuljahr noch das Schulbrot schmiert.
Dieter Thomas Heck
69, Fernsehmoderator, hat im November nach 38 Jahren und elf Monaten seine Arbeit für das ZDF (Hitparade, Melodien für Millionen und vieles andere) beendet. Was machen Sie 2008 Neues, Herr Heck? „Wenn ich Ihnen das jetzt sagen würde, dann wäre es ja nichts Neues mehr.“
1. Dass es keinen Hunger mehr auf der Welt gibt.
2. Bin ich Gott?
3. Wieso denn nur von Dreien?
Rose Volz-Schmidt
52, reist im Januar 2008 erstmals zum Weltwirtschaftsforum nach Davos, um dort das Gespräch mit den Chefs transnationaler Konzerne zu suchen. Die Geschäftsführerin der gemeinnützigen wellcome GmbH, die junge Eltern direkt nach der Geburt ihrer Kinder betreut, ist zur „Sozialunternehmerin des Jahres 2007“ gewählt worden.
1. Mir macht Sorgen, dass die soziale Ordnung flöten geht. Die Armen werden ärmer und die Reichen reicher. Wie kommen wir zu einer größeren Verbindlichkeit zum Wohle der Ärmsten? Das ist national und global das große Thema.
2. Das Wort „retten“ ist mir zu groß. Ich halte es mit dem Satz des Schriftstellers Günter Eich: „Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“. Ganz wichtig ist es, genau hinzugucken, in welcher Lage die Menschen sind. Dann kann man vieles anders machen. Wenn Kinder wirklich willkommen sein sollen, müssen Familien konsequenter unterstützt werden – egal, ob es sich um bezahlbaren Wohnraum, bessere Spielplätze oder flexiblere Arbeitszeiten für Eltern handelt.
3. Von Familienministerin Ursula von der Leyen. Sie soll nicht handzahm werden, sondern im Interesse der Familien Konflikte eingehen – und sei es mit der eigenen Partei.
Von meiner 16-jährigen Tochter. Sie soll mir immer wieder sagen, was junge Leute bewegt und was sie von den Erwachsenen erwarten.
Von Reinhold Beckmann. Er könnte mich in seine Sendung einladen – das wäre sicher ein interessantes Gespräch.
Jörg Thadeusz
Fernsehmoderator und Kolumnist, schreibt 2008 nach eigener Aussage „einen dermaßenen Besteller, dass selbst eine usbekische Übersetzung höchstwahrscheinlich erscheint“. Außerdem denkt er „über eine neue Frisur nach“. Im RBB läuft am Dienstagabend (22.05 bis 22.35 Uhr) auch 2008 seine Gesprächssendung „Thadeusz“.
1. Zu Weihnachten 2008 werden unter deutschen Weihnachtsbäumen überdurchschnittlich viele Säuglinge mit schweizerischem oder österreichischem Migrationshintergrund beschenkt. Denn im Sommer findet ein europäisches Fußballturnier im Gebirge statt. Also allgemeine Ausgelassenheit, Blumenwiesen und Osnabrücker Schlachtenbummler, die sich glaubwürdig als „Geissenpeter“ ausgeben.
2. Ich werde auch im bevorstehenden siebten Jahr in Berlin an „Danke“ und „Bitte“ festhalten. Also die zivilisierte Welt vor der Barbarei der Beer-to-go-Vandalen retten.
3. Ich erwarte von Nelson Valdez (Borussia Dortmund), dass er für vier Millionen Euro Tore schießt.
Ich erwarte von Hillary Clinton, dass sie im Sommer eine Affäre mit Matt Damon eingesteht und durch diese unerwartete menschliche Regung im November US-Präsidentin wird.
Ich erwarte von Franziska Drohsel (Juso-Vorsitzende), dass sie zur Vernunft kommt, mit mir neoliberal essen geht, aber in jedem Fall Ansprüche auf die Kanzlerkandidatur 2009 anmeldet. Lieber in Franziskas neuer DDR leben als in Kurts Bratwurstrepublik.
Barbara Streidl
35, Autorin, will „das Leben schöner machen – durch einen neuen Feminismus!“ Gemeinsam mit Meredith Haaf und Susanne Klingner veröffentlicht sie im März 2008 das Buch „Wir Alphamädchen. Warum Feminismus das Leben schöner macht“ (Hoffmann und Campe).
1. Nachdem im letzten Jahr hauptsächlich über die junge Generation gesprochen und geurteilt wurde, hoffe ich nun auf ihre Stimme: die der jungen Frauen, die mitdenken und Ziele haben, frei und selbstbestimmt leben möchten, jede nach ihrer Art. Weil sie nur die eine Hälfte der Welt ausmachen, brauchen wir auch die jungen Männer, um die Welt nicht nur zu beschäftigen, sondern zu verändern, ja, besser zu machen.
2. Wie gesagt: gemeinsam mit den Männern. Zusammen finden wir eine Lösung, um Beruf und Familie zu vereinen, und schaffen ein neues Selbstbewusstsein für den Umgang mit Macht und Sexualität. Dabei hilft uns der Feminismus, der für ein gleichberechtigtes Miteinander der Frauen und Männer steht.
3. Na, eigentlich nicht nur von drei Menschen: Ich erwarte von allen Männern, dass sie sich von falschen, veralteten Rollenmustern lösen – Macho, Machtinhaber, Märchenprinz – lieber sollen sie einfach wieder Männer sein. Und sich freuen, dass sie selbstbewusste Frauen an ihrer Seite haben, die niemals die Frage stellen würden, ob sie nicht eigentlich doch zu dick seien. | Hermann Scheer / Patrick Breyer / Hanna Maier / Dieter Thomas Heck / Rose Volz-Schmidt/ Jörg Thadeusz / Barbara Streidl | Diese Menschen wollen oder müssen 2008 etwas Neues anfangen. Da haben wir drei Fragen. 1. Was wird die Welt beschäftigen und was sollte die Welt 2008 beschäftigen? 2. Wie retten Sie die Welt? 3. Von welchen drei Menschen erwarten Sie 2008 etwas? | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,010 |
Verschärfte Regeln für US-Einwanderer: Bedürftige sollen draußen bleiben - taz.de | Verschärfte Regeln für US-Einwanderer: Bedürftige sollen draußen bleiben
Wer Unterstützung staatlicher Programme, etwa der Gesundheitsversorgung, benötigt, soll künftig keine Aufenthaltserlaubnis für die USA bekommen.
Ein*e Migrant*in in einer Zelle in Texas Foto: ap
WASHINGTON ap | Die USA haben die Regelverschärfung für Einwanderer mit der sogenannten Greencard verteidigt. „Wir wollen, dass die Leute ins Land kommen, die selbstständig sind“, sagte der geschäftsführende Direktor der Behörde für Staatsbürgerschaft und Einwanderung, Ken Cuccinelli, am Montag. Die US-Regierung hatte beschlossen, dass die Aufenthaltserlaubnis nur noch Antragstellern gewährt wird, die keine Unterstützung von staatlichen Programmen erhalten. Dazu zählen zum Beispiel das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid, Lebensmittelkarten oder Wohngeld.
Cuccinelli verteidigte die Entscheidung. Damit rücke die Regierung von Präsident Donald Trump nicht von lange gültigen amerikanischen Werten ab. Sie versuche auch nicht, mit der Tradition zu brechen, bedürftige Einwanderer aufzunehmen. Cuccinelli wurde auf der Pressekonferenz mit einem Zitat aus dem Gedicht von Emma Lazarus konfrontiert, das auf einer Bronzetafel steht, die am Podest der New Yorker Freiheitsstatue angebracht ist: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren!“ Cuccinelli sagte dazu, er habe bestimmt nicht vor, etwas von der Freiheitsstatue zu entfernen.
Bürgerrechtler befürchten allerdings, dass sich bedürftige Einwanderer künftig nicht mehr trauen werden, staatliche Unterstützung zu beantragen oder um Hilfe zu bitten. Sie kritisierten außerdem, die Regelungen gäben Beamten zu viel Entscheidungsfreiheit darüber, ob jemand in der Zukunft auf Hilfe angewiesen sein könnte. Das in Los Angeles ansässige National Immigration Lawcenter kündigte eine Klage an. David Skorten, der Präsident der Assoziation medizinischer Hochschulen, ging davon aus, dass dadurch bestehende gesundheitliche Ungleichheiten verstärkt würden.
Migranten machen nur einen kleinen Anteil derjenigen aus, die öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen. Tatsächlich sind viele von derartigen Leistungen aufgrund ihres Einwanderungsstatus ausgeschlossen. Jährlich bewerben sich etwa 540.000 Menschen für eine Greencard. Laut Regierungsangaben wären etwa 382.000 von den Änderungen betroffen.
Das in Los Angeles ansässige National Immigration Lawcenter kündigte eine Klage an
Auch bislang schon mussten Antragsteller für die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis belegen, dass sie Steuerzahlern nicht auf der Tasche liegen werden. Die am Montag veröffentlichten Regeln benennen Programme, deren Inanspruchnahme zu einem Ausschluss führen kann. Sie gehören zu Trumps Maßnahmen für eine Verringerung der Zuwanderung und der Transferzahlungen.
Ein Entwurf der Regeln war bereits im vergangenen Herbst veröffentlicht worden. Bei den künftig geltenden Regeln wurden Mitarbeitern des Heimatschutzministeriums zufolge Änderungsvorschläge berücksichtigt. | taz. die tageszeitung | Wer Unterstützung staatlicher Programme, etwa der Gesundheitsversorgung, benötigt, soll künftig keine Aufenthaltserlaubnis für die USA bekommen. | [
"USA",
"Präsident Trump",
"Donald Trump",
"Einwanderung",
"USA unter Donald Trump",
"Amerika",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,057 |
Google droht Klage der US-Regierung: Krieg der Systeme - taz.de | Google droht Klage der US-Regierung: Krieg der Systeme
Der Kauf des Handyherstellers Motorola könnte für Google ein Nachspiel haben. Durch die Übernahme verschärfte das Unternehmen den Patentkonflikt mit Apple und Microsoft.
Google Data Center in Council Bluffs, Iowa: Der Kauf von Motorola und dessen Patentarsenal soll Googles mobiles Betriebssystem Android schützen. Bild: dpa
WASHINGTON dpa | Google droht laut einem Medienbericht eine Klage der US-Regierung wegen des Vorgehens im Patentkrieg mit Apple und Microsoft. Die zuständigen Mitarbeiter der US-Handelsbehörde FTC hätten nach eingehender Prüfung rechtliche Schritte empfohlen, berichtete die Finanznachrichtenagentur Bloomberg am Freitag. Die FTC geht bei ihren Ermittlungen der Frage nach, ob Google versucht habe, den Zugang von Rivalen zu Standard-Patenten zu behindern.
Letztlich entscheiden müssen die fünf FTC-Kommissare, von denen die Mehrheit zu einer Klage neige, hieß es unter Berufung auf informierte Personen. Mit einem Beschluss sei aber erst nach der US-Präsidentenwahl am 6. November zu rechnen.
Die Patent-Untersuchung läuft bei der FTC (Federal Trade Commission) parallel zu einer Wettbewerbsprüfung, in der es um die dominierende Rolle von Google bei Internet-Suche und Online-Werbung geht. Google war mit dem Kauf des Handy-Herstellers Motorola auch direkt in den Patentkrieg der Mobilfunk-Industrie eingestiegen.
Motorola ist in mehreren Ländern in gegenseitige Patentklagen mit Apple und Microsoft verwickelt. Zum Problem für Google könnten die Patente werden, die dabei von Motorola ins Feld geführt werden. Viele davon gehören zum Grundstock von Standards wie etwa UMTS. Für solche Schutzrechte gelten besondere Regeln: Sie müssen zu fairen Konditionen und ohne Diskriminierung von Konkurrenten lizenziert werden.
17.000 Patente
Motorola hält als Mobilfunk-Pionier rund 17 000 Patente und war an der Entwicklung diverser Standards beteiligt. Google hatte dem Kauf für 12,5 Milliarden Dollar erklärt, mit dem Patentarsenal solle sein mobiles Betriebssystem Android geschützt werden, das im Visier der Klagen von Apple und Microsoft steht.
Google nehme die Verpflichtung, Lizenzen für Standard-Patente zu fairen und nicht diskriminierenden Bedingungen zu gewähren ernst und sei bereit, sich allen Fragen zu stellen, sagte eine Sprecherin Bloomberg. Das Wall Street Journal hatte bereits vor knapp zwei Wochen berichtet, Google erwäge, die Patent-Ermittlungen der FTC mit einer Einigung beizulegen.
In den vergangenen Wochen hatte Motorola eine Patentklage gegen Apple bei der US-Handelsbehörde ITC zurückgezogen und auch in einigen anderen Verfahren einen Gang zurückgeschaltet. Motorola verlangt laut früheren Prozessunterlagen 2,25 Prozent vom Gerätepreis für seine Standard-Patente, was die Konkurrenten zu viel finden. Apple wäre bereit, maximal einen Dollar pro Gerät zu bezahlen, wie aus einem neuen US-Gerichtsdokument hervorgeht. | taz. die tageszeitung | Der Kauf des Handyherstellers Motorola könnte für Google ein Nachspiel haben. Durch die Übernahme verschärfte das Unternehmen den Patentkonflikt mit Apple und Microsoft. | [
"Google",
"Motorola",
"Microsoft",
"Apple",
"Patente",
"Netzpolitik",
"Politik",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,106 |
Reiseproviant regt an und auf: Nehmen Sie Stullen mit in den Zug? - taz.de | Reiseproviant regt an und auf: Nehmen Sie Stullen mit in den Zug?
Harte Eier, belegte Brote – Reiseproviant ist ein Vergnügen. Wäre da nicht der Groll der Backshop-Fraktion. Ein Pro und Contra.
Kaum fährt der Zug los, steht die Frage im Raum: „Was haben wir zum Essen dabei?“ Foto: Sebastian Wells
Ja!
Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen. Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen und zwei hartgekochte Eier … Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen, zwei hartgekochte Eier, drei Äpfel, eine Packung Haferkekse, eine Dose Kartoffelsalat, ein Joghurt mit Löffel, eine Tafel Schokolade, zwei Flaschen Wasser, Nüsse mit Maulbeeren, eine Tüte mit Linsenchips und Turkish Delight. Mindestens. Denn das Erste, was mich und meine Freundin interessiert, sobald wir es uns in unseren Sitzen im Zug in den Süden bequem gemacht haben, ist die Frage: „Was haben wir eigentlich zum Essen dabei?“
Dieser Reflex, ans Essen zu denken, sobald der Zug losfährt, befällt viele. Schlimm, wenn dann nur eine klitschige Brezel von Ditsch und eine überzuckerte Cola der Coca-Cola-Company vor einem stehen. Wobei „schlimm“ untertrieben ist, denn das, was dann da steht, sind keine Nahrungsmittel, sondern Füllstoff und Kloreiniger.
Selbstversorgung ist der Ausweg, weil auch aufs Bordrestaurant nicht immer Verlass ist – zumal es kostet. Aber was sich noch herumsprechen muss: Der Provianttasche sollte beim Packen mindestens so viel Aufmerksamkeit zuteilwerden wie dem Koffer. Es geht dabei nämlich nicht nur ums leibliche Wohl. Es geht auch darum, Durststrecken durchzustehen. Und darum, mit Essen Kontakte zu knüpfen und soziale Kompetenz zu zeigen.
wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es geht auch darum, sich einzurichten in den Stunden, in denen jemand anderes dafür sorgt, dass die Wünsche nach dem Ortswechsel erfüllt werden. Und darum, dass dies in einer Art Geborgenheit geschieht. Denn das Abteil ist wie ein Mutterkuchen, die Zugstrecke wie ein Tunnel, die Ankunft wie eine Geburt. Ist so. Wenn ich Liebeskummer hatte, habe ich es nur in Zügen ausgehalten, weil ich mich geschützt fühlte. Nur dort konnte ich etwas essen, außerhalb war mein Magen verschlossen.
Weil das hier ein ehrlicher Text ist, muss ich zugeben, dass auch ich die Bedeutung der Provianttasche erst lernen musste. Ich lernte es von meiner Freundin. Sie ist gebürtige Westberlinerin. Wenn sich ihre Familie aufmachte in den Urlaub und dabei zwangsläufig „die Zone“ durchfahren musste, war Proviant lebensrettend. „Konnte doch sein, dass wir stundenlang an einer Grenze feststeckten“, sagt sie. Seither packt sie sogar etwas zum Essen ein, wenn sie vom Wedding nach Charlottenburg fährt. Man wisse ja nie.
Gut, das finde ich jetzt auch etwas übertrieben, aber was den Zug angeht, hat sie recht. Denn nicht selten steckt man auch heute fest. Signalstörung, Weichenstörung, Erdrutsch, Tiere auf dem Gleis. Wer Proviant dabeihat, kann sich zurücklehnen, Verspätung sammeln und auf diese Weise ganz relaxt: Geld verdienen mit der Deutschen Bahn. Eine Stunde 25 Prozent, zwei Stunden 50 Prozent des Fahrpreises. Das läppert sich.
Der allerschönste Moment aber: wenn man im Zug in solch unsicheren Verspätungsmomenten Proviant dabeihat und mit anderen teilen kann. Neulich war so eine chaotische, nächtliche Fahrt mit Strom- und Systemausfall. Und später, als doch wieder ein Zug fuhr, stiegen Hunderte gestrandeter, leidensfähiger Herthafans zu, müde von einer verlorenen Partie. Einer von ihnen schenkte mir eine Mandarine. Und ich schwöre, ich habe noch nie vorher eine so süße gegessen. Waltraud Schwab
Nein!
In den Zug kiloweise Reiseproviant mitzunehmen und ausgiebig zu essen ist egoistisch und gehört sich nicht. Wem nach Brotzeit ist, der soll zu Hause bleiben – oder ein Picknick machen. Doch stattdessen kommt bei fast jeder Zugfahrt mindestens eine Person den Gang entlanggeschlurft, der man ihre Proviantliebe an der Nasenspitze ansieht. Keine zwei Minuten nach Abfahrt knallt die ihre giftgrüne Thermoskanne auf den Tisch, wühlt in ihrem Rucksack und holt eine Tupperdose hervor. Darin matschige Pampe mit harten Brocken, die laut krachen, wenn die Person sie im Mund zerkaut. Sie stochert darin rum, schmatzt und füllt sich Tee nach, der übel nach gammliger Erde stinkt.
Konkreter? Hier ein Beispiel aus der Vorwoche: Neben mir eine Gruppe von drei Frauen kurz vor dem Rentenalter. Sie sitzen laut schnatternd am Vierertisch. Umgeben von Plastikbehältern mit geschnittenem Gemüse. Paprika, Möhren und – das Schlimmste überhaupt – Kohlrabi. Sie knuspern, sie lachen, sie kauen laut und plaudern in tiefstem Schwäbisch. Sie nehmen mit ihren Boxen und Flaschen, mit ihren Gläsern voll Brotaufstrich und Kekstüten beinahe den ganzen Tisch ein, der schüchterne Anfangzwanzigjährige, der neben ihnen sitzen muss, rückt seinen Laptop so nah an die Tischkante, dass der beinahe runterfällt.
Oder, erinnern Sie sich noch an die Coronazeit, als die sich für besonders schlau Haltenden die Maskenpflicht im Zug umgingen, indem sie pausenlos Salzstangen, Nüsse oder Chips in sich hineinstopften?
Andere brauchen keine Pandemie, um sich im Zug danebenzubenehmen. Ein Bekannter erzählte kürzlich von zwei Frauen, die einen Wasserkocher dabeihatten und sich eine Tütensuppe zubereiteten. Ernsthaft?! Wurstbrote, die stinken. Kekse, die krümeln. Hartgekochte Eier, die noch geschält werden müssen, vereinen beides: den schlimmen Geruch und die schlimmen Geräusche. Dazu die Hinterlassenschaften auf den Tischen.
Menschen, die im Zug speisen und alle 30 Minuten im Jutebeutel nach neuer Nahrung kramen, sind häufig Gelegenheitsfahrer. Für sie ist eine Zugfahrt ein Ereignis, das mit zu Hause liebevoll zubereitetem Proviant zelebriert wird. Oh, was haben wir denn hier noch? Ah, darauf hab ich nun Lust. Heidrun, gibt’s noch Tee?
Nichts gegen Gelegenheitsfahrer, sie wissen es ja vielleicht nicht besser, aber der Zug ist öffentlicher, nicht privater Raum. Und in dem hält man sich an sozial vereinbarte Normen. Nimmt Rücksicht auf Mitmenschen.
Man richtet sich also nicht häuslich ein, man telefoniert nicht stundenlang mit dem Freund, man zieht seine Schuhe nicht aus und man lackiert sich nicht die Nägel. Man schnarcht nicht laut, man unterhält sich auch nicht angeregt über die miese Beziehung, den ungeliebten Job oder die autoritären Grünen. Und man isst auch kein üppiges Abendbrot. Es ist übergriffig und nervt die Mitfahrer.
Man kauft sich vor Fahrtbeginn ein nicht stinkendes, nicht zu knackiges Gebäckstück, isst es in den ersten zehn Minuten nach Start und guckt dann Netflix mit Kopfhörern oder liest ein Buch. Und dann gibt es ja auch noch ein Bordbistro. Das wurde erfunden, um dort zu essen. Paul Wrusch | Waltraud Schwab | Harte Eier, belegte Brote – Reiseproviant ist ein Vergnügen. Wäre da nicht der Groll der Backshop-Fraktion. Ein Pro und Contra. | [
"Deutsche Bahn",
"Essen",
"Bahnreisende",
"Brot",
"Alltag",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,122 |
Schwarz-Grün in Hessen zum Zweiten: Auch die Grünen winken - taz.de | Schwarz-Grün in Hessen zum Zweiten: Auch die Grünen winken
Nach der CDU haben auch die Grünen für den Koalitionsvertrag in Hessen gestimmt. So einstimmig wie beim Partner war's aber nicht. Aber auch nicht eng.
Zettel statt Handzeichen (wie bei der CDU): Grünen-Mitglieder im Casino der Stadtwerke in Frankfurt. Bild: dpa
FRANKFURT/MAIN dpa | Der Weg für eine schwarz-grüne Koalition in Hessen ist endgültig frei: Die Basis der Grünen hat das Bündnis mit der CDU am Samstag gebilligt. Auf der Landesmitgliederversammlung in Frankfurt stimmten 74,2 Prozent der anwesenden Mitglieder dem schwarz-grünen Koalitionsvertrag zu.
1056 gültige Stimmen wurden abgegeben. 784 Delegierte votierten dafür, 250 dagegen, 22 enthielten sich. Hessens Grünen-Chef Tarek Al-Wazir kommentierte das Ergebnis mit den Worten: „Ihr seid toll!“ Zuvor hatte bereits die hessische CDU dem Vertrag auf einem kleinen Parteitag zugestimmt.
Die Grünen hatten auf der Landesmitgliederversammlung mehrere Stunden lang über die Vereinbarung debattiert. Von vorneherein waren jedoch nur 30 Redner zugelassen, sechs von ihnen gehörten zur Kommission, die die Vereinbarung mit der CDU ausgehandelt hatte. Gegner des Flughafenausbaus protestierten vor der Tür.
Al-Wazir warb eindringlich für den Koalitionsvertrag. Hessen werde in den kommenden fünf Jahren „sehr viel grüner werden“, sagte der designierte Wirtschafts- und Verkehrsminister. „Es ist ein Zweckbündnis auf Zeit wegen eines schwierigen Wahlergebnisses.“ Die Koalition mit der Hessen-CDU sei weder „Zeitenwende noch Liebesheirat“. | taz. die tageszeitung | Nach der CDU haben auch die Grünen für den Koalitionsvertrag in Hessen gestimmt. So einstimmig wie beim Partner war's aber nicht. Aber auch nicht eng. | [
"Grüne",
"Hessen",
"CDU",
"Koalition",
"Abstimmung",
"Deutschland",
"Politik",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,181 |
Gegen die Rodung für die A49-Autobahn: Der besetzte Dannenröder Forst - taz.de | Gegen die Rodung für die A49-Autobahn: Der besetzte Dannenröder Forst
Die A49 soll durch den Dannenröder Forst gebaut werden. UmweltschützerInnen haben ihn besetzt und müssen auch den grünen Umweltminister überzeugen.
Ähnliche Bilder wie im Hambi: Ein Umweltaktivist hängt im Dannenröder Forst in einem Baum Foto: Nadine Weigel/Oberhessische Presse/dpa
DANNENROD taz | Mit seiner Fachwerkkirche liegt Dannenrod vier Kilometer nordöstlich von Homberg (Ohm) im hessischen Vogelsbergkreis. Gleich hinter dem verwilderten Sportplatz beginnt ein Buchenmischwald mit Bäumen, die 250 Jahre alt sind. Über 100 Hektar sollen gerodet werden, um Platz zu schaffen für ein Teilstück der Autobahntrasse A49 zwischen Schwalmstadt und Gemünden. Die A49 soll durchgängig von Kassel nach Süden laufen.
Seit Jahren wendet sich das Aktionsbündnis „Keine A49“ gegen dieses Vorhaben. Es verstärkte seine Aktivitäten, nachdem der 1. Oktober als Rodungsbeginn im Raum stand. Der BUND appellierte nochmals an den hessischen Verkehrsminister Al Wazir (Grüne), die Rodungen zumindest aufzuschieben. Auch dieser Appell wurde abgelehnt.
Die Grünen von Homberg luden den Minister ein, an der Demonstration gegen die A49 am 28. September teilzunehmen. In seiner Absage verwies der Parteikollege zwar auf sein grünes, dem Wald verbundenes Herz, aber vor allem auf den Koalitionsvertrag zwischen CDU und Grünen, in dem der Weiterbau der A49 festgeschrieben sei.
Als letztes Mittel, die gesunden alten Buchen und Eichen zu retten, haben die UmweltschützerInnen am 30. September den Dannenröder Forst besetzt. Sie bauten drei Baumhäuser und richteten eine ständige Mahnwache am Sportplatz von Dannenrod ein. Die Dannenröder bringen seitdem Essbares oder mal eine Decke vorbei, auch die EinwohnerInnen der umliegenden Orte unterstützen die Waldbesetzung logistisch. Die Polizei erschien zwar, stellte aber „nur“ die Personalien der BaumhausbewohnerInnen fest.
Seltene Flora und Fauna sind in Gefahr
BürgerInnen-Initiativen verweisen daraufhin, dass der Dannenröder Forst wie auch der bei Stadtallendorf gelegene Herrenwald FFH-Schutzgebiete sind, also Flora-Fauna-Habitate mit selten gewordenen Pflanzen und Tieren. Außerdem sind sie Trinkwasserschutzgebiet, das auch als Wasserreservoir für das Rhein-Main-Gebiet herhalten muss. Die in Aussicht gestellte Neupflanzung von Bäumen wird diese Funktionen nicht übernehmen können und eine grüne Brücke über die Autobahn das Artensterben nicht aufhalten.
Die Besetzung bringt die politisch Verantwortlichen in eine Zwickmühle. Denn nun müssten sie ihre verbal bekundete Umweltliebe durch Handeln unter Beweis stellen. BefürworterInnen der A49 geht es vor allem um die vom Durchgangsverkehr geplagten EinwohnerInnen entlang der B3, die sich eine Entlastung versprechen. Die bislang kürzeste Verbindung zwischen Gießen und Kassel führt als Landstraße durch etliche Orte und ist oft völlig überlastet. Auch die spärlichen Industrieunternehmen fordern einen zügigen Weiterbau der A49.
Wenn Rohstoffe und Fertigprodukte schneller transportiert werden könnten, würde das die Wirtschaftskraft der dünn besiedelten mittelhessischen Gegend stärken. Diesem ökonomischen Ziel widersprechen die UmweltschützerInnen nicht. Doch wollen sie es auf der Grundlage eines veränderten Verkehrskonzepts erreichen. Schlagwort dafür ist: Personen und Güter von der Straße auf die Schiene. Sie schlagen vor, die vor etlichen Jahren stillgelegte Ohmtalbahn zu reaktivieren.
Das Aktionsbündnis „Keine A49“ hat einen runden Tisch vorgeschlagen, um mit den AutobahnbefürworterInnen gemeinsam Antworten zu finden. Ihr Ziel: Die gegensätzlichen Interessen unter einen Hut bringen, ohne dass die Natur, wie bislang so häufig, auf der Strecke bleibt. Antworten bleiben bislang zwar aus. Für die AktivistInnen ist aber klar: Für ein neues Verkehrskonzept braucht es Zeit. Das bedeutet: Die Rodungen müssten zumindest aufgeschoben werden. | Ursula Wöll | Die A49 soll durch den Dannenröder Forst gebaut werden. UmweltschützerInnen haben ihn besetzt und müssen auch den grünen Umweltminister überzeugen. | [
"keineA49",
"Rodung",
"Verkehr",
"Öko",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,203 |
Aktion statt Reaktion bei „Widerstand Jetzt“ - taz.de | Aktion statt Reaktion bei „Widerstand Jetzt“
■ Heute gehen Bremer SchülerInnen und StudentInnen auf die Straße
Fast genau ein Jahr nach dem ersten Jugendstreiktag ruft das Bündnis „Widerstand Jetzt“ im Rahmen eines europaweiten Protestes wieder zum Streiktag auf. Heute findet ein Sternmarsch zum Hauptbahnhof statt. Von Uni, Hochschule und verschiedenen Bremer Schulen aus wollen junge Leute Demonstrationszüge gegen die Sparpolitik auf dem Bildungssektor starten. Um 13 Uhr ist eine Kundgebung am Hauptbahnhof geplant.
Um 15.30 Uhr werden im „Naturfreunde Haus“ in der Buchtstraße Filme von verschiedenen Studenten-Streiks gezeigt. Mitglieder des Bündnisses, das von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Bremer PDS unterstützt wird, wollen mit Interessierten diskutieren.
Der SchülerInnen- und StudentInnnen-Protest richtet sich in ers-ter Linie gegen das so genannte GATS-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO). Demnach sollen weltweit Einrichtungen des Dienstleistungssektor privatisiert werden. Davon betroffen, so heißt es in einem Flugblatt von „Widerstand Jetzt“ seien auch Schulen und Universitäten.
Auch die bremische Bildungspolitik wird kritisiert. „Die Wahlfreiheit der SchülerInnen darf nicht eingeschränkt werden“, sagt Lea Voigt von der Gesamtschülervertretung (GSV). „Deshalb wollen wir gegen die geplante Profil-Oberstufe demonstrieren.“ Weitere Themen der Demo werden Studiengebühren und Abi nach zwölf Jahren sein. evl | evl | ■ Heute gehen Bremer SchülerInnen und StudentInnen auf die Straße | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,221 |
Loblied auf das Radio: Bla bla? Bla bla bla! - taz.de | Loblied auf das Radio: Bla bla? Bla bla bla!
Das Radio hat eine Zukunft. Denn dem schriftlichen Wort fehlen Dimensionen des Ausdrucks, die allein das gesprochene besitzt.
Aus der Beschränkung des Radios, alles in das gesprochene Wort übertragen zu müssen, erwachsen ihm spezifische Möglichkeiten. Bild: koollook/photocase.com
Es wäre mir nichts lieber, als eine Lobrede auf das Radio zu halten. Während meine Briefmarken mir als Kind und Jugendlicher Wissen über ferne Länder und historische Ereignisse vermittelten, war es das Radio, aus dem ich erfuhr, was aktuell passierte, etwa in der ARD-Bundesligakonferenz, die zu den Höhepunkten meiner Woche gehörte.
Mittlerweile nennt man wohl auch vor allem diese zwanzig Minuten am späten Samstagnachmittag, um zu belegen, dass das Radio nach wie vor ein Live-Medium von gewisser Bedeutung ist. War es für mich lange Zeit nur deshalb noch der Hauptkanal für aktuelle Information geblieben, weil ich keinen Fernseher besitze, so muss ich zugeben, dass mir das Internet heute viel mehr bietet als alle anderen Medien zusammen - und als gerade auch das Radio. Man kann live in Bild und Ton dabei sein, wenn in Ägypten eine Revolution stattfindet oder in Stuttgart Bahnhofsfragen diskutiert werden. So droht das Radio zum Objekt nostalgischer Gefühle zu werden - kaum anders als meine längst aufgegebene Briefmarkensammlung. Und aus der Lobrede wird ein Abgesang.
Oder hat das Radio vielleicht doch noch eine Chance? Schon aus Dankbarkeit würde ich diese Frage nur zu gern bejahen. Und das könnte so gehen: Im Internet erlebt das geschriebene Wort eine Renaissance und vielfältige, originelle Formen der Verwendung. Blogs, Leserkommentare zu Artikeln und Web-2.0-Foren sind zu Orten einer neuen Schriftlichkeit geworden. Zudem kehrt mit dem Mailverkehr eine tot geglaubte Briefkultur zurück.
Dadurch aber stellt gerade das Radio eine - die einzige - Alternative dar. Aus seiner Beschränkung, alles in das gesprochene Wort übertragen zu müssen, erwachsen ihm spezifische Möglichkeiten. Erwähnte ARD-Bundesligakonferenz ist dafür das beste Beispiel: Die Reporter verwandeln das Spielgeschehen live in eine eigenständige Form, verleihen ihm durch ihre Deutung und ihre Emotionen eine reflektierte, pointierte, auch überhöhte Gestalt. Sie leisten, was bei den Griechen in Epos und Schauspiel die Mauerschau - Teichoskopie - erfüllte, übersetzen ein komplexes, gar unverständliches Geschehen, das dem Publikum im selben Augenblick nicht sichtbar ist, in eine anschauliche Sprache.
Wolfgang UllrichDer Autor ist Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Dieser Text ist Teil einer Kooperation der taz mit "Mehrspur", dem Medienmagazin des Radiosenders SWR2. Mehr auf: www.swr2.de/dokublog
Das Radio hat also dann eine Zukunft, wenn es mehr Anlässe nutzt, um eine Kultur des gesprochenen Worts zu pflegen. Diskussionsrunden und Streitgespräche sind dafür ebenso geeignet wie jene Sportreportagen oder auch Korrespondentenberichte. Gerade wenn der Live-Charakter nicht darin besteht, ein Geschehen zeitgleich zu kommentieren, sondern sich daraus ergibt, dass verschiedene Positionen wie in einem Parlament ausgetauscht werden, ja weil Stimmen direkt aufeinander reagieren, kann eine Lebendigkeit aufkommen, die das Internet so nicht kennt. Dem schriftlichen Wort fehlen Dimensionen des Ausdrucks, die allein das gesprochene besitzt.
Aber auch gegenüber Talkrunden im Fernsehen sind Radiodiskussionen überlegen, müssen die Teilnehmer hier doch keine Schminke und keine Scheinwerfer ertragen. Dafür können sie sich ganz auf das verlegen, was sie sagen wollen. Damit besitzt das Radio einen Authentizitätsvorteil: Es vermittelt Akte der Spontaneität, emotionale Zwischentöne, gänzlich unartifizielle Sprechweisen. Aber auch das Publikum kann sich beim Radio voll auf das Gesprochene konzentrieren; es ist nicht vom Fernsehbild oder den Multitaskingansprüchen des Internet abgelenkt. Und so führt die Beschränkung, der das Radio unterliegt, auch zu einer Entlastung. Allein deshalb hat es eine Lobrede verdient. | Wolfgang Ullrich | Das Radio hat eine Zukunft. Denn dem schriftlichen Wort fehlen Dimensionen des Ausdrucks, die allein das gesprochene besitzt. | [
"Medien",
"Gesellschaft",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,234 |
Partei „Die Urbane“ im Wahlkampf: „Das Frustrationslevel ist groß“ - taz.de | Partei „Die Urbane“ im Wahlkampf: „Das Frustrationslevel ist groß“
„Die Urbane. Eine HipHop Partei“ will sich für marginalisierte Gruppen einsetzen. Sie fordert ein radikales Umdenken statt sanfter Veränderungen.
Werben für die Urbanen: Ed Greve und Betül Torlak Foto: Doro Zinn
taz: Frau Torlak, Herr Greve, wer ist „Die Urbane, eine HipHop-Partei“, und was will die Partei?
Betül Torlak: Wir stehen für einen machtkritischen Diskurs um Themen wie Queerfeminismus, Antikapitalismus, Antirassismus, Dekoloniale Strukturen – also all diese Dinge, die wir seit Jahrzehnten in Communities und selbstorganisierten Gruppen besprechen. Diese Forderungen marginalisierter Gruppen wollen wir in die Politik bringen.
Das wollen andere Parteien auch. Was unterscheidet Sie?
Ed Greve: Was uns von etablierteren Parteien unterscheidet, ist, dass wir relativ wenig von Reformen halten, wenn es um so grundsätzliche Fragen wie soziale Gerechtigkeit geht. Wir versuchen schon in dem, was wir uns überlegen, revolutionäre Ideen zu verfolgen. Zum Beispiel, dass wir Strukturen, die so viele Menschen systematisch benachteiligen, nicht ändern, sondern abschaffen.
Was bedeutet das konkret für Berlin?
