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Michael Müller auf Sommertour: Eine monströse Wissenschaft - taz.de
Michael Müller auf Sommertour: Eine monströse Wissenschaft Berlins Regierender Bürgermeister und Wissenschaftssenator lässt sich in die Fallstricke der Digitalisierung einführen. Da geht es auch um Provenienz. Michael Müller (SPD) im Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität Foto: dpa Martin Grötschel, Chef der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, findet schließlich das beste Bild. 100 Millionen Blätter umfasst „sein“ Archiv hier in der Markgrafenstraße, das sind 6,4 Kilometer, darunter Tagebücher vom Gründer der Akademie, Gottfried Wilhelm Leibniz, Briefe von Goethe, Hesse, Einstein. „Als ich kam“, sagt Grötschel, „da dachte ich, das wird man schon hinkriegen.“ Nach einer gekonnten Kunstpause fügt er an: „Es ist völlig aussichtslos.“ Bislang hat die Akademie 158.000 Blätter gescannt, meist nur auf Anfrage. Wir befinden uns auf der Sommertour von Michael Müller (SPD), dem Regierenden Bürgermeister von Berlin und Senator für Wissenschaft und Forschung. An einem angenehm frischen Mittwochvormittag will er sich über den Stand der Digitalisierung in drei Berliner Institutionen schlau machen: der besagten Akademie, dem Lautarchiv der Humboldt-Uni und dem Fraunhofer Leistungszentrum Digitale Vernetzung. Ähnlich nonchalant und wortgewandt, wie er auf die stetig sinkende Gunst seiner Wähler reagiert, nimmt Müller das Monströse der Aufgabe zur Kenntnis, die ihm hier angetragen wird. Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist. Digitalisierung als Grundvoraussetzung Dabei ist die Digitalisierung heute eine der Grundvoraussetzungen, ohne die sich Wissenschaft gar nicht mehr rechtfertigen kann. Dies wird beim Besuch des Lautarchivs am Kupfergraben deutlich. Gegründet 1920 von Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen, wurde es in letzter Zeit viel beachtet. 2019 soll es ins Humboldt Forum umziehen. Es verfügt über spektakuläre Sprachaufnahmen, die in deutschen Kriegsgefangenenlagern während des Ersten Weltkrieges entstanden. Nicht jeder weiß, dass die kommerzielle Lexikografie tot ist Müller wirkt ehrlich berührt, als Sammlungsleiter Sebastian Klotz eine Schellackplatte mit Aufnahmen eines georgischen Gefangenen auflegt. Die zentrale Frage, die das Lautarchiv gemeinsam mit dem Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums noch bis zum 16. September in der kleinen Ausstellung „[laut] Die Welt hören“ in der Humboldt-Box aufwirft: Wem gehören diese sensiblen Aufnahmen, die teilweise weltweit die ersten sind und die von seltenen Dialekten und Sprachen zeugen? Darf man sie öffentlich machen? Fünf Millionen Worte Nur wer digitalisiert und damit Materialien den Gesellschaften zugänglich macht, aus denen sie stammen, wird diese Fragen auf Augenhöhe und in enger Zusammenarbeit mit diesen beantworten können. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Provenienzdebatte wird das brisanter. Dass es trotz der Uferlosigkeit des Projekts Digitalisierung doch immer wieder große, Mut machende Erfolge gibt, erzählt sowohl Klotz mit seinen Geschichten von gefundenen Nachfahren der Kriegsgefangenen als auch Grötschel von der Akademie der Wissenschaften. Zwei von Grötschels Lieblingsprojekten sind ein digitales Wörterbuch der deutschen Sprache und ein Zentrum für Lexikologie in der Akademie, das dank neuer Technik alle Maßstäbe sprengen wird. Nicht jeder weiß, dass die kommerzielle Lexikografie tot ist: Der Duden, der früher 180 Angestellte hatte, verfügt heute noch über ganze 4, weiß Grötschel. Und während der Duden den deutschen Wortschatz auf 300.000 bis 500.000 schätzte, geht das Digitale Wörterbuch schon jetzt davon aus, dass es an die 5 Millionen umfasst. Zu dieser Zahl zeigt sich dann selbst Michael Müller sprachlos.
Susanne Messmer
Berlins Regierender Bürgermeister und Wissenschaftssenator lässt sich in die Fallstricke der Digitalisierung einführen. Da geht es auch um Provenienz.
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Ein Euro für einen Tag im Knast - taz.de
Ein Euro für einen Tag im Knast FDP will Justizopfern in Niedersachsen helfen Von Andrea Scharpen Job weg, Wohnung weg, Skepsis im Freundeskreis: Hat er es vielleicht doch getan? Es kann schwierig sein, wieder ins alte Leben hineinzukommen, wenn man unschuldig im Gefängnis saß. In Niedersachsen ist das im vergangenen Jahr 54 Menschen passiert. Die meisten der unschuldig Inhaftierten, nämlich 51 Menschen, saßen in Untersuchungshaft. „Sie werden dann von heute auf morgen entlassen“, sagt Marco Genthe von der FDP-Fraktion in Niedersachsen. „Die Unterstützungsangebote fehlen.“ Während Straftäter bereits während der Haft auf ihre Entlassung vorbereitet würden, eine Wohnung und einen Job suchen könnten, gebe es für unschuldig Inhaftierte keine eigenen Strukturen, kritisiert Genthe. „Es müsste eine Anlaufstelle geben oder einen Ombudsmann.“ Der könnte die Betroffenen bei der Frage nach Schadensersatz beraten und ihnen psychologische Unterstützung vermitteln. „Der Druck ist im Gefängnis höher, wenn man weiß, dass man es nicht war“, sagt Genthe. Der Antrag der FDP wurde am Donnerstag jedoch vom Landtag erst einmal zur Beratung in den zuständigen Ausschuss verwiesen. Das Justizministerium wies auf Anfrage der taz darauf hin, dass es in ganz Deutschland bisher keine gesonderten Anlaufstellen für Justizopfer gibt. Sie könnten aber „die üblichen Hilfen zur Entlassungsvorbereitung erhalten“, sagt ein Ministeriumssprecher. Die Ministerin Barbara Havliza (CDU) äußerte sich in der Landtagsdebatte nicht zu dem Thema. „Das hat mich sehr geärgert. Sie hätte sagen müssen, was sie jetzt vorhat“, sagt FDP-Mann Genthe. „Solche Unterstützungsangebote könnte Niedersachsen sofort einführen.“ Laut dem Ministerium will Havliza jedoch erst einen Gesetzesvorschlag aus dem Bundesjustizministerium in Berlin abwarten. Auch dort wird über eine Erhöhung der Haftentschädigung und eine bessere Unterstützung diskutiert. Auch der SPD-Abgeordnete Sebastian Zinke kritisiert den Zeitpunkt des FDP-Vorschlags. Nachholbedarf sieht aber auch er: „Im schlimmsten Fall verliert jemand, der verurteilt worden ist, seinen Platz in der Gesellschaft.“ Es müsse darüber gesprochen werden, wie eine Entschuldigung des Staates aussehen könne. Die FDP will hier auch beim Geld ansetzen. Die bisherigen 25 Euro für einen Tag unrechtmäßiger Haft reichten als Wiedergutmachung nicht aus. „Das ist etwa ein Euro pro Stunde hinter Gittern. Viel zu wenig“, sagt Genthe. Der Staat müsse seiner Verantwortung gegenüber unschuldig Inhaftierten nachkommen. „Abwarten hilft den Betroffenen nicht.“
Andrea Scharpen
FDP will Justizopfern in Niedersachsen helfen
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Buch über Elite in Großbritannien: „Thatcherismus“ als Common Sense - taz.de
Buch über Elite in Großbritannien: „Thatcherismus“ als Common Sense Owen Jones beschreibt, wie dreist die Mächtigen Großbritanniens ihre Interessen durchsetzen – auf Kosten derer, die nichts haben. Antielitär, aber „Establishment pur“: die britischen Rechtpopulisten von Ukip. Bild: reuters „Das Establishment ist entkleidet und ohne Vorwarnung nackt auf die Bühne geschubst worden“, beginnt Owen Jones seine Analyse der Elite in Großbritannien, die Politik, Industrie, Medien und Bürokratie dominiert und diese Sphären der Macht für sich zu nutzen weiß. Gerade die vergangenen Jahre, so Jones, hätten gezeigt, wie dreist Mächtige in Großbritannien agierten: von der selbstverständlichen Forderung von Bankern, dass der Staat für ihre Krise zahlen müsse bis hin zu dem Abhörskandal bei News of the World, der offenbarte, wie eng Medien und Politik verwoben sind. Es geht um Politiker, die später direkt in gut bezahlte Jobs zu Großkonzernen wechseln, Regierungsvertreter, die Banker um deren Gehälter beneiden, und Journalisten, die sich trotz sechsstelliger Jahresgehälter für „middle class“ halten. Jones, der zuletzt das erfolgreiche „Chavs“ über die Diskriminierung der Arbeiterklasse veröffentlichte, zeichnet in „The Establishment“ nach, wie es so weit kommen konnte. Das Establishment beschreibt er als eine gut vernetzte Gruppe von Wohlhabenden, die nicht durch Verschwörung, aber durch „soziale Beziehungen“ für ihren Machterhalt sorgen. Das BuchOwen Jones: „The Establishment. And how they get away with it“. Allen Lane/Penguin, London 2014, 368 Seiten, 18,95 Euro. Mindestens Armutslohn Noch in den 1960er Jahren habe das Establishment ganz anders ausgesehen. Der politische Konsens sei ein linker gewesen, die Labour-Partei fest im Sattel, die Gewerkschaften mächtig und das rechte Lager über die eigene Niederlage entmutigt. Doch mit den Krisen in den 1970ern – dem Ende des Goldstandards, dem Vietnamkrieg und einer Reihe von Streiks wegen Inflation – habe es eine koordinierte Kampagne von rechten Ideologen und Thinktanks gegeben, die den politischen Konsens weit nach rechts rückten. Mit Margaret Thatcher sei dieser Rechtsruck in konkrete Politik gegossen worden. So sehr, dass auch spätere Labour-Regierungen nicht aus ihm ausbrechen konnten: Als Tony Blair 1997 die Wahl gewann, versprach er, die Steuern nicht zu erhöhen. Unter „New Labour“ gingen Privatisierungen weiter, der eingeführte Mindestlohn blieb – dank Lobbyisten – ein „Armutslohn“. Gerade weil die Labour-Regierungen unter Blair und Gordon Brown den Thatcherismus nicht infrage gestellt hatten, sei dieser zum neuen „common sense“ geworden, argumentiert Jones. Jones’ Analyse hat ihre Schwächen: Seine These der Komplizenschaft der Medien konzentriert sich fast ausschließlich auf die konservative News Corporation und ist häufig durch Zeitungsartikel belegt – so schlimm kann es um die Medien also nicht bestellt sein. Seine Beschreibung der Polizei als Lakaien ist oft anekdotisch. Stringenter wird es, wenn er zeigt, wie die Privatisierung von Altersheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen zu hohen Profiten und schlechten Ergebnissen führt oder wie systematisch Buchhaltungsfirmen Steuergesetze beeinflussen, um später ihren Kunden bei der Steuervermeidung zu helfen. Kann man ein antielitäres Buch schreiben, ohne ins Rechtspopulistische abzudriften? Jones zeigt, dass man das kann. Offensiv setzt er sich mit der rechten Partei Ukip auseinander, die zugleich antielitär, aber „Establishment pur“ ist: Steuern runter, weniger Geld für Arbeitslose und Einschränkungen bei der Einwanderung. Jones fordert stattdessen eine „demokratische Revolution“, die die Sphären der Macht öffnet und die Umverteilung von Wohlstand zum Kern hat.
Lalon Sander
Owen Jones beschreibt, wie dreist die Mächtigen Großbritanniens ihre Interessen durchsetzen – auf Kosten derer, die nichts haben.
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Kadyrow in Tschetschenien: Sieger mit Protzgehabe - taz.de
Kadyrow in Tschetschenien: Sieger mit Protzgehabe Ramsan Kadyrow, Herrscher über Tschetschenien, macht gern kurzen Prozess mit Kritikern. Trotzdem wurde er jetzt wiedergewählt. MIt 99 Prozent im Amt bestätigt: Tschetscheniens Machthaber Ramzan Kadyrov Foto: Yelena Afonina/imago BERLIN taz | Da sage jemand, Ramsan Kadyrow, Herrscher über Tschetschenien, sei nicht gastfreundlich. In dieser Woche lud er US-Präsident Joe Biden zu einem Besuch in die Nordkaukasusrepublik ein. Dann könne sich Biden davon überzeugen, dass es keine schwulen Gockel gebe, sondern nur „echte Männer mit richtigen Eiern“, schrieb er in seinem Telegram-Kanal. Vor der UN-­Vollversammlung hatte Biden die internationale Staatengemeinschaft aufgerufen, die Rechte sexueller Minderheiten weltweit zu schützen. Das muss in den Ohren Kadyrows wie Hohn klingen. Denn mit Homosexuellen, die es in Tschetschenien angeblich gar nicht gibt, pflegt er kurzen Prozess zu machen. Sie werden entführt, in Haft gefoltert und manchmal auch ermordet. Orchestriert wird diese Menschenjagd von den „Kadyrowzy“ – einer paramilitärischen Einheit, die dem 44-Jährigen direkt untersteht und im rechtsfreien Raum agiert – quasi freie Hand hat. Das gilt auch für Kadyrow selbst. Seit März 2006 Regierungschef in Tschetschenien, wurde Kadyrow am 2. März 2007 auf Vorschlag von Russlands Staatschef Wladimir Putin zum Präsidenten gewählt. Der Deal lautete: Wiederaufbau sowie Sicherheit und Stabilität in dem durch zwei Kriege gegen Russland verheerten Land. Im Gegenzug sollte Kadyrow nach Gusto schalten und walten dürfen. Grassierende Korruption als weiteres Markenzeichen Das tat und tut er, wobei die Frage ist, ob ihn der Kreml noch unter Kontrolle hat. Schwerste Menschenrechtsverletzungen sind in Tschetschenien an der Tagesordnung. Zahlreiche Morde sollen auf Kadyrows Konto gehen, der seit 2014 bzw. 2017 bei der EU und den USA auf der Sanktionsliste steht. Unter den Opfern sind neben Tschetschenen im Ausland auch die bekannte tschetschenische Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa, die 2009 bestialisch umgebracht wurde. Ein weiteres Markenzeichen der Herrschaft Kadyrows ist eine grassierende Korruption. So wohnt die Zweitfrau des gläubigen Muslims (Polygamie ist in Russland gesetzlich verboten) in einem Palast im Zentrum der Hauptstadt Grosny, der einen Wert von umgerechnet mehr als 4 Millionen Euro haben soll. So manches Sümmchen dürfte wohl von der nach Kadyrows 2004 ermordeten Vater Achmed benannten Stiftung kommen, in die Angestellte, Beamte sowie Unternehmer zwangseinzahlen müssen. Mit einem Vermögen von umgerechnet 70 Millionen Euro (2019) ist sie die wohlhabendste in ganz Russland. Bei den Wahlen in Russland in der vergangenen Woche wurde in Tschetschenien auch über das Staatsoberhaupt abgestimmt. Ramsan Kadyrow, der einem bizarren Personenkult frönt, erhielt offiziellen Angaben zufolge 99,7 Prozent der Stimmen, die Wahlbeteiligung lag bei 94 Prozent – Spitzenwerte in der Russischen Föderation. Ruslan Kutajew, tschetschenischer Aktivist und ehemaliger politischer Gefangener, merkte an: „Das war eine Botschaft an Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Sie lautet: „Außer Kadyrow existiert niemand in Tschetschenien.“
Barbara Oertel
Ramsan Kadyrow, Herrscher über Tschetschenien, macht gern kurzen Prozess mit Kritikern. Trotzdem wurde er jetzt wiedergewählt.
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■ Algerien: Den Schlüssel zur Lösung der blutigen Krise halten die regierenden Militärs in der Hand. Doch sie wollen ihre Macht nicht teilen: Die verselbständigte Gewalt - taz.de
■ Algerien: Den Schlüssel zur Lösung der blutigen Krise halten die regierenden Militärs in der Hand. Doch sie wollen ihre Macht nicht teilen: Die verselbständigte Gewalt „Algier hat oft angenehme Frühlingstage, und so war es auch an jenem Vormittag des Jahres 1961. Ich war der einzige Kunde in einem Friseurladen in der Nähe der Kasbah, der Altstadt von Algier. Wie die Mehrheit seiner Zunftkollegen in der Welt war auch dieser Friseurmeister sehr gesprächig. Durch den Spiegel ließ sich die Straße hinter uns sehr gut beobachten. Plötzlich war die Ruhe vorbei, wir sahen, wie ein junger Mann auf der anderen Seite der Straße von einem etwa gleichaltrigen Mann aus nächster Nähe erschossen wurde. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen, hantierte der Meister weiter mit Kamm und Schere und drehte zugleich meinen Stuhl zur Seite, damit ich die Szene auf der Straße nicht mehr sehe.“ Das klingt wie eine Filmszene, ist aber eine wahre Geschichte, die mir ein westlicher Diplomat erzählte, der während des Unabhängigkeitskrieges vor 35 Jahren in Algerien diente. Heute erreichen uns tagtäglich via Bildschirm aus Algerien Grausamkeiten, die fast irreal erscheinen. Und verblüffend sind die Parallelen zwischen den Gewaltorgien von heute und gestern. Denn viele FLN-Partisanen gingen gegen die französische Kolonialmacht oft mit derselben Brutalität vor, wie die Mörder von heute. In dem achtjährigen Unabhängigkeitskrieg wurden unzähligen Zivilisten die Bäuche aufgeschlitzt und die Kehle durchgeschnitten, weil man sie als Kollaborateure der Kolonialisten verdächtigte. Und die hochgerüstete französische Zentralregierung setzte ihrerseits nicht nur Flugzeuge und Panzer ein, sondern auch auf die Folter – genauso wie heute der algerische Geheimdienst. Nicht nur die Form der Gewalt, sondern auch ihre ideologische Rechtfertigung hat eine Kontinuität. Die FLN kämpfte nicht nur im Namen der Unabhängigkeit, sondern auch für den Islam. Der Islam müsse sich über die Religion hinaus auch in der Kultur und dem nationalen Charakter äußern, hieß es auf dem Siegerkongreß der FLN 1962 in Tripoli. Der Islam wurde Staatsreligion. Zielstrebig wurde die Arabisierung vorangetrieben, nicht nur um die Spuren der 130jährigen Herrschaft Frankreichs zu beseitigen, sondern weil Gott arabisch spricht. Selbst das Familienrecht wurde islamisch. Verdrängt wurde dabei, daß etwa 30 Prozent der Algerier Berber sind. Die FLN hatte von Anfang an kein Interesse an einem echten Laizismus und einer Bürgergesellschaft. Diese Einheitspartei mit ihrer gemischten Ideologie aus Islam und Sozialismus beheimatete eher Islamisten als Demokraten. Bezeichnenderweise war Abbassi Madani, der inzwischen arrestierte FIS-Führer, einst selbst ein Funktionär der FLN. Heute sind zwar die Rollen vertauscht, aber die Fronten sind unverrückbar wie ehedem: Die islamische Heilsfront (FIS) sowie die bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) beschimpfen die Regierungsmacht als „Partei Frankreichs“ – Hesbe Franse –, während sich die Zentralregierung als Anwalt der Modernität ausgibt. Algerien ist ein stolzes Land, und dieser Stolz wurzelt in dem Unabhängigkeitskrieg, der offiziell seit dreißig Jahren von allen politischen Strömungen des Landes mystifiziert wird. Dieser Krieg sollte nach offizieller Lesart die nationale Identität stiften. Kein Wunder, daß jeder geschichtsbewußte Algerier sich auf diesen Krieg beruft, wenn er beispielsweise sein Land mit den Nachbarn – Marokko und Tunesien – vergleicht. Ihre Unabhängigkeit kommt ihm „unvollkommen“ und „halbherzig“ vor, weil sie durch Verhandlungen und Kompromisse erreicht wurde. Auch die Periode nach der Unabhängigkeit nährte diesen fragwürdigen Stolz: Algerien war die „sozialistische Republik“, die auf dem internationalen Parkett als Vermittler vieler internationaler Konflikte erfolgreich agierte, während die beiden Nachbarländer fest im „westlich-imperialistischen Lager“ verharrten. Mit dem Ende der sozialistischen Ära verblaßte aber die Geschichte des heroischen Kampfes. Die algerische Realität lieferte wenig Grund zum Stolz, die gewaltsame Identitätskrise wiederholte sich, wie einst unter der Kolonialherrschaft. Einen offener Diskurs der Intellektuellen über diese Krise konnten die Militärs nicht dulden. Und als sich der Zusammenbruch der Einheitspartei Ende der 80er abzeichnete, hatte die Nomenklatura keine Skrupel, zunächst mit islamistischen Gruppen zu paktieren. Doch diesmal hatten sich die Militärs verrechnet – sie wurden die Geister, mit denen sie gekungelt hatten, nicht mehr los, also putschte die Armee gegen ihren einstigen Verbündeten. Viele Eurozentristen mögen behaupten, Algerien habe diese Militärregierung verdient, weil das Land für die Demokratie nicht reif sei. Doch man vergißt, wie viele Demokraten seit über 35 Jahren sowohl von den Islamisten als auch von den Militärs getötet, ins Ausland oder ins innere Exil vertrieben wurden. Zweifellos ist die bürgerliche Opposition in Algerien gespalten – doch unter dem Druck der Verhältnisse schaffte sie es, einschließlich der FIS, vor vier Jahren in der sogenannten Plattform von Rom gemeinsam für eine Normalisierung des Landes einzutreten. Doch die Initiative scheiterte – die Militärs wollten und wollen allein bestimmen, wohin die Reise geht. So ist die Armeeführung, die sich heute gern als Bollwerk gegen die Barbarei der Islamisten präsentiert, die wahre Verhinderin einer Demokratisierung. Im Maghreb hört man oft ein Bonmot, das dies auf den Punkt bringt: „Jeder Staat hat eine Armee, aber die algerische Armee hält sich einen Staat.“ Die Spekulation, ob neben islamistischen Mörderbanden und normalen Kriminellen auch die staatlichen Todesschwadrone an den jüngsten Barbarei beteiligt sind, wird sich nie vollständig aufklären. Wer mit welchen Motiven oder Ideologien Zivilisten abschlachtet, darüber rätseln auch viele Algerier. Die Gewalt scheint sich verselbständigt zu haben. Die EU-Troika wird mit Sicherheit mit einem Ergebnis aus Algier zurückkommen: Die Armee ist in der Lage, wie bisher die Sicherheit zu garantieren, wohlgemerkt die der Erdöl- und Gasleitungen. Der Terror gegen Zivilisten wird leider weitergehen, weil nur in einer Atmospähre der Ungewissheit und Angst die Banden aus dem Untergrund agieren können. Eine offene Gesellschaft ist Gift für die Islamisten. Die Offenheit muß aber gewollt sein. Mit anderen Worten: Die Machthaber müßten bereit sein, ihre Macht tatsächlich zu teilen. Aber das ist nicht die Tradition der algerischen Nomenklatura. Ali Sadrzadeh
Ali Sadrzadeh
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Ermordete Zivilisten in der Ukraine: Die Wucht leerer Gräber in Isjum - taz.de
Ermordete Zivilisten in der Ukraine: Die Wucht leerer Gräber in Isjum Vor einem halben Jahr wurden in einem Wald in der Ostukraine die Morde an Ein­woh­ne­r*in­nen aufgedeckt. Der Schock über die Grausamkeiten hält an. Ein Blick auf nicht identifizierte Gräber von Zivilisten und ukrainischen Soldaten in Isjum Foto: Evgeniy Maloletka/dpa Ich stehe vor einem lackierten Holzsarg, der aus dem Boden gegraben wurde. Der Deckel ist leicht zurückgeschoben. Das Innere ist leer. Der Schnee hat das Loch im Sand etwas verdeckt, aber das macht den Anblick nicht weniger erschreckend. Es gibt hier noch mindestens vierhundert weitere ausgegrabene Gräber wie dieses. Война и мир – дневникЧтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here. Ich bin Journalistin und habe in diesem Krieg viel gesehen – Eltern, die vor Hilflosigkeit über den Leichen ihrer ermordeten Kinder weinen, Verwundete und Sterbende, Hingerichtete und Verbrannte. Aber jetzt, im Wald, zwischen den Hunderten von ausgegrabenen Gräbern, wollte ich auf die Knie fallen, den Kopf in den Himmel recken und schreien. Ich wollte, dass sich mein Schrei weit über die Kronen dieser Kiefern erhebt. Es war, als ob ich jemandem zurufen wollte, der dem Ganzen endlich ein Ende setzen könnte. Ob ich das wirklich mit meinen eigenen Augen sehe? Vor drei Monaten wurden 451 Leichen aus diesen Gruben exhumiert. Siebzehn von ihnen gehörten dem ukrainischen Militär an und wurden von den russischen Besatzern in der gleichen Grube verscharrt. Die anderen jedoch, die in diesem Wald von Isjum in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine begraben wurden, waren Zi­vi­lis­t*in­nen – Be­woh­ne­r*in­nen von Isjum, die in den ersten Monaten der russischen Großinvasion in der Ukraine getötet worden waren. Ende September, als die Stadt geräumt wurde und dieses Massengrab im Wald gefunden wurde, schockierten die Bilder von diesem Ort die Welt. Obwohl jetzt keine Leichen mehr zu sehen sind, ist der Ort nicht weniger erschreckend: Die Gruben, die leeren Särge, die Holzkreuze, auf denen Nummern statt Namen stehen – so etwas könnte sich nicht einmal der Regisseur eines Horrorfilms ausdenken. Einige wenige Bestatter, die in Isjum geblieben sind, haben hier Menschen zwischen den Bombardierungen begraben. Oft wussten sie nicht, wen sie beerdigten, also schrieben sie Nummern auf die Kreuze. So wurden in einem der Gräber vier Generationen derselben Familie – eine Urgroßmutter, eine Großmutter, ihre Tochter und deren Ehemann sowie deren Kind – auf einmal begraben. Sie sind alle am selben Tag gestorben, am 9. März 2022. Eine russische Bombe fiel auf ihr mehrstöckiges Wohnhaus. Etwa 45 weitere Menschen starben mit ihnen. Die meisten der so eilig in diesem Wald Begrabenen wurden bereits identifiziert. Aber es gibt immer noch etwa ein Dutzend Leichen, deren Überreste so verstümmelt sind, dass die Fachleute noch rätseln. Niemand kann vorhersagen, wann dieser Prozess abgeschlossen sein wird. Schließlich werden jede Woche neue Leichen von Menschen, die während der russischen Besatzung ermordet wurden, im befreiten Teil der Region Charkiw gefunden. Und das Gefühl dieser Unendlichkeit lässt einen sich machtlos fühlen. Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung. Ein Sammelband mit Texten dieser Kolumne „Krieg und Frieden“ ist im Verlag edition.fotoTAPETA erschienen.
Anastasia Magasowa
Vor einem halben Jahr wurden in einem Wald in der Ostukraine die Morde an Ein­woh­ne­r*in­nen aufgedeckt. Der Schock über die Grausamkeiten hält an.
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Neue Coronarichtlinien: Weniger feiern und reisen - taz.de
Neue Coronarichtlinien: Weniger feiern und reisen Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt wegen Corona mehr Beschränkungen, aber keinen erneuten Lockdown in Aussicht. In Berlin-Neukölln stehen viele, hauptsächlich junge Menschen an, um sich testen zu lassen Foto: Kay Nietfeld/dpa Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich mit den elf größten Städten in Deutschland auf Strategien geeinigt, um das Infektionsgeschehen durch Corona unter Kontrolle zu behalten. Sie sehe derzeit ein „besorgniserregendes Bild“, sagte Merkel am Freitag, den 9. Oktober, in Bezug auf die Neuinfektionen, deren bundesweite Zahl an diesem Tag auf über 4.500 gestiegen ist. Oberste Priorität aller Maßnahmen sei, das wirtschaftliche und öffentliche Leben nicht wieder so runterzufahren wie im Frühjahr, betonte die Kanzlerin. Merkel versprach personelle Unterstützung, etwa von Bundeswehr-Experten, für Städte mit rapide steigenden Neuinfektionen. Ab einer Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen gilt eine kreisfreie Stadt oder ein Landkreis als Risikogebiet. In diesen Gebieten sollte die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung erweitert werden, so die Kanzlerin. Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum, die Einführung von Sperrstunden und Alkoholbeschränkungen für die Gastronomie sowie weitergehende Begrenzungen der Teilnehmerzahlen für Veranstaltungen und Feiern auch im privaten Rahmen nannte Merkel als weitere Maßnahmen für die Großstädte, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten. Komme der Anstieg an Neuinfektionen unter den vorgenannten Maßnahmen nicht spätestens binnen zehn Tagen zum Stillstand, seien weitergehende gezielte Schritte unvermeidlich, sagte Merkel. Nur zehn Gäste in Berlin Derzeit gelten in den Ländern unterschiedliche Beschränkungen etwa für private Feiern: In Berlin dürfen sich privat nur maximal zehn Menschen in geschlossenen Räumen treffen, in Baden-Württemberg dürfen in sogenannten Risikogebieten privat maximal 25 Menschen zusammenkommen. In Berlin und Frankfurt am Main wurden nächtliche Sperrstunden für die Gastronomie verhängt. Über Reisebeschränkungen innerhalb Deutschlands und das Beherbergungsverbot in vielen Bundesländern sprach die Kanzlerin nicht. Das Beherbergungsverbot sorgt für Aufregung, weil an diesem Wochenende die Herbstferien unter anderem in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Bremen beginnen. Gleichzeitig steigt der Anteil der Städte und Regionen, die als Risikogebiet gelten. Dazu gehören Berlin, Bremen, Frankfurt am Main, Hamm, Herne und weitere Städte und Kreise. Wer aus diesen Risikogebieten kommt, darf in den allermeisten Bundesländern nicht in Hotels oder Gaststätten beherbergt werden. Berlin, Bremen und Thüringen haben sich diesem Beherbergungsverbot nicht angeschlossen. Kliniken warnen Vertreter der Berliner Charité und der Uniklinik in Frankfurt am Main hatten am Freitag in Berlin erklärt, die Zahl der wegen Covid-19 aufgenommenen Patienten, darunter auch der Beatmeten, steige deutlich an. Charité-Vorstand Ulrich Frei sagte, man müsse wieder die Diskussion führen, wie man mit Herz- und Tumorpatienten umgehe, um Kapazitäten für an Covid-19 Erkrankte zu schaffen. „Es ist eine ethische Frage.“ Der Virologe Christian Drosten appellierte an die Bevölkerung, im Kampf gegen das Coronavirus aktiv mitzuhelfen. Das Tragen von Masken habe sich als effizient erwiesen. Auch sei es hilfreich, ein persönliches „Cluster-Tagebuch“ zu führen. Dieses Tagebuch sei wichtig, um dann, falls man positiv getestet werde, zurückzuverfolgen, wo man sich angesteckt habe. In dem Tagebuch soll der persönliche Kontakt zu Gruppen und Menschenansammlungen festgehalten werden. Drosten trat dem Argument entgegen, die hohe Zahl an Neuinfektionen sei auf die Zunahme von Tests zurückzuführen. Die Testaktivität sei in den vergangenen sieben Wochen konstant hoch gewesen, die Verdoppelung der Neuinfektionen geschah aber in den letzten drei Wochen, sagte Drosten.
Barbara Dribbusch
Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt wegen Corona mehr Beschränkungen, aber keinen erneuten Lockdown in Aussicht.
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Mord an Rosa Luxemburg: Letztes Kapitel einer Tragödie - taz.de
Mord an Rosa Luxemburg: Letztes Kapitel einer Tragödie Die Prozesse um die Ermordung Rosa Luxemburgs waren einer der größten Justizskandale. Die Identifizierung der Leiche könnte den Mord an der Sozialistin nun endgültig aufklären. Am Abend des 15. Januar 1919 aus ihrer Wohnung verschleppt: Rosa Luxemburg. Bild: dpa Am 31. Mai 1919 zogen der Tischler Otto Fritsch und ein Schleusenwärter in Berlin-Tiergarten eine Frauenleiche aus dem Landwehrkanal, die wenig später als Rosa Luxemburg identifiziert und neben dem mit ihr ermordeten Karl Liebknecht auf dem Friedhof Friedrichsfelde beigesetzt wurde. Mord und Leichenfund sind Szenen aus einer der großen Tragödien des 20. Jahrhunderts, und noch neunzig Jahre nach dem Geschehen werfen die Ereignisse um den Tod Rosa Luxemburgs neue Rätsel auf. War es tatsächlich der Körper der charismatischen Sozialistin, den man am letzten Maitag des Jahres 1919 tot im Landwehrkanal fand? Welche Identität hat die Wasserleiche, die seit Jahrzehnten in der Charité liegt und in der Michael Tsokos, der Leiter der Berliner Rechtsmedizin, die sterblichen Überreste von Rosa Luxemburg zu erkennen glaubt? Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war nur der Auftakt für weitere politische Morde, an Kurt Eisner, Matthias Erzberger und Walther Rathenau, begangen von Tätern aus den Reihen der politischen Rechten. Schon im Krieg hatten rechte Militärs den Grundstein gelegt für finstere Verschwörungstheorien und die sogenannte Dolchstoßlegende, die ihnen dann in der Weimarer Republik im Kampf gegen die neu entstandene Demokratie diente. Die Rechten malten die Vision von einer jüdisch-bolschewistischen Vorherrschaft in Politik und Wirtschaft an die Wand. "Reichstag der Juden" und "Judenfrieden" waren ihre Schlagworte. Wer sich damals zu Demokratie und Pazifismus bekannte und das Militär kritisierte, galt als "innerer Feind" und konnte sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Die Hassparole lautete: "Verräter verfallen der Feme!" In den Krisenjahren der Republik, von 1919 bis 1923, wurden mehr als 300 Menschen von rechtsradikalen Freikorpskämpfern ermordet. Dies war das Milieu, in dem der Weltkriegsgefreite Adolf Hitler als Redner über den "jüdischen Bolschewismus" seine politische Karriere begann. So waren es junge Offiziere der kaiserlichen Kriegsmarine, die in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919 die beiden führenden Politiker der Linken, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ermordeten. Anführer des Mordkomplotts war der Hauptmann Waldemar Pabst, beteiligt waren Leutnant zur See Hermann W. Souchon - ein Neffe des Admirals Wilhelm Souchon -, Kapitänleutnant Horst von Pflugk-Harttung und andere. Diese Offiziere gehörten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) an, einem Eliteverband des Heeres, der die letzten Kriegsmonate an der Westfront gekämpft hatte. Der Erste Generalstabsoffizier der GKSD, Hauptmann Waldemar Pabst, wandelte die kaiserliche Division in ein schwer bewaffnetes Freikorps um. Bekannt wurde die Garde-Kavallerie-Schützen-Division vor allem bei der Niederschlagung des sogenannten Spartakusaufstandes im Januar 1919 sowie ihrer Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920. Pabst war es, der den Befehl zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht erteilte: "Ich habe die beiden richten lassen", rühmte er sich noch 1962 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Auch der von Reichswehrminister Gustav Noske am 9. März 1919 während der Märzkämpfe in Berlin ausgegebene Schießbefehl war auf die Initiative Pabsts zurückzuführen. Waldemar Pabst, ein ehrgeiziger und skrupelloser rechtsradikaler Militär, war eine der berüchtigtsten Figuren der Revolution von 1918/19 und in den ersten Jahren der Republik überall dort zu finden, wo ein Militärputsch gegen die Regierung vorbereitet oder durchgeführt wurde. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden am Abend des 15. Januar 1919 von Mitgliedern der Wilmersdorfer Bürgerwehr aus ihrer Wohnung in das Stabsquartier der GSKD im Nobelhotel Eden am Kurfürstendamm verschleppt und noch in den Stunden vor Mitternacht auf Befehl von Pabst ermordet. Luxemburg wurde zu einem vor dem Hotel bereitstehenden Fahrzeug geführt und schon beim Verlassen des Hotels mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen. Kurz darauf sprang ein Soldat - laut den Zeugenaussagen zweier Mittäter der Leutnant Hermann Souchon - auf den fahrenden Pkw auf und tötete das bereits schwerverletzte Opfer mit einem Schuss in die linke Schläfe. Den Leichnam warfen die Täter von der Brücke in der Budapester Straße in den Landwehrkanal. Einem Streife laufenden Kameraden gaben sie freimütig Auskunft über ihr Tun. Dieser berichtete seinem Vorgesetzten: "Eben ist die Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, man kann sie noch schwimmen sehen." Es war 23.45 Uhr am 15. Januar 1919. Karl Liebknecht war zu diesem Zeitpunkt schon etwa eine Stunde tot. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Mehrere Prozesse in den Zwanziger- und Anfang der Dreißigerjahre waren gekennzeichnet durch Verdrehungen und Falschaussagen. Das Ganze geriet zu einer Justizposse, zu einem der größten Justizskandale des 20. Jahrhunderts. Sowohl Waldemar Pabst als auch Hermann Souchon machten unter den Nazis Karriere, Pabst als Waffenfabrikant, Souchon brachte es im Zweiten Weltkrieg bis zum Oberst der Luftwaffe. Beide starben unbehelligt und hochbetagt im Westen der Republik. Noch in den Jahren 1969/70 hatte Souchon gegen den Süddeutschen Rundfunk geklagt, als der Sender in einem Dokumentationsbericht von "Zeitgeschichte vor Gericht: Der Fall Liebknecht-Luxemburg" auf die Täterschaft Souchons hinwies. Souchon gewann den Prozess, der SDR musste die Behauptung der Täterschaft Souchons widerrufen. Mit dem Fund der mysteriösen Leiche in der Berliner Charité beginnt nun das letzte Kapitel einer großen politischen Tragödie, die wie keine zuvor die Gemüter der Menschen bewegt und das politische Klima in Deutschland verändert hatte. So wird die Identifizierung der Leiche endlich Licht ins Dunkel um den Mord an Rosa Luxemburg bringen. Gerechtigkeit wird die "Göttliche", wie sie voller Bewunderung von ihren Anhängern genannt wurde, dadurch wohl nicht mehr erfahren.
Michael Berger
Die Prozesse um die Ermordung Rosa Luxemburgs waren einer der größten Justizskandale. Die Identifizierung der Leiche könnte den Mord an der Sozialistin nun endgültig aufklären.
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AfD im neuen Bundestag: Die Fraktion rechts außen - taz.de
AfD im neuen Bundestag: Die Fraktion rechts außen Die AfD schafft es als drittstärkste Kraft in den Bundestag. Wer gehört zur Fraktion? Und wer hat künftig das Sagen? Die wichtigsten Figuren der Fraktion. 13 Prozent! AfD-Anhänger*innen sehen blau Foto: dpa BERLIN taz | „Gauland, Gauland“-Rufe schallen durch den Raum. Es ist Sonntag, kurz nach 18 Uhr. Alexander Gauland, wie immer mit Tweedjacket und Hundekrawatte, steht auf der kleinen Bühne im Traffic Club, dahinter öffnet sich eine große Terrasse zum Berliner Alexanderplatz. „Wir werden die Bundesregierung jagen und uns unser Land und unser Volk zurückholen“, hat Gauland gerade gerufen. 13 Prozent hat die erste Prognose für die AfD ergeben, drittstärkste Kraft, 86 Sitze im neuen Bundestag. Blaue Ballons fliegen durch die Luft, die AfD-Anhänger stimmen die Nationalhymne an. Auf der großen Terrasse, die sich hinter der Bühne Richtung Alexanderplatz erstreckt, hört man „Nazis raus“-Rufe. Vor dem Club haben sich einige hundert Gegendemonstranten versammelt. Alexander Gauland, 76, Jurist, Ex-CDU, wird das Machtzentrum der neuen Fraktion sein. Gemeinsam mit Alice Weidel war er Spitzenkandidat. Gauland ist nationalkonservativ, scheut aber Ausflüge nach rechts außen nicht. So schart er den rechten Flügel der Partei hinter sich. In der AfD-Fraktion werden alle Strömungen der zutiefst gespaltenen Partei vertreten sein, Streit ist vorprogrammiert. Die Gauland-Anhänger aber dürften in der Mehrheit sein und ihn umgehend zum Chef wählen. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Parteichefin Frauke Petry könnte sich schon bald mit ihren AnhängerInnen abspalten. Gauland will die Fraktion mit Alice Weidel, 38, Ökonomin, führen, die selbst über kaum eine Machtbasis verfügt. Weidel galt als wirtschaftsliberal, hat sich aber radikalisiert. Als Weidel während des Wahlkampfs unter Protest eine ZDF-Wahldebatte verließ, twitterte Markus Frohnmaier mit Blick auf Moderatorin Marietta Slomka: „Am 24.9. mache ich dich arbeitslos, Mäuschen.“ Es ist nicht die einzige Allmachtsfantasie, die der Ko-Vorsitzende der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternativen von sich gibt. „Ich sage diesen linken Gesinnungsterroristen, diesem Parteienfilz, ganz klar: Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet!“, rief der Höcke-Fan, der regelmäßig in Moskau und Belgrad auf Einladung von nationalistischen Organisationen auftritt, 2015 auf einer Kundgebung in Erfurt. Frohnmaier, 26, Jura-Student, Ex-CDU, wird künftig für die AfD im Bundestag sitzen. Er wird dort nicht der einzige extrem rechte AfD-Mann mit einer gewissen Verhaltens­auffälligkeit sein. Wilhelm von Gottberg, 77, Polizeiausbilder, Ex-CDU, aus Niedersachsen wird auch dabei sein. Der Ex-Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen hatte im Ostpreußenblatt den Holocaust einst als „wirksames In­strument zur Kriminalisierung der Deutschen“ bezeichnet. Martin Hohmann, 69, Polizist, Ex-CDU, ist der einzige AfD-Abgeordnete, der schon einmal im Bundestags saß. Als er 2003 in einer Rede die Täterschaft der Juden und Deutschen in der Weltgeschichte verglich und ihm daraufhin Antisemitismus vorgeworfen wurde, schloss ihn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus. Auch Detlef Spangenberg, 73, Steuerberater, Ex-CDU, wird wohl im Bundestag sitzen. Vor drei Jahren sollte er den sächsischen Landtag als Alterspräsident eröffnen. Doch dann wurde – auch durch Recherchen der taz – bekannt, dass er unter anderem dem „Bündnis Demokratie und Freiheit“ angehörte, das auf seiner Website die „Wiederherstellung der völkerrechtlichen Grenzen von 1937“ forderte. Siegbert Droese, 49, Hotelkaufmann ist der Höcke-Gruppierung „Der Flügel“ zuzuordnen. Er bezeichnet Pegida als „Bereicherung des politischen Diskurses“. Das eigentliche Machtzentrum der Fraktion wird Ale­xander Gauland sein Jens Maier, 55, Richter, Ex-SPD, sitzt künftig auch im Bundestag. Der Wahl-Dresdener, der sich selbst „kleiner Höcke“ nennt, warnt vor „Mischvölkern“ und äußerte Verständnis für den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik. Gegen Sebastian Münzenmaier, 28, Ex-Jura-Student und Ex-Mitglied der islamfeindlichen Partei „Die Freiheit“, läuft ein Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung. Münzenmaier soll 2012 zusammen mit anderen Mitgliedern der Ultra- und Hooliganszene aus Kaiserslautern eine Gruppe Ultras aus Mainz angegriffen haben. Über Einfluss in der Fraktion könnte künftig der Höcke-Vertraute Stephan Brandner, 51, Rechtsanwalt, Ex-CDU, verfügen. Im Wahlkampf nannten sich Brandner und sein Mitkandidat Jürgen Pohl „die Volksanwälte“. Brandner dürfte der größte Pöbler im Thüringer Landtag sein. Die Grünen brachte er in den Zusammenhang von „Koksnasen“ und „Kinderschändern“. Er könnte Vizefraktionschef werden. Gemäßigt für AfD-Verhältnisse Das will wohl auch NRW-Spitzenkandidat Martin Renner,63, Unternehmensberater, Ex-CDU. Doch ob sich dafür eine Mehrheit findet, ist ungewiss. Renner wirkt mit weißen Haaren und Hornbrille pastoral und sanft, doch das täuscht. Einwanderung bezeichnet er als „humanistisch kaschierte Selbstzerstörung unserer Kultur“, den Islam als „Unterwerfungsideologie“, die Erinnerungskultur als „Schuldkult“. Gauland-Freund Armin-Paul Hampel aus Niedersachsen, 60, Journalist, Ex-CDU, werden wenig Chancen auf einen Posten in der Fraktion nachgesagt. Im Bundestag werden aber auch – für AfD-Verhältnisse – gemäßigte Abgeordnete sitzen. Leif-Erik Holm,47, Radiomoderator zum Beispiel. Auch er wird als Fraktionsvize gehandelt. Mit ihm als Spitzenkandidat hat die AfD in Mecklenburg-Vorpommern ihr zweitstärkstes Ergebnis bislang erzielt. Holm hat das Büro der AfD-Europa-Abgeordneten Beatrix von Storch in Brüssel geleitet, zuletzt war er Fraktionschef in Schwerin. Dort hat er den Hardlinern in der Partei wenig entgegengesetzt. Auch Holms Exchefin Beatrix von Storch, 46, Rechtsanwältin, Ex-FDP, Herzogin von Oldenburg, könnte in der Fraktion was werden. Gemeinsam mit Weidel und Parteichefin Frauke Petry ist sie eine der wenigen bekannten Frauen in der Fraktion, die überwiegend männlich geprägt sein wird. Auf der Bühne im Traffic Club steht von Storch am Sonntag Abend neben Gauland. Nachdem dieser geredet hat, ergreift sie das Wort. Von Storch spricht von einer „parteipolitischen Revolution“ und sagt: „Refugees welcome wird wieder ein Spruch wie früher sein – von linksradikalen Spinnern.“ Mit ihrem Mann Sven betreibt von Storch, eine christliche Fundamentalistin, seit Jahren ein Lobby-Netzwerk, das sich für „Lebensschutz“ und ein reak­tionäres Familienbild starkmacht. In einer Talkshow verstieg sie sich zu der Aussage, Merkel wolle sich nach Chile absetzen. Petr Bystron, 44, Berater, Ex-FDP, galt lange als einer, der in der AfD noch was werden kann. Dank seiner Sympathie für die „Identitäre Bewegung“ ist der bayerische Landeschef jetzt – soweit man weiß – der einzige AfD-Politiker, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Bei der Wahl zum bayerischen Spitzenkandidaten landete er nur auf Platz vier. Es könnte sein, dass es bei der Wahl zum Fraktionsvorstand aus Bayern eine Überraschung gibt.
Sabine am Orde
Die AfD schafft es als drittstärkste Kraft in den Bundestag. Wer gehört zur Fraktion? Und wer hat künftig das Sagen? Die wichtigsten Figuren der Fraktion.
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Sieben der größten Adieus - taz.de
Sieben der größten Adieus SCHLUSS Eltern wollen nur das Beste? Das haben diese Kinder anders gesehen VON EMILIA SMECHOWSKI 1. Der Ursprung des Vaterhasses Der Titan Kronos entmannt seinen grausamen Vater Uranos mit einer Sichel. Dessen Glied fliegt ins Meer, aus ihm wird die schöne Göttin Aphrodite geboren. Kronos wiederum bekommt mit seiner Schwester Rheia viele Kinder. Er verschlingt sie alle direkt nach der Geburt, denn es war ihm prophezeit worden, dass auch seine Kinder ihm gefährlich werden. Seine Gattin Rheia jedoch versteckt eins der Kinder in einer Höhle und lässt es von Nymphen großziehen: Es ist Zeus – der später seinen Vater in die Unterwelt stürzt. 2. Die Rache des Ungeliebten Er ist hässlich und nur der Zweitgeborene. Sein älterer Bruder wird von seinem Vater geliebt. Franz Moor aber will auch geliebt werden, und vor allem will er etwas erben, und was er nicht freiwillig bekommt, holt er sich mit Gewalt. Durch eine Intrige schafft er es, dass sein Bruder Karl vom Hof verbannt wird, er lässt den Vater im Wald in einen Turm sperren und erklärt ihn für tot. So hat es Schiller in „Die Räuber“ aufgeschrieben.3. Kein Geld für die Mutter „Nur wenn ich singe, fühle ich mich geliebt“, soll Maria Callas gesagt haben. Ihre ehrgeizige Mutter erkennt das Talent ihrer Tochter und schleppt sie mit acht Jahren zum Gesangsunterricht. Es folgen die größten Opernbühnen der Welt und Gagen von 100.000 Dollar pro Abend. Als die Mutter einen Anteil vom Erfolg will, schließt die Callas sie aus ihrem Leben aus. Ihre Bettelbriefe lässt sie bis zu ihrem Tod unbeantwortet.4. Das ewige Kind Auch Michael Jackson wird von seinem Vater gefördert und gefordert. Wenn der kleine Michael bei den „Jackson Five“ nicht spurt, bekommt er eins mit dem Gürtel übergezogen, irgendwann hat der Sohn so viel Angst, dass er brechen muss, wenn er seinen Vater sieht. Die Folge: Der spätere König des Pop soll seinen Vater in seinem Testament nicht bedacht haben. 5. Die Tochter auf Distanz Die französische Tennisspielerin Mary Pierce wird von ihrem Vater trainiert. Sechs bis acht Stunden am Tag, danach muss sie manchmal hinter seinem Auto her nach Hause laufen. „Marry, kill the bitch!“, ruft er ihr bei Turnieren vom Rang runter. Daraufhin erlässt der Tennisverband die „Jim Pierce Rule – die ihren Vater für fünf Jahre von allen offiziellen Turnieren ausschließt. Als er ihr in Rom auflauert und ihren Leibwächter verprügelt, verbietet sie ihm per Unterlassungsklage, sich ihr zu nähern. 6. Das Kokainmädchen Ihre Mutter lässt sie in einem Werbespot für Hundefutter auftreten, als Drew Barrymore elf Monate alt ist. Sie hat noch Größeres mit ihr vor. Der Durchbruch der Tochter kommt mit „E.T.“, Steven Spielberg wird ihr Patenonkel. Als sie 9 Jahre alt ist, fängt sie an zu rauchen, mit 11 Jahren trinkt, mit 12 kifft sie, mit 13 kokst sie und geht dann in eine Entzugsklinik. „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht Teil des Lebens der jeweils anderen sein“, so resümiert Barrymore ihre Beziehung zur Mutter im Jahr 2014. 7. Der Sohn des Kanzlers Als älterer Sohn steht Walter Kohl im Schatten seines Vaters – bis er 2011 ein Buch schreibt: „Leben und gelebt werden“. Darin beschreibt er seinen Vater Helmut Kohl als kalten Machtmenschen, der die CDU als seine wahre Familie sieht und zu Hause eigentlich nur zu Gast ist. Das Buch wird zum Bestseller. Als der Vater ein zweites Mal heiratet, bekommen die Söhne lediglich ein Telegramm. Daraufhin soll Walter Kohl ihn gefragt haben: „Willst du die Trennung?“ Der Vater sagte nur: „Ja.“
EMILIA SMECHOWSKI
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Immobiliengeschäfte in den USA: Deutsche Bank soll zahlen - taz.de
Immobiliengeschäfte in den USA: Deutsche Bank soll zahlen Wegen dubioser Immobiliengeschäfte in den USA drohen der Deutschen Bank hohe Schadenersatzforderungen. Die Rede ist von bis zu 10 Milliarden Euro. Wägt Ackermann hier ab, wer gehen und wer bleiben darf? Bild: dapd FRANKFURT/MAIN taz | Schwarze Woche für die Deutsche Bank. Erst ließ die Angst vor einer Rezession in den Vereinigten Staaten in Kombination mit der latenten Schuldenkrise in Europa die Kurse von Bankaktien weltweit einbrechen. Dann sorgte am Freitag die Nachricht von der Klageerhebung der US-Aufsichtsbehörde für Immobiliengeschäfte, der Federal Housing Finance Agency (FHFA), gegen insgesamt 17 Großbanken - darunter auch die Deutsche Bank - für einen weiteren Kursrutsch. An der Frankfurter Börse jedenfalls verlor die Aktie der Deutschen Bank ad hoc noch einmal rund 6 Prozent. Seit Anfang August wurden dort für die Wertpapiere der führenden Deutschen Bank Verluste von insgesamt 32,5 Prozent notiert, wie die FAZ errechnete. Und schon denkt man in den gerade erst ökologisch korrekt sanierten Zwillingstürmen der Bank ganz oben bei Vorstandschef Josef Ackermann über Massenentlassungen nach. Wie aus Gewerkschaftskreisen zu hören war, seien davon vor allem Mitarbeiter im Investmentbanking und bei der Tochter Postbank AG betroffen. Von einem Einsparvolumen von rund 2 Milliarden Euro ist die Rede. Auch wenn Bankboss Ackermann nicht an eine Rezession in Deutschland und im gesamten EU-Raum glaubt, stelle die Klage der US-Administration für die Deutsche Bank ein nur schwer kalkulierbares Bilanzrisiko dar, sagen jetzt Analysten. Tatsächlich geht es wohl um rund 10 Milliarden Euro Schadenersatz. Die Deutsche Bank soll für "missglückte Hypothekengeschäfte und falsche Angaben zu Hypothekenpapieren", so die FHFA, in den USA büßen, durch die den staatlichen Immobilienfinanziers Fannie Mae und Freddie Mac "substanzielle Verluste" entstanden seien, für die letztendlich der US-amerikanische Steuerzahler habe aufkommen müssen. Es seien "Giftpapiere" finanzschwacher Schuldner gebündelt und als "Sicherheiten" an Immobilieninvestoren verkauft worden, so die Vorwürfe der FHFA. Verfahren könnten sich über Jahre hinziehen Doch damit noch nicht genug. Die Deutsche Bank ist wegen ihrer mutmaßlich dubiosen Immobiliengeschäfte - Verkauf von Schrottimmobilien und wertlosen Hypotheken - noch in weitere Verfahren in den Staaten involviert, die sich nach Auffassung von US-Juristen über Jahre hinziehen könnten. Doch nicht nur die Deutsche Bank steht aktuell unter Beschuss der US-Regierung. Von der FHFA mitangeklagt wurden auch US-Geldinstitute wie etwa Goldman Sachs, die Bank of America (deren Investmentbank Merrill Lynch) oder die Citigroup sowie Großbanken in der Schweiz und in Großbritannien. Die Deutsche Bank ließ am Wochenende durch einen Sprecher erklären, dass alle von der FHFA gegen sie erhobenen Vorwürfe "unbegründet und haltlos" seien und man sich "mit allen Mitteln gegen die Klage zur Wehr setzen" werde. Zudem seien "Fannie and Freddie" schließlich "der Inbegriff erfahrener Investoren", so der Sprecher der Deutschen Bank.