Greve: Wir fordern kostenlosen Öffentlichen Nahverkehr. Da wollen wir keine Ausreden mehr hören. Es ist völlig klar, dass wir das nicht von heute auf morgen machen, aber wir müssen das Ziel konsequent verfolgen. Außerdem fordern wir ein klares Bleiberecht und dass Berlin alle Abschiebungen beendet. Wir müssen die Residenzpflicht abschaffen.
Torlak: Der Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co Enteignen muss umgesetzt werden. Außerdem braucht es nicht nur kostenlosen, sondern vor allem sicheren Nahverkehr. Wir wollen nicht, dass Kontrolleur:innen netter sind, sondern dass der Kontrollgedanke aus den Öffentlichen verschwindet und durch einen Unterstützungsgedanken ersetzt wird. Es braucht Menschen, die ansprechbar sind bei Gewalt, die unterstützen, anstatt Menschen zu kontrollieren und zu sanktionieren.
Ist das auch der Grund, warum Ihre Partei die umstrittene Polizeiwache, die am 15. Februar am Kottbusser Tor eröffnet, ablehnt?
Torlak: Der Kotti ist ein so genannter kriminalitätsbelasteter Ort. Das bedeutet, dass Menschen ohne Anlass kontrolliert werden dürfen. Tatsächlich wird dort regelmäßig Racial Profiling betrieben. Es ist auch kein Geheimnis, dass es am Kotti viel Polizeigewalt gibt. Beratungsstellen vor Ort sind sich einig, dass der Großteil der Betroffenen Menschen sind, die obdachlos oder suchterkrankt sind oder illegalisiert hier leben. Sie haben ohnehin schon durch die massive Ausgrenzung eine aussichtsschwache Startposition in unserer Gesellschaft. Sie erleben jetzt noch mehr Kontrolle und Verdrängung statt Angebote, sie zu unterstützen. Den vermeintlichen Nutzen der Wache, ein Sicherheitsgefühl aller Menschen, sehen wir nicht, sondern eher, dass die betroffenen Menschen verschwinden.
Das klingt alles schön und gut. Aber wie wollen Sie die Forderungen umsetzen?
Torlak: Es erfordert immer eine Mehrheit, um Veränderungen durchzusetzen. Unser Ziel ist auch nicht unbedingt sofort ins Parlament einzuziehen, sondern eine Parteienfinanzierung zu bekommen. Damit können wir nachhaltige Strukturen aufbauen; Strukturen, die etablierte Parteien schon haben. So können wir beispielsweise eine bezahlte Stelle schaffen, die sich unter anderem um die Koordination der Arbeitsabläufe kümmert.
Greve: Wenn man sich in der Bevölkerung umhört, dann gibt es bestimmt eine Mehrheit für – beispielsweise – einen kostenlosen ÖPNV. Es scheitert daran, dass die bisherigen Regierungen sagen, das würde nicht gehen. Wir glauben das nicht, das Geld an sich ist da. Die Frage ist: Sind wir mutig genug, das Geld so umzulegen, dass wir alle Menschen versorgen?
Bei der vergangenen Wahl haben Sie 0,2 Prozent der Zweitstimmen geholt. Für die Parteienfinanzierung fehlen da also noch einige Stimmen.
Greve: Für die 1 Prozent müssten uns 20.000 Berliner:innen ihre Stimme geben. Ich glaube, das ist schon jetzt ein vorzeigbares Ergebnis. In meinem Bezirk in Neukölln 1 hatte ich 1,8 Prozent bei den Erststimmen. Früher oder später werden wir die 1 Prozent schaffen.
Gibt es eine bestimmte Zielgruppe, die Sie erreichen wollen?
Greve: Wir sehen unsere Zielgruppe nicht demografisch. Das ist ein Fehler, den die Politik gerne macht. Wahlberechtigte allein sind auch nicht die Zielgruppe unserer Inhalte. Es gibt etwa eine Millionen Personen, die nicht wahlberechtigt sind, weil sie keinen deutschen Pass haben. Darum stehen wir für ein universelles Wahlrecht für alle Berliner:innen. Außerdem fordern wir ein Wahlrecht ab 14 Jahren – analog zur Strafmündigkeit. Wer die Gesetze kennen und befolgen soll, muss auch das Recht haben, auf diese Gesetze einwirken zu können.
Und wie wollen Sie diese Menschen für sich gewinnen?
Torlak: Was uns grundsätzlich von anderen unterscheidet ist, dass wir eine Partei der Bewegung sind und Bewegung in Communities, aber auch in unserer Partei fördern. Das ist der Grund, warum ich nicht auf etablierte Parteien setzen würde, die starre Strukturen haben und schon in der Regierung waren oder sind. Mit ihnen verändert sich nichts. Es passieren Volksentscheide, wie Deutsche Wohnen & Co Enteignen, die einfach nicht umgesetzt werden. Das Frustrationslevel ist gerade bei jungen Menschen groß. | Laura Mielke | „Die Urbane. Eine HipHop Partei“ will sich für marginalisierte Gruppen einsetzen. Sie fordert ein radikales Umdenken statt sanfter Veränderungen. | [
"Kleinparteien",
"Wahlkampf",
"Wahlen in Berlin",
"Berlin",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,270 |
VOLKSVERHETZUNG: NPD-Spiel - taz.de | VOLKSVERHETZUNG: NPD-Spiel
HAMBURG | Gegen den stellvertretenden Bundesvorsitzenden der NPD, Mathias Faust, wird nach Informationen von NDR Info wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt. Anlass ist ein Computerspiel, mit dem die Partei im Bremer Wahlkampf auf ihrer Internetseite warb. In der Variante des „Moorhuhn-Spiels“ sollten „kriminelle und sozialschmarotzende Ausländer“ markiert werden. Bei einem Treffer gab es ein „Rückfahrticket“. (taz) | ots | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,275 |
|
Forderungen von DrehbuchautorInnen: Weil sie es sich wert sind - taz.de | Forderungen von DrehbuchautorInnen: Weil sie es sich wert sind
Mehr Kontroll- und Mitbestimmungsrechte: Zahlreiche DrehbuchautorInnen haben sich zur Initiative „Kontrakt 18“ zusammengeschlossen.
Warten auf den Einsatz: Die Spurensicherung beim Dreh eines Franken-“Tatorts“ Foto: dpa
Lange haben DrehbuchschreiberInnen aus Deutschland neidisch auf die Entwicklung in anderen Ländern schauen müssen. Dorthin, wo AutorInnen im Zuge des weltweiten Serienbooms einen zentralen Status als kreative Dreh- und Angelpunkte der Produktionen eingenommen haben. In die USA beispielsweise oder nach Skandinavien. Und obwohl Titel wie „Deutschland 83“, „4 Blocks“, „Babylon Berlin“ oder „Dark“ die hiesige Serienlandschaft in der öffentlichen Wahrnehmung und auf dem internationalen Markt attraktiver gemacht haben, ging diese Entwicklung nicht zwangsläufig mit einem neuen Status derjenigen einher, die mit ihren Ideen und Büchern die essentielle Grundlage für die Qualität und den Erfolg dieser Serien, Reihe und TV-Filme verantworten.
Das zeigte sich zuletzt Anfang des Jahres bei der Einladungspolitik des Deutschen Fernsehpreises, für den der ARD-Zweiteiler „Brüder“ nominiert war, allerdings nur Regisseur, Produzentin, Redakteur und Schauspieler zur Verleihung eingeladen wurden – aber nicht die Drehbuchautorin Kristin Derfler. Sie verfasste daraufhin ein Facebook-Posting, in dem sie die langjährige Ignoranz und Verlogenheit der Branche anprangerte. Der Eklat war da. Und die Solidarität groß.
„Es gibt hierzulande Strukturen und Traditionen, die einfach nicht mehr zeitgemäß sind und zur Folge haben, dass den Schöpfern viel zu oft die kreative Kontrolle über ihre eigenen Werke entzogen wird“, so Volker A. Zahn, der zusammen mit seiner Frau Eva zu den wichtigsten Fernsehautoren für ARD- und ZDF-Produktionen, wie „Tatort“, „Ein starkes Team“, „Bella Block“ oder ausgezeichneten Fernsehfilmen zählt. „Das ist mitunter fatal: Das Buch bis zur Drehfassung zu verantworten, bedeutet ja auch, die innere Logik der Figuren und Dramaturgie, an der wir verdammt lange feilen, zu wahren. Mit unbedachten Änderungen und Eingriffen ins Skript kann eine akribisch durchkomponierte Konstruktion wie ein Drehbuch ganz schnell in sich zusammenfallen.“
Zusammen mit ihren Kolleginnen Derfler, Annette Hess („Ku’damm 56 & 59“) sowie Orkun Ertener („KDD – Kriminaldauerdienst“) haben sie die Fernsehpreis-Debatte zum Anlass genommen, um tatsächlich eine konkrete Änderung der Verhältnisse anzustoßen. Mit der Initiative „Kontrakt 18“ haben sie „in Form einer Selbstverpflichtung zukünftige Vertrags- und Verhaltensstandards formuliert, die in anderen Ländern längst selbstverständlich sind und dort zur Qualität von Filmwerken nachhaltig beitragen“, so die Pressemitteilung.
Sechs Forderungen
Mittlerweile haben sich mehr als 90 namhafte und preisgekrönte Drehbuchautorinnen und -autoren dazu verpflichtet, zukünftig einen 6-Punkte-Katalog in ihre Vertragsverhandlungen für neue Film- und Serienprojekte aufzunehmen, der ihnen mehr Kontroll- und Mitbestimmungsrechte einräumt, wie die Verantwortung des Buches bis zur endgültigen Drehfassung, ihre Einbeziehung in die Besetzung der Regie, Leseproben und Rohschnitte. Auch Buchbearbeitungen sollen nur noch nach Absprache mit den ausgeschiedenen Kolleginnen und Kollegen übernommen werden.
Das solidarische Auftreten und prominente Unterstützerinnen wie Rolf Basedow, Anika Decker, Michael Gantenberg oder Dorothee Schön verleihen den Forderungen Nachdruck: „Der Kontrakt 18 ist ein politisches Signal, das natürlich um so auffälliger ist, je namhafter die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner sind“, sagt Volker A.
Zahn, der den längst überfälligen Vorstoß nicht als Revolution oder Kampfansage verstanden haben will, sondern als konstruktives Angebot. „Die fortschrittlichen und klugen Kreativpartner aus den Bereichen Produktion, Redaktion und Regie haben mit unserem Forderungs-Katalog keine Probleme. Diese Leute wissen längst, dass es an der Zeit ist, mit den Autorinnen und Autoren auf Augenhöhe zu arbeiten“, ergänzt Eva Zahn. „Keine unserer Forderungen wird Produktionsfirmen oder Sender mehr Geld kosten. Ganz im Gegenteil: Wir bieten an, uns mehr einzubringen, wir sagen: Nutzt doch endlich das ganze schöpferische Potenzial, das wir Autorinnen und Autoren euch anbieten!“
Ob das die bisherigen Platzhirsche in Produktionsfirmen und Sendern auch so sehen? Verstehen auch sie die neuen Ansprüche der Autoren als Chance? Oder empfinden sie „Kontrakt 18“ als Diktat, das eine Bedrohung ihrer lang gehegten Kompetenzen und Privilegien bedeutet? | Jens Mayer | Mehr Kontroll- und Mitbestimmungsrechte: Zahlreiche DrehbuchautorInnen haben sich zur Initiative „Kontrakt 18“ zusammengeschlossen. | [
"Deutscher Fernsehpreis",
"Deutscher Film",
"Drehbuch",
"Medien",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,295 |
Industrielobbyismus für Atomkraft : Die DAX-APO - taz.de | Industrielobbyismus für Atomkraft : Die DAX-APO
Mit einer Anzeigenkampagne will die Energie- und Industrielobby die geplante Atomsteuer aufhalten. Allerdings stößt die Anzeige in der Wirtschaft nicht nur auf Zustimmung.
Nein, kein Swimming Pool: Reaktordruckbehälter im Atomkraftwerk Isar 2. Bild: dpa
Führende Repräsentanten der Stromkonzerne sowie des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) starten an diesem Samstag eine Anzeigenkampagne. In ganzseitigen Inseraten unter dem Titel "Energiepolitischer Appell kämpfen sie gegen die geplante Brennelementesteuer und den Abbau von Vergünstigungen für Unternehmen bei der Ökosteuer. Die Anzeigen sind als offener Brief an Angela Merkel zu verstehen.
Da die Regierung in der Energiepolitik heillos zerstritten ist, sehen die Lobbyisten nun die Chance, mit öffentlichem Druck bessere Konditionen für die Atomkraft herauszuschlagen. Denn sie fürchten die Steuer auf Atombrennstäbe, weil diese die Gewinne der Atomkonzerne um Milliardenbeträge schrumpfen ließe. "Realistisch bleiben: Deutschland braucht weiterhin Kernenergie und Kohle" ist daher die zentrale Botschaft der mehr als 40 Unterzeichner - den Atomwirtschaftsbossen auch Vertreter großer Energieverbraucher, etwa den Chefs von Bayer, ThyssenKrupp oder der Deutschen Bahn. Finanzieren wird die Kampagne von ein Verein Namens Energiezukunft für Deutschland e. V. (i.G.)", dem auch persönliche Kritiker Merkels angehören, der einstige CDU-Politiker Friedrich Merz ebenso wie der Chef des CDU-Wirtschaftsflügels, Kurt Lauk. Sie zählen zu den Unterzeichnern wie Oliver Bierhoff.
Allerdings stößt die Anzeige in der deutschen Wirtschaft nicht nur auf Zustimmung: "Der Inhalt passt nicht zu unserer Nachhaltigkeitsstrategie", hieß es gestern aus einem großen Dax-Unternehmen. Über solche Anzeigen lohne es nicht, den Konflikt mit der Politik zu suchen. Werner Dub, Vorstand des Energiekonzernz MVV, sagte der taz, wer über Laufzeitverlängerungen berate "darf das nicht mit der Lobby tun, also mit den Chefs der Atomkonzerne". In Anspielung an ein Zitat von RWE-Chef Jürgen Großmann forderte Dub von der Politik "klaren Verstand". Zusätzliche Atomgewinne müssten abgeschöpft werden um der Marktkonzentration entgegen zu wirken. Großmann hatte zuvor "klare Kante" gefordert. Der Verband kommunalen Unternehmen (VKU)- Vertreter der Stadtwerken und kleinen Energieversorger - sprach von einer "einseitig an den eigenen wirtschaftlichen Interessen orientierte Aktion". VKU-Hauptgeschäftsführer Hans-Joachim Reck sagte: "Mit pauschalen Aussagen in einer Anzeigenkampagne wird man der Komplexität der Energiepolitik nicht gerecht. Ich fürchte, diese Aktion wird den Akteuren in der Öffentlichkeit mehr schaden als nutzen." Auch das Heiztechnik-Unternehmen Viessmann reagierte kritisch. "Wir brauchen einen ausgewogenen Energiemix", sagte der Generalbevollmächtigte Manfred Greis der taz. Wenn die Atomwirtschaft zusätzliche Gewinne durch die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke erziele, müsse die Politik davon auch einen Teil abschöpfen.
Die Bundesregierung reagierte mit demonstrativer Gelassenheit. "Die Kanzlerin sieht in dieser Anzeige einen vollkommen erlaubten Diskussionsbeitrag", sagte Sprecher Steffen Seibert. Schließlich hätten auch die Gegner sich bereits lautstark zu Wort gemeldet.
Die Opposition kritisierten die Anzeige. SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach von einer "beispiellosen Propagandawelle der vier Atomkonzerne", die ihre Interessen "brutal durchsetzen" wollten. SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber erklärte, Manager würfen per Anzeige "der Gesellschaft den Fehdehandschuh hin." | B. Janzing | Mit einer Anzeigenkampagne will die Energie- und Industrielobby die geplante Atomsteuer aufhalten. Allerdings stößt die Anzeige in der Wirtschaft nicht nur auf Zustimmung. | [
"Ökonomie",
"Öko",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,299 |
Opfer einer Inszenierung - taz.de | Opfer einer Inszenierung
Die Pazifisten müssen ihr Versagen in der Kosovo-Debatte aufarbeiten – denn in Zukunft sind ähnliche Konflikte zu erwarten. Ein Aufruf zum Antikriegstag
Die Weigerung, sich überhaupt auf die Debatte um einen humanitären Notfall einzulassen, war verhängnisvoll
Eineinhalb Jahre nach dem Beginn der „humanitären Intervention“ der Nato in der Bundesrepublik Jugoslawien ist die humanitäre Lage im Kosovo nicht besser, sondern eindeutig schlechter geworden. Ein friedliches Zusammenleben von Serben und Kosovaren ist nicht in Sicht, der Hass zwischen ihnen ist tiefer geworden. Dank des Nato-Krieges sitzt Milošević fester im Sattel denn je; die serbische Opposition ist dagegen noch schwächer geworden. Dennoch oder gerade deshalb schweigen die einstigen Kriegsbefürworter eisern zu vielen offenen Fragen.
Warum überhaupt dieser Krieg, warum die 5.000 Kriegstoten, die 100 Milliarden Dollar Kriegskosten, warum die Zerstörung von Brücken, Elektrizitätswerken, Fabriken und der Umwelt? Erst recht wird darüber geschwiegen, wer die eigentlichen Gewinner dieses Krieges sind: der militärisch-industrielle Komplex Europas und der Vereinigten Staaten und die USA selbst, die in Südosteuropa neue Stützpunkte – etwa „Camp Bondsteel“ in der Nähe von Urosevac im Kosovo – einrichten und ihre geostrategische Position in diesem Teil der Welt damit weiter ausbauen können.
Trotz der Zweifel und der späten Einsicht ob der eigenen Fehlentscheidungen verdrängen die Kriegsbefürworter von einst, unter dem Motto „jetzt nach vorn schauen“ eine kritische Aufarbeitung. Genau diese aber ist im Hinblick auf ähnliche Konfliktlagen in Zukunft dringend erforderlich. Auf zwei Gruppen lastet daher besonders große Verantwortung: auf den so genannten Verantwortungs- und auf den Radikalpazifisten.
Im Kosovo-Krieg ist es den Nato-Strategen und der rot-grünen Regierung gelungen, die Pazifisten zu spalten. Die Radikalpazifisten wurden als weltfremde und gewissenlose Utopisten diffamiert, denen ein Hochhalten des abstrakten Prinzips Gewaltfreiheit wichtiger sei als der konkrete Schutz von Menschen vor einem drohenden Völkermord. Und die Varantwortungspazifisten wurden bei ihrem Verantwortungsgefühl gepackt und vor den Karren der „humanitären Intervention“ gespannt.
Die Verantwortungspazifisten, vor allem Persönlichkeiten wie Erhard Eppler und Günter Grass, an deren Integrität kein Zweifel besteht, müssten sich nachträglich fragen lassen, ob sie nicht Opfer einer perfekten Inszenierung des „menschenrechtlichen Notfalls“ geworden sind. Immerhin haben sie durch ihr Eintreten für den Krieg mit den Ausschlag dafür gegeben, dass zum ersten Mal eine Mehrheit der Deutschen der direkten Beteiligung der Bundeswehr an einem Krieg zugestimmt hat. Sie haben manipulierter Nato-Information und -Propaganda blind geglaubt und diese für bare Münze genommen.
Zwischen unbestreitbaren massiven serbischen Menschenrechtsverletzungen und systematischen Massakern, die wie in Racak und andernorts den Serben – wie sich inzwischen herausgestellt hat - durch perfekte Inszenierungen in die Schuhe geschoben wurden, um den Tatbestand des Völkermords als Kriegsrechtfertigungsgrund zu beweisen, besteht immerhin ein entscheidender Unterschied. Genau diese Inszenierungen des „menschenrechtlichen Notfalls“ und der angebliche „Hufeisenplan“ dienten damals dazu, den Nato-Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien als Entscheidungsschlacht zwischen Faschismus und Demokratie, zwischen Bestialität und Humanität, zwischen „Zivilisation und Barbarei“ (Habermas) hochzustilisieren.
Welche Verantwortung aber lastet auf den Radikalpazifisten? Haben sie auf die konkrete Situation vor und während des Krieges richtig reagiert, haben sie alles getan, um den Schulterschluss zwischen den Verantwortungspazifisten und den Nato-Geostrategen zu verhindern? Haben sie die Verunsicherung vieler, die trotz ihrer pazifistischen Grundhaltung glaubten, aus verantwortungsethischen Gründen den Nato-Krieg hinnehmen zu müssen, zur Kenntnis genommen? Und: Haben sie sich bemüht, politisch rechtzeitig und angemessen darauf zu reagieren?
Zumindest hat sich ihre hartnäckige Weigerung, sich auf die Debatte um einen menschenrechtlich begründeten Notfall überhaupt einzulassen, als verhängnisvoll erwiesen – zumal kein noch so radikaler Pazifist leugnen kann, dass es Situationen geben kann, in denen die Beendigung einer menschlichen Tragödie nur mit Gewalteinsatz möglich ist. Holocaust und Ruanda belegen das.
In einer Situation wie vor dem Kosovo-Krieg, wo die Inszenierung des menschenrechtlichen Notfalls gelungen ist, verpuffen allerdings die besten pazifistischen Argumentationsmuster. Nicht Vernunft, nicht Moral, nicht gute Argumente und auch nicht historische Erfahrungen, sondern nur noch dumpfe Gefühle und Emotionen bestimmen in derartigen Situationen die Meinungen. Im Kosovo wurde nicht zum ersten Mal die Kriegslegitimation durch eine Inszenierung herbeigeführt, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein.
Im postkolonialen Zeitalter der Globalisierung werden hegemonialpolitische und geostrategische Interessen mit subtileren Rechtfertigungsmustern durchgesetzt werden. „Humanitäre Intervention“, eine Neuauflage des „gerechten Kriegs“, scheint sich als ein wirksames und mobilisierendes Kriegsrechtfertigungsinstrument herauszustellen, dessen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft USA, Nato, Russland und andere Staaten bedienen werden, um ihre national-hegemonialen Interessen durchzusetzen.
Dies impliziert aber, diesen Notfall als grundsätzliche Möglichkeit, die ausnahmsweise auch mit Gewalteinsatz beendet werden muss, erstens in Betracht zu ziehen und ihm zweitens, wo und von wem er auch immer aus Gründen eigener politischer Interessen inszeniert wird, ganz konkret und mit allen verfügbaren Möglichkeiten den propagandistischen Schleier zu entreißen. Erst diese Doppelstrategie kann die Spaltung der Pazifisten und den Schulterschluss eines Teils von ihnen mit den Kriegstreibern verhindern oder wenigstens erschweren.
Verantwortlich handelnde Pazifisten müssen neben ihrer prinzipiellen Überzeugung, dass Krieg Menschenrechtsverletzungen nicht beendet, sondern selbst verursacht und neue hinzufügt, (a) angesichts von auch in Zukunft prinzipiell möglichen menschlichen Tragödien dazu bereit sein, einer Diskussion über den Gewalteinsatz im wirklich äußersten Notfall nicht aus dem Weg zu gehen, und ihre Bereitschaft signalisieren, ihn – wenn er wirklich eingetreten ist – auch hinzunehmen; (b) müssen die Pazifisten auf eine äußerst restriktive Definition dieses Notfalls hinwirken und kompromisslos darauf bestehen, dass der menschenrechtliche Notfall (c) nach Maßgabe klarer Kriterien und auf der Grundlage überprüfbarer Fakten ausschließlich durch völkerrechtlich einwandfreie Instanzen festgestellt und (d) ebenso ausschließlich durch eine von der UNO organisierte beziehungsweise legitimierte Truppe beendet wird.
Im Kosovo-Krieg ist es den Nato-Strategen und der rot-grünen Regierung gelungen, die Pazifisten zu spalten
Mit anderen Worten: Das propagandistische Täuschungsmanöver der Kriegsbefürworter – die These, die Pazifisten schauten weg und retuschierten die Realität des Völkermords, um ihr eigenes Weltbild zurechtzubiegen – muss durch eine konstruktive Gegenstrategie wirkungslos gemacht und die Inszenierung eines „menschenrechtlich bedingten Notfalls“ um so wirksamer verhindert werden. Nicht die Pazifisten müssen beweisen, dass sie verantwortlich handeln, sondern umgekehrt müssten die Verfechter der „humanitären Intervention“ glaubwürdig den Nachweis erbringen, dass der menschenrechtliche Notfall tatsächlich eingetreten ist.
Allerdings braucht die Friedensbewegung eigene institutionelle Kapazitäten, um künftig derartige Inszenierungen zu verhindern. Auch in Zukunft dürfte es einem kleinen Kreis von Militärexperten und -strategen der Nato-Staaten unschwer gelingen, Regierungen, Parlamente und Parteien in eine neue Gewalteskalation hineinzuziehen. Dafür ist der Parteienstaat dank der eigenen Abhängigkeit von Vorgaben durch politisch nicht legitimierte „Experten“ strukturell besonders anfällig. So wurden die deutschen VolksvertreterInnen etwa erst drei Wochen nach Kriegsbeginn über den Inhalt des Rambouillet-Vertragstextes in Kenntnis gesetzt, in dem immerhin die Weichen für einen Angriffskrieg gestellt wurden.
Der Friedensbewegung kann daher nur geraten werden, offensiv für eine eigene und mit rechtlichen Kompetenzen ausgestattete Struktur einzutreten, etwa in Form eines Friedensrates. Dieser könnte als Gegengewicht zu den sicherheitspolitischen „Experten“ des Parteienstaates fungieren und deren monopolistischer Definitionsmacht in Fragen von Krieg und Frieden zivilgesellschaftlich entgegenwirken.
MOHSSEN MASSARRAT | MOHSSEN MASSARRAT | Die Pazifisten müssen ihr Versagen in der Kosovo-Debatte aufarbeiten – denn in Zukunft sind ähnliche Konflikte zu erwarten. Ein Aufruf zum Antikriegstag | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,308 |
Regisseurin Doris Dörrie über Krisen: „Liebe ist immer Vollkatastrophe“ - taz.de | Regisseurin Doris Dörrie über Krisen: „Liebe ist immer Vollkatastrophe“
Mit „Die Heldin reist“ hat die Regisseurin Doris Dörrie ein Buch über Frauen geschrieben, die durch Krisen wachsen. Ein Gespräch über ihre eigenen Erfahrungen.
„Die Grunderfahrung ist die, sich zu trauen und sich selbst auch zu vertrauen“, sagt Doris Dörrie Foto: Alessandra Schellnegger
taz am wochenende: Frau Dörrie, Ihr neues Buch heißt „Die Heldin reist“. Nach zwei Jahren Corona ist das eine ziemliche Provokation, oder?
Doris Dörrie: Allerdings, ja klar. Wir alle würden gerne reisen und können es nicht.
Gleich am Beginn Ihres Buchs berichten Sie von Ihrer ersten eigenen Reise, 1972 von Hannover zum Studium nach San Francisco. Wer waren Sie zu dieser Zeit?
Ich war megacool nach außen. Es war mein großes Bestreben, mich so cool zu geben wie irgendwie möglich. Das war ich natürlich ganz und gar nicht. Aber ich hatte auch wirklich erstaunlich wenig Angst. Im Rückblick wundere ich mich darüber, dass ich mich so wenig gefürchtet habe, in ein fremdes Land zu fahren, die Sprache nicht gut zu können, nicht zu wissen, wohin es genau geht. Ich hatte kaum Informationen über Stockton, den Ort, wo ich studiert habe, kannte da keinen Menschen. Aber tja, das hat mir nix ausgemacht.
Sie waren achtzehn Jahre alt – da ist das noch so.
Früher war es so. Heute stehen ja jedem die Informationen über jeden Ort ständig zur Verfügung. Zu meiner Zeit ist man noch völlig ins Unbekannte gereist.
Mir ist aus Ihrem Buch diese Frage hängen geblieben: „Warum hatte ich überhaupt keine Angst?“ Warum nicht?
Ich war auf der einen Seite sicherlich naiv. Und auf der anderen war alles so aufregend, dass ich gar keine Zeit hatte, Angst zu haben. Die Eindrücke sind so auf mich niedergeprasselt, und ich musste mich so wahnsinnig schnell anpassen, dass ich keine Zeit hatte nachzudenken. Weil – und das ist der große Unterschied zu heute – jeder Moment eine Überraschung war.
Sie sind Regisseurin und Autorin mehrerer Bücher. In allen Heldenreisen ist Angst jenes Gefühl, das die Hauptfigur zu überwinden hat, um wachsen zu können. Sie muss ins Unbekannte gehen, Prüfungen bestehen, Verbündete suchen und Feinde besiegen. Welche Grunderfahrung mussten Sie machen, um in Ihrem weiteren Leben vorsichtiger zu werden?
Ich weiß gar nicht, ob ich jemals vorsichtiger geworden bin. Denn die Grunderfahrung, die ich dann tatsächlich auch gemacht habe, ist schon die, sich zu trauen und sich selbst auch zu vertrauen. Es kommt vielleicht schlimm – aber solange man es überlebt, ist es dann doch nicht so schlimm. So ungefähr.
Wochenendkasten 26.Feburar 2022Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Sie sind eine weit und viel gereiste Frau. Was macht den Unterschied zwischen dem gemeinsamen und dem Alleinreisen aus?
Das ist ein himmelweiter Unterschied. Ich zumindest war beim Reisen mit Männern immer sehr stark fokussiert auf diesen Mann und seine Bedürfnisse. Gleichzeitig habe ich mich wahnsinnig darüber geärgert – über mich auch geärgert –, dass ich meine Bedürfnisse nicht äußern konnte, sie nicht synchronisieren konnte, nicht genau wusste, was ich eigentlich wollte. Und durch dieses ständige Fragen „Was willst du denn jetzt, was machen wir denn jetzt?“ habe ich mich oft völlig verloren und bin auch furchtbar wütend geworden. Wütend darüber, dass das so asynchron lief. Und dass es so viel Verstimmung gab. Aber die entstand eben oft auch dadurch, dass ich nicht klar sagen konnte, was ich eigentlich wollte.
Und was macht für Sie das Alleinreisen aus?
Wenn ich allein reise, passiert es mir zwar auch immer noch, dass ich dann stundenlang durch eine Stadt wandere und mich nicht entscheiden kann, wo und was ich jetzt eigentlich essen will. Bis ich dann so müde bin, dass ich mir schließlich garantiert das schlechteste Restaurant aussuche. Aber zumindest ist das meine eigene Entscheidung. Damit muss ich dann auch zurechtkommen. Aber das finde ich immer noch einfacher, als in dieser Asynchronität zu sein, die halt oft das Reisen mit einem Mann bedeutet. Außer, das muss ich einschränken, mit meinem jetzigen Mann, den ich auch schon über zwanzig Jahre habe. Das geht großartig, der kann das.
Was macht der denn richtig?
Der sagt sehr klar, was er will, und hat gleichzeitig eine ungeheure Gelassenheit. Ihm macht es überhaupt nichts aus, wenn die Dinge komplett aus dem Ruder laufen. Ist ihm egal. Dadurch brauche ich keine Angst davor zu haben, dass die Dinge aus dem Ruder laufen könnten. Ich bin nicht mehr verantwortlich. Denn wenn sie's tun, dann tun sie es. Diese Gelassenheit gibt mir eine große Freiheit, auch meine Bedürfnisse klarer zu äußern. Irgendwie funktioniert das. Dazu gehört dann aber auch, Katastrophen wirklich hinzunehmen und sie nicht als Weltuntergang aufzufassen.
Sie zitieren in Ihrem Buch aus einem Tagebuch von 1982, in dem Sie Partnerschaftsgewalt beschreiben. Es geht hoch her, sie streiten, schließlich schlagen Sie Ihren Freund mit einer Holzlatte, dann er sie mit der Faust. Später wird er versuchen, Sie zu töten. Warum war es für Sie Zeit, diese sehr persönliche Erfahrung öffentlich zu machen?
Das hat mit einem Erlebnis zu tun, das ich in meinem Buch beschreibe und das mich ungemein getriggert hat. Das war auf einer Reise nach Marokko vor gar nicht so langer Zeit. Die Hauptperson – oder auch eine autofiktionale Person, das sei dahingestellt – beobachtet, wie ein älterer Mann seine sehr junge Freundin mit Nichtachtung straft. Sie versucht immer wieder, Kontakt aufzunehmen, und er lässt sie komplett abblitzen. Sie bricht darüber in Tränen aus und versucht sich zu beruhigen und zu trösten, schreibt in ein Heft. Aber er wird immer aggressiver. Das beobachtet die Hauptfigur, und hier setzt die Erinnerung an eine Episode aus der eigenen Vergangenheit ein: Gewalt in der Beziehung.
Was sagt Ihre Erfahrung: Spüren Frauen untereinander instinktiv, wenn sie vergleichbare Erfahrungen gemacht haben, zum Beispiel Gewalterfahrungen?
Das weiß ich nicht so genau. Aber ich denke, dass wir sehr viel teilen können darüber, wie sehr wir in einem Machtverhältnis mit Männern gelebt haben. Ob es da gewalttätig wurde, ob das nur verbal war – was heißt: nur verbal? – oder ob es auch physisch wurde, darüber können wir Frauen uns schnell verständigen. Viele von uns haben diese Erfahrung gemacht. Ein weiterer Grund, warum ich das schreiben wollte, war, dass mir an mir selbst aufgefallen ist, wie sehr ich diese Erfahrung als Geheimnis vor mir selbst gehandelt habe. Wie ungern ich zugebe, dass ich dieses Machtgefälle erduldet habe. Das gebe ich deshalb ungern zu, weil ich mich gern als sehr freie Frau betrachtet habe. Das ist aber in vielen Punkten überhaupt nicht wahr. Für mich ist heute die Frage: Warum habe ich das denn so lange mitgemacht? Das waren ja ein paar Jahre meines Lebens.
im Interview:Doris Dörrie
Die Frau
1955 in Hannover geboren und mit drei Schwestern aufgewachsen. Nach dem Schauspiel- und Filmstudium in den USA studierte sie in München an der Hochschule für Film und Fernsehen, wo sie bis heute Creative Writing unterrichtet. Aus ihrer Ehe mit dem 1996 verstorbenen Kameramann Helge Weindler hat sie eine erwachsene Tochter. Ihr Partner ist der Produzent Martin Moszkowicz.
Die Künstlerin
Als Filmegisseurin berühmt wurde Doris Dörrie 1985 mit der Komödie „Männer“. Seither hat sie mehr als zwei Dutzend weitere Filme gedreht. Mit ihrem mehrfach prämierten Film „Kirschblüten – Hanami“, einer meditativen Arbeit über Liebe und Tod, feierte sie 2008 große Erfolge im In- und Ausland. Parallel zu ihrer Arbeit als Regisseurin und Dozentin hat sie zahlreiche Bücher geschrieben. „Die Heldin reist“ ist gerade im Diogenes Verlag erschienen.
Ist „Die Heldin reist“ ein feministisches, genderpolitisches Statement einer lebenserfahrenen Frau? An wen richtet es sich, wer sind Ihre Adressat:innen?
Natürlich die Frauen, die ich kenne. Aber auch die Männer. Da würde ich mich freuen, wenn sie das Buch lesen. Aber auch mein Publikum, das ich bei den Lesungen und besonders in den Schreibworkshops kennengelernt habe, die ich gegeben habe. Da hat mich immer wieder bedrückt, wie viele Frauen ihr Leben als nicht erzählenswert betrachten und das auch immer wieder gesagt haben. Ihr Leben sei zu klein, zu schäbig, nicht genügend. Aus diesem Nichtgenügen entspringt ja diese große Scham, von sich zu erzählen. Mit meinem Buch will ich auch zeigen, wie wenig ich selbst genüge, meinen eigenen Ansprüchen, meinem feministischen Anspruch.
Das ist dann aber das Gegenteil einer Heldinnenerzählung.
Absolut. Der Mann als Held hat vielleicht irgendwann auf seiner Reise das Gefühl, nicht zu genügen. Aber wehe, er behält dieses Gefühl bei. In dem Moment, wo er dem Drachen gegenübertritt, darf er das Gefühl nicht weiter haben. Das muss er abschaffen, abwürgen, besiegen. Denn sonst kann er nicht töten, er kann nicht den Drachenkopf abschlagen und gewinnen. Das geht nicht mit so einem Gefühl der Unterlegenheit.
Und was bedeutet dieses Prinzip, übertragen auf Frauen?
Das ist die Frage. Wollen wir den Drachenkopf abschlagen? Wollen wir uns dieses Heldenhafte aneignen? Inwieweit wollen wir damit der „Ich allein rette den Rest der Welt“-Fantasie auf den Leim gehen? Inwieweit wollen wir wirklich unterwegs sein oder eben doch eigentlich lieber zu Hause bleiben, im Vertrauten? Das sind alles Fragen, die ich versuche zu beackern und die sehr stark mit dem Heldenmythos zu tun haben.
Es gibt da diesen Satz der jungen Doris Dörrie: „Es ist so verdammt hart, einzeln zu werden.“ Können Sie heute, mit Mitte sechzig, sagen, was einzeln zu werden für Sie bedeutet hat?
Die Technik, um einzeln zu werden, war wirklich meine Arbeit. Um mich als eigenständige Person zu begreifen, war besonders das Schreiben wichtig. Ohne das Schreiben hätte ich das nicht gekonnt. Zur Stimme zu werden und tatsächlich zu einer in sich geschlosseneren Person. Und nicht in Abhängigkeiten zu geraten.