Klaus-Peter Klingelschmitt
Wegen dubioser Immobiliengeschäfte in den USA drohen der Deutschen Bank hohe Schadenersatzforderungen. Die Rede ist von bis zu 10 Milliarden Euro.
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Wahlkampf in Berlin: Von Phrasen und Koalitionsfragen - taz.de
Wahlkampf in Berlin: Von Phrasen und Koalitionsfragen In der Wahlkampfrunde bei der IHK gibt die AfD den Wolf im Schafspelz – und jeder merkt's. Grüne und SPD befeuern Spekulationen über neue Koalitionen. Sind gerade gemeinsam auf Tour: Die sechs Spitzenkandidat*innen, hier vor einem Treffen beim VBKI Foto: dpa Eigentlich sollte man über die AfD möglichst wenig Worte verlieren, erst recht im Wahlkampf, wo ihre Phrasen noch ein bisschen platter sind als ohnehin schon. Umso besser, wenn das inzwischen offenbar auffällt, zu beobachten etwa bei der Diskussion der sechs Spit­zen­kan­di­da­t*in­nen für die Berlin-Wahl bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) am Montagmorgen. Da wurde Kristin Brinker, Berliner Vorsitzende der extrem rechten Partei, von IHK-Vorstandsmitglied und Moderator Klaus-Dieter Müller nach ihrer Position zur Zuwanderung von Fachkräften gefragt, die der Bund jetzt forcieren wolle. Ein heikler Punkt für Brinker, schließlich ist schwer einzuschätzen, wie reaktionär zumindest Teile der Berliner Wirtschaft ticken. Und natürlich weiß auch die AfD-Spitzenkandidatin, dass der allseits beklagte Fachkräftemangel nur in den Griff zu bekommen ist, wenn viel mehr Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland kommen und hier arbeiten wollen. Die Wirtschaft im Großen und Ganzen, so viel ist bekannt, hat sich da längst von den Stammtischparolen a la „Unser Land zuerst“, wie die AfD aktuell wirbt, verabschiedet. Und so schlüpft Brinker in den Schafspelz, fordert kurz, dass die Zuwanderung von Fachkräften von der Regierung besser gesteuert werden müsse, was bisher nicht passiert sei, und wendet sich dann mit der Qualität der Schulen umfassend einem ganz anderen Thema zu. Nicht allerdings ohne am Ende die – aus ihrem Munde absurd anmutende – Frage aufzuwerfen, warum denn Deutschland nicht die Nummer eins der beliebtesten Länder für ausgebildete Kräfte sei? „Vielleicht, weil die AfD ein Standortnachteil ist“, liefert Klaus Lederer, Spitzendkandidat der Linke, eine nicht ganz von der Hand zu weisende Antwort. Er würde jedenfalls nicht in ein Land gehen, in dessen Parlamenten Rassismus „satisfaktionsfähig“ sei. Bettina Jarasch (Grüne) weist dann darauf hin, dass das, was Brinker „ungeregelte Migration“ nenne, eigentlich Flucht bezeichne und das Asylrecht ein Grundrecht in Deutschland ist – wofür sie Applaus aus dem Publikum erhält. Und Moderator Müller stellt nüchtern fest, dass es Brinker „offenbar sehr unangenehm ist, auf meine Frage zu antworten“, da sie so schnell ausgewichen sei. Wann geht es um die Verwaltungsreform? In einer anderen Frage sind sich Jarasch und Lederer allerdings weniger grün: Wann wird sich der Senat mit den Plänen für die Verwaltungsreform beschäftigen? Dieses Thema spielt immer wieder eine Rolle in Wahlkämpfen – seit etwa 30 Jahren. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kündigt an, das entsprechende Eckpunktepapier werde am 7. Februar Thema sein, also noch vor den Wahlen. Jarasch widerspricht: Der Rat der Bürgermeister, sprich: die Bezirke, müssten noch mehr einbezogen werden. Erst nach den Wahlen werde der Senat das Thema wieder aufgreifen. Lederer wiederum hält es für möglich, das Papier zu beschließen, und danach mit dem Bezirken weiter zu reden. Eine Position, die Giffey teilt: „Der Rat der Bürgermeister wird selbstverständlich beteiligt nach Senatsbeschlussfassung. Das ist das ganz normale Verfahren.“ Und so wird durch die öffentliche Zurschaustellung aus einer Termin-Lappalie ein absurdes Scharmützel, das die durch den Wahlkampf verstärkten Risse in der rot-grün-roten Koalition deutlich macht. Dabei waren sich in der Runde mit Ausnahme der FDP eigentlich alle einig: Es braucht Reformen, klare Zuständigkeiten, und auch eine Rolle für die Bezirke. Auseinandersetzungen wie diese befördern natürlich Spekulationen, ob es nach der Wahl und bei entsprechenden Ergebnissen zu einer anderen Koalition, etwa aus CDU, SPD und FDP, kommen könnte – was Sebastian Czaja, dessen FDP seit Jahrzehnten entweder in der Opposition ist oder gar nicht im Parlament, gerne aufgreift. Giffeys Aussage, man brauche für die Verkehrswende Anreize und keine Verbote, sei fast schon ein Appell, den Koalitionspartner zu wechseln, freut er sich. Genauso sieht das übrigens Bettina Jarasch. Worauf sie von Franziska Giffey ein leicht genervtes: „Ich habe für die SPD gesprochen, ich mache keinen Koalitionswahlkampf“, erntet.
Bert Schulz
In der Wahlkampfrunde bei der IHK gibt die AfD den Wolf im Schafspelz – und jeder merkt's. Grüne und SPD befeuern Spekulationen über neue Koalitionen.
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Jürgen Rüttgers will die CDU umkrempeln - taz.de
Jürgen Rüttgers will die CDU umkrempeln Der nordrhein-westfälische CDU-Chef fordert eine umfassende Modernisierung seiner Partei: Ganztagsschulen für alle und den Verkehr aufs Schiff BOCHUM taz ■ Wohin steuert die CDU? Nach zaghaften Vorstößen ihrer Vorsitzenden Angela Merkel, das konservative Familienbild der Partei zu modernisieren, setzte ihr Fraktionschef im Bundestag, Friedrich Merz, in letzter Zeit zunehmend auf konservative Reflexpolitik: Gerade drohte er, die Ausländerpolitik zum Wahlkampfthema zu machen. Modernisierte CDU – ade? Nein, es gibt ja noch Jürgen Rüttgers: Im Interview mit der taz-nrw fordert der nordrhein-westfälische CDU-Chef nun eine umfassende Modernisierung der Partei. In der Verkehrspolitik will Rüttgers nicht nur Schröder, sondern auch seine eigene Partei auf der grünen Spur überholen: „Wir versprechen den Leuten, vierspurige Straßen zu sechsspurigen auszubauen – aber reicht das aus?“ Rüttgers schlägt eine Verlagerung von Gütern auf das Schiff und die Schaffung einer „Meeresautobahn“ vor, auf der Frachtschiffen feste Fahrtrouten und Liegezeiten garantiert sind. Nachholbedarf, so Rüttgers, habe die CDU auch im gesellschaftspolitischen Bereich sowie der Bildungspolitik. Die CDU müsse die Lebensweisen der Menschen akzeptieren, in NRW werde sie deshalb demnächst eine Kampagne für die Ganztagsschule fahren – bis jetzt ein rotes Tuch für die Partei. In der Bildungspolitik komme es darauf an, niemanden aus der Wissensgesellschaft auszugrenzen. Rüttgers schlägt vor, allen Kindern von Sozialhilfeempfängern einen „Anspruch auf Computer“ zuzubilligen. Der Staat, so Rüttgers, müsse sich auf seine Kernkompetenzen besinnen: Außenpolitik, innere Sicherheit und Schulpolitik. Dafür dürfe es nicht an Geld fehlen. Dafür müsse der Staat aus anderen Bereichen raus. Das bedeute aber keinen Rückzug aus der Sozialpolitik. „Ich mag nicht, wie Leute in der CDU darüber reden, dass Sozialhilfeempfänger mehr Geld bekommen als Arbeitnehmer in der niedrigsten Lohngruppe. Denn das kann ja nicht dazu führen, dass eine allein erziehende Mutter weniger Geld bekommt.“ Rüttgers räumt ein, dass sein Landtagswahlkampf zugespitzt war. „Den Sprung vom Fachminister zu jemandem, der plötzlich für alles zuständig war, musste ich erst lernen“. MARKUS FRANZ
MARKUS FRANZ
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Die neuen Welten im Kopf - taz.de
Die neuen Welten im Kopf Neuauflage des Berlin-Romans „Alexanders neue Welten“ von Fritz Rudolf Fries  ■ Von Stefan Bruns Die Wiedervereinigung „dieser durchgerißnen Stadt“ hatte Fritz Rudolf Fries schon vor zehn Jahren vorweggenommen: im Bett des kosmopolitischen Machos O.K. Berlinguer, dem es obliegt, neben seiner angetrauten Hälfte (Ost) eine Tussi (West) (mit/ohne „Jeans vom Gesundbrunnen“) zu beglücken. O.K. selbst überwindet „den schutzwall eines schenkels“, steht mannhaft in der Mitte zwischen beiden, wie der Fernsehturm am Alex über den Hälften der Stadt. Diese und andere mehr oder weniger politische Taten Berlinguers – der als Jude mit dänischem Paß und „Opfer des Faschismus“ „in der DDR eine Mitte gefunden hat“, aber (im Wortsinn) weit über sie hinausgeht – kann man nachlesen in Fries' Berlin-Roman „Alexanders neue Welten“. Der Piper- und der Aufbau-Verlag haben Neuausgaben des zuerst 1982 erschienenen, lange vergriffenen Werkes aufgelegt. Fries' bisheriges ×uvre ist damit endlich wieder komplett greifbar. „Alexanders neue Welten“ sind ein Kosmos, bestehend aus vielen montierten Textteilen. Einer davon ist ein in sich (fast) geschlossener Roman. Hinzu kommen, ineinander verschachtelt, eine amtliche Mitteilung, ein Tonbandtagebuch, ein literaturwissenschaftlicher Vortrag, ein heimlich mitgeschnittenes Telefongespräch, drei Traumerzählungen sowie die „apokryphen Anmerkungen“ des Literaturbeamten Dr. Alexander Retard, eines Freundes von Berlinguer, der dessen Leben zu rekonstruieren versucht, nachdem Berlinguer auf rätselhafte Weise verschwunden ist. Auf dem Flug zu Tagen der DDR-Kultur in Havanna ist er samt Dolmetscher, Staatsdichter und einer Delegation Mannequins in ein unbekanntes afrikanisches Land entführt worden. Retard hat nicht nur – nachdem Berlinguer 1968 wegen kritischer Äußerungen zum Einmarsch in Prag aus der Akademie der Wissenschaften der DDR entlassen wurde – dessen Arbeitsplatz übernommen. Er akzeptiert auch seine Geliebte und identifiziert sich im Laufe der Rekonstruktion von Berlinguers Vita mit dem Verschollenen, bis am Ende der Gesuchte und der Suchende zu einer Doppelgänger-Figur verschmelzen. Sehr zum Mißfallen seines Arbeitgebers sucht Retard, der „Spätling“, dabei keine „objektiven“ Erkenntnisse, sondern sieht Identifikation und Intuition als Mittel einer „fiktionalen Wissenschaft“ an, die auch keine avancierte französische Texttheorie scheut, lange bevor so etwas in der DDR bekannt sein darf. Die Romankonstruktion bleibt offen, der Leser wird keines Besseren belehrt. Nur mit Aufwand läßt sich eine Chronologie der Ereignisse herstellen. Am Ende weiß man nicht, wohin es Berlinguer verschlagen hat, obwohl man einen literaturhistorischen Gewaltritt auf Sancho Pansas Esel macht, vom Hohen Atlas bis ins Buenos Aires von Cortázar, durch dichten Nebel und Shakespeares Sturm nach Thule; obwohl Cervantes' Leuchtturmwächter und Tanzmeister Rutilio die Führung zur „Mitte der Welt“ übernimmt, Guzmán de Alfarache, der König der Picaros, zurück in die Sonne der Alhambra leitet. Auch wenn Alfred Döblin den Weg zum Alex weist und man – ohne anzukommen – ins revolutionäre Kuba fliegt, durch chinesische Steinzeiten und Mickels „Eisenzeit“, vorbei an allerlei utopischen (Bedeutungs-)Inseln. Obwohl manch mystische Maske sich entpuppt als eine, die ein gewitzter DDR-Autor des Zensors wegen anlegen mußte. Denn Fries hatte erfahren, was es heißt, wenn man als Autor noch ein Nobody ist und der Erstling verboten wird. Sein Debüt hatte Aufsehen erregt: In dem sinnlich- überschwenglichen Jazz-Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ (1966) hatte Fries schelmisch-frech und mit hintergründiger Ironie sämtliche in der DDR geltenden politischen und ästhetischen Tabus und Gebote übertreten: von Staatssicherheit bis Antifaschismus, von sozialistischem Realismus bis Fortschrittsglaube. „Der Weg nach Oobliadooh“ konnte nur im Westen erscheinen, der Umweg in einen DDR-Verlag dauerte 23 Jahre – und das noch in zensierter Fassung. Die westliche Literaturkritik hatte in den sechziger Jahren in „Oobliadooh“ Fries' Auflehnung gegen die beengenden Verhältnisse, gegen die ideologischen Fronten als puren Antikommunismus gelesen. Doch Fries lehnte es ab, die Rolle des Dissidenten und enfant terrible auszufüllen. Der Part des zum Verstummen gebrachten Regimeopfers war seine Sache nicht. Fries wollte sich literarisch äußern, notfalls durch die Blume, und wählte die Methode Schlitzohr. Die Beschäftigung mit der pikaresken Literaturtradition Spaniens spielt da eine Rolle. „Der Schelm ist ein ,Leidender‘“, schreibt Fries, „er setzt sich zur Wehr, so gut er kann, er sammelt Erfahrungen, aber am Ende macht er lieber eine Garküche auf, als daß er den Umsturz der Zeiten oder die Reformation vorbereitete.“ In der Hitze des Gefechts steht der Picaro abseits. Sein Element ist eher die Misere, die auf den Sieg folgt: wenn das Beobachtete reflektiert wird, man sich neu orientiert. In das Frontensystem des Kalten Kriegs wollte Fries sich nicht einreihen lassen. Der Grenzgänger zwischen der hispanischen und der deutschen Kultur hält immer die Position eines „halben Außenseiters“: nie einer Seite allein zugehörig, politisch nicht eindeutig festlegbar, aber dem Zeitgeist widerstehend, unzeitgemäß und vorneweg. Die vordergründig angestrebte „Dokumentation“ von Berlinguers Leben wird mangels vorzeigbarer Ergebnisse zwar zum „Dokument einer Niederlage“ des Dr. Retard. Doch findet der gehbehinderte, betuliche, seßhafte Retard, was sein ruheloser Doppelgänger suchte. Denn Retard er-findet: Im Kopf werden die wahren Entdeckungen gemacht, im Kopf sind schon die „neuen Welten“. Vorweggenommen hat Fries nicht nur auf anstößige Art („im doppelten Wortsinn“, wie er sagen würde) die Vereinigung Berlins in einem literarisch übereinandergelagerten Doppeldiskurs von Politik und männlichen Sexualphantasien. Auch dem real existierenden Sozialismus hat er früher als andere den Schwanengesang angestimmt. Als sich dann alle von der DDR lossagten, bekannte er sich zu ihr, insofern sie ihn geprägt, er sie als Stofflieferantin akzeptiert hatte. Der Roman „Alexanders neue Welten“, zweifellos Fries' bisheriges Chef-d'÷uvre, ist ein Feuerwerk literarischer und politischer, immer neuer, überraschender Verknüpfungen, die nicht nur nichts an Aktualität eingebüßt haben, sondern deren Wirkung sich derzeit erst richtig zu entfalten beginnt. Je ferner der Blick auf die DDR, desto näher rückt sie bei der Lektüre von Fries' Romanen. Seine Texte aus DDR-Zeiten fungieren als Fernrohr, welches die politische Fassade der DDR weder positiv noch negativ abbildet, sondern das in der DDR vorherrschende Lebensgefühl konterkariert und die trübe, heute manchen so behaglich scheinende Realität mit ihren eigenen, unerfüllten Sehnsüchten hintertreibt. Sie sind damit zugleich das beste Mittel gegen jede DDR- Nostalgie. Stefan Bruns Fritz Rudolf Fries: „Alexanders neue Welten“. Roman. München (Piper) und Berlin (Aufbau) 1992, beide 415 Seiten, 19,80 DM bzw. 39,80 DM
stefan bruns
Neuauflage des Berlin-Romans „Alexanders neue Welten“ von Fritz Rudolf Fries  ■ Von Stefan Bruns
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Flüchtlinge auf Mare Jonio im Mittelmeer: Hilfsschiff darf nicht in Italien anlegen - taz.de
Flüchtlinge auf Mare Jonio im Mittelmeer: Hilfsschiff darf nicht in Italien anlegen Matteo Salvini untersagt einem Schiff mit 49 Flüchtlingen an Bord das Anlegen im Hafen von Lampedusa. Italiens Innenminister setzt damit seine Weigerungshaltung fort. Flüchtlinge auf einem Schlauchboot im Mittelmeer (Archivbild) Foto: ap ROM afp | Nach der Rettung von rund 50 Flüchtlingen vor der libyschen Küste durch ein italienisches Hilfsschiff hat Italiens Innenminister Matteo Salvini der Forderung nach einem Anlegen in einem italienischen Hafen eine Absage erteilt. „Die Häfen wurden und bleiben geschlossen“, schrieb Salvini am Montagabend auf Twitter. Sein Ministerium veröffentlichte zugleich eine an Hilfsorganisationen gerichtete achtseitige Anweisung hinsichtlich geltenden Rechts bei der Seenotrettung. Das italienische Hilfsschiff „Mare Jonio“ hatte zuvor vor der libyschen Küste 49 Flüchtlinge gerettet, während die libysche Küstenwache präsent war. Das Hilfsbündnis Mediterranea teilte mit, das Schlauchboot mit den Flüchtlingen an Bord sei rund 40 Seemeilen vor Libyen in Seenot geraten und gesunken. Unter den Geretteten seien zwölf Minderjährige. Die Flüchtlinge seien bereits zwei Tage im Mittelmeer unterwegs gewesen und „erschöpft und dehydriert“. Die Organisation bat Italien darum, einen Hafen zum Anlegen zu nennen. Die „Mare Jonio“, die unter italienischer Flagge fährt, steuert demnach auf die italienische Insel Lampedusa zu. Der dortige Hafen sei „der sicherste“. In der Anweisung von Salvinis Ministerium hieß es, zwar sei die Rettung von Menschen in Lebensgefahr eine „Priorität“, es müsse aber „Sanktionen“ für diejenigen geben, die „die explizit gegen internationale, europäische und nationale Regeln für Rettungseinsätze verstoßen“. Nach der Rettung von Flüchtlingen müssten Vorschriften eingehalten werden. Ansonsten könne den Helfern vorgeworfen werden, vorsätzlich illegale Einwanderer nach Italien bringen und „Menschenhandel erleichtern“ zu wollen. Überdies dürfe nicht über „das Risiko hinweg gesehen werden, dass die Gruppe von Migranten in terroristische Aktivitäten verwickelte Personen verstecken könnte“, hieß es. Salvini ist die Führungsfigur der einwanderungsfeindlichen, rechtsradikalen Regierungspartei Lega in Italien. Er ist zugleich stellvertretender Ministerpräsident. Wegen seines harten Kurses in der Einwanderungspolitik wird ihm immer wieder vorgeworfen, Hass gegen Ausländer zu schüren. Die „Mare Jonio“ ist derzeit das einzige private Hilfsschiff im zentralen Mittelmeer Salvini hat die Häfen des Landes bereits mehrfach für Rettungsschiffe gesperrt, um eine Verteilung der Flüchtlinge in Europa zu erzwingen. Schiffe, die Migranten bei nicht mit Rom abgestimmten Einsätzen in Gebieten des Mittelmeers retteten, die unter die Verantwortung Libyens fielen, hätten kein Recht in Italien anzulegen, erklärte Salvini am Montag. Überdies seien die italienischen Küsten nicht die einzigen Anlegestellen. Auch „die libyschen, tunesischen und maltesischen Häfen“ könnten „angemessene Unterstützung bei Logistik und Gesundheitsfragen leisten“ und seien zudem „in Sachen Seemeilen näher“. Die „Mare Jonio“ ist derzeit das einzige private Hilfsschiff im zentralen Mittelmeer. Die anderen werden derzeit repariert, wechseln ihre Besatzung oder sind wegen juristischer Hürden blockiert.
taz. die tageszeitung
Matteo Salvini untersagt einem Schiff mit 49 Flüchtlingen an Bord das Anlegen im Hafen von Lampedusa. Italiens Innenminister setzt damit seine Weigerungshaltung fort.
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5 dinge, die wir gelernt haben - taz.de
5 dinge, die wir gelernt haben: 1 Populisten posten Schneebilder Handflächengroße Hagelkörner am Gardasee, apokalyptisch anmutende Waldbrände auf Mittelmeerinseln und eine Sintflut in Kanada. Die Wetterextreme häufen sich weltweit. Aber ist das bloß Wetter oder doch schon Klimawandel? Eine Studie belegt nun: Die extreme Hitze im Juli wäre ohne Treibhausgas-Emissionen „praktisch unmöglich“ gewesen. Bayerns Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger ist das egal. Er postet bei Twitter aktuelle Schneebilder aus den Alpen. Der Hitzesommer sei ausgeblieben. Aiwanger fragt spöttisch: „Was nun?“ 2 Reiche kriegen Solidarität Nicht ausgeblieben ist die Panik unter Deutschlands Reichen, weil es künftig ab einem zu versteuernden Einkommen von mehr als 150.000 Euro pro Jahr und Paar kein Elterngeld mehr geben soll. Eine Petition gegen die Pläne hat in nur drei Wochen rund 600.000 Unterschriften gesammelt und damit deutlich mehr Befürworter, als potenziell von den Kürzungen betroffen sind. Eine Petition, die sich für die Kindergrund­sicherung einsetzt, haben in drei Monaten nur knapp 200.000 Menschen unterschrieben. 3 Morgensport begeistert Mehr Aufmerksamkeit bekommt derzeit die Frauenfußball-WM. Deutschlands Auftaktspiel sahen im ZDF am Montagmorgen zu unsportlicher Zeit (10.30 Uhr) 5,61 Millionen Menschen. Der Marktanteil lag bei 60,4 Prozent. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die TV-Konkurrenz war schwach, parallel liefen eine Wiederholung des Wissensquiz „Meister des Alltags“, die Gerichtssoap „Das Strafgericht“ und zehn Folgen „Scrubs“ von 2002. 4 Schlussstriche ziehen ist nicht Konkurrenz muss CDU-Chef Friedrich Merz aus den eigenen Reihen fürchten. Sein In-den-Kommunen-könnte-man-es-mit-der-AfD-doch-ruhig-mal-machen-Testballon hatte zu heftigem Gegenwind geführt. Auch die Debatte über seine Kanzlertauglichkeit ist eröffnet. Da hilft es auch nichts, wenn Merz die Diskussion einfach ablehnt. „Spekulationen über Koalitionen oder gar Personaldebatten gehören derzeit nicht zu den Aufgaben der CDU“, sagte er. 5 Kein Sommerloch-Tier in Sicht Die Aufgabe von Medien: ein Sommerloch-Tier finden. Das schien gelungen, eine Löwin versetzte Brandenburg und Berlin vor einer Woche in Aufregung. Nach drei Tagen gab es Entwarnung, die Fotos zeigten ein Wildschwein. Was, wirklich? Die Polizei, die mit Hunderten Beamten auf Löwenjagd ging, wollte doch bloß ins Wochenende! Das war eindeutig ein Löwe. Am Mittwoch nun die laborgestützte Gewissheit: Die gesammelten Kotproben stammen vom Wildschwein. Doch Restzweifel bleiben. War das die richtige Kacke? (pw)
Paul Wrusch
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Reclaim the Wolkenkratzer - taz.de
Reclaim the Wolkenkratzer Doku Zwischen Hochhäusern der Strand: Der poetische Film „Hong Kong Trilogy“ erzählt von der „Umbrella“-Bewegung Kippt trotz des dokumentarischen Blicks immer wieder um in allzu niedliche Alltagspoesie: „Hong Kong Trilogy“ Foto: Rapid Eye Movies von Lukas Foerster John Lennons „Imagine“ taugt, wer hätte das gedacht, immer noch zum Soundtrack linksromantischer Protestbewegungen. Im Stadtzentrum Hongkongs, auf der Harcourt Road, projizierten Aktivisten der „Umbrella-Revolution“ im Jahr 2014 ihre Forderungen an eine Wand, begleitet von den Klängen des Politkitsch-Evergreens. Lose inspiriert von der Occupy-Bewegung, aber vor allem als Reaktion auf einen Erlass der chinesischen politischen Führung, der allen Hoffnungen auf Demokratie einen Riegel vorgeschoben hatte, legten die Protestierenden fast drei Monate lang eine Hauptverkehrsstraße der Millionenstadt lahm. Dokumentarische Aufnahmen der Umbrella-Demonstrationen und -Camps bilden das politische Kernstück eines Films, der sich an einem alternativen Sozialpanorama der einstigen britischen Kronkolonie und jetzigen chinesischen Sonderwirtschaftszone versucht. „Hong Kong Trilogy – Preschooled Preoccupied Preposterous“ spielt fast durchweg auf Straßen, im öffentlichen Raum. Der Regisseur Christopher Doyle interessiert sich dabei nicht für das Hochglanz-Hongkong der Banken und Designerläden. Wenn er die verglasten Wolkenkratzer gelegentlich doch im Hintergrund seiner Figuren in Szene setzt, hat das etwas von einer Drohung: In denen könntet ihr auch enden. „Hong Kong Trilogy“ vermisst in drei Kapiteln die Freiräume zwischen den Hochhäusern. Im ersten (und schönsten) geht es um Mädchen und Jungen, die zwar in einer Schule mit blauen Fensterfronten auf das „rat race“ eines enthemmten Kapitalismus vorbereitet werden; denen aber vorläufig noch genug Zeit bleibt, in ihren blauen Schuluniformen ziellos die Stadt zu durchstreifen. Der Mittelteil widmet sich den Protesten selbst und porträtiert einige ihrer extravaganteren Protagonisten; etwa einen nerdigen jungen Mann, der Urban Gardening-Techniken austüftelt und mit einem rollenden Grasbett durch die Straßen schlendert. Zum Abschluss folgt Doyles Kamera einer Gruppe von Rentnern, die in Straßenbahnen zu einem improvisierten Speed-Dating-Event kutschiert werden. Das aktivistische Interesse ist nur eines von vielen, das Doyle umtreibt Doyle ist in Australien geboren, aber seit seinem 18. Lebensjahr ein Weltenbummler. Nachdem er sich als Naturheiler und Cowboy durchgeschlagen hatte, wandte er sich in den 1980er-Jahren dem Kino zu, zumeist als Kameramann. Auch da ist er weit herumgekommen, hat Filme in Frankreich, Thailand und Taiwan fotografiert, gelegentlich auch in Hollywood – vor allem aber in Hongkong. Insbesondere seine Kollaborationen mit Wong Kar-Wai Mitte der 1990er-Jahre sind eine Augenweide im wahrsten Sinne des Wortes. In den rauschhaft-impressionistischen Bildwelten, den grenzpsychotischen Farbekstasen, den alle Grenzen zwischen psychischen und physischen Räumen überschreitenden rasant-geschmeidigen Kamerafahrten von Filmen wie „Chunking Express“ oder „Days of Being Wild“ meint man die Welt tatsächlich noch einmal ganz neu entdecken zu können. Jetzt hat der Schöpfer audiovisueller Ausnahmezustände etwas auf den ersten Blick völlig anderes gedreht: einen sozialkritischen Dokumentarfilm. „Hong Kong Trilogy“ ist auf jeder Ebene von demokratischer Emphase geprägt. Teile des Budgets organisierte der Regisseur über eine Kickstarter-Kampagne, im Film treten ausschließlich nichtprofessionelle Darsteller auf, die mehr oder weniger sich selbst spielen: „Dieser Film wird von den Menschen erzählt, die in ihm zu sehen sind.“ Dennoch ist das aktivistische Interesse nur eines unter vielen, das Doyle umtreibt. Zwischen die Voice-over-Stimmen, die Interviews mit Stadtbewohnern entnommen sind, mischt sich der Freestyle-Rap eines von Liebeskummer geplagten Teenagers; und Doyles dokumentarischer Blick kippt immer wieder um in etwas allzu niedlich geratene Alltagspoesie. Etwa wenn ein Mädchen mit roter Schildkappe Eierkuchen an traurig dreinblickende Passanten verteilt. Im Kern ist der Film vor allem die Liebeserklärung eines Ästheten an eine Stadt, die ihn zu seinen exaltiertesten Kreationen inspiriert hat: eine audiovisuelle Stadtcollage, deren Fluchtpunkt eher fröhlich proliferierende Kunstproduktion als eine wütende Revolte ist. „Hong Kong Trilogy“: ab 15. 12 in den Kinos, u.a. Lichtblick Kino, Kastanienallee 77, 19.45 Uhr
Lukas Foerster
Doku Zwischen Hochhäusern der Strand: Der poetische Film „Hong Kong Trilogy“ erzählt von der „Umbrella“-Bewegung
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Zwei Selbstmordanschläge im Libanon: Dutzende Tote in Beirut - taz.de
Zwei Selbstmordanschläge im Libanon: Dutzende Tote in Beirut Im Libanon kommt es seit Jahren immer wieder zu Anschlägen. Zwei Selbstmordattentäter rissen nun in Beirut mindestens 37 Menschen mit in den Tod. Der südliche Beiruter Stadtteil Burdsch al-Baradschneh am Donnerstag nach den Anschlägen. Foto: ap BEIRUT dpa | Bei Anschlägen zweier Selbstmordattentäter sind im Libanon mindestens 37 Menschen getötet und weitere 181 verletzt worden. Das teilte das libanesische Rote Kreuz über den Kurznachrichtendienst Twitter mit. Die Attacken ereigneten sich am Donnerstag in dem südlichen Beiruter Stadtteil Burdsch al-Baradschneh, wo die radikal-islamische Schiitenpartei Hisbollah stark ist. Laut offizieller Nachrichtenagentur NNA kam es im Abstand von fünf Minuten und 150 Metern voneinander zu den schweren Explosionen. Nach Informationen von LBC waren insgesamt vier Selbstmordattentäter in der Gegend unterwegs, einer sei jedoch geflüchtet, ein weiterer getötet worden, bevor er seinen Sprengsatz zur Detonation bringen konnte. In den vergangenen zwei Jahren hat es bereits ähnliche Anschläge in südlichen Beiruter Bezirken gegeben. Der Libanon steckt auch wegen des syrischen Bürgerkriegs in einer schweren politischen Krise. Hisbollah-Milizionäre kämpfen im Nachbarland an der Seite des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Libanesische Sunniten unterstützen wiederum die Rebellen.
taz. die tageszeitung
Im Libanon kommt es seit Jahren immer wieder zu Anschlägen. Zwei Selbstmordattentäter rissen nun in Beirut mindestens 37 Menschen mit in den Tod.
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„Unsere Mütter, unsere Väter“ in Polen: Die haben Hochkultur, wir nur Eintopf - taz.de
„Unsere Mütter, unsere Väter“ in Polen: Die haben Hochkultur, wir nur Eintopf Nach der TV-Ausstrahlung des ZDF-Mehrteilers in Polen beruhigen sich die Zeitungskommentatoren. Doch im Netz ist von Propaganda im Goebbels’schen Stil die Rede. Jerzy (Lucas Gregorowicz) ist in „Unsere Mütter, unsere Väter“ der Anführer der polnischen Heimatarmee. Bild: ZDF/David Slama WARSCHAU taz | Die blutroten Plakate hängen noch immer in Polens Hauptstadt Warschau. Sie richten sich gegen den ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. Eine knochige Nazi-Hand greift mit tödlichem Griff nach Polen, doch ein Soldat der 1939 noch regulären polnischen Armee durchbohrt sie mit seinem Bajonett. „Wara!“ steht auf den Plakaten: „Hände weg von den AK-Soldaten.“ Der deutsche Film, so lautet der Vorwurf, wälze durch seine antisemitischen Partisanenszenen einen Teil der Schuld am Holocaust auf die polnische Untergrundarmee Armia Krajowa ab. Die Deutschen würden sich selbst als Opfer des Krieges darstellen. Die Kritik an dem „antipolnischen Film der Deutschen“ reicht in Polens Medien von ganz rechts bis ganz links. Den Ton gab schon im März der ehemalige Deutschlandkorrespondent der linksliberalen Tagezeitung Gazeta Wyborcza vor, als er in seinem Kommentar fragte: „Wer erklärt den Deutschen, dass die AK nicht die SS ist?“ Sicher habe es in der Partisanenarmee AK, die ihre Befehle von der konservativen Exilregierung in London erhielt, auch Antisemiten gegeben, so Bartosz Wielinski, aber Sätze wie „Juden ertränken wir wie Katzen“ oder „Besser tot als lebend“ stellten die polnischen Widerstandskämpfer mit den SS-Schergen gleich. Die rechtsnationale Zeitschrift Uwazam Rze zeigte daraufhin Kanzlerin Angela Merkel auf der Titelseite im gestreiften KZ-Anzug hinter Stacheldraht und prangerte die Filmemacher und ihre wissenschaftlichen Berater an: „Geschichtsfälschung. Wie die Deutschen aus sich Opfer des Zweiten Weltkriegs machen.“ Es sei unbekannt, wer den Krieg und die Grausamkeiten begonnen habe, erläutert Jan Pinski im Leitartikel. „Aber die Polen waren schlimmer als die Deutschen. Als sie im Film gefangene Juden aus einem Transportzug in ein Vernichtungslager befreien können, tun sie es nicht.“ Nach der – ebenfalls umstrittenen – Ausstrahlung des Dreiteilers durch das polnische Fernsehen TVP1 in der letzten Woche änderte sich der Ton der Debatte. Zwar blieben die Journalisten bei ihren Bewertungen „skandalös“, „antipolnisch“ und „geschichtsverfälschend“, doch die meisten der mehr als 3 Millionen polnischen Zuschauer hatten kein Problem, in den Filmfreunden sowie den SS-Männern in Berlin und an der Front Deutsche zu erkennen. Schwer beleidigt Doch viele polnische Internet-User sahen sich durch „Unsere Mütter, unsere Väter“ schwer beleidigt: Die antisemitischen Partisanenszenen seien schon schlimm, insbesondere weil die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager im nazibesetzten Polen nicht gezeigt würden, noch schlimmer aber sei die Darstellung der Polen als primitives Untermenschenvolk ohne jede Kultur. Das sei tatsächlich Propaganda im Goebbels’schen Stil. Denn während die Deutschen im Film klassische Literatur mit an die Front nähmen und junge Wehrmachtsoldaten von einem Philosophiestudium in Heidelberg träumten, schwärmten die polnischen Partisanen in ihren dreckigen Klamotten lediglich von einer deftigen Wursteinlage im Bigos, dem polnischen Sauerkrauteintopf. Die Deutschen, so der Vorwurf vieler Schreiber im Netz, würden sich noch immer als die den Slawen kulturell überlegenen Übermenschen begreifen. Hier hohe Literatur, dort Knoblauchwurst und Eintopf. In der Sonntagsausgabe der Gazeta Wyborcza plädierte der Journalist Pawel Wronski für mehr Gelassenheit. Denn die Deutschen hätten in der Serie durchaus auch einiges über die Besetzung Polens durch Deutschland erfahren, über Alina, eine vergewaltigte Zwangsarbeiterin, über die polnische Untergrundarmee AK und über Massenexekutionen, bei denen Wehrmachtssoldaten nicht nur Juden, sondern auch polnische Partisanen ermordeten. Zudem verdanke Viktor, der einzige Jude unter den fünf Berliner Freunden, gleich mehreren Polen sein Leben. Es tue den Polen gut, von Zeit zu Zeit in den Spiegel zu schauen, so Wronski, auch dann, wenn es sich um einen Zerrspiegel handeln sollte.
Gabriele Lesser
Nach der TV-Ausstrahlung des ZDF-Mehrteilers in Polen beruhigen sich die Zeitungskommentatoren. Doch im Netz ist von Propaganda im Goebbels’schen Stil die Rede.
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Nicht ganz koscher - taz.de
Nicht ganz koscher Bei der Parlamentswahl in Pakistan hat es laut deutschem Beobachter Wahlfälschungen gegeben ISLAMABAD/BERLIN rtr ■ Bei der Parlamentswahl in Pakistan am Montag dürfte es nach Einschätzung eines deutschen Wahlbeobachters zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen sein. „Es ist davon auszugehen, dass die Wahlen in erheblichem Maße gefälscht worden sind“, sagte der Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy gegenüber Reuters am Montag. So seien zahlreiche Wähler in mehreren Stimmlokalen registriert gewesen, sagte der SPD-Politiker, der die Wahl als Vorsitzender der deutsch-südasiatischen Parlamentariergruppe vor Ort beobachtete. Andere Pakistaner seien gegen ihren Willen von den Wählerlisten gestrichen worden. „Die Frage ist nicht, ob die Wahlen gefälscht worden sind, sondern wie massiv sie gefälscht worden sind“, betonte Edathy. Offenbar seien rund 20 Millionen Stimmzettel mehr im Umlauf gewesen, als es Wahlberechtigte gegeben habe. Zudem seien kurzfristig mehr als 300 „mobile Wahllokale“ eingerichtet worden, die einer effektiven Beobachtung weitgehend entzogen gewesen seien. „Das dürfte ein Einfallstor für Fälschungen werden“, sagte der Politiker. Bedenklich sei auch, dass die Regierung unabhängige Nachwahlbefragungen verboten habe. Entscheidend für das Ausmaß der Unregelmäßigkeiten könnte die Wahlbeteiligung sein, sagte Edathy: Je niedriger sie sei, desto höher sei die Anfälligkeit für Manipulationen. Erste Zeichen deuteten auf eine sehr geringe Beteiligung. Dazu habe auch die Angst vor Anschlägen beigetragen. Die Wahlen selbst verliefen unerwartet friedlich. Umfragen hatten zuvor die Partei der ermordeten Oppositionsführerin Benazir Bhutto als Favoritin gesehen.
taz. die tageszeitung
Bei der Parlamentswahl in Pakistan hat es laut deutschem Beobachter Wahlfälschungen gegeben
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Berlins Regierender im Interview: „Ich muss mir nichts mehr beweisen“ - taz.de
Berlins Regierender im Interview: „Ich muss mir nichts mehr beweisen“ Corona bescherte Michael Müller neue Popularität. Ein Gespräch über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft, seine Zukunft und alte weiße Männer. Luft schnappen: Michael Müller auf dem Balkon seines Amtszimmers im Roten Rathaus Foto: Anja Weber taz: Herr Müller, vor dreieinhalb Monaten wurde die erste Corona-Infektion in Berlin offiziell bestätigt. Wenn Sie auf diese Zeit zurückblicken, welcher Moment ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben? Michael Müller: Die Absage der Internationalen Tourismusbörse ITB, gleich zu Beginn der Krise. Das war ein Bruch, und uns im Senat wurde klar: Jetzt beginnt etwas ganz Neues. Und mir fällt auch sofort die Besichtigung des Covid-Notfallkrankenhauses Ende Mai auf dem Messegelände ein. Ich habe mir dabei vorgestellt, wie es wäre, wenn die Betten alle belegt wären. Was für eine Ausnahmesituation... Der schnelle Bau des Notfallklinikums war eine Leistung des Senats – und jetzt müssen Sie geradezu froh sein, dass die knapp 50 Millionen Euro dafür in den Sand gesetzt wurden. Verrückte Zeiten! Na ja. Es war immer klar, dass der Großteil der medizinischen und baulichen Ausstattung woanders verwendet werden kann und werden wird. Das Geld ist also gut angelegt. Wir wollten vorbereitet sein. Und das gilt auch weiterhin für eine mögliche zweite oder dritte Coronawelle. Sie kommen gerade aus der wöchentlichen Sitzung des Senats, zu der erneut der Charité-Virologe Christian Drosten geladen war. Stimmt. Und er hat betont, wie viele andere Experten auch, dass wir uns noch immer in einer Pandemie befinden und die Gefahr nicht vorbei ist. im Interview:Michael Müller Der Regierende: Müller ist seit Dezember 2014 Berlins Regierungschef. Er setzte sich nach dem Rücktritt von Klaus Wowereit in einer SPD-Basisabstimmung gegen zwei weitere Kandidaten durch. Seit Ende 2016 führt er einen rot-rot-grünen Senat. Müller ist darin zugleich auch für die Wissenschaft zuständig. Der SPD-Politiker: Der 55-Jährige war mit Unterbrechungen zwölf Jahre Landeschef der Sozialdemokraten und er hat ihre Fraktion im Abgeordnetenhaus zehn Jahre lang geführt. Drei Jahre amtierte er zudem als Stadtentwicklungssenator unter Klaus Wowereit. Der Mensch: Müller wurde 1964 im heutigen Bezirk Tempelhof geboren. Er lernte nach der Mittleren Reife Bürokaufmann und arbeitete anschließend bis 2011 als Drucker im Familienbetrieb mit seinem Vater. In der Coronakrise hat die Wissenschaft große Bedeutung für die Politik gewonnen, viel größer als je zuvor. Der Wissenschaftsbereich in Berlin wird jetzt weltweit wahrgenommen. Wo wir ohne diese Experten und medizinische Einrichtungen wie der Charité wären – und ohne dass Politik die Beratung annimmt –, sieht man in anderen Ländern. Dass diese Leistungen nun endlich auch von einer großen Öffentlichkeit gewürdigt werden, freut mich ganz persönlich, auch besonders als Wissenschaftssenator. Nun sprechen Politik und Wissenschaft oft nicht die gleiche Sprache – das wurde zuletzt an einigen Uneinigkeiten und nicht zuletzt in der öffentlichen Debatte um die Rolle von Christian Drosten selbst deutlich. Ja, aber gleichzeitig ist das auch eine Chance. Ich habe den Forschern immer gesagt: „Ihr müsst für eure Arbeit werben, ihr müsst Menschen und Politik dafür begeistern. Es muss klarwerden, dass 100 Millionen Euro Förderung für die Wissenschaft gut ausgegebenes Geld ist.“ Diese Erklärung muss auch aus der Wissenschaft selbst kommen. Jetzt in der Coronakrise haben die Wissenschaftler diesen Auftrag angenommen. Sie gehen in die Öffentlichkeit, sie erklären einen Weg und sie unterstützen damit die Politik. Ein weiterer Unterschied ist, dass in der Wissenschaft angestrebt wird, Thesen zu widerlegen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Ein Politiker, der seine These wechselt, gilt als Umfaller und muss im schlimmsten Fall zurücktreten. (lacht) Das gab es schon, richtig. „Wir werden wohl so schnell wie in kaum einem anderen Bereich einen Impfstoff oder eine Medizin haben, weil alle zusammenarbeiten und lernen. Und die Politik lernt mit.“ Im Verlauf der Coronakrise gab es mehrere deutliche Richtungswechsel, etwa was den Sinn von Mund-Nase-Schutz angeht oder den Nutzen der Schließung von Schulen und Kitas. Drosten hat sich da mehrfach korrigiert. Das wurde von Ihnen bekanntermaßen nicht immer euphorisch aufgenommen, weil in der Folge auch der Senat seinen Kurs wechseln musste. Für Sie war das schwieriger zu verkaufen als für die Wissenschaftler. Die können immer sagen, sie hätten jetzt schlicht neue Erkenntnisse. Stimmt. Aber wenn man als Politiker oder Wissenschaftler dazulernt, ist das doch ein positives Zeichen. Corona war auch für die Wissenschaft neu, und sie hat trotzdem innerhalb von Wochen viele Antworten liefern können. Wir werden wohl so schnell wie in kaum einem anderen Bereich einen Impfstoff oder eine Medizin haben, weil alle zusammenarbeiten und lernen. Und die Politik lernt mit. Politik und Wissenschaft haben sich auf diesem Weg korrigiert. Kann man das beiden wirklich vorwerfen? Es geht ja darum, die Fehler zu vermitteln, zu erklären. Genau das machen wir. Klar ist das schwierig. Wer wusste denn schon von Anfang an, was da auf uns zukommt? Wir Politiker bekommen mit, was da gerade entsteht – und sehen parallel dazu die Bilder aus Italien mit Militärtransportern, auf denen Leichen liegen. Vor diesem Hintergrund wird dann nicht jede Entscheidung mit kühlem Kopf und für alle Ewigkeit getroffen. Aber im Ergebnis ist doch vieles sehr sachgerecht und gut entschieden worden. Wir haben also sehr vieles richtig gemacht. Welche Rolle spielte das Nachbarland Brandenburg bei den Entscheidungen? Wir haben immer gesagt, dass Berlin als Stadtstaat keine Insellösung formulieren kann. Unser Handeln muss – mindestens – mit Brandenburg abgestimmt sein. Und es war richtig, weitgehend koordiniert vorzugehen. Vergangene Woche ist Brandenburg damit vorgeprescht, die Kontaktbeschränkungen aufzuheben. Das widerspricht dieser These doch! Nein. Die Aufhebung ist auch in Berlin schon länger eine durchaus realistische Option. Es geht nicht darum, wer eine Woche schneller ist. Es geht um eine grundsätzlich einheitliche Linie. „Die Notwendigkeit, ständig zu reagieren und sich auch zu korrigieren – auch in dieser Geschwindigkeit –, ist bei Corona anders als sonst.“ Das heißt, der Senat wird mit der Aufhebung der Kontaktbeschränkung kommende Woche nachziehen? Mindestens die Systematik der Verordnung wird sich ändern. Wie ist das eigentlich für einen erfahrenen Politiker wie Sie, nun mit einem Virus zu kämpfen – also nicht persönlich als Krankheit, sondern mit einem großen unbekannten, plötzlich aufgetauchten Gegner nicht politischer oder wirtschaftlicher Art? Es ist nicht so, dass ich dauernd schlaflose Nächte habe. Aber es ist insgesamt eine bedrückende Situation, auch durch einen Coronatodesfall und eine schwere Corona-Erkrankung im Freundeskreis, dazu hat meine Mutter Asthma – auf einmal kommt einem diese große Krise sehr nah, sie wird sehr persönlich. Das unterscheidet diese Situation von anderen politischen Themen. Die Dienstwagen im Hof des Roten Rathauses Foto: Anja Weber Hat die Intensität dieser Krise auch damit zu tun, dass politisches Handeln höchstens für ein paar Tage, bestenfalls zwei Wochen, absehbar ist? Das berühmte Auf-Sicht-Fahren? Ja. Die Notwendigkeit, ständig zu reagieren und sich auch zu korrigieren – auch in dieser Geschwindigkeit –, ist anders als sonst. Bereits im Januar war Ihre Nachfolge als SPD-Landeschef geregelt worden: Im Mai sollten Raed Saleh und Franziska Giffey den Posten in einer Doppelspitze übernehmen. Der Parteitag fiel aus, und Sie sind immer noch SPD-Chef... (lacht) Stimmt. Da wundern sich viele. Denken Sie im Rückblick, dass Sie doch länger darum hätten kämpfen sollen, Parteichef zu bleiben? Ich habe keinen Kampf aufgegeben, sondern mich im Dezember entschieden, dass zwölf Jahre Parteivorsitz wirklich genug sind. Insofern war ich völlig mit mir im Reinen und bin es immer noch. Kanzlerin Angela Merkel hatte auch angekündigt, aufzuhören – nun drängen sie in der Krise manche, nochmal als Kanzlerin zu kandidieren. Gab es auch bei Ihnen konkrete Anfragen, dass Sie noch mal als Spitzenkandidat der SPD antreten? Franziska Giffey und Raed Saleh werden für den SPD-Landesvorsitz kandidieren. Die anderen Fragen spielen zu einem späteren Zeitpunkt eine Rolle. Und wir waren in den letzten Wochen auch mehr mit Corona beschäftigt als mit Personaldebatten. Sie hatten ja die Gelegenheit, in der „Markus Lanz“-Talkshow vor bundesweitem Publikum alles klar zu machen. Stattdessen haben Sie die Antwort auf die Frage, ob Sie nicht doch über 2021 hinaus Regierungschef bleiben wollen, offengelassen. Warum? Ich habe etwas entschieden für den Parteivorsitz. Und damit – ich mache mir ja nichts vor – gibt es auch eine Diskussion um die Situation im Roten Rathaus. Das ist okay, aber noch ist nichts entschieden. Was treibt Sie denn? Es macht einfach Spaß, wenn man spürt, da geht noch was – da hören Sie bei Ihrer Arbeit doch auch nicht morgen auf! Es ist ja nicht nur die Bewältigung von Corona. Mich macht es sehr glücklich, was wir bei Wissenschaft und Forschung erreicht haben. Und das ist nicht selbstverständlich, wenn man meine Biografie kennt. Nicht selbstverständlich, weil Sie nie zur Uni gegangen sind, sondern Drucker gelernt und einen Handwerksbetrieb geführt haben? „In meiner Generation gab es kein selbstverständliches Erleben oder Auseinandersetzen mit Diversity-Themen.“ Genau. Ich sitze hier im Roten Rathaus mit Präsidentinnen und Präsidenten von Forschungseinrichtungen, mit Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern zusammen, mit Professorinnen und Professoren, die weltweit anerkannt sind. Und wir können miteinander Dinge für den Wissenschaftsstandort Berlin verabreden. Da hören wir eine Genugtuung heraus, es als Nichtakademiker ­Zweiflern gezeigt zu haben. Gab es Situationen, in der andere auf Sie herabschauten, weil Sie kein Abitur haben? So etwas habe ich in meiner kurzen Zeit als Kultursenator gespürt. Da gab es einige in der Kulturszene, die bis heute erzählen, dass ich noch nie in der Oper oder im Theater war, weil sie unterstellen, dass der Handwerker nicht in die Oper geht. Was für ein Unsinn! Meine Eltern hatten schwierige wirtschaftliche Zeiten, aber es wurde gespart, damit wir mitunter jede Woche in die Oper oder ins Theater gehen konnten. Sie dürfen hier gern Namen nennen … Dürfen, aber nicht müssen. Aber in der Wissenschaft habe ich so etwas jedenfalls noch nie gespürt. Es gibt ja nicht viele – sagen wir – Proletarier im SPD-Sinn. In Ihrer Fraktion haben nur vier von 38 SPD-Abgeordneten nicht studiert. Auch darüber hinaus: Franz Müntefering, Kurt Beck – nur wenige haben es ohne Abitur und Studium in die erste Reihe geschafft, als Minister, Parteivorsitzender oder Ministerpräsident. Braucht es wieder mehr Handwerker und Arbeiter in den Parlamenten? „Nur wenige haben es ohne Abitur und Studium in die erste Reihe geschafft“: Müller im Parlament Foto: dpa Eindeutig. Solche Erfahrungen tun der Politik gut. Dass wir ein Mikrokreditprogramm für kleine Selbständige haben, die damit ohne große Prüfung 10.000 oder 20.000 Euro bekommen – das hat auch etwas mit meiner Erfahrung als Handwerker zu tun. Eine Bank hat mir mal 10.000 Mark für eine gebrauchte Druckmaschine nicht gegeben, weil ich keine Sicherheiten vorweisen konnte. Das prägt. So eine persönliche Erfahrung in die Politik einbringen zu können, ist wichtig. Eine andere aktuelle Debatte zu Biografien dreht sich um die der „alten weißen Männer“, wie SPD-Innensenator Andreas Geisel es genannt hat, die zu wenig Einblick in der Frage von Rassismus und Diskriminierung hätten. Hat Ihre Politiker-Generation – Sie sind 1964 geboren – da was verpasst? Alter Mann … na schönen Dank! Aber im Ernst: Man kann es ganz simpel runterbrechen: In meiner Generation, noch mehr bei den Älteren, gab es kein selbstverständliches Erleben oder Auseinandersetzen mit Diversity-Themen. Ich war nie im Ausland als Student und meine Eltern konnten sich, wenn’s gut lief, einmal im Jahr eine Reise nach Italien leisten. Wir sind nicht nach Asien, wir sind nicht nach Afrika geflogen, wir haben nicht direkt andere Kulturen und Religionen kennengelernt. Für die Generationen von heute ist das oft selbstverständlich – durch Schule, Studium und Freundschaften. Kriegt man deren Blickweise jetzt in den politischen Diskus rein? Das passiert nicht von allein. Es ist wie mit unserem Quotenbeschluss. Der regelt nicht alles, aber ohne ihn hätten wir keinen Frauenanteil von 40 bis 50 Prozent in den Gremien und Ämtern. Wenn ich Beteiligung will, dann muss ich dafür Rahmenbedingungen schaffen und Beschlüsse fassen. Ich muss es schlicht ermöglichen. „Irgendwann kam der Punkt, an dem ich dachte: Gut, dann wirst du eben so wahrgenommen, als blass und nicht so durchsetzungsstark, und hast trotzdem viel erreicht.“ … um letztlich andere zu zwingen, Realitäten zu akzeptieren? Eine Quote macht ja nichts anderes. „Zwingen, Realitäten zu akzeptieren“ – so kann man es auch formulieren. Das hört sich hart an, aber anders geht es nicht. Sie präsentieren sich uns hier als ein sehr offener, toleranterPolitiker, der sich beraten lässt, der Entscheidungen nicht durchpaukt. Gleichzeitig aber galten Sie lange auch als der zögerliche Nachfolger von Klaus Wowereit … ... jaja, entscheidungsschwach, führungsschwach, blass – ich kenne die seitenfüllenden Beschreibungen. Ist die Zeit solcher Alpha-Tiere wie Wowereit oder aktueller Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident, abgelaufen? Jede Zeit hat ihre Politiker mit bestimmten Profilen. Da ändert sich auch immer mal was, aber unterm Strich erwarten Wählerinnen und Wähler durchaus Führung. Nur, Führung funktioniert unterschiedlich: lautstark mit geballter Faust in Bierzelten zum Beispiel. Man kann sie aber auch einfach vorleben. Söder würde in Berlin nicht funktionieren, aber Müller in Bayern auch nicht? So sehe ich das. Diese seitenfüllende Beschreibung vom angeblich Führungsschwachen, Blassen – die hat immerhin zu Reaktionen bei Ihnen selbst geführt. Sie sitzen uns hier gar nicht blass gegenüber, und Sie tragen seit einer Zeit diese markante Brille... Ich hoffe, die Brille ist es nicht allein … Natürlich beschäftigt man sich mit Kritik von außen. Jeder Politiker ist ein bisschen eitel und möchte gerne öffentliche Zustimmung haben – da hängen auch die Partei und die Wahlergebnisse dran. Und man fragt sich schon: Kannst du noch was ändern? Aber man muss mit sich im Reinen sein, verbiegen sollte man sich nicht. „Ich habe weiter Lust, politisch etwas zu bewirken und aktiv zu sein“: Aber wo?​ Foto: dpa Und wer hatte die Idee mit der Brille? Ich brauchte wegen neuer Gläser schlicht eine neue, und dann hat meine Tochter mich beraten. Liefen Sie denn mal Gefahr, sich zu verbiegen? Vielleicht habe ich in der zurückliegenden Zeit den Fehler gemacht, mich selbst zu sehr unter Druck zu setzen. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich dachte: Gut, dann wirst du eben so wahrgenommen, als blass und nicht so durchsetzungsstark, und hast trotzdem viel erreicht. 25 Jahre Abgeordneter, zwölf Jahre Landesvorsitzender, zehn Jahre Fraktionschef, Regierender Bürgermeister. Und ich habe viele Themen gesetzt: Wohnungsbau, Wissenschaft, Investitionen. Ist doch nicht so, dass ich mich damit verstecken muss. Sie wirken jetzt sehr gelöst – sind Sie bereit für den Bundestag? Angeblich ist ja schon fest abgesprochen, dass Sie die SPD-Kandidatenliste für die Wahl 2021 anführen. Waren wir nicht eben noch beim Thema, ob ich nicht auch in der nächsten Legislaturperiode noch Regierender Bürgermeister bin? Ist aber so in der SPD allenthalben zu hören. Ich bin bereit, weiter Politik zu machen. Diesen Satz – zumindest so ähnlich – haben wir vor zwei Wochen auch von Ramona Pop, der grünen Wirtschaftssenatorin, gehört, als wir nach dem Thema Spitzenkandidatur fragten... Dann muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Es könnte ja auch sein: Raus aus der Politik, rein in die weite Welt der was auch immer. Ich muss nicht irgendwo Lobbyist oder Berater werden, wenn Sie das meinen. Stiftungschef ginge ja auch … Jetzt sehen Sie mich ja plötzlich schon als Rentner. Dafür müssten Sie ja noch ein paar Jahre einzahlen, Sie sind ja erst 55. Müssen überhaupt nicht. Das ist ja das Schöne: Ich muss gar nichts mehr, weder wirtschaftlich, noch um mir oder irgendjemandem etwas zu beweisen. Aber ich habe weiter Lust, politisch etwas zu bewirken und aktiv zu sein.
Bert Schulz
Corona bescherte Michael Müller neue Popularität. Ein Gespräch über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft, seine Zukunft und alte weiße Männer.
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UN-Konferenz erklärt sich - taz.de
UN-Konferenz erklärt sich ANTIRASSISMUSKONFERENZ Nach der israelfeindlichen Rede des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad verabschieden die Mitgliedsländer eine gemeinsame Erklärung gegen Rassismus GENF ap/taz | Mehr als 100 Staaten haben sich auf der UN-Konferenz gegen Rassismus überraschend auf eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung der Intoleranz in der Welt verständigt. Die Delegationen bekräftigten einstimmig die bereits 2001 in Südafrika beschlossene Erklärung gegen Rassismus. Damals war Israel als einziges Land des Rassismus bezichtigt worden, weswegen die USA und einige europäische Länder die Nachfolgekonferenz in Genf boykottierten. Die Erklärung ist juristisch nicht bindend, sondern eine politische Willenserklärung. Für einen Eklat hatte am Montag eine israelfeindliche Rede des iranischen Präsident Mahmud Ahmadinedschad gesorgt. Dabei hat er jedoch den Holocaust nicht geleugnet: Ahmadinedschad sprach nicht, wie im Redemanuskript vorgesehen, vom „zweideutigen und zweifelhaften“ Holocaust, wie die UN am Dienstag mitteilten. Die UN und die iranische Mission in Genf wollten sich nicht zu den Gründen für die Auslassung der umstrittenen Passage äußern. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon war vor Ahmadinedschads Rede mit dem Präsidenten zusammengetroffen. Dabei ermahnte er ihn nach Angaben seines Büros, dass die UN sich in Resolutionen klar gegen die Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus ausgesprochen und außerdem die historische Tatsache des Holocausts bekräftigt hätten. In Ahmadinedschads Redetext hieß es ursprünglich, der Westen habe die Nation der Palästinenser nach dem Zweiten Weltkrieg heimatlos gemacht „mit der Ausrede jüdischen Leidens und der zweideutigen und zweifelhaften Frage des Holocausts“. In seiner gesprochenen Rede sprach er jedoch nur vom „Missbrauch der Frage des Holocaust“. Die Europäische Union kritisierte die Rede Ahmadinedschads scharf. „Die EU weist die von Präsident Mahmud Ahmadinedschad vertretenen Ansichten entschieden zurück“, erklärte die tschechische EU-Ratspräsidentschaft am Dienstag im Namen aller 27 Mitgliedstaaten. Der französische Außenminister Bernard Kouchner kritisierte unterdessen die USA wegen des Boykotts der Konferenz: Angesichts der Dialogbereitschaft von Präsident Barack Obama gegenüber dem Iran sei das Fernbleiben „mehr als ein Paradox“, sagte Kouchner. Wegen des Boykotts durch Deutschland und andere europäische Staaten hatte sich Paris erst in letzter Minute zur Teilnahme in Genf entschieden.
taz. die tageszeitung
ANTIRASSISMUSKONFERENZ Nach der israelfeindlichen Rede des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad verabschieden die Mitgliedsländer eine gemeinsame Erklärung gegen Rassismus
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Bremens kaltes Herz für Frankreichs EmigrantInnen: Der Bruder des geköpften Königs, Karl Graf von Artois, wollte aus Bremen Sammelpunkt der Konterrevolution machen/2. Folge und Schluß - taz.de
Bremens kaltes Herz für Frankreichs EmigrantInnen: Der Bruder des geköpften Königs, Karl Graf von Artois, wollte aus Bremen Sammelpunkt der Konterrevolution machen/2. Folge und Schluß
günter beyer
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Personenverkehr und Klimapaket: Großer Wurf? - taz.de
Personenverkehr und Klimapaket: Großer Wurf? Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaft EVG sind sich uneins über den Schienenausbau. Vieles fehlt noch bis zur umweltschonenenden Mobilität. Die Fahrraddemonstranten bei der IAA wissen, wie klimaschonende Mobilität geht Foto: dpa Die Deutsche Bahn (DB) bejubelt das Klimapaket der Bundesregierung als „starkes Signal für eine starke Schiene“. Dagegen sieht die Eisenbahngewerkschaft EVG in dem Maßnahmenpaket „keinen großen Wurf“. Das Klimakabinett hatte am Freitag beschlossen, bis 2030 insgesamt 86 Milliarden Euro in die Erneuerung des Schienennetzes zu investieren. Das sind nach Schätzungen der Bahn etwa 20 Milliarden Euro mehr als bislang vorgesehen. Durch die Einführung digitaler Leit- und Sicherungstechnik soll nun die Kapazität gesteigert werden. Davon soll auch der Güterverkehr profitieren, der wohl stärker von der Straße auf die Schiene verlagert wird. Außerdem wird der öffentliche Personennahverkehr ab 2021 jährlich mit einer Milliarde Euro an zusätzlichen Bundesmitteln gefördert, ab 2025 wird der Betrag verdoppelt. „Die Beschlüsse vom Freitag sind ein starkes Signal für eine starke Schiene“, sagte Bahn-Chef Richard Lutz am Sonntag in einer Telefonpressekonferenz. Die Bahn stehe nun vor dem größten Investitions- und Wachstumsprogramm in ihrer 180-jährigen Bahngeschichte. „Wir spielen massiv auf Angriff und Ausbau“, sagte Lutz. Die Bahn werde die beschlossene Senkung der Mehrwertsteuer auf Tickets im Fernverkehr von jetzt 19 Prozent auf 7 Prozent eins zu eins an die KundInnen weitergeben – an dem Tag, an dem die gesetzliche Regelung in Kraft tritt. Die Senkung gilt auch für Bahncards. Wann sie kommt, ist noch unklar. Alexander Kirchner„Es handelt sich oft um Absichtserklärungen, die in der Umsetzung vage bleiben“ Die Mehrwertsteuersenkung muss vom Bundesrat abgesegnet werden. Lutz rechnet aufgrund der Fahrpreissenkung mit zusätzlichen fünf Millionen Fahrgästen im Jahr. Die Bahn will für den Fernverkehr neben den geplanten neuen Zügen 30 weitere anschaffen. Damit sollen die Kapazitäten um 13.000 neue Plätze erhöht werden. Ab Ende 2022 sollen rund 380 ICE-Züge im ­Einsatz sein, das wären etwa 100 mehr als heute. Anders als der Bahn-Vorstand bewertet die Eisenbahngewerkschaft EVG das Klimapaket als halbherzig und keinen großen Wurf. „Wir verkennen nicht, dass zahlreiche Maßnahmen auf eine Stärkung des Verkehrsträgers Schiene ausgerichtet sind. Aber wir müssen auch feststellen, dass es sich dabei oftmals um Absichtserklärungen handelt, die in der Umsetzung, vor allem aber in der Finanzierung vage bleiben“, kritisierte der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner. Netz erneuern, aber mit welchen Mitteln? Um Kapazitäten für mehr Fahrgäste zu schaffen und mehr Pünktlichkeit zu erreichen, müsse das Netz ganz grundlegend in Ordnung gebracht werden. Doch die dafür erforderlichen Mittel seien im Klimapakt nicht enthalten. Die EVG fordert die Einrichtung eines Schienenfonds, mit dem die nötigen Maßnahmen zur Sanierung der Infrastruktur und der Ausbau des Schienennetzes finanziert werden. Bahn-Chef Lutz sagte zur Kritik der EVG nur, er mache sich „das Kleinreden der Beschlüsse von Freitag nicht zu eigen“. Doch auch das Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene fordert Nachbesserungen. „Die Milliarden aus der Lkw-Maut dürfen nicht länger ausschließlich in den Bau von Autobahnen investiert werden, wie dies zurzeit gesetzlich vorgeschrieben ist“, sagte Geschäftsführer Dirk Flege. Das Klimapaket sieht zwar ab 2023 einen CO2-Aufschlag auf die Lkw-Maut vor, doch das, so Flege, wirke nur, wenn das Geld auch in umweltfreundliche Mobilität investiert werde.
Anja Krüger
Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaft EVG sind sich uneins über den Schienenausbau. Vieles fehlt noch bis zur umweltschonenenden Mobilität.
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Konflikt im Nordirak: Waffenstillstand ausgehandelt - taz.de
Konflikt im Nordirak: Waffenstillstand ausgehandelt Nach drohender Eskalation des Konfliktes an der türkisch-irakischen Grenze machen die USA Druck auf Türkei und PKK. Nun hat die Diplomatie das Wort. Größere Militärintervention vertagt: Truppenverlegung der Türkei an die irakische Grenze Bild: dpa ISTANBUL/WASHINGTON taz Nach Tagen der militärischen Auseinandersetzung und wachsender Spannung entlang der türkisch-irakischen Grenze hat jetzt wieder die Diplomatie das Wort. Am Dienstag traf der türkische Außenminister Ali Babacan in Bagdad ein, um über die Beilegung der Krise im Nordirak zu sprechen. Nach einer ersten Runde versicherte Außenminister Hoschjar Sebari, der Irak werde alles tun, damit die Türkei künftig nicht mehr von ihrem Staatsgebiet aus angegriffen wird und die PKK nicht länger die Beziehungen zwischen beiden Ländern vergiften kann. Babacan sprach sich für eine friedliche Lösung des Konflikts aus, wies aber zugleich das Angebot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zurück, die sich unter bestimmten Bedingungen zu einer Feuerpause bereit erklärt hatte. Gleichzeitig flog Ministerpräsident Tayyip Erdogan gestern nach London, um mit Premier Gordon Brown über dasselbe Thema zu reden. Zuvor hatten bereits die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice und ihr britischer Kollege David Miliband den "Terror" der PKK verurteilt und die irakische Regierung aufgefordert, verstärkt dafür zu sorgen, dass die türkisch-kurdische Separatistenorganisation keine Angriffe auf Ziele in der Türkei vom Nordirak aus mehr unternehmen kann. Vor allem dem Druck der USA ist es zu verdanken, dass nach den Kämpfen vom Wochenende wieder Ruhe eingekehrt ist. Dabei haben die USA offenbar im letzten Moment erreicht, dass die Türkei eine größere Militärintervention vertagt hat. Rice hatte Sonntagnacht in die laufende Sitzung des Sicherheitsrates in Ankara hinein erstmals angeboten, dass die USA selbst gegen die PKK militärisch vorgehen könnten, sagte Erdogan in einem Interview in Hürriyet. Demnach sorgte Rice in einer intensiven Telefonaktion dafür, dass die beiden irakischen Kurdenführer Dschalal Talabani und Massud Barsani die PKK so weit unter Druck setzten, dass sie am Montagabend einen Waffenstillstand ankündigte, "solange die türkische Armee uns nicht angreift". Damit scheint nun erst einmal die Zeit gegeben zu sein, um den Versuch einer politischen Lösung zu unternehmen. Rice regte an, am Rande der Irak-Nachbarschaftskonferenz am 3. und 4. November in Istanbul ein Außenministertreffen der USA, Türkei und des Irak einzuplanen. Am 5. November wird Erdogan nach Washington fliegen, um mit Präsident George W. Bush zu konferieren. Für die Türkei wird es darauf ankommen, dieses Mal bindende Zusagen der irakischen Seite und damit auch der kurdischen Autonomieregierung von Barsani zu bekommen, die Lager der PKK im Nordirak aufzulösen und die Führer der PKK auszuliefern. Der Irak beziehungsweise die kurdische Autonomieregierung wird ihrerseits darauf drängen, dass die Türkei die kurdische Autonomieregierung künftig anerkennt. Während Rice und ihr Kollege US-Verteidigungsminister Rob Gates alle Register zogen, um die PKK sowie die türkische Regierung zur Besonnenheit zu bringen, redete der irakische Vizepremier Barham Salih Tacheles. Salih, selbst Kurde und früherer Aktivist der Patriotischen Union Kurdistans, hält sich zur Zeit zu Gesprächen in Washington auf. Er warnte vor der Annahme, dass es hinsichtlich der PKK eine leicht zu erlangende Lösung gäbe. "Wir waren selbst Guerillas, bevor wir in die Bagdader Regierung kamen, wir wissen, wie der Guerillakampf geführt wird." Eine militärische Aktion seitens der Türkei könne zudem eine Einladung an den Iran sein, sich ebenfalls einzumischen. "Und das ist das Letzte, was wir in dieser Region noch brauchen", sagte Salih im Saban Center der Brookings Institution.
J. Gottschlich
Nach drohender Eskalation des Konfliktes an der türkisch-irakischen Grenze machen die USA Druck auf Türkei und PKK. Nun hat die Diplomatie das Wort.
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Die Wahrheit: Automobile in meiner Mansarde - taz.de
Die Wahrheit: Automobile in meiner Mansarde Was hilft gegen Ausländerfeinde? Artikel, Satiren oder Steine? Und was haben Garagen im Kapitalismus damit zu tun? Laut Isaac Davis, Protagonist in Woody Allens „Manhattan“, ein gutes Argument gegenüber Nazis. Foto: dpa Gemeinhin mischt man sich nicht in gewichtige öffentliche Debatten ein. Mitunter aber misslingt es, dieser gewissen regelwidrigen Anwandlung zu widerstehen; mitunter muss man ernsthaft eröffnen. Jetzt und Hier also, statt Wenn und Aber, darf man die Hetze gegen Ausländer antippen, präziser: die Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, die sich als „Asylkritik“ drapieren, in Wahrheit natürlich aber einen rassistischen Terrorakt bedeuten. Die Autorin Sibylle Berg meinte dieser Tage, „gegen Ausländerfeinde helfen keine Artikel mehr“. Mag sein. Es hilft jedoch vielleicht ein bündiger Einwurf des großen Harry Rowohlt. Mit seiner Ausländerfeindlichkeit komme er prima zurecht, sagte er bei Lesungen, wenn Teile des Publikums auf drei vermeintlich ausländerfeindliche Witze reserviert reagierten. „Meine Ausländerfeindlichkeit wird nämlich problemlos von meiner Inländerfeindlichkeit übertroffen.“ Dass Artikel wenig bis nichts helfen, meinte Woody Allen schon 1979 in seinem Spielfilm „Manhattan“, aus dem wir seltsamerweise neulich bereits zitierten. Auf einer Cocktailparty reißt Isaac Davis, der Protagonist, eine geplante Demo der Nazis in New Jersey an und ermuntert: „Da sollten wir hingehen und ihnen mit Steinen und Baseball-Kappen ein paar Sachen verklickern.“ Einer der Nebenstehenden erwidert, in der Times habe „ein wahnsinnig satirischer Artikel“ über die Nazis gestanden. Daraufhin Davis: „Satire in der Times, schön und gut, aber ein Stein kommt direkt zum Punkt.“ Eine Bekannte insistiert: „Aber eine richtig bissige Satire ist immer besser als physische Gewalt.“ Nein, sagt Isaac, physische Gewalt sei immer besser gegenüber Nazis. Nun wechseln wir den Gegenstand, und das Wie braucht den Vergleich mit den Überleitungen des Sportmoderators Delling nicht zu scheuen. Wir greifen auf eine üppige Sentenz des Großdenkers Max Horkheimer, veröffentlicht genau 40 Jahre vor der Premiere von „Manhattan“. Sie wird hier gleichsam seitenverkehrt wiedergegeben: Wer aber vom Faschismus redet, der sollte auch vom Kapitalismus nicht schweigen. Der Immobiliensektor im Kapitalismus nämlich sprang mir in die Augen, als mir gestern eine Verwandte berichtete, sie vermiete ihre Garage in Hamburch-Eimsbüttel für monatlich 90 Euro. Moment, dachte ich, rechne mal durch. Schnell checkte ich Angebote in meinem Viertel und tatsächlich: Eine „helle und freundliche Tiefgarage in gepflegtem Objekt“ ist für monatlich 90 Euro zu haben. Würde ich also drei Garagen mein Eigen nennen und die vermieten, hätte ich die kalten Kosten für meine 50-Quadratmeter-Mansarde beinahe raus. Anders gesagt, in meine kleine Mansarde passen im Grunde genommen mittlerweile nur drei Automobile. Zwar wäre der Transport bis unters Dach schwierig, zumal bei uns kein Aufzug eingebaut ist. Doch in summa: Leuchtet die Immobilienblase, steigt auch der Marktwert von Garagen, logisch. Möge niemand obdachlos sein oder werden. Die Wahrheit auf taz.de
Dietrich zur Nedden
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Relegationspiel Fürth gegen den HSV: Der Dino zittert sich durch - taz.de
Relegationspiel Fürth gegen den HSV: Der Dino zittert sich durch Mit einem denkbar knappen Ergebnis wendet der HSV den Abstieg aus der Fußball-Bundesliga ab. Am Ende sichert Torwart Drobny ein 1:1. Der Fürther Ilir Azemi (r.) kämpft mit den Hamburgern Dennis Diekmeier (l.) und Johan Djourou um den Ball Bild: dpa FÜRTH taz | In Fürth herrschte am Sonntag ein leichter Westwind. Das ist insofern bemerkenswert, als die Rauchschwaden, die unmittelbar vor Anpfiff aus dem HSV-Block aufstiegen, minutenlang dem Anhang des selbst ernannten Dinosauriers der Liga die Sicht vernebelten. Weil dort auch ein halbes Dutzend Böller gezündet wurde, stand das Urteil der Fürther Fans früh fest: „Absteiger!“ Es sollte anders kommen: Mit einem herbeigezitterten 1:1 schaffte der HSV schließlich den Klassenerhalt – dank eines frühen Führungstreffers: Nach einem Eckball von Rafael van der Vaart konnte Pierre-Michel Lasogga reichlich unbedrängt zum 0:1 einköpfen (14.). Nach einer Viertelstunde durfte der HSV sich also wieder als Bundesligist fühlen und konnte die Partie von nun an gelassener angehen. Nach dem 0:0 im Hinspiel hätte den Gästen schließlich auch ein 1:1 gereicht, um nach einem schlechten Hinspiel und zuletzt fünf Niederlagen in Folge doch noch die Liga halten zu können. Dabei hatte HSV-Trainer Mirko Slomka im Vergleich zum Hinspiel drei Änderungen vorgenommen: Für Michael Mancienne, Robert Tesche und Tomás Rincón spielten Heiko Westermann, Marcell Jansen und Tolgay Arslan. Die vierte Umstellung erfolgte dann unfreiwillig: Denn nach einer halben Stunde war für Johan Djourou Schluss. Der Verteidiger blieb nach einem Foul an Rahman Baba selbst verletzt liegen und musste vom Platz getragen werden; für ihn kam Mancienne, der sich nahtlos in eine Hamburger Abwehr einfügte, die so sicher stand wie selten in dieser Saison. Fürth spielte in der Folgezeit zu viele lange Bälle, über die sich vor allem Hamburgs Innenverteidiger Heiko Westermann freute. Umgekehrt ging das Kalkül des HSV, möglichst viele Standardsituationen herauszuarbeiten, im ersten Durchgang voll auf – Schiedsrichter Knut Kircher zog sich jedenfalls schon früh den Ärger der Fürther Fans zu. Verdiente Führung Dabei diente der Referee allerdings auch ein wenig als Projektionsfläche, denn außer einer Torchance von Ilir Azemi (39.) hatte Fürth kaum nennenswerte Offensivaktionen, die 1:0-Halbzeitführung der Gäste war also nicht unverdient. Zumal Lasogga in der 35. Minute eine weitere gute Möglichkeit hatte, die Wolfgang Hesl allerdings vereitelte. Bei Fürth machte sich zudem das Fehlen von Niko Gießelmann bemerkbar, der gelbgesperrt ausfiel. Dessen Vertreter Rahman Baba ist ein hoch talentierter Verteidiger, für Nerven-Spiele wie das vom Sonntag mit seinen 19 Jahren allerdings noch nicht robust genug. Die Hamburger Spieler durchschauten das früh und spielten so gut wie jeden Angriff über die linke Fürther Abwehrseite. Auch im zweiten Durchgang fing der HSV konzentriert an und blieb spielbestimmend. Nach einem Freistoß von Hakan Çalhanoglu scheiterte Lasogga erneut mit einem Kopfball an Hesl, der aus einem Meter Entfernung parierte (52.). Kurz darauf verdaddelte Benjamin Röcker den Ball vor dem eigenen Strafraum, doch Arslan schoss drüber. Der Ausgleich So anfällig die Defensive der Fürther also blieb – offensiv kam nun etwas mehr Zug in die Aktionen der Franken, die sich eigentlich vorgenommen hatten, ähnlich wie im Hinspiel den HSV mit Tempofußball zu irritieren. In der 59. Minute klappte das einmal und prompt stand es 1:1. Nach einer schnellen Kombination und einem intelligenten Zuspiel von Zoltán Stieber traf Stephan Fürstner. Nun war die Kulisse da, und prompt wurden die Aktionen des HSV fahriger. Stieber hatte in der 62. Minute eine gute Möglichkeit zur Fürther Führung, scheiterte aber am starken Jaroslav Drobný, der kurz darauf auch gegen Ilir Azemi zur Stelle war (69.). Der HSV wirkte nun erneut konditionell nicht mehr auf der Höhe und konnte von Glück sagen, dass die stark verbesserten Fürther an diesem Nachmittag nicht die Cleverness bei den entscheidenden Zuspielen erfunden hatten. Einmal kamen die Fürther noch durch: In den Schlusssekunden parierte Drobný Kopfbälle von Niklas Füllkrug und Benjamin Röcker.
Christoph Ruf
Mit einem denkbar knappen Ergebnis wendet der HSV den Abstieg aus der Fußball-Bundesliga ab. Am Ende sichert Torwart Drobny ein 1:1.
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In Albanien ist das erste Oppositionsblatt erschienen - taz.de
In Albanien ist das erste Oppositionsblatt erschienen Wer geglaubt hatte, Ismail Kadare, der große alte Mann der albanischen Literatur, oder ein anderer bisher verfolgter Dissident hätte ein Leitwort oder einen spannenden Essay geschrieben — der irrt. In der ersten legalen oppositionellen Wochenschrift Albaniens findet sich nichts, was nach Provokation riechen könnte. Schon rein äußerlich unterscheidet sich die 'Rilindija demokratike‘, zu deutsch 'Demokratische Wiedergeburt‘ kaum von den langweiligen KP-Blättern. Nur der Titelkopf ist anders gestaltet: Das noch immer obligatorische „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“, fehlt immerhin. Aber ganz in bolschewistischer Manier legt man Wert darauf zu betonen, daß es sich um ein Parteiorgan handelt und ausdrücklich die Meinung der neuen „Demokratischen Partei“ vertritt. In der ersten Nummer, deren 50.000 Exemplaren am Samstag in Windeseile vergriffen waren, werden die sechs Seiten vor allem vom Parteistatut und einem langen Forderungskatalog an die kommunistisch beherrschte Volkskammer gefüllt. Das Statut ist sehr allgemein gehalten und unterscheidet es sich nicht entscheidend von den Bekundungen der Reformer innerhalb der KP, die der Partei ja ebenfalls ein sozialdemokratisches Programm verpassen wollen. Die Sprache der Demokratieforderungen ist dafür aber überaus deutlich: An erster Stelle steht die Verschiebung des Wahltermins, da es sonst für die Opposition keine gleichen Startchancen gäbe. Die Autoren fordern außerdem Elemente demokratischer Spielregeln, wie eine freie Presse, die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, volle Reisefreizügigkeit und uneingeschränktes Versammlungsrecht. Erst anschließend könne ein neues demokratisches Parlament gewählt werden. Keine Zeile widmen die Schreiberlinge so brennenden Themen wie der Massenflucht tausender Landsleute nach Griechenland. Und ebensowenig findet man in der Debütnummer Eindrücke von Arbeitern oder Bauern oder ihre persönliche Meinung zu den Umwälzungen im Lande. R. Hofwiler
r. hofwiler
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US-Musikmarkt bricht ein: Klassik bald nur noch im Konzert? - taz.de
US-Musikmarkt bricht ein: Klassik bald nur noch im Konzert? Die Klassikbranche in den USA liegt darnieder, wie aktuelle Verkaufszahlen zeigen. Auch der Markt in Deutschland schwächelt. Krise macht erfinderisch: Die Berliner Philharmoniker veröffentlichen inzwischen auf ihrem eigenen Label. Foto: dpa 298 Stück. So lauten die US-amerikanischen Verkaufszahlen für das Album „Benedicta: Marian Chant from Norcia“, gesungen von den Benediktinermönchen des italienischen Städtchens Norcia. Das klingt erst einmal nicht groß verwunderlich, nicht jede Einspielung mit gregorianischen Gesängen wird zwangsläufig zum Verkaufshit. Irritierend ist an der Zahl allerdings, dass es sich bei „Benedicta“ um das aktuell in den USA am häufigsten verkaufte Klassikalbum überhaupt handelt, so die Statistik von Nielsen Soundscan, einem Programm, das die Verkäufe von Tonträgern – digital wie physisch – erfasst und wöchentlich präsentiert. An zweiter Stelle folgt nach den gesegneten Gesängen aus Norcia demnach der Tenor Andrea Bocelli mit „Opera: The Ultimate Collection“ mit immerhin über 200 Stück. Unter den Top Ten war zudem keine einzige Neuerscheinung. Das sind keine schönen Nachrichten für die Klassikbranche, die sich mehr und mehr zum Nischenmarkt entwickelt. Im Juni hatten die Mönchsgesänge aus Norcia immerhin noch über 3.000 Käufer gefunden, doch schon auf den Plätzen zwei und drei wurden gerade einmal um rund 300 Stück verzeichnet. Die Zahlen veröffentlichte der englische BBC-Journalist Norman Lebrecht auf seiner Internetseite Slipped disc, auf der er regelmäßig aus der Klassikwelt berichtet. „The US market is kaputt“, hatte er im Juni kommentiert. Am Mittwoch lautete sein fassungsloses Fazit, dass der Klassikmarkt „fast ausgelöscht“ sei. Zahlen nähren Zweifel an der Zukunft Lebrechts verallgemeinerte dramatische Einschätzung ist insofern zutreffend, als die Einbrüche nicht bloß den US-amerikanischen Markt betreffen. Auch in Deutschland sind die Verkaufszahlen rückläufig. Aktuelle Vergleichswerte aus diesem Jahr liegen zwar nicht vor, doch der vom Bundesverband Musikindustrie vorgelegte Jahresbericht für 2014 registriert einen Rückgang der Verkäufe gegenüber dem Vorjahr um gut 12 Prozent: Betrug der Umsatz in der Klassikbranche 2013 noch 90 Millionen Euro, waren es ein Jahr später bloß noch 79 Millionen. Der Downloadanteil lag bei der Klassik in beiden Jahren konstant bei 5 Prozent. Die Zahlen nähren Zweifel, ob sich die Klassikabteilungen der verbliebenen drei Musikkonzerne Sony, Warner und Universal und der unabhängigen Labels mittelfristig werden halten können. Die Produktionskosten sind, insbesondere bei Orchesterwerken, in der Regel weit höher als bei Pop-Bands oder Jazz-Ensembles, von elektronischen Heimstudioaufnahmen ganz zu schweigen. Insofern könnte die bei Orchestereinspielungen längst vorhandene Neigung zu Live-Mitschnitten die Studioaufnahmen irgendwann komplett verdrängen. Einzelne Orchester wie die Berliner Philharmoniker gehen, von der Krise unbeeindruckt, Schritte in die Unabhängigkeit und veröffentlichen inzwischen auf ihrem eigenen Label. Vor Kurzem erschien bei den „Berliner Philharmoniker Recordings“ als bisher zweite Veröffentlichung eine Box mit Orchesterwerken von Schubert, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt. Ob diese Entwicklung Schule machen wird und ob sie als Strategie gegen die Verkaufsprobleme hilft, lässt sich noch nicht absehen. Gut möglich, dass es klassische Musik eines Tages nur noch dort zu hören gibt, wo man sie – sofern die Akustik und die musikalischen Fähigkeiten der Interpreten stimmen – immer noch am besten rezipieren kann: im herkömmlichen Konzertsaal. Was, für sich genommen, gar nicht mal schlimm wäre. Ganz so weit ist es aber wohl noch nicht.
Tim Caspar Boehme
Die Klassikbranche in den USA liegt darnieder, wie aktuelle Verkaufszahlen zeigen. Auch der Markt in Deutschland schwächelt.
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Exoten für schwere Fälle - taz.de
Exoten für schwere Fälle Lastenräder sind praktisch, alltagstauglich und vielseitig. Aber auch in der Millionenstadt Berlin findet man sie trotzdem eher selten. Die hoch spezialisierte Fahrradgattung führt ein Schattendasein, doch sie wartet mit technischen Neuerungen auf von JOCHEN SIEMER Dem Berliner Verkehrsgeschehen ist ja vom Doppeldecker-Cabriolet über die Rikscha bis hin zum Fesselballon kaum etwas fremd. Aber Lastenfahrräder sind trotzdem noch ein Hingucker. Der Testfahrer erregt schon auf den ersten Metern einiges Aufsehen. Eine junge Frau macht bereitwillig Platz auf dem Bürgersteig, statt missbilligender Blicke kommt die Frage, ob sie ein Stück mitgenommen werden könne. Leider nicht, bin im Dienst. Vor einem Fahrradladen interessieren sich die dort versammelten Fachleute vor allem für das ungewöhnliche Konzept. Das Testfahrzeug ist ein „Nihola“, erst im Juli von der kleinen Firma radradrad.de in Prenzlauer Berg auf den hiesigen Markt gebracht und eine echte Innovation: Es folgt zwar der meistverbreiteten Lösung „hinten ein, vorne zwei Räder“, hat im Unterschied zum Großteil der Konkurrenz aber keinen auf der Vorderachse montierten Kasten. Stattdessen nimmt eine Trommel die Last auf. Damit geht etwas Stauraum verloren, doch dafür lassen die Räder sich – wie beim Auto – über ein Lenkgestänge führen. Die Trommel ist zwischen den Vorderrädern, damit sehr tief und günstig für den Schwerpunkt der gesamten Fuhre, starr am Rahmen montiert. Es muss also nicht bei jeder Lenkbewegung die gesamte Zuladung bewegt werden. In puncto Wendigkeit sucht das Nihola somit seinesgleichen, wie die Expertenrunde sofort feststellt. Ein kleiner Junge interessiert sich für derlei Finessen dagegen überhaupt nicht und konstatiert nur trocken: „Da kommen deine Kinder rein, oder?“ Der Knirps hat das Zeug zum Marktforscher, denn genau das ist die wichtigste Verwendung für ein Lastenrad, jedenfalls auf dem Berliner Markt. Wer in alten Bildbänden blättert, entdeckt ab den 20er-Jahren und bis hinein in die Nachkriegszeit noch jede Menge Gefährte, die man heutzutage als „human powered“ bezeichnen würde. Bäcker, Zeitungsvertriebe, Lieferanten aller Art hatten zum Teil recht pfiffige Konstruktionen im Dienst. Mittlerweile aber, sagt Gaya S. Schütze vom Fahradladen Mehringhof, ist der Gewerbebetrieb ein eher seltener Kunde. „Wir haben mal ein Lastenrad an ein Zahnlabor verkauft; keine Ahnung, was die damit transportieren.“ Im Mehringhof gibt es den Klassiker unter den pedalgetriebenen Lasteseln, das dänische Christiania Bike. Der Name täuscht ein wenig, denn aus der Kopenhagener Spontikolonie Christiania wurde die Produktion mittlerweile nach Bornholm verlagert. Auf dem deutschen Markt hatte die Marke wenig Fortune, weil ihr Vertriebspartner – ebenfalls in Berlin ansässig – mit einem stattlichen Schuldenberg in Konkurs ging. Danach konzentrierte man sich lieber auf den Direktvertrieb. „Wir mussten uns ziemlich gründlich prüfen lassen, bevor wir die Räder hier verkaufen konnten“, erinnert sich Gaya S. Schütze an den zaghaften Neueintritt der Dänen auf dem Berliner Markt. Rund ein Dutzend Christianias verkauft der Mehringhof-Laden im Jahr. Es könnten weit mehr sein, da sind sich die Experten einig. Wer seine Kinder nicht für jeden kurzen Weg zum Supermarkt ins Auto verfrachten will, dem bringt die velophile Transporttechnik „ein ganzes Stück Lebensqualität“, sagt die Fahrradhändlerin. Und auch kommerzielle Nutzungsmöglichkeiten bieten sich in Hülle und Fülle: Es gibt Spezialversionen zum Straßenverkauf von Eis und gekühlten Getränken, die dänische Post hat Briefträger aufs Dreirad gesetzt, Gartenbaubetriebe bestellen sich die Ausführung mit kippbarer Wanne aus verzinktem Stahlblech, Putzkolonnen fahren ihr Handwerkszeug von einer Kundenadresse zur nächsten. Doch um potenzielle Kunden überhaupt aufmerksam zu machen, brauchte es teure Werbung, und dazu ist in der Fahrradbranche kaum jemand in der Lage. Selbst große Händler führen deshalb so gut wie nie Lastenräder im Sortiment, die ja außerdem auch reichlich Platz benötigen und Kapital binden: „Du musst immer so ein Ding rumstehen haben“, sagt Gaya S. Schütze, „und das ist nicht billig“. Unter 2.700 Mark ist kein Lastenrad zu haben. Die Pedallaster führen deshalb „als hoch spezialisierte Fahrzeuggattung mit sehr schmalem Marktsegment eher ein Schattendasein im Fahrradhandel“, heißt es auch bei „Pedalpower“. Der Betrieb mit Filialen in Lichtenberg und Kreuzberg geht aber gern auf diese extravagante Zielgruppe ein, denn er verkauft die Spezialvelos nicht nur, sondern baut sie auch. „New Long John XXL“ heißt die Pedalpowerversion eines in der Grundversion auch anderswo erhältlichen skandinavischen Modells für ganz selbstbewusste Radler. Der Long John hat nämlich nur zwei Räder, zwischen denen eine Ladefläche bis zu 100 Kilogramm Nutzlast aufnehmen soll. Das ist genauso viel wie beim Christiania oder dem Nihola, aber der Herausforderung, eine derartige Fuhre stets in der Balance zu halten, mögen sich nicht allzu viele Kunden stellen. Eine Probefahrt ist aber immer möglich und Spezialanfertigung nach Wunsch auch. Für den Normalverbraucher eher von Interesse ist das ebenfalls bei Pedalpower montierte „Berliner Lastenrad“. Es lässt sich für Laien kaum vom Christiania Bike unterscheiden. Die Grundausführung kostet mit knapp 3.000 Mark allerdings etwas mehr (Christiania: 2.700 Mark) und hat keine Gangschaltung, dafür aber eine Lichtanlage. Weil aber von der Schaltung über das Verdeck bis hin zur gurtgesicherten Kindersitzbank bei beiden Herstellern vieles variiert werden kann, kommt wohl kein Interessent um einen direkten Vergleich herum. Die Erörterung der Qualitätsunterschiede gerät denn auch schnell zur Glaubensfrage: Berliner Lokalpatrioten schwören auf die sorgfältige Verarbeitung und führen zum Beispiel die Pulverschichtlackierung ins Feld; das Christiania ist gelb verchromt und klar lackiert und sieht damit in der Tat sehr nach Nutzfahrzeug aus. „Zu unhandlich“, sagen Christiania-Fans dagegen über die Konkurrenz. Sie schwören außerdem auf ein Produkt, das schon lange auf dem Markt ist und kontinuierlich verbessert wurde. Im Mehringhof wird mit Spannung das erste Exemplar des „Christiania Light 2000“ mit (pulverbeschichtetem) Aluminiumrahmen erwartet. Diese Version hat eine von 100 auf 80 Kilogramm reduzierte Zuladung, ist aber auch explizit auf den Kindertransport ausgerichtet. Wer damit also nicht auskommt, sollte sich dringend Gedanken über die richtige Ernährung seiner Familie machen. Das Nihola wiederum hat schon jetzt erhebliche Gewichtsvorteile, es wiegt 28 Kilo und damit satte 7.000 Gramm weniger als die Standardmodelle der Konkurrenz. Die Lastentrommel, die es als „Modell Cigar“ auch in einer deutlich größeren, ovalen Ausführung gibt, ist aus Kunststoff, die Kisten von Berliner Lastenrad und Christiania sind dagegen aus wasserfestem Sperrholz. Auch ein hydraulischer Lenkungsdämpfer verdeutlicht, dass Nihola auf Technik setzt. Allerdings hat das auch seinen Preis: Das Rad mit der Trommel gibt es erst ab 3.500 Mark. Solche Summen könnten natürlich auch ein Grund dafür sein, dass Lastenräder noch immer Aufsehen erregen. Andererseits legen viele Zeitgenossen vergleichbare Beträge für Räder hin, auf denen außer dem Fahrer nicht mal mehr ein Stullenpaket Platz findet. Pedalpower, Pfarrstr. 116, 10317 Berlin, Tel./Fax (0 30) 5 55 80 98; Großbeerenstr. 53, 10965 Berlin, Telefon (0 30) 78 99 19 39, www.pedalpower.de;radradrad.de – Transporträder und mehr, Marienburger Str. 31, 10405 Berlin, Tel. 0 17 04 83 86 30; www.radradrad.de; Fahrradladen Mehringhof, Gneisenaustr. 2 a, 10961 Berlin, Tel. (0 30) 6 91 60 27,
JOCHEN SIEMER
Lastenräder sind praktisch, alltagstauglich und vielseitig. Aber auch in der Millionenstadt Berlin findet man sie trotzdem eher selten. Die hoch spezialisierte Fahrradgattung führt ein Schattendasein, doch sie wartet mit technischen Neuerungen auf
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Asien, wir kommen! - taz.de
Asien, wir kommen! ■ Frauen-Volleyball: Kuba hat schon wieder gewonnen / Hohes Niveau in der Stadthalle Asien, wir kommen! Frauen-Volleyball: Kuba hat schon wieder gewonnen / Hohes Niveau in der Stadthalle Aufatmen in der Bremer Stadthalle. Die Organisatoren sind froh, daß sie ihr von allen Seiten hochgelobtes 14. Internationales Volleyball Turnier der Frauen wieder reibungslos über die Bühne gebracht haben. Die Kubanerinnen sind es auch. Sie gewannen das Endspiel gegen die Vertretung Rußlands glatt mit 3:0 Sätzen. Das deutsche Team kann ebenso zufrieden sein. Den wichtigsten Sieg seit langem erzielten sie bereits am Donnerstag mit einem überzeugenden 3:1 über die stark eingeschätzten Italienerinnen, am Freitag folgten dann die beiden gewonnenen Sätze gegen die Niederländerinnen bei der 2:3-Niederlage. Das 16:18 im letzten Durchgang war Pech, bedeutete aber das Erreichen des Grand- Prix-Turniers in Süd-Ost-Asien vom 25.Mai bis 20.Juni. Diese Weltliga ist von ganz besonderem Wert. Zunächst geht es um einen großen Batzen Geld. Mehrere hunderttausend Mark wird für den Deutschen Volleyballverband mit Sicherheit dabei herausspringen. Zum anderen ist es eine sportliche Herausfordeng. Karin Steyaert, die Spielführerin, sieht das so: „Vier Wochen Grand Prix anstatt im Trainingslager Kraft zu bolzen, ist doch viel besser. Die Qualifikation ist gut für unsere Psyche und damit ein Vorteil für die Entwicklung im deutschen Frauenvolleyball. Im Mai können wir dann gegen die Besten der Welt antreten. So eine Möglichkeit kommt nicht oft.“ Schon in Bremen war hervorragender Sport zu sehen. Noch nie konnte das Publikum so qualitativ hochstehende Spiele bewundern. Bereits der Krimi Niederlande- Italien zu Beginn deutete die Aufwertung des Bremer Turniers an. Wenn es um etwas mehr geht als die bescheidenen Bremer Siegprämien, gehen die Teams ganz anders zur Sache. Nur Kuba pokerte wieder mal erfolgreich. Im Gruppenspiel gegen Rußland gingen sie desinterssiert mit 0:3 unter. Im Halbfinale des (nach erfolgter Grand-Prix-Qualifikation) weitergehenden Turniers um einen Brauerei-Pokal machten sie dann wieder ernst. Die noch vom Vorabend ermatteten deutschen Frauen hatten beim 0:3 (8:15, 8:15, 5:15) nicht die Spur einer Chance. Gestern nun, am Finalnachmittag, ging es noch einmal hoch her. Im „kleinen“ Endspiel um Platz drei standen sich noch einmal Deutschland und Italien gegenüber. Die Frauen vom Stiefel wollte sich revanchieren, richtig heiß waren sie auf das von Bundestrainer Köhler betreute Team. Nach dem 1:1-Ausgleich lederten sie die zu zwei Dritteln aus Ex- DDR-Nationalspielerinnen bestehende BRD-Auswahl „zu null“ ab. Es spricht für die Moral für die beste Abwehrspielerin des Turniers, Susanne Lahme, oder die beste Annehmerin Ulrike Schmidt, daß sie nicht aufgaben. Im Tie- Break des fünften Satzes machten sie alles klar. Der dritte Platz war der Lohn. Das Endspiel ging in diesem Jahr nur über drei Sätze. Im Traditionsfinale ließen die OlympiasiegerInnen aus Kuba nichts anbrennen. Die von Trainer Karpol wie immer animalisch angebrüllten russischen Frauen zeigten mehr Unsicherheiten als an den vergangenen Tagen. Die als beste Angreiferin gekürte Tatiana Menshowa konnte sich nicht wie gewohnt in Szene setzen. Dafür machten es auf der anderen Seite Regla Bell, Mireya Luis oder Magaly Carvajal besser. Daß es keinen Routine-Sieg bedeutete, bewies die Reaktion der karibischen Spielerinnen hinterher. Wie bei ihrem Sieg in Barcelona gegen den gleichen Gegener lagen sie sich glücklich in den Armen. Also eitel Sonnenschein beim Bremer Turnier? Nicht ganz. Der Sponsor für das nächste Jahr ist noch nicht gefunden. Ob es wieder eine GP-Qualifikation geben wird, steht noch nicht fest. Sicher ist nur: Es wird eine neue Auflage geben. Das haben die Veranstalter versprochen. Mins Minssen
mins minssen
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Demonstrationen und Corona: Vorbildlicher Regelverstoß - taz.de
Demonstrationen und Corona: Vorbildlicher Regelverstoß Grünen-Abgeordneter Kössler: Teilnehmende an einer Demonstration gegen die Bedingungen im Flüchtlingslager Moria Ende April sollen straffrei bleiben. Anfang März noch ganz legal: Demonstration der Initiative Seebrücke Foto: dpa BERLIN taz | Der Grünen-Abgeordnete Georg Kössler fordert, die Anzeigen gegen TeilnehmerInnen einer unangemeldeten Demonstration am 26. April fallen zu lassen. An diesem Tag waren mehrere hundert Menschen einem Aufruf der Initiative Seebrücke gefolgt und hatten in kleinen Gruppen auf Fahrrädern gegen die Zustände im griechischen Flüchtlingslager Moria protestiert. Wegen des Demonstrationsverbots im Rahmen der Corona-Auflagen galt dies als nicht genehmigte Versammlung und wurde von der Polizei aufgelöst. Laut Antwort der Senatsinnenverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage Kösslers, die der taz vorliegt, hatte „die Polizei stadtweit 16 Gruppen Radfahrender mit insgesamt 222 Teilnehmenden festgestellt, die gegen die zu diesem Zeitpunkt geltende SarsCoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung (EindmaßnV) verstießen“. Von allen wurden die Personalien aufgenommen. Laut Innenverwaltung leistete niemand gegen die Polizei Widerstand. Die DemonstrantInnen, die ihren Protest unter dem Motto „#leavenoonebehind“ durch Sticker auf dem Rücken („Moria evakuieren“) oder am Rad befestigte Schilder kenntlich machten, verhielten sich auch sonst vorbildlich: Verstöße gegen das Abstandsgebot seien der Polizei nicht bekannt geworden, so Staatssekretär Torsten Akmann; auch seien die Teilnehmenden „überwiegend mit einem angelegten Mund-Nase-Schutz“ angetroffen worden. Dagegen bestreitet die Polizei, dass sie Teilnehmende eingekesselt habe. „Eine gleichzeitige Ingewahrsamnahme mehrerer Personen“ habe nicht stattgefunden, teilt Akmann dem Grünen-Abgeordneten mit. Kössler hat da von TeilnehmerInnen anderes erfahren: „Es gab mehrere Kessel, über Stunden. Offiziell war es eine sehr, sehr langsame Personalienaufnahme.“ Die Personalausweise seien eingesammelt worden, die Menschen hätten dann lange auf deren Rückgabe warten müssen. „Haben sich Gedanken gemacht“ Seine Forderung nach Straffreiheit begründet Kössler gegenüber der taz mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit: „Dass die Teilnehmenden gegen die Verordnung verstoßen haben, war nicht ihr erklärtes Ziel wie etwa bei den sogenannten Hygiene-Demos. Sie haben die Infektionsgefahr durchaus gesehen und alles getan, um diese zu minimieren. Die haben sich da wirklich Gedanken gemacht.“ Die Beschränkung der Versammlungsfreiheit, die erst Anfang Mai wieder gelockert wurde, bewertet Kössler im Nachhinein als „zu restriktiv“. Er sage nicht, dass die Einschränkungen grundsätzlich falsch gewesen seien, „aber es war härter, als es sein musste. Es ist eben ein learning by doing für die Politik.“
Claudius Prößer
Grünen-Abgeordneter Kössler: Teilnehmende an einer Demonstration gegen die Bedingungen im Flüchtlingslager Moria Ende April sollen straffrei bleiben.