Als Sie sich mit Anfang zwanzig an der Münchner Filmhochschule bewarben, wurden Sie laut Ihrem späteren Professor nur deshalb aufgenommen, weil sie „in Hotpants und mit braun gebrannten Beinen zur Aufnahmeprüfung erschienen“. Sie sind seit Langem selbst Professorin an Ihrer alten Hochschule. So etwas wäre doch undenkbar heute.
Ich wusste natürlich sehr genau, dass nur Männer in der Aufnahmekommission waren. Es gab keine einzige Frau. Und ich wusste auch sehr genau, dass ich sehr lange, gut aussehende Beine hatte. Das wurde mir ja ständig gesagt. Also zufällig war das nicht. Andererseits hat dieser Professor mich zeit seines Lebens immer wieder darauf hingewiesen: Nur wegen meiner Beine hätte ich den Platz bekommen. Er meinte das natürlich als Witz und charmant. Aber das war es eben nicht. Heute haben wir zum Glück ganz andere Kommissionszusammensetzungen. Nur Männer, so was wäre undenkbar.
Als Hochschullehrerin und Mutter einer erwachsenen Tochter: Was müsste passieren, dass sich die Menschen auf egalitäre Weise treffen können?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich kenne viele junge Frauen, die gar keine Beziehung mehr zu Männern eingehen, weil sie sich nicht in ein Machtverhältnis begeben wollen. In den zum Glück immer mehr non normativen Beziehungen ist das anders – wobei es auch da Machtverhältnisse gibt –, aber bei Männern haben viele den Eindruck, sie würden sich von vornherein in ein Machtverhältnis begeben. Ein Mann kann anscheinend immer noch leicht Macht ausüben. Ich kann diese Verweigerung verstehen. Aber was dabei in Gefahr ist, ist der Mut zur vollen Katastrophe – und die Liebe ist immer die Vollkatastrophe –, wenn es denn wirklich Liebe ist. Weil sie nur mit Verlust enden kann. Das sich nicht zu trauen aus Angst vor Abhängigkeit ist aus meiner Sicht auch sehr schade.
Wenn Frauen sagen, sie wollen nicht in diesen Kampf der Geschlechter, sie möchten um andere Dinge in ihrem Leben kämpfen: Ist das nicht dieselbe, nur anders gelagerte Angst Ihrer Ichperson von früher?
Ich glaube nicht, dass man diese Ängste vergleichen kann. Das ist nicht nur Angst, sondern auch eine Form der Selbstständigkeit, die ich richtig finde. Da finden zwei Dinge parallel statt. Das eine ist, sich nicht in eine Abhängigkeit zu begeben und auch wirklich seine Frau allein zu stehen. Und das andere ist der Verzicht auf etwas: auf Liebe als Kollateralschaden sozusagen.
Die Rahmenhandlung Ihres Buchs ist eine Reise nach San Francisco. Danach begann die Coronapandemie, Reisen wurden schwer bis unmöglich: „Wie war das möglich, dass ich … für fünf Tage einfach so um den halben Erdball geflogen bin?“ Schauen Sie inzwischen auf gemachte Reisen zurück wie in ein Schatzkästlein?
Ja, aber das ist auch ein kleiner Giftschrank. Das Maß an Umweltverschmutzung und CO2-Ausstoß, das ich hingenommen habe, ist ja ungeheuerlich. Die Pandemie hat uns im besten Fall auch mit Fragen konfrontiert, die wir uns vorher nicht so gestellt haben, auch weil wir nicht die Zeit dafür hatten, weil wir andauernd unterwegs waren. Ich denke, das ist eine Chance. Ich bin sehr skeptisch, ob wir sie wirklich nutzen, aber wir könnten dieser verdammten Pandemie abtrotzen, darüber wirklich nachzudenken und etwas zu ändern. Politisch sowieso, aber auch individuell. Was haben wir uns angewöhnt an Bewegung durch die Welt? An Nachlässigkeit und zu wenig Aufmerksamkeit für die Umstände? Die Pandemie hat uns gezwungen, das Reisen dranzugeben. Darin stecken doch wichtige Lektionen.
Das Buch endet mit einer überaus dramatischen Erfahrung. Ich will nicht spoilern, aber: Haben Sie dieses Grauen gebraucht, um das Buch schreiben zu können? Ist das Ihre Heldinnenerfahrung?
Das glaube ich nicht. Ich habe das, wie schon damals als junge Frau, ganz schnell wieder weggesteckt. Ich hab's überlebt – und weggepackt. Der Auslöser für das Buch war eher die Pandemie und der plötzliche Stillstand, wodurch ich plötzlich gemerkt habe, dass mein Normalzustand in den letzten … oh Gott, vierzig Jahren? …, dass jedenfalls mein Normalzustand die Bewegung durch die Welt war.
Der Frühling beginnt, und wir können wohl wieder hinaus in die Welt. Wohin zieht es Sie?
Mich zieht es in die ganze Welt gleichzeitig. Aber was ich jetzt wirklich mit Erstaunen feststelle an mir selbst, ist, dass ich mir durch zwei Jahre Pandemie ein Eremitinnendasein zugelegt habe, was ich gar nicht so gut finde. Klar, in Zukunft reise ich sehr viel nachhaltiger und umsichtiger. Was ich aber meine, ist, dass ich mich nicht mehr so unschuldig und voller Vertrauen in die Welt traue, an die Menschen. Die Pandemie hat mir jetzt zwei Jahre lang beigebracht, dass ich Risiken abwägen soll, das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Das finde ich auf einer menschlichen Ebene fatal. Aber einfach diese Bewegung aus dem Haus raus, wenn man das schon als Reisen bezeichnen will, das Unterwegssein, auf Menschen zuzugehen, unter Menschen zu sein – dass ich da diese Risikobewertung erlernt habe, das finde ich furchtbar. Davon möchte ich mich schnell wieder befreien.
Teilen Sie die Beobachtung, dass die Menschen im Alltag weniger zurückgrüßen als früher? Sind Sie eine Grüßerin?
Ich bin eine heftige Grüßerin und ärgere mich schon immer über jeden, der nicht zurückgrüßt. Aber Sie fragen ja, ob ich das auch bemerkt habe. Weiß ich nicht. Ich bin einfach wirklich wenig unter Menschen, mich kann eigentlich gerade keiner zurückgrüßen. Aber ich will recht bald wieder grüßen. Und zurückgegrüßt werden. | Anja Maier | Mit „Die Heldin reist“ hat die Regisseurin Doris Dörrie ein Buch über Frauen geschrieben, die durch Krisen wachsen. Ein Gespräch über ihre eigenen Erfahrungen. | [
"Liebe",
"deutsche Literatur",
"Reisen",
"Partnerschaftsgewalt",
"Filme",
"GNS",
"Alltag",
"Gesellschaft",
"Feed",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,362 |
Gesetzespaket in Frankreich verabschiedet: 46 Geschenke für Sarkozy - taz.de | Gesetzespaket in Frankreich verabschiedet: 46 Geschenke für Sarkozy
Das französische Parlament hat schärfere Gesetze beschlossen. Sie legitimieren die Abschiebung von Roma. Auch die staatliche Internetzensur ist jetzt legal.
Nur wenige haben in der Vorweihnachtszeit gute Laune. Bild: reuters
PARIS taz | In zweiter Lesung hat das französische Parlament ein Paket mit 46 Gesetzesartikeln verabschiedet, die der Sicherheit dienen sollen. Der Senat hatte eine erste Fassung abgeschwächt. In der Abstimmung über die Endversion aber setzten sich die Abgeordneten der rechten Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung mit zusätzlichen Verschärfungen durch.
Im Wesentlichen entsprechen diese den Vorstellungen und Wünschen von Präsident Nicolas Sarkozy. In einer Rede Ende Juli in Grenoble hatte er die rasche Beseitigung der Roma-Lager verlangt. Die Diskriminierung bei der Abschiebung von Roma-Familien aus den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien und die polizeiliche Räumung von Lagern stieß über Frankreich hinaus auf empörte Kritik.
Dies hatte zur Folge, dass der Wortlaut den Weisungen des Innenministeriums angepasst und jeder Hinweis auf bestimmte Bevölkerungsgruppen gestrichen wurde. Jetzt wurde für die repressive Politik gegen die Roma aus Osteuropa auch die bisher fehlende gesetzliche Grundlage nachgeliefert: Die unbefugte Errichtung von Zelt- und Hüttenlagern auf öffentlichen oder privaten Grundstücken wird ein Vergehen, für das auch ausländische EU-Bürgern mit einem Landesverweis bestraft werden können. Die Räumung solcher Camps kann künftig von den Polizeipräfekten angeordnet werden. Sie muss den Betroffenen 48 Stunden vorher angekündigt werden.
Inspiriert von einer kürzlichen Volksabstimmung in der Schweiz über die Ausweisung "krimineller Ausländer" hat die rechtskonservative Gruppe "Droite populaire" in der Regierungspartei UMP ganz zuletzt noch mit Erfolg einen Antrag eingebracht, der es gesetzlich erleichtert, verurteilten Ausländern die Rückkehr nach Frankreich zu verbieten. Keine Nachsicht soll es für gewalttätige Erstdelinquenten geben. Das Gesetz will, dass die Richter beim Strafmaß nicht unter ein fixiertes Minimum an Haftzeit gehen. Strenge wollte das Parlament auch zeigen, indem es die Sicherheitsverwahrung für Polizistenmörder auf dreißig Jahre verlängerte.
Besonders heftig diskutiert wurde die Überwachung der Internet-Inhalte. Die französischen Provider werden verpflichtet, den Zugang zu Kinderpornografie zu blockieren. Was unter diese Bestimmung fällt, entscheidet allein der Innenminister. Auf Blogs protestieren die Anhänger eines freien Internets gegen eine Maßnahme, die bedenkliche Tendenzen zur staatlichen Web-Zensur verrate. Im Namen der Verbrechensbekämpfung im Netz wird auch die Überwachung und Datenspeicherung im Internet analog zum Abhören von Telefongesprächen mit richterlicher Zustimmung legalisiert. | Rudolf Balmer | Das französische Parlament hat schärfere Gesetze beschlossen. Sie legitimieren die Abschiebung von Roma. Auch die staatliche Internetzensur ist jetzt legal. | [
"Europa",
"Politik",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,379 |
Konfusion nach den Wahlen in Senegal - taz.de | Konfusion nach den Wahlen in Senegal
■ Regierende Sozialisten gewinnen Parlamentswahl / Streit um Wahlscheine
Dakar (taz) – Senegals regierende Sozialistische Partei (PS) wird auch nach den Parlamentswahlen vom letzten Sonntag ihre absolute Mehrheit in der Nationalversammlung behalten. Inoffizielle, von der staatsnahen Zeitung Le Soleil veröffentlichte Ergebnisse gaben ihr gestern etwa 60 Prozent der Stimmen und mindestens 80 der 120 Parlamentssitze gegenüber höchstens 30 für die oppositionelle „Demokratische Partei“ (PDS). Alle Beobachter sprechen von einer Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent. Das offizielle Ergebnis soll spätestens am Freitag bekanntgegeben werden.
Die PDS gibt an, landesweit mit der PS gleichauf zu liegen und ihre schon während der Präsidentschaftswahlen vom Februar gewonnene Mehrheit in der Hauptstadt Dakar weiter ausgebaut zu haben. Oppositionsanhänger sind überzeugt, daß sich die PS besonders in ländlichen Gebieten Stimmen kauft. So seien laut PDS bei den Präsidentschaftswahlen im Februar bis zu 300.000 sogenannte ordonnances – Wahlberechtigungsscheine für wegen Krankheit oder Abwesenheit nicht auf die Wahllisten eingetragene Bürger – an PS- Anhänger verteilt worden. Die Vorwürfe des Wahlbetruges wurden damals von internationalen Beobachtern teilweise bestätigt, nicht jedoch die PDS-Behauptung, daß ihr Führer Abdoulaye Wade — der 32 Prozent der Stimmen erhielt – der eigentliche Sieger war.
„Wir gewinnen die absolute Mehrheit, und dann kann Präsident Diouf ohne unsere Zustimmung keine Regierung bilden“, hatte Wade vor der Parlamentswahl getönt. Jetzt jedoch sieht sich die PDS selber des Wahlbetruges bezichtigt: Der Bürgermeister Dakars und PS-Spitzenkandidat in der Hauptstadt, Mamadou Diop, behauptete, die Oppositionspartei habe am Wahltag in der Region Dakar 10.000 gefälschte ordonnances verteilt. Ein PDS-Sympathisant gab gegenüber der taz unumwunden zu, in Dakar über 100 ordonnances gefälscht und an Anhänger verteilt zu haben. Bei den vorgefundenen gefälschten ordonnances, die am Wahltag erhebliche Verwirrung stifteten, handelt es sich wohl nur um die Spitze eines Eisberges. Die Regierung muß sich aber fragen lassen, warum die bei den Wahlen vom Februar mit ordonnances ausgestatteten Wähler seitdem nicht in die Wahlregister eingetragen worden sind.
Unter diesen Umständen verkommt Senegals vielgepriesene Mehrparteiendemokratie immer mehr zur Farce. Bis jetzt hat das Parlament so gut wie jeder Regierungsentscheidung zugestimmt, und auf der Straße ist die Ansicht verbreitet, daß Abgeordnete sich einfach bereichern, ohne irgendwas zu tun. Florian Westphal | florian westphal | ■ Regierende Sozialisten gewinnen Parlamentswahl / Streit um Wahlscheine | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,400 |
Plädoyers gegen Beer - taz.de | Plädoyers gegen Beer
■ Anklage fordert elf Jahre Haft für den RAF-Aussteiger/ Kronzeugenregelung für umfassende Aussagen beantragt
Koblenz (taz) — Das ehemalige Mitglied der Rote Armee Fraktion, Henning Beer, der im vergangenen Jahr in der Ex-DDR verhaftet wurde, soll in den Vorzug der Kronzeugenregelung kommen. Nach dem Willen der Bundesanwaltschaft wäre Beer dann nach Werner Lotze und Susanne Albrecht der dritte, auf den diese Regelung angewandt würde. Bundesanwalt Hans-Joachim Kurth beantragte in seinem Plädoyer vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts eine Haftstrafe von elf Jahren. Beer werden Mord, dreißigfacher Mordversuch, Raub und Sprengstoffanschläge vorgeworfen.
Strafmildernd wurde gewertet, daß der 32jährige Aussteiger ein umfassendes Geständnis abgelegt und glaubhaft Reue geäußert haben soll. Seine Aussagen hätten, so Kurth, unter anderem zu weiteren Haftbefehlen gegen Christian Klar, Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann und Ingrid Jakobsmaier geführt. Kurth lobte, daß erst durch Beers Aussagen die Beteiligungen von Adelheid Schulz und Ingrid Jakobsmaier an den Sprengstoffanschlägen auf den US-Oberkommandierenden Frederick Kroesen (1981 in Heidelberg) und auf die Ramsteiner Air-base (1981) bekanntgeworden seien.
Beer selbst hat ausgesagt, persönlich an den Vorbereitungen für das Attentat auf den Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig (1979 bei Mons in Belgien) sowie für die Anschläge in Heidelberg und Ramstein beteiligt gewesen zu sein. Auch beim RAF-Banküberfall auf die Zürcher Volksbank im November 1979 beteiligte er sich. Auf der Flucht war bei einer Schießerei mit der Polizei eine Passantin erschossen worden. Obwohl die Bundesanwaltschaft einräumte, daß die tödlichen Schüsse nicht von Beer kamen, hielt sie ihren Mordvorwurf aufrecht. Der „Mord“ sei „im Rahmen des gemeinsamen Tatplans“ geschehen. Im Rahmen der Kronzeugenregelung forderte Kurth dafür achteinhalb Jahre.
Ausführlich lobte die Anklage ihren Kronzeugen, der „tiefe Einblicke in die Struktur, Logistik und Willensbildung der RAF“ gewährt habe. Befriedigt bezeichnete Kurth die während des Prozesses beschriebene „hierarchische“ Entscheidungsstruktur der RAF als Beweis dafür, daß der Anspruch der RAF, „selbstbestimmte Lebensform“ zu sein, „als verlogen demaskiert“ worden sei.
Zwar sei Beer — der stets nur zum zweiten Glied der RAF gestanden habe — nicht „der Kronzeuge, den das Gesetz in erster Linie im Auge hat“, meinte der Bundesanwalt. Dennoch leiste der Angeklagte möglicherweise einen Beitrag zur Verhinderung weiterer Anschläge, indem seine Offenbarungen für Verunsicherung in der Sympathisantenszene führen könnten.
Die Aussagen Beers über die Tatbeteiligung von Sieglinde Hofmann und Ingrid Jakobsmaier kämen zudem für die Verfolger „einer Ergreifung“ gleich. Beide sitzen derzeit nur Zeitstrafen ab. Thomas Krumenacker | thomas krumenacker | ■ Anklage fordert elf Jahre Haft für den RAF-Aussteiger/ Kronzeugenregelung für umfassende Aussagen beantragt | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,402 |
Haft wegen Berichten aus Wuhan: Die Frau, die China demaskiert - taz.de | Haft wegen Berichten aus Wuhan: Die Frau, die China demaskiert
China hat die Bürgerjournalistin Zhang Zhan zu vier Jahren Haft verurteilt. Sie hatte über die Lage in Wuhan zu Beginn der Coronapandemie informiert.
Miniprotest in Hongkong vor Chinas Verbindungsbüro gegen die Verurteilung von Zhang Zhan Foto: Isaac Wong/imago
PEKING taz | „Streit anzetteln und Ärger provozieren“ lautet der Paragraf 293 in Chinas Strafgesetzbuch, der immer dann angewendet wird, wenn regierungskritische Stimmen von ihrer in der Verfassung verankerten Meinungsfreiheit Gebrauch machen. Am Montag hat ein Gericht in Shanghai die Bürgerjournalistin Zhang Zhan wegen ebenjenen Strafbestands zu vier Jahren Haft verurteilt.
Anfang Februar berichtete Zhang auf eigene Faust aus der zentralchinesischen Stadt Wuhan, dem damaligen Epizentrum des Coronavirus. In verwackelten Videoaufnahmen, die sie unter anderem auf den in China gesperrten Plattformen Twitter und Youtube hochlud, zeigte sie die chaotischen Zustände in völlig überfüllten Spitälern, interviewte Bürger und kritisierte immer wieder die Regierung – unter anderem dafür, dass sie kritische Blogger verschwinden ließ.
Im Mai wurde die 37-jährige Zhang selbst verhaftet, was erst im Juni bestätigt wurde. Laut ihrem Anwalt leidet Zhang unter den katastrophalen Haftbedingungen und einem sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand – physisch wie psychisch. Seit Monaten soll sie sich im Hungerstreik befinden und per Magensonde zwangsernährt werden.
Chinas Staatsmedien griffen das Thema jetzt nicht auf, wohl weil die Angelegenheit mit einem Verbot belegt ist. Dennoch lassen sich auf Weibo, dem chinesischen Twitter, persönliche Meinungen zu Zhang Zhan finden.
Sie sprach mit ausländischen Medien
„Im derzeitigen politischen Umfeld kann das Gesetz seine Unabhängigkeit nicht behalten. Selbst die Staatsanwaltschaft gibt ihr Urteilsvermögen auf“, schreibt ein Nutzer vage. Ein anderer formuliert direkter: „Ich habe lange versucht, im Netz überhaupt etwas über den Fall Zhang Zhan herauszufinden. Natürlich hat es mich schockiert und geängstigt.“
Doch wird die verurteilte Bürgerjournalistin auch vielfach kritisiert – teilweise persönlich etwa für ihren christlichen Glauben, oder dass sie wirr und konfus spreche. Andere prangern an, dass Zhang voller Vorurteile nach Wuhan gereist sei: „Natürlich hat es Konsequenzen, wenn man in einer Stadt während des Lockdowns herumrennt, Falschinformationen im Inland als auch in ausländischen Medien verbreitet“, meint eine Userin.
Tatsächlich eignet sich die einstige Anwältin, die vor ihrem Aufenthalt in Wuhan keine journalistische Erfahrung hatte, keineswegs zur Stilisierung als „idealistische Reporterin“ in einem autoritären Regime. Ihre 122 Videoclips, die noch immer auf Youtube zu sehen sind, bestehen meist aus kurzen, verwackelten Straßenaufnahmen – profan, unprofessionell und manchmal nur wenige Sekunden lang.
Zwischendurch filmt sie sich in ihrem Hotelzimmer in Selfie-Pose und wettert gegen die Regierung. In einer Aufnahme etwa nennt sie Sars-CoV-2 ein „kommunistisches Virus“. Ein anderes Motiv, das sich durch Zhangs Videos zieht, sind lautstarke Auseinandersetzungen mit Polizisten, die sie immer wieder auffordern, das Filmen zu lassen.
Was letztlich zu ihrer Verhaftung geführt hat, ist wegen der Intransparenz von Chinas Rechtssystem nicht ganz klar. Denn es gab etliche Online-Zeugenberichte von Chinesen, die kritisch berichteten, wie etwa die „Wuhan-Tagebücher“ der Autorin Fang Fang.
Deren Posts wurden zwar auch zensiert, sie selbst aber nicht verhaftet. Zhang wird unter anderem vorgeworfen, ausländischen Medien Interviews gegeben zu haben. Gleichzeitig enthielt ihre Kritik an der Regierung überaus drastische und diffamierende Worte.
Blogger seit Februar verschwunden
Neben Zhang gibt es eine Handvoll weiterer Blogger, die wegen ihrer Berichte aus Wuhan verhaftet wurden. Chen Quishi sitzt seit September im östlichen Qingdao im Gefängnis. Ebenso hatten die Behörden Li Zehua für zwei Monate festgenommen. Der wohl tragischste Fall ist Fang Bin: Seit dem 9. Februar ist er spurlos verschwunden.
Die Videoaufnahmen dieser wenigen Blogger wurden weltweit von Sendern aufgegriffen und von Millionen wissbegierigen Chinesen in sozialen Medien geteilt. Das Verlangen nach ungefilterten Informationen war groß, schließlich hielten viele die offiziellen Verlautbarungen für unglaubwürdig.
Mittlerweile hat Peking das Narrativ des Viruskampfs längst wieder unter Kontrolle. Die Staatsführung hat den „Sieg über Covid“ zur Heldengeschichte unter Führung von Parteichef Xi Jinping erklärt. In Wuhan lässt sich dies in einem Messezentrum besichtigen. Selbstreflexion oder das Eingeständnis von Fehlern gibt es dort nicht, dafür eine Überdosis an Pathos und Nationalstolz. Kritische Stimmen wie die von Zhang passen nicht ins Bild.
Ommer aufmüpfigere Aktionen
Dass Zhang überhaupt wochenlang in Wuhan von den lokalen Behörden toleriert wurde, hat wohl auch damit zu tun, dass sie vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit generierte. Viele ihrer Videos wurden nur von wenigen Tausend Menschen geschaut. Doch mit der Zeit wagte sie immer aufmüpfigere Aktionen – einmal etwa betrat sie eine Polizeistation, um nach dem Verbleib von verschwundenen Bürgerjournalisten zu fragen.
Die Teilnahme an ihrem eigenen Prozess soll sie laut ihrem Anwalt aus Protest verweigert haben. Bei der Urteilsverkündung am Montag hatten sich etliche Fernsehjournalisten vor dem Gerichtsgebäude eingefunden. Sie wurden jedoch am Filmen und Betreten des Gebäudes gehindert, auch europäischen Diplomaten wurde der Einlass verweigert. | Fabian Kretschmer | China hat die Bürgerjournalistin Zhang Zhan zu vier Jahren Haft verurteilt. Sie hatte über die Lage in Wuhan zu Beginn der Coronapandemie informiert. | [
"China",
"Blogger",
"Wuhan",
"Zensur",
"Hungerstreik",
"Regierungskritik",
"Coronavirus",
"Asien",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,438 |
Wahlen in Bulgarien: Lust auf Experimente - taz.de | Wahlen in Bulgarien: Lust auf Experimente
Aus der dritten Wahl in Bulgarien in 2021 geht eine politische Newcomer-Partei als stärkste Kraft hervor. Die Menschen haben genug vom Provisorium.
Die Gewinner der Parlamentswahlen in Bulgarien Kiril Petkow und Asen Vasilew von der PP Foto: Valentina Petrova/ap
Da sage jemand, die Bulgar*innen hätten die Lust auf Experimente verloren. Mit über 25 Prozent wird die Protestpartei „Wir setzen die Veränderungen fort“ (PP), die erst wenige Wochen alt ist, bei der dritten Parlamentswahl in diesem Jahr stärkste Kraft. Offensichtlich trauen viele Wähler*innen den beiden Vorsitzenden Kirill Petkow und Asen Vasilew, Harvard-Absolventen und Ex-Minister eines Expertenkabinetts, einiges zu: einen monatelangen Stillstand zu beenden und mit der grassierenden Korruption aufzuräumen, die das Balkanland EU-weit zum Spitzenreiter macht.
Doch das Ergebnis enthält noch eine andere Botschaft. Es zahlt sich nicht aus, die Sorgen und Nöte der Bevölkerung vorgeblich ernst zu nehmen, sich dann aber der Verantwortung nicht zu stellen. Das musste jetzt der Showmaster Slawi Trifonow zur Kenntnis nehmen. Mit seiner Anti-Establishment-Partei „So ein Volk gibt es“ bei der Wahl im Juli auf dem ersten Platz, tat Trifonow in der Folgezeit so, als gehe ihn das alles nichts mehr an. Der Entertainer hätte sein Publikum lieber weiter in den Medien bespaßen sollen, anstatt sich in der Politik zu versuchen.
Doch zu überbordendem Optimismus besteht kein Anlass. Auch dieses Mal wird es nicht einfach werden, eine tragfähige Mehrheit zusammenzuzimmern. Wenn die PP den Auftrag zu einer Regierungsbildung erhalten sollte, müsste sie die Sozialisten mit ins Boot holen – ein Truppe, die eher am Status quo festhält.
Doch allen Befindlichkeiten zum Trotz: Den Beteiligten muss klar sein, dass es ein „Weiter so“ nicht geben kann. Das gilt nicht nur für korrupte Machenschaften der Mächtigen, gegen die 2020 Zehntausende Bulgar*innen wochenlang auf die Straßen gegangen waren.
Das gilt auch für aktuelle Probleme – allen voran Corona. Über 26.000 Tote und eine Quote vollständig Geimpfter von 23,4 Prozent sind auch das Ergebnis der erratischen Politik einer Führung, die seit Monaten nur übergangsweise regiert. Auch deshalb muss schnell eine arbeitsfähige Regierung her. Für viele Bulgar*innen könnte das am Ende auch über Tod oder Leben entscheiden. | Barbara Oertel | Aus der dritten Wahl in Bulgarien in 2021 geht eine politische Newcomer-Partei als stärkste Kraft hervor. Die Menschen haben genug vom Provisorium. | [
"Bulgarien",
"Parlamentswahl",
"Coronavirus",
"Europa",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,450 |
Ergebnisse bei der Bundestagswahl: Der Norden ist rot - taz.de | Ergebnisse bei der Bundestagswahl: Der Norden ist rot
In den norddeutschen Bundesländern sind SPD und Grüne noch stärker als im Bund und die CDU stürzt noch tiefer.
Sonnenaufgang an der Ostseeküste: Rot ist die Farbe der Stunde Foto: dpa / Jens Büttner
Nicht nur im Bund, auch in den einzelnen Bundesländern werden die Ergebnisse der Bundestagswahl nun analysiert. Die taz nord hat sich die Zahlen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen angeschaut und sich umgehört, wie die dortigen Politiker*innen die Ergebnisse vor Ort aufgenommen haben.
Alles rot in Schleswig-Holstein
Ups, alles rot: Mit 28 Prozent der Zweitstimmen und acht gewonnenen Direktmandaten wird die SPD stärkste Kraft in Schleswig-Holstein. „Es ist über zwei Jahrzehnte her, dass wir so viele Direktmandate gewonnen haben“, freute sich die Landesparteichefin Serpil Midyatli. Einen Sieg fuhr auch ihr Amtsvorgänger Ralf Stegner ein, der in Pinneberg antrat – dem sogenannten „Kanzlerwahlkreis“, weil in den vergangenen Jahrzehnten dort stets die Partei gewann, die am Ende die Kanzler*in stellte. „Die Wahl beweist, dass Schleswig-Holstein kein konservatives Land ist“, sagte Midyatli. Diesen Schwung wolle die Partei mitnehmen für die Landtagswahl im Frühjahr 2022.
Frust dagegen bei der CDU, traditionell stärkste Kraft im Land, die nun zwölf Prozentpunkte verlor und nur noch an der Westküste zwei Direktmandate gewann. „Es gibt nichts daran vorbeizureden, dass dieses Ergebnis für uns enttäuschend ist“, sagte Landeschef und Ministerpräsident Daniel Günther. Die Grünen gewannen über sechs Punkte hinzu und wurden mit 18 Prozent drittstärkste Kraft vor der FDP (12,5 Prozent). Die AfD landete bei knapp sieben Prozent (-1,4). Die Linke kam nur noch auf 3,6 Prozent (-2).
Klatsche für die CDU in Niedersachsen
Wie im Bundestrend, nur einen Zacken deutlicher: So lässt sich das Bundestagswahlergebnis in Niedersachsen zusammenfassen. Mit 33,1 Prozent liegt die SPD hier vorne – die CDU kommt auf 24,2 Prozent. Das ist eine ziemliche Klatsche für die Christdemokraten unter Bernd Althusmann, die frühzeitig auf Laschet gesetzt hatten. Das Ergebnis: Minus 10,7 Prozentpunkte. Deutlich dazu gewonnen haben die Grünen (+7,4) sowie die SPD (+5,7). Die Grünen landeten bei 16,1 Prozent – das ist fast doppelt so viel wie beim letzten Mal, aber eben doch ein Stückchen unter den 20+ Prozent, von denen man geträumt hatte. Der Rest: FDP 10,5 (+1,2), AfD 7,4 (-1,7), die Linke stürzt ab auf 3,3 (-3,7).
Doppelt so grün in Bremen
Deutlicher Wahlsieger sind die Grünen, die mit 20,8 Prozent ihren Anteil der Zweitstimmen fast verdoppelt haben. Spitzenkandidatin Kirsten Kappert-Gonther behält ihren Platz im Bundestag ebenso wie die SPD-Politikerin Sarah Ryglewski, die das Direktmandat in ihrem Wahlkreis Bremen-Stadt gewann. Auch ihr Parteigenosse Uwe Schmidt aus Bremerhaven behält sein Mandat. Die Partei hat ebenfalls zugelegt: Von 26,8 Prozent klettert die SPD auf 31,5 Prozent.
Verloren hat die AfD: Sie kam nur noch auf 6,9 Prozent (-3,1). Ähnlich hoch waren die Verluste der CDU: Ihr Stimmenanteil lag 2017 bei 25,1 Prozent, jetzt bei 17,3. Ihr Spitzenkandidat Thomas Röwekamp zieht dennoch wieder über den Listenplatz in den Bundestag ein. Wiebke Winter, Klima-Expertin in Laschets „Zukunftsteam“, hat hingegen keinen Sitz bekommen.
Wahlverliererin ist auch in Bremen die Linke. Ihr Stimmenanteil halbierte sich beinahe auf 7,7 Prozent. Deshalb wird die bisherige Abgeordnete Doris Achelwilm im neuen Bundestag nicht mehr vertreten sein. Die FDP ist mit 9,3 Prozent stabil geblieben.
Historisches Debakel für Hamburgs CDU
Im Bund war’s heftig, in Hamburg brutal: Die Elb-CDU hat mit 15,2 Prozent ihr bei weitem schlechtestes Bundestags-Ergebnis aller Zeiten eingefahren. Mit 12 Prozentpunkten weniger als 2017 und weniger als halb so vielen Stimmanteilen wie 2013 bleibt die Partei unter Landeschef Christoph Ploß im freien Fall. Die SPD holte sich mit 29,7 Prozent Platz eins zurück (+6,2) und rettet so den im Wahlkreis unterlegenen Staatsminister Niels Annen über die Landesliste. Die Grünen hievten dank starker 24,9 Prozent (+9) auch die künftig jüngste Abgeordnete Emilia Fester (23) in den Bundestag.
Die FDP legte auf 11,4 Prozent zu und schickt wieder zwei Abgeordnete nach Berlin. Die Linke hingegen wird nach einem Einbruch von 12,2 auf 6,7 Prozent künftig nur noch von Spitzenkandidatin Žaklin Nastić vertreten. Die AfD kam auf genau fünf Prozent (-2,8), was ebenfalls für einen Sitz reicht. | Esther Geißlinger | In den norddeutschen Bundesländern sind SPD und Grüne noch stärker als im Bund und die CDU stürzt noch tiefer. | [
"Hamburg",
"Bremen",
"Schleswig-Holstein",
"Niedersachsen",
"Bundestagswahl 2021",
"Nord",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,453 |
Das ganz bewußte Dorf - taz.de | Das ganz bewußte Dorf
Ein Modellprojekt und seine Folgen: In einem winzigen Ort in der Nähe von Hannover sprießt die ökologische Baukultur ■ Von Jörg Walser
Es ist eigentlich ein kärgliches kleines Dörf-lein. Vor sieben Jahren hat als letztes Geschäft der Tante-Emma-Laden zugemacht, seit einem guten Jahr ist die örtliche Postfiliale dicht. Selbst Milch ist hier – mitten auf dem Land – nicht zu bekommen, denn auch Milchbauern gibt es hier schon lange nicht mehr.
Und doch fühlen sich Menschen hingezogen zu dem 432-Seelen-Ort südlich von Hannover und haben hier Möglichkeiten gefunden, die sie anderswo vergeblich suchen. Denn Dörpe ist ein kleiner Experimentierkessel. Das abgeschiedene Vier-Straßen-Nest – die nächste etwas größere Gemeinde liegt acht Kilometer entfernt – ist zu einem Tummelplatz geworden für Tüftler und Bastler, deren Lebensvorstellung es verlangt, im Einklang mit der Umwelt zu leben und zu wohnen. Ein rundes Dutzend Menschen baut sich in Dörpe Häuser, bei denen eines möglichst gering ausfallen soll: der Energieverbrauch.
Begonnen hat alles mit einem Traum: Ein Haus sollte geschaffen werden, das zur Gänze ohne herkömmliche Energie beheizt werden kann. Sechs Jahre waren Fachleute mit der Entwicklung des Null-Energie-Hauses beschäftigt, zwei Jahre wurde gebaut, und dann stand 1989, was damals ein Pionierbau war.
Das liebevoll „Nulli“ genannte Fichtenholz-Gebäude verfügte über eine mächtige Dämmung aus bis zu 55 Zentimeter dicken Altpapier-Schichten und Wärmeschutzfenstern, die die Wärmeverluste möglichst gering halten sollten. Kühlere Pufferräume an der Nordseite des Gebäudes und schwere Dämmschiebeläden vor den Fenstern sorgten für zusätzliche Isolierung. Im Winter sollte mit der über Monate in einem 10.000-Liter-Wassertank gespeicherten Wärme geheizt werden. Erhitzt werden sollte das Wasser während der wärmeren Jahreszeit durch Sonnenkollektoren auf dem Dach.
Anfangs war „Nulli“ ein bewohntes Labor. „Während der Forschungsphase waren wir ganz schön eingespannt mit der Bedienung der Meßcomputer“, erzählt Hausbewohner Norbert Schiemann. Heute „lebt es sich ganz normal“ in dem sonderbaren Bau, der sich allerdings nicht mehr im Urzustand befindet. Denn es stellte sich heraus: Während die Isolierung hervorragend dichthielt, konnte der Wassertank die Wärme nicht lange genug halten und wurde schließlich ausgebaut. Heute wird nur noch das Brauchwasser durch die Sonne erhitzt, ergänzt durch eine Gasheizung.
Trotz der Rückschläge, betont Schiemann, sei das Projekt wichtig gewesen: „Vieles war technisches Neuland, das mußte einfach einmal ausprobiert werden.“ Vor allem aber wirkte das Ökohaus wie ein Katalysator für umweltgerechtes Bauen: Wie ein Magnet zog der Modellbau Besucher aus ganz Deutschland an.
Doch Veränderungen zeigten sich nicht nur in der Ferne, sondern auch in Dörpe selbst. Die Dorfbewohner, sagt Angelika Holweg, alteingesessene Dörperin, hätten das außergewöhnliche Gebäude „sehr interessiert aufgenommen“. Von dem Projekt habe dann „eigentlich das ganze Dorf ein bißchen Früchte getragen“: Zwei Scheunen wurden zu Niedrigenergiehäusern umgebaut, einige Bewohner erwärmen ihr Brauchwasser inzwischen durch die Sonne, weitere Ökohäuser entstanden. Und es kamen neue und junge Leute nach Dörpe, das einmal in der Gefahr stand, zu vergreisen.