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Kommentar Nahostgipfel in Paris: Eine überflüssige Veranstaltung - taz.de
Kommentar Nahostgipfel in Paris: Eine überflüssige Veranstaltung Das Treffen wird in den Geschichtsbüchern untergehen. Es wird die beiden Völker dem Ziel der Zweistaatenlösung keinen Schritt näherbringen. US-Außenminister John Kerry kommt am Sonntag in Paris an. Er versuchte über Monate ergebnislos zu vermitteln Foto: ap Sind Sie auch für Frieden im Nahen Osten? Hohe politische Vertreter aus nicht weniger als 75 Staaten kommen am Sonntag in Paris zusammen, um sich gegenseitig zu versichern, wie viel ihnen an einer Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt liegt. Nur Donald Trump ist nicht eingeladen. Dass der Friedensgipfel kaum eine Woche vor seinem Einzug ins Weiße Haus stattfindet, musste er als Affront empfinden. Die Gipfelteilnehmer gehen in Sachen Nahostpolitik auf Konfrontationskurs mit dem designierten US-Präsidenten, weil er ankündigte, die Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, und weil er einen Gönner des israelischen Siedlungsprojekts zum Chef des diplomatischen Korps vor Ort ernannte. Stand Israel bislang allein gegen den Rest der Welt, so gesellt sich fortan Amerika an die Seite der Zionisten. Den Menschen im Heiligen Land, die sich den Frieden wünschen, nützen weder Trump noch die französische Initiative. 50 Jahre Besatzung und fast 25 Jahre Friedensverhandlungen – der Pariser Gipfel wird in den Geschichtsbüchern untergehen als eine von so vielen Nahostkonferenzen, die die beiden Völker ihrem erklärten Ziel der zwei Staaten keinen Schritt näherbrachten. Wie überflüssig die Veranstaltung ist, sollte niemand besser wissen, als der scheidende US-Außenminister John Kerry, der über Monate ergebnislos zu vermitteln versuchte, und der jetzt trotzdem den letzten Flug auf Staatskosten Richtung Paris buchte, um der kollektiven Augenwischerei seinen Gültigkeitsstempel aufzudrücken. Israel lässt sich den Frieden weder mit Mahnungen noch Versprechungen aufzwingen, und die Palästinenser sind noch nicht einmal in der Lage zur Versöhnung im eigenen Volk. Ein machtloser Palästinenserpräsident, dem augenscheinlich viele Länder der Welt Rückendeckung versprechen, muss zusehen, wie die neue US-Administration auf den Kurs der rechtsgerichteten israelischen Regierung einschwenkt und unterstützt, was bisher immer abgelehnt wurde: Jerusalem als ungeteilte ewige Hauptstadt und eine ungezügelte Siedlungspolitik.
Susanne Knaul
Das Treffen wird in den Geschichtsbüchern untergehen. Es wird die beiden Völker dem Ziel der Zweistaatenlösung keinen Schritt näherbringen.
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Präsidentschaftswahl in Liberia: Friedenskicker auf einem Bein - taz.de
Präsidentschaftswahl in Liberia: Friedenskicker auf einem Bein Einst hat Dennis Parker für den Rebellenführer Charles Taylor gekämpft. Jetzt kämpft er für Frieden in seinem Land - mit Krücken und viel Motivation. Das neue Motto Liberias: Gemeinsam sind wir stark. Bild: reuters Cooper D. George steht mitten auf dem staubigen Fußballplatz in Monrovia. Der hochgewachsene Mann setzt die Trillerpfeife an die Lippen und pfeift. Dann brüllt er los: "Lauft, lauft, lauft. Schneller, schneller, schneller." Die 20 Kicker gehorchen ihrem Trainer sofort. Sie sprinten, geben alles, rennen um ihr Leben - auf drei Beinen. Ein richtiges, das in einem schwarzen Fußballschuh steckt, haben sie noch. Die anderen beiden, das sind zwei Krücken. Wer noch beide Beine hat, dem fehlt der rechte oder linke Arm. "Das ist ganz schön schwierig", sagt George, der seit Anfang des Jahres Cheftrainer ist. Er meint nicht den Sprint seiner Kicker, denen nach der Übung dicke Schweißperlen über die Gesichter laufen. Er meint seine Arbeit als Coach der liberianischen Nationalmannschaft der Fußballer mit Amputationen. "Du kannst sie ja nicht so trainieren wie Spieler, die noch beide Beine haben. Und außerdem musst du sie manchmal ganz schön ermutigen." Die meisten Fußballer haben weder Job noch Geld. Ihnen bleiben nur der Sport - und die Erinnerungen, weshalb sie heute für den Club der Amputierten spielen müssen. Bei Dennis Parker ist es 1993 passiert. "Im Krieg", sagt der Spieler, der ein Trikot in Knall-Organe trägt, knapp. Vier Jahre tobten die Ausschreitungen damals schon, als er verwundet wurde und sein rechtes Bein amputiert werden musste. Gekämpft hat er für Rebellen-Führer Charles Taylor, der 1989 die National Patriotic Front of Liberia (NPFL) gegründet hatte. Ihr Ziel: Sie wollten Präsident Samuel Doe stürzen und seine Militärdiktatur beenden. Als die Kugel Parkers Bein traf, war Doe - im Jahre 1980 selbst durch einen Putsch an die Macht gekommen - längst tot. Kämpfen musste Dennis Parker trotzdem. "Wenn ich es nicht getan hätte, hätten sie mich umgebracht." Damals war er 16 Jahre alt. Doch er will nicht mehr über den Krieg sprechen, hat keine Lust mehr auf die ewigen Erinnerungen - wie so viele im Land. James Dorbor Jallah geht es nicht anders. "Wir sind müde", sagt er, "und ganz ehrlich: Was bringt es?" Dorbor Jallah war bis vor zwei Monaten stellvertretender Minister für Regionalplanung. Im zweiten Bürgerkrieg, der von 1998 bis 2003 tobte, hat er seinen Vater verloren. "Einer der Mörder stammt aus meinem Dorf", sagt er. Trotzdem denkt er seit einiger Zeit nicht mehr an Rache. "Das wäre doch nur eine Spirale, von der niemand etwas hat. Unglücklich machen würde es doch vor allem unsere Kinder, die nichts mit diesem Krieg zu tun haben." "Große, grüne Wiese" Viel lieber redet James über die wirtschaftliche Entwicklung seiner Heimat, auf die er stolz ist. Das Haushaltsbudget beispielsweise hätte sich in den vergangenen sechs Jahren von 80 Millionen US-Dollar auf knapp 500 Millionen US-Dollar erhöht. "Liberia ist eine große, grüne Wiese für Unternehmer." Dazu tragen vor allem die Bodenschätze wie Diamanten und Eisenerz sowie zukünftig auch Öl bei. Die multinationalen Firmen haben schon lange darauf geschielt und längst Rohstoffabkommen mit der Regierung geschlossen. Liberias KriegeLiberia ist eine afrikanische Ausnahme. Bereits im Jahr 1847 gründeten freigelassene Sklaven, die aus den USA zurückgekehrt waren, die westafrikanische Republik. Bis 1980 galt sie als einigermaßen ruhig. Dann putschte sich Militärdiktator Samuel Doe an die Macht. Gestürzt wurde er zehn Jahre später von Rebellenführer Charles Taylor. Zwei blutige Bürgerkriege folgten, bis Taylor im August 2003 schließlich seine Niederlage erklärte. Trotz Wiederaufbauarbeit sind die Spuren des Krieges in dem Land mit circa 3,5 Millionen Einwohnern noch überall zu sehen. Stark präsent ist weiterhin auch Unmil, die Liberia-Mission der Vereinten Nationen. Von der großen, grünen Wiese haben die allermeisten Liberianer nichts. Eine Familie mit drei bis vier Kindern muss von 100 US-Dollar im Monat leben. Aufstiegschancen gibt es so gut wie keine, denn durch die langen Kriegsjahre konnte ein Großteil der heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht zur Schule gehen. Ihnen bleiben höchstens Jobs als Verkäufer und Putzkräfte. Wenn Fußballtrainer Cooper D. George an die Regierung denkt, wird er wütend und spürt nichts vom wirtschaftlichen Aufschwung und der rosigen Zukunft. George hat sich auf die kleine Bank neben dem Spielfeld gesetzt und beobachtet seine Kicker. Torschusstraining. Bei jedem Treffer klatschen die Zuschauer, die sich nach und nach um das Fußballfeld aufgestellt haben. Das Training am späten Nachmittag ist für viele eine willkommene Abwechslung. Auch den Spielern tun Interesse und Applaus gut. Beides spornt an: fürs Leben, aber ganz besonders für die Afrikameisterschaft, zu der das Team Ende November nach Ghana fahren will. "Ich will für mein Land Tore schießen" Die Teilnahme ist selbstverständlich, schließlich ist Liberia Titelverteidiger von 2008. Ein riesiger Erfolg. Damals hatte das Team gerade einmal zwei Jahre Spielpraxis. Der Trainer ist sicher, dass sich die Spieler seitdem stark verbessert haben, angriffslustiger sind, eine bessere Taktik haben. Sorge macht ihm allerdings die Finanzierung der Reise. "Denk nicht, dass uns die Regierung unterstützt. Wir bekommen noch nicht mal das Geld für Transportkosten", schimpft er. Dennis Parker wünscht sich im Moment nur eins: Die Turnierteilnahme muss unbedingt klappen, ist sie doch sein wichtigster Termin in diesem Jahr. "Ich bin so stolz, dass ich zum Team gehöre. Jetzt will ich für mein Land Tore schießen." Gerade hat er einmal getroffen. Dennis Parker ist Stürmer. Für ihn ist der Beginn der Afrikameisterschaft am 18. November deshalb so bedeutsam wie für die gut vier Millionen Liberianer der morgige Dienstag. Es sind die zweiten Wahlen nach dem Bürgerkrieg. Um das Amt des Präsidenten bewerben sich 16 Kandidaten. Gut stehen die Chancen für die Amtsinhaberin und frischgebackene Trägerin des Friedensnobelpreises Ellen Johnson-Sirleaf von der Einheitspartei, der Unity Party. Auch Eric will sie wählen. Ein bisschen abseits vom Fußballfeld verkauft er Telefonkarten für Handys. "Meine ganze Familie unterstützt sie. Mama Ellen soll es noch mal machen", sagt er, grinst und beobachtet gespannt die amputierten Kicker, die nun Leibchen in Gelb und Blau tragen und sich auf ihren Krücken über den Platz schwingen. Gerade hat Trainer George das kleine Übungsspiel angepfiffen. Eric liebt Fußball. Trotzdem möchte er keinen ehemaligen Fußballstar zum Vizepräsidenten haben. Möglich wäre das, denn George Weah, einstiger Weltfußballer, kämpft nach der Niederlage von 2005, als er in der Stichwahl gegen Johnson-Sirleaf verlor, erneut um die politische Führung. Dieses Mal ist er jedoch nur möglicher Vize hinter Spitzenkandidat Winston Tubman. Das Duo tritt für den Kongress für demokratischen Wandel (Congress für Democratic Change) an und gilt ebenfalls als aussichtsreich. Deshalb ist eine Neuauflage der Wahlen von 2005 gut möglich. Eine Stichwahl müsste laut Verfassung dann vier Wochen später - am 8. November - stattfinden. "Bei 16 Kandidaten ist es ohnehin sehr schwierig, mehr als 50 Prozent der Stimmen zu erhalten", schätzt Heiko Meinhardt ein. Der Mitarbeiter des Evangelischen Entwicklungsdienstes ist seit Juni als Wahlberater im Land und hat unter anderem mehr als 500 Beobachter ausgebildet. Er hat ein gutes Gefühl, wenn er an Dienstag denkt. "Ich gehe davon aus, dass es geordnet und friedlich ablaufen wird. Mit Gewalt rechne ich nicht." Angst vor Ausschreitungen Trotzdem ist die Angst vor Ausschreitungen groß. Schon bei dem bloßen Gedanken daran tauchen die Bilder aus dem Krieg wieder auf, verbunden mit der Sorge, dass Liberia es doch nicht geschafft hat und auf einem falschen Weg ist. Auch Mary Gartor quält dieses Gefühl. Die Mutter und Großmutter ist auf dem Weg nach Hause und muss einmal quer über den Fußballplatz. Die alte Frau murmelt nur eins, wenn sie an den Wahltag denkt: "Frieden." Der würde ihr schon reichen. 100 Meter entfernt wischt sich Fußballer Parker den Schweiß von der Stirn. Das Trainingsspiel ist abgepfiffen. 30 Minuten lang hat er, der Stürmer, um jeden Ball gekämpft. Jetzt ist er müde, die Arme tun ihm weh. Trotzdem strahlt er, nachdem er etwas Luft geholt hat. "Es ist ein tolles Gefühl, für dieses Team spielen zu dürfen", sagt er. Aber er will nicht nur zeigen, dass er Tore schießen kann, dass er seinen Sport liebt. Für ihn bedeutet das Kicken auf einem Bein auch: "Ich bin Friedensbotschafter." Darüber sprechen er und seine Teamkollegen gerne mit den Zuschauern. "Gewalt zerstört alles und bringt nichts. Dafür bin ich das beste Beispiel", sagt Dennis Parker und schaut vorsichtig an seinem Körper hinunter, bis sein Blick am rechten Beinstumpf hängen bleibt. Das will er auch am morgigen Wahltag deutlich machen. "Alles muss unbedingt friedlich ablaufen", fordert er. Und plötzlich wird der Wahltermin genauso wichtig wie seine Afrikameisterschaft.
Katrin Gänsler
Einst hat Dennis Parker für den Rebellenführer Charles Taylor gekämpft. Jetzt kämpft er für Frieden in seinem Land - mit Krücken und viel Motivation.
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Kein Gas mehr durch Nord Stream 1: Putin macht Westen verantwortlich - taz.de
Kein Gas mehr durch Nord Stream 1: Putin macht Westen verantwortlich Der Kreml weist die Schuld am Ende der Gaslieferungen durch Nord Stream 1 zurück. Die Bundesnetzagentur sieht kein akutes Problem – mahnt aber. Jetzt kommt nichts mehr an: Gasempfangsstation von Nord Stream 1 in Lubmin Foto: Stefan Sauer/dpa BERLIN taz | Ganz überraschend war die Nachricht nicht. Gazprom wolle nach dem Ende der dreitägigen Wartungsarbeiten die Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 einstweilen nicht wieder aufnehmen, meldete der russische Staatskonzern am Freitagabend. In Europa hatte man das nach mehreren leidvollen Erfahrungen mit russischen Lieferunterbrechungen bereits befürchtet. Gazprom begründete den Schritt mit dem Austritt von Öl in der Kompressorstation Portovaya. Am Sonntag gab der Kreml der EU die Schuld für den Lieferstopp. Wenn die Europäer sich weigerten, ihre Anlagen zu warten, sei „das nicht die Schuld von Gazprom, sondern die Schuld der Politiker, die Entscheidungen über Sanktionen getroffen haben“, sagte Dmitri Peskow, Sprecher von Wladimir Putin, im Staatsfernsehen. Nach Peskows Angaben sind die Europäer vertraglich zur Wartung der Anlage des russischen Energieriesens Gazprom verpflichtet. Die Politiker im Westen sorgten nun dafür, „dass ihre Bürger Schlaganfälle erleiden, wenn sie ihre Stromrechnungen sehen“, meinte Peskow mit Blick auf die rasant gestiegenen Energiepreise. „Jetzt, wo es kälter wird, wird die Situation noch schlimmer werden.“ Die Bundesnetzagentur hält diese Aussagen einmal mehr nur für einen Vorwand: „Die von russischer Seite behaupteten Mängel“ seien „technisch kein Grund für die Einstellung des Betriebs“, schrieb die Aufsichtsbehörde am Samstag. Auch der Turbinenbauer Siemens Energy erklärte, die Abdichtung solcher Leckagen sei ein Routinevorgang bei Wartungsarbeiten. Zudem stünden in der Verdichterstation ausreichend Turbinen für einen Betrieb der Pipeline zur Verfügung. Weiter wird eingespeichert Obwohl nun kein Erdgas mehr über Nord Stream 1 kommt – zuletzt waren die Kapazitäten ohnehin nur noch zu 20 Prozent ausgeschöpft worden –, speicherte Deutschland auch in den vergangenen Tagen noch Gas ein. Allerdings weniger. Am Donnerstag, dem ersten Tag des Lieferstopps, erhöhte sich der Füllstand der deutschen Speicher weiter um knapp 0,3 Prozentpunkte. Weil im August die tägliche Erhöhung des Füllstands zeitweise bei über 0,6 Prozentpunkten gelegen hatte, sind die Speicher aktuell zu 85 Prozent befüllt – ein Stand, der ursprünglich erst für den 1. Oktober angepeilt war. Das Bundeswirtschaftsministerium wollte den jüngsten Vorfall nicht kommentieren. Allerdings habe man „die Unzuverlässigkeit Russlands in den vergangenen Wochen bereits gesehen“. Entsprechend habe das Ministerium seine „Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit von russischen Energieimporten unbeirrt und konsequent fortgesetzt“. Vor allem die Anlieferungen von Flüssigerdgas (LNG) per Tankschiff liegen weiterhin auf sehr hohem Niveau. So wurden zum Beispiel in der vorvergangenen Woche allein 2,4 Milliarden Kubikmeter LNG in der EU angeliefert, mehr als doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Auch die Lieferungen per Pipeline aus Algerien sind stabil, während die Mengen aus Norwegen sich sogar am oberen Rand der Vergleichswerte früherer Jahre bewegen. „Jetzt kommt es auf unser privates Heizverhalten an“ Die Bundesnetzagentur erklärte am Samstag, Deutschland sei „aufgrund der verstärkten Vorsorgemaßnahmen der vergangenen Monate auf einen Ausfall der russischen Lieferungen mittlerweile besser vorbereitet als noch vor einigen Monaten“. Gleichwohl betonte die Behörde nochmals „ausdrücklich die Bedeutung eines sparsamen Gasverbrauchs“. Netzagenturchef Klaus Müller schrieb: „Jetzt kommt es nach den harten Industrieeinsparungen auf unser aller privates Heizverhalten an.“ Der Gasmarkt hatte sich zuletzt wieder etwas entspannt. Nach einem Preispeak Ende August brachen die Notierungen zwischenzeitlich um ein Drittel ein. Welche Auswirkungen der Stopp der Lieferungen über die Ostseepipeline auf die europäischen Gasmärkte hat und in welchem Maße die Händler das Ereignis womöglich schon eingepreist hatten, wird sich erst am Montag zeigen. Als am Freitagabend die Mitteilung von Gazprom kam, hatte die Gasbörse bereits geschlossen.
Bernward Janzing
Der Kreml weist die Schuld am Ende der Gaslieferungen durch Nord Stream 1 zurück. Die Bundesnetzagentur sieht kein akutes Problem – mahnt aber.
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„Ich habe noch nie im Leben gewählt“ - taz.de
„Ich habe noch nie im Leben gewählt“ Sonntag entscheiden Palästinenser über den Präsidenten der Autonomiebehörde. Ihre in Berlin lebenden Landsleute schauen zu, aber mitwählen dürfen sie nicht „Wissen Sie, ich habe noch nie in meinem Leben gewählt“, sagt Abdullah Hijazi von der palästinensischen Generaldelegation in Berlin. Wie viele der in Berlin lebenden Palästinenser – die Zahl wird auf 25.000 geschätzt – wünscht er sich, an den am Sonntag stattfindenden Wahlen in seiner Heimat teilzunehmen. Dann entscheiden Palästinenser über den Präsidenten der Autonomiebehörde. Den in Berlin Lebenden ist das nicht möglich: Es gibt nur die durch das Osloer Abkommen festgelegten 16 Wahlbezirke und keine Möglichkeit zur Briefwahl. Abgesehen davon, dass für viele der Flug zu teuer ist, sei die Reise dorthin auch viel zu riskant. „Man muss damit rechnen, nicht wieder ausreisen zu dürfen“, erklärt Hijazi. Palästinenser unter 39 Jahren dürfen laut einem israelischen Militärgesetz den Gaza-Streifen und das Westjordanland nicht wieder verlassen. Andere sind nicht registriert oder bekommen kein Visum. Er habe bei der Delegation viele Nachfragen gehabt, ob und wie man von Berlin aus an der Wahl teilnehmen könne, sagt Hijazi. „Ich möchte gerne nach Gaza zurückkehren. Vielleicht sind wir auf dem Weg, dass das irgendwann möglich ist.“ Ghassan Abusamra ist Ingenieur für Biomedizinische Technik und Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde Berlin-Brandenburg e. V. Er hofft, „dass die Wahl Grundstein für einen Staat ist“. Die Wahl des Präsidenten der Autonomiebehörde sei ein Test für die Wahl des neuen Parlaments im Frühjahr, das dann eine Regierung bestimmen soll. Durch die starke nationale und internationale Wahlbeobachtung hofft er auf eine demokratische und freie Abstimmung. Abusamra meint, dass mehr als die Hälfte der hier lebenden Pälästinenser auf mehr Ruhe und Dialog hoffen. Aber er verstehe auch die, die skeptisch sind, „dass die neue Regierung das hinkriegen kann, was Arafat uns versprochen hat“. Am wichtigsten sei allen die Klärung des Rückkehrrechts. Ein erster Schritt wäre die Verbesserung der Visa- und Einreisebedingungen. Für den 30-jährigen Studenten Mohammed Alsayn hat die Wahl wenig Bedeutung. Er glaubt nicht, „dass die Situation sich groß ändert. Die Lage ist instabil, Leute hier und da haben keine Hoffnung auf Frieden.“ Er und seine Familie im Gaza-Streifen haben sich nur gewünscht, „dass 2005 nicht schlimmer wird als 2004“. ULRIKE LINZER
ULRIKE LINZER
Sonntag entscheiden Palästinenser über den Präsidenten der Autonomiebehörde. Ihre in Berlin lebenden Landsleute schauen zu, aber mitwählen dürfen sie nicht
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Haushaltsstreit in den USA: Und wieder droht der Shutdown - taz.de
Haushaltsstreit in den USA: Und wieder droht der Shutdown Die Republikaner wollen den Haushaltsstreit nutzen, um die Gesundheitsreform aufzuschieben. Präsident Obama warnt vor der Zahlungsunfähigkeit. Im Kongress rauchen die Köpfe: Gibt es einen Ausweg aus der Blockade? Bild: ap WASHINGTON taz | Wenn kein Wunder in Washington geschieht, macht die Regierung der Supermacht am Dienstag zu. Schickt Hunderttausende Regierungsbeschäftigte in den unbezahlten und unbefristeten Zwangsurlaub, stoppt die Zahlungen an VeteranInnen und schließt sämtliche Behörden, Dienstleistungen und öffentliche Orte, die sie für „nicht wesentlich“ hält. Der letzte Vorschlag zu einer „Einigung“, den die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus in der Nacht zu Sonntag an den Senat geschickt hat, ist für die dortige demokratische Mehrheit nicht akzeptabel. Denn dieser Vorschlag sieht einen neuen – und auch nur vorübergehenden – Haushalt vor, der die bereits im Jahr 2010 verabschiedete Gesundheitsreform finanziell aushöhlt. Hinter der neuen Blockade im Kongress steckt wieder einmal die Tea Party. Sie befindet sich bereits im Vorwahlkampf für die Halbzeitwahlen im Herbst nächsten Jahres und will dabei zahlreiche eigenen KandidatInnen gegen das Establishment ihrer Partei ins Rennen schicken. Zu diesem Zweck hat sie die Forderung nach Verknüpfung von Haushalt und Gesundheitsreform durchgeboxt. Gegenüber den rechten Rebellen in ihren eigenen Reihen ist die republikanische Führung im Repräsentantenhaus und im Senat machtlos. Unter den vielen rechten Rebellen ragt ein Senator aus Texas hervor: Ted Cruz hat in der vergangenen Woche 21 Stunden lang nonstop im Senat geredet, um seine Opposition gegen die Gesundheitsreform zu begründen. Der Haushalt der USA für das neue Geschäftsjahr spielte bei seinem Redemarathon nur eine untergeordnete Rolle. Verhandlungsunfähige Republikaner Präsident Barack Obama, für den die Gesundheitsreform das zentrale Politikstück seiner ersten Amtszeit war, wirft den RepublikanerInnen vor, „rein ideologische Gründe“ für die Verknüpfung zwischen Haushalt und Gesundheitsreform zu haben, und bezeichnet den drohenden „Shut-down“ der US-Regierung als eine „selbst gemachte Wunde“. In der vorausgegangenen Haushaltsblockade versuchte Obama noch mit dem Sprecher der RepublikanerInnen im Repräsentantenhaus, John Boehner, zu verhandeln. Doch dieses Mal schätzt die Demokratische Spitze die Lage in der Republikanischen Partei so ein, dass sich neue Verhandlung nicht lohnen. „Die Republikaner können nicht einmal miteinander verhandeln“, sagt etwa die demokratische Abgeordnete und Obama-Vertraute Nancy Pelosi. Das „Erschwingliche Gesundheitspflege“ (ACA – Affordable Care Act) genannte Gesetz wird den meisten der 48 Millionen Nichtversicherten in den USA Zugang zu einer Krankenversicherung verschaffen. Seit seiner Verabschiedung im März 2010 ist es schrittweise in Kraft getreten. Am Dienstag, wenn in den USA das neue Geschäftsjahr beginnt, tritt zufällig auch eine neue Stufe der ACA-Reform in Kraft. Dann soll eine von der Regierung aufgestellte und von den Privatversicherungen //www.healthcare.gov/:unabhängige Webseite erstmals einen nationalen Überblick und Preisvergleich über die Angebote der Krankenkassen schaffen. Nach Angaben des Weißen Hauses können 60 Prozent der bislang Nichtversicherten mithilfe der neuen Webseite ihre künftige Versicherung „kaufen“. Der Abschluss einer Krankenversicherung werde, versichert Präsident Obama, „so einfach wie das Buchen eines Fluges“. In der letzten Vorbereitungsphase für die Eröffnung des elektronischen „Marktplatzes“ gibt es allerdings eine Reihe von politischen und technischen Pannen. In den republikanisch regierten Bundesstaaten tun die Behörden alles, um die Aufklärung über die neuen Möglichkeiten der Gesundheitsreform zu verhindern. Sämtliche BeraterInnen in diesen Bundesstaaten sind von Washington entsandt und bezahlt. Gleichzeitig sind einige Funktionen der Webseite, unter anderem ihre spanischsprachige Version, noch nicht fertig.
Dorothea Hahn
Die Republikaner wollen den Haushaltsstreit nutzen, um die Gesundheitsreform aufzuschieben. Präsident Obama warnt vor der Zahlungsunfähigkeit.
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Der nächste Fusionsreaktor ist auf dem Weg: Zukunft auf Kosten der Gegenwart - taz.de
Der nächste Fusionsreaktor ist auf dem Weg: Zukunft auf Kosten der Gegenwart Die großen Forschungsnationen der Welt haben sich nach 20 Jahren Verhandlungen auf ein Projekt zur Energieforschung geeinigt. Das klingt erst einmal gut. Es handelt sich um den Forschungsreaktor Iter und er wird in Frankreich gebaut. Beim Iter soll die Sonne in einem so genannten Fusionsreaktor nachgebaut werden, und die seltenen Wasserstoffsorten Deuterium und Tritium dienen als Brennstoff. Wenn das jemals klappen sollte, ist das ein aufregender Schritt in der Technikgeschichte. Allerdings kommt jede technische Errungenschaft zu einem Preis. Und der ist hoch bei der Fusionsforschung: 10 Milliarden Euro sind eingeplant allein für diesen einen Forschungsreaktor. Die Fusionsforschung schluckt damit weltweit etwa so viele Forschungsgelder wie die gesamten erneuerbaren Energien. Und die Erneuerbaren sind jetzt schon vorhanden und brauchen nur noch verbessert und verbilligt zu werden. Außerdem braucht man für erneuerbare Energien kein Tritium, das radioaktiv und ein wesentlicher Zündstoff für moderne Atombomben ist. Nun ist es prinzipiell unredlich, die verschiedenen Forschungsgebiete gegeneinander aufzurechnen. Idealerweise werden alle interessanten Wissenschafts- und Technikpfade verfolgt. Doch in der wirklichen Welt ist es nicht so. Für die Energieforschung steht ein bestimmter Topf zur Verfügung. Die Fusion konkurriert also direkt mit der Forschung zu Regenerativen oder mit anderen Projekten. Und auch Frankreichs Präsident Chirac, der stolz und mit 900 Millionen Euro den Reaktor ins Land holt, kürzt nicht die Subventionen für seine Landwirte oder erhebt eine besondere Öl- und Stromsteuer. Unterm Strich gewinnt also mit dem Fusionsreaktor eine teure Großtechnik mal wieder Forschungsgelder auf Kosten dezentraler und vielfältiger Aktivitäten auf dem Sektor der erneuerbaren Energien und des Energiesparens. Das geht seit Jahrzehnten so und wird mit dem Iter-Beschluss auf weitere zehn Jahre festgezurrt. Das ist schade für den Energiemix Europas, schade für das Klima und schade für die Forscher und Firmen bei den Regenerativen. REINER METZGER
REINER METZGER
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Türkei gehorcht IWF - taz.de
Türkei gehorcht IWF Fünf weitere Banken verstaatlicht, weil sie „Gefahr für Finanzsystem“ sind. Auch Türk Telekom wird umgebaut ISTANBUL rtr/taz ■ Die Türkei hat weitere Bedingungen des Internationalen Währungsfonds IWF erfüllt, um eingefrorene Kredite freizugeben. Die türkische Bankenaufsicht hat gestern fünf hoch verschuldete Privatbanken des Landes unter ihre Kontrolle gestellt. Wie die Aufsichtsbehörde in Istanbul weiter mitteilte, stellen die Institute eine Gefahr für die Stabilität des Finanzsystems dar. Die Türkei hat dem IWF zugesagt, bis zum Jahresende alle von der Bankenaufsicht kontrollierten Institute zu veräußern oder zu schließen. Eine Umstrukturierung des reformbedürftigen türkischen Finanzsystems gilt als wichtige Bedingung für die baldige Auszahlung der in der vergangenen Woche auf Eis gelegten IWF-Gelder über 1,562 Milliarden Dollar. Aus IWF-Kreisen hieß es, der Fonds könne schon am Mittwoch oder Donnerstag die Kredite wieder freigeben. Als Reaktion auf die jüngste Finanzkrise des Landes Anfang des Jahres hat die türkische Bankenaufsicht nun insgesamt bereits 18 Banken unter ihre Kontrolle genommen. Gestern wurden die Bayindirbank, EGS Bank, Kentbank, Tarisbank und Sitebank übernommen. IWF und Weltbank haben der Türkei wegen der jüngsten Finanzkrisen des Landes insgesamt rund 15,7 Milliarden Dollar an Krediten in Aussicht gestellt, deren Auszahlung aber von Reformen des Bankensektors und Privatisierungen abhängig gemacht. IWF und Weltbank hatten in der vergangenen Woche die Freigabe von etwa 3,3 Milliarden Dollar verschoben. Sie begründeten dies mit dem langsamen Fortschritt bei den Reformen des Bankensystems und der Türk Telekom. Auch in diesem Fall hatte die Türkei eingelenkt. Ministerpräsident Bülent Ecevit hatte am Montag einen Vorstandswechsel beim Staatskonzern Türk Telekom angekündigt und damit signalisiert, eine weitere wichtige Bedingung für die Freigabe der IWF-Gelder erfüllen zu wollen. Der Vorstand von Türk Telekom solle von sieben auf neun Mitglieder erhöht werden, womit die an der Regierung beteiligte Partei MHP nicht mehr die Kontrolle über den Vorstand habe, hieß es. Aus IWF-Kreisen hatte es am Montagabend geheißen, der Fonds sei zuversichtlich, dass möglicherweise gegen Ende der Woche die eingefrorenen Gelder für die Türkei wieder freigegeben werden könnten.
taz. die tageszeitung
Fünf weitere Banken verstaatlicht, weil sie „Gefahr für Finanzsystem“ sind. Auch Türk Telekom wird umgebaut
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US-Brennstoffe in ukrainischen AKWs: Umstieg mit Risiko - taz.de
US-Brennstoffe in ukrainischen AKWs: Umstieg mit Risiko Kiew setzt auf US-Material, um unabhängiger von Russland zu sein. Der Einsatz in Kraftwerken sowjetischer Bauart ist gefährlich, sagen Fachleute. Anfang Dezember gab es einen Zwischenfall im Atomkraftwerk Saporoschja. Bild: ap BERLIN taz | Ein Mercedes fährt auch nicht mit Ersatzteilen von BMW: So in etwa lautet die Kritik sowohl von Fachleuten aus der Atomwirtschaft als auch von Umweltschützern an der Entscheidung der ukrainischen Regierung, die 15 Atomreaktoren im Land mit US-amerikanischen Brennstäben auszurüsten. Denn die Atomkraftwerke und die Brennstäbe sind sowjetischer Bauart und dementsprechend aufeinander abgestimmt. Kiew will auf US-amerikanische Brennstäbe umrüsten, um unabhängiger von russischen Brennstäben und Atom-Know-how zu sein – nicht zuletzt wegen der Krimkrise. Immerhin erzeugt die Ukraine 47 Prozent ihres Stroms mit Nuklearenergie. „Für ein gefährliches Spiel“ hält etwa die ukrainische Journalistin und Atomkraftgegnerin Alla Jaroschinskaja den Einsatz US-amerikanischer Brennstäbe in den AKWs der Ukraine. Auch beim mysteriösen Vorfall im AKW Saporoschja könnten die Brennstäbe des US-Herstellers Westinghouse eine Rolle gespielt haben, vermutet Jaroschinskaja, die 1992 für ihre Veröffentlichungen zu Tschernobyl mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Am 3. Dezember hatte Premierminister Arseni Jazenjuk von einem „Atomunfall“ in Europas größtem Atomkraftwerk gesprochen – und damit Sorgen in ganz Europa hervorgerufen. Erst Stunden später schob Energieminister Wolodimir Demtschischin nach: „Es gibt keine Probleme mit den Reaktoren.“ Der US-Konzern Westinghouse bemüht sich schon seit Jahren, von den Vorbehalten osteuropäischer Länder gegenüber dem russischen Staatskonzern Rosatom zu profitieren. Die Amerikaner haben deshalb eigens Brennstäbe für Kraftwerke sowjetischer Bauart entwickelt. „Problemlos“, sagt Jaroschinskaja, „war diese Zusammenarbeit jedoch nie.“ Erst 2012 hatte sich die Ukraine nach Problemen mit dem Material im AKW Südukraine entschlossen, die US-Brennstäbe vorerst nicht mehr einzusetzen. Jetzt werden die Brennstoffe bereits wieder in AKWs ausgetestet. Dabei haben auch Ingenieure Vorbehalte gegenüber den US-Brennstäben, so wie Boris Kostjukowskij vom Büro für komplexe Analysen und Prognosen: Die Tests mit dem US-Material, zitiert ihn das Internetportal Odessamedia.net, seien „gefährlich“, da der Brennstoff nicht zertifiziert sei. Man habe sich für die Westinghouse-Produkte „allein aus politischen Gründen entschieden“. Engpässe bei Gas, Kohle und Strom Doch die Umrüstung läuft weiter. Bis 2017 will Premierminister Jazenjuk den Umstieg auf US-amerikanische Brennstäbe vollzogen haben. Vor allem seit der Annexion der Krim setzt Kiew wieder auf Westinghouse. Einhellig ist die Ablehnung der US-Brennstäbe nicht. Pawlo Chasan, ukrainisches Vorstandsmitglied der Umweltschutzorganisation Friends of the Earth Europe, setzt sich dafür ein, die atomare Zusammenarbeit mit Russland so rasch wie möglich zu beenden. Er hält die US-Produkte für das geringere Übel. Er verstehe nicht, wie man mit dem Konzern eines Staates zusammenarbeiten könne, der Krieg gegen die Ukraine führe. „Ich habe die Befürchtung, dass Putin Terroristen den Befehl geben könnte, einen Anschlag auf ein ukrainisches Atomkraftwerk zu verüben“, sagt Chasan. Die Ukrainer fürchten indes im laufenden Winter Engpässe bei Gas, Kohle und Strom. In den ersten elf Monaten des Jahres 2014 hatte die Ukraine 19 Prozent weniger Kohle gefördert als im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres. Viele Bürger haben sich zur Sicherheit mit Durchlauferhitzern und Elektroöfen eingedeckt, die den Strombedarf an den kalten Tagen weiter in die Höhe treiben dürften. So könnte erneut ein „Vorfall“ wie im AKW Saporoschja drohen – Experten vermuten nämlich, dass sich Reaktorblock 3 automatisch abschaltete, weil der Strombedarf zu hoch war. Ein weiterer Umstand verschärft die Lage: Wegen der geringen Niederschläge im vergangenen Winter und Frühjahr liefern die Wasserkraftwerke derzeit über ein Drittel weniger Energie als zu Normalzeiten.
Bernhard Clasen
Kiew setzt auf US-Material, um unabhängiger von Russland zu sein. Der Einsatz in Kraftwerken sowjetischer Bauart ist gefährlich, sagen Fachleute.
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Simone Peter macht wieder Umweltschutz: Zurück zu den Wurzeln - taz.de
Simone Peter macht wieder Umweltschutz: Zurück zu den Wurzeln Simone Peter gab sich stets Mühe, integrativ zu wirken. Jetzt wird die ehemalige Grünen-Chefin Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie. Simone Peter im November 2017 Foto: dpa Jetzt ist die Exchefin der Grünen wieder dort angekommen, wo sie ihre Karriere begann: beim Umweltschutz. Die 52-Jährige wird Lobbyistin für Ökoenergie. Peter war fünf Jahre lang Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen gewesen – ein Job, in dem sie, so jedenfalls viele Beobachter, selten eine glückliche Figur machte. Peters Passion galt immer mehr der Ökologie als der Politik. Die Biologin erforschte in den 90er Jahren „Sauerstoffhaushalt und mikrobiologische Prozesse in Mosel und Saar“, war ab 2001 Mitarbeiterin des SPD-Ökovisionärs Hermann Scheer, wurde Chefredakteurin der Zeitschrift Solarzeitalter und arbeitete bei der Agentur für Erneuerbare Energien. Trotzdem stieg sie im überschaubaren Saarland bei den Grünen auf, galt schnell als seriöse Alternative zum umstrittenen Chef Hubert Ulrich. 2009 wurde sie – was sonst? – Umweltministerin der ersten Jamaikakoalition in einem Bundesland. Die aber hielt nicht lange – CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (die nun wie Peter von der gemütlichen Saar in die raue Bundespolitik wechselt) beendete 2012 das Experiment, weil die Saar-FDP sich als nicht regierungsfähig erwiesen hatte. Die Parteilinke Peter dagegen hatte sich als erfolgreiche Umweltministerin für höhere Aufgaben in Berlin empfohlen. Im Oktober 2013 bildete sie, gemäß der Doppelquote, zusammen mit Cem Özdemir die Parteispitze der Grünen – linke Frau, rechter Mann. Obwohl sich beide Mühe gaben, in der Öffentlichkeit einig zu wirken, war es kein Geheimnis, dass die Zusammenarbeit von Peter, Neuling in Berlin, und dem erfahrenen machtbewussten Özdemir nicht allzu harmonisch war. Shitstorm ausgelöst Peter blieb als Parteichefin oft blass, in Interviews äußerte sie sich meist vorsichtig, stets darauf bedacht, integrativ zu wirken. Der linke Flügel der Grünen, das kam hinzu, war seit dem als Niederlage empfundenen Wahlergebnis 2013 in der Defensive. Für die enttäuschenden 8,4 Prozent wurden vorschnell und einseitig die Steuerpläne des linken Flügels verantwortlich gemacht. Peter und Fraktionschef Toni Hofreiter fanden kaum Mittel, den zu stärken. Schließlich wurde Peter ein spätes Opfer der Kölner Silvesternacht. Im Januar 2017, ein Jahr nach den heftigen sexuellen Übergriffen auf dem Kölner Domplatz, kritisierte die Grüne öffentlich den Polizeieinsatz und insbesondere die Verwendung des Begriffs „Nafri“ (Nordafrikanischer Intensivtäter) als „völlig inakzeptable“ und „herabwürdigende“ Wortwahl. Mit dieser Kritik löste sie einen Shitstorm aus. Bild beschimpfte als „schäbig“ und „dumm“. Und kein prominenter Grüner sprang der Parteichefin bei, auch ihr Kollege Özdemir nicht. Ab da war Peter politisch faktisch kaltgestellt, der Verzicht auf die erneute Kandidatur 2018 war die logische Konsequenz. Sie ist nicht die Erste, die im Bundesland erfolgreich war und in Berlin scheiterte. Auch Kurt Beck ging es als SPD-Chef nicht anders. Jetzt wird Peter Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE). Es ist eine Rückkehr zu ihren Wurzeln.
Stefan Reinecke
Simone Peter gab sich stets Mühe, integrativ zu wirken. Jetzt wird die ehemalige Grünen-Chefin Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie.
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Ehemaliger Minister unter Mordverdacht - taz.de
Ehemaliger Minister unter Mordverdacht Ermittlungen gegen Mazedoniens Ex-Innenminister wegen Mordes an sieben pakistanischen Flüchtlingen SARAJEVO taz/ap ■ Die mazedonische Polizei macht Ex-Innenminister Ljube Boskovski für den Mord an sieben pakistanischen Flüchtlingen verantwortlich. Boskovski sei Drahtzieher der inszenierten Antiterroraktion im März 2002 gewesen, sagte eine Polizeisprecherin am Wochenende. Die Pakistaner waren in der Nähe der Hauptstadt Skopje von einer Sondereinheit der Polizei erschossen worden. „Wir glauben, dass Boskovski dabei die entscheidende Rolle gespielt hat“, sagte Polizeisprecherin Mirjana Konteska am Samstag. Strafrechtliche Ermittlungen seien eingeleitet worden. Den Weg dafür hatte zuvor das Parlament geebnet, das am Freitagabend Boskovskis Immunität aufhob. Auch gegen drei seiner leitenden Mitarbeiter sowie einen Geschäftsmann und zwei Elitepolizisten wird ermittelt. Der Vorfall ereignete sich auf dem Höhepunkt des Kampfes der mazedonischen Sicherheitskräfte gegen die albanische UÇK. Groß berichteten die slawisch-mazedonischen Medien über die Verbindungen der albanischen UÇK zum islamistischen Terrornetzwerk. Als Beweis wurde das Eindringen der sieben Pakistaner in das Land angeführt. Die Gruppe hätte Anschläge auf ausländische Botschaften geplant, hieß es, habe aber durch die mazedonische Polizei unschädlich gemacht werden können. Doch die Information war falsch und gehört zu den Beispielen übelster Kriegspropaganda. Was internationale Journalisten vermuteten und Mitarbeiter der International Crisis Group bestätigten, war, dass die Pakistaner von Schiebern von Bulgarien aus Richtung Kosovo und dann nach Westeuropa gebracht werden sollten. Ob der Mord geplant war, wird die weitere Untersuchung erweisen. Nach diplomatischen Quellen aus Skopje ist davon auszugehen, dass die Flüchtlinge in eine Falle gelockt wurden. Ex-Innenminister Ljube Boskovski gehört zu den nationalistischen Hardlinern, dem zudem Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgesagt werden. Er wollte einen Propagandacoup landen. Die Mär von den islamischen Terroristen sollte vor allem in der von den Folgen des 11. September 2001 aufgewühlten US-Öffentlichkeit Stimmung für die mazedonische Regierung im Kampf gegen die UÇK machen. Das gelang aber nicht. Auch in Pakistan hatte der Fall Aufsehen erregt. Die Regierung in Islamabad begrüßte jetzt, dass die mazedonische Regierung die Hintergründe des Vorfalls aufgedeckt und juristische Schritte eingeleitet habe, erklärte ein Sprecher. ERICH RATHFELDER
ERICH RATHFELDER
Ermittlungen gegen Mazedoniens Ex-Innenminister wegen Mordes an sieben pakistanischen Flüchtlingen
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Rios vergessenes Vorzimmer - taz.de
Rios vergessenes Vorzimmer PAQUETÁ Die Insel war beliebtes Ausflugsziel, heute wird sie von den Stadtvätern vernachlässigt Tipps für den Inselurlaub■ Die Fähre zur Ilha de Paquetá legt am Fährhafen im Zentrum von Rio am Platz Praca XV ab. Die Überfahrt dauert 70 Minuten und kostet umgerechnet 4,50 Euro. Die Fähre verkehrt zwischen 5 und 23 Uhr etwa alle drei Stunden. www.barcas-sa.com.br ■ Übernachtungen: Eines der geräumigsten Hotels der Insel ist das Hotel do Farol, Praia das Gaivotas 796/816, www.hotelfaroldepaqueta.com.br mit Pool und Sportplatz, einfache Zimmer, Preis für 2 Personen im DZ/F um 60 Euro.■ Verpflegung: Vor allem an den Wochenenden bieten viele Insulaner Snacks und einfache Gerichte in ihren Vorgärten an. In der Casa de Artes, Praça de São Roque 31, gibt es außer Ausstellungen und Konzerten auch das Café „Arte & Gula“, in dem täglich zwischen 10 und 17 Uhr ausgewählte brasilianische Gerichte serviert werden. Die Einheimischen treffen sich gerne in der Cantina da Ilha bei erschwinglicher Hausmannskost, Rua Furquim Werneck 70, täglich bis 16 Uhr geöffnet.■ Weitere Infos: www.ilhadepaqueta.com.br VON CHRISTINE WOLLOWSKI Jorge Rosas ist der beliebteste Taxifahrer von Paquetá. Dabei gibt es auf Paquetá weder Autos noch nennenswerten Verkehr. Jorge lenkt eine zweispännige Kutsche über die Sandwege der Insel. Gelegentlich sitzen auch Touristen auf dem weißen Polster, meistens aber fährt er Stammkunden. „Rio“ sagt Jorge, wenn er das 15 Kilometer entfernte Festland meint. Dabei ist die Insel Paquetá ein Stadtviertel von Rio de Janeiro. Ein Viertel, dessen acht Kilometer Umfang Jorges Pferde in weniger als einer halben Stunde umtraben. Auf den Sand-und Lehmwegen dürfen bis heute keine privaten Kraftfahrzeuge verkehren. Die Insulaner fahren Rad, Fahrradtaxi oder sie bestellen sich die Kutsche von Jorge Rosas oder einem seiner Kollegen. „Ich liebe meinen Job“, sagt der 67-Jährige, „ich bin jeden Tag zwölf Stunden mit meinen Tieren unterwegs, und das nahezu 365 Tage im Jahr!“ Statt sich Urlaub zu genehmigen, hält Jorge lieber unterwegs am Park Darke de Mattos an, bindet die Pferde an einem Baum fest und spaziert bis zum Aussichtstürmchen. Von hier oben lässt sich in weiter Ferne sogar die Silhouette von São Gonçalo auf dem Festland erkennen. „Früher hatten wir 31 Kutschen, jetzt sind es nur noch 19“, erzählt er, „internationale Touristen kommen so gut wie gar nicht mehr. Es ist, als habe uns die Welt vergessen.“ Dabei fand der Franzose André Thevet vor 455 Jahren die Insel Paquetá noch bevor Rio de Janeiro gegründet wurde. Da Thevet Frankreichs Territorialansprüche nicht durchsetzen konnte und die auf Paquetá ansässigen Tamoio-Indios sich mit den Portugiesen zusammenschlossen, gelang die 15 Kilometer vom Festland entfernte Hauptinsel des Archipels Paquetá in die Hände portugiesischer Besitzer. Sie besiedelten die Südhälfte und verwandelten die Nordhälfte in eine Fazenda, die Fleisch und Gemüse für Rio lieferte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lernt König Dom João VI. die romantischen Strände und schattigen Spazierwege unter den Flamboyants nicht nur als Ausflugsziel schätzen; er nutzt die Insel auch als politisches Zentrum. Noch im selben Jahrhundert wird der regelmäßige Schiffsverkehr zwischen Rios Stadtzentrum und der Insel eingerichtet, bauen reiche Familien sich Wochenendresidenzen. Die umständliche Anreise hat der Insel den dörflichen Charme bewahrt. Nur ein paar tausend Menschen leben das ganze Jahr hier, viele sind Rentner, auch einige Familien mit kleinen Kindern schätzen es, dass hier keine Schießereien drohen, dass alles zu Fuß erreichbar ist. „Wir leben hier in einem anderen Rhythmus – viele hier sind noch nie auf einer Rolltreppe gefahren oder haben in einem Selbstbedienungsrestaurant gegessen,“ sagt Fremdenführerin Selma Cury. Typisch für die Insulaner ist ihre Eigeninitiative: Selma bietet in ihrem Haus Bed & Breakfast an, backt frisches Brot und hat für die Gäste Fahrräder und Kajaks angeschafft. Leicht ist das Leben auf der Insel nicht. Alle Lebensmittel kommen vom Festland und sind entsprechend teuer. An Wochenenden überschwemmen Ausflügler die 19 Kutschen, zwölf Strände und zahlreichen Lokale – und hinterlassen mehr Abfälle als Bares. Seit Jahren kämpft die Insel gegen den Ruf, dreckig zu sein, dabei sind die Strände allesamt sauber geharkt – nur Algen färben das Wasser dunkel. „Ich liebe meinen Job. Ich bin jeden Tag zwölf Stunden mit meinen Tieren unterwegs“JORGE ROSAS, TAXIKUTSCHER Im Hinblick auf die WM im Jahr 2014 und die Olympischen Spiele 2016 werden zurzeit in Rio Milliardenprojekte vergeben: für verbesserte Infrastruktur und Hotelneubauten, Sicherheitsprogramme für die Slums, Revitalisierung des Hafengeländes, Projekte für den Tourismus. Paquetá ist nicht dabei. Die Tourismusbehörde Rios wirbt schon lange nicht mehr für Paquetá. Stattdessen haben die Einwohner selbst eine Organisation zur Förderung des Tourismus gegründet und einen Plan für nachhaltige Entwicklung aufgestellt. Mit dem Projekt „Paquetá wiederbeleben“ haben sie sogar eine Ausschreibung für öffentliche Gelder gewonnen, die in diesem Jahr unter anderem Vorträge über die Geschichte der Insel, Kurse in Kunsthandwerk und Aktionen zur Sensibilisierung für Umweltfragen finanzieren werden. Und am letzten Sonntag im Monat ertönen neuerdings in der Kabine der Zehn-Uhr-dreißig-Fähre Gitarre und Cavaquinho, Querflöte und Tamburin: Profimusiker aus Rio lassen die alten Weisen des Choro ertönen, der als Vorbote des Samba gilt. Die meisten älteren Herrschaften kennen die Texte auswendig und singen leise mit. Nachmittags spielen die gleichen Musiker im Garten des Kulturzentrums Casa de Artes. Das haben José Lavrador Kevorkian und seine Frau Josiane in einer ehemaligen Schule eingerichtet. José Lavrador träumt davon, die Insel wieder als Naherholungsgebiet für die Leute vom Festland zu etablieren. Sie sollen mit den Fischern aufs Meer fahren und unter den Flamboyants das Nichtstun lernen. Ob die Fischer mitmachen, weiß er noch nicht, aber Kutscher Jorge ist Feuer und Flamme für den Plan.