Denn manche waren von dem Projekt so fasziniert, daß sie hängenblieben. Ulrich Karbe ist so einer. Dem heute 32jährigen Tischler aus Hamburg hatte „die konventionelle Arbeit ziemlich gestunken“. Durch das Null-Energie-Haus kam er nach Dörpe, arbeitete am Bau mit und ist „nicht mehr weggekommen“. Wie andere einstige Projektmitarbeiter und ehemalige Beschäftigte des nahegelegenen Energie- und Umweltzentrums – an dem die Idee für das Null-Energie-Haus entstanden war – baut Tischler Karbe nun am eigenen Heim. Das Zweifamilienhaus soll in jeder Hinsicht ökologischen Bedingungen genügen. Eine Regenwasser-Sammelanlage kann 7000 Liter Wasser aufnehmen, das über eine Solaranlage erhitzt wird. Geheizt wird mit Holz, das in einer Vergasungsanlage schadstoffarm verbrannt wird. Zur Dämmung dient nach wie vor gepreßtes Altpapier.
„Eigentlich könnten wir den Bau niemals bezahlen“, sagt Karbe. Doch die umweltbewußten Handwerker haben zusammen mit einem auf Ökobauweise spezialisierten Architekten aus Dörpe eine Lösung gefunden: sie errichten ihre Häuser zum größten Teil im Eigenbau und helfen sich gegenseitig mit Arbeiten und Geräten aus. Das Prinzip ist einfach: „Peter hilft mir im Garten und ich ihm beim Hausbau“, erklärt „Nulli“-Besitzer Schiemann. Einen stolzen Namen haben sie für ihre Tauschwirtschaft auch schon gefunden: Dörpe-Dollar. | Jörg Walser | Ein Modellprojekt und seine Folgen: In einem winzigen Ort in der Nähe von Hannover sprießt die ökologische Baukultur ■ Von Jörg Walser | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,497 |
Anerkennung von Berufskrankheiten: Bürger müssen geschützt werden - taz.de | Anerkennung von Berufskrankheiten: Bürger müssen geschützt werden
Viel zu selten werden Berufskrankheiten anerkannt. Die „Initiative kritischer Umweltgeschädigter“ stellt sechs Forderungen auf.
Asbest! Arbeiter einer Spezialfirma reinigen Bücher aus einer Bibliothek, die mit den giftigen Fasern belastetet ist. Bild: dpa
Die Behandlungskosten von Menschen, die berufsbedingt durch giftige Stoffe geschädigt wurden, gehen in die Milliarden. Ebenso verhält es sich mit den Kosten für die Frühverrentungen. Derzeit werden diese enormen Kosten für Krankenbehandlung und Frühverrentung in den allermeisten Fällen noch von der Allgemeinheit getragen.
Die manipulierten und gefälschten Diagnoseleitlinien und Gutachten entlasten die chemische Industrie und die von den Arbeitgebern finanzierten Berufsgenossenschaften (BG) in zweistelliger Milliardenhöhe und sind somit gesellschaftspolitisch überaus relevant.
In ihrer Wirkung stellen sie nicht nur eine versteckte Subvention der heimischen Industrie dar, sie offenbaren auch das dahinter stehende System. Schon als es in den siebziger Jahren darum ging, ob man Asbest verbieten sollte, hat man sich aufseiten der Politik bewusst dafür entschieden, die wirtschaftlichen Interessen einzelner Industriezweige über die Interessen und die Gesundheit der Bürger zu stellen. Dem ist Einhalt zu gebieten. Aber wie?
Die Tatsache, dass das „alte“ Merkblatt zur BK 1317 gefälscht war und es deswegen im Jahr 2005 neu verfasst werden musste, erweckte bei Zehntausenden Menschen die Hoffnung auf Anerkennung ihrer berufsbedingt durch Lösungsmittel erworbenen Nervenschäden. Leider war es zu unserem Bedauern so, dass sich die Berufsgenossenschaften in Tausenden Verfahren nicht an die Änderung im neuen Merkblatt hielten, und Schadenersatzansprüche weiterhin mit dem Argument, „Progression (Fortschreiten) der Nervenschäden spricht gegen Lösemittel als Ursache“ ablehnten.
Die BG gab eigene Begutachtungsrichtlinien wie den Berufskrankheiten-Report (BK-Report 2/07) und Fachpublikationen in Auftrag. Auch dort stehen alle Verantwortlichen (Herausgeber und Autoren) in direkter oder indirekter (wirtschaftlicher) Verbindung zu den Berufsgenossenschaften.
taz am WochenendeDie Demokratie hat ein Nachwuchsproblem. Heißt es. Dabei gibt es sie: Junge Menschen, die in eine Partei eintreten. Die sonntaz hat sechs von ihnen begleitet – bis zu ihrem ersten Wahlkampf. Die Titelgeschichte „Wer macht denn sowas?“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 24./25. August 2013. Darin außerdem: Ein Gespräch mit der Ethnologin Yasmine Musharbash über Monster, und ein Porträt über Wolfgang Neskovic, der einst aus der Linksfraktion ausbrach. Außerdem der sonntaz-Streit zur Frage: Braucht Deutschland Coffeeshops? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Falsch zitierte Studien
Wir, die Initiative kritischer Umweltgeschädigter e. V. haben, nachdem wir von einen BK-1317 Verfahren am Landessozialgericht Stuttgart Kenntnis erlangt haben (das die BG als Präzedenzfall für das alte Merkblatt aufbauen wollte), Strafanzeige wegen Ausstellung falscher Gesundheitszeugnisse gemäß Paragraf 278 StGB gegen die Gutachter erstattet. Da die Gutachter in den Gerichtsunterlagen nur mit Abkürzungen genannt waren, mussten wir Anzeige gegen unbekannt erstatten.
Die Negativgutachter in diesem Verfahren haben sich in ihren Ablehnungsbegründungen sowohl auf das alte Merkblatt, als auch auf den BK-Report 2/07 berufen. Der Richter am Stuttgarter Landessozialgericht bezog sich in seiner Urteilsbegründung mehrfach auf das ablehnende Gutachten von Prof. T., welcher eben genau die schon im alten Merkblatt falsch zitierten Literaturquellen (Chang, Passero, Valentino) als Beleg dafür anführte, dass lösungsmittelbedingte Nervenschäden nach spätestens zwei Jahren folgenlos ausgeheilt wären.
Wir haben uns dann erlaubt, der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart eben diese von Prof. T. falsch zitierten Studien im Original, das heißt im Volltext per Einschreiben zu übersenden. Der Sicherheit halber haben wir die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag darum gebeten, diese vier Studien vom wissenschaftlichen Sprachendienst des Deutschen Bundestags übersetzen zu lassen. Trotzdem wurde uns noch am gleichen Tag des Eingangs unserer Beweismittel per Post mitgeteilt, dass kein Straftatbestand vorläge.
Die von uns wegen Ausstellung falscher Gesundheitszeugnisse angezeigten Professoren hätten sich keiner Straftat im Sinne des Paragrafs 278 StGB schuldig gemacht, weil sie die Studien richtig zitiert hätten!
Die MisereFür viele Versorgungsfragen sind in Deutschland die Sozialgerichte zuständig. So muss auch vor ein Sozialgericht, wer Erwerbsminderung oder seine Rente nach einer Berufskrankheit erstreiten muss. Bei der Entscheidung, ob ein Giftstoff am Arbeitsplatz eine Krankheit ausgelöst hat oder haben könnte, verlassen sich Sozialrichter meist auf einen Gutachter. Häufig sind das jedoch Gutachter, die mit den Berufsgenossenschaften in Verbindung stehen – just denjenigen Organisationen, die die Schäden von berufsbedingten Krankheiten bezahlen müssten. Die Beklagten sind also wesentlich an der Erstellung von Gutachten beteiligt. Die Berufsgenossenschaften werden zu 100 Prozent von ihren Mitgliederfirmen getragen.
Strafe für die Fälschung von Gutachten
In Anbetracht all dieser belegbaren Tatsachen hinterlässt das wegweisende Urteil des Bundessozialgerichts von Ende Juli einen bitteren Nachgeschmack. Da wird fortwährend von „neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen“ geschrieben. Tatsächlich ist es aber doch so, dass diese Kenntnisse seit dem Jahr 1998 bekannt sind und vorher in mehr als zehnjähriger Arbeit vom Sachverständigenbeirat zusammengetragen wurden.
Wir als IKU fordern von der Politik und der Justiz, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland vor weiteren Straftaten zu schützen, indem folgende Maßnahmen ergriffen beziehungsweise geltendes Recht umgesetzt werden muss:
1. Wer Gutachten fälscht oder Literaturquellen falsch zitiert muss wegen Verstoß gegen § 278 StGB verfolgt werden. Dem ausstellenden Gutachter ist eine einmalige Gelegenheit zur Korrektur zu gewähren. Staatsanwälte, die sich weigern, einer solchen Strafanzeige inhaltlich tatsächlich zu überprüfen, setzen sich den Verdacht/Tatvorwurf der Strafvereitelung im Amt aus.
2. Gerichte und Institutionen (Berufsgenossenschaften, Ministerien) ist es gesetzlich zu untersagen, nachgewiesenermaßen gefälschte Gutachten und Expertisen als Entscheidungsgrundlage zu nutzen. Richter, die entsprechende Fälschungshinweise ungeprüft ignorieren, sind automatisch als befangen zu erklären. Institutionen, die gefälschte Gutachten oder Expertisen trotz entsprechender Hinweise entscheidungsbegründend verwenden, sind zwingend amtsrechtlich zu belangen.
3. Richter, die anstatt ihrem Amtseid entsprechend Bundesrecht umsetzen, von einer Partei verfasste Diagnoseleitlinien (z. B. BK-Report 2/07) oder Fachpublikationen entscheidungsbegründend anwenden, sind automatisch wegen Befangenheit aus dem Verfahren zu entfernen. Die Ablehnung eines Richters läuft im Sozialgerichtsverfahren über die Anwendung des § 42 der Zivilprozessordnung (ZPO).
4. Professoren, die nachweislich gegen das öffentliche Interesse verstoßen, indem sie systematisch falsch negative Gutachten erstellen oder falsch negative Expertisen veröffentlichen, sind ihrem Amt in der Universität zu entheben, und verlieren wegen ihres die Gesellschaft schädigenden Handelns all ihre Pensionsansprüche. Außerdem müssen sie ihr zu Unrecht erworbenes Vermögen der Staatskasse übergeben – Gutachten sind gut bezahlt.
5. Richter, die in von einer beklagten Partei wie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) oder einer Berufsgenossenschaft herausgegebenen Publikation gegen Honorar Artikel veröffentlichen oder sich sonst in irgendeiner Weise mit einer Prozesspartei wirtschaftlich verbinden, sind als befangen zu erklären.
6. Alle beteiligten Gutachter und Richter müssen, auf Anfrage, eine „Conflict of Interest“-Erklärung abgeben, das heißt, sie müssen nachweisen, dass sie keine finanzielle, persönliche oder publizistische Beziehung zu einer Prozesspartei aufweisen.
Was nützt es, wenn wir von der IKU fortwährend Fälschungen und Betrug nachweisen, wenn diese Erkenntnisse gar nicht oder mit acht Jahren Verspätung umgesetzt werden. Wir nehmen das Urteil des Bundessozialgerichts und die daraus folgenden Auslegungen der Berufsgenossenschaften als einen späten Erfolg unserer Arbeit. Es wäre schön, wenn wir einmal nicht mehr vonnöten wären. | Peter Röder | Viel zu selten werden Berufskrankheiten anerkannt. Die „Initiative kritischer Umweltgeschädigter“ stellt sechs Forderungen auf. | [
"Sozialgericht",
"Arbeit",
"Justiz",
"Arbeit",
"Öko",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,502 |
Die erstbesten Erklärungen zum Wulff-RücktrittN. Kelek - taz.de | Der Wulff-Rücktritt: Folgen für Merkel
Die erstbesten Erklärungen zum Wulff-RücktrittN. Kelek
Ich komme von einer Reise durch islamische Länder, wo die Herrschenden weder Herz noch Verstand für ihre Völker zu haben scheinen, wo Korruption und Vetternwirtschaft Alltag sind und niemand dies zu sagen wagt. Heute trat der Bundespräsident zurück, weil er annahm, das Vertrauen seines Volkes verloren zu haben. Davor habe ich Respekt – wie vor einer Gesellschaft, in der jeder dieselben Rechte und Pflichten hat, ohne Ansehen von Amt und Person. Eine Lehrstunde für uns alle.
Necla Kelek, Soziologin und Autorin.
C. Kuckelkorn
„Der Christian Wulff gewidmete Motivwagen muss umgestaltet werden. Er wird zum großen Teil abgerissen und neugebaut. Es wird keinen Etappenhasen Wulff geben. Es ist natürlich sportlicher Ehrgeiz, jetzt noch mal so kurz vor dem Rosenmontagszug umzuplanen. Andererseits hätten wir uns auch gewünscht, wenn uns das erspart geblieben wäre und wir uns mit größerer Ruhe auf den Zug hätten vorbereiten können.“
Christoph Kuckelkorn ist Leiter des Kölner Rosenmontagszugs und Vizepräsident des Festkomitees Kölner Karneval
H. H. von Arnim
„Wenn die Bundesregierung das Gesetz ernst nimmt, kann das nur zur Folge haben, dass ein Rücktritt aus persönlichen Gründen vorliegt und er deswegen keinen Ehrensold bekommt. Eine andere Entscheidung könnte meines Erachtens nur dann erfolgen, wenn dem Gesetz Gewalt angetan wird.“
Hans-Herbert von Arnim ist Staatsrechtler und war vor seiner Pensionierung Professor in Marburg und Speyer
C. Peymann
Hamlet: Der Rest ist Schweigen.
Claus Peymann, Regisseur und Intendant des Berliner Ensembles
W. Thissen
„Was bedeutet es für unsere staatsbürgerliche Reife in Deutschland, wenn zuerst ein Bundespräsident viel zu früh zurücktritt und dann sein Nachfolger viel zu spät?“
Werner Thissen, Hamburger Erzbischof
A. Rüttenauer
„Deutschlands politische Klasse steckt im Abstiegskampf. Die vielen Trainerwechsel innerhalb kürzester Zeit sind Zeichen von Ratlosigkeit. Wann erweist sich wohl der Nächste als untauglich? Politik muss zu einer Graswurzelbewegung werden. Die Führung eines Landes sollte für die Politik leben wollen – nicht von der Politik. Unersättliche Bonzen gibt es im Sport schon genug.“
Andreas Rüttenauer ist Kandidat für das Amt des DFB-Präsidenten | N. Kelek / C. Kuckelkorn / H. H. von Arnim / C. Peymann / W. Thissen / A. Rüttenauer | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,555 |
|
■ Kommentar: Zerrbild und Realität - taz.de | ■ Kommentar: Zerrbild und Realität
Mit Realität hat es nur wenig gemein, wenn Innensenator Jörg Schönbohm davon spricht, daß er nicht in einer multikulturellen Gesellschaft leben möchte. Er bedient dennoch die platten Vorurteile jener Menschen, die um so kräftiger den Ausländern eine Integrationsbereitschaft abfordern, je weniger sie selbst dazu bereit sind. Schönbohm wächst damit immer mehr in die Rolle hinein, die sein Amtsvorgänger Heinrich Lummer einst bei der Einbindung des rechten Randes für die CDU spielte. Das Land, welches der Innensenator zeichnet, gibt es längst nicht mehr – und der Exgeneral ist klug genug, das selbst zu wissen.
Wenn jede vierte Ehe zwischen einem deutschen und einem ausländischen Partner geschlossen wird, dann sagt das mehr über die Normalität des multikulturellen Zusammenlebens aus als die Horrorbeschreibungen à la Schönbohm. Wer in Berlin Ausländer-„Ghettos“ sieht, in denen er sich nicht mehr in „Deutschland“ fühlt, der macht auf üble Weise Wahlkampf, aber keine Politik zum Wohle der Stadt. Die wachsende Zahl der binationalen Eheschließungen darf man nicht überbewerten, aber sie sind ein Detail im Gesamtbild eines friedvollen Zusammenlebens. Wer die in den innenstädtischen Bezirken wirklich vorhandenen Probleme lösen möchte, muß vor allem diese Normalität fördern. Innensenator Schönbohm aber tut dies nicht, sondern verschärft mit den grobschlächtigen Bildern nur die Konfrontation. Gerd Nowakowski | Gerd Nowakowski | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,568 |
|
Ist „Germany’s Next Topmodel“ frauenfeindlich? - taz.de | Ist „Germany’s Next Topmodel“ frauenfeindlich?
WETTBEWERB Am Donnerstag kürt Heidi Klum auf ProSieben eine strahlende Siegerin – und schafft reihenweise weinende Verliererinnen: alle, die nicht der DIN-Norm entsprechen
Ja
Roger Willemsen, Jahrgang 1955, ist Publizist
Eine unschöne Frau mit laubgesägtem Gouvernanten-Profil bringt kleine Mädchen zum Weinen, indem sie ihre orthodoxe, hochgerüstete Belanglosigkeit zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt, über „Persönlichkeit“ redet, sich aber kaum mehr erinnern kann, was das ist, und sollte diese je zum Vorschein kommen, sie mit Rauswurf bestraft. Der Exzess der Nichtigkeit aber erreicht seinen Höhepunkt, wo Heidi Nazionale mit Knallchargen-Pathos und einer Pause, in der man die Leere ihres Kopfes wabern hört, ihre gestrenge „Entscheidung“ mitteilt, und wertes von unwertem Leben scheidet. Da möchte man dann elegant und stilsicher, wie der Dichter sagt, sechs Sorten Scheiße aus ihr rausprügeln – wenn es bloß nicht so frauenfeindlich wäre.
Sibylle Plogstedt, Jahrgang 1945, ist Feministin
Petra hat noch keine Erfahrung als Model. Schön sein, erfolgreich, cool. Millionen schauen zu, wenn sie sich den Traum erfüllt, den Heidi Klum ihr nahe legt: einmal in Rosen zu baden. Nackt natürlich. Wow, was für eine Erfüllung, wenn Heidi Klum ihr die Rosenblätter an die Brust heftet. Ein lesbisches Eroticum. Doch mit der Ausscheidung wird Heidi Klum zur Domina. I never promised you a rose garden! Strenge. Kälte. Wer fällt raus? Die Blonde mit dem verheulten Blick. Natürlich. Schwäche unterliegt, Angst auch. Weinen. Und dann Umarmen. Ja, wenigstens noch in die Arme genommen werden von Heidi Klum. Die sagt: Du brauchst halt noch zwei Jahre. Wozu? Noch zwei Jahre, bis sie zum Allerweltsmodel abgerichtet ist. Angepasst an den männlichen Blick. So will ich Frauen nicht.
Wanda Winkler, Jahrgang 1993, ist Schülerin und Zuschauerin
Wir fühlen uns gut, wenn wir makellose Mädchen verurteilen dürfen. Schließlich darf Heidi Klum das auch. So macht dann die Jury die Mädchen runter, dass sie zu klein, zu dick oder zu emotionslos seien – eine Jury, die hauptsächlich aus Männern besteht und genau diese Eigenschaften repräsentiert. Ja, diese Sendung ist frauenfeindlich. Aber schlimmer ist, dass die Kandidatinnen nur unter Kamerabeobachtung telefonieren dürfen – und jeder darf sie beurteilen. Erniedrigend.
Nein
Oswalt Kolle, Jahrgang 1928, ist Sexpapst
Warum soll das frauenfeindlich sein? Die Mädels gehen da ja freiwillig hin. Nach diesen Maßstäben wäre „DSDS“ auch männerfeindlich, da hat ja jetzt ein Mann gewonnen. Ich habe immer dafür gekämpft, dass der Mensch seine freie Entscheidung fällt. Und wenn sich die Geschlechter exhibitionieren wollen, dann kann man das doch nicht abstellen. Heidi Klum ist eine nette, fortschrittliche Frau, die etwas aus ihrem Leben macht. Sie hat nichts Böses getan. Also, was soll die Aufregung?
Dolly Buster, Jahrgang 1969, ist Pornokönigin
„Germany’s Next Topmodel“ ist genauso wenig frauenfeindlich, wie eine Mister-Universum-Wahl nicht männerfeindlich ist. Da die Kriterien für den Erfolg eines Topmodels fast ausschließlich vom Äußeren abhängig sind, ist es nicht nur angemessen, sondern auch erforderlich, dass sich Kritik und Bewertungen der Jury auf diesem Gebiet bewegen. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Leistungsanforderungen dieser Show vollkommen übertrieben und lächerlich wirken. Übrigens ist auch bei dieser Staffel nicht zu erwarten, dass die Gewinnerin ein echtes, weltweit gebuchtes Topmodel wird, sondern genauso wie die Gewinnerinnen der vergangenen Staffeln nur ein mäßig gebuchtes Fotomodell, das in der Anfangszeit ab und an über einen roten Teppich laufen darf.
„Sunny“ ist alt genug und beantwortete die sonntaz-Streitfrage anonym auf taz.de
Es ist doch nicht so wichtig, was Heidi Klum zu den Kandidatinnen sagt oder nicht sagt, es ist viel wichtiger, dass die jungen Zuschauerinnen mitbekommen, an welchen Kriterien die Kandidatinnen gemessen werden. Heidi Klum macht ja auch meist klar, dass man an sich arbeiten kann. Auftreten, Erscheinung, Selbstdarstellung, das sind alles Faktoren, die nicht selbstverständlich in die Wiege gelegt werden, sondern angenommen, trainiert – teils sogar ganz einfach aufgemalt werden können. Und der Pur- und Natur-Fan-Gemeinde kann man in diesem Fall nur sagen: Es wird natürlich immer auch Leute geben, die sich auf keinen Fall formen wollen. Und die werden dann natürlich nie eine Bikinifigur haben. Wem es denn gefällt. | Roger Willemsen / Sibylle Plogstedt / Wanda Winkler / Oswalt Kolle / Dolly Buster / "Sunny" | WETTBEWERB Am Donnerstag kürt Heidi Klum auf ProSieben eine strahlende Siegerin – und schafft reihenweise weinende Verliererinnen: alle, die nicht der DIN-Norm entsprechen | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,612 |
Krieg und Trinken: Aufrüstung an der Theke - taz.de | Krieg und Trinken: Aufrüstung an der Theke
Die Nachkriegszeit ist auch in Sachen Alkohol passé, nichts steht mehr im richtigen Regal. Und ist Fusel eigentlich eine Friedensdroge?
Übel beleumundeter Fusel: Korn Foto: Friso Gentsch/dpa
„Warum ist Korn eigentlich nicht so populär wie andere Schnäpse weltweit?“ Fragt ein gelackter Typ den anderen vor der Bar beim Gin Tasting.
„Weltweit? Korn mögen doch nicht mal wir Germans, voll der Asi-Fusel!“
„Ja, Alex, aber why? Rum, Whiskey, Wodka, Tequila etc. pp., andere Länder haben magische Gesöffe, mit Tradition, geilen Klischees, nur wir Almans mit Korn losen ab!“
„Liegt am deutschen Selbsthass, Leo!“
„Du meinst, den kann man am Korn festmachen?“
„Klar Alter, im Grunde ist Korn ’ne Art Wodka, gibt’s von Fusel bis Königsklasse, aber das Zeug saufen nur die ganz Fertigen in den letzten Spelunken aus der Nachkriegsära!“
„Aber wir rüsten auf, Kollege, würd’ sagen, die Nachkriegszeit ist passé! Und auch wenn ich weit ab davon bin, ein Rechter zu sein, das ist schon schön, sich da mal loszulösen ohne als nationalhohler Dummbatz zu gelten, wenn man die eigene Fahne nicht abgrundtief hasst. Lass drauf anstoßen!“
„Yeah! Aber Trinken hat hier echt ’ne andere Tradition, ging immer mehr um Rausch als Genuss. Bei Familienfeiern meiner Großeltern war der Heringssalat nix als Grundlage für reichlich Klaren, da ging es bloß drum sich abzuschießen!“
„Aber in Russland wird auch unverhohlen gesoffen, sogar Politiker machen das, denk an Jelzin in seiner Unterhose vorm Weißen Haus, wie er sich hackendicht ’ne Pizza organisieren wollte!“
„Da war noch Frieden im Karton!“
„Alkohol ist die Friedensdroge schlechthin und deshalb ist Gerhard Schröder auch der Top-Friedensbotschafter vor dem Herrn!“
„Trinkt der viel?“
„Na, verbrieft, check mal bei Instagram das Profil seiner Trulla, der ist dauerbesoffen, sonst würd’ der den Quatsch gar nicht mitmachen.“
„Hab’ kein Instagram mehr, danach fühlte ich mich immer alt und fett!“
„Schröder hat schon im Wahlkampf immer gesoffen, der Bürgernähe wegen war das nicht!“
„Nee, da kann man auch einfach ’ne Wurst mit den Leutchen essen!“
„Schröder kippt den ganzen Tag Rotwein, und dann rettet er deutschmäßig die Welt auf drei Flaschen Spätburgunder!“
„Der trinkt garantiert noch’n paar Schnäpschen dazu!“
„Aber die dürfen nicht aufs Foto.“
„Vielleicht trinkt der sogar Korn, ich würd’s ihm zutrauen.“
„Ey, Leo, das ist die Idee, wir gründen ’ne Korn-Manufaktur und schreiben ‚Schröders Klarheit‘ aufs Etikett oder so!“
Aus Scheiße Korn gemacht
„Hahahahaha, geile Idee, wir machen Korn sexy, und verdienen uns damit ’ne Stange Geld!“
„Ist genau der richtige Zeitpunkt gerade, es sind Zeiten, in denen alles möglich is’, weil so krasse Sachen passieren, überall ist Paradigmenwechsel, rechts, links, liberal, konservativ, nichts steht mehr im richtigen Regal, und alles nur, weil Wodka-Vlad es auf die Spitze treibt.“ „Wir machen aus Scheiße Gold, äh Korn, geil, geil, geil!“
„Entschuldigung, die Herren, es ist Krieg, und ihr feiert das kapitalistisch aufgegeilt ab?“, sagt eine Frau, die mit ihrem Hund vorbeigeht.
„Ey, die Dame, ist doch immer irgendwo Krieg, ist doch verlogen wegen dem jetzt besonders schockiert zu sein, und warum nicht das Positive sehen?“
„Und was genau soll das sein?“ | Jasmin Ramadan | Die Nachkriegszeit ist auch in Sachen Alkohol passé, nichts steht mehr im richtigen Regal. Und ist Fusel eigentlich eine Friedensdroge? | [
"Kolumne Einfach gesagt",
"Nord",
"Serie",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,622 |
Beleidigung durch Hakenkreuz - taz.de | Beleidigung durch Hakenkreuz
■ Rom & Cinti Union kritisiert Werbeplakat beim "Zweitausendeins-Verlag" | frank wieding | ■ Rom & Cinti Union kritisiert Werbeplakat beim "Zweitausendeins-Verlag" | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,626 |
Krenz weckt Reformhoffnung in der DDR - taz.de | Krenz weckt Reformhoffnung in der DDR
DDR-Sozialdemokrat Böhme lehnt Privatdialog mit Krenz ab / Dresdner SED-Chef Modrow fordert rasche Demokratisierung / Krenz läßt Polizeiübergriffe untersuchen / Die Mediendebatte in der DDR wird radikaler / „Großzügiges“ Reisegesetz versprochen ■ Von M.Geis & K.Hartung
Berlin (taz) - Einen Tag nach seiner enttäuschenden Antrittsrede überrascht eine Flut von Nachrichten, die zeigen, daß der neue DDR-Chef Krenz sein Wort von der „Wende“ durchaus ernst meinen könnte. Reiseerleichterungen, kritische Medien, Sofortprogramme für die Wirtschaft und Untersuchung staatlicher Gewaltakte werden versprochen. Vor allem aber - um das 'Neue Deutschland‘ zu zitieren - „Dialog im ganzen Land“.
Aber nur dialogisieren reicht nicht mehr. Fast sensationell: Nach Informationen der taz hat noch am Abend seiner Wahl Egon Krenz den Geschäftsführer der neugegründeten SDP, Ibraim Böhme, ein Gesprächsangebot übermittelt. Der Übermittler soll ein Offizier der Staatsicherheit gewesen sein. Böhme lehnte dieses Angebot aber ab. Er habe, so die Sprecherin der SDP, Angelika Barbe, auf die drei Grundsätze verwiesen, die von den oppositionellen Gruppen für einen Dialog formuliert wurden: Freilassung aller Gefangenen, Untersuchung der Polizeiübergriffe und Anerkennung der Opposition. Böhme habe das Gesprächsangebot vor allem deswegen abgelehnt, weil er nur als Bürger und nicht als Vertreter der Opposition eingeladen worden sei. Offenbar glaube die Partei, die Anerkennung oppositioneller Gruppen umgehen zu können. Böhme habe aber die Gesprächsbereitschaft unterstrichen. Ähnlich äußerte sich auch der ehemalige Anwalt und Sprecher des Neuen Forums, Henrich. Man solle Krenz eine Chance geben.
Das Gesprächsangebot wurde am Donnerstag abend in der Erlöserkirche in Ost-Berlin bekannt. Es wurde mit großer Gelassenheit quittiert - ein Zeichen für das neue Selbstbewußtsein der Opposition.
Der Sprecher des Neuen Forums Potsdam, Stefan Flade, schränkte zwar gestern gegenüber der taz die Meldungen von einem Gesprächsangebot durch die Kreisleitung ein. Allerdings haben Forumsvertreter bei Gesprächen mit dem Bürgermeister, den gesellschaftlichen Massenorganisationen und den Parteien teilgenommen. Diese Gespräche im Rahmen der „Nationalen Front“ sollen fortgesetzt werden. Themen: Behandlung der Demonstranten, Zulassung der oppositionellen Iniativen und die Frage des Wahlgesetzes. In Rostock will der Stadtrat laut 'adn‘ gar über „Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung“ reden. Nach ihrem Gespräch mit Krenz vom Donnerstag äußerten sich Kirchenvertreter vorsichtig optimistisch. Landesbischof Werner Leich meinte, Krenz könne den Unmut der Bevölkerung besänftigen. Sogar eine Wahlrechtsreform sei im Fortsetzung Seite 2
Kommentar Seite 8
Siehe auch Seite 6
FORTSETZUNGEN VON SEITE 1
Gespräch gewesen. Man habe Krenz auch Augenzeugenberichte von Polizeiübergriffen vorgelegt. Der Generalsekretär habe die Überprüfung zugesagt.
Bereits am Donnerstag wurde Innenminister Dickel vom Ministerrat aufgetragen, ein neues Reisegesetz auszuarbeiten. Laut 'adn‘ soll die Reiseregelung „uneingeschränkt gleiche Möglichkeiten für jedermann“, ein Visum zu beantragen, beinhalten. Professor Reinhold von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK antwortete auf die Frage, ob mit dem neuen Reisegesetz die Mauer entfalle: „Natürlich ändern sich die Bedingungen für ein solches Grenzregime. Wir müssen eine Ordnung an der Grenze haben.“ Zwei Probleme wurden im Zusammenhang der Reisen hervorgehoben: die Frage der Konvertibilität der DDR-Mark und der Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft. Hier übernahm interessanterweise Krenz die Formulierung der SPD, indem er nicht verlangte, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, sondern sie zu „respektieren“.
Zum ersten Mal hat sich der Dresde
ner SED-Bezirkschef Hans Modrow, lange Zeit als Moskaus Favorit im Gespräch, hervorgewagt. In einer Tagung der Dresdener SED forderte er einen breiten Dialog mit „allen Kräften“. Die politische Situation erfordere „unabdingbar einen tiefen Wandel, an dem alle Klassen und Schichten, insbesondere die Jugend und die Christen, beteiligt sein müssen“. Der Dialog müßte „Entscheidungen selbst bringen“. Bürgermitbestimmung also.
Unübersehbar bahnen sich Änderungen der Massenmedien an. Nicht nur, daß die Zeitungen offener kommentieren, präziser berichten und das Fernsehen zu Lifesdiskussionen westlichen Stiles übergeht; das 'Neue Deutschland‘ berichtete zum ersten Mal über Meinungsstreit auf der ZK-Sitzung, die zur Absetzung Erich Honeckers führte. Ein „reinigendes Gewitter“ sei es gewesen. Modrow habe ein Ergänzung der Krenz-Rede in den Punkten „Kritik und Selbstkritik“ durchgesetzt.
Der Stellvertretende Kulturminister Höpcke meinte, es sei an der Zeit, „Journalisten mit Lebenskenntnis nicht nur Berichte abzufordern, sondern sie auch zu kritisch -konstruktiven Kommentaren einzuladen“. Höpcke riet den Verantwortlichen des Fernsehens, sich bei Fragen der „Aktuellen Kamera“ einmal mit
dem „Medienfuchs“ Stefan Heym zusammenzusetzen. In diesem Zusammenhang zitierte er die vernichtende Kritik Heyms an der Hofberichterstattung.
Bundesdeutsche Politiker sind auf Erkundungsfahrt im Nachbarland. Der FDP-Vorsitzende Mischnik traf in Dresden Modrow, die Westberliner SPD-Politiker Ristock und Longolius konferierten in Ost-Berlin mit hochrangigen SED -Funktionären. Zur Frage der Reiseerleichterungen preschte der FDP-Politiker Lüder vor: DDR-BürgerInnen müßten bis zu 500 Ostmark im Verhältnis 1:1 tauschen dürfen. Mischnik und Regierungssprecher Klein standen diesem Vorschlag jedoch skeptisch gegenüber. | m.geis/k.hartung | DDR-Sozialdemokrat Böhme lehnt Privatdialog mit Krenz ab / Dresdner SED-Chef Modrow fordert rasche Demokratisierung / Krenz läßt Polizeiübergriffe untersuchen / Die Mediendebatte in der DDR wird radikaler / „Großzügiges“ Reisegesetz versprochen ■ Von M.Geis & K.Hartung | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,632 |
Das kommt - taz.de | Das kommt:
„Miss Hokusai“ Foto: AV Visionen
11. + 12. 6., Deutsches Theater Berlin
„Lupus in Fabula“
Das Sterben des Vaters wird für drei Schwestern zu einem Ereignis, das eigene Leben zu überdenken. Henriette Dushes Inszenierung wurde am Schauspielhaus Graz uraufgeführt. Zu den Autorentheatertagen kommt es ans Deutsche Theater nach Berlin, die insgesamt einen guten Überblick über neue Dramatik bieten.
Ab 14. 6. im Kino
Miss Hokusai
Der Maler Katsushika Hokusai ist einer der bekanntesten Künstler Japans. Das Schaffen seiner Tochter O-Ei, die ebenfalls Malerin war und einige Werke unter dem Namen ihres Vaters ausführte, kennt man dagegen kaum. Der Zeichentrickfilm „Miss Hokusai“ von Keiichi Hara lässt der übersehenen Künstlerin Gerechtigkeit widerfahren und erzählt an ihren wunderbar poetischen Bildern entlang ihr Leben.
15.–17. 6., Goethe-Uni, Frankfurt am Main
Frankfurter Adorno-Vorlesungen
Metá Metá Foto: José de Holanda
Der Ethnologe Didier Fassin lehrt und forscht in Paris und Princeton. Er regt einen kritischen Dialog zwischen Philosophie und Sozialforschung an. In seinen Arbeiten beschäftigt sich Fassin mit Aspekten von Ungleichheit, mit internationaler Polizeiarbeit, humanitären Militärinterventionen oder dem Umgang mit Aids in Afrika. (Campus Bockenheim, Hörsaal IV, jeweils 18.30 Uhr)
15. 6., HAU1 Berlin
Metá Metá
Ein kampferprobtes Trio aus São Paulo. In seiner reißenden Strudeligkeit sammelt sich das Furioseste aus der Kloake des Pop: Postpunk der Marke Ron Johnson Records, bahianische Percussion-Extravaganzen und psychedelischer Freakout. | taz. die tageszeitung | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,647 |
|
Die Suche nach dem Glück endet in der Beratungsstelle - taz.de | Die Suche nach dem Glück endet in der Beratungsstelle
Die Zahl der Wettsüchtigen ist steigend. Viele Wettbürokunden hoffen auf schnelles Geld in harten Zeiten. Suchthilfeorganisationen begrüßen die Vorgaben des Karlsruher Urteils
BERLIN taz ■ Der Markt für Sportwetten boomt und verzeichnet zweistellige Zuwachsraten – auch dank der lahmenden Konjunktur. „In wirtschaftlich schlechten Zeiten versuchen mehr Menschen ihr Glück“, erklärt Werner Platz, Direktor der Abteilung Psychiatrie an der Universitätsklinik der Berliner Humboldt-Universität. Die Hoffnung auf das schnelle Geld treibe immer mehr Menschen in die Wettbüros und anschließend in die Suchtberatungsstellen. „Wir hatten hier Leute, die wollten mit Wetten ihre Schulden loswerden“, sagt Platz, „doch das klappt natürlich nicht.“ Die Entwicklung einer Spielerkarriere verläuft eher in die andere Richtung. Um die Verluste wieder auszugleichen, werden immer mehr Wetten abgeschlossen. Statt der erhofften Millionen stehen am Ende Schulden und zerrüttete Existenzen.
Der Prozess gegen den Schiedsrichter Hoyzer und die jüngsten Wettskandale haben nach Ansicht von Platz das Interesse an Sportwetten noch weiter gesteigert. Im Hoyzer-Verfahren hatte Platz das psychiatrische Gutachten für den „Wettpaten“ Ante Sapina erstellt. Dessen pathologische Spielsucht hatte sich für den Kroaten strafmildernd ausgewirkt. „Die besondere Gefahr beim Sportwetten liegt darin, dass man denkt, mit seinen Kenntnissen den Ausgang mitbestimmen zu können“, sagt Platz. Daher sei das Suchtpotenzial viel größer als zum Beispiel beim Lotto.
Eindeutige Zahlen zu Betroffenen gibt es nicht. Im Drogenbericht der Bundesregierung werden 80.000 Spielsüchtige genannt, der Fachverband Glücksspielsucht schätzt ihre Zahl auf 400.000. Der Anteil von Sportwettern ist dabei gering, steigt aber an. „Früher gab es in unseren Beratungsstellen nur einzelne Pferdewetter, inzwischen tauchen auch Oddset-Spieler auf“, sagt Ilona Füchtenschnieder, Vorsitzende des Fachverbands Glücksspielsucht. Mit einer weiteren Zunahme ist zu rechnen, da sich Spielsucht über mehrere Jahre entwickelt und erst spät Hilfsangebote in Anspruch genommen werden.
„Wir freuen uns riesig über das Urteil“, sagt Füchtenschnieder. Sie hatte zwar auf ein entsprechendes Signal gehofft, aber nicht erwartet, dass es so deutlich ausfällt. „Es ist ein bedeutsamer Schritt, dass nicht mehr finanzielle Interessen, sondern der Schutz der Spieler im Vordergrund stehen soll.“ Die vom Verfassungsgericht genannten aktiven Präventionsmaßnahmen hat der Verband lange gefordert. Besonders wichtig ist dem Verband dabei die Einrichtung einer unabhängigen Aufsicht, wie sie beispielsweise in der Schweiz mit der Eidgenössischen Spielbankenkommission eingeführt wurde. „Es ist wichtig, dass den Finanz- und Innenministern Einfluss entzogen wird, denn die verfolgen vor allem fiskalische Interessen“, sagt Füchtenschnieder. Im Jahr 2004 flossen aus den Einnahmen der staatlichen Lotto- und Wettanbieter 2,4 Milliarden Euro in die Haushalte und gemeinnützige Organisationen.
Füchtenschnieder lobt die Präventionsarbeit in Nordrhein-Westfalen. Dort fließt ein Teil der Oddset-Einnahmen in Hilfsprojekte für Spielsüchtige. Neben der Ausweitung von Hilfsangeboten ist die geforderte Eindämmung der Werbung zentral. „Da hat das Verfassungsgericht den Finger in die Wunde gelegt“, sagt Füchtenschnieder. Werner Platz hält Preiserhöhungen für die wirksamste Maßnahme, doch durch die Konkurrenz der Internetanbieter sind sie nur begrenzt möglich. „Wichtig ist, dass statt der bisherigen Lippenbekenntnisse nun echte Maßnahmen ergriffen werden“, so Füchtenschnieder, „dann kann man die Suchtprobleme zumindest regulieren, lösen lassen sie sich sowieso nicht.“
OLIVER VOSS | OLIVER VOSS | Die Zahl der Wettsüchtigen ist steigend. Viele Wettbürokunden hoffen auf schnelles Geld in harten Zeiten. Suchthilfeorganisationen begrüßen die Vorgaben des Karlsruher Urteils | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,657 |
Plastikfrei kicken - taz.de | Plastikfrei kicken
Ein EU-Verbot zu Mikroplastik ist geplant. Die Europäische Chemikalienagentur Echa holt dazu auch Meinungen zu Fußballplätzen aus Kunstrasen ein
Von Jaris Lanzendörfer
Große Aufregung um Kunstrasen – so viel Aufmerksamkeit erhalten öffentliche Konsultationen der Europäischen Chemikalienagentur (Echa) selten. Noch bis zum 20. September können Stellungnahmen zur Einschränkung von Mikroplastik in der EU abgegeben werden. Davon betroffen ist auch Gummigranulat, das auf Kunstrasenplätze gestreut wird, um den Platz weicher zu machen. Das Verbot würde ab 2022 in Kraft treten und die Vermarktung des Granulats betreffen. Laut Deutschen Fußball Bund (DFB) nutzen 6.000 Vereine entsprechende Kunstrasenplätze. Alternativen für Gummigranulat sind unter anderem Kork oder Sand. Sollte das Granulat verboten werden, werden bestehende Anlagen nicht gesperrt, wie dies Sportminister Horst Seehofer (CSU) zunächst befürchtet hatte. Nur das geregelte Nachfüllen der Plätze sei nicht mehr möglich, sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Seehofer hatte vergangene Woche bei Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) um eine Übergangsfrist von sechs Jahren geworben: Vereine sollten in dieser Zeit die Möglichkeit haben, auf andere Kunstrasenplätze umzurüsten.
Die EU-Kommission hatte im vergangenen Jahr die Echa aufgefordert, eine Beschränkung für absichtlich zugesetztes Mikroplastik zu prüfen. Dabei geht es etwa um Kosmetika oder Farben. Ende März veröffentlichte die Behörde auf ihrer Homepage einen Entwurf für Mikroplastikverschränkung. Dieser wird danach in Fachausschüssen diskutiert und schließlich von der EU-Kommission verabschiedet.
Das deutsche Umweltministerium arbeitet zudem an einem „Blauen Engel“ für Kunstrasen. Dort würden Vorgaben für umweltfreundliche Sportplätze entwickelt: An dem Umweltzeichen können sich Kommunen zukünftig bei der Ausstattung ihrer Sportplätze orientieren, hieß es aus dem Ministerium.
In Studien etwa des Oberhausener Fraunhofer-Instituts Umsicht zu den Quellen von Mikroplastik erscheinen Sport- und Spielplätze auf den vorderen Plätzen, zusammen mit dem Abrieb von Reifen, der Freisetzung bei der Abfallentsorgung, Pelletverlusten und dem Abrieb von Bitumen in Asphalt.
meinung + diskussion | Jaris Lanzendörfer | Ein EU-Verbot zu Mikroplastik ist geplant. Die Europäische Chemikalienagentur Echa holt dazu auch Meinungen zu Fußballplätzen aus Kunstrasen ein | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,704 |
■ SPD KRITISIERT SEEHOFER: Gesundheitsreform auf Kosten der Kranken? - taz.de | ■ SPD KRITISIERT SEEHOFER: Gesundheitsreform auf Kosten der Kranken?
Berlin (taz) — Wenn die Volksgesundheit insgesamt billiger werden soll, darf es für die Kranken nicht teurer werden. Auf diese Formel läßt sich die Kritik der SPD an der von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) geplanten Reform des Gesundheitswesens bringen. Zunächst müsse Seehofer sieben bis acht Milliarden Mark bei Ärzten, Krankenhäusern und Pharmakonzernen real einsparen, legte NRW-Gesundheitsminister Hermann Heinemann (SPD) die Linie der SPD fest. Am Mittwoch ist Seehofer mit seinem Reformplan im Kabinett. Anschließend gilt es, die SPD einzubinden. Ohne sie gibt es keine Mehrheit im Bundesrat. SEITE 4 | taz. die tageszeitung | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,738 |
|
Kommentar Streit in der Linkspartei: Der Kampf geht weiter - taz.de | Kommentar Streit in der Linkspartei: Der Kampf geht weiter
Die Partei- und Fraktionschefs haben einen halbgaren „Kompromiss“ geschlossen. Der Machtkampf geht weiter. Ganz im Sinne der „Reformer“.
Virtuoser Strippenzieher: Linkspartei-Fraktionschef Dietmar Bartsch Foto: dpa
Was für ein peinliches Schauspiel führt die Linkspartei in diesen Tagen auf! Die Klausurtagung ihrer Bundestagsfraktion bildete den vorläufigen Höhepunkt einer Schlammschlacht, die seit der Bundestagswahl mit unglaublicher Brutalität ausgetragen wird. Von wüsten Beschimpfungen über Mobbingvorwürfe bis hin zu skurrilen Rücktrittsdrohungen: Statt als kämpferische linke Opposition präsentiert sich die Partei gegenwärtig als wilder Intrigantenstadl, in dem jedes Mittel zur Bekämpfung des innerparteilichen Gegners probat scheint.
Die gegenseitig geschlagenen Wunden sind tief. Es wäre naiv, zu glauben, dass nach dem halbgaren „Kompromiss“ zwischen den Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch auf der einen und den Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger auf der anderen Seite nun der Streit beigelegt wäre. Wer den grimmigen Auftritt Wagenknechts nach ihrer Wiederwahl gesehen hat, dem dürfte klar sein: Der Kampf geht weiter.
Was diese Kontroverse so selbstzerstörerisch macht: Auch wenn es auf den ersten Blick anders erscheinen mag, geht es realiter nicht um Inhalte. Auch nicht um die tatsächlich bestehenden Differenzen in der Flüchtlings- und Integrationspolitik oder beim Thema Europa. Ginge es nur darum, dann könnte der Streit rationaler und mit weniger Verletzungen ausgetragen werden – und die innerparteilichen Frontstellungen würden anders aussehen. Denn dann bekäme das Bündnis der „Wagenknechtianer“ mit den „Bartschisten“ schnell Brüche.
Doch obwohl der sogenannte Reformerflügel dem Parteizentrum um Riexinger und Kipping eigentlich inhaltlich wesentlich näher steht, hat er sich dafür entschieden, lieber im Windschatten der Traditionslinken um Wagenknecht zu segeln – bis hin zur politischen Selbstverleugnung. Anstatt in die inhaltliche Auseinandersetzung zu gehen, reibt sich die Parteirechte die Hände: Während sich das Wagenknechtlager und das undogmatisch linke Parteizentrum um Riexinger und Kipping zerfleischen, sichern Dietmar Bartsch & Co. ihre Pfründe.
Gerade die „Reformer“ hätten nach der Bundestagswahl viel aufzuarbeiten. Ihr „realpolitisches“ Politikkonzept steckt offenkundig in einer tiefen Krise, wie die dramatischen Verluste in ihren Osthochburgen zeigen. Wer sich den trostlosen Zustand der Linkspartei in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern anschaut, sieht dabei schnell, dass das größte Problem nicht gerade ihre progressive Position in der Flüchtlingsfrage sein dürfte.
Ausgerechnet in ihren Stammländern – also dort, wo sie sich lange als „Volkspartei“ fühlen durfte – wirkt die Partei vielfach ausgebrannt und ideenlos. Im negativen Sinne ist sie inzwischen längst Teil des etablierten Politikbetriebs. Aufrührerischen Geist, Lust auf gesellschaftliche Veränderung sucht man vergebens. Da erscheint es fast zwangsläufig, wenn sich dort der Protest gegen als ungerecht empfundene Verhältnisse nicht mehr in einer Stimmabgabe für die Linkspartei artikuliert.
Diskussionen darüber wären sinnvoller als unproduktive Machtkämpfe. Im Interesse von Bartsch und seinem Anhang wäre das allerdings nicht, sind sie doch maßgeblicher Teil des Problems.
Es ist erstaunlich: Ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Einheit werden immer noch fast alle Ost-Landesverbände – mit Ausnahme Thüringens – von früheren SED-Mitgliedern geführt. Auch Dietmar Bartsch steht für jene Garde einstiger realsozialistischer Nachwuchskader, die nach der Wende als vermeintliche „Reformer“ in der PDS ihre politische Karriere fortsetzten.
Tatsächlich jedoch waren und sind sie vor allem virtuose Strippenzieher und Machtapparatschiks. Das mag zwar für Ministerämter im Osten oder gar eine Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl im Huckepackverfahren reichen. Für eine attraktive Linke reicht das jedoch nicht. | Pascal Beucker | Die Partei- und Fraktionschefs haben einen halbgaren „Kompromiss“ geschlossen. Der Machtkampf geht weiter. Ganz im Sinne der „Reformer“. | [
"Linkspartei",
"Dietmar Bartsch",
"Sahra Wagenknecht",
"Katja Kipping",
"Bernd Riexinger",
"Bundestagswahl 2021",
"Deutschland",
"Politik",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,809 |
local shortcuts - taz.de | local shortcuts
■ Zbynek Brynych
Wer sich eine Folge einer alten ZDF-Krimiserie anschaut – zum Beispiel „Der Kommissar“ – sollte darauf gefasst sein, dass er sich aufgrund der unerwartet kühnen und modernen Inszenierung verwundert die Augen reibt. Im Abspann einer solchen Episode steht dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: „Regie: Zbynek Brynych“.
Schon von den späten Siebzigerjahren an, als „Der Kommissar“ samstagnachts als Wiederholung gezeigt wurde, hat sich der Verfasser dieser Zeilen immer mal wieder gefragt, wer denn wohl dieser Regisseur mit dem so gar nicht deutschen Namen sei. Die Antwort darauf gab 1994 schließlich die Zeitschrift Filmwärts, wo Stefan Ertl und Rainer Knepperges – der am 15. 12. (19 Uhr) im Metropolis in Brynychs Werk einführen wird – ein Porträt und ein ausführliches Interview mit dem Regisseur publizierten.
Zbynek Brynych (1927–1995) war ein tschechischer Regisseur und als solcher ein Vertreter der „Neuen Welle“, die – wie jüngst beim Cinefest wieder zu besichtigen – in den Sechzigerjahren von Prag aus frischen Wind in das osteuropäische Kino brachte. Nach Meinung von Antonin J. Liehm war der aus Karlovy Vary stammende Brynych mit seinem Debütfilm „Zizkovská Romance“ („Vorstadtromanze“) 1958 sogar „der Erste, der dem protzigen Pomp und der blutleeren Pose des stalinistischen Superfilms ins Gesicht spuckte“.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 kam Brynych in die Bundesrepublik und drehte hier in den ersten zwei Jahren seines Aufenthalts neben vier Folgen für den „Kommissar“ noch weitere Fernseh- und Kinofilme, von deren erfrischender Subversivität man sich nun endlich einmal im Kino überzeugen kann.
Da lassen in „Engel, die ihre Flügel verbrennen“ Nadja Tiller und Susanne Uhlen in einem Münchner Hotel zum apokalyptischen Disco-Beat von Peter Thomas wahlweise ihren niedersten Instinkten freien Lauf oder träumen als verliebte Todesengel von Unschuld und Erlösung. Da lässt Brynych, wieder mit Nadja Tiller, in „Oh Happy Day“ wie Knepperges schreibt, „Dramatisches frei von der Decke hängen wie ein Mobile aus Fleisch und Blumen“. Da legt er mit „Die Nacht von Lissabon“ eine 1938 spielende Remarque-Verfilmung hin, die sich ganz in dessen Geiste der trivialen Muster einer ungeheuer spannenden Liebes- und Abenteuergeschichte bedient, um mit seltener Genauigkeit zu zeigen, wie Intoleranz, Angst und Dummheit sich von Deutschland aus durch Europa fraßen. Da schickt er in „Die Weibchen“ Françoise Fabian in ein äußerst merkwürdiges, von Uschi Glas geleitetes Sanatorium – eingefangen von Charly Steinbergers entfesselter Fischaugenkamera. Und da gibt es Brynychs vier atemberaubende „Kommissar“-Folgen an einem Stück zu sehen: Filme, in denen er, wie Dominik Graf schreibt, „Herbert Reineckers Skripts wie ein rasender Musiker-Virtuose umspielte und ihr tiefdeutsches Herz damit umso nackter für alle sichtbar offenlegte“. Eckhard Haschen
„Bizarre Cinema Expanded: Filme von Zbynek Brynych“ läuft in dieser Woche im Metropolis in Hamburg. | Eckhard Haschen | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,812 |
|
Ausbeutung indischer Landarbeiter: Italiens bittere Kiwis - taz.de | Kiwi-Ernte auf einem Feld in der Nähe von Latina, Italien: etwa 30.000 Sikh-Inder arbeiten dort Foto: Stefania Prandi
Ausbeutung indischer Landarbeiter:Italiens bittere Kiwis
In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen System.
Ein Artikel von
Charlotte AagaardKusum AroraFrancesca CicculliStefania Prandi
29.6.2023, 16:57
Uhr
Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.
Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben
In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.
Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“
Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.
Informationen für die Polizei
Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.
Die indischen Landarbeiter sind verletzlich. Wenn sie in Italien ankommen, haben viele hohe Schulden bei zwielichtigen Vermittlern – und sie fürchten sich davor, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlieren
Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.
Balbir Singh Foto: Stefania Prandi
„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.
Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.
Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.
In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.
Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.
Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch
Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.
Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.
Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.
Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.
Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.
In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.
Der Sikh-Tempel in Velletri Foto: Stefania Prandi
Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.
Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.
Wer rebelliert, riskiert die sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Arbeiter wurden von Autos angefahren
Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.
Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.
Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.
Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.
Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.
Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.
Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.
Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.
wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.
Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.
Strenge Regeln für die Ernte
Das Gespräch wurde noch schwieriger, als ein vierter Arbeiter in die Wohnung kam: Er war ein „caporale“, einer der Vorarbeiter, die die Arbeiter beim Pflücken der Früchte beaufsichtigen. Er hatte von unserem Besuch von anderen Arbeitern erfahren, seine Anwesenheit unterbrach das Gespräch. „Ich habe aufgehört zu reden, weil er mir Angst gemacht hat“, erzählte Balbir Singh am nächsten Tag bei unserem zweiten Treffen auf einem Parkplatz im Zentrum der Stadt Latina.
Die „Kiwirevolution“ in der pontinischen Ebene begann in den 1970er Jahren: Begünstigt durch günstige klimatische Bedingungen wurde das Gebiet zu einem Produktionsstandort für große multinationale Unternehmen, allen voran Zespri, ein führendes neuseeländisches Unternehmen.
Unterkünfte in Latina, wo viele der Feldarbeiter leben Foto: Stefania Prandi
Ein großer Teil der Kiwiproduktion von Zespri findet in der Region Latina statt. Zespri ist vor allem für die gelbfleischige Sorte SunGold bekannt. Von den Feldern der kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe in Latina werden die Kiwis in die großen Lagerhäuser der Genossenschaft gebracht, wo sie verpackt und mit dem Zespri-Logo versehen werden, bevor sie in ganz Europa vermarktet werden.
Die Regeln für die Ernte der Zespri-Kiwis sind streng, wie einige Erzeuger berichten: Baumwollhandschuhe und präzise Handgriffe sind erforderlich; es ist wichtig, die Früchte nicht zu verderben, wenn sie in die Kisten verpackt werden. Die Sorgfalt, mit der die Kiwis behandelt werden, steht im Gegensatz zu den Arbeitsbedingungen, von denen die Landarbeiter berichten.
Auch Gurjinder Singh arbeitet auf den Kiwifeldern, seit 15 Jahren. Als Teil ihrer Religion tragen Sikh-Männer den gemeinsamen Nachnamen Singh, Löwe. Die Frauen heißen Kaur, Prinzessin. Gurjinder Singhs Vornamen haben wir geändert, weil er nicht identifizierbar in die Öffentlichkeit treten möchte.
Wir sprechen mit ihm in einem Café auf dem zentralen Platz von Cisterna di Latina, einer 37.000-Einwohner-Stadt. Er hat gerade seine Arbeitsschicht beendet. Es ist September, das warme Nachmittagslicht leuchtet auf dem hellen Fußboden.
Gurjinder Singh reibt sich die Hände, als wolle er die dunklen Flecken an ihnen loswerden. „Ich benutze auch Spülmittel und schrubbe mit einer Bürste, aber die Flecken bleiben“, sagt er und zeigt seine Handflächen voller Schwielen. Er ist 50 Jahre alt und hat für mehrere Unternehmen in der Gegend gearbeitet. Zwischen fünf und sechs Euro pro Stunde verdiente er. Bei den kleineren Firmen habe er nie einen Vertrag gehabt, erzählt er. Sein Lohn wurde am Ende des Tages bar ausgezahlt.
Zuletzt war er drei Jahre lang bei einem Unternehmen mit über 70 Arbeitern beschäftigt, die in mehreren Gruppen von Vorarbeitern beaufsichtigt wurden. Das Unternehmen verkaufte seine Kiwis auch an Zespri. Seine Vorarbeiterin war eine Frau, die ihn beschimpfte und anschrie, sobald er kurz stehen blieb, erzählt er: „Sie hat mich beleidigt und gedroht, mich zu schlagen.“ Auf den Feldern filmte sie ihn mehrmals mit ihrem Handy, als er anhielt, um etwas zu trinken oder gerade etwas in seine Augen geraten war.
Die Videos sollten ein Beweis für seine mangelnde Leistung sein und wurden dem Chef übergeben: Es war ein Mittel, das auch bei anderen Arbeitern verwendet wurde, um Widerspruch zu ersticken, wenn weniger Lohn ausgezahlt wurde als vereinbart.
„Ich hatte keine Wahl“
Auf die Frage, warum er das Unternehmen nicht verlassen hat, antwortet Gurjinder Singh mit einem Kopfschütteln. Er verbirgt sein Gesicht in den Händen und sagt: „Ich hatte keine Wahl, ich muss für meine vier Kinder und meine Frau arbeiten. Sie sind in Indien geblieben, ich habe sie seit 13 Jahren nicht mehr gesehen.“
Er habe auch Angst gehabt, dass seinen Angehörigen etwas passieren könnte, wenn er sich auflehne. „Um hierher zu kommen, habe ich 14.000 Euro an einen Schmuggler gezahlt. Ich kam über Russland, lief kilometerweit durch Schnee und wurde dann auf Lastwagen verladen.“ Er spricht fast ausschließlich auf Punjabi. „Wir lernen nie gut Italienisch, wir sind alle Ausländer auf den Feldern.“
Wenn ein Inder Italienisch spreche, riskiere er, von den italienischen Vorarbeitern weggeschickt zu werden, weil es als Gefahr angesehen werde, wenn er eine direkte Beziehung zum Chef aufbauen könnte. Die Aussage von Gurjinder Singh deckt sich mit denen von zehn anderen indischen Arbeitern, mit denen wir gesprochen haben. Und deren Betriebe alle Kiwis für Zespri produzieren.
Konfrontiert mit den Arbeitsbedingungen, von denen wir im Lauf unserer Recherche bei Unternehmen erfahren, mit denen Zespri zusammenarbeitet, antwortet Zespri: „Während die große Mehrheit der Arbeitgeber in der Kiwiindustrie für ihre Mitarbeiter sorgt, kann es sein, dass eine kleine Minderheit dies nicht tut. Jegliche Ausbeutung von Arbeitnehmern ist inakzeptabel, und wir verpflichten uns, die betreffenden Personen zur Rechenschaft zu ziehen und unseren Rahmen für die Einhaltung der Vorschriften weiter zu verbessern. Wir nehmen die erhobenen Vorwürfe sehr ernst und haben eine Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wie wir die betroffenen Arbeitnehmer unterstützen können.“
Zespri fügt hinzu, dass sie mit mehr als 1.200 Erzeugern in Italien zusammenarbeiten, die das Global-Gap-Grasp-Zertifikat (Global Risk Assessment On Social Practice) besitzen müssen – ein unabhängiges, internationales Zertifizierungssystem, das Kriterien für die Sicherheit, die Gesundheit und das Wohlergehen der Arbeiter festlegt. An dem Zertifizierungssystem gibt es aber immer wieder Kritik. Die taz berichtete im Februar 2021 über Lücken des Global-Gap-Zertifikats bei Obstanbau in Frankreich und Spanien.
Die Lieferanten von Zespri sind auch bei Sedex registriert, einer anderen unabhängigen Zertifizierungsstelle, die die Arbeitsbedingungen der italienischen Lieferanten von SunGold-Kiwis überwacht. Zespri sagt, man habe sich sowohl an die Zertifizierungsstellen als auch an die Lieferanten gewandt, um sie auf die unlauteren Praktiken aufmerksam zu machen.
Als wir Balbir Singh das letzte Mal am Telefon sprechen, ist er gerade in Indien, um nach neun Jahren Abwesenheit an der Hochzeit seines Sohnes teilzunehmen. „Jetzt bin ich eine freie Seele“, sagt er. „Ich warte auf den Abschluss des Gerichtsverfahrens und meine Entschädigung. Dann will ich mit meiner Frau nach Italien reisen, wo ich ein Haus bauen will. Ich kann es kaum erwarten, dass gute Tage kommen.“ Er glaubt, dass man niemals aufgeben sollte: „Das Leben ist ein Kampf, und man muss kämpfen, aber ich würde nie wollen, dass einer meiner schlimmsten Feinde mit den Problemen konfrontiert wird, die ich hatte.“
Diese Recherche wurde möglich durch die Unterstützung des Journalismfund Europe sowie Danwatch, IRPI Media und The Wire. | Charlotte Aagaard | In ganz Europa sind italienische Kiwis beliebt. Auf den Feldern arbeiten viele Inder unter unwürdigen Bedingungen, gefangen im ausbeuterischen System. | [
"Longread",
"Italien",
"Ausbeutung",
"Arbeitsbedingungen",
"Landwirtschaft",
"wochentaz",
"Lesestück Recherche und Reportage",
"Reportage und Recherche",
"Gesellschaft",
"Lesestück",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,822 |
Ein humpelnder Hase, Haken schlagend - taz.de | Ein humpelnder Hase, Haken schlagend
■ Der NDR-Tatort „Der Duft des Geldes“ (So, 20.15 Uhr, ARD) bietet weniger Krug/Brauer-Kasperltheater – viel mehr aber nicht
Der reiche Herr Raguse liegt auf dem Billardtisch und macht nicht piep. Die ukrainische Putzfrau hat ihn so gefunden. War sie gar die Täterin? Kommissar Brockmöller philosophiert: „So ein kleines Loch, und der ganze Mensch ist tot.“ Dazu glotzt Kommissar Stöver recht bedripst.
Dieser Hambuger „Tatort“ (Regie: Helmut Förnbacher) lässt in gewisser Hinsicht die Hosen runter. Was geschieht, wenn Buch und Regie sich, was ja tatsächlich ihre ureigenste Aufgabe ist, auf den Kriminalfall konzentrieren und das entzückende Kasperle-Potential von Manfred Krug/Charles Brauer zugunsten der Geschichte in das dritte Glied abkommandieren? Buch und Regie müssen in ihrer ganzen ungeschützten Nacktheit vor dem Zuschauer bestehen. O Lust. O weh. „Der Duft des Geldes“ wird am Abend kleben wie ein nicht ganz so auserlesenes Parfüm. Zäh und unentschlossen strebt er, den Zuschauer zu verwirren. Wohin will er eigentlich, dieser „Tatort“? Er schlägt Haken wie ein humpelnder Hase (Buch: Lienhard Wawrzyn). Der nach neunzig Minuten erste komische Versuch fällt durch. Stöver: „Was ist mit Raguses Frau?“ Die Putzfrau: „Sie ist sehr schwanger.“ Sehr schwanger geht nicht, so wenig wie „ein bisschen schwanger“ oder „ein bisschen spannend“. Immerhin ist der Einfall lustig – Frau Raguse wird zugleich Witwe und Mutter. Das spart uns allen enorm Zeit.
Mitunter zeigt sich das Filmteam vom grossen Geist der Ironie erleuchtet. „Es tut uns leid, dass wir schon wieder unentwegt herumfragen müssen“, grantelt Stöver seine Zeugen an. Einer seiner Ermittler sieht unleugbar aus wie Dieter Zurwehme! Meckerkönig Stöver und sein musikalischer Kompagnon Brockmüller greifen erst in der zweiten Halbzeit zu den Noten. Nachts singen sie den Hamburger Mond an. Von Rentenfonds ist bald die Rede. Es scheint, als ob sie ihre eigene Fernsehrolle satt haben. Vielleicht, so kommt es einem in den Sinn, treten sie ja irgendwann ab. Anke Westphal | Anke Westphal | ■ Der NDR-Tatort „Der Duft des Geldes“ (So, 20.15 Uhr, ARD) bietet weniger Krug/Brauer-Kasperltheater – viel mehr aber nicht | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,840 |
Grundsicherung in Italien gestrichen: Kein Geld mehr für „Beschäftigbare“ - taz.de | Grundsicherung in Italien gestrichen: Kein Geld mehr für „Beschäftigbare“
Italiens Regierung streicht Arbeitslosen die Unterstützung. Betroffene werden per SMS informiert – und die Kommunen sind nicht vorbereitet.
Wer wenig hat, bekommt jetzt nichts mehr vom Staat: von Armut betroffenes Wohnviertel in Neapel Foto: Marco Brivio/Zoonar/picture alliance
ROM taz | „Grundsicherung suspendiert, wie von Artikel 13 des Gesetzesdekrets 48/23 vorgesehen. Eventuelle Übernahme durch die Sozialdienste“. Bürokratisch in der Form, brutal in der Sache war die SMS, die Ende letzter Woche 169.000 Menschen in Italien auf ihr Handy geschickt bekamen: Seit dem 1. August erhalten sie keinen einzigen Cent mehr aus der staatlichen Grundsicherung.
Vor drei Monaten hatte die in Rom regierende Rechtskoalition unter Giorgia Meloni das entsprechende Gesetz beschlossen, mit dem die Grundsicherung in ihrer alten Form abgeschafft wird. Und schon im Wahlkampf vor einem Jahr hatten Meloni und ihre Verbündeten immer wieder gegen die Unterstützung für einkommens- und arbeitslose Menschen gewettert, die doch bloß eine Einladung zum Rumlümmeln „auf dem Sofa“ sei.
Erst 2019 war das „Reddito di cittadinanza“, das „Bürgereinkommen“, von der damaligen Regierung aus Fünf Sternen und der rechtspopulistischen Lega geschaffen worden. Wirklicher Befürworter der Unterstützungsleistung war jedoch bloß das Movimento5Stelle, während die Lega nur aus Koalitionsdisziplin mitspielte.
Italien war damit eines der letzten EU-Länder, die eine für alle Bürger*innen geltende Sozialhilfe einführten. Bis zu 500 Euro monatlich gab es, dazu noch 200 Euro für den*die Ehepartner*in und je 100 Euro pro Kind sowie maximal 280 Euro für die Miete.
Nur Familien mit Kindern oder Senioren erhalten Stütze
Doch jetzt trifft die von der Rechten inklusive Lega verabschiedete Streichung alle Haushalte, deren Angehörige zwischen 18 und 59 Jahre alt sind. Nur Familien mit minderjährigen Kindern oder älteren Personen über 60 erhalten noch Stütze. Wer über 18 ist, so die Rechtsparteien, sei doch „beschäftigbar“ und solle sich gefälligst einen Job suchen. Ob die „Beschäftigbaren“ auch vermittelbar sind, ob es überhaupt Jobs für sie gibt, ist eine Frage, die die Regierung nicht interessiert.
Nur noch sieben Monate im laufenden Jahr sollte die Grundsicherung für sie fließen, dann ist definitiv Schluss. Deshalb greift die Streichung jetzt für alle jene, die seit dem 1. Januar schon Geld aus der Sozialkasse bekamen. Rund 80.000 Menschen dagegen werden am 1. September eine SMS bekommen, diejenigen nämlich, die vom 1. Februar an Unterstützung bezogen.
Stattdessen, so die verschickte SMS, seien jetzt womöglich „die Sozialdienste“ der Kommunen für sie zuständig. Allerdings wurden die Sozialämter weder darüber informiert noch erhielten die Städte und Gemeinden auch nur einen einzigen zusätzlichen Cent für die Armenhilfe – entsprechend aufgebracht sind jetzt die Bürgermeister*innen quer durch Italien, auf deren Sozialämtern sich in den letzten Tagen Schlangen verzweifelter Menschen bildeten.
Einen Ausweg jedoch haben die „Beschäftigbaren“, denen der Unterhalt gestrichen wurde: Wenn sie an Fort- und Weiterbildungskursen teilnehmen, können sie für maximal ein Jahr 350 Euro monatlich erhalten, dann aber ist endgültig Schluss. Bis zum 1. August jedoch hat es das Arbeitsministerium nicht einmal geschafft, die versprochene Internetplattform einzurichten, auf der mögliche Kursangebote platziert werden sollen. Am Ende bleibt die Verantwortung, eine Bildungsmaßnahme zu finden – und so weiter die mehr als bescheidene Unterstützung zu bekommen –, sowieso an den Arbeitslosen hängen: Wer nicht selbst fündig wird, bekommt schlicht nichts.
„Kampf gegen die Armen“ statt Kampf gegen Armut
Als Kampf für die Menschenwürde präsentieren Meloni und ihre Kabinettskolleg*innen dieses sozialdarwinistische Vorgehen – es sei eben einfach „würdelos“, sich vom Staat alimentieren zu lassen, statt arbeiten zu gehen. Elly Schlein, Vorsitzende der oppositionellen Partito Democratico, dagegen befindet, Meloni habe den „Kampf gegen die Armen“ aufgenommen, statt die Armut zu bekämpfen. | Michael Braun | Italiens Regierung streicht Arbeitslosen die Unterstützung. Betroffene werden per SMS informiert – und die Kommunen sind nicht vorbereitet. | [
"Italien",
"Giorgia Meloni",
"Sozialhilfe",
"Arbeitslosengeld",
"Europa",
"Politik",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,862 |
„Putin, stopp den Krieg!“ - taz.de | Ukraine
„Putin, stopp den Krieg!“
PROTEST Vor der russischen Botschaft in Berlin demonstrieren 250 Menschen gegen Russlands Präsident. Viele fürchten um ihre ukrainischen Verwandten
„Wir haben alle Angst. Putin soll uns in Ruhe lassen!“DEMONSTRANTIN SOFIA BEGALIYEVA
BERLIN taz | 94 Tote, 294 Vermisste: Das ist die Bilanz der Rebellion in der Ukraine, die „Euromaidan Berlin“ am Sonntag bei einer Kundgebung vor der russischen Botschaft in Berlin zieht. „Putin, wir brauchen deinen Schutz nicht“ – „Putin, hands off Ukraine“ – „Putin, stopp den Krieg“ lauten die Parolen auf einigen der Transparente, die die rund 250 Teilnehmer der Demonstration am Sonntag mitgebracht haben.
„Putin möchte ganz klar die Lage in der Ukraine destabilisieren, um sie dann in die Richtung zu lenken, wie es im bequem ist“, sagt Oleksandra Bienert, eine der Koordinatoren von Euromaidan Berlin. Die ukrainische Gruppe appelliert an Russlands Präsident, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen, und fordert die deutsche Regierung auf, klare Position zu beziehen.
Die Angst vor einem Krieg hat wohl die meisten Demonstranten hergeführt: „Wir haben die russischen Truppen nicht eingeladen“, sagt Sofia Begaliyeva, „ich hoffe sehr, dass es nicht zu Blutvergießen kommt.“ Die 25-jährige Studentin der Betriebswirtschaft stammt aus der Krimstadt Sebastopol. Neben ihr trägt eine 55-jährige Ukrainerin ein Schild mit der Aufschrift: „Bruder, töte nicht den Bruder“. Sie arbeite seit 10 Jahren als Reinigungskraft in Berlin, berichtet sie, auch ihre Schwester lebe seit langer Zeit in Deutschland. Ihre größte Sorge: „Nur kein Krieg“, sagt sie. „Wir haben alle Angst. Putin soll uns in Ruhe lassen!“ Von ihren Söhnen zu Hause im westukrainischen Ternopil und über Facebook bekommen sie stündlich Nachrichten – und die sind dramatisch: „Erst gestern haben sie einen 19-jährigen Freund der Familie beerdigt, der auf der Straße erschossen worden ist“, sagt sie. Die Schwestern fürchten um die Zukunft ihrer Jungen: „Was nutzen ihnen ihre Diplome, es gibt keine Jobs mehr, kein Geld, alles geht kaputt, und jetzt die Gewalt, viele Menschen sind verschwunden.“ Miroslava Frank, 42, sagt: „Die Gefahr droht doch nicht nur der Ukraine, Putin will mehr, er wird auch Polen und Deutschland bedrohen.“
Astrid Dziadek und Walter Schmidt sind dem Aufruf zur Demonstration gefolgt, weil sie „für Freiheit und Demokratie“ einstehen wollen. Sie fordern von US-Präsident Obama „eine klare Ansage an Putin: ‚Bis hierher und nicht weiter!‘ “. Der Westen müsse mit Sanktionen zeigen, dass man es ernst meint, sagt Walter Schmidt. Möglich wäre etwa der Ausschluss Russlands von internationalen Konferenzen wie dem G-8-Gipfel oder „eine klare Gegendrohung, notfalls auch militärisch“. LI | LI | PROTEST Vor der russischen Botschaft in Berlin demonstrieren 250 Menschen gegen Russlands Präsident. Viele fürchten um ihre ukrainischen Verwandten | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,878 |
Deutscher tötet mit Auto Café-Besucher: Eine Stadt sucht eine Antwort - taz.de | Deutscher tötet mit Auto Café-Besucher: Eine Stadt sucht eine Antwort
In Münster tötet ein Mann vorsätzlich. Es findet sich kein Motiv. Warum tat Jens R. das? Über eine Stadt, der die Ruhe abhanden kam.