CHRISTINE WOLLOWSKI
PAQUETÁ Die Insel war beliebtes Ausflugsziel, heute wird sie von den Stadtvätern vernachlässigt
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Im liberalisierten Kongo ist Opposition nocn riskanter - taz.de
Im liberalisierten Kongo ist Opposition nocn riskanter ■ Auf Kabilas Dekrete zur politischen Lockerung folgen Verhaftungen kritischer Journalisten Berlin (taz) – Die Schritte zur Liberalisierung des politischen Lebens in der Demokratischen Republik Kongo, die Präsident Laurent- Désiré Kabila jüngst ausgerufen hat, machen Kritikern des kongolesischen Regimes das Leben nicht einfacher. Die Chefredakteure der beiden wichtigsten Zeitungen des Landes, André Ipakala von La Référence Plus und Moise Musangana von Le Potentiel, mußten jetzt mehrere Tage im Gefängnis verbringen. Sie kamen erst gestern wieder frei, zusammen mit fünf weiteren inhaftierten Journalisten von Le Potentiel. Ende Januar hatte Kabila die Wiederzulassung der seit 1997 verbotenen politischen Parteien unter strengen Bedingungen beschlossen. Das entsprechende Dekret, das „den politischen Pluralismus anerkennt und garantiert“, wurde am vergangenen Montag veröffentlicht. Am Dienstag folgte ein Dekret über die Neuordnung des Staatsbürgerschaftsrechts. Es folgt der restriktiven Ansicht, wonach das Recht auf die kongolesische Staatsbürgerschaft sich daraus ableitet, daß man Vorfahren hat, die bereits 1885 in den Grenzen des heutigen Staates lebten. Damit wären viele Nachkommen ruandischer Einwanderer ausgebürgert, was Nationalisten im Kongo freuen dürfte. Am Mittwoch erschien ein drittes Dekret über die Gewährung der seit 1997 aufgehobenen Versammlungsfreiheit, ebenfalls unter strikten Bedingungen – alle „öffentlichen Versammlungen“ von „mindestens zwei“ Personen sind demnach genehmigungspflichtig. Von der politischen Opposition in Kongos Hauptstadt Kinshasa wurden all dies Dekrete skeptisch aufgenommen. Die wichtigste Oppositionspartei Union für Demokratie und sozialen Fortschritt (UDPS) nannte das Dekret zur Parteienzulassung „freiheitstötend“. Ein UDPS-Vertreter in Deutschland sagte der taz, man lehne es ab, „denn wir haben ja auch nie das Dekret anerkannt, das die Aktivitäten der Parteien verbietet“. Auch die unabhängige Presse berichtete zurückhaltend. Die Reaktion folgte auf dem Fuße. Am Mittwoch veranstaltete der Geheimdienst ANR eine Razzia bei der Zeitung Le Potentiel und nahm sechs Journalisten fest, darunter den Chefredakteur. Am Donnerstag gab es Zusammenstöße an der Universität von Kinshasa, bei denen mehrere Studenten getötet worden sein sollen. Der zusammen mit den anderen Journalisten gestern freigelassene Chefredakteur von La Référence Plus, André Ipakala, war bereits am 26. Januar verhaftet worden, als er am Flughafen versuchte, mit Exemplaren seines Blattes das Land zu verlassen. UDPS-Sprecher Joseph Kapika wurde jetzt ebenfalls verhaftet; er sitzt seit Donnerstag im berüchtigten Gefängnis Makala von Kinshasa ein. Mit einer politischen Liberalisierung haben diese Vorgänge wenig zu tun. Das hindert Kabila nicht daran, jetzt zu behaupten, er sei zu einem Waffenstillstand mit den gegen ihn kämpfenden Rebellen im Osten des Landes bereit. Dies glaubt bislang niemand außer ihm selbst. D.J.
D.J.
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Kommunalwahl in der Türkei: Sechs Tote im Süden - taz.de
Kommunalwahl in der Türkei: Sechs Tote im Süden Bei Auseinandersetzungen während der Kommunalwahl in der Türkei sind am Sonntag sechs Menschen ums Leben gekommen. Zwei Femen-Aktivistinnen wurden verhaftet. Wählerinnen am Sonntag in Istanbul: Kann sich die CHP gegen Erdogans AKP durchsetzen? Bild: dpa ISTANBUL dpa | Tödliche Gewalt hat am Sonntag die Kommunalwahlen in der Türkei überschattet. In zwei Ortschaften in den südlichen Provinzen Hatay und Sanliurfa seien 6 Menschen getötet und mindestens 14 weitere verletzt worden, als Anhänger verschiedener Kandidaten aufeinander losgingen, berichtete der Sender CNN Türk. Nach einem monatelangen heftigen Machtkampf zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seinen Gegnern entscheiden in der Türkei erstmals seit fast drei Jahren wieder die Wähler. Die Kommunalwahlen gelten als Stimmungstest für Erdogan, der sich im August nach mehr als zehn Jahren an der Regierungsspitze zum Staatspräsidenten wählen lassen will. Seit dem Morgen waren in den 81 Provinzen des Landes die Wahllokale für mehr als 52 Millionen Stimmberechtigte geöffnet. Bei Wahlen in der Türkei hat es in der Vergangenheit immer wieder tödliche Zwischenfälle gegeben. In den kleineren Ortschaften geraten oftmals familiär organisierte Interessengruppen aneinander. Die Polizei verstärkte am Sonntag ihre Sicherheitsmaßnahmen. Der Kommunalwahl war ein scharf geführter Wahlkampf vorausgegangen, bei dem es um Korruptionsskandale und Vorwürfe des Machtmissbrauchs der islamisch-konservativen Regierung ging. Femen-Protest in Wahllokal Mit drastischen Maßnahmen gegen echte oder vermeintliche Gegner aus dem eigenen religiös-konservativen Lager war Erdogan zuletzt auch international in die Kritik geraten. Er hatte den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter und zur Videoplattform YouTube sperren lassen, um unliebsame Veröffentlichungen zu unterdrücken. Um 17 Uhr sollen die Wahllokale schließen. Erste Ergebnisse werden noch am Abend erwartet. Ein Gesamtbild der politischen Stimmung im Land wird für Montag erwartet. Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) versucht, Erdogans Regierungspartei AKP die Bürgermeisterämter in Istanbul und Ankara, den größten Städten der Türkei, abzunehmen. Bei der Parlamentswahl im Juni 2011 hatte die AKP fast 50 Prozent der Stimmen erhalten. Bei den Kommunalwahlen 2009 waren es 38 Prozent. Zwei Aktivistinnen der Gruppe Femen protestierten in einem Wahllokal in Erdogans Heimatstadt Istanbul gegen den Regierungschef. Die beiden jungen Frauen sprangen auf einen Tisch und zeigten ihre nackten Oberkörper, auf denen „Verbietet Erdogan“ zu lesen war, wie Bilder zeigten. Beide wurden festgenommen.
taz. die tageszeitung
Bei Auseinandersetzungen während der Kommunalwahl in der Türkei sind am Sonntag sechs Menschen ums Leben gekommen. Zwei Femen-Aktivistinnen wurden verhaftet.
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Bremer helfen - taz.de
Bremer helfen Das St.-Jürgen-Krankenhaus bot dem erkrankten Samir Celik einen Therapieplatz an Als der 13-jährige Samir Celik aus Sarajevo vor etwa zwei Monaten an Leukämie erkrankte, schien zunächst jede Bemühung der Eltern, einen Therapieplatz für den Jungen zu finden, vergebens. In sämtlichen Kliniken der Balkanstaaten gab es keine Therapiemöglichkeiten und für eine Behandlung im Ausland fehlte der Familie Celik einfach das nötige Geld. Nur durch einen Zufall lernten Samirs Eltern auf einer Hochzeit im Familienkreis in Sarajevo den Bremer Jochen Killing kennen. Der leitende Pfleger der Zentralambulanz des Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Straße organisierte binnen weniger Tage einen Therapieplatz in Bremen, in der Prof.-Hess-Kinderklinik des Zentralkrankenhauses St.-Jürgen-Strasse. Seit seiner Ankunft in Bremen am Sonntag ist der 13-Jährige dort stationiert. Seine Eltern und zwei Geschwister, die als potentielle Knochenmarkspender für Samir in Frage kommen, sind bei den Killings untergebracht. Da die Eltern die Kosten für die Therapie ihres Sohnes nicht übernehmen können, hat das Kuratorium der Bremer Krebsgesellschaft e.V. jetzt ein Spendenkonto eröffnet. „Jede noch so kleine Spende kann helfen, das Leben von Samir Celik zu retten“, erklärt Christa Rickmers, Mitglied des Kuratoriums. mvm Spendenkonto: Kontonummer 17 28 997 bei der Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01, Stichwort „Samir“.
mvm
Das St.-Jürgen-Krankenhaus bot dem erkrankten Samir Celik einen Therapieplatz an
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Pro & Contra Israel-Warenboykott: Soll Deutschland Druck ausüben? - taz.de
Pro & Contra Israel-Warenboykott: Soll Deutschland Druck ausüben? Sollen Waren aus Israels Siedlergebieten boykottiert werden? Ist ein solcher Boykott mit der deutschen Vergangenheit vereinbar? Eine Annäherung. Macht ein Boykott Israels Sinn? Bild: dpa JA! Die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Israel und den Palästinensern haben dazu geführt, dass Israel das von ihm entwickelte System von ihm kontrollierter und abhängiger palästinensischer Enklaven immer weiter perfektioniert. Das aber hat fatale Auswirkungen auf beide Gesellschaften: Die Perspektivlosigkeit in den abgeriegelten palästinensischen Gebieten trägt dazu bei, dass die palästinensische Gesellschaft immer konservativer und reaktionärer wird. Aber auch Israels demokratische sowie rechtsstaatliche Strukturen sind betroffen: Mediale Kampagnen und Gesetzesvorhaben richten sich gegen alle, die den offiziellen Kurs ablehnen. Auch die Rechte der Minderheiten geraten immer mehr in Gefahr: So sollen demnächst 70.000 Beduinen – allesamt israelische Staatsbürger – aus ihren angestammten Dörfern im Süden Israels zugunsten neu zu gründender Gemeinden exklusiv für jüdische Israelis zwangsevakuiert werden. Der Nahostkonflikt ist zudem keine interne Angelegenheit und hat weitgehende internationale Implikationen: Politisch ist er ein wichtiger Faktor für weitere Radikalisierung in der arabischen und muslimischen Welt; rechtlich stellt Israels Politik einen massiven Bruch mit dem Völkerrecht dar, einem Hauptbaustein der internationalen Friedens- und Ordnungspolitik. Talk im taz-CaféAm Mittwoch, 13. März, findet um 19 Uhr eine Diskussionsveranstaltung zum Thema statt – im taz-Café, Rudi-Dutschke-Straße 23. Der Eintritt ist frei.BDS („Boycott – Divestment – Sanctions“) – Königsweg zum Frieden oder Sackgasse? Die BDS-Kampagne will erreichen, dass Israel das Völkerrecht einhält. Vorbild ist der Boykott des Apartheidregimes in Südafrika. Kritikerinnen und Kritiker finden den Gedanken skandalös, Israel mit Boykott zu drohen. Tauchen da nicht die Geister deutscher Vergangenheit auf?Es diskutieren (in Englisch): Omar Barghouti, Ramallah (Autor von „Boykott – Desinvestment – Sanktionen“), Micha Brumlik, Frankfurt (Professor für Erziehungswissenschaften, taz-Autor), Moderation: Georg Baltissen, taz-Redakteur Leider ist die israelische Gesellschaft anscheinend nicht in der Lage, eine andere Politik einzuschlagen. Das zeigte sich nicht zuletzt an dem Mord an Jitzhak Rabin. Er war der letzte Premier, der Wahlen gewinnen konnte mit dem Ziel, die Kontrolle über die Palästinensergebiete aufzugeben. Die mörderische Gewalt hat gewonnen. Druck von außen ist folglich notwendig, und gezielter europäischer Druck würde auch funktionieren. Im Gegensatz zu seiner medialen Präsenz ist Israel ein kleines Land, das in der eigenen Region weitgehend isoliert dasteht und sich nur auf die Unterstützung seiner wenigen, dafür aber mächtigen Freunde im Westen stützen kann. Würde die Unterstützung von der Umsetzung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen abhängen, wäre Israel ohne Zweifel bereit, den Preis dafür zu zahlen. Die heute herrschenden Nationalisten in Israel würden einem solchen Druck widerstehen, doch gerade Israels entpolitisierte Mittelschichten würden sich schnell ein Israel ohne Siedlungen vorstellen können, wenn sie die eigenen materiellen Zugewinne der letzten Jahrzehnte gefährdet sähen. Dieser Gegenentwurf wäre umso attraktiver, wenn Sanktionen eine ordentliche Belohnung zur Seite gestellt würde in Form einer verstärkten Annäherung Israels an die EU nach einem Ausgleich mit den Palästinensern. Die Bundesrepublik ist heute zu mächtig, um dem Problem mit einem Hinweis auf die eigene Geschichte aus dem Weg zu gehen. Die Gestaltung einer kohärenten europäischen Politik wäre ein richtiger Beitrag zum Schutz Israels und zur Förderung demokratischer Entwicklungen im Nahen Osten. TSAFIR COHEN Der Autor ist Nahostreferent der NGO medico international + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + NEIN! Je verworrener die Situation im Nahen Osten, desto lauter sind die Rufe, den Druck auf Israel zu erhöhen. Doch wie können Deutschland und Europa tatsächlich dazu beitragen, eine neue Dynamik im Friedensprozess anzustoßen? Die Antwort darauf kann nur mehr Kooperation mit Israel, dem wichtigsten Partner Europas im Nahen Osten, heißen. Zunehmend versuchen Kritiker Israels, die Forderung nach der wirtschaftlichen und diplomatischen Isolierung Israels durchzusetzen, um Israel unter Handlungsdruck zu setzen. Die „Boykott Divestment Sanctions“-Bewegung (BDS) lehnt jeglichen Austausch und Handel mit Israel ab. Dieser Aufruf zieht immer weitere Kreise, etwa bei Supermärkten in der Schweiz, NGOs in Deutschland oder dem Jenaer OB. Hinzu kommt, dass die EU ein Papier nach dem nächsten produziert, um Israel den Weg zum Frieden zu diktieren. Die „privilegierte Partnerschaft“ wird der einzigen Demokratie im Nahen Osten vorenthalten, solange die Siedlungsaktivitäten nicht gestoppt werden. Aus demselben Grund verhinderte das EU-Parlament zwei Jahre lang die Öffnung des Marktes für hochwertige und kostengünstige Generika aus Israel, obwohl diese gar nicht in der Westbank hergestellt werden. Während die israelische Siedlungspolitik unerlässlich als das Haupthindernis für den Frieden bezeichnet wird, klammert man in Europa zunehmend die Verantwortung der Palästinenser und der arabischen Nachbarstaaten aus. Noch immer wird Israel dort als ein „illegitimer“ Staat bezeichnet und gegen Juden und Zionismus in hasserfüllter Weise polemisiert. Als Abbas vor der UN-Vollversammlung 2012 die Legitimität Israels scharf angriff, gab es wenige bis überhaupt keine Reaktionen führender Politiker aus Europa. Ebenso gab es kaum Reaktionen auf die Aussage von Ministerpräsident Erdogan im Februar 2013, der den Zionismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete. Europa wird in Israel immer weniger glaubwürdig. Will die EU eine ernsthafte Rolle im Nahen Osten spielen, muss es Israel als Partner auf Augenhöhe behandeln. Auch die Entscheidung Deutschlands, sich bei der UN-Abstimmung zur einseitigen Anerkennung eines Palästinenserstaates zu enthalten, führte dazu, dass Deutschland bei den Israelis Vertrauen eingebüßt hat. Politischer Druck sollte auf die ausgeübt werden, die seit Jahrzehnten eine Verhandlungslösung torpedieren. Nicht zuletzt durch die Nichtanerkennung des jüdischen Staates. Israel hingegen braucht kein Druck, sondern die Zuverlässigkeit seiner Verbündeten. Israel ist ein strategischer Partner für Europa bei der Sicherstellung von Sicherheit und Frieden. Wir brauchen mehr Dialog mit Israel, statt einen Dialog über den Partner hinweg. Israel muss stärker auf der internationalen Bühne eingebunden sein. Hier kommt Deutschland eine entscheidende Rolle zu. DEIDRE BERGER Die Autorin ist Direktorin des American Jewish Committee Berlin
D. Berger
Sollen Waren aus Israels Siedlergebieten boykottiert werden? Ist ein solcher Boykott mit der deutschen Vergangenheit vereinbar? Eine Annäherung.
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„Ein bisschen krank“ - taz.de
„Ein bisschen krank“ ■ Jörg Pleva inszeniert und spielt Molières Der Geizige im Ernst Deutsch Theater „Mein Geld, mein armes Geld/ mein treuester Gefährte – man hat uns getrennt.“ Von Geiz und unheilbarer Geldsucht handelt die Komödie von Molière, mit der das Ernst Deutsch Theater die neue Spielzeit eröffnet. Schon fast Tradition sind die Molière-Inszenierungen zum Saisonbeginn. Diesmal wird „Der Geizige“ gegeben, ein späteres Werk des Begründers der französischen Komödie. Jörg Pleva, der Regie führt und die Titelrolle spielt, ist leidenschaftlich begeistert von Molière seit er den Scapin spielte: „Molière schreibt, was man braucht als Schauspieler – über Gefühle mit allen Höhen und Tiefen.“ Er begann das Werk des großen Satirikers, der mit seinen gnadenlosen Scharfzeichnungen menschlicher Schwächen und Laster über seine Zeit hinaus ins Schwarze traf, zu studieren. „Ich hatte das Gefühl, ihn zu verstehen“, erinnert sich der 57-jährige. „Der wollte nichts anderes als unterhalten und trotzdem über ein paar Dinge, wie zum Beispiel Emanzipation, etwas sagen, womit er einer der ersten gewesen sein dürfte.“ Sinnfällig ist für Pleva die Vereinigung von Regisseur und Hauptrolle in einer Person, denn auch Molière arbeitete bei seinen Tourneen in der französischen Provinz und in Paris auf die gleiche Weise. Seit der ersten eigenen Aufführung ist er von Molière infiziert und inszenierte zunächst den weniger bekannten Wirrkopf, danach den Einakter Die Schule der Ehemänner und gründete schließlich eine eigene Truppe namens Adhoc, die 1998 mit drei kurzen Stücken beim Zelttheater auftrat. Jetzt wagt er sich an die bekannte Charakterkomödie heran. „Der Geizige ist eigentlich eine moderne Figur“, so Pleva, „bei Geld verschließen sich bei ihm alle Klappen, da hört alle Menschlichkeit auf. Er würde alles für Geld machen – ein bisschen krank, wie ich finde.“ Die Komik des Stücks ergibt sich eher in zweiter Instanz. Die Figur des Harpagon ist tragisch, durch ihre spöttische Darstellung wird sie wie eine Zwiebel bis auf den Kern geschält. Das Lachen soll den Zuschauern in den Hälsen stecken bleiben, und eigenlich ist nur Schadenfreude möglich. Auch zukünftig will Jörg Pleva am Werk Molières dranbleiben: Als nächstes plant er den Don Juan. Anna von Villiez Premiere: Do, 26. August, 19.30 Uhr, Ernst Deutsch Theater
Anna von Villiez
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Überlebende über NS-Zeit und das Danach: „Nach 1945 waren die Lehrer Nazis“ - taz.de
Überlebende über NS-Zeit und das Danach: „Nach 1945 waren die Lehrer Nazis“ Die Jüdin Marione Ingram hat den Hamburger Feuersturm erlebt und im Versteck überlebt. Heute agitiert sie in den USA gegen Rassismus. Ein Protokoll. Engagiert wie einst ihr Vater: Marione Ingram Foto: Michael Milde Die Diskriminierung begann sehr früh in meinem Leben. Als ich drei Jahre alt war, sagte meine Freundin Monika, die im selben Haus wohnte, sie würde nie mehr mit mir spielen, weil ich ein „Judenschwein“ sei. Ich wusste gar nicht, was sie meinte, und habe zu meiner Mutter gesagt: „Ich hab ein Bad genommen, ich bin doch nicht schmutzig. Und ich bin doch kein Schwein, sondern ein Mädchen.“ Meine Mutter hat mir dann erklärt, das wir jetzt diskriminiert würden, dass ich niemandem sagen darf, was ich zu Hause höre. Sie hat mich nie mehr allein nach draußen gelassen. Im selben Jahr wurde mein Vater an eine Straßenlaterne gefesselt und fast totgeschlagen. Mein Vater war kein Jude, und sie wollten, dass er seine jüdische Frau verlässt. Er hat sich geweigert, und da wollten sie ihn zwingen, zur Luftwaffe zu gehen. Er ist aber in den Untergrund abgetaucht. Er war Kommunist – aber nur bis zum Hitler-Stalin-Pakt. Dann hat er damit aufgehört. Ich wusste schon früh, dass ich vorsichtig sein musste. Im Nachbarhaus zum Beispiel wohnte ein siebenjähriger Junge. Seine Eltern waren vielleicht Antifaschisten, jedenfalls kamen Leute von der Gestapo und sagten zu ihm: „Wenn du erzählst, was deine Eltern reden, kriegst du ein Fahrrad.“ Das hat er getan. Da haben sie die ganze Familie abgeholt und umgebracht. Das muss 1940 gewesen sein. 1941 wurden mein Onkel und andere Verwandte meiner Mutter nach Minsk deportiert. Eine Woche später meine Oma, einen Tag vor meinem sechsten Geburtstag. Keiner ist zurückgekommen. Auch für uns wurde es immer gefährlicher, weil auch die jüdischen PartnerInnen in „Mischehen“ nicht mehr geschützt waren. Irgendwann haben meine Eltern entschieden, dass wenigstens eine von uns überleben sollte: meine Schwester Helga. Sie war blond und blauäugig, sah sehr „arisch“ aus und würde nicht auffallen. Mein Vater hat sie in Hamburg-Rahlstedt bei Familie Pimber untergebracht. Sie waren Kommunisten und Antifaschisten, aber nicht speziell pro-jüdisch. Deshalb hat mein Vater ihnen erst nicht gesagt, dass Helga Jüdin war. Die Pimbers hatten keine eigenen Kinder und haben sich total in Helga verliebt. Sie hatte es gut bei ihnen. Irgendwann musste mein Vater ihnen dann doch sagen, dass seine Familie jüdisch ist und versteckt werden muss. Das war kurz nach einem einschneidenden Erlebnis: Eines Tages, im Sommer 1943, sagte meine Mutter, ich solle meine jüngste Schwester Rena in ihrem Kinderwagen zu einer Cousine meines Vaters in einem anderen Stadtteil bringen. Das kam mir komisch vor, weil ich ja eigentlich nicht rausgehen durfte. Unterwegs kam ich an einem Park vorbei mit einem Schild, auf dem stand „Nur für arische Kinder“. Ich hab die Zunge rausgestreckt und bin auf die Schaukel geklettert. Während ich schaukelte, dachte ich: Irgendwas stimmt nicht zu Hause. Ich hatte auch gehört, dass meine Mutter weinte. Ich bin sofort zurückgegangen. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Ich habe sie mit aller Kraft aufgedrückt – und dann roch ich Gas und fand meine Mutter im Gasofen. Ich hab sie rausgezogen, habe die wegen der Bombenangriffe geschlossenen Vorhänge und Fenster geöffnet. Ich hab ihr Rena auf die Brust gelegt, hab ihren Namen gerufen. Ich hab Kartoffeln gekocht, hab alles Mögliche versucht. Endlich sah ich, dass sie wieder atmete. Am nächsten Tag kam die Cousine zu uns und erzählte, dass ein Jude in ihrem Haus Selbstmord verübt hatte. Er hatte den Befehl bekommen, sich für die Deportation nach Theresienstadt zu melden. Da sagte meine Mutter: „Ich auch. Wir sollen uns in zwei Tagen melden.“ Die Cousine hat Rena genommen, wollte auch mich mitnehmen und in Sicherheit bringen. Ich habe mich geweigert und bin bei meiner Mutter geblieben. Am nächsten Tag begannen die Bombenangriffe auf Hamburg, zehn Nächte und zehn Tage. Es nannte sich “Feuersturm“ oder „Operation Gomorrha“. Als eine Bombe unser Dach traf, sind wir runtergerannt, wollten wir in den Luftschutzkeller. Aber der Bunkerwart hat uns nicht reingelassen. Auch die anderen wollten das nicht, und ein grausamer Mann sagte: „Diese Juden sind verantwortlich für alles, die haben uns verraten, du musst sie rauswerfen.“ Danach sind wir Tag und Nacht durch die Flammen geirrt. Sind in eine Kirche gegangen, wurden rausgeworfen. Ich hab so viele Leichen gesehen, in ganz verschiedenen Formen – so, wie sie verbrannt waren. Ich hab auch gesehen, wie brennende Menschen in die Kanäle sprangen. Als sie wieder hochkamen, brannten sie weiter. Später hörte ich, dass die Engländer bei diesem Angriff wirklich Phosphor eingesetzt haben, was kriegsrechtlich verboten ist. Ich selbst habe eine schwere Rauchvergiftung bekommen. Wir waren dann kurz in Hof, und wie wir zurück nach Hamburg kamen, weiß ich nicht. Ich habe klare Bilder vor Augen, weiß aber nicht, ob sie real sind: Ich saß mit meiner Mutter in einem Zug, in dem eine Frau ihr Kind bekam. Um sie herum standen Soldaten, und als das Kind geboren war, haben sie es aus dem Zug geworfen und die Frau geschlagen und beleidigt. Das Schweigen der Mutter Meine Mutter hat diesen Moment genutzt, um mich aus dem Zug zu werfen und selbst rauszuspringen. Ich wollte meine Mutter später immer fragen: War das so? Erinnere ich mich richtig? Aber sie hat sich ihr Leben lang geweigert, mit mir über diese Zeit zu sprechen. Obwohl wir sie doch gemeinsam erlebt hatten. Ich habe viele Jahre gebraucht, um ihr dieses Schweigen zu vergeben. Nach der Rückkehr aus Hof wachte ich in einem Erdloch auf. Wir waren bei den Pimbers, die jetzt auch uns versteckten. Sie hatten einen kleinen Bauernhof mit einer Gartenhütte. Darin stand ein Bett, in dem meine Mutter, meine Schwester Rena und ich schliefen. In das Erdloch gingen wir, wenn Frau Pimber eine bestimmte Lampe einschaltete. Dann kamen Leute zu Besuch, und wir mussten verschwinden. Wir blieben bis 1945 bei den Pimbers. Welches Risiko sie eingingen, hab ich erst als Erwachsene verstanden. Als Kind mochte ich Frau Pimber nicht. Sie gab uns wenig zu essen und war nicht nett zu meiner Mutter. Einmal, nachdem ich gesehen hatte, wie sie eine Katze ertränkte, bin ich – was mir streng verboten war – rübergehüpft zu einem Weizenfeld. Die Halme waren so hoch, dass man mich nicht sehen konnte. Und da waren so schöne Margeriten, dass ich meiner Mutter – sie hieß Margarete – welche bringen wollte. Ich pflückte und pflückte und dachte, sie wird sich freuen. Auf dem Rückweg fiel mir ein, dass ich ihr die Blumen nicht geben konnte, denn dann würde sie wissen, dass ich nicht gehorsam war. Ich hätte fast geweint, aber dann habe ich mir auf dem Boden ein Bett aus den Blumen gemacht, mich hingelegt und in den Himmel und die Wolken geguckt. Und für einen Moment fühlte ich mich frei von Bomben und Frau Pimber und Angst. Jahre später bat mich mein Vater immer wieder, Frau Pimber zu schreiben und mich zu bedanken. Ich habe es nicht getan, und ich schäme mich dafür. Ich war in diesem kindlichen Verständnis gefangen, dass sie gemein war. Ich war zu jung, um ihr zu vergeben. Und als ich als ich alt genug war zu verstehen, war es zu spät, da lebte ise nicht mehr. Fürsprecherin der Toten Irgendwann war der Krieg aus. Ich war fast zehn und konnte endlich zur Schule gehen. Aber das war für mich fast noch schlimmer als die Zeit im Versteck: Alle Lehrer waren Nazis. In jeder Unterrichtsstunde hat irgendwer gesagt, dass Juden Untermenschen sind und zu dumm zum Lernen. Meine Kameraden haben mich geschlagen, angespuckt, beschimpft. Ich habe meinen Vater angefleht, mich nicht mehr hinzuschicken. Aber er sagte: „Weil so viele Millionen Menschen gestorben sind, bist du als Überlebende verantwortlich dafür, dass die Leute Bescheid wissen, damit es nicht wieder passiert.“ Aber ich war erst zehn, und viele Jahre lang habe ich meinen Vater gehasst, weil er darauf bestand, dass ich Fürsprecherin all der Holocaust-Toten wurde. Heute bin ich froh, dass er mir beigebracht hat, für andere zu kämpfen. Nach dem Krieg waren wir im „Warburg Children’s Health Home“ in Blankenese. Es war das Heim einer zionistischen Gruppe, die jüdische Kinder aufnahm. Die meisten kamen aus Bergen-Belsen. Helga, Rena und ich waren die einzigen, die noch Eltern hatten. Alle anderen waren ganz allelin. Dort wurden wir zum ersten Mal wie Kinder behandelt. Wir hatten genug zu essen, wurden geliebt und umhegt. Während unserer zwei Jahre dort baute mein Vater Holzhäuser für Flüchtlinge, und meine Mutter arbeitete mit Displaced Persons – DPs –, die aus KZ und Verstecken kamen und ihre Verwandten suchten. Bis sie es eines Tages nicht mehr ertrug. Sie hatte eine Nervenzusammenbruch und sagte: „Ich will kein deutsches Wort mehr hören, kein deutsches Gesicht mehr sehen, lass uns weggehen aus Europa.“ Mein Vater sagte: „Aber wir müssen doch all die kleinen Nazis aufspüren, die noch in den Schulen und anderen Institutionen arbeiten.“ Es endete damit, dass sie sich gütlich scheiden ließen. Denn mein Vater verstand, warum sie gehen musste. Und meine Mutter begriff, dass er den Kampf gegen die Nazis nicht einfach aufgeben und weggehen konnte. Meine Mutter ist 1950 mit Rena nach New York gegangen. Ich kam zwei Jahre später nach, einen Monat vor meinem 17. Geburtstag. Heute bin ich frei, in New York zu sein und zu wissen: Jüdin zu sein ist in Ordnung. Man kann hier alles sein – nur nicht schwarz. Das habe ich durch eine Begegnung mit einer jungen Schwarzen gelernt, die, hoch qualifiziert, nur miese Jobs bekam. Seither engagiere ich mich gegen Rassismus, für die Bürgerrechts-, Frauen-, LGBT-, für die Friedens- und Klimabewegung. Solange es nötig ist.
Petra Schellen
Die Jüdin Marione Ingram hat den Hamburger Feuersturm erlebt und im Versteck überlebt. Heute agitiert sie in den USA gegen Rassismus. Ein Protokoll.
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Jugendbedürfnisse transnational vernetzt - taz.de
Jugendbedürfnisse transnational vernetzt Bei einer Messe im Rathaus Mitte stellen noch bis Samstag Jugendprojekte aus sechs EU-Ländern ihre Arbeit vor Die transnationale Jugendmesse im Rathaus Mitte präsentiert seit gestern die Ergebnisse internationaler Jugendprojekte. Gezeigt werden neben Filmporträts von Berliner Straßenkindern auch Musik aus Schweden, Artistik aus Belgien und Kulinarisches aus Polen und Sardinien. Alle sind im Rahmen des von der EU geförderten „Territorial Development and Youth Opportunity Project“ (T.D.Y.-O.P) entstanden. Darin haben sich vor drei Jahren Organisationen aus sechs europäischen Städten zusammengeschlossen. Das Projekt soll neue Wege der Jugendförderung beschreiten und versucht so die Jugendlichen zu erreichen, die vom Sozialnetz nicht erfasst werden. Dazu wurde in den einzelnen Städten untersucht, inwieweit Zugangsmöglichkeiten zur Wissensgesellschaft und kulturelle Angebote für Jugendliche existierten. Was Jugendliche wollen, will das Projekt im Laufe der gemeinsamen Arbeit herausgefunden haben: Internet und Musik seien die vornehmlichen Interessen der Jugend. So wurde in Anderlecht ein Webcafé eingerichtet, im schwedischen Jönköping sollen Musik- und Kulturprojekte entstehen. Das Berliner Projekt hebt sich von diesen Entwürfen ab. In Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Beschäftigungsgesellschaft Lowtec wurden mit Hilfe von Profis Filmporträts von Staßenkindern gedreht. Die Webpage „Über Leben in Berlin“ soll obdachlosen Jugendlichen den Weg zurück in die Normalität weisen. Straßenkinder seien „ein Spezifikum der Stadt“, bedauerte Jens-Peter Heuer (PDS). Der Bezirksstadtrat für Jugend und Finanzen in Mitte betonte, dass Jugendförderung mehr auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten werden müsse. Die Messe bildet den Abschluss des auf drei Jahre angelegten Projektes. Zwar hoffen alle Teilnehmer noch auf eine Fortsetzung. Die dafür notwendige Anschlussfinanzierung ist aber nicht absehbar. JANA SCHMIDT Transnationale Jugendmesse bis 14. April, 11 bis 19 Uhr im Bezirksamt Mitte, Karl-Marx-Allee 31
JANA SCHMIDT
Bei einer Messe im Rathaus Mitte stellen noch bis Samstag Jugendprojekte aus sechs EU-Ländern ihre Arbeit vor
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Syrische Journalistin über Engagement: "Wir haben ein Projekt: Revolution" - taz.de
Syrische Journalistin über Engagement: "Wir haben ein Projekt: Revolution" Maissum Melhem über die syrische Revolution, eine neu gegründete Journalisten-Gewerkschaft und ihren bewussten Verzicht auf neutrale Berichterstattung. Viele syrische Journalisten sind nicht mehr als ein Mikrofonhalter für Präsident Assad. Bild: reuters taz: Frau Melhem, Sie haben vor einer Woche die Gründungserklärung der Vereinigung der Syrischen Journalisten veröffentlicht. Was wollen Sie erreichen? Maissun Melhem: Das Projekt ist älter. Ich habe mich der Vereinigung bereits vor einem Monat angeschlossen. Wir wollen einerseits selbst unabhängig berichten. Andererseits besteht unser Ziel darin, Journalisten zu unterstützen, die in Syrien verfolgt oder gefoltert werden. Wenn ein Journalist inhaftiert wird, hört man davon nichts. Man weiß nicht, in welchem Gefängnis er sitzt und ob er überhaupt noch am Leben ist. Was macht die offizielle Gewerkschaft? Die Union der Syrischen Journalisten sagt zu solchen Fällen kein Wort, obwohl es ihre Aufgabe wäre, nach dem Schicksal von Journalisten zu fragen. Aber wie jede andere Institution in Syrien wird die Union vom Regime kontrolliert. Es gibt Mitglieder, die andere Journalisten ausspionieren. Wir wollen dem etwas entgegensetzen. Unsere Vereinigung soll sich zu einer Gewerkschaft entwickeln, die später die Aufgaben übernimmt, die schon jetzt die Union übernehmen müsste. Später? Sie denken an die Zeit nach Baschar al-Assad? Ich glaube, alle Syrer, die sich der Revolution angeschlossen haben, denken an die Zeit nach dem Sturz des Regimes. Auch die Ärzte, die Ingenieure und die Schriftsteller haben schon Vereinigungen gegründet. Wir wollen Strukturen schaffen. Wer sind Ihre Mitglieder? Wir haben sowohl in Syrien als auch im Ausland Mitglieder. Bis jetzt sind gut 130 Journalisten der Vereinigung beigetreten. Einige bekannte Oppositionelle, die in renommierten Zeitschriften schreiben, sind dabei – Fayiz Sara oder Yassin al-Haj Saleh zum Beispiel. Beide sind schon mehrfach verhaftet worden. Auch in Frankreich haben wir Leute. Wir sind überall verteilt, eine Diaspora von Journalisten. Wie kommunizieren Sie? Wir kommunizieren über eine Plattform im Internet. Es gibt keinen direkten Kontakt. Selbst wenn wir alle in Syrien wären, könnten wir nicht zusammenkommen. Journalisten in Homs beispielsweise sind von der Außenwelt abgeschnitten. Wie sind die syrischen Journalisten hierzulande organisiert? Ich weiß von sechs bis sieben Journalisten aus Deutschland, die unserer Vereinigung beigetreten sind. Einige arbeiten wie ich bei der Deutschen Welle. Wir haben lange Zeit in Angst gelebt. Bis man jemanden näher kennenlernt, muss man davon ausgehen, dass er ein Spion für den Geheimdienst ist. Das hat es auch hier im Ausland sehr schwer gemacht, sich zu organisieren. Jetzt hat sich das geändert. Wir haben ein großes Projekt: die Revolution. Wir wollen das Regime stürzen und eine Demokratie aufbauen. Sie beziehen explizit Stellung? Journalisten sollten zwar politisch neutral bleiben. Aber in dieser Zeit heißt das nicht, dass wir zum Regime dieselbe Distanz bewahren wie zu der Opposition. Wenn Menschen in Homs abgeschlachtet werden, können wir nicht neutral bleiben. Sobald die Ära Assad überwunden ist, werden wir uns ausschließlich für unabhängige, ausgewogene und neutrale Berichterstattung einsetzen. In Ihrer Erklärung erwähnen Sie ausdrücklich, dass auch Berichterstattung in anderen Sprachen als Arabisch ermöglicht werden soll. Was stellen Sie sich vor? In Syrien leben viele verschiedene Ethnien. Es gibt Kurden, Aramäer, Assyrer und auch türkisch- und armenischsprachige Menschen. Aber diese Vielfalt wird unterdrückt. Kurden zum Beispiel werden in kultureller Hinsicht benachteiligt. Obwohl viele Kurden in Syrien leben und viele Syrer zweisprachig aufwachsen, ist die kurdische Sprache nicht anerkannt. Medien in kurdischer Sprache gibt es nicht. Das ist eines der Menschenrechte, die wir nicht haben. Befürchten Sie, dass Ihr politisches Engagement negative Konsequenzen haben wird? Seit Beginn der Revolution bin ich nicht mehr in Syrien gewesen. Allerdings wurde ich bereits ausspioniert, von Freunden sogar. Meine E-Mail- und Facebookaccounts wurden gehackt. Der Geheimdienst hat bei meiner Familie in Syrien angerufen. Würde ich jetzt in meine Heimatstadt Latakia fahren, würde ich vielleicht gleich am Flughafen verhaftet werden. Natürlich habe ich Angst, aber es ist zum Glück noch nicht so weit, dass ich Angst um meine Familie in Syrien haben muss.
Jannis Hagmann
Maissum Melhem über die syrische Revolution, eine neu gegründete Journalisten-Gewerkschaft und ihren bewussten Verzicht auf neutrale Berichterstattung.
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Konjunktur nach Katastrophen: Kein Boom nach der Flut - taz.de
Konjunktur nach Katastrophen: Kein Boom nach der Flut Der Wiederaufbau nach den Überschwemmungen macht Milliardeninvestitionen nötig. Eine Konjunkturschub ist dennoch nicht zu erwarten. Wo viel kaputt geht und entsorgt werden muss, muss auch viel neu gebaut und angeschafft werden Foto: dpa BERLIN taz | Autowerkstätten und Hersteller können sich zumindest theoretisch auf eine Sonderkonjunktur einstellen. Grund ist die Flutkatastro­phe. Rund 40.000 Fahrzeuge wurden von den Wassermassen beschädigt oder zerstört. So meldet es der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Allein diese Schäden kosten die Versicherungen 200 Millionen Euro. Insgesamt geht der Verband von bis zu 5,5 Milliarden Euro aus, die von der Branche zur Schadensregulierung aufgebracht werden müssen. Das ist längst nicht der gesamte Aufwand für die Bewältigung der Katastrophe, die vor allem Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, aber in geringerem Ausmaß auch Sachsen und Bayern getroffen hat. Viele Schäden sind nicht versichert. Private Haushalte müssen vom Wasser zerstörte Möbel oder Haushaltsgeräte ersetzen und vielfach auch Häuser reparieren oder Gärten neu anlegen. Handwerksbetriebe oder Fabriken können nicht mehr arbeiten. Individuell sind die finanziellen Folgen oft dramatisch. Volkswirtschaftlich könnte die Beseitigung der Schäden eine kleine Sonderkonjunktur auslösen, weil plötzlich Milliarden in die Wirtschaft gepumpt werden. Doch so üppig, wie sich der Konjunkturschub auf den ersten Blick darstellt, wird er nicht ausfallen. „Eine Naturkatastrophe hat zwei Gesichter“, erläutert der Ökonom Michael Grömling vom Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Regional entstehe zunächst ein Angebotsschock. Das heißt, Produktionsanlagen liegen still, Geschäfte sind geschlossen, es gibt für viele Arbeitnehmer kurzfristig keine Beschäftigung. Bremsen, beschleunigen, bremsen Auf der anderen Seite entstehe ein Nachfrageschub. Die Infrastruktur muss wiederhergestellt, langlebige Konsumgüter müssen ersetzt werden. „Das hat klar konjunkturelle Impulse“, sagt der Experte. Doch insgesamt sieht er mehr Effekte, die wiederum Bremsspuren hinterlassen. Denn das Angebot hält mit der Nachfrage an vielen Stellen nicht mehr mit, etwa bei Bauleistungen. Die Handwerksfirmen sind schon lange gut ausgelastet. Knappe Rohstoffe wie Holz sorgen für steigende Preise, aber nicht für wachsende Kapazitäten. So verpuffen die vielen Ausgaben, statt das Wachstum anzukurbeln. Das ist auch bei den privaten Konsumausgaben wenigstens teilweise der Fall. Die Hersteller von Haushaltsgeräten verzeichnen beispielsweise seit dem vergangenen Herbst einen kräftigen Nachfrageschub und kommen mit der Produktion auch ohne die Flutschäden kaum mehr hinterher. Lange Wartezeiten auf den neuen Kühlschrank oder Geschirrspüler gehören dazu. Hinsichtlich der Folgen der Flut für ihr Geschäft zeigen sich die Firmen ohnehin zugeknöpft. Niemand möchte gerne als Krisen­gewinner genannt werden. Die vielen Verlierer dagegen belasten die Wirtschaftsentwicklung ganz klar. Die Sparkassen sind ein anschauliches Beispiel dafür. 60 Zweigstellen mussten zunächst als Folge der Sturzfluten schließen. Mit rollenden Filialen konnten sie die Bargeldversorgung in einigen betroffenen Regionen sicher stellen. Zugleich aber stellten die Institute Beschäftigte für Hilfseinsätze ab. Mit Sonderkreditprogrammen helfen sie Flutbetroffenen, nach Angaben des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) überwiegend zinsfrei. Das alles kostet sie weit mehr, als es ihnen einbringt. Auch hier verpufft die Sonderkonjunktur also.
Wolfgang Mulke
Der Wiederaufbau nach den Überschwemmungen macht Milliardeninvestitionen nötig. Eine Konjunkturschub ist dennoch nicht zu erwarten.
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Zwei neue Kinofilme: Wahnwitz schlägt kaum Funken - taz.de
Zwei neue Kinofilme: Wahnwitz schlägt kaum Funken Der eine Film bietet ein farbenfrohes Finale, der andere eine düstere Geschichte. Notizen zu „The Man Who Killed Don Quixote“ und „Cinderella the Cat“. Bilder von kaputter Schönheit: Angelica, die „böse Mutter“ und ihre Amsel in „Cinderella the Cat“ Foto: Missing Films Ein Regisseur beim Dreh. Toby (Adam Driver) filmt in Spanien eine Szene mit Windmühlen, Riesen und einem Ritter, der sich ihnen entgegenstellt. Doch nicht für einen Don-Quixote-Film, sondern für einen Werbespot. Pannen verzögern das Projekt. Terry Gilliams „The Man Who Killed Don Quixote“ beginnt als Drama eines Filmemachers, der mal Ambitionen hatte. Jetzt hat er sich in brancheninternen Abgründen verheddert, pflegt eine Affäre mit der Frau seines Produzenten. Als bei den Aufnahmen wieder mal etwas schiefgeht, braust er mit dem Motorrad davon, in ein Bergdorf in der Nähe. Dort hat er als Student einst mit den Bewohnern den „Don Quixote“-Stoff verfilmt. Und trifft nun auf seinen ehemaligen Star, einen Schuhmacher (Jonathan Pryce), der sich inzwischen für Don Quixote hält. Und in Toby seinen Sancho Pansa zu erkennen meint. Von da an kippt der Film von einer Realitätsebene in die nächste, treibt die Wahnvorstellungen Don Quixotes als Film im Film in immer aberwitzigere Verschachtelungen hinein: Wo Cervantes’ Romanheld zu viel Ritterromane gelesen hat, scheint Gilliam sich zu lange mit der Verfilmung des Stoffs herumgeschlagen zu haben: Rund 25 Jahre bemühte er sich um das Vorhaben. Es schlagen kaum Wahnwitz-Funken Dem Ergebnis merkt man einiges von diesem Irrlichtern an, das Ebenenspiel scheint irgendwann eher Selbstzweck, aus dem Gilliam kaum Wahnwitz-Funken schlägt. Gescheitert ist sein Film nicht. Doch die große tragikomische Fantasie über Don Quixote, die er hätte werden können, scheint nur manchmal durch, wie im von zahllosen Kostümen verzierten, farbenfrohen Finale. Eine andere Art der Farbenpracht bietet der italienische Animationsfilm „Cinderella the Cat – La Gatta Cenerentola“. Das Regiequartett Alessandro Rak, Ivan Cappiello, Marino Guarnieri und Dario Sansone macht aus der neapolitanischen Aschenputtelversion eine düstere Zukunftsgeschichte. Mit einem Erfinder, der ein Forschungsinstitut im Hafen von Neapel errichten wollte, in einem Kreuzfahrtschiff, belebt von einer Parallelwelt aus Hologrammen. Der Erfinder Vittorio Basil wird jedoch vom Gangster Salvatore Lo Giusto ermordet, weil der Basils Verlobte für sich haben will. Die Tochter Basils wird fortan auf dem Schiff eingesperrt und bewusst ungebildet gehalten, wie ein weiblicher Kaspar Hauser. Bis ein Polizist erscheint, um die mysteriösen Vorgänge aufzudecken. Die Filme„The Man Who Killed Don Quixote“. Regie: Terry Gilliam. Mit Jonathan Pryce, Adam Driver u.a. Spanien/Frankreich/Belgien/Portugal 2018, 133 Min.„Cinderella the Cat – La Gatta Cenerentola“. Regie: Alessandro Rak, Ivan Cappiello, Marino Guarnieri, Dario Sansone. Italien 2017, 86 Min. „Cinderella the Cat“ hält seine Handlung schlicht, lässt die Bilder erzählen. Mit scheinbar unfertigen Figuren, liebevoll verfallener Schiffsarchitektur und spukhaften Hologrammeffekten. Die erinnern als Schichten der Vergangenheit an die Geheimnisse des Schiffs. Ein wunderbares Noir-Märchen.
Tim Caspar Boehme
Der eine Film bietet ein farbenfrohes Finale, der andere eine düstere Geschichte. Notizen zu „The Man Who Killed Don Quixote“ und „Cinderella the Cat“.
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Der Traum vom ungeteilten Bosnien - taz.de
Der Traum vom ungeteilten Bosnien Der Teilungsplan der internationalen Bosnien-Kontaktgruppe soll nur mehr „Basis“ für weitere Verhandlungen sein / Kritik aus Sarajevo an Bosniens Premierminister Haris Silajdžić  ■ Von Karl Gersuny Wien (taz) – Bosniens Premierminister Haris Silajdžić plädiert für Zensur – in gewissen Situationen. „Ansonsten gerät die Regierung in Mißkredit“, verteidigt sich der Politiker, „denn nicht jede Meinung ist in dieser Kriegszeit angebracht.“ Silajdžić weiß, wovon er spricht. Als zum Jahresbeginn das Parlament zusammentrat, da gab es von den Abgeordneten scharfe Kritik an der Politik des Westens gegenüber Bosnien. Sie forderten den Premierminister auf, sich den „wahren Freunden in Ankara, Teheran und Kuala Lumpur zuzuwenden“. Es ist vor allem die Direktorin des Staatsfernsehens, Amila Omersoftić, die sich offen gegen den politischen Kurs von Silajdžić stellt und den derzeit ausgehandelten Waffenstillstand als „fatalen Fehler“ kritisiert. Ihre Begründung: Die serbischen Aggressoren hätten durch ihren Schachzug, den amerikanischen Ex-Präsidenten Jimmy Carter für den Bosnienkonflikt einzuspannen, ihre politische Isolation auf der internationalen Politbühne überwunden. Die Serben würden nun erneut ihre Friedensbedingungen diktieren, und ihre Forderung nach einem größeren Anteil an der Kriegsbeute werde vom Westen schon stillschweigend gebilligt. Dies hätte Silajdžić verhindern können, hätte er auf den Rat der Militärs gehört und den Kampf „bis zur Befreiung“ fortgesetzt. Gegen diese Kritik hat die bosnische Regierung einen schweren Stand. Bei einem Besuch des stellvertretenden US-Außenministers am Montag in Sarajevo sickerte durch, daß die Kontaktgruppe ihren Bosnien-Teilungsplan – 51 Prozent für Kroaten und Bosniaken, 49 Prozent für die Serben – lediglich als „Basis“ für weiterführende Verhandlungen ansieht. In Sarajevo befürchtet man nun, daß Serbenführer Karadžić möglicherweise 64 Prozent des Territoriums zugesprochen bekommt und seine Mörderbanden gerade noch knapp 10 Prozent ihrer Eroberungen abtreten müssen. Karadžić prahlt denn auch: Es werde nicht mehr lange dauern, bis Sarajevo geteilt werde und die ostbosnischen Enklaven Srebrenica, Goražde und Žepa seinem Reich zugesprochen würden. Und Serbengeneral Ratko Mladić stimmte seine Männer zum orthodoxen Weihnachtsfest auf einen „Endkampf“ ein, sollte Sarajevo nicht von den „unrealistischen Träumereien“ eines souveränen Bosniens in seinen international verbrieften Grenzen Abstand nehmen. Keine Vermittler könnten seine Armee, so Mladić, dann an seinem Vorhaben hindern. Aber auch die kroatische Seite zeigt sich in diesen Tagen kämpferisch. General Janko Bobetko fordert die „Wiederherstellung der kroatischen Souveranität und eine „Zerschlagung des serbischen Pseudostaates Krajina“. Über die Grenzen nach Bosnien will er seine Armee marschieren lassen, sollte dort kein „gerechter Friede“ gefunden werden. „Wir müssen die bosnischen Kroaten schützen“, sagt der General, „und den Muslimen Beistand leisten, daß auch sie ihre Kriegsziele verwirklichen können.“ Für die Militärs aller Seiten steht fest, wenn der Schnee wieder taut, geht der Kampf weiter – spätestens aber im Frühjahr. Gegen diese verhärteten Positionen angehen, das schwor sich Haris Silajdžić, werde er zumindest in seinen eigenen Reihen. Doch auf verbaler Ebene erlitt der bosnische Regierungschef Anfang der Woche eine Niederlage: Seine eigene Partei, die „Demokratische Aktion Bosniens“, rügte sein Verhalten, das staatliche Fernsehen auf moderaten Kurs zu bringen. Die Partei stellte sich hinter Intendantin Amila Omersoftić und forderte „schonungslose Kritik am zynischen Kurs westlicher Regierungen, die kriegsgebeutelte Republik sich selbst zu überlassen“.