Tatort Münster: Medienvertreter warten am Ort des Mordes auf Statements der Politik Foto: dpa
MÜNSTER taz | Was für ein herrlicher Frühlingstag in Münster: 20 Grad, die Sonne scheint, die Winterjacke kann auf dem Haken bleiben. Die ganze Stadt hat wunderbare rosa Tupfen, die Kirschblüten gehen auf. Durch Münsters City drängeln sich Samstags ohnehin viel zu viele Menschen.
An diesem Samstag aber ist sie noch voller als sonst: Es ist das letzte Wochenende der Osterferien, die Studenten kommen zurück, das Sommersemester beginnt. Wer Zeit hat, grillt am Aasee, auch die Cafés und Eisdielen der Stadt machen glänzende Geschäfte, kaum ein Platz bleibt frei. So wie das Traditionslokal „Großer Kiepenkerl“ mitten in der Innenstadt.
Am Nachmittag formiert sich eine Demonstration für den Frieden im syrischen Afrin. Fast jeder dritte Demonstrant schwenkt eine Fahne, der Bürgermeister von Afrin ist auch da. Dazu gesellen sich die ersten Fans von Preußen Münster, die sich über den Heimsieg ihrer Drittliga-Mannschaft gegen Wehen Wiesbaden freuen.
Dann geht es aber nicht weiter, die etwa 300 Demonstranten stecken plötzlich in der Windhorststraße fest, die vom Hauptbahnhof in die Innenstadt führt. Gegen halb vier wird klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. Unentwegt fahren Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizeifahrzeuge durch die Stadt, ein Hubschrauber kreist über dem sonst so beschaulichen Münster. Ein Demonstrationsordner verkündet über sein Megafon, man könne nicht wie geplant in die Innenstadt weiterziehen, weil diese weiträumig von Polizei und Feuerwehr abgesperrt sei.
Langsam sickert durch: Vor dem Großen Kiepenkerl soll ein Mann mit seinem Auto mitten in die Menge der Caféhausgäste gefahren sein. Zwei Menschen seien gestorben, es gebe viele Verletzte. Die örtliche Tageszeitung, die Westfälischen Nachrichten, richtet einen Newsticker ein, bei Facebook können Münsteraner ihren Freunden signalisieren, dass sie sich in Sicherheit befinden. Der Kassierer im menschenleeren Lidl hat auch etwas gehört, seine Kollegin weint.
Ein VW-Bulli rast in die Menschenmenge
Am Sonntag liegen Blumen vor dem Denkmal des Kiepenkerls, nur wenige Meter vom Prinzipalmarkt in Münsters historischer Altstadt entfernt. Bei fast windstillem Wetter brennen Kerzen am Sockel der Figur, die an die fahrenden Händler erinnert, die früher die Bauern des Münsterlands mit Salz, Tuch und nicht zuletzt Nachrichten versorgten und ihnen im Gegenzug Lebensmittel abkauften.
Oberstaatsanwältin Elke Adomeit.„Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“
Der Tathergang steht nun fest: Am Samstag um 15.27 Uhr ist hier ein 48 Jahre alter, in Münster gemeldeter Deutscher mit seinem grau-silbernen VW-Campingbulli in den Biergarten der beiden Gaststätten Großer Kieperkerl und Kleiner Kiepenkerl gefahren. Die Terrasse am Spiekerhof Ecke Bergstraße war gut gefüllt. Bei der Todesfahrt wurden rund 20 Menschen zum Teil schwer verletzt. Eine 51 Jahre alte Frau aus dem niedersächsischen Kreis Lüneburg und ein 65-jähriger Mann aus dem münsterländischen Kreis Borken starben.
Unmittelbar nach der Tat erschoss sich der Fahrer selbst. Da zufällig ein Streifenwagen nur wenige Meter entfernt in einer Nebenstraße im Einsatz war, erschienen Polizeibeamte direkt danach vor Ort – und verhinderten wohl eine Panik.
Die Sicherheitskräfte wissen am Sonntag schon mehr über den Täter. Sie haben das Tatfahrzeug akribisch untersucht. Im Inneren finden sie außer der Waffe, mit der sich Jens R. selbst umgebracht hat, eine Schreckschusspistole und etwa ein Dutzend Polenböller. Sie haben nicht nur seine zwei Wohnungen in Münster durchsucht, sondern auch zwei weitere in Ostdeutschland. Sie finden in Münster eine unbrauchbar gemachte Maschinenpistole vom Typ AK 47. Keinerlei Hinweise gibt es hingegen auf einen islamistisches Motiv des Täters, über das unmittelbar nach der Tat so intensiv diskutiert worden ist.
Die Stadt ist aus den Fugen geraten
Die ansonsten so in sich ruhende Stadt Münster ist aus den Fugen geraten. Man merkt das, sobald man mit den Menschen ins Gespräch kommt. Die sitzen in sommerlichen Dress auf den Bänken rund um den Kiepenkerl, ruhig und nachdenklich, versuchen das Geschehene zu rekonstruieren und zu verstehen. „Von da oben ist er gekommen.“ Ja, von da oben vom Prinzipalmarkt ist er gekommen der Münsteraner, der mit seinem Campingbus. Der Brauereibesitzer Bernd Klute sagt: „Man kann das gar nicht verstehen, wie jemand zu so etwas fähig sein kann. Er muss schlimme Gedanken und psychische Probleme gehabt haben.“
Klute unterhält sich mit Siva Sivatharsanan, der gebürtig aus Sri Lanka kommt. Nur etwa 100 Meter weiter betreibt er die Köpi-Stuben. Er hat den lauten Knall gehört und das Schreien der Menschen. Er ist sofort zum Ort des Geschehens gerannt. „Lange habe ich es dort nicht ausgehalten, ich kann kein Blut sehen.“ So gut es geht, räumt er die Trümmer aus dem Weg, um Platz für die heraneilenden Rettungsfahrzeuge zu schaffen. „Es war so lange so ruhig hier bei uns, vielleicht sind wir jetzt dran“, sagt er trocken. Auf dem Handy zeigt er drastische Aufnahmen vom Kiepenkerl unmittelbar nach der Todesfahrt.
Vor Ort ist auch den evangelische Pfarrer Martin Mustroph, um als Notfallseelsorger ein unterstützendes Gespräch mit Mitarbeitern aus der Kiepenkerl-Gastronomie zu führen. Ja in Münster hilft man, unterstützt man sich. Eigentlich.
Seehofer: „Ein feiges und brutales Verbrechen“
Keine 21 Stunden nach der Tat, auf die Minute genau um Viertel nach zwölf am Mittag, legen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Nordrhein-Westfalens christdemokratischer Ministerpräsident Armin Laschet und sein Parteifreund und Innenminister Herbert Reul Blumen vor den Fachwerk- und Klinkerhäusern am Kiepenkerl nieder. Der Platz ist mittlerweile kleinräumig abgesperrt, in den Nebenstraßen parken Dutzende Polizeifahrzeuge. Vor Ort sind nur wenige BürgerInnen präsent, dafür aber rund dreißig Kamerateams. JournalistInnen berichten auf Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch.
„Aus Respekt vor den Opfern“ wollen sich die drei Politiker am Tatort nicht äußern, erklärt eine Sprecherin der Polizei. Was folgt, ist der Kampf um die besten Bilder: Seehofer, Laschet und Reul sollen vor der nahen Überwasserkirche reden, bleiben aber im Pressepulk stecken.
Also wird auf einer Brücke über dem Flüsschen Aa improvisiert: Im Kameragedränge versichern alle drei ihre Anteilnahme. Ministerpräsident Laschet spricht von „einem traurigen Tag für die Menschen in Münster, in NRW, in ganz Deutschland“. Seehofer nennt die Todesfahrt ein „feiges und brutales Verbrechen“, verspricht den Angehörigen der Toten und Verletzten „die Solidarität der ganzen Bundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin“.
Wie danach auch sein Landeskollege Reul betont der Bundesinnenminister, der Angriff mitten im Herzen Münsters sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ von einem deutschen Einzeltäter ausgegangen, der „keine Verbindung zum islamistischen Terrorismus“ gehabt habe. Allerdings werde weiter „in alle Richtungen“ ermittelt.
Wer war der Täter Jens R.?
Denn noch bleibt das Motiv des Todesfahrers unklar. Bei dem Mann soll es sich um den 1969 in Olsberg im Sauerland geborenen Jens R. handeln. Der beruflich offenbar wenig erfolgreiche Schmuck- und Industriedesigner soll psychische Probleme gehabt und auch schon einen Selbstmordversuch unternommen haben. Sowohl Münsters Polizeipräsident Hajo Kuhlisch als auch die Leitende Oberstaatsanwältin, Elke Adomeit, betonen aber, nach derzeitigem Stand gebe es „keine Hinweise auf einen politischen Hintergrund“ – auch kein rechtsextremer, über den in linken Blogs bereits ebenso spekuliert wird wie in Sicherheitskreisen.
Kuhlisch erklärt, Jens R. habe nicht nur vier Wohnungen gehabt, zudem seien dem 48-Jährigen mehrere Fahrzeuge und ein Container zugeordnet worden. Wozu Jens R. vier Wohnungen gebraucht haben könnte, erklärte Münsters oberster Polizist nicht. Beim vermuteten „Täterprofil“ sei dies aber nicht völlig untypisch, sagte Kuhlisch – und spielte damit offenbar auf die psychische Erkrankung des Todesfahrers an.
„Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“, sagt auch Staatsanwältin Adomeit. Zwar habe es 2015 und 2016 in Münster drei und im sauerländischen Arnsberg ein Ermittlungsverfahren gegen Jens R. gegeben. Dabei sei es um eine Bedrohung, aber auch um Unfallflucht, Sachbeschädigung und Betrug gegangen. Alle Verfahren seien eingestellt worden.
Entsprechend deutlich verurteilt insbesondere Ministerpräsident Laschet „diejenigen, die bei Twitter das Hetzen begonnen haben“ – ohne Namen zu nennen. Und er lobt die Besonnenheit und Solidarität der Münsteraner nach der Tat. Er würde sich wünschen, dass „diese besondere Münsteraner Erfahrung einer Friedensstadt“ auch diejenigen erreicht hätte, die „ganz schnell bei Twitter und anderswo wieder das Hetzen begonnen haben“. Für die Opfer sei die Religion der Täter egal, sie hätten einen Menschen verloren.
Die beiden Innenminister Seehofer und Reul danken ausdrücklich den Medien: Deren Berichterstattung sei „sehr verantwortlich“ gewesen, sagt Seehofer. Obwohl sicherlich viele an die Anschläge auf den Weihnachtsmarkt Berliner Breitscheidplatz und auf der Promenade des Anglais im französischen Nizza 2016 dachten, hätten die JournalistInnen „berichtet, was Fakt ist – und darauf kommt es an“, sagt Reul. Trotz Polizei in unmittelbarer Tatortnähe könne es „nie absolute Sicherheit auf Straßen, Plätzen, in Flugzeugen geben“, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister. „Wir können es nur bestmöglich versuchen.“ Später bringt Seehofer mehr Straßenpoller ins Gespräch.
Münster ist getroffen – an einem empfindlichen Punkt
Keine Frage: Münster ist an einem sehr empfindlichen Punkt, dem Sicherheitsgefühl seiner gut 300.000 Einwohner getroffen worden. Münster, diese ansonsten ruhige, wohlhabende, gebildete und friedliche, kunstsinnigen Stadt, die Stadt der Skulptur Projekte, die Stadt, in der die AfD bei der letzten Bundestagswahl bundesweit am schlechtesten abgeschnitten hat, steht urplötzlich im Fokus der Gewalt. In Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens, wo im Rathausinnenhof die Skulptur von Eduardo Chillida mit dem Titel „Toleranz durch Dialog“ steht, wird weltweit durch einen Mordanschlag bekannt.
Auf der anderen Seite des Rathauses hängt die Fahne jetzt auf Halbmast, im Rathaus wurde ein Kondolenzbuch ausgelegt, am Abend wird ein Gedenkgottesdienst für die Opfer stattfinden. In wenigen Wochen soll in Münster der 101. Katholikentag eröffnet werden, mit hoher Promidichte und Zehntausenden Besuchern. Gewiss wird in den nächsten Tagen die Frage aufkommen: Können wir eigentlich die Sicherheit unserer Besucher noch garantieren? Reichen da ein paar Poller auf dem Domplatz und an anderen sensiblen Stellen der Stadt aus? Wie viel Polizeischutz verträgt so eine Veranstaltung?
Einer der die Stimmung in der Stadt in einem der zahllosen Facebook-Postings zum Thema auf den Punkt bringt, ist der Münsteraner Liedermacher Detlev Jöcker, der schon ein Lied für den Kirchentag komponiert hat: „Was für ein großes Leid wurde hier unschuldigen Menschen zugefügt, das einige jäh aus ihrem Leben herausgerissen und andere an Leib und Seele verletzt hat. Unsere geliebte Stadt hat ihre Unschuld verloren. Diese unfassbare Tat wird Narben hinterlassen. Martialische Schreckensbilder mit Tötungsfantasien aus Internet-Ballerspielen wurden Wirklichkeit. Das alles macht so unendlich traurig!“
Auch der fast in Münster schon eingemeindete Darsteller des Tatort-Gerichtsmediziners Börne, Jan-Josef Liefers, versucht „seinem“ Münster Mut zu machen. „Ohne alle Details und Motive zu kennen, reichen die Bilder und entsetzlichen Nachrichten aus Münster, um mir das Herz zu brechen. Münster ist einer der friedlichsten und freundlichsten Orte, die ich kenne, und so wird es bleiben, trotz dieses feigen und kranken Anschlags.“ Sein Kollege Axel Prahl schreibt: „Ich bin schockiert und traurig“. Ich wünsche den Familien und Angehörigen der Opfer jetzt ganz viel Kraft und den Verletzten eine hoffentlich schnelle und vollständige Genesung. Wir denken an Euch. Münster, bleib wie Du warst und wie wir Dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz. Lass Dich jetzt nicht unterkriegen.“
In Münster hätte am Sonntag eigentlich die Sonne scheinen sollen. Ja, warm ist es, aber weiß-grau-blaue Wolken hängen am Morgen danach über der Stadt. Wenn über die Promenade durch die Stadt fährt, fällt auf, wie viel leerer als sonst es an diesem Tag ist. | Frank biermann | In Münster tötet ein Mann vorsätzlich. Es findet sich kein Motiv. Warum tat Jens R. das? Über eine Stadt, der die Ruhe abhanden kam. | [
"Münster",
"Mord",
"Amoklauf",
"Alltag",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,920 |
Die Wahrheit: Käse darf nicht rennen - taz.de | Die Wahrheit: Käse darf nicht rennen
Hunderte erwachsener Menschen rennen hinter einem acht Pfund schweren Käse her, ohne ihn jemals zu fangen, denn er ist schneller.
Wenn Menschen auf ihr traditionelles Recht bestehen, hinter einem Käselaib herzurennen, kann es sich nur um England handeln. In Gloucestershire frönen die Menschen seit mehr als 200 Jahren diesem Hobby. Dabei wird ein acht Pfund schwerer Käse eine 200 Meter lange, steile Wiese am Cooper’s Hill bei Brockworth hinabgerollt, und Hunderte erwachsener Menschen rennen hinter ihm her, ohne ihn jemals zu fangen, denn er ist schneller.
Weil es dabei oft zu Verletzungen kam, hat die Polizei das Rennen im Jahr 2010 verboten. Seitdem findet es klandestin statt. Im vergangenen Jahr kamen rund 4.000 Zuschauer, Craig Fairley gewann zum dritten Mal den ersten Preis: den Käse. Er hasse Käse, offenbarte er nach dem Rennen, vor allem diesen „Double Gloucester“, weil er so stinke.
Die Polizei wurmte es, dass sich die Leute nicht an das Verbot hielten, zumal sie niemanden zur Rechenschaft ziehen konnte, da es keinen offiziellen Veranstalter gab. So hielt sie sich in diesem Jahr an die Produzentin des Corpus Delicti. Drei Beamte tauchten bei Diane Smart auf und drohten ihr, sie für etwaige Verletzungen haftbar zu machen, falls sie den Käse für das Rennen stifte. Das hat sie seit einem Vierteljahrhundert getan, die Maccabees haben die 86-Jährige in ihrem Video „Can You Give It“ auf YouTube verewigt. Doch die Einschüchterung wirkte. Diane Smart rückte den Rennkäse nicht heraus, weil sie kein Geld für Schadenersatzprozesse habe. „Es ist verrückt“, meinte sie. In Zukunft wird sie aus Sicherheitsgründen nur noch viereckigen Käse herstellen.
Einer der heimlichen Rennleiter fragte: „Seit wann kann man eine Käseproduzentin daran hindern, ihr Produkt zu verschenken?“ Man werde eben etwas anderes verwenden. Das tat man vorigen Montag auch. Man benutzte einen Plastikkäse. Wegen der Berichte über den Polizeieinsatz bei Diane Smart war das Interesse an dem illegalen Rennen besonders groß, mehr als 5.000 Zuschauer säumten die Wiese. Zum ersten Mal in der Geschichte gewann der Käse nicht, denn die Imitation aus Plastik war zu leicht, so dass sie schon im oberen Drittel des Abhangs im Schlamm stecken blieb. Der Gewinner hatte wenig Freude an seinem Preis, denn was kann man schon mit einem riesigen Plastikkäse anfangen?
Traditionalisten befürchten, dass das Käserennverbot nur der Anfang sei. Weitere Bräuche könnten dem Sicherheitswahn zum Opfer fallen und die englische Lebensart bedrohen. Wird als nächstes das Flaschentreten in Hallaton, Leicestershire, verboten? Dabei balgen sich die Dorfbewohner um ein Fässchen Bier. Regeln gibt es kaum, lediglich Augenausstechen, Würgen und der Einsatz von Waffen sind verboten. Auch die Haxey Hood in Lincolnshire ist in Gefahr, weil bei dem Versuch, eine schwere Lederröhre in eine von vier Kneipen zu schieben, was bis in die Nacht dauern kann, Menschen bisweilen zu Schaden kommen. Und am Ende schaffen die Sicherheitsfanatiker auch noch die Monarchie ab, weil die schwere Krone der Queen den Hals verrenken könnte.
Die Wahrheit auf taz.de | Ralf Sotscheck | Hunderte erwachsener Menschen rennen hinter einem acht Pfund schweren Käse her, ohne ihn jemals zu fangen, denn er ist schneller. | [
"England",
"Käse",
"Tradition",
"Geschichte",
"Wahrheit",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,925 |
Gefälschte Bescheide für Erstsemester?: Hamburger Uni warnt Studierende - taz.de | Gefälschte Bescheide für Erstsemester?: Hamburger Uni warnt Studierende
Die Universität warnt die Studierenden vor Betrügern: Offenbar haben Unbekannte die Post von Erstsemestern geklaut und versuchen, an ihr Geld zu gelangen.
Obacht vor falschen Zahlungsaufforderungen: Die Uni hat ein Briefkasten-Problem
HAMBURG taz | Die Hamburger Universität warnt Studierende vor einem Betrugsfall. Demnach sollen Unbekannte die Post von Erstsemestern aus einem Briefkasten der Hochschule gestohlen und anschließend versucht haben, Geld von ihnen zu erbeuten. In einem Schreiben fordert die Hochschule Betroffene auf, sich zu melden, sollten sie die Immatrikulationsunterlagen per Post geschickt oder in den Briefkasten der Hochschule geworfen und daraufhin eine Zahlungsaufforderung erhalten haben.
„Wenn diese beiden Fälle gleichzeitig auf Sie zutreffen“, heißt es in dem Schreiben, „setzen Sie sich bitte umgehend mit uns in Verbindung. Man gehe davon aus, dass Unbekannte Post aus dem Briefkasten entwendet und diese Unterlagen genutzt haben, um gefälschte Bescheide zu verschicken.
Soweit bisher bekannt, ereignete sich der Diebstahl zwischen Ende August und Anfang September. Offenbar wurden Immatrikulationsunterlagen aus einem überfüllten Briefkasten der Universität geklaut. In der Folge versandten die mutmaßlichen Täter dann offenbar gefälschte Zahlungsaufforderungen und eine Datenschutzinformation.
Wie viele Studenten genau betroffen sind, ist noch unklar. Auf Anfrage teilt die Staatsanwaltschaft mit, es liege lediglich die Anzeige einer Studierenden vor, „die Hinweise auf eine möglicherweise gefälschte Zahlungsaufforderung enthält“, so eine Sprecherin. Es werde ermittelt. „Erkenntnisse über den oder die Täter oder Hintergründe liegen hier nicht vor.“ Der Polizei lägen aber bislang vier Anzeigen zu dem Vorgang vor.
Der Briefkasten des mutmaßlichen Geschehens wurde jetzt jedenfalls vor Diebstahl geschützt: mit Metallstreben am Einwurfschlitz
Betroffen sind vor allem Erstsemester, weil sie anders als höhere Semester Dokumente schriftlich einreichen, um dann Kurse belegen zu können. Die Kursvergabe läuft seit Jahren über ein Online-Tool, für das Zugangsdaten erst nach Eingang der Unterlagen an die Studierenden versandt werden.
Die Universität hält sich auf taz-Anfrage etwas bedeckt: „Zu diesem Zeitpunkt kann ich nur bestätigen, dass es einen Vorfall im Zusammenhang mit dem Zulassungsverfahren gegeben hat“, sagt eine Sprecherin. Zu laufenden Ermittlungen dürfe sie aber keine Auskunft geben. Die Hochschule könne aber in den ihr bislang bekannten Fällen gewährleisten, dass die betroffenen Studierenden ihr Studium dennoch aufnehmen können.
Der Briefkasten des mutmaßlichen Geschehens wurde jetzt jedenfalls vor Diebstahl geschützt: mit Metallstreben am Einwurfschlitz. Und die Universität hat sicherheitshalber eine neue Briefkastenanlage bestellt. | Sebastian Grundke | Die Universität warnt die Studierenden vor Betrügern: Offenbar haben Unbekannte die Post von Erstsemestern geklaut und versuchen, an ihr Geld zu gelangen. | [
"Universität Hamburg",
"Gebühren",
"Studierende",
"Hamburg",
"Nord",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,926 |
Gesellschaftsroman von Teresa Präauer: Man trinkt Crémant - taz.de | Gesellschaftsroman von Teresa Präauer: Man trinkt Crémant
Eine Gastgeberin lädt ein und Teresa Präauer spielt die Möglichkeiten in verschiedenen Varianten durch: „Kochen im falschen Jahrhundert“.
„Kochen im falschen Jahrhundert“: Roman zwischen realistischer Milieuskizze und entlarvender Satire Foto: Westeind61/imago
Ein Abendessen mit Freunden. Die Gastgeberin weiht ihre neue Wohnung ein, ihr Partner ist dabei, ein Ehepaar und ein Professor aus der Schweiz.
Die kleine Gesellschaft entstammt dem urbanen Intellektuellenmilieu und agiert entsprechend, trinkt Crémant, isst einen leichten Sommersalat, eine Quiche und beackert die Themen, die in der Lebenssituation dieser wohlsituierten Frühvierziger anstehen – das Ehepaar hat kürzlich ein Kind bekommen, der Schweizer gibt sich klassenkämpferisch, die Gastgeberin hat ihre Umzugskartons immer noch nicht ausgepackt und macht deshalb eine Therapie, man ist kosmopolitisch, feministisch auf dem letzten Stand und hört Salon-Jazz.
Es sind Typen, die Präauer hier auftreten lässt. Dafür spricht, dass sie ihren Protagonisten keinen Namen gönnt und dass sie ihre leicht mokant und zumeist in indirekter Rede dargebotenen Eitelkeiten, Bosheiten und Distinktionsgefechte allgemein genug anlegt, dass man sich oder wenigstens die anderen darin wiedererkennt.
Milieuskizze und Satire
Das BuchTeresa Präauer: „Kochen im falschen Jahrhundert“. Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 200 Seiten, 22 Euro
„Kochen im falschen Jahrhundert“ hält die Waage zwischen realistischer Milieuskizze und entlarvender Satire und wäre ein bisschen wohlfeil und überraschungslos, wenn es nur darum ginge.
Aber das wirklich Interessante passiert hier auf der formalen Ebene. Präauer spielt wie bei einer naturwissenschaftlichen Versuchsreihe diese gesellschaftliche Standardsituation – eine Frau bekocht ihren Freundeskreis – immer wieder neu durch, mit leicht veränderten Voraussetzungen, die dann stets Wirkungen zeitigen auf den Verlauf des Abends.
Einmal trifft der Schweizer pünktlich und ausgehungert ein, ein andermal verspätet er sich mit dem Ehepaar und sie haben bereits gegessen. Einmal scheint der Abend an den kontroversen Ansprüchen zu scheitern, ein andermal wird es ein Fest der Freundschaft und am Ende entladen sich die erotischen Spannungen.
Einmal scheitert der Abend, einmal wird es ein Fest der Freundschaft mit erotischen Spannungen
Variationen und Wiederholungen
Es ist ein artifizielles Spiel, in dem sich die einzelnen Variationen ineinanderschieben und durch Reprisen und Wiederholungen verflechten – und auch anfängliche Randfiguren später noch einmal ihren Auftritt haben, damit die narrative Symmetrie stimmt.
Dass Präauer dann auch noch soziologische Reflexionen zum Kochen anstellt und ihrer Gastgeberin unterschiebt, wirkt ein bisschen aufgesetzt. „An den Gegenständen haftete der Selbstentwurf, die Einbindung in die Gesellschaft. Die Familienverhältnisse, das Sich-Lossagen und das Erinnern und Nicht-Loskommen.“ Da verwandelt sich die fein ironische, von Ferne an Thomas Bernhard erinnernde Suada in einen humorlosen Essay. | Frank Schäfer | Eine Gastgeberin lädt ein und Teresa Präauer spielt die Möglichkeiten in verschiedenen Varianten durch: „Kochen im falschen Jahrhundert“. | [
"wochentaz",
"Roman",
"Paarbeziehungen",
"Gesellschaftskritik",
"Milieu",
"Satire",
"Buch",
"Kultur",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,935 |
China im russisch-ukrainischen Krieg: Mit allen gut Freund - taz.de | China im russisch-ukrainischen Krieg: Mit allen gut Freund
Peking will sich nicht entscheiden. Die chinesische Führung buckelt vor Moskau wie vor Washington.
Wladimir Putin mit Chinas Staatschef Xi Jinping während ihres Treffens in Peking am 4. Februar Foto: Alexei Druzhinin/SNA/imago
Am 4. Februar 2022, dem Tag der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking, traf sich Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping. Ein gemeinsames Kommuniqué besiegelt, laut Le Yucheng, Vizeaußenminister Chinas, eine neue Höhe der sino-russischen Beziehung der Freundschaft und Kooperation. Eine Beziehung, so Le, die oben keine Decke kenne.
Beweis: China unterstütze Russlands Vorgehen gegen eine Nato-Osterweiterung; dazu 20 Geschäftsabkommen, einschließlich eines langfristigen Liefervertrages, gemäß dem China Russland ab sofort Unmengen von Naturgas abkauft und das für die Laufzeit von über einem Jahrzehnt, um – das stellt sich allerdings erst am 24. Februar, dem Tag, an dem die russische Invasion in die Ukraine begann, heraus – die Lücken für Moskau zu schließen, die durch westliche Sanktionen gegen russische Gaslieferung in Putins Kriegskasse entstehen werden.
Seither scheint Peking bemüht zu sein, der Freundschaft mit Putins Russland Nachdruck zu verleihen. Am Tag des Kriegsbeginns gab die chinesische Botschaft in Kiew online die Forderung an alle Chinesen in der Ukraine weiter: „Wenn ihr aus der Tür kommt, bedeckt euch mit unserer Nationalflagge – zu eurer eigenen Sicherheit.“
Offenbar rechnete Chinas Führung fest mit einem Sieg des russischen Blitzkriegs
Offenbar rechnete Chinas Führung zu diesem Zeitpunkt noch fest mit einem Sieg des russischen Blitzkriegs: Ein paar Fallschirmjäger ins Präsidialamt schicken, um Wolodimir Selenski zu kidnappen, seine Regierung in Kiew auszutauschen, das wär’s. Das war es aber nicht. Wenige Stunden nach der Bekanntgabe der Anweisung aus der Botschaft wurden die ersten Chinesen auf Straßen in Kiew von wütenden Ukrainern angegriffen. Von wegen Sicherheit.
Putin den Rücken freihalten
Dennoch änderte dies nicht Chinas Willen, auf der Weltbühne Putin den Rücken freizuhalten. So schnell lässt man seine Freunde nicht im Stich. Nicht nur lehnte Chinas Botschafter bei den Vereinten Nationen konsequent ab, den Moskauer Feldzug als „Aggression“, „Invasion“ oder „Angriffskrieg“ zu bezeichnen, geschweige denn, zu verurteilen. Auch öffnete das Handelsministerium in Peking gleich am zweiten Kriegstag den chinesischen Markt für russischen Weizen, der seit 30 Jahren wegen einer gefährlichen Pflanzenkrankheit für die Einfuhr verboten war.
Didi-Chuxing, ein chinesischer Konzern des Online-Fahrdienstes, wurde angewiesen, vorläufig vom Rückzug aus Russland abzusehen, um die geschäftliche Stimmung dort nicht mit zu vergiften, wie es hieß. In Chinas Social-Media wurde zur Beschreibung der Geschehnisse auf dem Schlachtfeld in der Ukraine erst nur das Wort „Lage“ erlaubt, weniger später der Begriff „Spannung“; einige Tage vergingen, bis das Wort „Konflikt“ auftauchte.
Seit dem 7. März, dem 11. Kriegstag, darf man von „Krieg“ reden – unklar, wer gegen wen. Klar nur: Es ist nicht Russlands Schuld. So viel Freundschaft erweicht selbst Steine. So lobte Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, schon am 1. März, dem 5. Kriegstag, China als „Russlands großartigen Freund“. Nur allzu seltsam: Ihre Formulierung verschwand drei Tage später von allen chinesischen Internetseiten.
Derweil appellierte Chinas Außenminister Wang Yi am 6. März, dem 9. Kriegstag, an die Amerikaner, die China bis dato als Kriegstreiber aufs Schärfste rügten, nun die freundschaftliche Zusammenarbeit nach dem Prinzip „Win-win“ mit China wiederzubeleben. Freundschaft, so fragt man sich, mit wem also? | ming shi | Peking will sich nicht entscheiden. Die chinesische Führung buckelt vor Moskau wie vor Washington. | [
"China",
"Wladimir Putin",
"Xi Jinping",
"USA",
"Kolumne Fernsicht",
"Asien",
"Politik",
"Serie",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,973 |
Porträt neuer Amnesty-Chef Grenz: Sitzen geblieben - taz.de | Porträt neuer Amnesty-Chef Grenz: Sitzen geblieben
Die Generalsekretärin scheitert, Amnesty bebt, Beschuldigungen überall. Nun ist ein neuer Chef angetreten: Wolfgang Grenz. Beliebt, ein Fels - keine Notlösung.
"Ein wunderbarer Mensch." Wolfgang Grenz ist beliebt bei den Kollegen. Bild: dpa
Am Ende ist er doch noch Chef geworden, Wolfgang Grenz, dieser leise Mann, der das Elend der Welt mit juristischen Fachwörtern beschriftet, in Aktenordner steckt, der mit Kettenbriefen Leben rettet. Wolfgang Grenz, ein großer, schwerer Mann, 64 Jahre alt, die Augen trüb, der Schnauzbart wie bei einem Walross, guckt in den Knoten seiner gefalteten Hände, knurrt: "Das war so nicht vorgesehen." Mit einem derartigen Karrieresprung hatte er gar nicht gerechnet. Ein Jahr bis zur Rente noch, dann raus, Fußball gucken, spazieren gehen mit dem Hund. Das war der Plan.
Aber dann haben sie ihn in der ganzen Aufregung doch noch geholt und zum Generalsekretär der wichtigsten Menschenrechtsorganisation in Deutschland gemacht: Amnesty International.
Die bisherige Chefin hatte sich als Flop herausgestellt, nach ihrem Rauswurf zerschnitten Anschuldigungen wie Steakmesser die Luft. Ein Zustand, für den es einen neuen Chef brauchte. Einen, der für Ruhe sorgt. Amnesty kann sich nicht so gehen lassen, verbrecherische Regime weltweit machen keine Pause, Despoten foltern, Bootsflüchtlinge im Mittelmeer können nicht warten. Es brauchte einen, der dranbleibt am Geschehen.
Wolfgang Grenz war da. So wie er immer da gewesen ist, 32 Jahre lang, zuletzt auf dem Stellvertreterposten. Den mächtigen Körper zusammengefaltet hinter dem Schreibtisch - so muss Grenz in seinem Amnesty-Büro im zweiten Hinterhof eines Hauses in Berlin-Prenzlauer Berg gesessen haben. Eine stille Insel in lauten Wellen der Empörung. Ein Fels, den eine unruhige Flut nicht wegspülen kann.
"Der integerste Mensch in der deutschen Asylszenerie"
Man darf das jetzt nicht falsch verstehen: Wolfgang Grenz ist keine Notlösung für Amnesty International. Es hat nur ziemlich lange gedauert, bis er dran war.
Das fällt vor allem deswegen auf, weil er so beliebt ist. "Ein wunderbarer Mensch", erklärt eine Kollegin. Eine ehemalige Angestellte lobt Grenz Professionalität, seine Kompetenz, seine Loyalität. Ein Mitarbeiter von Pro Asyl findet sogar: "Wolfgang Grenz ist der integerste Mensch in der deutschen Asylszenerie. Er ist genau der richtige Mann für die Spitze von Amnesty."
Grenz selbst ist eigentlich über den Fußball zu Amnesty gekommen. Fußball ist seine Leidenschaft, das Leichte, das ihn heute noch das Schwere seines Berufs aushalten lässt, sein Ausgleich. Lange hat er selbst gebolzt, immer noch kennt er alle Ergebnisse, alle Tabellen bis runter in die kleinen Ligen, am Wochenende drückt er sich am Spielfeldrand beim Berliner SC herum. "Mich interessieren immer die Underdogs. Auch beim Fußball", brummt er.
1978 hatte Amnesty International in der Kölner Fußgängerzone anlässlich der Fußball-WM in Argentinien einen Stand aufgebaut. Postkarten wurden verteilt, darauf stand: "Fußball ja, Folter nein!" Die Kampagne gegen die argentinische Diktatur schaffte es in die Fußballberichterstattung im Fernsehen, erinnert sich Grenz. "Das hat mich beeindruckt."
Tausend Flüchtlingsakten
Ein Jahr später saß er beim Vorstellungsgespräch im Bonner Amnesty-Büro, ein Riese mit schulterlangen Haaren, 32 Jahre alt. Grenz hatte gerade sein Jurastudium abgeschlossen. Als Student setzte er sich für mehr Bürgerrechte ein, war bei den Jungdemokraten aktiv. Ostern 1968 hatte er vor dem Springer-Hochhaus in Berlin demonstriert. Der Anwalt Reinhard Marx war damals beim Bewerbungsgespräch dabei, er sagt: "Grenz wirkte gleich verlässlich."
Referent für Asylrechtsfragen gesucht - es hatten sich viele auf das Inserat gemeldet. Bislang konzentrierte sich Amnesty auf Meinungsfreiheit, auf die Freilassung politischer Gefangener und die Abschaffung von Folter und Todesstrafe. Nun wollte man sich auch um den Schutz von Flüchtlingen kümmern.
Als Grenz dann sein Büro bei Amnesty bezog, lag im Schrank eine einzige Akte. Ein halbes Jahr später stapelten sich in diesem Schrank mehr als tausend Flüchtlingsakten. Er sieht stolz aus, als er das erzählt. Er mag Akten. Wenn sie denn etwas bewirken.
Grenz und seine Mitarbeiter gingen mit den Schicksalen an die Öffentlichkeit, prüften die Rechtslage, schrieben Briefe an Politiker, an Gefängnisdirektoren, verfassten Dossiers, erinnerten Präsidenten, dass sie sich mit dem Beitritt zur UNO auch auf die Einhaltung der Menschenrechte eingelassen hatten, zerrten dunkle Machenschaften ans Tageslicht.
"Machen Sie sich keine Illusionen", sagt Grenz. Die Arbeit sei nüchtern. Das Leid der Welt durchläuft sein Büro vor allem als Leitzordner, in juristische Klauseln verpackt. Nur wenig davon habe sich als Bild festgesetzt in seinem Kopf. Der Äthiopier etwa, dem er zur Flucht aus Ungarn verholfen hat und den er später in einer Berliner Fabriketage besucht hat. Oder der gestürzte afrikanische Diktator, der halb nackt und gefesselt durch einen Raum kriechen musste, drangsaliert von den Gewehrläufen der neuen Machthaber. "Seltsam, aber dieser Mensch hat mich fast am meisten berührt."
"Genauso ungerecht wie Fußball"
Grenz sitzt an dem langen Besprechungstisch in der Geschäftsstelle, die Arme auf der Tischplatte abgelegt, die Schultern gebeugt. Man denkt: die Last von 32 Jahren.
Heute wird der Schutz von Flüchtlingen als Menschenrechtsthema angesehen, das ist auch Grenz Verdienst. Aber er guckt müde, sagt: "Es gibt oft Momente, wo man verzweifelt. Wo man denkt, wir sind immer wieder gescheitert." Dann berappelt er sich wieder, schnauft ein Lächeln heraus: "Das ist genauso ungerecht wie beim Fußball. Da gewinnen auch immer die Falschen."