Karl Gersuny
Der Teilungsplan der internationalen Bosnien-Kontaktgruppe soll nur mehr „Basis“ für weitere Verhandlungen sein / Kritik aus Sarajevo an Bosniens Premierminister Haris Silajdžić  ■ Von Karl Gersuny
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Appell an Multis - taz.de
Appell an Multis amnesty international sieht in der Globalisierung einen Hauptgrund für Menschenrechtsverletzungen BERLIN taz ■ Was hat das gute Land USA mit den bösen Ländern China, Iran und Saudi-Arabien gemeinsam? Der Jahresbericht 2001 von amnesty international gibt darauf eine Antwort: Allein 88 Prozent der 1.457 Hinrichtungen fanden im vergangenen Jahr in diesen vier Ländern statt. Seit der Gründung der Menschenrechtsorganisation am 28. Mai 1961 hat sich in Sachen Todesstrafe jedoch etwas getan: Bis Ende 2000 hatten 75 Staaten die Todesstrafe komplett abgeschafft und 20 weitere Länder haben seit zehn Jahren keine zum Tode Verurteilten mehr hingerichtet, obwohl bei ihnen die Todesstrafe formal noch existiert. Der gestern in Berlin vorgestellte Bericht zeigt allerdings, dass amnesty international auch in den nächsten Jahren viel zu tun haben wird. In 149 Staaten wurden im vergangenen Jahr die Menschenrechte verletzt. Auch in Deutschland prangert die Organisation Vergehen an – dokumentiert sind Misshandlungen von Minderheiten durch Polizeibeamte. In Europa sind es ansonsten vor allem ehemals kommunistische Länder, denen amnesty Folter und Misshandlungen von ethnischen Minderheiten und Oppositionellen vorwirft. Anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens hat die Organisation auch untersucht, wie sich Menschenrechtsverletzungen seit den 60er-Jahren verändert haben. Täter sind demnach nicht mehr ausschließlich Staatsbedienstete und Regierungsangestellte, sondern auch Privatpersonen wie Familienmitglieder oder Arbeitgeber. Bewaffnete Oppositionsgruppen und paramilitärische Einheiten treten dem Bericht zufolge ebenso die Menschenrechte mit Füßen. Einen Grund dafür sieht amnesty in der Globalisierung, wie Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion, erklärt: „Sie wird begleitet von Verschuldung, Armut und zunehmenden, polarisierenden Ungleichheiten. Die berechenbare Folge der wachsenden Armut ist die parallele Zunahme von Menschenrechtsverletzungen.“ Deswegen ruft die Menschenrechtsorganisation in diesem Jahr nicht nur Staaten, sondern auch verstärkt internationale Unternehmen und Institutionen, wie die Weltbank, zum Handeln auf. Ein besonderer Einsatz für die Menschenrechte wird von den Konzernmultis gefordert, die in Ländern angesiedelt sind, die für ihre massiven Menschenrechtsverletzungen bekannt sind. Mit dieser Lobbyarbeit hat amnesty schon im vergangenen Jahr bei internationalen Diamantenherstellern und -händlern angefangen. Ziel war es, durch ein Kontrollsystem zu verhindern, dass weiter Diamanten aus dem afrikanischen Bürgerkriegsland Sierra Leone gehandelt werden. ULRIKE KLODE
ULRIKE KLODE
amnesty international sieht in der Globalisierung einen Hauptgrund für Menschenrechtsverletzungen
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Viagra-Hersteller will Botox-Firma kaufen: Ob es glattläuft, steht noch nicht - taz.de
Viagra-Hersteller will Botox-Firma kaufen: Ob es glattläuft, steht noch nicht Der Viagra-Hersteller Pfizer will offenbar seinen Konkurrenten kaufen – die Botox-Firma Allergan. Vor der möglichen Übernahme gibt es noch einige Hürden. Will noch weiter nach oben als mit Viagra: Pfizer. Foto: dpa WASHINGTON afp | In der Pharmabranche könnte sich die nächste Mega-Fusion anbahnen: Der Viagra-Hersteller Pfizer aus den USA will Berichten zufolge seinen Konkurrenten Allergan übernehmen, der für das Anti-Falten-Mittel Botox bekannt ist. Das mögliche Geschäft stehe allerdings noch ganz am Anfang, berichtete das Wall Street Journal am Mittwoch unter Berufung auf informierte Kreise. Es sei durchaus möglich, dass es letztlich nicht zur Übernahme komme. Vor einem möglichen Abschluss seien noch einige Hürden zu nehmen, schrieb die Zeitung. Dazu gehöre der Preis – Allergan hat derzeit einen Börsenwert von rund 112,5 Milliarden Dollar (102 Milliarden Euro). Auch spiele die Frage eine Rolle, inwiefern Pfizer nach der Übernahme Jobs streichen und Standorte schließen wolle. Die Financial Times berichtete, Pfizer-Chef Ian Read habe kürzlich Allergan-Chef Brent Saunders wegen des möglichen Geschäfts kontaktiert. Für Pfizer könnte eine Übernahme von Allergan einige Vorteile haben. So ließen sich laut Wall Street Journal möglicherweise Steuern sparen, da Allergan seinen Hauptsitz in Irland hat, wo vergleichsweise geringe Unternehmenssteuern erhoben werden. Auch könne Pfizer sein Angebot an patentgeschützten Medikamenten ausbauen und insgesamt sein Wachstum beschleunigen. Falls es zur Übernahme kommen sollte, wäre es die größte in diesem Jahr, schrieb das Wall Street Journal. In der Pharma- und Gesundheitsbranche hatte es zuletzt eine ganze Reihe von Übernahmen und Fusionen gegeben. Pfizer selbst hatte im vergangenen Jahr erfolglos versucht, den britischen Pharmahersteller AstraZeneca für rund 120 Milliarden Dollar zu übernehmen.
taz. die tageszeitung
Der Viagra-Hersteller Pfizer will offenbar seinen Konkurrenten kaufen – die Botox-Firma Allergan. Vor der möglichen Übernahme gibt es noch einige Hürden.
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ZWISCHEN DEN RILLEN: Arrangement mit der Krise: Postdubstep von Mount Kimbie - taz.de
ZWISCHEN DEN RILLEN: Arrangement mit der Krise: Postdubstep von Mount Kimbie ■ Mount Kimbie: „Crooks And Lovers“ (Hotflush) ■ James Blake: „Cmyk“ (R&S) ■ Joy Orbison: „The Shrew would have cushioned the Blow“ (Aus Music) Im Postdubstep tauchen Gesangsfetzen wieder auf, die Stimmen machen einen demolierten Eindruck Das Debütalbum der beiden englischen Produzenten Dominic Maker und Kai Campos alias Mount Kimbie ist endlich da. Es heißt „Crooks and Lovers“, Gauner und Liebende, und steht für einen Paradigmenwechsel in der britischen Clubmusik. Was vorher Dubstep hieß, wird seit Mount Kimbie Postdubstep genannt. Dubstep hat sein berühmtester Produzent Burial in einem Interview einmal so beschrieben, dass er eine Musik macht, die sich anhöre, als ob man vor der Stahltür des Clubs stehe und den Bass verschwommen durch die Tür höre. Das dräuende Element war – neben dem komplexen Beatdesign – das Markenzeichen des soliden Bass. Dubstep war die Musik des Vorscheins der Dystopie, der Sound zur angekündigten Finanzkrise. Die Briten wussten, dass etwas auf sie zukommt, sie wussten nur nicht, in welchem Ausmaß. Inzwischen hat sich das Monströse der Finanzkrise in banale Realität verwandelt. Großbritannien lebt mittlerweile in der Rezession, die Einschnitte in den Sozialhaushalt sind gewaltig. Willkommen im Postdubstep. Diese Musik ist kein Engagement, sondern Arrangement. Mount Kimbie sind nicht die solitären Superstars, zu denen sie die deutsche Musikpresse gerade hochschreibt. Viel mehr sind sie Teil einer Gruppe junger Londoner Produzenten. Neben Mount Kimbie gehören James Blake und Joy Orbison dazu. Paul Rose alias Scuba hat als umtriebiger Partypromoter und Labelchef von Hotflush auch seinen Teil dazu beigetragen, Postdubstep zu lancieren. Schließlich sind es „seine“ Jungs, die schon pars pro toto für die gesamte Szene stehen. Mount Kimbie, Joy Orbison, und James Blake kombinieren perkussive mit musikalischen Elementen. Heraus kommt ein Sound, der gleichzeitig organisch und unterbrochen wirkt. Nicht selten baut er auf Live-Sessions auf. Die Herkunft aus dem Dubstep ist unüberhörbar, allerdings transzendieren die jungen Briten den Basssound – nicht zuletzt indem sie ihn mit leichteren Grooves kombinieren. Während Joy Orbison dem groovigen UK-Garage zuneigt, zitieren Mount Kimbie Pop und Techno, und James Blake arbeitet mit R & B-Samples aus den 90ern und HipHop-Elementen. Es sind also weniger die Zutaten, sprich Samples, als viel mehr die Formensprachen, die es erlauben, die drei Produzenten unter dem Label Postdubstep zu subsumieren: Die physische Kraft des Basses hat einer subtilen Kombinatorik Platz gemacht, und live eingespielte Gitarren und Gesangsharmonien sind wieder en vogue. Jedoch kommt mit Postdubstep nicht das Humane zurück in den Club, sondern etwas Humanoides. Die menschliche Stimme meldet sich zu Wort, allerdings macht sie einen demolierten Eindruck. Sie ist zerhackt, verzerrt und hört sich oft an, als ob man einen Track rückwärts spielen würde. In „Cmyk“ lässt James Blake die R & B-Sängerin Kelis erneut den roten Mantel finden, der ihr auf ihrem Track „Caught out there“ von 1999 als Zeichen dafür galt, dass der Geliebte sie betrügt. Bezeichnend für Postdubstep ist, dass James Blake nicht die offensichtlich Zeile „I hate you so much right now“ gesampelt hat, sondern die Zeile „I found her red coat“. Der Mantel verweist hier also auf den Betrug. Mount Kimbies Feldaufnahmen von Kinderstimmen auf „Tunnelvision“ sind hingegen ein Verweis darauf, dass die Heuschrecken nicht gesiegt haben. Hört her, scheinen sie zu murmeln, uns gibt es noch, wir sind hier, wenn auch nur noch als Fährte. Auf „Crooks and Lovers“ existiert Stil nur noch als Hologramm. Was die Postdubstepper produzieren, ist eine Art Autoren-Postdubstep: sous rature. Der spezielle Signifikant ist noch da, um das Konzept dahinter erkennen zu lassen, er geht aber nicht ganz auf in dem Konzept „Subjekt“. Kai Campos und Dominic Maker signifizieren in dieser durchgestrichenen Manier ihre Autorenschaft. „Crooks and Lovers“ trägt nur noch die Konnotation seiner Autoren. Trotz ihrer Transparenz kann man in der konnotierten Autorenschaft deutlich die Motivation der Produzenten hören: Es geht darum, gleichzeitig an- und abwesend zu sein. Dubstep war die Musik des Vorscheins der Katastrophe. Postdubstep ist die Musik derjenigen, die sich mit ihr arrangieren müssen. NADJA GEER
NADJA GEER
■ Mount Kimbie: „Crooks And Lovers“ (Hotflush) ■ James Blake: „Cmyk“ (R&S) ■ Joy Orbison: „The Shrew would have cushioned the Blow“ (Aus Music)
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Das Chamäleon Terrorismus - taz.de
Das Chamäleon Terrorismus Ursprünglich propagierte der Terror Revolution, Aufstand und Anarchie. Heute verbreitet er nur noch Furcht und Schrecken Dass es den Vereinten Nationen nicht gelungen ist, eine von der Mehrheit ihrer Mitglieder akzeptierte Definition des Terrorismus zu finden, hat politische Gründe; dass in wissenschaftlichen Debatten so viel aneinander vorbeigeredet wird, wenn es um Terrorismus geht, hat jedoch auch sachliche Gründe. Seit seinen Anfängen im zaristischen Russland Ende des 19. Jahrhunderts hat der Terrorismus immer wieder seine Erscheinungsform geändert. Aus einem Instrument, das der Befreiung des Volkes von Armut und Unterdrückung dienen sollte bzw. sich damit gerechtfertigt hat, ist zuletzt eine Gewaltform geworden, mit der die Bevölkerung, zumindest die in Europa und den USA, eingeschüchtert und geängstigt werden soll. Macht es unter diesen Umständen überhaupt Sinn, am Begriff Terrorismus als Sammelbezeichnung festzuhalten? Das Einzige, was allen Formen terroristischer Gewalt gemeinsam ist, ist die Orientierung an den psychischen und weniger an den physischen Folgen der Gewalt: Es geht vor allem um die Erzeugung von Schrecken, nicht so sehr um das Anrichten von Zerstörungen. Das lateinische Wort terror, Schrecken, bringt die Grundintention dieser Strategie, sehr präzise zum Ausdruck. Worin sich dagegen die verschiedenen Terrorismen fast immer unterscheiden, ist die Gruppe derer, die in Furcht und Schrecken versetzt werden soll, und natürlich auch der Kreis derer, denen die Anschläge Mut und Zuversicht geben sollen, dass eine Revolution möglich und terroristische Gewalt das dazu geeignete Mittel sei. Man kann Letztere auch als "den zu interessierenden Dritten" bezeichnen, an den die Anschläge wie die Bekennerschreiben indirekt gerichtet sind. Etwas vereinfacht lässt sich zwischen einem nationalrevolutionär-ethnoseparatistischen und einem sozialrevolutionären Terrorismus unterscheiden. Beispiele für ersteren Typus waren in Europa zuletzt die IRA und die ETA, während für letztgenannten Typus die Brigate Rosse in Italien oder die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland stehen. Als Drittes lässt sich ein vigilantistischer Terrorismus unterscheiden, für den der Ku-Klux-Klan in den USA ein Beispiel ist: Hier soll der Schrecken nicht dem Umsturz, sondern der Erhaltung der bestehenden Strukturen dienen. Wichtig ist dabei, dass dieser Schrecken nicht vom Staatsapparat selbst, sondern von unabhängigen Bewegungen erzeugt wird. Sonst spricht man von Terror, nicht von Terrorismus. Rückblickend wird man sagen können, dass der nationalrevolutionäre Terrorismus einige Male erfolgreich gewesen ist, der sozialrevolutionäre dagegen nie. Dass dem so ist, hat vor allem mit der Reaktion des "zu interessierenden Dritten" zu tun. Mangelnde Resonanz Die Geschichte der RAF in Deutschland ist durch Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse über die Frage gekennzeichnet, wer "der zu interessierende Dritte" sein sollte: Während die einen auf das nationale Proletariat und später eine heterogene Gruppe von gesellschaftlich Marginalisierten setzte, orientierte sich der internationalistische Flügel an den "Völkern der Dritten Welt", womit in Zeiten des Vietnamkrieges zwangsläufig die USA zum Hauptgegner avancierten. Beide Flügel hatten freilich ein gravierendes Problem, und das war das notorische Desinteresse derer, die durch die Anschläge unterstützt und motiviert werden sollten. Die fast zwangsläufige Konsequenz dieses Desinteresses war, dass die Aktionen schließlich wesentlich auf die Befreiung von Inhaftierten der eigenen Gruppe abzielten. Die "zweite Generation" der RAF war damit beschäftigt, die in Haft befindliche "erste Generation" freizupressen. Das Desinteresse des "zu interessierenden Dritten" gegenüber den Terroristen hatte zur Folge, dass die Bekämpfung des Terrorismus keine politische Herausforderung mehr war, sondern nur noch ein polizeiliches Problem. Die Anschläge gingen zwar noch mehr als ein Jahrzehnt weiter, aber die Erregung hielt sich in engen Grenzen. Das ist bei den neuen Formen des Terrorismus, für die der Name al-Qaida steht, ganz anders. Der "zu interessierende Dritte" ist auf eine Restgröße geschrumpft, etwa in Form von Beifallskundgebungen der arabischen Massen oder der geweckten Spendenbereitschaft reicher muslimischer Geschäftsleute, die mit "dem großen Satan" Geschäfte machen und darüber ein schlechtes Gewissen haben. Während im klassischen Terrorismus die Anschläge als Anlasser dienten, den Dritten in Bewegung zu setzen und die Gewaltkampagne in einen Massenaufstand in den Städten oder einen Partisanenkrieg auf dem Lande zu überführen, spielen diese Dritten im transnationalen Terrorismus des 21. Jahrhunderts keine entscheidende Rolle. Die Strategie der schreckenerzeugenden Gewalt folgt hier anderen Vorgaben: Sie dient nicht als Anlasser für einen eskalatorischen Prozess, in dem das Volk schließlich die entscheidende Rolle spielt, sondern es geht um einen Ermattungskrieg, bei dem kleine und im Prinzip schwache Akteure unter Umgehung des professionellen Sicherheitsapparats die Bevölkerung des Gegners immer wieder mit Anschlägen überziehen, bis diese ihre Regierung zum Nachgeben und zur politischen Resignation drängt. War der klassische Terrorismus eine Form der Gewalt, die sinnvoll unter dem Rubrum der Revolutionstheorien verbucht wurde, so ist der neue transnationale Terrorismus eher dem Feld der Kriegstheorien zuzuschlagen. Jedenfalls handelt es sich dabei um eine Strategie, deren Erfolg nicht davon abhängig ist, dass ein "zu interessierender Dritter" auf eine bestimmte Weise reagiert. Anleitung im Internet Das hat schließlich ganz lebenspraktische Konsequenzen für die in den Gebieten terroristischer Aktionen Lebenden: Selbst auf dem Höhepunkt der RAF-Kampagnen in den Jahren 1972 und 1977 konnte man relativ unbesorgt mit dem Zug und der U-Bahn fahren, denn die Strategie schrieb zwingend vor, dass niemand aus den Reihen des "zu interessierenden Dritten" zu Schaden kommen durfte. Wenn man nicht zu den Spitzen von Staat und Gesellschaft oder deren Sicherheitspersonal gehörte, mussten einen die Anschläge nicht sonderlich beunruhigen. Wenn sie es dennoch taten, war dies eine Folge medial erzeugter Erregung, aber nicht des rationalen Kalküls. Das ist beim transnationalen Terrorismus nicht der Fall, wie die Anschläge von New York, Madrid und London gezeigt haben. Der Verzicht auf den "zu interessierenden Dritten" im transnationalen Terrorismus hat obendrein zur Folge, dass Anschläge sehr viel einfacher geworden sind und tendenziell von jedem durchgeführt werden können. Anleitungen aus dem Internet und etwas handwerkliches Geschick genügen. Das hat zur Folge, dass im transnationalen Terrorismus nicht mehr straff geführte Gruppen, sondern lose Verbände agieren. Überhaupt haben ideologische Rechtfertigungen der Gewalt, die für die RAF noch von zentraler Bedeutung waren, an Gewicht verloren. Die Gewalt erklärt sich selbst: Sie soll allen Furcht und Schrecken einjagen. HERFRIED MÜNKLER, Jahrgang 1951, Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität, ist Autor des Buches "Imperien" (Rowohlt, Berlin 2005, 331 Seiten, 9,90 Euro)
Herfried Münkler
Ursprünglich propagierte der Terror Revolution, Aufstand und Anarchie. Heute verbreitet er nur noch Furcht und Schrecken
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■ Ex-RAF studiert: Uni trotz Haft - taz.de
■ Ex-RAF studiert: Uni trotz Haft Oldenburg (dpa) - Die wegen Beteiligung an der Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer im Oktober 1991 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilte Ex- RAF-Terroristin Silke Maier-Witt studiert Psychologie. Das niedersächsische Justizministerium bestätigte gestern, Frau Maier-Witt sei Freigängerin der Justizvollzugsanstalt Vechta und studiere an der Uni Oldenburg. Zugleich wurde es als „ausgesprochen unglücklich“ bezeichnet, das die „Lockerung der Haftbedingungen“ bekanntgemacht worden sei. Damit werde Silke Maier-Witt „hochgradig gefährdet“.
taz. die tageszeitung
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Dienstreise? Abgelehnt! - taz.de
Dienstreise? Abgelehnt! Kritische WDR-Journalisten dürfen nicht mehr ins Kosovo reisen. Der Grund: Sicherheitsbedenken. Die allerdings hat auch der Bayerische Rundfunk geschürt BERLIN taz ■ Was Verteidigungsminister Rudolf Scharping nicht gelungen ist, haben jetzt Journalisten vom Bayerischen Rundfunk geschafft: die Autoren des viel beachteten WDR-Films „Es begann mit einer Lüge“ zumindest vorläufig an der Fortsetzung ihrer Arbeit zu hindern. Mathias Werth und Jo Angerer, die in ihrer Dokumentation die Informationspolitik der Bundesregierung während des Kosovo-Krieges kritisch beleuchtet hatten, wollten demnächst erneut auf den Balkan reisen, um ihre Berichterstattung fortzusetzen. Dafür bekommen sie jedoch derzeit von ihrem Arbeitgeber keine Genehmigung – aus Sicherheitsgründen. „Ich unterschreibe in dieser Situation den Dienstreiseantrag nicht“, sagt Albrecht Reinhardt, Leiter der Programmgruppe Ausland im WDR. Anlass für die Bedenken ist ein Beitrag in der Fernsehsendung „Weltspiegel“ vom 10. Juni. Darin hat Korrespondent Peter Miroschnikoff vom Bayerischen Rundfunk einen von ihm als eigentlich „gemäßigt“ bezeichneten UÇK-Kommandanten mit der Drohung zitiert, er wolle die Autoren des Films persönlich liquidieren, sollten sie jemals wieder im Kosovo auftauchen. Miroschnikoff hat sich von dieser Äußerung weder distanziert noch sie journalistisch eingeordnet – ein Vorgang, den die WDR-Chefredakteurin Marion von Haaren „unverantwortlich“ nannte. Beim WDR wird gegenwärtig erwogen, ob der Miroschnikoff-Bericht als „Beihilfe“ zur Androhung einer Straftat gewertet werden muss. Das wäre eine strafbare Handlung. Ungeachtet dessen versuchen die verschiedenen am „Weltspiegel“ beteiligten ARD-Redaktionen, zu einer gemeinsamen Einschätzung der Sachlage zu kommen. Gestern ist dieser Versuch allerdings zunächst gescheitert: Der Bayerische Rundfunk nahm an einer Schaltkonferenz, die sich auch mit diesem Thema befassen sollte, nicht teil. BETTINA GAUS
BETTINA GAUS
Kritische WDR-Journalisten dürfen nicht mehr ins Kosovo reisen. Der Grund: Sicherheitsbedenken. Die allerdings hat auch der Bayerische Rundfunk geschürt
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■ Die SPD-Länder im Kampf für die Konzentrationskontrolle: Letzte Chance gegen Leo Kirch - taz.de
■ Die SPD-Länder im Kampf für die Konzentrationskontrolle: Letzte Chance gegen Leo Kirch Ein (laut)starker Gegner macht einig. Ohne das Stoiber-Biedenkopf-Papier, das die ARD abschaffen wollte, hätte es die SPD nicht geschafft. Zumindest wäre sie nicht so zügig zu einer einheitlichen Position zur Konzentrationskontrolle bei den privaten Fernsehsendern gekommen. Selbst das Menetekel Berlusconi, der die Medien für seinen eigenen Wahlkampf monopolisierte, hatte nicht geholfen, die Gegensätze in der SPD zu versöhnen – zwischen den aufrechten Anti-Kirch-Kämpfern und jenen Wirtschaftspolitikern in den Ländern, die um ihre Medienstandorte München und Köln besorgt sind. Und um ein Haar hätte sich Johannes Raus Euphemismus von den beiden legitimen „Senderfamilien“, sprich Bertelsmann und Kirch, bei der SPD auch durchgesetzt. Doch mittlerweile hat sich der Wind gedreht. Wenn schon der medienpolitische Sprecher der CDU-Bundespartei, Bernd Neumann, den Medienanstalten „kartellamtsähnliche Befugnisse“ geben will, dann ist die Union, dann ist Kirch in der Defensive. Daß die Medienanstalten dem geplanten Thomas-Kirch-Sender Kabel Plus eine Lizenz verweigerten, ist dafür ein weiteres Indiz. Trotzdem: Es hat lange gebraucht, bis sich die sozialdemokratisch regierte Ländermehrheit, medienpolitisch bislang wenig engagiert, aufgerafft hat. Immer noch ist das Thema Medien Stiefkind in den Parteien, jenseits der Schaufensterreden wird die Politik von Lobbyisten gemacht. Und wo, wie bei den Grünen, keine vorhanden sind, da gibt es außer Presseerklärungen bislang auch keine Medienpolitik. Es bräuchte heute keine „Springer-Mörder!“-Rufe mehr, um auf die Gefahren der Zusammenballung von Meinungsmacht aufmerksam zu machen. Doch die Öffentlichkeit reagiert immer noch auffällig apathisch auf die alarmierende Tatsache, daß die Kirch- Familie, politisch mit der Union liiert, nicht nur mehrere Fernsehsender, sondern seit letztem Jahr auch den Springer-Konzern beherrscht. Wo Filme gebraucht werden, läuft ohne Kirch ohnehin nichts mehr. Den Pay-Sender „premiere“ macht er mit Bertelsmann gemeinsam, andere europäische Sender teilt er sich mit Berlusconi, und Amerikaner wie Time- Warner kann er vom deutschen Fernsehmarkt fernhalten: Er besitzt schließlich die deutschen Rechte an ihren Filmen. Das Schlagwort heißt daher auch nicht „Berlusconisierung“. Es ist die europaweite Verflechtung weniger Medienzaren untereinander, die den Markt der neuen (und anschließend auch der alten) Medien unter sich aufteilen werden. Der Rundfunkstaatsvertrag, um den jetzt gestritten wird, ist die letzte Chance, das alles zu entwirren. Michael Rediske
Michael Rediske
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Ölschlamm gefährdet Trinkwasser in Sibirien - taz.de
Ölschlamm gefährdet Trinkwasser in Sibirien ■ Pipeline bei Tulun im Bezirk Irkutsk gebrochen Moskau (dpa) – Noch ist die Krusanka, ein Nebenfluß der Ija, zugefroren. Aber auf dem Eis liegt eine zwei Kilometer lange Schicht Ölschlamm. Nach Angaben der Nachrichtenagentur ITAR-TASS ist eine Pipeline westlich der Stadt Tulun im Bezirk Irkutsk gebrochen. Bis Freitag sollen etwa 3.500 Tonnen Öl ausgelaufen und mindestens 20.000 Quadratmeter Boden verschmutzt worden sein. Der Ölschlamm auf der Kursanka droht in die Ija und von dort in den Bratsker Stausee einzudringen. Das Ministerium für Katastrophenschutz hofft, daß die Eisdecke noch vor dem Einsetzen des Tauwetters gesäubert werden kann. Der gefährdete Stausee dient der Trinkwasserversorgung der Region. Gefahr droht auch an der Bruchstelle der Pipeline. In unmittelbarer Nähe verläuft eine Eisenbahnlinie – Funkenschläge könnten verdampfendes Öl entzünden. Die Betreibergesellschaft schottete die Leitung auf einer Länge von 27 Kilometern ab und schaltete eine Ersatzleitung. Säuberungstrupps versuchen, das Loch abzudichten. Seit vergangenem August war auch eine Erdölleitung bei Ussinsk mehrfach gebrochen, möglicherweise floßen 300.000 Tonnen Öl aus. Ausländische und russische Spezialisten sind noch dabei, das ökologisch sensible Gebiet zu säubern. Nach Angaben einer Parlamentskommission gelangen jährlich rund fünf Millionen Tonnen Öl und Gas wegen undichter veralteter Leitungen oder wegen Fahrlässigkeit in die Umwelt. Der Verluste summieren sich auf 21,8 Milliarden Mark. Damit könnte ungefähr das Haushaltsdefizit Rußlands in diesem Jahr gedeckt werden. nh
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■ Pipeline bei Tulun im Bezirk Irkutsk gebrochen
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Fensterradio ade - taz.de
Fensterradio ade ■ Das Freie Sender Kombinat (FSK) möchte künftig ganztags senden Im Auftrag der Senatskanzlei ist die Telekom zur Zeit dabei, den Hamburger Äther nach einer freien Hörfunkfrequenz zu durchsuchen. Anlaß für eine Diskussionsrunde, zu der am Mittwoch abend die Landesarbeitsgemeinschaft Medien der GAL in das Hamburger Rathaus eingeladen hatte. Unter dem Titel Ein Jahr Freies Sender Kombinat - Bleibt freies Radio in der Nische? sollte die Notwendigkeit und damit die Zukunft des freien, d.h. nicht kommerziellen Radios in Hamburg diskutiert werden. Das FSK, das von 1993 bis 1996 auf dem Offenen Kanal gesendet hat, teilt sich seit März letzten Jahres die Frequenz 89,1 mit dem DeutschlandRadio Berlin. Mit dreieinhalb Stunden abendlicher Sendezeit belegt es ein sogenanntes Programmfenster. Die Lizensierung für diese Teilung wird Ende des Jahres ablaufen. Für das Jahr 1998 fordert das Kombinat nun eine Vollfrequenz. Bis auf einen Vertreter der Senatskanzlei waren alle geladenen Diskutanten auch erschienen: Katja Strube und Achim Hurrelmann kamen als VertreterInnen des Senders; Thomas Ricken, Vorstandsmitglied der Hamburgischen Medienanstalt (HAM), zuständig für die Vergabe von Lizenzen; Detlef Umbach, SPD; Willfried Maier, Fraktionsvorsitzender der GAL, und Prof. Hans J. Kleinsteuber, Politik- und Medienwissenschaftler der Universität Hamburg. In dieser erstmal unverbindlichen Diskussionsrunde waren sich die medienpolitisch Verantwortlichen und die MacherInnen des Radios dann auch einig: Die derzeitige Frequenzteilung zwischen dem DeutschlandRadio Berlin und dem FSK sei „mehr als unglücklich“und mit der derzeitigen Sendezeit weder eine Hörerbindung noch eine zufriedenstellende Programmstruktur machbar. Das oft zitierte „Frequenzproblem“sei lediglich eine Frage des guten Willens der Telekom und die Lizenzvergabe eine politische Entscheidung. Derzeit finanziert sich das FSK über 800 Fördermitgliedsbeiträge, und mit einer Zunahme der Fördermitglieder könnte man auch ein Vollprogramm finanzieren, behauptete Achim Hurrelmann in der zweistündigen Diskussion. Das FSK hat in diesem Jahr von seinem „Fensterplatz“aus bewiesen, daß es dauerhaft und seiner Idee entsprechend Radio machen kann. Der bereits seit 1994 dauernde Kampf um die Frequenz für das Kombinat wird umso peinlicher für eine Medienhauptstadt, wirft man einen Blick auf bundesdeutsche Entwicklungen und vor allem auf die selbstverständliche Einbindung nicht-kommerzieller Sender in die Radiolandschaft unserer Nachbarländer wie beispielsweise Frankreich, Dänemark, Holland und Skandinavien. Eva Rink
Eva Rink
■ Das Freie Sender Kombinat (FSK) möchte künftig ganztags senden
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Drachen am Boden - taz.de
Drachen am Boden ■ Der Beginn des Drachenfestivals in Lemwerder fiel mitten in ein Windloch. Nix los am Himmel, aber um so mehr gab es dafür am Boden zu besichtigen Von Ferne sieht man kaum etwas: Ein bisschen Fliegendreck am Himmel, eine Handvoll Drachen, die in der Luft taumeln. Die Großen wurden bei Windstärke 0,2 oder weniger noch nicht mal ausgepackt. Statt Drachen macht sich am Freitag erstmal eine gähnende Flaute über Lemwerder breit. „Entweder es ist Wind genug, aber dann regnet es. Oder wir haben viel Sonne und keinen Wind.“ Die Frau aus Pinneberg zieht letzteres entschieden vor. Ihr Mann dagegen stöhnt über den Windausfall und zieht weiter unaufhörlich an der Schnur, um seinen Leichtdrachen wenigstens für ein paar Minuten in der Luft zu halten. Der Beginn des zehnten Drachenfestival in Lemwerder ruht am Boden, wo bunte Buden für Kirmes-Atmosphäre sorgen, ein Irrgarten aus Spinnacker-Nylon lockt und Don Quichote als Theater-Spektakel mit Ballons am Himmel aufgeführt wurde. Neben der Familie aus Pinneberg sind Drachenfreunde aus halb Norddeutschland und Holland für das Wochenende nach Lemwerder gezogen. Ihre Campingwagen und Zelte haben sie an den Rand des Ritzenbütteler Strands geparkt und davor – wie Reviermarken – jeweils ein gutes Dutzend Windspiele gesetzt. Überhaupt sind Drachenfreunde ein reiselustiges Volk: In der Saison von Frühling bis Herbst ziehen sie von Festival zu Festival. Fast jedes Wochenende findet irgendwo eins statt, erzählt eine 50-Jährige aus Oldenburg, die sich wie die meisten mitreisenden Frauen nur aufs Zugucken beschränkt. Der Mann lenkt, die Frauen kochen, oder schnacken mit den Nachbarinnen, die sie schon vom letzten Jahr kennen. Erst im Winter, wenn es draußen zu kalt wird, um die Finger in den Wind zu halten, bleiben die Sturmerprobten zu Hause. Dann werden die Drachen für die nächste Saison gebaut. Auch die Drachen, die in Lemwerder dem Himmel entgegen fliegen sollen, sind fast alles stolze Eigenkreationen. Da geht es um sehen und gesehen werden, da werden Baukonstruktion verglichen, Tipps und Originale getauscht. Die Pinneberger zum Beispiel haben inzwischen an die hundert Drachen gebastelt, aber wegen der angesagten Flaute diesmal nur die Leichtwindsegler eingepackt. Ein Oldenburger hat sich auf Miniatur-Drachen spezialisiert. Jetzt fachsimpelt er mit einer Dose Bier in der Hand über die Frage, mit wie viel Stangen ein Genki-Drachen auskommt. Noch sind die meisten der Flugobjekte auf der Erde zu bewundern. Zum Beispiel die Drachen-Schlange aus China: 100 Scheiben, filigran aus Seide und Bambus gefertigt, und in einer langen Reihe hintereinander gehängt, zusammengehalten vorne von einem großen Drachenkopf. Denselben verzierten Kopf hat sich der Besitzer auf seine Schulter tätowiert. Die Windspiele ringsum beginnen ein bisschen zu rattern. Es kommt Wind auf. Ein kurzer Blick nach rechts und links auf mögliche Konkurrenz am Himmel und schon wird die Drachenschlange nach oben gelupft. Ihr rund 50 Meter langer Schwanz wedelt immerhin für ein paar Minuten träge in der Luft und zieht die meisten neugierigen Blicke auf sich. Mehrere tausend Mark teuer war dieser Original-Import aus Fernost. Im alten China diente so eine Drachenschlange nicht nur als Flugobjekt. Es heißt, dass man mit Hilfe der Drachen das Geschlecht eines Babys vorhersagen konnte: Dafür schnitt man die Schnur durch, stürzte der Drache dann zu Boden, sollte es ein Mädchen werden. Flog der Drachen weiter, konnte man einen Jungen erwarten. Friedlich sehen sie aus, wenn die Drachen erst durch die Abendlüfte kurven. Dabei wurden die schönen Flieger auch im Krieg immer hochgeschätzt. Ein paar Drachen aneinander gehängt, und schon konnte man Späher nach oben ziehen, die den Kriegsgegner ausspionierten oder gleich Pfeil und Bogen zückten. Nicht von ungefähr wurde der Cody-Drachen von einem englischen General erfunden und nach ihm benannt. Selbst ein harmloser Kastendrachen, der meist nur still in der Luft steht, soll in den letzten Weltkriegen feindliche Flugzeuge vom Himmel geholt haben. Statt an Nylonschnüre, wurden die Drachen an Drähte gespannt, die die Propellermaschinen zum Absturz bringen konnten. Aber das ist lange her. Über Lemwerder wird es dunkel, eine Handvoll Drachen kreisen noch wie dunkle Vögel über dem Sand bis es still wird. D. Krumpipe
D. Krumpipe
■ Der Beginn des Drachenfestivals in Lemwerder fiel mitten in ein Windloch. Nix los am Himmel, aber um so mehr gab es dafür am Boden zu besichtigen
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Nach der Trump-Erklärung: Messerattentat in Jerusalem - taz.de
Nach der Trump-Erklärung: Messerattentat in Jerusalem Die Proteste gegen die Botschaftsentscheidung des US-Präsidenten halten zwar an. Insgesamt gehen die Krawalle aber zurück. Friedlicher Protest in der marokkanischer Stadt Rabat gegen Trumps Jerusalem-Entscheidung Foto: reuters Bei einem Messerattentat am Zentralen Busbahnhof in Jerusalem hat ein israelischer Sicherheitsmann schwere Verletzungen im Oberkörperbereich davon getragen. Das Attentat ereignete sich am Sonntag am frühen Nachmittag. Polizeilichen Berichten zufolge wurde der Angreifer wenige Minuten nach dem Überfall auf der Flucht festgenommen. Das Attentat steht möglicherweise im Zusammenhang mit der umstrittenen Erklärung von US-Präsident Donald Trump, der am Mittwochabend Jerusalem offiziell als Hauptstadt Israels anerkannte. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas protestierte gegen diesen Schritt und kündigte an, US-Vizepräsident Mike Pence, der plant, noch vor Weihnachten die Region zu besuchen, nicht zu treffen. Die US-Regierung habe, so ließ Abbas ausrichten, mit der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels „alle roten Linien überschritten“. Die Fatah, die Partei von Abbas, hatte noch am Samstagabend dazu aufgerufen, die Proteste in den Palästinensergebieten fortzusetzen. Zwar blieb die Lage am Wochenende angespannt. Insgesamt gingen die Krawalle aber zurück. Nur ein paar tausend Demonstranten versammelten sich in verschiedenen Städten im Westjordanland, steckten Reifen, US-Flaggen und Plakate mit dem Bild Trumps in Brand. Besonders folgenschwer blieben die Auseinandersetzungen im Gazastreifen, wo vier Menschen bei israelischen Luftangriffen und bei Feuergefechten im Grenzgebiet ums Leben kamen. Zuvor hatten Hamas-Kämpfer Raketen auf die israelische Stadt Sderot abgefeuert. Am Sonntag brachten israelische Soldaten einen Tunnel zum Einsturz, durch den die Hamas wahrscheinlich Terroristen nach Israel einschleusen wollte. Mitglieder des EU-Parlaments wollen wegen zerstörter Projekte Geld von Israel sehen Auch innerhalb Israels kam es am Wochenende zu heftigen Protesten. Drei Menschen trugen leichte Verletzungen davon, als Demonstranten im Anschluss an eine Kundgebung in der arabisch-israelischen Stadt Umm el-Fahm Steine auf einen Bus warfen und die Windschutzscheibe zerschmetterten. Verteidigungsminister Avigdor Lieberman reagierte mit dem Aufruf, Umm el-Fahm zu boykottieren. Die gesamte Region von Wadi Ara, in der zahlreiche arabische Dörfer konzentriert liegen, müsse boykottiert werden. Die Bewohner Wadi Aras, so Lieberman, „gehören nicht zum Staat Israel“ und „sind hier nicht willkommen“. Die Kritik an dem unilateralen Jerusalem-Beschluss des US-Präsidenten verlagerten sich unterdessen auf internationale Bühnen. In einer Dringlichkeitssitzung der Arabischen Liga, die am Samstagabend in Kairo stattfand, stellten sich die Außenminister der Mitgliedsstaaten einstimmig gegen die Ankündigung Trumps und erklärten sie für nichtig. Die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt habe keinerlei rechtliche Bedeutung, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Für die Palästinenser gilt es jetzt, die international günstige Stimmung zu nutzen und vor allem in Europa für eine Anerkennung Palästinas zu werben. Im Vorfeld einer Reise von Israels Regierungschef nach Paris und Brüssel unterzeichneten 56 Mitglieder des EU-Parlaments einen an Benjamin Netanjahu adressierten Aufruf zur Kompensationszahlung in Höhe von 1,2 Millionen Euro für die Zerstörung von EU-finanzierten Projekten. Dazu gehörten Schulen, Wasserleitungen und Zisternen sowie Energiegewinnungsanlagen. Die Rechnung sei, so heißt es in der von der ZeitungHaaretzveröffentlichten Anzeige, zahlbar bis zum 31. Dezember 2017. Tausende Israelis demonstrierten zudem erneut gegen die Korruption von Politikern und forderten den Rücktritt Netanjahus.
Susanne Knaul
Die Proteste gegen die Botschaftsentscheidung des US-Präsidenten halten zwar an. Insgesamt gehen die Krawalle aber zurück.
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Gesundheitsversorung in den USA: Zahl der Nicht-Versicherten fällt - taz.de
Gesundheitsversorung in den USA: Zahl der Nicht-Versicherten fällt Obamacare scheint zu wirken: Zwar sind immer noch 37 Millionen US-Amerikaner ohne Krankenversicherung – doch ist das der niedrigste Wert seit 15 Jahren. Besser abgesichert als früher: Patientinnen in den USA. Bild: reuters WASHINGTON ap | Die Zahl der US-Bürger ohne Krankenversicherung ist in den vergangenen fünf Jahren um elf Millionen gefallen. Damit gibt es zwar immer noch 37 Millionen Menschen, die ihre Behandlungen aus eigener Tasche bezahlen müssen, wie aus zwei Berichten der US-Bundesbehörden für Gesundheitsvorsorge und die Überwachung von Krankheiten hervorgeht. Doch ist diese am Dienstag veröffentlichte Zahl die niedrigste seit 15 Jahren. US-Präsident Barack Obama hatte die US-Gesundheitsreform am 23. März 2010 unterzeichnet. Allein in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres sank die Zahl der nicht Krankenversicherten um 7,6 Millionen. Dies wird auf die im Herbst 2013 gestartete Einschreibung der Versicherten zurückgeführt, die von vielen technische Pannen begleitet war. Obama sagte, das System funktioniere in vieler Hinsicht besser als erwartet. Der Vorsitzende des Repräsentantenhauses, der Republikaner John Boehner, sprach dagegen von einer „Altlast gebrochener Vorsätze“. Das Gesetz bietet allen, die nicht über ihre Arbeit krankenversichert sind, staatlich geförderte Policen an. Nach Angaben der Regierung in Washington haben dadurch 16 Millionen US-Bürger eine Krankenversicherung erhalten. Gegner argumentieren, dass staatliche Zuschüsse in den meisten US-Staaten illegal seien.
taz. die tageszeitung
Obamacare scheint zu wirken: Zwar sind immer noch 37 Millionen US-Amerikaner ohne Krankenversicherung – doch ist das der niedrigste Wert seit 15 Jahren.
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„Es gibt noch viel zu tun“ - taz.de
„Es gibt noch viel zu tun“ Vor einem Jahr streikten Lehrer und Schüler für bessere Bildungspolitik. Wolfgang Schlaak von der Aktion Bildung sieht zwar erste Erfolge, aber die reichen ihm nicht taz: Herr Schlaak, heute vor einem Jahr gingen 60.000 Menschen auf die Straße. Dazu aufgerufen hatte unter anderem auch die von Ihnen mit organisiert Aktion Bildung, die kurz vorher einen großen Sternmarsch organisiert hatte. Seitdem hat man von Ihnen nicht mehr viel gehört. Sind die Probleme gelöst? Wolfgang Schlaak: Wir haben im Herbst noch einmal eine kleine Demo veranstaltet und noch ein paar andere Aktionen. Die waren aber nicht so publikumswirksam wie der Streik oder der Sternmarsch. Ich muss anerkennend sagen, dass seitdem eine ganze Menge Positives passiert ist. Was sind denn die guten Nachrichten? Die Bildungsmisere ist durch den Druck der Eltern, Lehrer und Schüler in der Stadt zum Thema geworden, insbesondere bei den Politikern. Sie bestreiten nicht mehr, dass es Probleme gibt. Das war vor einem Jahr völlig anders. Es ist dennoch erschreckend, wie lange das gedauert hat, denn die Fakten waren seit Jahren bekannt. Den Politikern geht auch nicht mehr nur um die bessere Ausstattung von Gymnasien, sondern zum Beispiel auch um die Zukunft von Kindern nichtdeutscher Herkunft. Das finde ich gut. Gibt es auch konkrete Verbesserungen? Es gibt deutlich weniger Unterrichtsausfall und es sind rund 1.000 neue Lehrer eingestellt worden. An manchen Schulen hapert es zwar noch in einigen Fächern, aber flächendeckend funktioniert die Unterrichtsversorgung ganz gut. Das Zusammenspiel der Schulen mit dem Landesschulamt hat sich verbessert. Bildung war ja auch das Motto des letzten SPD-Parteitages am vergangenen Wochenende. Nimmt die SPD das Thema tatsächlich ernst? Ja, aber das ist von einer Regierungspartei auch zu erwarten. die CDU müsste da auch noch mehr tun. Mich hat es sehr gefreut, dass in so vielen Parteigremien sehr differenziert diskutiert wird. Die SPD muss jetzt bei den Haushaltsverhandlungen erreichen, dass der Bildungsbereich noch mehr Geld bekommt. Was sind denn Ihre vordringlichsten Wünsche? Die Klassen müssen kleiner werden. Der beste Unterricht funktioniert nicht, wenn 35 Schüler in einer Klasse sind. Außerdem müssen die Lehrer kontinuierlicher fortgebildet werden. Die Unterrichtsmethoden sind häufig sehr veraltet. Dass der Lehrer vorne an der Tafel steht und etwas erzählt, ist absolut unmodern. Es muss noch viel getan werden. Werden Sie dafür wieder auf die Straße gehen? Natürlich, aber wir überlegen uns gerade andere Protestformen. Zum Bespiel wollen wir eine „Bildungsmeile“ organisieren, in der sich Schüler, Eltern und Lehrer informieren können. Eine Demo ist zu wenig. INTERVIEW: JULIA NAUMANN Wolfgang Schlaak (52) ist Vater aus Spandau und hat den ersten Sternmarsch im März 2000 mit initiiert
JULIA NAUMANN
Vor einem Jahr streikten Lehrer und Schüler für bessere Bildungspolitik. Wolfgang Schlaak von der Aktion Bildung sieht zwar erste Erfolge, aber die reichen ihm nicht
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Todesurteile wegen Drogendelikten: Indonesien kennt keine Gnade - taz.de
Todesurteile wegen Drogendelikten: Indonesien kennt keine Gnade Der internationale Protest scheint ungehört zu bleiben: Indonesien will weitere neun Verurteilte wegen Drogendelikten hinrichten. Mahnwache indonesischer Aktivist_innen für die zum Tode verurteilte Filipina Mary Jane. Bild: dpa BANGKOK taz | Trotz weltweiter Appelle hat Indonesien angekündigt, neun verurteilte Drogenschmuggler binnen 72 Stunden hinrichten zu lassen. Dazu gehören die Australier Myuran Sukumaran und Andrew Chan. Die 33 und 31 Jahre alten Männer waren Mitglieder einer Gruppe von neun Australiern – den sogenannten „Bali Nine“ – die 2005 unter dem Verdacht festgenommen worden waren, über acht Kilogramm Heroin von der indonesischen Insel Bali in ihr Land schmuggeln zu wollen. Indes setzt sich Australien vehement für einen Hinrichtungsstopp ein. So wurde Außenministerin Julie Bishop am Montag mit den Worten zitiert, dass unter anderem Vorwürfe gegen indonesische Richter untersucht werden müssten. Australische Medien berichteten, ein früherer Anwalt der beiden 2006 verurteilten Australier werfe Indonesiens Justiz Korruption vor: So sollen die Richter im Prozess geringere Strafen angeboten haben, wenn sie dafür im Gegenzug Geld erhielten. Später sollen die Richter erklärt haben, hochrangige Angehörige aus Justiz und Regierung hätten angeordnet, die Todesstrafe zu verhängen – woraufhin sich die Geldforderungen erhöht hätten. Canberra fordert Gnade für die Verurteilten. Und argumentiert, dass Jakarta diese Haltung ebenfalls einfordere, wenn eigene Landsleute im Ausland in Todeszellen einsäßen. Die anderen Verurteilten, deren Schicksal bislang weniger internationale Schlagzeilen produzierte, sind Männer aus Nigeria, Brasilien, Ghana und Indonesien selbst. Auch eine junge Filippina gehört zu den Todeskandidaten. Ein Franzose wartet noch auf den Ausgang seines Gnadengesuchs. Unterdessen forderte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon Indonesien auf, die Todesurteile nicht zu vollstrecken. Ähnlich äußerte sich die Internationale Juristenkommission in Genf: „Das Leben von neun Menschen auszulöschen wird mit ziemlicher Sicherheit nicht dazu dienen, Verbrechen zu verringern, sondern stattdessen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit untergraben.“ Indes hat der seit Oktober 2014 amtierende Präsident Joko Widodo das harte Vorgehen Jakartas wiederholt verteidigt. In seinem Land mit 250 Millionen Einwohnern würden täglich bis zu 50 Menschen an Drogenkonsum sterben. Dass er ernst macht, hat er bereits im Januar bewiesen: Damals waren zwei Frauen und vier Männer aus Indonesien, Vietnam, Brasilien, den Niederlanden, Malawi und Nigeria exekutiert worden.
Nicola Glass
Der internationale Protest scheint ungehört zu bleiben: Indonesien will weitere neun Verurteilte wegen Drogendelikten hinrichten.