Die Geschäftsstelle ist ein ausgebautes Dachgeschoss, das helle Holz und das Glas dämpfen die Not, die hier bearbeitet wird. Die Rückschläge der letzten Jahrzehnte sind trotzdem offenkundig, die Beharrlichkeit des Wolfgang Grenz ist es auch. Zum Beispiel nach dem Fall der Mauer: Amnesty hatte geglaubt, dass die Welt freier würde. Aber häufig kamen neue Despoten an die Macht. "Zum Beispiel in Usbekistan, wo Regimekritiker ins Gefängnis geworfen und gefoltert werden."
Wolfgang Grenz bekam Jobangebote, das Auswärtige Amt hätte ihn gern gehabt, ein Verband zeigte ebenfalls Interesse. Aber er blieb bei Amnesty, inzwischen war er Betriebsratsvorsitzender.
Dann wurde 1993 in Deutschland das Asylrecht beschränkt. Er hätte entmutigt sein können. Die Flüchtlingsarbeit ist sein Schwerpunkt.
Grenz machte weiter. Er hat eine dicke Haut. Am Wochenende ging er zum Fußball.
Als 1999 der alte Chef ging, hat Grenz nicht die Hand gehoben, hat sich nicht vorgedrängelt. Er findet: "Ich bin eher der Mann für den abgegrenzten Bereich. Es ist besser, wenn jemand von außen frischen Wind reinbringt. Das ist auch besser fürs Image des Vereins."
Verschärfte Verhörmethoden
Sie holten dann eine Frau als neue Generalsekretärin, Barbara Lochbihler, die vorher bei der Internationalen Frauenliga in Genf gearbeitet hatte.
Auch nach dem 11. September 2001 verschlechterte sich die Menschenrechtslage weiter. "Plötzlich gibt es verschärfte Verhörmethoden und wieder eine Debatte darüber, ob ein bisschen Folter nicht doch erlaubt ist. Das ist schon überraschend". Grenz lacht bitter.
Er hat nicht hingeschmissen. "Das hab ich mich schon auch mal gefragt, ob das noch normal ist", sagt er. Er blieb einfach sitzen, kümmerte sich um die Akten der Opfer.
Als Barbara Lochbihler 2009 für die Grünen ins Europaparlament einzog, hätte es noch mal eine Chance gegeben für Grenz. Er war von allen am längsten bei Amnesty, er kannte den Laden. Er habe da schon an seine bevorstehende Rente gedacht, sagt er. An ruhige Nachmittage neben dem Fußballplatz. Die Schäferhündin. Grenz hielt sich zurück.
Sie machten dann Monika Lüke zur Chefin. Eine dynamische Frau, die rote Anzüge trug und sich zuvor in Kenia und Kambodscha als Entwicklungshelferin engagiert hatte. "Ich habe ihre Einstellung damals sehr begrüßt", erklärt Grenz.
Schadensbegrenzung
Es ging schief. Wenn man bei Amnesty jemanden auf den Schlamassel anspricht, drucksen sie herum, gucken weg, ziehen die Schultern hoch, wollen nichts sagen. So viel ist inzwischen dennoch nach außen gedrungen: Monika Lüke scheint mit der Leitung des Vereins überfordert gewesen zu sein. In der Geschäftsstelle wurde auf einmal gebrüllt. Der Vorstand wollte reagieren. Dann wurde Lüke schwanger. Der Vorstand traute sich nicht mehr, sie freizustellen. Man wollte die Schwangerschaft nicht gefährden. Als das Kind dann da war und der Vorstand Lüke von allen Aufgaben beurlaubte, sah es so aus, als wäre sie wegen des Babys rausgeschmissen worden. Lüke gab wütende Interviews. Jetzt bemüht sich der Vorstand um Schadensbegrenzung, will den Arbeitsvertrag einvernehmlich auflösen.
Wolfgang Grenz guckt traurig. Er will nichts zu der ganzen Angelegenheit sagen. Aber es ist klar: Er hätte es lieber, das Ganze wäre irgendwie anders gelaufen. Er wollte ja nächstes Jahr auch in Rente sein.
Nach Monika Lükes Rauswurf ist das Licht nun doch noch auf ihn gefallen. Es ist ein Glück, dass er noch da ist. "In einer Notsituation lass ich mich gerne in die Pflicht nehmen", sagt er.
Wolfgang Grenz möchte jetzt zwei Jahre länger bleiben. | Kirsten Küppers | Die Generalsekretärin scheitert, Amnesty bebt, Beschuldigungen überall. Nun ist ein neuer Chef angetreten: Wolfgang Grenz. Beliebt, ein Fels - keine Notlösung. | [
"Alltag",
"Gesellschaft",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 23,992 |
Spielerinnenproteste zur Fußball-WM: Aufstand gegen das System - taz.de | Spielerinnenproteste zur Fußball-WM: Aufstand gegen das System
Profis in Frankreich, Spanien und Kanada streiken gegen ihren Verband – mit unterschiedlichem Erfolg. Etliche Spielerinnen bleiben der WM fern.
Schluss jetzt! Frankreichs Abwehrchefin lässt sich nicht mehr alles gefallen Foto: dpa
BERLIN taz | Es soll also endlich einmal gute Laune herrschen im französischen Team. Es gibt einen neuen Trainer. Der heißt Hervé Renard und ist bis dato im Männerfußball unterwegs gewesen. Er war bis März Trainer der Auswahl Saudi-Arabiens. Berühmt wurde seine Kabinenansprache beim Sieg seiner Saudis gegen den späteren Weltmeister Argentinien. Er wird als Stimmungskanone geschätzt. Gleich zum ersten Lehrgang unter seiner Regie erlaubte er Amel Majri ihre neun Monate alte Tochter mitzubringen. Frankreich habe in dieser Hinsicht Nachholbedarf, meinte er damals und erntete jede Menge Lob.
Es war ein langer Weg, der zu solchen Gesten geführt hat. Renards Vorgängerin Corinne Diacre stand eher für einen ungesunden Druck, mit dem sie die Spielerinnen führte. Die konnten ihre freie Zeit nicht verbringen, wie sie wollten, wurden ständig überwacht und gemaßregelt. Ex-Nationaltorhüterin Sarah Bouhaddi berichtete von Tränen, die in den Zimmern vergossen wurden.
Eine verdiente Mittelfeldspielerin wurde aus persönlichen Gründen aus dem Kader des Nationalteams entfernt, was sie in einem 14 Sekunden kurzen Telefonat erfahren hat. Die längst zur Legende gewordene Innenverteidigerin Wendy Renard berichtet in ihrer Autobiografie davon, dass sie von der Trainerin zeitweise nicht mal gegrüßt wurde.
Und so hat sich niemand gewundert, dass Renard mit zwei weiteren Spitzenkräften des Teams, Marie-Antoinette Katoto und Kadidiatou Diani, Anfang des Jahres ihren Rücktritt aus der Nationalelf erklärt hat. Sie mahnten Änderungen im System an, unter dem auch ihre psychische Gesundheit leiden würde.
Erzwungener Trainerinnenwechsel
Am Ende haben sie sich durchgesetzt. Diacre ist nicht mehr Trainerin. Wendy Renard ist zurück im Kreis der Nationalelf, genauso wie Diani. Katoto fehlt zwar, das liegt aber an einer langwierigen Bänderverletzung. Die Spielerinnen können sich ermächtigt fühlen.
Unterstützung in ihrem Kampf haben sie von Beginn an von Megan Rapinoe bekommen, der Weltmeisterin aus den USA, für die Fußball auch immer Aktivismus ist. Auch Ada Hegerberg, 2018 zur Weltfußballerin gewählt, unterstützte die Französinnen. Sie selbst hatte einst auch ihre Karriere im Nationalteam auf Eis gelegt, um gegen die frauenfußballverachtenden Strukturen in ihrem Verband zu protestieren.
Weit weniger erfolgreich verläuft der Kampf spanischer Fußballerinnen gegen das System, das Auswahltrainer Jorge Vilda installiert hat. Der strebt die totale Kontrolle über seine Spielerinnen an, führt Taschenkontrollen durch und schaut bis spät in der Nacht, was die Profis in ihren Zimmern machen. Im vergangenen September sind gleich 15 Nationalspielerinnen zurückgetreten, 13 von ihnen hatten drei Monate zuvor noch bei der EM in England gespielt.
Spaniens frauenfeindliche Fußballwerte
Doch der Verband blieb in diesem Fall hart. Kein Wunder. Für den Frauenfußball in Spanien ist ein gewisser Angel Vilda verantwortlich, der Vater des Nationaltrainers. Der Verband sah „die Werte des Fußballs“ durch die Spielerinnen mit Füßen getreten. Wer zurückwolle ins Nationalteam, müsse sich entschuldigen.
Drei der Protestierenden, Aitana Bonmati und Mariona Caldentey sowie Ona Batlle, scheinen das getan zu haben. Andere werden bei der WM fehlen – unter anderem die beim FC Barcelona so überragende Abwehrchefin Mapi León. Ob das hochbegabte spanische Team, das von der nach einer Kreuzbandverletzung genesenen Weltfußballerin Alexia Putellas angeführt wird, unter solchen Umständen weit kommen wird, ist reichlich ungewiss.
Vielleicht ist es ja eine Art Trotz, der die Auswahl antreibt. Mit einer solchen Haltung geht die kanadische Auswahl ins Turnier. Die kämpft seit Jahren nicht nur um gleiche Bezahlung wie die Männer, sondern auch um ein angemessenes Umfeld für das Nationalteam. Zu einem Vorbereitungsturnier in den USA ist das Team „unter Protest“ angetreten und letztlich nur deshalb, weil die Spielerinnen ohne das Geld von der Nationalelf schlicht nicht leben können.
Nun steht ihr Verband auch noch vor der Pleite, weil er sich einem Investor ausgeliefert hat, der alle Einnahmen kassiert. Der Verband hat angekündigt, sich keine weiteren Auftritte des Nationalteams mehr leisten zu können. So wird jedes Spiel der Olympiasiegerinnen um die 40-jährige Kapitänin Christine Sinclair bei dieser WM zum Schauplatz eines Existenzkampfs. | Andreas Rüttenauer | Profis in Frankreich, Spanien und Kanada streiken gegen ihren Verband – mit unterschiedlichem Erfolg. Etliche Spielerinnen bleiben der WM fern. | [
"Frauenfußball",
"Fußballweltmeisterschaft",
"Weltmeisterschaft",
"Protest",
"Streik",
"Frauen-Fußball-WM 2023",
"Sport",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,077 |
Ende der kleinen Verrichtungen - taz.de | Ende der kleinen Verrichtungen
■ Marianne Grubers Erzählungen aus dem Burgenland | gerhard mack | ■ Marianne Grubers Erzählungen aus dem Burgenland | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,078 |
Protest gegen Schimpansen-Patent: Versuchstiere für Pharmaforschung - taz.de | Protest gegen Schimpansen-Patent: Versuchstiere für Pharmaforschung
14.000 Menschen unterstützen den Einspruch gegen das Schimpansenpatent. Das Patent wurde erteilt, obwohl in einigen Staaten Versuche mit Menschenaffen verboten sind.
Sie versteht das überhaupt nicht mit den Patenten auf Lebewesen. Bild: dpa
MÜNCHEN dpa | Rund ein Dutzend Organisationen haben Einspruch gegen ein europäisches Patent auf gentechnisch veränderte Schimpansen eingelegt. Das Patent EP 1572862 verstoße gegen ethische Grenzen des europäischen Patentrechts, erläuterten „Testbiotech“ und „Kein Patent auf Leben“. Der Einspruch werde von 14.000 Unterschriften unterstützt.
Das Europäische Patentamt (EPA) hatte das Patent demnach im August 2012 an die US-Firma Intrexon erteilt. Es umfasst neben Schimpansen auch Mäuse, Ratten, Kaninchen, Katzen, Hunde, Rinder, Ziegen, Schweine, Pferde und Schafe.
In das Erbmaterial der Tiere wurden DNA-Stücke von Insekten, Zecken und Krabben geschleust. Die genveränderten Tiere sollen in der Pharmaforschung eingesetzt werden, etwa bei der Entwicklung von Krebstherapien.
Die Gegner fürchten, dass das Patent einen kommerziellen Anreiz für mehr Tierversuche bietet. Tiere, vor allem aber Menschenaffen als nächste biologische Verwandte des Menschen, müssten mit mehr Respekt behandelt werden.
„Die Erteilung dieser Patente ist ein Tabubruch“, sagt Christoph Then von Testbiotech. „Nie zuvor hat der Mensch versucht, das Erbgut von Menschenaffen regelrecht umzuprogrammieren.“
Das EPA hatte 2012 drei Patente auf Schimpansen erteilt. Bei einem weiteren Patent für Intrexon (EP1456346) wurden ebenfalls DNA-Stücke von Insekten ins Erbgut geschleust. Beim dritten Patent für eine andere Firma wurde das Immunsystem der Schimpansen dem des Menschen angenähert (EP1409646). Damit sollen Antikörper-Therapien getestet werden.
Gegen alle drei Patente wurde damit nun Einsprüche eingelegt. Versuche an Menschenaffen unterliegen laut Then international strengen Vorschriften. Einige EU-Länder hätten Versuche an Menschenaffen verboten.
Insgesamt hat das EPA laut Then rund 1.200 Patente auf Tiere erteilt. Als Präzedenzfall gilt die Krebsmaus. Ihr war ein Brustkrebs-Gen eingepflanzt worden, um Therapien zu testen. Die Bedeutung für die Forschung blieb aber gering. Zum einen hielten vermutlich die Lizenzgebühren Forscher ab, zum anderen hatte das Tier nur ein Krebsgen – bei Brustkrebs können aber Dutzende Gene eine Rolle spielen.
Auch auf Menschenaffen gibt es schon mehrere Patente. 2010 wurde laut Then etwa ein Patent auf gentechnisch veränderte Schimpansen, die an Epilepsie leiden (EP1852505). | taz. die tageszeitung | 14.000 Menschen unterstützen den Einspruch gegen das Schimpansenpatent. Das Patent wurde erteilt, obwohl in einigen Staaten Versuche mit Menschenaffen verboten sind. | [
"Patent",
"EPA",
"Europäisches Patentamt",
"Schimpansen",
"Wissenschaft",
"Öko",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,110 |
Außenminister Gabriel in Russland: Besuch beim alten Bekannten Putin - taz.de | Außenminister Gabriel in Russland: Besuch beim alten Bekannten Putin
Gabriel und Putin kennen sich, auch die Themen, darunter der Ukrainekonflikt, bleiben dieselben. Jetzt ist der Vizekanzler erstmals als Außenminister Gast im Kreml.
Als Außenminister muss Gabriel besonders diplomatisch mit Putin umgehen Foto: dpa
MOSKAU dpa | Der Titel der Ausstellung, die Außenminister Sigmar Gabriel am Donnerstag in Moskau besucht, taugt auch als Motto für seinen gesamten Antrittsbesuch in Russland. „Der Zukunft zugewandt“ heißt die Schau mit Werken europäischer Nachkriegskunst im Puschkin-Museum.
Zumindest die jüngste Vergangenheit in den deutsch-russischen Beziehungen hat kaum etwas zu bieten, auf das man aufbauen könnte. Da ist der Blick nach vorne ganz angebracht. Die letzten drei Jahre waren geprägt von der Vereinnahmung der Krim durch Russland, vom anschließenden Konflikt in der Ost-Ukraine, einer neuen Abschreckungspolitik zwischen Russland und der Nato sowie gegenseitigen Sanktionen.
Gabriel ist zwar erst seit sechs Wochen Außenminister, mit den Themen aber bestens vertraut. Wenn er am Donnerstag mit seiner Wagenkolonne im Kreml vorfährt, trifft er auf einen alten Bekannten. Präsident Wladimir Putin hat ihn schon drei Mal empfangen, als er noch Wirtschaftsminister war. Daneben ist ein Arbeitstreffen und Mittagessen mit Außenminister Sergej Lawrow geplant.
Zum Kennenlernen sei Gabriels Besuch in Moskau eigentlich gar nicht nötig, sagt der russische Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow. „Man kennt ihn doch.“ Die russische Führung entfaltet für Gabriel das volle Protokoll, auch wenn er schon bald nicht mehr SPD-Vorsitzender sein wird und man nicht weiß, was nach der bevorstehenden Bundestagswahl wird. Termine beim Kremlchef bekommen nur ganz wenige Außenminister, zum Beispiel aus den USA oder China.
Darum geht es beim Gabriel-Besuch in Moskau
Zunächst geht es natürlich um die Ukraine: Gabriel hatte am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz einen neuen Vermittlungsversuch mit seinen Kollegen aus Frankreich, Russland und der Ukraine gestartet. Die Erfahrung war dieselbe, die sein Vorgänger Frank-Walter Steinmeier etliche Male machen musste: Es wird etwas vereinbart, löst sich dann aber schon wenige Tage später wieder in Luft auf. Diesmal war es ein Waffenstillstand zwischen den prorussischen Separatisten und Regierungstruppen, der von Anfang an nicht eingehalten wurde. Inzwischen gibt es Zweifel, ob die Vermittlung der Europäer wirklich zum Ziel führen kann. In Moskau wird es darum gehen, inwieweit die USA eingebunden werden sollen.
Auch Sanktionen werden ein Thema sein. Als Wirtschaftsminister zählte Gabriel zu denjenigen, die den Sanktionen skeptisch gegenüberstanden und einen schrittweisen Abbau anstrebten. Jetzt vertritt der scheidende SPD-Chef dieselbe Linie wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): Ohne Fortschritte bei der Umsetzung des Minsker Friedensabkommens keine Abstriche bei den Sanktionen. Die Lage ist für Gabriel klar: „Von einer substanziellen Umsetzung kann leider keine Rede sein.“
Deshalb wird Gabriel auch Kante zeigen. Dem Antrittsbesuch in Moskau schaltete er ganz bewusst Gespräche in Warschau vor. Polen zählt zu den vier Ländern, in denen die Nato derzeit insgesamt 4000 Soldaten zur Abschreckung Russlands stationiert. Als alleinigen Schuldigen für die Aufrüstungsspirale in Osteuropa sieht Gabriel Moskau: „Wir wissen, wer der Aggressor ist. Wir wissen, wer das Völkerrecht verletzt hat.“ Die weltweite Erhöhung von Rüstungsausgaben, nicht zuletzt die jüngste Aufrüstungsinitiative von US-Präsident Donald Trump, ist Gabriel allerdings nicht geheuer. Er wirbt deswegen für eine Rückkehr zur Abrüstung und für regelmäßige Treffen des Nato-Russland-Rats.
Und natürlich stehen auch der Krieg in Syrien und die Lage in Lybien auf der Agenda. Wie geht es weiter in den Friedensgesprächen für Syrien? Wie kann die EU beim Wiederaufbau des zerstörten Landes helfen? Der seit sechs Jahren andauernde Bürgerkrieg, in dem Russland auf der Seite von Präsident Baschar al-Assad steht, wird ein wichtiges Thema der Gespräche sein. Auch im zerfallenen Wüstenstaat Libyen will Russland Einfluss auf eine Neuordnung nehmen. Moskau setzt dabei auf ein deutsches Interesse, die Flucht tausender Afrikaner aus Libyen über das Mittelmeer in die EU zu stoppen. | taz. die tageszeitung | Gabriel und Putin kennen sich, auch die Themen, darunter der Ukrainekonflikt, bleiben dieselben. Jetzt ist der Vizekanzler erstmals als Außenminister Gast im Kreml. | [
"Kreml",
"taz на русском языке",
"Krim Russland",
"Russland",
"Sigmar Gabriel",
"Deutschland",
"Politik",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,117 |
Berliner Wirtschaft: „Besser als gedacht“ - taz.de | Berliner Wirtschaft: „Besser als gedacht“
Berlin ist nach Einschätzung von Stephan Schwarz bisher gut durch die Krise gekommen. Grund zur Entwarnung sieht der Wirtschaftssenator aber nicht.
Die Berliner Wirtschaft? Brummt schon, nicht nur in Spandau bei BMW Foto: picture alliance/dpa/Jens Kalaene
BERLIN dpa | Wirtschaftssenator Stephan Schwarz (parteilos) ist vorsichtig optimistisch, was die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Berlin vor dem Hintergrund von Inflation und Energiekrise angeht. „Wenn sich das Thema Energie stabilisiert durch die Preisbremsen der Bundesregierung und die flankierenden Maßnahmen in Berlin, glaube ich, dass wir gut durch die Krise kommen“, sagte Schwarz der Deutschen Presse-Agentur.
„Die Situation ist noch angespannt, aber verglichen mit den Prognosen und Befürchtungen von Mitte des Jahres muss ich sagen, ist die wirtschaftliche Entwicklung besser als gedacht.“ Es sei immer noch eine Ausnahmesituation, sagte Schwarz. Bisher sei die Berliner Wirtschaft aber sehr stabil durch die Krise gekommen.
Über Bundesdurchschnitt
„Das Wirtschaftswachstum liegt weiterhin über Bundesdurchschnitt, und die Arbeitslosenquote ging in Berlin auch im November weiter zurück, auf 8,7 Prozent.“ Berlin sei damit das einzige Bundesland gewesen, das im Vergleich zum Vorjahresmonat sinkende Arbeitslosenzahlen vermelden konnte – allerdings mit einem Wert über dem Bundesdurchschnitt von 5,3 Prozent.
Auch die Lage der Unternehmen ist weniger dramatisch als von manchen noch wenige Monate zuvor befürchtet: Von Januar bis September gab es 946 Insolvenzen, im Jahr davor waren es insgesamt 942.
„Das ist ein Wert unter dem von 2019 mit 1070, dem Jahr vor der Pandemie. Ich glaube auch nicht, dass die Zahl der Insolvenzen im neuen Jahr deutlich ansteigt“, sagte Schwarz. „Für mich bestätigt das alles nochmal die besondere Resilienz unseres Standorts und zeigt auch, dass das schnelle Handeln des Senats mit unseren Neustart- und Hilfsprogrammen wirkt.“
Grund zur Entwarnung sieht Schwarz allerdings nicht: „Ich würde auch für diesen Winter nicht sagen, dass die Gefahr komplett gebannt ist.“ Es gebe aber Grund für Optimismus, dass sich eine Gasmangellage vermeiden lasse. „Daran haben auch die Berlinerinnen und Berliner und unsere Unternehmen einen wichtigen Anteil, weil sie viel zum Energiesparen beitragen.“ | taz. die tageszeitung | Berlin ist nach Einschätzung von Stephan Schwarz bisher gut durch die Krise gekommen. Grund zur Entwarnung sieht der Wirtschaftssenator aber nicht. | [
"Wirtschaft",
"Berliner Senat",
"Insolvenz",
"Berlin",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,173 |
Operation Morgenröte 2010 - taz.de | Operation Morgenröte 2010
NRW-SPD-Chefin Kraft schließt eine Koalition mit der Linkspartei nach der Landtagswahl 2010 nicht mehr aus. SPDler begrüßen die Kehrtwende – doch die NRW-Grünen sind skeptisch
VON KLAUS JANSEN UND MARTIN TEIGELER
Es sind unvorstellbare Bilder, die Hannelore Kraft neuerdings heraufbeschwört: NRW-Wahlabend im Mai 2010. Eine linke Mehrheit im Landtag. SPD, Grüne und „Die Linke“ haben die Wahl gewonnen und liegen sich in den Armen – trinken womöglich Rotkäppchen-Sekt zusammen auf den Machtwechsel. Unvorstellbar? Erstmals hat SPD-Landeschefin Kraft von einer möglichen Linkskoalition gesprochen, die CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ablösen könnte. Eine „rechnerische linke Mehrheit“ werde „wahrscheinlicher“, sagte Kraft in dieser Woche. Und: „Ich halte es für einen Fehler, die Linken in die Schmuddelecke zu stellen.“
Eine Koalitionsaussage sei Krafts Ansage auf gar keinen Fall, aber eine Kehrtwende doch, heißt es aus der NRW-SPD. Nach jahrelangem Kampf gegen die Ex-PDS schlagen die Sozialdemokraten neue Töne an. Nachdem es zuletzt der Kölner Parteilinke und Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach für „verrückt“ erklärt hatte, mit den Taliban, aber nicht mit der Linkspartei zu verhandeln, legen nun selbst Parteirechte die Kommunistenangst ab. „Kraft gibt eine neue Richtung vor, die durchaus vernünftig ist“, sagt der Duisburger Bundestagsabgeordnete Johannes Pflug. Auf Länderebene könne er sich eine Koalition mit den Linken vorstellen. Pflug gehört dem „Seeheimer Kreis“ in der SPD an, den eher Konservativen – jenem Zirkel von Gerhard-Schröder-Fans, Premium-Biertrinkern und Mittelklasse-Autofahrern, die zu den treuesten Unterstützern des Berliner Reformkurses der letzten Jahre zählen. „Wir müssen weiter Agenda 2010 machen – aber sozial flankiert“, sagt Pflug. Auf gar keinen Fall dürfe die SPD „die Linke links überholen“.
Die SPD sollte nicht wieder die „altsoziale“ Richtung einschlagen, sondern müsse mit einer „neuen Gerechtigkeitsphilosophie“ auf „Mitte-Kurs“ bleiben, sagt auch der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen. Die Kehrtwende der NRW-SPD hin zu einem neuen Umgang mit der Linken hält er dennoch für richtig. „Es ist besser, offensiv mit der Linken umzugehen“, sagt Korte.
Inhaltlich einigen könnten sich die von Kraft auf einen vorsichtig anti-neoliberalen Kurs festgelegte SPD, die Hartz-kritischen NRW-Grünen und die Linke wohl auf ein Minimalprogramm: Gemeinschaftsschule, Stopp der Privatisierungen und andere Revisionen der Rüttgers-Politik.
Doch der Weg bis dahin ist noch weit: „Die Linkspartei existiert auf Landesebene de facto gar nicht“, sagt die grüne Landesvorsitzende Daniela Schneckenburger. Obwohl im Moment ein „kleiner Hype“ um die Linke entstanden sei, sei es viel zu früh, um über mögliche Kooperationen nachzudenken. „Noch wissen wir gar nicht, wie sich die Linke Politik im Land vorstellt. Und wenn sie konkret wird, kommen dabei rückständige Positionen wie in der Kohlepolitik heraus“, sagte Schneckenburger der taz. Auch der frühere Grünen-Chef und heutige EU-Abgeordnete Frithjof Schmidt will „jetzt nicht über 2010 spekulieren“, sondern mit der Linken „politisch streiten“. Noch glaubt er nicht an einen Landtagseinzug der Ex-PDS. „Die Linke ist nur in den Ballungsräumen an Rhein und Ruhr stärker als fünf Prozent – nicht in der Provinz“, sagt der Grünlinke Schmidt.
Die amtierende schwarz-gelbe Regierung reagierte gestern nicht auf Kraft und die Perspektive einer roten Morgenröte. Die CDU schickte ihren Nachwuchs vor. Junge-Union-Chef Sven Volmering attackierte Hannelore Kraft als „machtgierige und geschichtsvergessene Politikerin, die nicht von einem ernsthaften Flirt mit einer linksextremistischen Partei zurückschreckt“.
Der Politologe Karl-Rudolf Korte warnt die CDU, den Gegner zu unterschätzen: „Jürgen Rüttgers hat überhaupt keine strukturelle Mehrheit in NRW – genauso wenig wie die SPD.“ | KLAUS JANSEN / MARTIN TEIGELER | NRW-SPD-Chefin Kraft schließt eine Koalition mit der Linkspartei nach der Landtagswahl 2010 nicht mehr aus. SPDler begrüßen die Kehrtwende – doch die NRW-Grünen sind skeptisch | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,180 |
Kolumne Wir retten die Welt: David gegen Kohliath - taz.de | Kolumne Wir retten die Welt: David gegen Kohliath
Jetzt jammern VW, RWE und Konsorten, sie würden von der Öko-Stimmung diffamiert und bedrängt. In Wahrheit haben sie immer noch die Macht.
Mit Trump-Slogans für die Braunkohle: Demo in Elsdorf Foto: dpa
Wieder einmal ist Deutscher Herbst. Und man hat den Eindruck: Terror überzieht das Land. In einem „Feldzug gegen das Auto“ (VW-Chef Diess) sollen die Hersteller vernichtet werden. Große Unternehmen werden als „Betrüger“ und „Dreckschleudern“ diffamiert.
Beschäftigte in der Braunkohle fühlen sich an den Grubenrand gedrängt, weil in 20 Jahren ihre Jobs verschwinden. Chemiefirmen wandern aus, wenn sie weniger Plastikmüll produzieren sollen. Und die Agrarindustrie zieht den Schwanz ein, weil sie Ferkel bald nicht mehr ohne Betäubung kastrieren darf.
Leben wir schon unter der Öko-Diktatur?
Hahaha.
Da macht sich Kohliath zum David. Die Reichen und Einflussreichen stilisieren sich zu Opfern. Nur zur Erinnerung: Die Deutsche Umwelthilfe, die Politik und Autoindustrie vor den Gerichten blamiert, hatte 2017 ein Budget von 8 Millionen Euro. Daimler schafft das als Gewinn vor Steuern in zwei Arbeitsstunden.
Reiche und Einflussreiche gefallen sich als Opfer
Die Hambacher AktivistInnen hatten nur ihre Baumhütten – ihnen gegenüber steht RWE mit 2 Milliarden Reingewinn 2017. Wenn die Autoindustrie ein Problem hat, ruft sie im Kanzleramt an. Wenn die Kohle Schutzpatrone braucht, schickt sie drei Ministerpräsidenten vor, um mal eben 60 Milliarden Euro zu fordern. Mindestens.
Und diese wirklich große Koalition aus politischer und wirtschaftlicher Macht maskiert sich als Underdog. Sie hat es geschafft, dass die CO2-Emissionen nicht sinken, dass weiter dreckige Diesel auf die Straße kommen und dass der Steuerzahler jedes Jahr 50 Milliarden für die Zerstörung der Umwelt ausgibt. Und dass sich darüber außer mir keiner aufregt.
Dieses Machtgefälle zwischen hilflosen Ökos und fast allmächtiger Politik/Wirtschaft wird nun gedreht: Erst mal sollen die Umweltverbände sich um Jobs kümmern, ehe sie die Welt retten. Ganz falsch. Umweltverbände sollen für die Umwelt kämpfen, weil die sonst keine Stimme hat. So wie Gewerkschaften für Jobs streiten. Den Ausgleich dazwischen muss gefälligst die Politik schaffen.
Wer Umweltschützer zu Gewerkschaften macht, der betreibt die Herrschaftspolitik der Konzerne. Warum dreht niemand den Spieß um? Und verlangt von den Gewerkschaften (Motto: „Es gibt keine Jobs auf einem toten Planeten“) einen realistischen Plan zur Verhinderung des Klimawandels? Daran könnte sich die Bergbau-Gewerkschaft IG BCE mal versuchen. Dann würde sie zu Recht die Sympathien ernten, die David gegen Goliath zufliegen. | Bernhard Pötter | Jetzt jammern VW, RWE und Konsorten, sie würden von der Öko-Stimmung diffamiert und bedrängt. In Wahrheit haben sie immer noch die Macht. | [
"Kohlekommission",
"Hambacher Forst",
"Ökologie",
"Öko",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,202 |
Internetradio BLN.FM: „Die größte Musikredaktion Berlins“ - taz.de | Internetradio BLN.FM: „Die größte Musikredaktion Berlins“
Vor sieben Jahren hat Tim Thaler das Internetradio BLN.FM gegründet. Jetzt ist der Sender auf das RAW-Gelände gezogen und will mit neuen Sendungen durchstarten.
Das Radio bringt auch Musik aus dem Internet Foto: dpa
taz: Herr Thaler, als wir uns vor fast vier Jahren das letzte Mal sahen, haben wir uns in einer Parterrewohnung in Mitte getroffen, wo BLN.FM seinen Sitz hatte. Jetzt sitzen wir in einem Café in Friedrichshain. Warum?
Tim Thaler: Das ist die ganz normale Story: Das Haus, in dem wir bis vor Kurzem waren, wurde verkauft und kernsaniert. Es war wirklich eine Bruchbude. Unsere Gäste haben immer so schön gesagt: „That’s real underground!“
Jetzt ist Schluss mit real underground?
Nur räumlich (lacht). Wir sind jetzt auf dem RAW-Gelände und dort im „Beamtenwohnhaus“ direkt an der Revaler Straße Ecke Warschauer Straße. Ich finde das Gelände super, und es ist für uns megawichtig, weil viele Kooperationspartner, Clubs, DJs und Künstler genau hier sind.
Sie jetzt auch. Wie kam das?
Es gab den glücklichen Umstand, dass uns jemand an Lauritz Kurth von der Kurth-Immobiliengruppe vermittelt hat. Ihr gehört seit letztem Jahr der 52.000 Quadratmeter große Westteil des RAW-Geländes. Lauritz Kurth und ich haben über die Vertragsmodalitäten zwei Abende diskutiert. Er ist uns sehr entgegengekommen.
Das heißt?
Alles ist größer, schöner und deutlich billiger als zuvor – besser kann es nicht sein! Wir zahlen jetzt pro Monat etwas mehr als die Hälfte dessen, was wir zuvor in Mitte bezahlt haben, und das für den doppelten Platz.
im Interview:Vor 40 Jahren im westfälischen Münster geboren, zieht es ihn 2000 nach Berlin, wo er zunächst bei einer Versicherung arbeitet. Nebenbei gründet er mit zwei Freunden eine Webdesign-agentur, aus der auch ein Internetradio entsteht. 2009 startet Thaler gemeinsam mit seinem Mann BLN.FM und ist seitdem Chefredakteur des Senders. Außerdem arbeitet er als Dozent für Journalismus, angewandtes Medienrecht und Sprecherziehung an mehreren privaten und öffentlichen Hochschulen in ganz Deutschland und berät Firmen im Umgang mit Medien. (kwb)
Zu dem Preis waren die Räume aber nicht bezugsfertig, oder?
Alles, was nicht Strom, Gas und Mauerwerk ist, mussten wir selber machen: Türen abschleifen, Riesenlöcher in der Wand verspachteln und unfassbare Mengen Gerümpel und Schrott da rausschaffen. Wir haben nicht zuletzt ein komplett neues Studio gebaut. Sechs Leute haben sich drei Monate lang jede freie Minute damit um die Ohren geschlagen.
Klingt anstrengend.
Anstrengend – the fuck ja! Wir gaben einige tausend Euro aus, die wir zusammengekratzt hatten.
Nun sind weder die Investorenfamilie Kurth noch deren Pläne für das RAW-Gelände unumstritten.
Ich kenne die Entwicklungspläne, sowohl für die kulturelle Seite als auch den Rest des Geländes. Natürlich haben die Kurths auch Gewinnoptimierungsgedanken. Aber die kooperativen Gedanken, die sie haben, zwischen Sozialem, Kultur und ganz klassisch kapitalistischen Firmen, finde ich unglaublich faszinierend, weil sie damit ein Stück Geschichte schreiben können in Berlin. Und davon ein Teil zu sein, finde ich mega!
Wird sich BLN.FM in der neuen Umgebung verändern?
Mein Mann arbeitet mit einem kleinen Team am Relaunch der Webseite. Auch im Programm wird sich was ändern: wir haben ein neues Moderatoren-Team, und wir werden eine größere Live-Strecke als je zuvor anbieten: vier Stunden am Tag! Diesen Weg – also mehr Tagesaktualität – sind wir aber auch schon vorher gegangen. Außerdem haben wir eine technische Innovation entwickelt, die ein total tolles Nachtprogramm bieten wird für Freitag, Samstag und Sonntag. Gerade für Leute, die neu in Berlin sind.
Was genau?
„Club-Roulette“ lautet bislang der Arbeitstitel, und mit dem können wir alle mitarbeitenden Clubs auf eine sehr schöne, eigene Art live abbilden. Wir versuchen, für diese technische Neuerung noch Fördermittel zu beantragen. Aber selbst, wenn uns die verwehrt werden, werden wir das Ding realisieren können. Dann machen wir es nicht mit zehn Clubs, sondern mit zweien.
Wann soll es starten?
Zum Herbst oder Winter, wenn auch die Clubs drinnen wieder mehr Programm fahren. Fünf Clubs haben wir die Idee schon vorgestellt, und die fanden es alle gut.
BLN.FMBLN.FM spielt elektronische Musik in allen Spielarten, 24 Stunden am Tag: von House über Dubstep bis hin zu Minimal und noch schwerer Verdaulichem. Trotz „FM“ im Namen ist der Sender nur im Internet zu empfangen: www.bln.fmGestartet ist der Sender 2009 im Ausblutungskeller einer ehemaligen Fleischerei – mit etwa 20 Hörern am Tag.Nach zwei Umzügen landete BLN.FM schließlich 2011 in einer Parterrewohnung in Mitte. Die Hörerzahlen stiegen auf 8.000 bis 10.000 am Tag, bevor der Sender Ende Januar heimatlos wurde. Seit Februar läuft ein Notprogramm.Um in Zukunft freitags und samstags DJ-Sets live aus dem neuen Studio senden zu können, startet BLN.FM nun eine Crowdfunding-Kampagne. Auf www.visionbakery.com/blnfm wollen Tim Thaler und seine Mitstreiter*innen 3.000 bis 5.000 Euro einsammeln, um die nötige Technik kaufen zu können. (kwb)
Derzeit laufen nur Musik und Jingles im Wechsel. Warum?