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Universität der Zukunft: Forschen für die Deutsche Telekom - taz.de
Universität der Zukunft: Forschen für die Deutsche Telekom Eine neue Form der Partnerschaft: Auf dem öffentlich finanzierten Campus arbeiten künftig private Unternehmen. Das ist wohl die Zukunft der Universitäten. Die Zentrale Forschungs- und Entwicklungseinheit der Telekom: In den Telekom Laboratories verknüft der Konzern Forschung mit Firmeninteressen. Bild: dpa BERLIN taz | Axel Küpper ist Professor der Technischen Universität (TU) Berlin. Sein Gehalt, 77.810 Euro im Jahr 2009, bezahlte die Deutsche Telekom. Dafür vermarktet sie auch seine Forschungsergebnisse. Küpper erforscht im Auftrag der Telekom neue Produkte für Telekom-Kunden, in einem sogenannten Telekom-Laboratory, kurz T-Lab, an der Technischen Universität Berlin. "Die Telekom Laboratories sind die zentrale Forschungs- und Entwicklungseinheit des Konzerns", heißt es bei der Telekom. "Dabei verfolgen alle Projekte das Ziel, innovative Dienste und Lösungen für die Kunden der Deutschen Telekom zu entwickeln." Neben Küppers sind sieben weitere TU-Professoren hier tätig, deren Stiftungsprofessoren im Wert von jährlich einer halben Million Euro von der Telekom bezahlt werden. Zusammen mit 180 TU-Mitarbeitern und 180 Telekom-Angestellten entwickeln sie Produkte für die Informationsgesellschaft von morgen. Geleitet wird das Deutsche Telekom Innovation-Center (DTIC) von der Deutschen Telekom. Die Forschungsabteilung eines Unternehmens auf einem öffentlich finanzierten Campus - das ist nicht nur kein Einzelfall, das ist vielmehr die Zukunft. Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im CDU-geführten Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung kündigte Mitte Juni auf einer Konferenz des unternehmensnahen Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft an, dass die Bundesregierung solche öffentlich-privaten Partnerschaften mit einer neuen Förderinitiative "Forschungscampus" unterstützen wolle. Als Vorbild nannte sie die T-Labs der Telekom-AG. Solche An-Institute wie die T-Labs sind privatrechtlich organisierte Einrichtungen, die ökonomische und univerisitäre Interessen vernetzen. Feste Spielregeln für die Zusammenarbeit gibt es nicht, jede Hochschule setzt eigene Verträge auf. Die Vertretung der Hochschulen, die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) begrüßte im Jahr 1993 die Gründung solcher An-Institute als additive Forschungseinrichtungen. "Wichtig ist, dass die Hochschulen auf Augenhöhe verhandeln und Transparenz gewahrt bleibt", sagt Bernhard Lippert vom Arbeitsbereich Forschung der HRK. Private Unternehmen haben Mitspracherechte an der Universität Welche Blüten die Zusammenarbeit treiben kann, zeigte ein Vertrag der TU Berlin mit der Deutschen Bank, den die taz im Mai veröffentlichte. Darin sicherte sich die Deutsche Bank weitreichende Mitspracherechte zu, etwa bei der Besetzung von Professuren. So weit gehen die Telekom-Vertreter bei der Gründung der T-Labs im Jahr 2005 nicht. Doch auch die Telekom sichert sich Mitsprache, so etwa bei der Berufung von Professoren, die als Kernstück der Wissenschaftsfreiheit gilt. "Die Telekom AG kann einen Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin mit Stimmrecht in die Berufungskommission entsenden. Darüber hinaus kann ein Mitarbeiter mit beratender Stimme, also ohne Stimmrecht, bei dem Berufungsverfahren mitwirken", bestätigt der Leiter des Präsidialamts, Ingo Einacker, der taz. Auch über die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Ergebnissen wacht die Telekom. Im Kooperationsvertrag, der der taz vorliegt, bedingt sich das DTIC aus, "zu beabsichtigten Veröffentlichungen von Ergebnissen innerhalb von vier Wochen Stellung" zu nehmen. Als Grund werden "schutzwürdige Interessen des Kooperationspartners" genannt. Laut der TU handele es sich um eine übliche Formulierung bei Auftragsforschung. Die TU bezeichnet die Zusammenarbeit als Erfolgsmodell. Auch Küppers ist zufrieden: "Innerhalb meines Lehrstuhls mache ich, was ich will, Einschränkungen habe ich nicht erfahren." Auch für die Telekom lohnen sich die Investitionen. Jede Woche werde ein Patent angemeldet, so Hans-Martin Lichtenthäler, Sprecher der Deutschen Telekom. Da es sich dabei um Arbeitnehmerideen handle, würden Patentanmeldungen fast ausschließlich im Namen des Unternehmens erfolgen. Der Wissenschaftler erhalte nach Auskunft der TU eine Prämie von 3.000 bis 4.000 Euro. Bei gemeinsamen Patentanmeldung - auch diese gibt es - teilen sich TU und Deutsche Telekom den Erlös. Zu welchen Teilen ist allerdings geheim.
A. Lehmann
Eine neue Form der Partnerschaft: Auf dem öffentlich finanzierten Campus arbeiten künftig private Unternehmen. Das ist wohl die Zukunft der Universitäten.
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1,102,117
Speckdrum - taz.de
Speckdrum ■ betr.: „Gurke des Tages“, taz vom 23., 27./28. 5. 95 Der Fraktionszeitschrift von Bündnis 90/ Die Grünen würde ich den Namen Speckdrum geben. Phonetisch klingt da sowohl das Hessische als auch das Sächsische an und inhaltlich die Verfettung sowohl der Parteien als auch einiger ihrer Schwergewichte. Außerdem fängt man mit Speck bekanntlich Mäuse ... und irgendwann fährt dann das gesamte Parteienspektrum zum Abspecken an den Wolfgangsee, der dann aber vielleicht schon Wolfgang-Schäuble-See heißen wird ... Andreas Jansen, Köln
taz. die tageszeitung
■ betr.: „Gurke des Tages“, taz vom 23., 27./28. 5. 95
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Brave Adoleszenzkomödie - taz.de
Brave Adoleszenzkomödie ■ Macunaima verwirrte das Movimientos-Publikum mit einem naiv-frivolen Märchen verwirrte das Movimientos-Publikum mit einem naiv-frivolen Märchen Mögen die Gruppen, die sich auf dem Internationalen Sommertheaterfestival Movimientos präsentieren, auch noch so unterschiedlich sein, ein Anspruch ist ihnen allen gemein: Sie wollen nicht weniger, als „die Grenzen herkömmlicher Theaterformen überschreiten“. Was an herkömmlichen Formen so schlecht sein soll, sagen sie nicht. Auch der Brasilianer Antunes Filho verrät es nicht, mit seiner Gruppe Macunaima brachte er immerhin einen Traditions-Prototyp auf die Bühne des Malersaals: ein Märchen. Nova Velha Estória, Neue alte Geschichte, nennt Filho, Primas der brasilianischen Theaterszene, seine Rotkäppchen-Adaption. Das Thema weckt bei erwachsenen Männern Sexualphantasien, das ist bekannt, auch Filho erliegt der Versuchung. Sein Rotkäppchen ist ein pubertierendes Gör mit Hasenzähnen, der Wolf ein triebhafter Penner, der die Witterung von Rotkäppchens Menarche aufnimmt. Wie nicht anders zu erwarten, landet das Mädchen nicht im Bauch des bösen Wolfs, sondern gemeinsam mit dem Verführer im Bett der Großmutter. Macunaima führt das Märchen als Groteske vor, die Figuren sind zu Piktogrammen stilisiert und sondern eine Kunstsprache ab. Das wäre vergnüglich, wenn nicht jeder Regieeinfall bis zum Anschlag ausgespielt würde, wenn die Adoleszenzkomödie sich aus ihrer sexuellen Beschränktheit lösen könnte. Die neue alte Geschichte erschöpft sich so in Albernheiten, und das naiv-frivole Rotkäppchen hat nichts zu verlieren, außer seiner Jungfräulichkeit. Konventionell auch die Moral: Gut & Böse bedingen sich gegenseitig und sind nicht eindeutig 1zu vergebende Zensuren. Der virile Märchenwolf hatte schon immer die Sympathie der Väter. „Es ist immer der gleiche Frühling, nur mit anderen Blättern“, 1wird Regisseur Filho zitiert. Wir warten also weiter auf die Gruppe, die zeigt, was es heißt, „herkömmliche Formen“ hinter sich zu lassen. Michael Berger
michael berger
■ Macunaima verwirrte das Movimientos-Publikum mit einem naiv-frivolen Märchen
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■ Querspalte: Blödes blondes Meckpom - taz.de
■ Querspalte: Blödes blondes Meckpom Mecklenburg-Vorpommern ist schon zu bedauern. Da hat man Strände, weiß wie am Mittelmeer. Nur mit dem Image will es so recht nicht klappen. Dummbeutelige Kahlgeschorene halten allsommerlich ihr reinrassiges Club-Ost-Programm ab, keulenschwingend. Das macht sich touristisch gar nicht gut. An diesem Freitag soll nun eine Werbekampagne die Misere lindern helfen, gesponsert von der Landesregierung, ausgearbeitet von einer Greifswalder Agentur. Vorab ließ man schon mal einen Mecklenburger Appetizer los. In Magazinen lächelt uns eine Eingeborene entgegen: Jule aus Greifswald, Studentin, kraushaarig und von hellbrauner Hautfarbe. Darüber leuchtet es fetzig: „Blond, blauäugig, blöd“. Eine Anzeige für Clevere also. Humor aber ist nicht nur in Norddeutschland eine Kühlware, sondern auch in Hessen. Das Wort-Bild-Spiel brachte einen Kaufmann aus Marburg in Rage. Er stellte Strafanzeige gegen Ministerpräsident Berndt Seite – wegen Volksverhetzung. Schließlich werde da eine „ganze ethnische Gruppe diskriminiert“, plusterte sich der 32jährige mächtig völkisch auf. Auf Nachfrage der taz beteuerte er, er sei auch blauäugig und blond, aber „nicht blöd“. Auch die Mecklenburger Bündnisgrünen, von denen wir schon dachten, sie seien nach der Wahlschlappe endgültig in der Ostsee baden gegangen, wollten mal wieder erwähnt werden. Landessprecher Klaus-Dieter Feige mußte nicht lange suchen, schon hatte er den reichen Wortschatz der Gutmenschen zu Papier gebracht: Das Bild erinnere an „schlüpfrige Kontaktanzeigen“, bediene „auf primitive Weise“ sowohl „sexistische als auch nationalistische Klischees“. Irgend etwas fehlte doch da noch? „Rassistisch“, Herr Feige, „rassistisch“ haben wir in Ihrer Mitteilung schmerzlich vermißt. Ja, die Meckpoms: Haben sie es nicht schwer? „Und überhaupt ist bei uns manches anders, als man denkt“, heißt es in der Anzeige. Das glauben wir gerne. Denn Menschen wie Jule, so fürchten wir, sollten einen Strandbesuch, zumal alleine, lieber sein lassen. Severin Weiland
Severin Weiland
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Bahreins Opposition: Zauberformel Iran - taz.de
Bahreins Opposition: Zauberformel Iran Die Sicherheitsberater kommen aus den USA, die Polizisten aus Pakistan: Bahreins Königshaus traut dem eigenen Volk nicht. Zu Recht, denn es protestiert täglich. April 2013: Demonstranten in Jidhaf, westlich der Hauptstadt Manama, suchen Schutz vor den Tränengaspatronen der Polizei. Bild: Reuters MANAMA taz | Die Prinzessin hält eine Elektroschockpistole in der Hand. Einmal, zweimal, dreimal setzt sie das Gerät an. Einmal, zweimal, dreimal fährt der Frau vor ihr der Schmerz bis in die Fuß- und Fingerspitzen. Das Verhör beginnt, eine Stimme brüllt: „Deine Mutter ist Schiitin, sie gehört zur Hisbollah!“ Szenen, die Rula Saffar wieder zum Häftling werden lassen, von einer Sekunde auf die andere, auch jetzt noch, während sie im Wohnzimmer ihres Hauses sitzt, dezent geschminkt, in Jeans und T-Shirt, als wäre sie nur irgendeine von den vielen Mittelschichtsfrauen, die in diesem Vorort von Manama hinter hohen Mauern ihren Gästen Tee einschenken. „Bis zum Frühjahr 2011“, sagt Rula Saffar, „war Opposition für mich nie etwas Konfessionelles. Es ging um mehr Mitbestimmung, um weniger Korruption. Erst im Gefängnis stellte ich fest: Alle, die hier sitzen, sind Schiiten.“ Pfleger, Ärzte, Krankenwagenfahrer, die, wie die Medizinerin Rula Saffar, während der Unruhen verletzte Demonstranten versorgt hatten. Sie alle wurden gleichermaßen beschuldigt, Umstürzler zu sein, Agenten des Iran, darum bemüht, im Königreich Bahrain die Herrschaft der schiitischen Religionsgelehrten zu errichten. Die Prinzessin und Polizeioffizierin Nura al-Khalifa, ein Sprössling der Herrscherfamilie, kümmerte sich persönlich um die Fälle, schlug die Gefangenen, folterte sie mit Elektroschocks, ließ Frauen mit Vergewaltigung bedrohen und am Ende mit verbundenen Augen ein Geständnis unterzeichnen, in dem sie sich als Helfershelfer des Iran bezichtigten. „Dies ist eben nicht Tunesien, sondern Bahrain“, konstatiert Rula Saffar. Die Demokratiebewegung als eine aus Teheran gesteuerte Bewegung schiitischer Islamisten hinzustellen, ist für den autokratisch regierten Inselstaat eine effiziente Überlebensstrategie. Am Königreich vorbei geht der Ölstrom durch die Straße von Hormus. Hier heißt der Nachbar Iran. Hier ist die 5. US-Flotte stationiert. Hier wirkt das Wort Iran Wunder. Carry oder Sally oder Ruby? Im Polizeifort von Manama erscheint zum Gespräch nicht, wie verabredet, Generalmajor Tareq Hassan, sondern eine hochgewachsene blonde US-Amerikanerin in dunklem Kostüm. „Wie war der Name: Carry oder Sally oder Ruby …?“ Sie überhört die Frage und fragt ihrerseits: „Wer schickt Sie, worauf läuft Ihr Bericht hinaus?“ Dann folgt Smalltalk. Bahrain sei ein offenes Land. Als Frau könne sie überall herumlaufen – „und niemand guckt“. Aber diese Freiheit sei bedroht, denn der Iran wolle Bahrein sein System überstülpen. „Ahmadinedschad sagt es, die iranischen Medien sagen es.“ Die Amerikanerin ist eine von vielen westlichen Beratern, die dem bahrainischen Regime nach den Unruhen von 2011 die Sicherheit organisieren helfen. Als sie den Zeitpunkt für gekommen hält, steht sie auf, schreitet voran zum Büro von Polizeichef Hassan. Fester Händedruck. Jovial, leicht untersetzt, blaue Uniform, goldene Sterne, Orden. Die ausländischen Fachleute, bestätigt er, bedeuteten für Bahrain eine Riesenhilfe gegen die iranisch gesponserten Umsturzversuche. Zum Glück habe man die Front rechtzeitig geschlossen, referiert Hassan: Golfstaaten und Westen ziehen am selben Strang. John Timoney und John Yates, ein US-Amerikaner und ein Brite, reorganisieren die bahrainischen Sicherheitskräfte, machen sie schlagkräftiger. Der eine: früher Star-Cop der New Yorker Polizei. Der andere: einst bei der Terrorabwehr von Scotland Yard. Kürzlich konnten Hassans Leute wieder eine Bombenfabrik ausheben, Sprengstoffe entdecken, eingeschleust von „ausländischen Agenten“. – „Wer genau?“ Der Polizeichef lacht. „Sie brauchen bloß mal das iranische Fernsehen anzuschalten.“ Ja, man habe Fehler in der Vergangenheit begangen, gesteht der Polizeichef zu, damals bei den Protesten im Frühjahr 2011. Aber jetzt habe man sich darauf verpflichtet, die Empfehlungen des internationalen Bahrain-Untersuchungskomitees vom November 2011 umzusetzen: keine unangemessene Polizeigewalt mehr, kein Gebrauch gefährlicher Waffen. Und … was war doch noch der andere Punkt? „Verhaftungen …“, souffliert Carry-Sally. Richtig: Man werde bei Festnahmen und Inhaftierung darauf achten, die Verdächtigen angemessen zu behandeln. Tägliche Proteste „Die Mehrheit der Bevölkerung zu beschuldigen, Teil einer anderen Nation zu sein, ist die dümmstmögliche Politik, die sich irgendeine Regierung im gesamten Universum einfallen lassen kann.“ Mansur al-Jamri ist Chefredakteur von al-Wasat, der populären, einzigen unabhängigen Tageszeitung Bahrains. Festgenommen, freigelassen, wieder festgenommen, sitzt er in seinem Büro und darf weitermachen – solange er bei seiner Kritik die Königsfamilie nicht namentlich erwähnt. Das Regime behauptet zwar, die Unruhen seien niedergeschlagen, die Ursachen beseitigt, doch die Proteste, sagt Jamri, gehen weiter. Seit dem Frühjahr 2011. Abend für Abend. Er blickt auf seine Armbanduhr: Viertel vor sieben. „Los, sonst kommen wir zu spät.“ Budaya heißt der Bezirk am Stadtrand von Manama – Shoppingmalls, Villen hinter Mauern, eine Straße mit Mittelstreifen. Schwarzer und weißer Rauch steigt weiter hinten auf. An einer Kreuzung stehen Polizisten mit Helmen und Gewehren und beschießen eine Gruppe Jugendlicher mit Tränengas, die dort einen Reifen angezündet haben. Mansur al-Jamri bremst abrupt, weil ihm die Sicht versperrt ist. Es knallt mehrmals. Über das Auto fliegen Projektile in Richtung der Demonstranten. Von der anderen Seite kommen die Feuerschweife der Molotowcocktails. Jamri saust los, mitten durch die Tränengasschwaden. Hustend stoppt er sein Auto an der nächsten Straßenecke, wo sich ein paar junge Männer, zwischen 17 und 25, ausruhen und auf den nächsten Zusammenstoß mit der Polizei vorbereiten. Einer raucht Wasserpfeife. Ein anderer brät Kebab über einem Feuerchen. Wollen sie ein System wie im Iran? Alle schütteln die Köpfe. „Freiheit. Gleichberechtigung, Fairness.“ In Bahrein leben mehrheitlich Schiiten, dennoch sind die Wahlkreise des Königreichs auf die sunnitische Minderheit zugeschnitten, der auch die Königsfamilie angehört. Nach den Unruhen im Jahr 2011 haben die Golfanrainerstaaten Bahrain Geld überwiesen, um den sozialen Frieden zu sichern. „Wieso wurden die Millionen nur an sunnitische Gemeinden ausgeschüttet? Weshalb beschlagnahmt die Königsfamilie immer mehr Küstenstreifen und verschenkt sie an ihre Klientel? Wir sind Bahrainer. Wieso dürfen wir in unserem eigenen Land nicht Polizisten werden oder in der Verwaltung arbeiten?“ "No speak Arabic" Einer der jungen Männer zeigt seine Verletzungen durch Schrotmunition der Polizei, sie stammen vom Sommer 2012. Die kleinen Kugeln stecken immer noch im Arm, die Erhebungen lassen sich fühlen. Ein anderer zeigt eine tiefe Wunde an der Wade – verursacht durch „Polizeifolter, von den Pakistanis auf der Polizeiwache“. Ein Land, das seine eigenen Leute misshandelt, seinen eigenen Leuten misstraut. Und darum, wie Mansur al-Jamri erklärt, Polizisten und Soldaten aus Indien, Pakistan und anderen asiatischen Staaten anheuert. Auf der Tour durch dunkle Vorstadtstraßen, nur ab und an erhellt von brennenden Autoreifen, zeigt Jamri die eingeigelten Posten der ausländischen Sicherheitskräfte, die sich nur in schwer gesicherten Konvois heraustrauen, in eine Umgebung, die ihnen bedrohlich scheint, vorbei an schiitischen Moscheen, die mit ihren Kuppeln die Stadtviertel dominieren, vorbei an Mauern mit regimefeindlichen Graffiti, vorbei an Menschen, zu denen sie keine Beziehung haben, außer dass sie sie bekämpfen. An der nächsten Ecke versperrt ein Checkpoint der Polizei den Weg. Worum geht es, darf man weiterfahren? Ein schnurrbärtiger Bengale steckt den Kopf ins Fenster, schüttelt den Kopf. „No speak Arabic. Your passport, Sir!“ Festung Krankenhaus Rula Saffar hat jetzt viel Zeit. Von ihrem Posten als Leiterin der Krankenpflegeausbildung am staatlichen Salmaniya Hospital wurde sie suspendiert. Im Auto umkreist sie ihre ehemalige Arbeitsstelle und zeigt, was daraus geworden ist: eine schwer bewachte Festung. Vor den Eingängen steht schwarz uniformierte Sonderpolizei, mit Helmen, Schrotflinten und Tränengasgewehren. Wer immer sich hier versorgen lassen will, muss sich fragen lassen, wo er seine Verletzung her hat. Falls sie von einer Demonstration rührt, dann muss ist mit Verhaftung und einem Verfahren zu rechnen. Die Opfer von Schrotkugeln und Polizeifolter behandelt Rula Suffar jetzt gemeinsam mit Kollegen in Untergrundkliniken, so lange die Möglichkeiten dort ausreichen. Abgeriegelte Krankenhäuser. Verhöre vor der Behandlung. Polizisten, denen man in der Sprache des Landes nichts erklären kann. Wäre dies ein anderer Staat, läge dieser nicht am Golf, da ist sich Rula Saffar sicher, gäbe es unter westlichen Politikern einen Aufschrei der Entrüstung. „Aber dies ist eben Bahrain.“
Marc Thörner
Die Sicherheitsberater kommen aus den USA, die Polizisten aus Pakistan: Bahreins Königshaus traut dem eigenen Volk nicht. Zu Recht, denn es protestiert täglich.
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Machtkampf bei den US-Republikanern: Beharrliches Scheitern - taz.de
Machtkampf bei den US-Republikanern: Beharrliches Scheitern Da Kevin McCarthy auch am dritten Tag in Folge keine Mehrheit findet, bleibt das US-Repräsentantenhaus ohne Sprecher. Und nun? Elf verlorene Wahlgänge – da kann Kevin McCarthy schon mal zuversichtlich lächeln Foto: Jose Luis Magana/ap WASHINGTON taz | Ein weiterer verlorener Tag in der US-Politik. Auch am dritten Tag in Folge bleibt das US-Repräsentantenhaus ohne neuen Sprecher, nachdem der republikanische Fraktionschef Kevin McCarthy am Donnerstag erneut keine Mehrheit hinter sich vereinen konnte. Erst nach etwas mehr als acht Stunden sowie fünf weiteren gescheiterten Wahlgängen hatten die Abgeordneten genug und verabschiedeten sich in die Nacht. „Ich bin gewillt, die ganze Nacht, die ganze Woche, den ganzen Monat zu wählen, doch niemals für diese Person“, sagte der Republikaner Matt Gaetz aus Florida. Dieser zählt zu den Anführern des rechten republikanischen Lagers, die mit ihrer Rebellion für einen Stillstand in der US-Politik sorgen. Wie verhärtet die Seiten innerhalb der republikanischen Partei aktuell sind, verdeutlichte auch die Tatsache, dass Gaetz seine Stimme am Donnerstag dem früheren US-Präsidenten Donald Trump schenkte. Nach dem Motto: jeder, nur nicht McCarthy. Tatsächlich könnte das Repräsentantenhaus theoretisch auch einen Nicht-Abgeordneten zum Speaker wählen, die Regularien ließen das zu. An der Stimmverteilung hat sich auch am dritten Tag in Folge so gut wie nichts geändert. Weiterhin blockieren 20 Republikaner die Wahl von McCarthy zum neuen Sprecher. Da die Republikaner nur über eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügen, reicht diese Minderheit aus, um für Chaos in Washington zu sorgen. Republikaner sind zunehmend genervt „Wir brauchen einen Anführer, der nicht von einem kaputten System kommt“, sagte die Republikanerin Lauren Boebert. Sie brachte damit auf den Punkt, warum McCarthy für viele im rechten Lager der falsche Mann für das Sprecheramt sei: Er gehöre zur alten Garde, zur Elite, die Washington zu einem Sumpf hätten verkommen lassen, der nicht für das amerikanische Volk arbeite. Um letztendlich doch noch das Amt des Sprechers übernehmen zu können, hat der 57 Jahre alte McCarthy bereits einer Reihe von Zugeständnissen zugestimmt, die seine Macht als Sprecher erheblich einschränken würden. Aber auch das war den abtrünnigen Abgeordneten nicht genug. Die Folge ist ein Repräsentantenhaus, das in den ersten drei Tagen des neuen US-Kongresses politisch nichts bewerkstelligen konnte. Einige Republikaner beklagen zudem, dass das Drama ums Sprecheramt ein Freifahrtschein für Präsident Joe Biden sei. Niemand schaue dem Weißen Haus auf die Finger. „Wir können es uns nicht erlauben, die Sicherheit der USA aufgrund persönlicher politischer Auseinandersetzungen aufs Spiel zu setzen“, erklärten die republikanischen Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtiges, Militär und Geheimdienst in einer schriftlichen Stellungnahme. Weiterverhandeln hinter verschlossenen Türen McCarthy zeigt sich trotz der steigenden Frustration noch immer zuversichtlich, dass er die zum Sieg benötigten 218 Stimmen hinter sich vereinen könne. „Wir haben gute Gespräche und ich denke, dass alle eine Lösung finden wollen“, sagte der Fraktionsvorsitzende vor der Wahlschlacht am Donnerstag. Trotzdem werden die Stimmen lauter, die McCarthy dazu drängen, seine Kandidatur für das Sprecheramt zurückzuziehen. Elf Wahlgänge haben die Abgeordneten schließlich bereits hinter sich. Vor 100 Jahren, als zum letzten Mal ein Kandidat für den Sprecherposten nicht auf Anhieb die nötige Mehrheit bekam, benötigte es neun Wahlgänge, um einen neuen Sprecher zu bestimmen. Der texanische Abgeordnete Troy Nehls, der wie viele der republikanischen McCarthy-Gegner ein Mitglied des „Freedom Caucus“ ist, appellierte an seine Parteikollegen, dem ganzen Treiben ein Ende zu setzten und endlich mit dem Regieren zu beginnen. „Diese Schlacht, die wir kämpfen, muss ein Ende finden“, sagte er. Die historischen Ausmaße des parteiinternen Machtpokers werden durch den heutigen Jahrestag des Angriffs auf das US-Kapitol nochmals verschärft. Als vor zwei Jahren eine Horde von Trump-Anhängern das Kongressgebäude in Washington stürmte, war es einer der dunkelsten Tage der US-Geschichte. Die US-amerikanische Demokratie überlebte, und für einige ist die aktuelle Situation sogar ein Zeichen dafür, dass sie noch immer funktioniert. „So wird die Wurst gemacht. Wir haben eine wirkliche Debatte mit 435 anwesenden Abgeordneten im Repräsentantenhaus“, sagte der texanische Abgeordnete Chip Roy während der vergangenen Tage. Die Republikaner verhandeln derweil weiter hinter verschlossenen Türen. Am Freitag um 12 Uhr Ortszeit geht es weiter. Der Ausgang bleibt jedoch weiter ungewiss.
Hansjürgen Mai
Da Kevin McCarthy auch am dritten Tag in Folge keine Mehrheit findet, bleibt das US-Repräsentantenhaus ohne Sprecher. Und nun?
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Im Dorf der zum Tode Verurteilten - taz.de
Im Dorf der zum Tode Verurteilten ÄGYPTEN Ein Richter in Minia bestätigt 183 Todesurteile. Angehörige und Anwälte erzählen schockierende Geschichten von Verfahren, die jeder Rechtsstaatlichkeit spotten „Wir Anwälte hatten keine Chance, unsere Mandanten zu verteidigen“MUSTAFA HAFEZ AUS QUM BASAL UND MATEI KARIM EL-GAWHARY Ein Gericht im südägyptischen Minia hat am Wochenende 183 Todesurteile bestätigt, die im April von dem gleichen Richter in einem nur einstündigen Verfahren gesprochen worden waren. Auch das Todesurteil gegen den Chef der Muslimbruderschaft, Muhammed al-Badie, wurde bestätigt. Zuvor hatte der gleiche Richter in einem anderen Schnellverfahren zunächst 529 Menschen zu Tode verurteilt und später 37 der Urteile bestätigt. Die Verurteilten sollen alle an einem Angriff auf mehrere Polizeistationen beteiligt gewesen sein. „Auch wenn der Richter im letzten Verfahren statt 683 ‚nur‘ 183 Menschen an den Strang schickt, nach einem oberflächlichen und einseitigen Prozess, bleibt das eine total verzerrte Vorstellung von Gerechtigkeit,“ kommentiert Joe Stork von Human Rights Watch. „Die Urteile sind todernst, das Verfahren war dagegen ein Witz“, fügt er hinzu. Im südlichen Oberägypten ist Qum Basal ein Dorf wie Tausende andere. Staubige, nicht asphaltierte Straßen, Hütten, in denen die Armut zu Hause ist, auf den Feldern verrichten Tiere die schweren Arbeiten. Aber der kleine Ort birgt eine Besonderheit. Von den jetzt noch über 200 rechtskräftig zu Tode Verurteilten stammen zehn von hier. Das Gericht in Provinzhauptstadt Minia, das die Urteile gefällt hat, die international eine Schockwelle ausgelöst haben, liegt gerade einmal eine halbe Autostunde von Qum Basal entfernt. Der Anlass der Verurteilung, eine Polizeistation, die von einem Mob im vergangenen Sommer angegriffen wurde und in der Folge ein Polizeioffizier starb, liegt auf halbem Weg. Bei einem Besuch im Dorf Anfang Mai, nachdem die Urteile im ersten Verfahren gesprochen waren, dauerte es eine Weile, bis der Bauer Ahmad Hassan in sein Haus bat. Im Dorf herrscht Angst vor weiteren Repressalien. „Sie kamen um Mitternacht, brachen die Tür auf und nahmen meinen Vater und Bruder mit“, erzählt er. „Wir konnte es kaum fassen, als die beiden zu Tode verurteilt wurden.“ Dass dieses Urteil inzwischen in „lebenslänglich“ umgewandelt wurde, tröstet Ahmad wenig. Denn das halbe Dorf kann bezeugen, dass die beiden Verurteilten am Tag, an dem die Polizeiwache angegriffen wurde, auf ihrem Feld in unmittelbarer Nachbarschaft des Dorfs gearbeitet haben. Doch Zeugen wurden in dem Prozess nie befragt. Kein einziges Mal sei jemand von den Untersuchungsbehörden hier im Dorf vorbeigekommen, erzählt Ahmad. Wahrscheinlich habe es sich um eine Namensverwechslung gehandelt. „Mein Bruder heißt Abdallah Muhammad Hassan Schulqami, der Name des von Staatsanwaltschaft Gesuchten ist Abdallah Muhammad Hassan Gumaa. Also ein ganz anderer Familienname. Aber das interessiert niemanden“, sagt er. In der Kreisstadt Matai liegt das Büro des Rechtsanwalts Mustafa Hafez, der beauftragt war, einige der Angeklagten zu verteidigen. „Zweifellos sollen die Schuldigen bestraft werden. Aber dieser Prozess hat gerade einmal eine Stunde gedauert, es gab keine vernünftige Beweisaufnahme oder Zeugenbefragung“, schildert er. „Wir Anwälte hatten keine Chance, unsere Mandanten zu verteidigen.“ Im Büro des Anwalts Mustafa Hafez sitzt Osman Ali. Er zeigt uns die Geburtsurkunde und ein Foto seines zum Tode verurteilen Neffen. Er war zu der Zeit seiner vermeintlichen Tat gerade einmal 17 Jahre alt und fällt damit unter das Jugendstrafrecht, in dem es keine Todesstrafe gibt. Ein Detail, das offensichtlich weder der Staatsanwaltschaft noch dem Richter aufgefallen ist. Der einzige Beweis sei ein Handyvideo, in dem sein Neffe vor der angegriffenen Polizeiwache einen Schuh in der Hand schwingt, erzählt Osman dem Anwalt und imitierte das Ganze mit einer schwingenden Geste. Er hofft nun wie die anderen Betroffenen, dass im Berufungsverfahren endlich ein rechtsstaatlichen Verfahren zustande kommt. Derweil dürfte der Richter Said Yussuf, der zunächst über 1.000 Menschen in zwei Schnellverfahren zu Tode verurteilt und dann über 200 der Urteile bestätigt hat, bald wieder für neuen Gesprächsstoff sorgen. Als einziger Richter ist er in drei Provinzen in Südägypten allen Verfahren zugeteilt, in denen „Fälle des Terrorismus“ verhandelt werden. Derzeit stellt die Staatsanwaltschaft bis zu 5.000 weitere Fälle zusammen, schätzt Anwalt Hafez. Da hat Richter Gnadenlos noch viele Gelegenheiten, für Nachschub an bizarren Todesurteilen zu sorgen und seinen eigenen Weltrekord zu brechen, als einzelner Richter in kürzester Zeit die meisten Menschen an den Galgen zu schicken.
KARIM EL-GAWHARY
ÄGYPTEN Ein Richter in Minia bestätigt 183 Todesurteile. Angehörige und Anwälte erzählen schockierende Geschichten von Verfahren, die jeder Rechtsstaatlichkeit spotten
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Finanzskandal „Paradise Papers“: Paradiesisch legale Briefkästen - taz.de
Finanzskandal „Paradise Papers“: Paradiesisch legale Briefkästen Der neue Finanzleak zeigt: Anlegern wird es viel zu leicht gemacht, ihr Geld in Steuerparadiesen vor den Finanzämtern zu verstecken. Hier erholt sich das Geld der Reichen: Strand in Speightstown auf der Karibikinsel Barbados Foto: ap BERLIN taz | Die sogenannten „Paradise Papers“ ermöglichen einen tiefen Einblick in die Welt der Steueroasen – von Malta bis zu den Bermudas. Denn der Leak, über den am Sonntagabend das Netzwerk Investigativer Journalisten in zahlreichen Medien weltweit berichtete, umfasst 13,4 Millionen Dokumente, die überwiegend von der Offshore-Anwaltsfirma Appleby stammen, die potente Kunden und Unternehmen gern dabei berät, wie man seine Steuerpflichten minimieren kann. Appleby selbst ist sich jedoch keiner Schuld bewusst. Die Kanzlei erklärte, es gebe „keinen Beweis für Fehlverhalten“. In der Tat: „Steuergestaltung“ ist legal. Internationalen Unternehmen ist es nicht verwehrt, durch Tricks wie Patentboxen oder Scheinkredite ihre Gewinne in Länder zu verschieben, wo der Steuersatz gen Null tendiert. Allerdings ist die Grenze zwischen Steuergestaltung und Steuerhinterziehung fließend. Dies gilt vor allem für Privatpersonen, die sich sogenannte Briefkastenfirmen in Steueroasen zulegen. Die Briefkastenfirma selbst ist nicht illegal – aber sie muss dem heimischen Finanzamt angezeigt werden. Diese Information wird aber gern unterlassen, denn sonst müsste man das Einkommen ja zuhause versteuern. Genau an dieser Stelle werden die „Paradise Papers“ explosiv: Es wurden nämlich auch die Unternehmensregister von 19 Steueroasen geleakt. Jetzt ist bekannt, wem die Briefkastenfirmen gehören, die in Antigua & Barbuda, Aruba, den Bahamas, Barbados, den Bermudas, Kaimaninseln, Cookinseln, Dominica, Grenada, Labuan, Libanon, Malta, Marshallinseln, St. Kitts und Nevis, Saint Lucia, Saint Vincent, Samoa, Trinidad und Tobago sowie Vanuatu angesiedelt sind. Ergebnis: natürlich nicht Es lässt sich also ganz leicht abgleichen, ob die hiesigen Finanzbehörden über die Briefkastenfirmen informiert sind, die sich in diesen Steueroasen befinden und deutschen Staatsbürgern gehören. Ergebnis: natürlich nicht. Aufruf der BundesregierungDie Bundesregierung ruft die beteiligten Medien zur Herausgabe der Originaldaten auf. „Wir würden es begrüßen, wenn diese Informationen der Finanzverwaltung zur Verfügung gestellt werden“, sagte ein Sprecher des Finanzministeriums am Montag in Berlin. Auch den Strafverfolgungsbehörden sollten die unter dem Namen „Paradise Papers“ bekannt gewordenen Daten zur Verfügung gestellt werden, forderte ein Sprecher des Innenressorts. (dpa) Die Experten der internationalen NGO „Tax Justice Network“ schätzen, dass die Konzerne weltweit etwa 500 Milliarden Dollar an Steuern sparen, indem sie alle legalen Tricks nutzen. Durch die illegale Steuerflucht von reichen Privatpersonen entstehe ein Schaden von weiteren 200 Milliarden Dollar. An Reformvorschlägen fehlt es nicht. So fordern Oxfam Deutschland und der grüne Europapolitiker Sven Giegold, dass es eine „schwarze Liste“ für Steueroasen geben soll. Dann wäre es schlicht illegal, eine Briefkastenfirma in einem Land zu besitzen, das keine Steuern erhebt. Beliebtes Dreieck Diese naheliegende Idee lässt sich in der EU jedoch nicht durchsetzen, weil vor allem Großbritannien blockiert. Giegold fordert daher: „Mit seinen Überseegebieten dominiert Großbritannien die Landkarte der Steueroasen. Wir müssen die Brexit-Verhandlungen nutzen, um die britischen Steueroasen zu schließen.“ Allerdings ist der legalen Steuergestaltung der internationalen Konzerne mit einer „schwarzen Liste“ nicht beizukommen. Die Firmen könnten weiterhin ihre Gewinne von einem Land zum nächsten verschieben. Sehr beliebt ist beispielsweise das Dreieck Irland, Niederlande und Luxemburg. Daher verlangt Giegold: „Wir brauchen zudem volle Transparenz der Steuern von Großunternehmen und einen gemeinsamen Mindeststeuersatz für Unternehmen innerhalb der EU.“
Ulrike Herrmann
Der neue Finanzleak zeigt: Anlegern wird es viel zu leicht gemacht, ihr Geld in Steuerparadiesen vor den Finanzämtern zu verstecken.
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Gedenkstättenleiter gegen AfD-Höcke: Vorwurf Geschichtsrevisionismus - taz.de
Gedenkstättenleiter gegen AfD-Höcke: Vorwurf Geschichtsrevisionismus Der Gedenkstättenleiter von Buchenwald wirft dem AfD-Politiker Björn Höcke Geschichtsrevisionismus vor. Auf Twitter zitiert er Aussagen von Höcke. Nennt die „genauen Opferzahlen“ des Zweiten Weltkriegs „ein Politikum“ Foto: Hannes P Albert/dpa WEIMAR/ERFURT dpa | Buchenwald-Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner hat Thüringens umstrittenem AfD-Chef Björn Höcke wegen Äußerungen zur Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg Geschichtsrevisionismus vorgeworfen. Bezeichnend sei „das Amalgam aus nationalistischem Geschichtsrevisionismus, Verschwörungslegenden, antiwestlichem beziehungsweise antiliberalem Ressentiment und – ohne dass es direkt angesprochen wird – Putin-Propaganda“, schrieb Wagner am Montag auf Twitter. Dazu stellte der Historiker Screenshots von Höckes Äußerungen bei Telegram. Dort hatte der Thüringer AfD-Landespartei- und Fraktionschef ein Bild von einem Skelett gepostet, im Hintergrund sind Ruinen einer Stadt im Licht eines großen Feuers zu sehen. Darauf steht „Dresden 1945“ und „Wer seine Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“. Höcke, dessen AfD-Landesverband vom Thüringer Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde, schrieb dazu: „Das Gedenken an Kriegsverbrechen gegen Deutsche ist in unserem Land ein schwieriges Thema, die genauen Opferzahlen sind ein Politikum.“ Die Erinnerung daran sei auch deswegen heute „ein Tabu, weil man uns weismachen will, die Westalliierten wären unsere Freunde und seien es schon immer gewesen“. Außerdem bezeichnete der AfD-Politiker die Zerstörung der Stadt als „planmäßige Vernichtung“. Der Historiker Wagner kritisierte, Höcke nutze bewusst diesen auf die Schoah anspielenden Begriff. Am 13. Februar 1945 und in den Tagen danach legten britische und US-amerikanische Bomber die Innenstadt von Dresden in Schutt und Asche. Nach Erkenntnissen einer Expertenkommission wurden damals bis zu 25.000 Menschen getötet. Immer wieder missbrauchen auch Rechtsextreme das Gedenken daran für ihre Zwecke und wollen mit Aufmärschen die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg relativieren.
taz. die tageszeitung
Der Gedenkstättenleiter von Buchenwald wirft dem AfD-Politiker Björn Höcke Geschichtsrevisionismus vor. Auf Twitter zitiert er Aussagen von Höcke.
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Gespräch zum Mauerfallgedenken: „So vieles ist unerinnert“ - taz.de
Gespräch zum Mauerfallgedenken: „So vieles ist unerinnert“ Renate Hürtgen, 72, war Teil der DDR-Opposition. Anna Stiede, 32, gräbt deren Geschichten aus – auch, um die eigene Biografie besser zu verstehen. Szene aus dem Theaterprojekt 4-11-89 Theater der Revolution Foto: dpa taz: Frau Stiede, als ich um ein Interview zum 9. November gebeten habe, war Ihre Reaktion: Puh, schwieriger Tag. Warum? Anna Stiede: Es wird sich immer auf den 9. November gestürzt, es geht immer um diesen Tag, um den Mauerfall. Was dahinter verschwindet, sind die Geschichten des demokratischen Aufbruchs, all das, was in den Tagen danach und davor geschah. Das ist ein total verkürzter Fokus. Wobei ich sagen muss, als ich angefangen habe, mich stärker mit Ostgeschichte zu beschäftigen, habe ich auch viel vom 9. November geredet. In meiner Erinnerung sticht dieser Tag heraus, weil ich mich erinnere, wie unglaublich froh meine Mutter da war. Meine Ostfreunde haben mir dann gesagt: Schau auch mal auf die Tage davor und danach. Frau Hürtgen, was verbinden Sie mit dem 9. November? Renate Hürtgen: Dieser Tag fiel für uns, also die Oppositions­bewegung in der DDR, und auch für mich persönlich ja in die Zeit allergrößter politischer Aktivitäten. An dem Tag selbst hatten wir abends noch eine politische Veranstaltung, auf dem Heimweg kam mir einer unserer Mitstreiter entgegen, strahlend: Die Mauer ist offen. Ich war verblüfft, aber gleichzeitig todmüde, ich hab mich hingelegt. Zwei Tage später bin ich dann rüber, mit meinem damaligen Mann, an der Bornholmer Straße. Da hatte ich dieses tiefe Gefühl: Jetzt wird sich in deinem Leben alles ändern. Das war nicht negativ, aber mir kamen die Tränen, weil das so ein großer Gedanke war. Mein Mann sagte zu mir: Hör uff, die denken sonst noch, du willst die Mauer wiederhaben. Wie sehen Sie die Art, wie heute an diesen Tag erinnert wird? RH: Da wird so viel hineininterpretiert, ideologisch. Dass das der Tag der Wiedervereinigung war. Das stimmt nicht, das hat sich damals überhaupt nicht so angefühlt, da war von deutscher Einheit noch gar keine Rede, da hat noch niemand geglaubt, dass es so weit kommen würde. AS: Ich finde krass, wie verzerrt das ist, wie die Art, wie dieser Tag heute präsentiert wird, im Widerspruch dazu steht, wie Menschen ihn erlebt haben. RH: Ich muss allerdings sagen, in der linken Rezeption ärgert mich auch etwas: Natürlich war ich damals auch irritiert, befremdet von diesem Run auf den Westen. Ich hab da ein schlimmes Bild vor Augen, da wurden Bananen von einem Wagen geworfen und die Leute haben sich darauf gestürzt. Aber ich würde da nie so verächtlich drauf schauen, wie es manche Linke getan haben oder tun. Dieses Verächtlichmachen solcher Emotionen, das ärgert mich. im Interview:Renate Hürtgenwurde 1947 in Berlin geboren. Die Historikerin und Philosophin war Teil der DDR-Opposition und gründete 1989 die Initiative für eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung. AS: Ich war gestern in Erfurt und habe da erst gelernt, dass es dort 1990 einen Hungerstreik gab, bei dem es um die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen ging. Ich bin in Jena geboren, ich bin seit vielen Jahren in außerparlamentarischen Bewegungen aktiv, und trotzdem habe ich das bis gestern nicht gewusst. Da läuft es mir kalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke, wie viele Geschichten da un­erinnert sind und vergessen gemacht werden. Die DDR-Oppositionsbewegung war ja nicht mit dem 9. November vorbei. Aber heute wirkt es so, als wäre diese unglaubliche Stimmung für einen demokratischen Aufbruch, die in den Monaten und Wochen vorher entstanden war, an diesem Tag einfach verpufft. RH: Das war aber nicht so. Der 9. November war auch für uns ein wichtiger Tag. Ab diesem Moment war klar: Jetzt kann sich die Herrschaft nicht mehr sichern. Und die offenen Grenzen waren ein sehr wichtiges Signal, die haben Menschen auch ermutigt, politisch aktiv zu sein. Schließlich war es vorher so: Wer Probleme bekam, weil er politisch aktiv war, der konnte nirgendwohin abhauen. In Berlin wurde des Mauerfalls in den vergangenen Tagen mit einer „Feierwoche“ gedacht. Wie haben Sie diese Veranstaltungen empfunden? RH: Das war schon ein ziemliches Spektakel, da ist auch viel Geld reingeflossen. Ich hatte den Eindruck, dass eigentlich versucht wurde, ein bisschen weg vom 9. November zu kommen und das differenzierter darzustellen. Zwar ging es jetzt doch wieder viel um den 9. November, aber zumindest in die Richtung: Wir feiern das, aber es ist auch nicht alles gut gelaufen damals. im Interview:Anna Stiedewurde 1987 in Jena geboren. Sie arbeitet als politische Bildnerin, Kommunikationstrainerin und Übersetzerin und ist seit vielen Jahren in sozialen Bewegungen aktiv. AS: Ich hatte das große Glück, bei der Inszenierung 4-11-89: Theater der Revolution von Panzerkreuzer Rotkäppchen am Montag auf dem Alexan­der­platz mitwirken zu dürfen. Wir haben klar gesagt: Wir machen kein bürgerliches Gedenken, sondern es geht darum, die Aufbruchstimmung dieses Tages wiederzubeleben. Dank der Arbeit der Regisseurin Susann Neuenfeldt und der Choreografin Maike Möller-Engemann, den tollen Tänzerinnen, die die Demomenge von damals performten, den Redner*innen und der Musik von Hans Narva konnte wirklich dieser Gefühlsraum eröffnet werden. Ich bin froh, dass wir dort auf dem Alex eine kritische Haltung markieren konnten. Ellen Schernikau hat zum Schluss eine Rede ihres Sohnes verlesen, den er auf dem Schriftstellerkongress im Mai 1990 gehalten hatte. Den 9. November nennt er darin eine Konterrevolution. RH: Da muss ich sagen, das finde ich falsch. Der Tag war keine Konterrevolution. Ihn so zu nennen, das ist dieses elitäre Verhalten mancher Linker, die völlig aus dem Blick verlieren, was die Mehrheit denkt. AS: Das ist interessant, dass du das sagst. Ich glaube, es gibt noch total viel Redebedarf über diese Zeit, über das, was da passiert ist und wie man es interpretiert. Vielleicht bräuchte es ganz viele solcher Gefühlsräume und Gesprächsräume statt Hunderter Spektakel auf einmal. Das Problem ist ja, diese Auseinandersetzung darüber, die hat bisher überhaupt nicht stattgefunden! Feiern und Gedenken am 9. November​Feiern Ab 17:30 Uhr startet am 9. November die große Mauerfallgedenkparty am Brandenburger Tor. https://mauerfall30.berlinMigrantische Perspektiven "Die Mauer ist uns Türken auf den Kopf gefallen": Die Türkische Gemeinde Deutschland lädt gemeinsam mit der Stiftung Berliner Mauer am 9. November um 17 Uhr zu einer Zeitzeugendiskussion in der Mauergedenkstätte, Bernauer Straße 119 ein. Dabei ist auch Sevim Celebi, die von 1987 bis 1989 für die Alternative Liste als erste Migrantin in einem deutschen Landesparlament im Abgeordnetenhaus saß.Queer-feministische Perspektiven In den 80ern bildeten lesbische und feministische Selbstorganisationen einen wichtigen Teil der kirchlich verankerten DDR-Opposition, die maßgeblich zum Fall der Mauer beitrug. Am 9. November um 15:40 Uhr laden das feministische Archiv FFBIZ und das Lesbenarchiv Spinnboden zu einem Vortrag mit Gespräch in der Mauergedenkstätte ein, u.a. mit Bettina Dziggel, Mitbegründerin von Lesben in der Kirche, und Katja Koblitz vom Lesbenarchiv.Novemberpogrome Eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 81. Jahrestags der Novemberpogrome von 1938 findet in der Synagoge am Fraenkelufer in Kreuzberg ab 19 Uhr statt. Ein Stilles Gedenken folgt ab 20.30 Uhr.(taz) RH: Ja! Das hat es bisher überhaupt nicht gegeben. Deine Generation, ihr seid die Ersten, die da ein Interesse mitbringen, die zu Leuten wie mir kommen und Fragen stellen. AS: Ich glaube schon, dass es das Interesse auch vorher gab. Menschen, die zehn oder fünfzehn Jahre älter als ich sind, erzählen mir, sie hätten früher auch solche Fragen gehabt. Aber sie hätten sich nie getraut, sie zu stellen, oder wenn sie sie stellten, wurden sie ausgelacht. RH: Das ist möglich, aber ich habe das jedenfalls als Desinteresse empfunden. Dass jemand kommt und sagt, erzähl mal, wie das damals für euch als Oppositionsbewegung war, das kenne ich erst seit zwei, drei Jahren. Wie empfinden Sie beide diesen generationsübergreifenden Austausch zwischen Ostlinken? RH: Für mich ist das sehr belebend. Ich finde es gut, dass da auch Sachen infrage gestellt werden, nicht alles einfach hingenommen wird von den Jüngeren. Aber gleichzeitig passiert dabei genau das, was jeder Psychologe voraussagen könnte: Je mehr wir diese Dinge aufarbeiten, desto mehr Widersprüche und Konflikte brechen auf. Da kommt auch vieles hoch, was wehtut. AS: Das stimmt, es ist oft auch schmerzhaft. Die Oppositionsbewegung ist ja sehr zerstritten, da gibt es total viel Drama, viele Widersprüche. Dann fragen wir jüngeren, linken Ostler*innen uns: Ist das jetzt unsere Aufgabe, das aufzuarbeiten? Müssen wir das machen? Und können wir das überhaupt? Zumal wir ja gleichzeitig auch noch die ganzen Fragen oder Auseinandersetzungen mit unseren linken Westfreunden haben. Das ist vorhin schon deutlich geworden: Einerseits geht es darum, linke ostdeutsche Perspektiven etwa gegen ein westdeutsch und bürgerlich geprägtes Einheitsgedenken in Stellung zu bringen. Andererseits läuft man dabei Gefahr, verschiedene ostdeutsche Positionen auf die eine Ostperspektive zu verengen. RH: Es ist wichtig, dass gegen die Mythen nicht neue Mythen aufgebaut werden. Der 9. November war weder der glorreiche Vollzug der deutschen Einheit noch war er die Konterrevolution. Das stimmt beides nicht. Frau Stiede, Sie sind in Jena geboren, haben in Marburg studiert und kamen mit 24 nach Berlin. Tiefer mit dem Osten auseinandergesetzt haben Sie sich erst in den letzten Jahren – wie kam es dazu? AS: Ich habe angefangen, mit anderen Ostlerinnen und Ostlern, aus meiner Generation oder etwas älter, darüber zu sprechen. Weil wir gemerkt haben: Die DDR lässt uns nicht los, ob wir wollen oder nicht. Das war ganz stark auch ein persönliches Interesse, wir wollten verstehen, was da passiert ist in den 90ern, diese sehr heftige Transformation, über die nie richtig gesprochen wurde. Durch diese Auseinandersetzung haben wir auch die eigene Kindheit und Jugend aufgearbeitet. Wir haben besser verstanden, warum das alles so grau war, so voller Gewalt und Aggression. Warum die Nazis so mächtig waren. Und ich habe meine eigene Familie besser verstanden. Was meinen Sie? AS: Meine Großväter waren depressiv, beide, und ich weiß heute auch, warum. Früher habe ich das gar nicht richtig wahrgenommen, ich dachte, Opas sind immer so. Dass das was damit zu tun hatte, dass beide ihre Arbeit verloren haben und das altbekannte System zusammenbrach und weg war, von einem Tag auf den anderen, verstehe ich erst jetzt. Und was bedeutet Ihnen Berlin? Was bedeutet es, hier als linke Ostlerin zu leben? RH: Für mich als politisches Wesen war diese Stadt immer ideal. Ich habe Gleichgesinnte getroffen, auch in Westberlin. Zu den Westberlinern gab es eigentlich eine ziemliche Nähe, viel stärker als zu Menschen aus Westdeutschland. Gleichzeitig habe ich natürlich auch manche Westberliner Linke als ignorant empfunden. Mein Hauptproblem war, dass ich viele getroffen habe, die eine idealisierte Vorstellung von der DDR hatten. Da musste ich immer dagegenhalten, und bis heute ist es so, dass ich da mit manchen Menschen nicht einig werde. AS: Das ist interessant, was du über das Aus-Berlin-Sein gesagt hast. Ich habe neulich eine Frau aus Marzahn kennengelernt, die hat gesagt, sie habe sich nie als Ostlerin, sondern immer als Berlinerin gefühlt. Die Ossis, das waren die anderen (lacht). Für mich hat sich das Nach-Berlin-Kommen nach meinem Studium in Hessen ein bisschen wie nach Hause kommen angefühlt. Ich habe hier auch angefangen, wieder ein bisschen mehr Thüringer Dialekt zu sprechen, den ich mir in Marburg komplett abtrainiert hatte. Zu Hause ist für mich aber vor allem Neukölln, wo ich wohne. Wenn ich nach einer Reise aus dem ostdeutschen Hinterland wieder auf dem Hermannplatz ankomme, dann fühle ich mich zu Hause und kann tiefer durchatmen. RH: Diese Toleranz, das Freie, das Berlin hat, das ist auch für mich sehr wichtig. Im Haus für Demokratie und Menschenrechte an der Greifswalder Straße, dem Haus der DDR-Oppositionsbewegung, sind nicht nur Sie, Frau Hürtgen, seit vielen Jahren aktiv, sondern auch Sie, Frau Stiede, saßen dort bereits im Kuratorium. Was ist das für ein Ort? RH: Das ist ein sehr besonderes Haus. Über 60 Mieter sind darin mit einer großen Bandbreite, von antikapitalistischen linken Gruppen bis zu Amnesty International. Das ist schön, aber auch nicht immer einfach, zumal ja noch die Konflikte zwischen den verschiedenen Vertretern der Oppositionsbewegung hinzukommen. Bei diesen Konflikten ist das Problem, dass wir einfach nicht darüber reden, worum es da inhaltlich geht. Obwohl, in letzter Zeit ist das etwas besser geworden. Warum? RH: Genau dadurch, dass du, Anna, und andere aus deiner Generation mit dieser Aufarbeitung begonnen habt, dadurch reden wir auch überhaupt mal wieder über unsere inhaltlichen Konflikte. Mir sind diese Auseinandersetzungen, die wir da haben, ja auch manchmal peinlich, aber die haben eben damit zu tun, dass so vieles nicht aufgearbeitet wurde. AS: Ja, das nehme ich auch so wahr. Dass es Konflikte gibt, das ist ja immer so, aber da sind so viele alte Verletzungen, die hochkommen, das macht es manchmal wirklich schwierig. RH: Mir ist aber auch wichtig, dass eben keine harmonisierende Ostidentität geschaffen wird, hinter der die Konflikte verschwinden. Annette Simon, die Tochter von Christa Wolf, hat gesagt: Es gibt einen gemeinsamen Erfahrungsraum, aber innerhalb dieses Erfahrungsraums haben die Menschen alle völlig verschiedene Positionen. Das ist vermutlich manchmal schwierig, das anzuerkennen, weil man hofft, dass die Oppositionellen von damals sich nahestehen, dass sie sich gut verstehen. Was nehmen Sie beide jetzt als Impuls aus dem Erinnern an 30 Jahre 89 mit? RH: Da war natürlich vieles Spektakel, aber gleichzeitig ist auch viel Gutes in Gang gekommen. Das Interesse an dem Thema ist groß, ich habe so viele Einladungen wie lange nicht, das ist natürlich auch etwas Schönes. AS: Ich sehe das auch so, dass da tolle Sachen in Gang gekommen sind. Es sind auch Perspektiven sichtbar geworden, die das sonst nie waren: migrantische Perspektiven auf 89, lesbische Perspektiven auf 89, dazu gab es Veranstaltungen und Auseinandersetzungen. Ich nehme da schon ein positives Gefühl mit. Meine größte Frage ist jetzt: Wie kann man die solidarischen Menschen im Osten stärken? Wie kriegt man es hin, dass sich diese Menschen politischen Raum nehmen? Denn das nehme ich schon noch als eine DDR-Altlast wahr, dass es die ausgeprägte Zivilgesellschaft, die es gewohnt ist, sich den Raum zu nehmen, so nicht gibt. Und natürlich beschäftigt es mich, dass ein Viertel der Menschen in Thüringen eine faschistische Partei gewählt haben. Ich frage mich: Wie kann man das, was da ist, auch an nicht aufgearbeiteter Geschichte, so bearbeiten, dass etwas anderes als Hass und rassistische Gewalt dabei herauskommt?