Es gab zwei Wege für den Umzug: Entweder, wir ziehen den Stecker, machen zehn Minuten Notprogramm, gehen woanders hin, stecken den Stecker wieder rein und fangen an, von der Baustelle zu senden. Das haben wir zwei-, dreimal vorher gemacht. Aber das ist zu stressig. Wir wollten es richtig machen. Ursprünglich haben wir kalkuliert: Wir brauchen eineinhalb Monate. Dann hab ich gesagt, machen wir daraus gleich drei. Jetzt sind es vier geworden. Aber wir wussten: Wir brauchen ewig lang, und in der Zeit werden wir den Bach runtergehen.
Hat sich das bewahrheitet?
Wir haben zurzeit vielleicht noch 400 Hörer pro Tag – zu Hoch-Zeiten hatten wir zwischen 8.000 und 10.000. Ich glaube, mit der Meldung: „Wir sind wieder da“ werden wir relativ schnell wieder sichtbar sein.
Und mehr Hörer*innen haben als je zuvor?
Ich habe BLN.FM nie so gesehen, dass wir sagen: Wir lösen jetzt radioeins oder so was ab und überholen die, weil wir mehr Hörer haben. Wir sehen uns überhaupt nicht als Konkurrenten. Lieber erreiche ich 15.000 Leute jeden Tag, die sagen: BLN.FM ist meine Marke from the heart, als 300.000 Menschen, die sagen: ich hör BLN.FM, aber wenn’s mir nicht gefällt, gehe ich ganz schnell zu einem anderen Sender.
Wie groß ist denn das Team?
Derzeit sind es knapp 50 Leute. Wir waren mal bei 140, die haben aber alle nur immer mal wieder was gemacht. Dadurch, dass wir die Tagesaktualität im Vordergrund haben wollen, gibt es jetzt eine feste Tagesmannschaft mit fünf Leuten: vier Praktikanten, die Leistungspunkte für ihr Uni-Pflichtpraktikum bekommen, aber keine finanzielle Entlohnung. Dazu kommen mein Mann oder ich als Chefredakteur.
Wie sieht ein normaler Tag bei Ihnen aus?
Morgens um 7.30 Uhr haben wir die erste Redaktionssitzung per Skype, dann stehen bis 8 Uhr die Themen. Zu 10 Uhr kommen alle ins Büro, dort werden Leute für Interviews angefragt, erste Artikel für unsere Webseite geschrieben, erste Tweets und Facebook-Posts gehen raus – wir arbeiten crossmedial. Abends um 18 Uhr geht die Büro-Mannschaft nach Hause, meist gibt es danach noch jemand, der entweder eine Livesendung fährt oder eine Sendung aufzeichnet, sodass 22 Uhr die Hütte wirklich leer ist. An Wochenenden verschiebt sich das alles ein bisschen nach hinten, bis das Bier alle ist.
Wie finanzieren Sie das Ganze?
Ich bin es ehrlich gesagt müde geworden, BLN.FM erklären zu müssen wie so ein stinkendes Stück Fisch. Die Strategie, BLN.FM aus einem Dreiklang von Werbung, Mitgliedsbeiträgen des hinter dem Projekt stehenden gemeinnützigen Vereins und Fördergeldern vom Senat oder der Stadt zu finanzieren, ist nicht aufgegangen. Entweder, die Leute spenden 5 Euro Mitgliedsbeitrag im Monat oder lassen es bleiben. Wir haben inzwischen gelernt, auch ohne diese 5 Euro klarzukommen.
Zum Beispiel durch Werbung?
Ich scheue mich nicht davor, Werbung zu platzieren. Ich hab auch überhaupt kein Problem damit, für 10.000 Euro den Player in Zukunft einen Monat lang in die Farben der Telekom zu packen und einmal die Stunde zu sagen: Die Telekom ermöglicht uns den Sendebetrieb. Aber: Wir betreiben sauberen Journalismus – wenn Werbung drin ist, steht Werbung drüber. Native Advertising oder Sponsored Posts gibt es bei uns nicht – dann mach ich den Scheiß lieber selber.
Wenn es keine Werbung gibt und auch sonst kein Geld reinkommt, werden Sie Ihr Team nie bezahlen können.
Nach klassischen Maßstäben eines UKW-Radiosenders: nein – auch mit Werbung, denn Werbekunden geben für online einfach weniger Geld aus. Wenn wir irgendwann tatsächlich den Fall haben sollten, dass wir am Ende des Jahres 10.000 Euro übrig haben, kann ich Ihnen garantieren, dass das ganze Team sagt: dann schmeißen wir davon lieber eine Party, laden 200 Leute for free in einen Club ein und feiern mit unseren Hörern zusammen. Zu sagen, wir teilen dieses Geld jetzt auf und geben jedem 300 Euro als Obolus – das ist nicht der Spirit von BLN.FM.
Womit können Sie denn Mitarbeiter*innen locken, wenn schon nicht mit Geld?
Mit Ausbildung. Ein großer deutscher Radiosender für elektronische Musik – nicht aus Berlin – bemüht sich gerade um eine Sendelizenz in der Stadt. Da bin ich beispielsweise mit für das Casting der Moderatoren verantwortlich – und dafür suche ich natürlich vorzugsweise im BLN.FM-Team.
Noch ein neuer Sender für Electro! Haben Sie da keine Angst?
Es gibt in Berlin mehr als 120 Radiosender. Davon machen bestimmt 20 elektronische Musik: Seien es Pure FM, Dance FM, Gay FM oder Sunshine live, um ein paar zu nennen. Ohne die schlecht reden zu wollen: Ich sehe die nicht als Konkurrenz, denn sie spielen nur eine Hot Rotation der klassischen Großraum-Rave-Tracks. Wir haben mit neun Leuten die größte Musikredaktion in Berlin, so was hat kein anderer Radiosender mehr. Die Redaktion hört jede Woche bis zu 5.000 Tracks durch. Wir liegen in einigen Veröffentlichungen vor der BBC und bilden ein viel größeres musikalischen Spektrum ab: von Experimental über Drone, Instrumental, Hip Hop, bis zu Noise, Techno natürlich, oder Pop, wo Elektronik mit drin ist. Wir haben nie die Situation, dass ein Lied innerhalb desselben Tages zweimal läuft. Wir haben bis zu 250 Lieder, die wir jede Woche neu in die Rotation nehmen. Das unterscheidet uns deutlich. | Klaas-Wilhelm Brandenburg | Vor sieben Jahren hat Tim Thaler das Internetradio BLN.FM gegründet. Jetzt ist der Sender auf das RAW-Gelände gezogen und will mit neuen Sendungen durchstarten. | [
"elektronische Musik",
"Sender",
"Berlin",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,237 |
Durchfallmittel gegen Kater: Denkt an die Elektrolyte! - taz.de | Durchfallmittel gegen Kater: Denkt an die Elektrolyte!
InfluencerInnen hypen Elotrans als Wunderwaffe gegen Kater. Fast überall ist es ausverkauft. Der Apotheker unseres Autors hat vorgesorgt.
Hilft auch gegen Kater: Elotrans Foto: Gottfried Czepluch/imago
Je älter man wird, desto schlimmer der Kater. Deshalb gilt: Jeder Absturz muss gut vorbereitet sein. Bevor ich also neulich zum Festival – das sogar zwei Tage Absturz hintereinander bedeutete – fuhr, wollte ich meine Elotrans-Vorräte auffüllen.
Elotrans ist eine Elektrolytlösung in Pulverform, die eigentlich dafür gedacht ist, die Folgen von Durchfallerkrankungen zu mildern. Doch es hilft auch gegen die Folgen von Alkoholkonsum. Schon in Sven Regeners „Herr Lehmann“ heißt es wohlweislich: „Die Dehydrierung ist der größte Feind des Trinkers. Denkt an die Elektrolyte!“
Bereits im vergangenen Jahr gab es erste euphorische Amazon-Bewertungen zu Elotrans: „Ein Geschenk des Himmels“, „Magischer Feenstaub gegen Horrorkater“, „Elotrans hat mein Leben verändert“. Seit dem Frühsommer sind dann auch InfluencerInnen bei Tiktok aufgesprungen. Vor dem Schlafengehen eine Tüte Elotrans, und der Morgen wird glänzend.
Es dauerte nicht lange und die Apotheken im Land schlugen Alarm. Ausverkauft! Lieferschwierigkeiten! Denkt denn niemand an die Kinder? Also die, die wirklich Durchfall haben und Elotrans brauchen?
Die Formel
Die Deutsche Apotheker Zeitung erklärte kürzlich ApothekerInnen, wie die entsprechende Pulvermischung als Rezeptur selbst hergestellt werden kann. Mein Apotheker ist wohl kein Abonnent dieser Zeitung, jedenfalls hatte er weder Elotrans, noch eine selbstgemachte Alternative. Aber er hatte einen Stapel mit selbst ausgedruckten Zetteln.
taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auf denen war genau erklärt, wie man eine Elotrans-ähnliche Elektrolytlösung selbst zubereiten kann: „Auf einen Liter Trinkwasser acht Teelöffel (Trauben)Zucker, einen gestrichenen Teelöffel Kochsalz (NaCl) und drei Viertel Teelöffel Backpulver (NaHCO3) sowie etwas Fruchtsaft.“
Magisch klingt das nicht.
War mir dann auch zu viel Aufwand. Das Festival habe ich auch ohne Elotrans überstanden. Immerhin hatte mein Apotheker eine Großpackung Ibuprofen. | Paul Wrusch | InfluencerInnen hypen Elotrans als Wunderwaffe gegen Kater. Fast überall ist es ausverkauft. Der Apotheker unseres Autors hat vorgesorgt. | [
"Kater",
"Alkohol",
"Medikamente",
"Alltag",
"Gesellschaft",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,246 |
Berliner Open-Air-Krise: Regenromantik statt lauer Sommernacht - taz.de | Berliner Open-Air-Krise: Regenromantik statt lauer Sommernacht
Für Freiluftkinos, Biergärten und Freibäder ist die Saison durch den verregneten Sommer bislang ziemlich mau. Nun hoffen die Veranstalter auf den Spätsommerboom und ein regenresistentes Publikum
Kino unter freiem Himmel ist ein schönes Erlebnis Bild: AP
Der Sommer 2009 ist für Freiluftveranstalter bislang ein ziemlicher Reinfall. Schon seit Wochen scheint das Wetter mitten im April festzustecken: Sonne und Regen wechseln sich unvorhersehbar ab. Entsprechend mau gestaltet sich die Umsatzentwicklung in den Open-Air-Betrieben, denn die Freizeitgestaltung der Berliner wird sicherheitshalber regensicher geplant. Und bislang ist nur vorhersehbar, dass man immer nass werden kann. Klar, abgerechnet wird zum Schluss, ein heißer August kann die Umsätze stabilisieren. Bis jetzt aber ist dieser Sommer für die Freiluftbranche ein Verlustgeschäft.
Das Open-Air-Kino in der Hasenheide etwa berichtet von "starken Umsatzeinbußen, die in diesem Jahr nicht mehr einzuholen sind". Die Betreiberin Arslan Nerthus erklärt ihre Misere: "Unsere Besucherzahlen sind genauso schwankend wie das Wetter." Drei Vorstellungen seien in dieser Saison, die am 1. Mai begonnen hat, schon komplett ausgefallen - weil einfach keiner da war. Obwohl der Grundsatz eines jeden Freiluftkinoveranstalters lautet: Film ab bei jedem Wetter.
Auch die Berliner Bäder-Betriebe (BBB) melden in diesem Sommer ein "gutes Drittel weniger Besucher und Einnahmen" als üblich. "Tragisch" ist die Wettersituation laut Matthias Oloew, Sprecher der BBB. Stammkunden würden zwar kommen, sie böten aber keinen Ersatz zum normalen Sommerbetrieb. Er hofft nun, in den verbleibenden Sommerferien die Verluste wenigstens einzudämmen - einzuholen seien sie kaum noch, meint Oloew. Als Reaktion auf den launischen Sommer würden auch einige Hallenbäder wieder öffnen, etwa das Freizeitbad am Spreewaldplatz oder die Schwimmhalle an der Landsberger Allee.
Auch andere Open-Air-Kinobetreiber bestätigen einen Umsatzeinbruch, versuchen dem Wetter aber zu trotzen. Alle Kinos bieten einmal benutzbare Regencapes oder -schirme an. Und oft würde es ja auch gar nicht regnen, obwohl der Wetterbericht dies angekündigt hat, findet Arne Höhne, Sprecher vom Freiluftkino Friedrichshain, Kreuzberg und Rehberge. "Die prognostizierte Wetterlage sollte Berliner nicht davon abhalten, ihren Abend in einem Freiluftkino zu planen." Auch für Nerthus vom Open-Air-Kino in der Hasenheide ist eine Filmvorführung im Gewitterambiente "ein geniales Erlebnis".
Auch Mario Kross, Geschäftsführer des Sommerbiergartens "Burg am See" in Kreuzberg, preist das Ambiente seiner Lokalität bei Regen. Ein Gewitter gar habe doch einen "besonderen Charme". Es sei doch auch ein "Hauch von Luxus", einen so großen Biergarten für sich allein zu haben.
Das hört sich zwar verführerisch an, verfolgt allerdings nicht den Zweck eines Biergartens. Auch über die "erheblichen Probleme bei der Personaldisponierung und beim Einkauf" hilft es nicht hinweg, bestätigt Kross. Einzig bei den Wasserkosten für seine Begrünung könne er dieses Jahr fast 80 Prozent einsparen. Wirklich helfen würde aber nur "eine weitere Klimaverschiebung", scherzt er. Denn die "Saison ist fast gelaufen". Ein Regenprogramm möchte er auch nicht veranstalten, selbst "auf Regen ist kein Verlass".
Thorsten Frehse dagegen sitzt im Trocknen. Er betreibt unter anderem das "Lichtblick Kino" im Prenzlauer Berg. Für ihn kennt ein "gutes Kinoprogramm keine Einbrüche". Gleichzeitig räumt er ein, dass die Situation für Open-Air-Betreiber "krass" sei. Ein bisschen sieht er allerdings in Berlin auch die Maßstäbe verschoben. "In anderen Städten beginnt die Saison Mitte Juli", sagt Frehse. Vor allem aber stehe der diesjährige Besucherverlust in keinem Verhältnis zu dem während der Weltmeisterschaft 2006. Da sei überhaupt niemand in irgendein Kino gegangen. | Tilla Masberg | Für Freiluftkinos, Biergärten und Freibäder ist die Saison durch den verregneten Sommer bislang ziemlich mau. Nun hoffen die Veranstalter auf den Spätsommerboom und ein regenresistentes Publikum | [
"Berlin",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,250 |
Kommentar Ölembargo Iran: Der Junkie, der dem Dealer droht - taz.de | Kommentar Ölembargo Iran: Der Junkie, der dem Dealer droht
Ein Ölembargo gegen den Iran wird zuerst Europa schaden. Das überschüssige Öl kann der Iran an Indien, China und andere Abnehmer verkaufen.
Die EU will Stärke zeigen und mit dem Ölembargo Iran zum Kurswechsel seiner Atompolitik zwingen. Damit hat die EU die Lunte ans Pulverfass gelegt. Der Konflikt kann sich schnell verselbständigen und zu unberechenbaren Konsequenzen führen, die vor allem Europa schaden werden. Denn beim wichtigsten Rohstoff hat der alte Kontinent keine starke Position.
Das Embargo wird zu einem Zeitpunkt exekutiert, da der globale Ölmarkt den Höhepunkt seiner Förderung erreicht hat. Seit sechs Jahren stagniert die weltweite Produktion, der Ölpreis (Brent) notiert schon seit Monaten deutlich über 100 Dollar. 2011 war das teuerste Öljahr aller Zeiten und 2012 wird noch heftiger.
In dieser Situation ist der Versuch, den zweitgrößten Opec-Lieferanten mit einem Ölembargo in die Enge zu treiben, ein beinahe suizidales Spiel. Wehe, es schließen sich noch andere Länder dem Boykott an. Dann müssten auch sie ihr Öl woanders beziehen, der Markt geriete aus den Fugen. Dies ist der einzige Boykott, bei dem die Boykotteure panische Angst haben müssen, dass andere Länder aus Solidarität mitmachen könnten. Absurd!
Der Iran selbst will jetzt ebenfalls die Muskeln spielen lassen und einen Lieferstopp gegen Europa per "Notgesetz" beschließen. Das überschüssige Öl wird man - leicht rabattiert - an Indien, China und andere Abnehmer verkaufen. Gleichzeitig wird Teheran versuchen, die hochnervösen Ölmärkte zu hysterisieren, um den Ölpreis weiter hochzutreiben. Die New York Times prophezeit Anschläge in Saudi-Arabien durch getarnte schiitische Kommandos.
Auch die ständigen Drohgebärden in Richtung Straße von Hormus zeigen Wirkung. Dazu kommt die brenzlige Lage in Nigeria, ein anderer wackeliger Öl-Exporteur. Von dem steigenden Ölpreis wird Iran direkt profitieren und selbst mit deutlich weniger Exporten dieselben Einnahmen erzielen, während Europa draufzahlt. Der Junkie, der dem Dealer droht, hat schlechte Karten. | Manfred Kriener | Ein Ölembargo gegen den Iran wird zuerst Europa schaden. Das überschüssige Öl kann der Iran an Indien, China und andere Abnehmer verkaufen. | [
"Debatte",
"Gesellschaft",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | true | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,277 |
Schuldspruch gegen Glyphosat in USA: Bayer AG schwer erkrankt - taz.de | Schuldspruch gegen Glyphosat in USA: Bayer AG schwer erkrankt
Wird der Chemiekonzern zum Übernahmekandidaten? Bayer drohen Milliardenstrafen in Krebs-Prozessen wegen seines Pestizids.
Roundup mit dem Wirkstoff Glyphosat tötet Pflanzen – und Menschen? Foto: reuters
BERLIN taz | Die Schlinge um den Hals des Chemiekonzerns Bayer und seiner US-Tochterfirma Monsanto zieht sich weiter zu: Eine Jury des zuständigen Bundesbezirksgerichts in San Francisco befand am Dienstag, dass der Unkrautvernichter Roundup mit dem Wirkstoff Glyphosat ein „wesentlicher Faktor“ für die Krebserkrankung des Klägers Edwin Hardeman gewesen ist. Nun muss die Jury untersuchen, ob Monsanto haftbar ist, und gegebenenfalls eine Schadenersatzzahlung festlegen.
Die Entscheidung ist für Bayer ein schwerer Rückschlag, denn es handelte sich um das erste Musterverfahren wegen Roundup vor einem US-Bundesgericht. Der Vorsitzende Richter Vince Chhabria hatte den Prozess zu einem „bellwether case“ erklärt, also einem Fall, der repräsentativ ist für mehrere Hundert Verfahren, die bei dem Gericht gebündelt sind. Dieser Musterprozess könnte zudem die Richtung vorgeben für außergerichtliche Vergleiche.
Die Positionierung der Geschworenen ist auch deshalb bedeutend, weil sie bereits der zweite Schuldspruch über Glyphosat durch ein US-Gericht ist. Vergangenen August hatte eine Jury in Kalifornien Monsanto zu 289 Millionen Dollar Schadenersatz an einen krebskranken Mann verurteilt. Insgesamt haben in den USA mehr als 11.000 Menschen das Unternehmen wegen Glyphosat verklagt.
Das Thema ist nicht nur deshalb für die deutsche Politik relevant, weil Bayer ein deutscher Konzern mit 117.000 Arbeitsplätzen weltweit, davon 32.000 Stellen hierzulande, ist. Bayer drohen Milliardenkosten wegen der Prozesse. Außerdem stellen die Verfahren einen Großteil des Geschäftsmodells von Bayer in Frage: Laut Economist kamen zuletzt 70 Prozent des Monsanto-Betriebsgewinns von Produkten, die mit Glyphosat im Zusammenhang stehen.
Glyphosat ist das weltweit meistgebrauchte Pestizid
Das Mittel ist auch ein Politikum, weil es der weltweit meistverkaufte Pestizidwirkstoff und ein Symbol für die chemiegetriebene Landwirtschaft ist. Da ihn nun schon mehrere US-Gerichte für Krebserkrankungen verantwortlich gemacht haben, dürfte der Ruf nach einem Verbot in der Europäischen Union und in Deutschland lauter werden. Glyphosat ist auch aus Umweltsicht umstritten. Denn das Gift tötet so gut wie alle nicht gentechnisch veränderten Pflanzen und damit auch Nahrung für Vögel und Insekten.
Im aktuellen Prozess hatte Hardemans Anwältin Aimee Wagstaff gesagt, ihr Mandant sei dem Unkrautvernichter stark ausgesetzt gewesen, er habe das Mittel in einem Zeitraum von 26 Jahren mehr als 300 Mal auf seinem Grundstück in Kalifornien angewendet. Monsanto habe ihn nicht ausreichend vor Gefahren gewarnt. Studien an Nagetieren und Zellkulturen zeigten ein erhöhtes Krebsrisiko. Das gelte auch für Untersuchungen, die Menschen mit und ohne Glyphosat-Kontakt verglichen.
Der Ruf nach einem Verbot des Ackergifts in Deutschland dürfte lauter werden
Bayer-Anwalt Brian Stekloff dagegen erklärte, die Ursache von Hardemans Krankheit und der Krebsart Non-Hodgkin-Lymphom allgemein sei unbekannt. Bei Hardeman gebe es andere Risikofaktoren wie sein hohes Alter und eine Hepatitis-Erkrankung. Vom Kläger beauftragte Experten widersprachen dem jedoch.
Günstige Verfahrensbedingungen für Bayer
Als Erfolg für Bayer war gewertet worden, dass der Vorsitzende Richter dem Antrag des Konzerns stattgegeben hatte, das Verfahren in zwei Phasen aufzuteilen. Dadurch konnte der Kläger seine Vorwürfe, Monsanto habe versucht, Behörden und die öffentliche Meinung zu manipulieren, nicht schon am Anfang des Prozesses vorbringen. Über diese Vorwürfe soll erst in einer zweiten Phase verhandelt werden.
Günstig für Bayer war auch, dass der Richter der Jury untersagte, sich auf das wichtigste Argument der Glyphosat-Gegner zu berufen: die Publikation, in der die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation (Iarc) den Wirkstoff als „wahrscheinlich krebserregend“ kategorisierte. Allerdings durften die Geschworenen sich auch nicht auf die Bewertungen etwa der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit stützen, die ein Krebsrisiko für „unwahrscheinlich“ hält. Stattdessen sollten sie sich eine eigene Meinung aufgrund der im Prozess als Beweismittel zugelassenen Primärstudien und Aussagen von Experten bilden. Aber ausgerechnet der wichtigste Gutachter der Verteidigung, Christopher Portier, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Gerichtssaal kommen. Seine Aussage lag den Geschworenen nur als Videoaufzeichnung vor.
Umso überraschter waren die Bayer-Aktionäre ob des Schuldspruchs. Der Aktienkurs fiel am Mittwoch um rund 13 Prozent und steuerte auf den größten Tagesverlust seit 16 Jahren zu. Damit schrumpfte der Börsenwert des Leverkusener Konzerns um etwa 7,7 Milliarden Euro. Seit dem ersten Glyphosat-Urteil im August 2018 büßte Bayer knapp 30 Milliarden Euro ein. Analyst Markus Mayer von der Bank Baader Helvea sagte, die Wahrscheinlichkeit steige, dass Bayer diesen Prozess verlieren wird. Mit den Kursverlusten erhöhe sich zudem das Risiko, dass das Unternehmen ein Spielball von aktivistischen Investoren oder sogar ein Übernahmeziel werden könnte.
Bayer hält an Glyphosat fest
Bereits vor dem jetzigen Urteil war der Unmut vieler Aktionäre groß. So bezeichnete Christian Strenger, Gründungsmitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, den Kauf von Monsanto im vergangenen Jahr in einem dem Manager Magazin vorliegenden Brief unlängst als „den größten und schnellsten Wertvernichter der DAX-Geschichte“. Strenger fordert demnach, bei der Hauptversammlung am 26. April dem Konzernvorstand die Entlastung zu verweigern.
Das Unternehmen äußerte sich enttäuscht über die Entscheidung der Jury. Zulassungsbehörden weltweit hätten Glyphosat bei sachgemäßer Anwendung als sicher bewertet. Der Konzern sei zuversichtlich, „dass die Beweise in der zweiten Phase des Prozesses zeigen werden, dass Monsantos Verhalten angemessen war und das Unternehmen nicht für die Krebserkrankung von Herrn Hardeman haftbar gemacht werden sollte“.
Die Grünen dagegen forderten den Konzern zu einem Kurswechsel auf. „Bayer muss jetzt endlich selbst zur Aufklärung der wahren Glyphosat-Risiken und des Monsanto-Gemauschels bei Studien beitragen“, sagte Bioökonomiesprecher Harald Ebner. „Und die Bundesregierung muss endlich Ernst machen mit dem Glyphosat-Ausstieg, statt sogar noch neue Glyphosat-Produkte ohne Auflagen zuzulassen.“ | Jost Maurin | Wird der Chemiekonzern zum Übernahmekandidaten? Bayer drohen Milliardenstrafen in Krebs-Prozessen wegen seines Pestizids. | [
"Glyphosat",
"Ökologie",
"Öko",
"Schwerpunkt",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,283 |
Kaplan soll abgeschoben werden - taz.de | Kaplan soll abgeschoben werden
Das hatte die CSU zur Bedingung ihrer Zustimmung zum Sicherheitspaket II gemacht. Voraussetzung: Die Türkei soll „verbindlich“ zusichern, dass weder Folter noch Todesstrafe droht. Kaplans Schwippschwager wieder auf freiem Fuß
von P. BEUCKER und J. GODDAR
Die Bundesregierung will den islamischen Extremisten Metin Kaplan nach seiner Haftentlassung in die Türkei abschieben. Dafür müsse die türkische Regierung allerdings noch völkerrechtlich verbindlich zusichern, dass dem selbst ernannten „Kalifen von Köln“ weder Folter noch Todesstrafe droht, sagte der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Rainer Lingenthal, am Mittwoch in Berlin. Kaplan ist in seinem Heimatland Türkei des Hochverrats angeklagt, auf den dort die Todesstrafe steht.
Mit der Ankündigung der Abschiebung reagiert die Bundesregierung auf die Bedingung, die die CSU an eine Zustimmung zum „Sicherheitspaket II“ geknüpft hatte. CSU-Chef Edmund Stoiber hatte als „erste Nagelprobe“ bezeichnet, dass der selbst ernannte Kalif von Köln und die 1.100 Mitglieder seines so genannten Kalifatsstaats mit Hilfe des neuen Rechts ausgewiesen werden können. Metin Kaplan verbüßt eine vierjährige Haftstrafe und genoss bisher politisches Asyl, weil ihm in der Türkei die Todesstrafe droht.
Unterdessen ist der auf dem Frankfurter Flughafen festgenommene Schwippschwager Kaplans, Harun Aydin, wieder auf freiem Fuß. Der Bundesgerichtshof hob den Haftbefehl gegen den 29-jährigen Medizinstudenten auf Antrag der Bundesanwaltschaft wieder auf. Der dringende Tatverdacht habe sich nicht bestätigt, teilte eine Sprecherin mit. Der Anwalt Aydins, Michael Murat Sertsöz, hatte geltend gemacht, sein Mandant sei zum einen Opfer einer Verwechslung von Gepäckstücken geworden.
So gehörten ihm weder der sichergestellte Tarnanzug, die Sturmmaske noch der angebliche ABC-Schutzanzug. „Der ist ohnehin nur ein Regencape“, so Sertsöz. Zum anderen sei der gefundene Flakon mit einer quecksilberartigen Flüssigkeit, die nach Ansicht der Bundesanwaltschaft zur Herstellung eines Zündmechanismus eines Sprengkörpers gebraucht werden kann, nur ein harmloser Talisman aus der Türkei. Bei dem Abschiedsbrief handle es sich um einen Liebesbrief.
„Die Indizienkette ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen“, sagte Sertsöz der taz. Allerdings ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen den deutschen Staatsbürger weiterhin wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Noch nicht endgültig ausgewertet sind zudem die auf einem Laptop Aydins und zwei CD-ROMs enthaltenen Daten. Auf einer der CD-ROMs sollen sich angeblich Anweisungen für den „heiligen Krieg“ befinden. Laut Sertsöz geht es jedoch dabei um den Tschetschenienkrieg. Das Material stammt von der inzwischen gesperrten radikal-islamischen Internet-Seite www.qoqaz.de. | P. BEUCKER / J. GODDAR | Das hatte die CSU zur Bedingung ihrer Zustimmung zum Sicherheitspaket II gemacht. Voraussetzung: Die Türkei soll „verbindlich“ zusichern, dass weder Folter noch Todesstrafe droht. Kaplans Schwippschwager wieder auf freiem Fuß | [
"Archiv",
"Archiv",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,285 |
Ehrenamtliches Engagement: Der German Doctor in Nairobi - taz.de | Ehrenamtliches Engagement: Der German Doctor in Nairobi
Der Berliner Arzt Rolf Krispin verbringt regelmäßig seinen Jahresurlaub in Kenia. In den Slums der Hauptstadt leistet er medizinische Basisarbeit
Rolf Krispin ist ein German Doctor. Nicht hier im Berliner Ärzteforum im Stadtteil Wedding, wo weiß getünchte Wände und schwarze Flachbildschirme die Kulisse einer deutschen Arztpraxis bilden. German Doctor wird der 63-Jährige nur in Kenias Hauptstadt Nairobi genannt. Dort, in den Slums der Millionenstadt, wo eine Wellblechhütte ein Haus und Hygiene ein Fremdwort ist, verbringt Krispin regelmäßig seinen Jahresurlaub. Im Frühjahr 2009 wird der 63-jährige Allgemeinarzt zum vierten Mal dorthin zurückkehren. "Ich werde gebraucht, also fahre ich hin", sagt Krispin leise am Tisch eines Sprechzimmers, während sich der Berliner Verkehr vor den Fenstern geräuschvoll vorbeiwälzt.
In Nairobi sind die German Doctors nach 25 Jahren Arbeit fast zu einer Institution geworden. Selbst Menschen mit Geld suchen die deutschen Ärzte auf, die von der Hilfsorganisation Ärzte für die Dritte Welt für jeweils sechs Wochen in die ärmsten Gegenden der Welt entsandt werden. Die humanitäre Hilfsorganisation hilft jedoch nur denen, die sich keinen Arztbesuch leisten können. Wer genügend Geld hat, wird zu den einheimischen Ärzten der Stadt geschickt. 2.300 deutsche Mediziner verbrachten seit Gründung von Ärzte für die Dritte Welt schon ihren Jahresurlaub in Großstadtslums und Elendsgebieten. Weil viele Ärzte, wie der Berliner Rolf Krispin, Jahr für Jahr zurückkehren, konnte der Verein bereits 4.500 Einsätze realisieren.
Die Mittel, mit denen die German Doctors in den Slums dieser Welt den Kampf gegen Krankheiten führen, sind beschränkt. Krispin wuchtet mit zwei Händen die Rote Liste - das Verzeichnis der in Deutschland zugelassenen Medikamente - auf den Sprechzimmertisch. Lächerlich klein wirken daneben zwei Seiten mit Medikamentennamen, die der Berliner Arzt in Nairobi verschreibt. "Man braucht nicht tausend verschiedene Mittel, um Krankheiten zu bekämpfen", sagt er mit Blick auf den roten Wälzer. Basismedizinische Hilfe ist schon mit wenigen Medikamenten möglich.
Eine weitere Erkenntnis nach insgesamt 30 Wochen Nairobi: Der deutsche Alltag ist banal. Rolf Krispin erzählt mit ruhiger Stimme. Seine Hände hat er um den Oberkörper verschränkt. Der 63-Jährige spricht über Deutschland, wo im Fernsehen Stars und Sternchen ihren Reichtum wie einen Gottesdienst zelebrieren und alle zuschauen. Er wird laut, hebt seine Hand und sagt: "Diesen Gegensatz in Nairobi zu sehen tut mir weh."
In Berlin kümmert sich Rolf Krispin seit wenigen Jahren nur noch um Aids- und Krebspatienten, die er für das Ärzteforum Wedding in ihren Wohnungen besucht. "Problemchen" nennt er heute die Krankheiten, mit denen viele Patienten seine ehemalige Praxis bevölkerten. Im Jahre 2000 gab er sie krankheitsbedingt auf. Auch für die Ungeduld vieler Patienten hat der German Doctor nur noch ein müdes Lächeln übrig. Kam Krispin in Nairobi am Morgen zur Praxis im Slum, warteten oft bis zu dreihundert Menschen vor der Tür.
Doch so bereitwillig wie Rolf Krispin gehen nur wenige seiner Kollegen für die deutsche Hilfsorganisation in ein Dritte-Welt-Land. Der Einsatz ist unbezahlt, der medizinische Alltag selbst für einen Arzt schockierend: Babys mit Herzfehlern müssen unausweichlich sterben, die Aids-Rate ist mit 40 Prozent in schwindelerregender Höhe, und die Hautkrankheiten im Slum entstellen Menschen oft vollständig. 3,7 Millionen Euro bringt die Hilfsorganisation Ärzte für die Dritte Welt jährlich für Medikamente und Infrastruktur auf. Dabei kann die Arbeit die Not in den Slums und Elendsviertel nur lindern, nicht beseitigen.
Einen Vorteil bietet die Hilfsorganisation den Ärzten aber auch. Mediziner wie Rolf Krispin wollen helfen, Deutschland jedoch nicht gleich für mehrere Jahre den Rücken kehren. In sechs Wochen kann ein Arzt ebenfalls viel bewirken. Und auch wenn die Arbeit der Ärzte einem Kampf gegen Windmühlen gleicht - die Lebenseinstellung des Berliners ist heute eine andere. Rolf Krispin, der German Doctor, blickt durch das Sprechzimmer mit den schwarzen Flachbildschirmen und den weißen Wänden und sagt: "Der Blick auf das Leben verändert sich." Im Verkehr vor dem Fenster findet gerade wieder ein Hupkonzert statt. | Hannes Vollmuth | Der Berliner Arzt Rolf Krispin verbringt regelmäßig seinen Jahresurlaub in Kenia. In den Slums der Hauptstadt leistet er medizinische Basisarbeit | [
"Berlin",
"Nachrichten",
"News",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,302 |
Prozess gegen russischen Oppositionellen: Nawalny muss nicht ins Gefängnis - taz.de | Prozess gegen russischen Oppositionellen: Nawalny muss nicht ins Gefängnis
Bewährungsstrafe statt fünf Jahre Haft: Ein russisches Berufungsgericht korrigiert das Strafmaß gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny und einen Mitangeklagten.
Zufrieden: Nawalny, sein Mitangeklagter Pjotr Ofizerow (ganz links) und die Anwältinnen. Bild: reuters
KIROW ap/afp | Russlands Justiz hat die fünfjährige Haftstrafe gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny am Mittwoch zur Bewährung ausgesetzt. In einem kaum dreistündigen Berufungsverfahren setzte das zuständige Gericht in Kirow auch die Strafe gegen den Mitangeklagten Pjotr Ofizerow aus.
Während der Verhandlung rund 900 Kilometer östlich von Moskau hatte Nawalny erneut die Möglichkeit genutzt, seinen Unmut über Präsident Wladimir Putin demonstrativ kundzutun: Auf der Anklagebank tippte er auf einem Laptop, auf dem ein Aufkleber mit der Aufschrift „Putin – Dieb“ prangte.
Nawalny ist einer der bekanntesten Kritiker Putins. Er war im Juli in einem umstrittenen Prozess zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Die Strafe wurde bis zum Berufungsverfahren ausgesetzt. Laut dem Urteil vom Juli soll Nawalny den staatlichen Holzbetrieb Kirowles im Jahr 2009 um etwa 16 Millionen Rubel (rund 372.000 Euro) geschädigt haben.
Die Europäische Union und USA hatten das ursprüngliche Urteil gegen Nawalny kritisiert. Sie hatten Vermutungen geäußert, das Verfahren gegen ihn sei politisch motiviert.
Im September erzielte Nawalny bei der Bürgermeisterwahl in Moskau 27 Prozent der Stimmen und landete damit überraschend stark hinter dem Kreml-Kandidaten Sergej Sobjanin. | taz. die tageszeitung | Bewährungsstrafe statt fünf Jahre Haft: Ein russisches Berufungsgericht korrigiert das Strafmaß gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny und einen Mitangeklagten. | [
"Alexei Nawalny",
"Russland",
"Berufungsurteil",
"Russische Opposition",
"Europa",
"Politik",
"taz",
"tageszeitung"
] | false | "2013-04-15T16:33:00+02:00" | "2013-04-15T16:08:00+02:00" | 24,305 |