Malene Gürgen
Renate Hürtgen, 72, war Teil der DDR-Opposition. Anna Stiede, 32, gräbt deren Geschichten aus – auch, um die eigene Biografie besser zu verstehen.
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Dissidenten in China: Ai Weiwei unter Druck - taz.de
Dissidenten in China: Ai Weiwei unter Druck Chinesische Behörden haben dem Künstler Ai Weiwei die Lizenz für seine Designfirma entzogen. Das sei die Strafe für seine Regierungskritik, ist sich der Dissident sicher. Protestaktion mit Ai-Weiwei-Masken. Bild: dpa PEKING dpa/rtr | Neuer Schlag für regimekritischen Künstler Ai Weiwei: Medienberichten zufolge haben chinesische Behörden seiner Designfirma die Lizenz entzogen. Die Firma habe sich nicht neu registrieren lassen, so lautet der Vorwurf nach Berichten der BBC vom Dienstag. Er sei wieder für seine Kritik an der chinesischen Regierung bestraft worden, sagte der 55-jährige Künstler dem Sender und kündigte Beschwerde an. Es sei unmöglich gewesen, sein Unternehmen Beijing Fake Cultural Development zu registrieren, da die Behörden nötige Dokumente beschlagnahmt hätten. Erst vergangene Woche war Ai mit einem Einspruch gegen eine Steuerstrafe in Millionenhöhe gescheitert. Ein Gericht in Peking hatte die Forderung der Behörden von 15 Millionen Yuan (1,7 Millionen Euro) Steuern und Strafzahlung bestätigt. Sie werfen Ais Unternehmen vor, große Beträge Steuern hinterzogen zu haben. Sein Anwalt Liu Xiaoyuan sagte dem Sender, es sei nicht klar, wann das Unternehmen geschlossen werde und welchen Einfluss dies auf die Steuerstrafe habe. Ai Weiwei sieht sich bereits seit längerem der Willkür des chinesischen Machtapparats ausgesetzt. Im April 2011 setzten Sicherheitskräfte den Regimekritiker zunächst ohne Anklage 81 Tage lang an einem unbekannten Ort fest. Schließlich wurde ihm Steuerhinterziehung vorgeworfen. Der Dissident kam unter der Auflage frei, Peking ein Jahr lang nicht zu verlassen. Danach bekam er allerdings seinen Reisepass nicht zurück. Kritiker werfen den chinesischen Behörden vor, mit dem Steuerverfahren den Künstler mundtot machen zu wollen. Ai hat mehrfach beklagt, dass die chinesische Regierung Gesetze und Bürgerrechte missachte.
taz. die tageszeitung
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Altes Foto von Söder beim Glühwein: Echtes Bild in falschem Kontext - taz.de
Altes Foto von Söder beim Glühwein: Echtes Bild in falschem Kontext Ein ein Jahr altes Foto von Ministerpräsidenten in enger Runde wurde im Netz verbreitet. Dabei ist Fakes erkennen nicht schwer. Dieses Bild ist über ein Jahr alt. Es entstand im Dezember 2019 in Berlin Foto: Sven Braun/dpa BERLIN taz | In den sozialen Medien kursierte am Sonntagabend ein Foto von mehreren Ministerpräsidenten, unter anderem Markus Söder und Armin Laschet, beim Glühweintrinken ohne Maske und Abstand. Das Bild stammt aus dem vergangenen Jahr. Es wurde aber von einigen Nutzer*innen auf Twitter, unter anderem einigen Bundestagsabgeordneten der AfD, mit dem Anschein verbreitet, es handle sich um ein aktuelles Foto. Dadurch entstand der Eindruck, dass die Länderchefs ihre eigenen Abstandsregel nicht einhielten. Der AfD-Abgeordnete im Bundestag, Stephan Protschka, etwa twitterte das Bild mit den Worten „#Deutschland im Jahr 2020!“. Protschka hat den Tweet mittlerweile gelöscht und sich entschuldigt. Er habe damit keinen Zwist schüren wollen. Dass Fotos im falschen Kontext kursieren, ist ein bekanntes Phänomen der Fake News. Auf diese Weise falsche Zusammenhänge herzustellen, ist vergleichsweise leicht und erfordert nicht einmal Kenntnisse der Bildbearbeitung. Nicht immer gibt es eine Täuschungsabsicht, wenn solche Desinformationen erstellt oder geteilt werden. Oft handelt es sich auch um Unachtsamkeit, weil die Falschinformation das Weltbild der Nutzer*in bestätigt. Im Fall des ­Glühwein-Fakes wiesen prominente Nut­zer*in­nen schnell auf die Fälschung hin. Oft werden entsprechende Fakes dennoch weitergetragen, auch wenn sie bereits dekonstruiert sind. Was dagegen hilft, ist ein kritischer Blick auf jedes Bildmaterial, auch und vor allem wenn es eigene Überzeugungen bestätigt. Um zu überprüfen, ob ein Bild aktuell ist, kann man es zum Beispiel bei der „umgekehrten Bildersuche“ in der Suchmaschine Google hochladen.
Peter Weissenburger
Ein ein Jahr altes Foto von Ministerpräsidenten in enger Runde wurde im Netz verbreitet. Dabei ist Fakes erkennen nicht schwer.
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Alba Berlin wird weiblich: Flügge werden und fliegen - taz.de
Alba Berlin wird weiblich: Flügge werden und fliegen Das Frauenteam von Alba Berlin spielt zum ersten Mal in der höchsten deutschen Basketball-Liga. Dahinter steht mehr als ein schnöder Aufstieg. Kampf um Ball und Aufmerksamkeit: Lena Gohlisch, Aufbauspielerin von Alba Berlin (r.) Foto: imago Es macht badumm-badumm in der Sporthalle an der Berliner Schützenstraße. Basketbälle prallen aufs Parkett, schlagen gegen Korb und Brett. Die Spielerinnen von Alba Berlin trudeln nacheinander ein, einem geheimen Schema folgend. Jede scheint ihr eigenes Programm zu verfolgen. Die eine wirft, die andere dehnt sich, eine dritte schlendert zum Spezialtraining mit Individualcoach Carlos Frade, der nach gelungenen Center-Moves laut „Bravo!“ oder „Muy bien!“ ruft. Eine Aufbauspielerin begutachtet auf der Bank ihren Knöchel. „Ist blau hier unten“, erklärt sie einer Kollegin und zeigt auf den Innenrist, sie wickelt das Tape neu und geht aufs Feld. Eine Choreografie der Selbstverständlichkeiten, untermalt mit den unrythmischen Beats des Basketballs, läuft in der kleinen Trainingshalle von Alba Berlin. Als eine der letzten stößt Lena Gohlisch zum Ensemble. Mittlerweile sind fünf Assistenten und Gehilfen von Trainer Cristo Cabrera in der Halle, in der zumeist mit stillem Ernst das Programm abgespult wird. Gohlisch besetzt bekanntes Terrain, draußen an der Dreierlinie. Die zierliche Frau wuchtet den Ball in Richtung Korb, aber die ersten vier Versuche misslingen, erst der fünfte Wurf findet sein Ziel. Swush, er schlägt durch die Reuse. Gohlisch hat eine gute Ausrede für ihre Anlaufschwierigkeiten. Sie hat in der Nacht nur eine Stunde geschlafen. Dienst in einem Krankenhaus. Gohlisch hat Medizin studiert. Gerade wird sie zur Assistenzärztin ausgebildet. „Der Coach weiß, wann ich Nachtdienst habe, und dann wird das Training ein bisschen angepasst“, sagt sie mit dieser leicht aufgedrehten Mattigkeit, die Übernächtigte oft an den Tag legen. Künftig soll es besser werden: Die Nächte im Hospital fallen weg, Gohlisch passt ihren Sport an die Herausforderungen der 1. Liga an. Dort spielen die Frauen von Alba Berlin seit dieser Saison, zum ersten Mal. Bisher hat es zwei Auswärtsspiele gegeben, ein Sieg gegen Osnabrück, dann eine Niederlage gegen Nördlingen. Am Sonntag steht das erste Heimspiel in der obersten Liga an, und das soll zu einem besonderen Event in der Geschichte des Hauptstadtklubs werden. „Gemeinsam feiern“ Zuerst spielen die seit zweieinhalb Dekaden erfolgreichen Männer, dann die Frauen in der Max-Schmeling-Halle, gegen das Team aus Keltern. „Für uns war es immer eine große Vision, eines Tages mit zwei Teams Bundesliga-Basketball in Berlin bieten zu können. Dafür haben wir einiges investiert, und das werden wir auch weiterhin tun“, sagt Alba-Geschäftsführer Marco Baldi in präsidialem Tonfall, „die große Heimpremiere unserer Frauen in der Ersten Liga wollen wir nun gemeinsam feiern. Damit geben wir dem Ganzen einen würdigen Rahmen und sorgen auch für die Sichtbarkeit, die unser DBBL-Team so sehr verdient hat.“ Lena Gohlisch, 28, hofft, dass möglichst viele Fans sitzen bleiben und sich auch die Frauen anschauen. Zweimal hat es solche Doppelspieltage schon gegeben. Die Frauen spielten jeweils zuerst, und vor allem in der ersten Halbzeit blieben die Ränge jeweils recht leer. Das ist ein Zustand, den die Führungsriege von Alba ändern möchte. Vor sieben, acht Jahren etwa reifte der Entschluss, einen Big-City-Club in die Baskeball-Bundesliga der Frauen zu hieven, in der große Städte fehlen. Hier haben seit Ewigkeiten kleine Regionalvereine das Sagen: Wasserburg zum Beispiel oder klassische Uni-Städte wie Freiburg. Die großen Vereine aus dem Männersport haben zumeist keine große Frauenbasketball-Tradition. Alba hat sich entschlossen, Pionier zu sein in diesem Umfeld der Zögerlichen. Der Aufstieg glückte, und in der abgelaufenen Saison wurde die Alba-Mannschaft der U18 obendrein deutscher Meister. Cristo Cabrera ist das Risiko eingegangen, den Aufschwung zu organisieren. Er kam nach einem Anruf von Sportdirektor Himar Ojeda 2016 nach Berlin. Beide kannten sich aus Gran Canaria. Sie haben Alba hispanisiert, was man auch daran merkt, dass Cabrera nach einem „Buenos dias!“ des Reporters auf Spanisch antwortet, dann aber zum Glück ins Englische wechselt. Zunächst war er angetan von den etwas anderen physischen Voraussetzungen der deutschen Spielerinnen, viel größer und kräftiger als die spanischen Spielerinnen seien die. Aber an Know-how, Technikvermittlung, an professionellen Strukturen mangelte es in der Hauptstadt. Cabrera erinnert sich noch gut an ein Gespräch, das er zu Beginn seiner Mission mit den Eltern der U16-Auswahl von Alba Berlin führen musste. „Das war wirklich schwierig,und als ich ihnen eröffnete, dass die Mädchen nun vier Mal pro Woche trainieren müssen, um etwas zu erreichen und nicht nur zwei, hagelte es Widerspruch. Es dauert, bis die Einsicht reifte, dass mehr Engagement nötig ist.“ Profis im Team Cabrera hat sich nicht entmutigen lassen, und heute sagt er, es sei fast schon schwieriger gewesen, in Berlin eine Wohnung zu finden – er ist dann in Reinickendorf fündig geworden –, als ein Frauenteam nach oben zu führen. Das ist nur ein halber Scherz, denn auf eines konnte sich der Spanier verlassen: Die Alba-Logistik und ein in Deutschland wohl einzigartiges Sichtungsprogramm, das auf viele Kooperationen mit Berliner Schulen setzt. Der Verein macht viel, er siebt nun aber auch kräftig aus, was nicht selten zu Frustration bei jungen Spielerinnen führt, die sich dann nur noch in der Freizeitmannschaft wiederfinden. Aber das müsse sein, wenn man den eigenen Ansprüchen gerecht werden wolle, sagt Cabrera. Er betreut nun zum ersten Mal auch Vollzeitprofis bei Alba. Drei Spielerinnen mit diesem Status hat Alba geholt. Das hat das Gefüge im Team erst einmal durcheinander geworfen, „aber wir haben das gut hingekriegt, obwohl ich Bedenken hatte“, sagt Lena Gohlisch, die eine „echte Berlinerin“ ist, ein Alba-Gewächs. Im Prenzlauer Berg aufgewachsen, ging sie zu den Alba-Minis, aber weil es damals noch keine guten Alba-Jugendteams in ihrer Altersklasse gab, „tingelte“ sie „ein bisschen durch Berlin“, nach Lichterfelde und Moabit. Vor vier Jahren kehrte sie zu Alba zurück. Gohlisch hat in ihrer Karriere schon einiges erlebt: Sie hat mit Satou Sabally zusammengespielt, die nun in der WNBA in Dallas ihr Geld verdient, sie warf Bälle in Frankreich und für Hannover, jetzt symbolisiert sie Albas Wille, mit sogenannten Homegrown-Spielerinnen nicht nur nach oben zu kommen, sondern auch Identifikationsangebote für Fans zu bieten. „Wir stehen noch am Anfang, es passiert zwar mittlerweile viel, aber es fehlen leider oft die finanziellen Mittel.“ Sie selber erhält nicht viel mehr als eine Aufwandsentschädigung. Coach Cabrera sagt, richtig gute Spielerinnen könnten mit ihrem Gehalt etwas zur Seite legen, gute immerhin den Lebensunterhalt bestreiten. Doch meistens läuft es wie bei Gohlisch auf eine Doppelbelastung hinaus. Die Pandemie hat zusätzlich gebremst. Obwohl 14 Vereine von der Liga lizensiert wurden, spielen jetzt nur 11 in der DBBL, und wenn man die Live-Übertragungen der Spiele auf dem Portal sporttotal.tv anschaut, dann geht man auf eine Zeitreise in die 90er Jahre, taucht ein in die Atmosphäre von Schulturnhallen, moderiert werden die Spiele von wenig geschulten Expertinnen. Das muss man mögen – oder Hardcore-Fan sein. Der Weg des Frauenbasketballs auf ein Terrain der angesagten medialen Verwertung ist noch sehr, sehr weit. „Langsam geht es in eine gute Richtung“, sagt Gohlisch, „aber eben sehr, sehr langsam, wenn man das mit anderen europäischen Ländern vergleicht. Wir hinken in Deutschland hinterher, in Frankreich oder Spanien hat Frauensport einen ganz anderen Stellenwert.“ Jahrelang hätte den Talenten die Perspektive gefehlt, sagt Gohlisch. Wenn man bei einer B-Europameisterschaft nur Neunter wird, sei klar gewesen, dass man mit Basketball kein Geld verdienen werde. Aber die Aussichten ändern sich gerade, hofft sie – durch Sabally, Social Media und die allgemeine Stimmungslage. Der Deutsche Basketball-Verband verhält sich freilich eher passiv: In den Lizenzauflagen müssen die Vereine den Nachweis guter Nachwuchsarbeit erbringen, eine Hausaufgabe zur Förderung von Mädchen und Frauen wird nicht erteilt. „Für Außenstehende wirkt es leider etwas konzeptlos“, sagt sie mit müden Augen. Schlafen, ja, das wäre jetzt, wo der Basketball zum Medizinball zu mutieren scheint, eine gute Idee. Badumm.
Markus Völker
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Studie zur Erderwärmung: Mieses Klima für Frauen - taz.de
Studie zur Erderwärmung: Mieses Klima für Frauen Der Klimawandel verschlechtert die Lage der Frauen weltweit. Der Grund: Mangelnde Ressourcen verstärken geschlechtsspezifische Gewalt. Ein Mädchen auf dem Weg zur Trinkwasserausgabe im Südsudan im November 2019 Foto: Andreea Campeanu/reuters BERLIN taz | Eine von drei Frauen weltweit erfährt Gewalt, weil sie eine Frau ist. ExpertInnen nennen das geschlechtsbezogene Gewalt. Diese Gewalt wird zunehmen, das zeigt eine Studie, die die Weltnaturschutzorganisation am Mittwoch veröffentlicht hat. Grund: der Klimawandel. Geschlechtsbezogene Gewalt bezeichnet neben sexuellem und emotionalem Missbrauch auch Stalking, häusliche Gewalt, Kinderheirat, Menschenhandel und Genitalverstümmlung, also alle Handlungen, die gegen den Willen der Frau sind und auf ungleichen Geschlechternormen und Machtdynamiken beruhen. Zwei Jahre lang hat die IUCN mehr als 1.000 Quellen zusammengetragen und analysiert. Weltweit bedeutet die Kontrolle über Wälder, Landwirtschaft, Wasser und Fischerei Nahrung, Obdach, Einkommen und gesellschaftliche Identität. Der Klimawandel verringert diese Ressourcen. Hinzu kommt, dass es in vielen Ländern Gesetze gibt, die Frauen daran hindern, Land zu besitzen, zu verwalten oder zu erben. Sie seien also vielerorts abhängig von Landbesitzern, die die Situation ausnutzten, um sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Ein Beispiel dafür sei das „Fisch gegen Sex“-Prinzip. In Teilen Ost- und Südafrikas kommt es vor, dass Frauen Meeresprodukte auf dem Fischmarkt nur gegen Geschlechtsverkehr erhalten.Von Extremwettern oder dem Klimawandel verursachte schlechte Ernten zwängen viele Familien, ihre Töchter früh zu verheiraten, schreiben die AutorInnen. Im Tausch erhielten sie meist Vieh, mit dem der Rest der Familie besser ernährt werden könne. Naturkatastrophen führen zu Gewalt Bereits 2015 nannte der südostafrikanische Staat Malawi Kinderehen als besonderes Risiko für Mädchen nach Katastrophen wie Überschwemmungen. Durch die Erderwärmung steigt das Hochwasserrisiko weltweit dramatisch. Auch in anderen Regionen führten Naturkatastrophen zu Gewalt gegen Frauen. Grund sind posttraumatische Belastungsstörungen, der Verlust von Lebensräumen und eine angespannte gesellschaftliche Lage. Die Studie listet einige Beispiele auf. Nachdem der Taifun „Haiyan“ 2013 Thailand traf, stieg der Menschenhandel dort um bis zu 30 Prozent an. Im westafrikanischen Sierra Leone berichteten Betroffene, dass Mitarbeiter humanitärer Einrichtungen Hilfsgüter nur gegen sexuelle Handlungen ausgeben würden. Auch lokale Verantwortliche würden Frauen nur gegen Geld oder Sex auf Lebensmittellisten setzen. Im pazifischen Inselstaat Vanuata stieg die Anzahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt um 300 Prozent an, nachdem dort zwei tropische Wirbelstürme gewütet hatten. Die ökologischen und sozialen Folgen der globalen Erhitzung treiben unzählige Frauen in die Flucht. Doch auch unterwegs und in Lagern sind sie nicht sicher, so die WissenschaftlerInnen. In Notunterkünften sei es Aufgabe der Mädchen und Frauen, Feuerholz in nahe gelegenen Wäldern zu sammeln. Dabei würden sie immer wieder bedroht oder gar missbraucht. Einem Bericht aus Tschad zufolge fanden 91 Prozent der dort gemeldeten Vergewaltigungen in unmittelbarer Nähe zu Notunterkünften statt. Auch wenn Frauen gegen die globale Erhitzung kämpften, können sie geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt sein, so die Studie. Das Ziel: Aktivistinnen einzuschüchtern und zu hindern, für ihre eigenen Rechte einzustehen und sich für umweltpolitische Belange einzusetzen.
Sara Wess
Der Klimawandel verschlechtert die Lage der Frauen weltweit. Der Grund: Mangelnde Ressourcen verstärken geschlechtsspezifische Gewalt.
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Hohe Wogen im Osten - taz.de
Hohe Wogen im Osten In Cottbus hat eine Journalistin Baufilz-Affären aufgedeckt – und sieht sich jetzt Opfer als einer Diffamierungskampagne, an der sich unter anderem auch die Stadtverwaltung beteiligt haben soll Kritisiert wird „die Art und Weise“ von Simone Wendlers Auftreten von MARINA MAI Zeitungskrieg in Cottbus: Seit Anfang August fahren das Anzeigenblatt Der Märkische Bote, der 80.000fach in Cottbuser Haushalte verteilt wird, und der Stadtsender LTV eine Kampagne gegen die Chefreporterin der zur Holtzbrinck-Gruppe gehörenden Lausitzer Rundschau, Simone Wendler. Die 46-jährige Journalistin kreiere „den Verhör-Stil als journalistische Methode“, sie betreibe „Telefon-Terror“ und hätte die Frau eines Interviewpartners in den Selbstmord getrieben, lauten nur einige der Vorwürfe. Der Stadtsender spielte Zeitlupeaufnahmen der Reporterin ab, bei der Menschen „Angst davor haben, in der Zeitung zu stehen“. Einen Tag später lädt das Anzeigenblatt zur Aufführung dieser Sendung in seine Redaktion. Wendler und die Lausitzer Rundschau schlagen zurück: juristisch, indem sie dem Märkischen Boten per einstweiliger Verfügung die Wiederholung von 14 verleumderischen Aussagen untersagen und eine Gegendarstellung durchsetzen. Und Wendler macht öffentlich, welchen Drohungen sie, als sie vor Monaten einen Baufilzskandal in der südbrandenburgischen Stadt aufgedeckt hatte, ausgesetzt war. Unbekannte hätten mit dem Teleobjektiv das Haus von Simone Wendler observiert und auf ihre Handy-Mailbox das Lied gespielt „Dich schlagen wir tot“. In die Wohnung ihres Chefredakteurs Stefan Herbst sei eingebrochen worden, ohne dass etwas entwendet wurde. Wendler gegenüber der taz: „Wir hatten das zuvor nicht öffentlich gemacht, weil es eine solche Absprache mit der Polizei gab.“ Für die Journalistin steht fest, wer hinter den Diffamierungen und Drohungen steckt: die Baumafia der Stadt. „Der Märkische Bote nutzt als Kronzeugen gegen mich denselben Mann, mit dessen Aussagen Bauunternehmer juristisch gegen mich und meine Beiträge in der Lausitzer Rundschau vorgehen wollen,“ erklärt sie gegenüber der taz. Als journalistische Quereinsteigerin berichtete die Cottbuserin in den 90er-Jahren freiberuflich für Berliner und überregionale Zeitungen und Hörfunksender aus der Region Lausitz und hat sich vor allem mit Berichten über die rechte Szene einen Namen gemacht. Ihr Name stand in den Presseverteilern von antirassistischen Initiativen, denen sie zu half, rassistische Vorfälle in der Lausitz überregional bekannt zu machen. Als vor knapp einem Jahr die Stelle der Chefreporterin der örtlichen Regionalzeitung frei war, bewarb sie sich und wurde genommen. Seitdem hat Simone Wendler ein neues Thema: Baufilz in Cottbus. Manager der städtischen Gebäudewirtschaft GWC hatten nach Wendlers Recherchen bei der Vergabe von Aufträgen gute Bekannte bevorzugt sowie Unternehmen, an denen sie selbst oder Familienangehörige beteiligt waren. Nach entsprechenden Berichten Ende des vergangenen Jahres musste der Geschäftsführer und weitere Manager der GWC gehen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Wendler machte auch die Stasi-Vergangenheit von mehreren Inhabern von Baufirmen öffentlich, die nach der Wende ein Firmengeflecht hatten aufbauen können. Ein Bauunternehmer, der früher hauptamtlich für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet hatte und gegen den nach einem Beitrag in der Lausitzer Rundschau wegen möglicher Bevorzugung bei der Auftragsvergabe ermittelt wird, soll, so Wendler, über seine Firma am Stadtsender LTV beteiligt sein. Der Cottbuser Zeitungskrieg ist Thema für Brandenburger Landespolitiker. Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) sagte, es sei nicht hinnehmbar, dass Journalisten wegen kritischer Berichte bedroht würden. Man müsse diejenigen ausfindig machen, die dahinter steckten. PDS-Fraktionschef Lothar Bisky erklärte, Politik und Medien müssten entschieden Angriffe auf die Pressefreiheit zurückweisen. Für die SPD erklärte ihr Oberbürgermeister-Kandidat Klaus Zacharias, es gäbe in Cottbus wirtschaftliche Interessengeflechte, „die sich bei ihren Geschäften gestört fühlen und auch nicht vor Aktivitäten zurückschrecken, die unweigerlich an Stasi-Methoden erinnern“. Hingegen soll sich das Büro des CDU-Oberbürgermeisters Waldemar Kleinschmidt (CDU) an den Diffamierungen der Journalistin beteiligt haben. In einer Pressemitteilung der Stadt ist zu lesen, Kleinschmidt, der selbst noch im Urlaub ist, habe „die Art und Weise des Auftretens von Simone Wendler gegenüber Gesprächspartnern kritisiert“. Ein ehemaliger Pressesprecher einer Landesbehörde schätzt Simone Wendler hingegen aus der Zeit, als sie sich als Freiberuflerin mit der Rassismus in der Lausitz beschäftigte, als eine Journalistin, die „beharrlich kritische Fragen stellt und immer den Finger auf den wunden Punkt legt“. Damit sei sie sicher vielen unbequem. Die 46-Jährige will weiter für die Lausitzer Rundschau arbeiten und kritische Fragen stellen, „sobald der Medienrummel um meine Person mir wieder Zeit dazu lässt. Zurzeit bin ich damit beschäftigt, Kollegen wie Ihnen Fragen zu beantworten,“ sagt sie gegenüber der taz. Die Affäre könnte aber auch einen handfest politischen Hintergund haben: In einem halben Jahr sind Oberbürgermeisterwahlen in Cottbus.
MARINA MAI
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Studie zum Familienleben: Alleinerziehende sind gute Eltern - taz.de
Studie zum Familienleben: Alleinerziehende sind gute Eltern Eine aktuelle Studie kommt zu dem Schluss: Der Familienstatus beeinflusst das Leben von Kindern in Deutschland weniger als die soziale Lage ihrer Eltern. "Armut wirkt sich negativ aus": Geld hat größeren Einfluss auf das Wohl von Kindern, als die Familiensituation. Bild: ap BERLIN taz | Mutter. Vater. Kind. Die sogenannte "ganze" Familie ist ein in Deutschland weit verbreitetes Ideal für die Kindererziehung. Dennoch gehen hierzulande immer mehr Eltern einen anderen Weg. Seit 1996 ist die Zahl Alleinerziehender um knapp 70 Prozent auf 2,2 Millionen gestiegen. Eine Studie der Universität Bielefeld untersuchte nun im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung, welchen Einfluss Alleinerziehung und soziale Lage aus Sicht betroffener Kinder haben. Die Ergebnisse wurden am Mittwoch in Berlin vorgestellt. Zentrale Botschaft: Alleinerziehende sind besser als ihr Ruf. Im Rahmen der Untersuchung wurden über 1000 Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren aus verschiedenen Milieus in sechs deutschen Großstädten befragt, darunter Berlin, Hamburg und Dresden. Der Leiter der Studie, Holger Ziegler, bringt das wenig überraschende Ergebnis auf den Punkt: "Armut wirkt sich negativ aus". Gemeint sei damit aber nicht nur Armut als eine statistische Größe, so Ziegler, sondern auch die Wahrnehmung der finanziell angespannte Lage der Eltern durch die Kinder selbst. Immerhin gab jedes sechste Kind aus betroffenen Haushalten an, dass seine Familie zu wenig Geld zum Leben hätte. "Wenn bereits 6-Jährige denken, dass es davon zu wenig gibt, sollte uns das zu denken geben", sagt der Leiter der Studie. Es sei zwar gut, dass Kinder dank des Bildungspaketes nun an Schulausflügen und Aktivitäten in der Freizeit teilhaben könnten. Das Geld für teure Rucksäcke oder gute Fußballschuhe fehle aber nach wie vor, so Ziegler. Alleinerziehung bedeutet Stress auf beiden Seiten Auch bei der Selbsteinschätzung der Kinder spielt das Geld der Eltern eine Rolle. So trauen sich Kinder aus privilegierten Haushalten oft mehr zu als ihre Altersgenossen aus weniger gut situierten Verhältnissen. Überraschend für die Macher der Studie ist, dass erstere selbst dann bessere Noten in der Schule erhalten, wenn ihre Selbsteinschätzung schlechter ist. Ziegler verweist in diesem Zusammenhang auf andere Untersuchungen, wonach Kinder von Alleinerziehenden und aus unterprivilegierten Familien bei gleichen objektiven Leistungen in der Schule häufig schlechter bewertet werden. Auch laut Studie fühlen sich Alleinerzogene häufiger gehänselt, gemobbt und alleingelassen. "Alleinerziehende müssen die Erziehung straff organisieren und das führt zu Konflikten", erklärt Ziegler. Dies bedeutet Stress für beide Seiten. Aus Sicht der Kinder geben ihre Eltern diesen aber nicht weiter. Alleinerzogene berichten von genau so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung wie ihre Altersgenossen in Zwei-Eltern-Familien. Laut Studie geben sogar 100 Prozent der befragten Kinder von Alleinerziehenden an, dass sie jemanden hätten, der sich um sie kümmert. "Kinder brauchen nicht nur Programme, sondern Beziehungen und Ansprechpartner", schlussfolgert daher der Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerkes Arche, Bernd Siggelkow. Wie der Wissenschaftler, so glaubt auch er als Mann aus der Praxis nicht an den Erfolg des Bildungspaketes. Dabei handelt es sich zwar um eine gute Idee. Insgesamt sei die Regelung aber zu bürokratisch und baue zum Nachteil der Kinder unnötige Hürden auf. Die niedrige Zahl der aktuell gestellten Anträge beweise dies, so Siggelkow.
Alexander Budweg
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Nach den Anschlagsversuchen in den USA: Trump nutzt die Gunst der Stunde - taz.de
Nach den Anschlagsversuchen in den USA: Trump nutzt die Gunst der Stunde Nach den Bombenfunden wird ein Verdächtiger des Mordversuchs angeklagt. Eine Aussage hat er bislang nicht gemacht. Trump fühlt sich bestätigt. Auf der Suche nach Beweisen am Tatort Foto: ap NEW YORK taz | Punkt 7 Uhr 57 ging bei Millionen von Mobiltelefonen in New York und auf der anderen Seite des Hudson River in New Jersey derselbe schrille Alarm los. „WANTED“ stand in der SMS, die überall gleichzeitig ankam, gefolgt von der Aufforderung, das Foto des flüchtigen Ahmad K. R. in den Medien zu suchen und Informationen über seinen Aufenthaltsort bei dem Notruf 911 zu melden. Zwei Stunden später lag der mutmaßliche Bombenleger mit Schusswunden in Schulter und Bein auf einer Bahre. Ein Geschäftsmann in Linden, New Jersey, hatte ihn schlafend im Eingang seiner Bar gesehen und die Polizei verständigt. Die Ermittler gehen fürs Erste davon aus, dass der 28-jährige US-Amerikaner ein Einzeltäter ist. Bei der Fahndung wurde erstmals das nationale Warnsystem „Wireless Emergency Alert“ eingesetzt, um Mobiltelefonbesitzer zu Helfern der Polizei bei der Suche nach einem mutmaßlichen Bombenleger zu machen. Zuvor wurde das System für die Suche nach entführten Kindern und Sturmwarnungen genutzt. R., der nun im Krankenhaus liegt und wegen versuchten Mordes von Polizisten (bei der Schießerei, die zu seiner Verhaftung führte) angeklagt ist und den Ermittlern zufolge noch keine Aussage gemacht hat, war den Terrorismusexperten bislang unbekannt. Er war in den vergangenen Jahren mehrfach nach Afghanistan und Pakistan gereist, und hatte dort eine Frau geheiratet, die er mit in die USA brachte und die am Montag auf dem Rückflug beim Zwischenhalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten festgenommen wurde. Den US-Ermittlern war R. nur durch häusliche Gewalt aufgefallen. Auffällig durch häusliche Gewalt Einmal verschwand er für drei Monate im Gefängnis, weil er einer Schwester eine Stichwunde am Bein zugefügt haben soll. Die Schwester zog ihre Klage später zurück. Ein andermal verbot die Polizei ihm jeden Kontakt zu einer Frau, mit der er in seiner Schulzeit eine Beziehung hatte. Ahmad K. R. kam neun Jahre nach dem Beginn der sowjetischen Invasion in Afghanistan von 1979 zur Welt und zog 1995 in die USA, wo seine Eltern Asyl bekamen. 2002 eröffnete sein Vater in Elizabeth, New Jersey, die Hühnchenbräterei „First American Chicken“, wo auch er arbeitete. Bei der Fahndung wurden erstmals Mobiltelefonbesitzer mobilisiert Die Machart der Bomben, die am Wochenende an drei Orten in New Jersey und zwei Stellen in New York City deponiert worden waren und von denen die meisten rechtzeitig entschärft werden konnten, zeigt Expertise. Es ist unklar, ob die Anleitung aus dem Internet stammt oder aus einer Schulung in Zentralasien. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump betrachtet die Anschläge als „Beweis“ für die Richtigkeit seiner Forderung, einen Einwanderungsstopp für Menschen aus Ländern mit „terroristischer Geschichte“ – darunter Afghanistan, Pakistan und Syrien – zu verhängen und die Kontrollen für alle Einwanderer zu verschärfen. Eine Woche vor seiner ersten TV-Debatte mit Hillary Clinton attackiert Trump die Demokratin wegen „Versagens“ beim Antiterrorkampf und bei der Einwanderungspolitik. Umgekehrt nennt sie ihn einen „Sergeant für den IS“.
Dorothea Hahn
Nach den Bombenfunden wird ein Verdächtiger des Mordversuchs angeklagt. Eine Aussage hat er bislang nicht gemacht. Trump fühlt sich bestätigt.
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Die Wahrheit: Sommerwänste - taz.de
Die Wahrheit: Sommerwänste Tagebuch einer Hinguckerin: Einer Flaneurin kann in einer Stadt wie Berlin das ästhetische Phänomen der freigelegten Männerwampe nicht entgehen. Sommer in Berlin. Zuerst die guten Nachrichten: Ich habe in einer Südseitenwohnung eine Woche bei 33 Grad überlebt, mein Keller ist bei mehreren Wolkenbrüchen nicht vollgelaufen, und René Pollesch übernimmt als Intendant die Berliner Volksbühne. Jetzt die schlechten: Die Temperaturen liegen dauerhaft im Schmorbereich, und ich darf auf der Straße weiter Männerplauzen bewundern. Leider erwischen einen die Attacken auf das persönliche ästhetische Empfinden ja immer unvorbereitet. Hitzeblöd und nichts Böses denkend döst man vor irgendeinem Café, fröhlich plaudernde Damen schütteln hüftschwingend ihren Speck an einem vorbei, die Stoffe ihrer blumengemusterten Sommerkleider wie freundliche Sommerwiesen über Körperfalten wogend. Kaum sind sie außer Sicht, beginnt die Parade des Grauens, auf jede zweite Passantin kommt nämlich mindestens ein prall geblähter Männerwanst, bei dessen Detonation man nicht dabei sein möchte. Das Irre ist, dass sich sein Besitzer offenbar im Glauben befindet, mit seinem Anblick die Menschheit, vermutlich gar die Damenwelt zu beglücken, anders ist das selbstbewusst durchgedrückte Kreuz, mit dem er seinen Bier- und Currywursttank breitbeinig vor sich herschiebt, nicht zu erklären. Wie so oft wird „Be Berlin“ mal wieder gründlich missverstanden. Denn wie man als leidgeprüfte Flaneurin weiß, steht ausgerechnet bei Plauzenbesitzern der „Wife Beater“ – das in den USA treffend als „Frauenprügler“ bekannte ärmellose Unterhemd – besonders hoch im Kurs. Nach einem langen Leben unter anderem an sehr heißen Orten darf ich behaupten, dass dieser Anschlag auf die Sinne – optisch wie olfaktorisch – nirgendwo so verbreitet ist wie in Berlin. Schweißfleckig spannt Stoff über bis zum Platzen gespannten Medizinballwampen und gibt angestrengter Dehnung zum Trotz haarige Streifen zwischen Nabel und knapp überm Schamhaar abschließenden Hosenbund frei. Als Zugabe erhält die gequälte Betrachterin rückseitig Einblick in bleiche Gesäßspalten, der „Wife Beater“-Träger mag es nämlich wie beim Auto gern tiefergelegt. Just in dem Moment, in dem sich zaghaft die innere Political-Correctness-Warnanlage meldet und „Achtung, Achtung! Sie betreiben Bodyshaming!“ zirpt, naht wie eine Fata Morgana im Hitzedunst die Rettung. Das bläulichweiße Haar sorgsam onduliert und von einer sommerlichen Spitzenwolke in Form eines Blüschens umweht, spaziert eine Gestalt aufrecht auf mich zu. Glänzendes Geschmeide ziert die Ohren, dezenter Lippenstift den Mund. Die Blicke begegnen sich, man äußert spontan Bewunderung für diese Wohltat auf zwei Beinen. „Ja“, erwidert die Erscheinung lächelnd, „87 Jahre. Aber das mit der Eitelkeit hört ja nie auf.“ Wehmütig folgt ihr der Blick, während sie zwischen Unterhemden und Schlabbershorts im Hitzedunst entschwebt. Möge sie hundert Jahre alt werden und zahlreiche Enkelinnen haben, die alle so sind wie sie! Die Wahrheit auf taz.de
Pia Frankenberg
Tagebuch einer Hinguckerin: Einer Flaneurin kann in einer Stadt wie Berlin das ästhetische Phänomen der freigelegten Männerwampe nicht entgehen.
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Kifferkneipen sollen rauchfrei sein - taz.de
Kifferkneipen sollen rauchfrei sein VON HENK RAIJER Cannabisfans von Rhein und Ruhr könnten bald buchstäblich auf der Straße stehen. Wenn es nach Ab Klink, Hollands neuem Gesundheitsminister, geht, soll mit Einführung des Rauchverbots in Gaststätten der Qualmerei auch in den Coffeeshops zwischen Nijmegen und Maastricht der Garaus gemacht werden. Der Christdemokrat verblüffte nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt sogar Parteifreunde mit der Ankündigung, er wolle nicht nur das für Januar 2009 geplante Rauchverbot in Restaurants, Kneipen, Cafés und Diskos um ein Jahr vorziehen, sondern auch gleich das Kiffen in den eigens dafür vorgesehenen und geduldeten Etablissements des Landes verbieten. Um einen für alle Gaststätten verbindlichen rauchfreien Arbeitsplatz durchzusetzen, sei es unumgänglich, so der Minister jüngst im Kabinett, das Rauchen in Coffeeshops per Gesetz zu stoppen. Klink will diese künftig nur noch als „Abholstützpunkte“ zulassen. Ein Rauchverbot für Kifferhöhlen? Marihuana und Haschisch künftig nur noch am Kiosk? Das entlarvt sogar die rechtsliberale Opposition im Haager Parlament als widersinnig. „Ein Rauchverbot in Kifferkneipen ist wie ein Alkoholverbot für Biergärten“, schoss die VVD gegen den Gesundheitsminister. Die holländischen Grünen, die umgehend eine Eildebatte im Parlament forderten, sehen gar die Grundpfeiler der niederländischen Drogenpolitik in Gefahr. „Die Idee ist doch, dass die Leute ihren Stoff im Coffeeshop kaufen und an Ort und Stelle konsumieren“, sagt GroenLinks-Politiker Kees Vendrik. „Wenn das nicht mehr möglich sein sollte, haben wir Handel und Konsum wieder genau dort, wo sie früher mal waren und wir sie nicht mehr haben wollen: in der Illegalität und auf der Straße.“ Ärger auf der Straße Der Verdacht, wonach die regierenden Christdemokraten das allgemeine Rauchverbot als Hebel nutzen könnten, um auf einen Schlag alle Coffeeshops loszuwerden, ist nicht ganz abwegig. Den meisten Konservativen im Lande wie auch Kritikern im europäischen Ausland ist die liberale Drogenpolitik der Niederlande schon lange ein Dorn im Auge. Der Verkauf von Cannabis ist in den Niederlanden nicht legal, sondern wird aus Gesundheitserwägungen und mit Rücksicht auf die öffentliche Ordnung unter strengen Auflagen geduldet. Fünf Gramm pro Tag ist die zulässige Menge, die ein volljähriger Käufer für den eigenen Gebrauch in einem Coffeeshop, in dem er eingetragenes Mitglied ist, erwerben kann. Ob er den Stoff mitnimmt oder gleich im Laden seinen Joint raucht, ist egal. Dass der Coffeeshop durch die Hintertür mit großen, unkontrollierbaren Mengen beliefert wird, ist ein Widerspruch, mit dem Hollands Behörden offenbar leben können. Die „holländische Linie“ hat als Ziel, den Konsum weicher Drogen zu entkriminalisieren, der Vermischung der Drogenmärkte entgegenzuwirken und eine Störung der öffentlichen Ordnung durch den Straßenhandel zu verhindern. Diese Praxis hat sich seit Jahren bewährt und ermöglicht Cannabisfans auch aus dem benachbarten NRW, ihren Joint im repressionsfreien Raum zu genießen. Kann es da wünschenswert sein, dass ein allgemeines Rauchverbot die Errungenschaften einer erfolgreichen Drogenpolitik untergräbt? Diese Frage stellen sich nicht nur die oppositionellen Grünen. Auch bei den Sozialdemokraten (PvdA), immerhin Koalitionspartner in Hollands neuer Mitte-Rechts-Regierung, will angesichts des Vorhabens des Gesundheitsministers keine rechte Freude aufkommen. Klinks Kabinettskollegin, Innenministerin Ter Horst (PvdA), hatte noch Tage zuvor öffentlich erklärt, „dass wir in den Niederlanden mit den Coffeeshops ordnungspolitisch eine Einrichtung dulden, die wir bestens im Griff haben“. Das finden auch die für die Kontrolle der „legalen“ Dealer Verantwortlichen vor Ort. „Wir sind mit unserer Coffeeshop-Politik sehr zufrieden“, sagt etwa Ab Klinks christdemokratischer Parteifreund Hubert Bruls, Bürgermeister der grenznahen Stadt Venlo. Die Stadt versorgt Tag für Tag bis zu 4.000 Drogentouristen aus Deutschland mit Stoff. Venlo hat vor gut zwei Jahren nach Beschwerden über Lärmbelästigung und Kriminalität in der Innenstadt den überwiegenden Teil des Cannabisverkaufs an die Peripherie verlegt und so die Kundschaft weitestgehend ruhig gestellt. „Oase“ nennt sich das Kifferparadies am ehemaligen Grenzübergang Schwanenhaus. „Wir wollen nicht, dass die jungen Leute in der Öffentlichkeit rauchen, das haben wir durch die Duldung der Coffeeshops doch gerade unterbinden wollen“, sagt Bruls. „Sollte der Minister mit dem geplanten Rauchverbot in Coffeeshops durchkommen, mache ich mir ernsthaft Sorgen, dass wir hier in Venlo die Konsumenten bald wieder auf der Straße haben. Und dort machen sie nur Ärger. Mal abgesehen davon, dass Kiffen im öffentlichen Raum gesetzlich untersagt ist.“ „Uhr wird zurückgedreht“ Hans Josef Kampe glaubt nicht, dass die Initiative des Gesundheitsministers eine Chance hat. „Die Oase in Venlo wäre dann ja nur noch ein Supermarkt“, sagt der Geschäftsführer des CDU-Kreisverbandes Viersen. „Das wäre die Stunde der leider immer noch aktiven illegalen Dealer, und dieser Sumpf ist weitaus schlechter zu kontrollieren als die geduldeten Coffeeshops“, sagt Kampe, der zugleich Vorsitzender der Drogenberatung der Stadt am Niederrhein ist. Obwohl er kein Anhänger der holländischen Drogenpolitik sei und ein entsprechendes Verbot im Prinzip begrüßen würde, habe er, so Kampe, vollstes Verständnis für die Nöte des Venloer Bürgermeisters. „Der Druck auf Venlo ist groß“, so Kampe. Die Stadt bemühe sich, wieder attraktiver zu werden für die täglich tausenden von Einkaufstouristen aus dem Nachbarland. „Unkontrollierter Drogenkonsum im Freien, häufig auch durch Minderjährige aus unserer Region, bringt mit Sicherheit Probleme und ruft nur mehr Polizei auf den Plan.“ Für Coffeeshop-Betreiber im grenznahen Gebiet steht fest: Die Konservativen in Regierung und Stadtverwaltungen wollen sie vom Hals haben. „Denen geht es doch gar nicht um Arbeitnehmerschutz, wie sie vorgeben“, empört sich etwa der Inhaber eines Drogencafés in Maastricht. „Hier soll die Uhr zurückgedreht und unser erfolgreiches Modell EU-Richtlinien geopfert werden“, sagt der Unternehmer, der nicht namentlich genannt werden möchte. Jederzeit könne ihm der Bürgermeister den Laden dichtmachen, sagt er. Das passiere jedem, der gegen die strengen Auflagen verstößt, auf die sich Stadtverwaltung und Coffeeshopbetreiber in Maastricht geeinigt haben. Der geringste Verstoß, wie etwa der Verkauf an Minderjährige, weswegen jüngst gegen das Coffeeshopschiff Mississippi ein dreimonatiges Verkaufsverbot verhängt wurde, führe zum Entzug der Lizenz. Der Maastrichter Kaufmann hofft nun auf die Koalition der Vernünftigen im Parlament. Die Volksvertreter haben bereits mehrheitlich signalisiert, dass sie eine Ausnahmeregelung für Coffeeshops favorisieren.
HENK RAIJER
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Nach rassistischer Attacke auf Frauen: Geldstrafe für AfD-Politiker - taz.de
Nach rassistischer Attacke auf Frauen: Geldstrafe für AfD-Politiker Kai Borrmann wurde wegen Beleidigung und einer Beißattacke verurteilt. Er ist Partner der Soziologin Koppetsch, die als AfD-Erklärerin gilt. Stand wegen rassistischer Beleidigung und Angriff vor Gericht: AfD-Politiker Kai Borrmann Foto: Marion van der Kraats/dpa BERLIN taz | Der AfD-Kommunalpolitiker Kai Borrmann entschuldigte sich nicht. Dem Angeklagten steht in einem Gerichtsverfahren das letzte Wort vor dem Urteil zu, aber der 56-Jährige nutzte die Gelegenheit nicht, um Reue zu zeigen oder um Vergebung zu bitten – obwohl er davor sogar ein Teilgeständnis abgelegt hatte. Am Dienstag hatte er am dritten Prozesstag am Amtsgericht Tiergarten unter erdrückender Beweislast schließlich zugegeben, dass er sein Opfer im August 2021 beleidigt habe. Anlass für eine Entschuldigung war das für ihn aber noch immer nicht. Stattdessen hielt Borrmann einen schier endlosen Vortrag, in dem er sich selbst als Opfer inszenierte und die Einlassung der Nebenklage „unfair“ nannte, die ihm mangelnde Reue attestierte und im Plädoyer eine Freiheitsstrafe gefordert hatte. Borrmann, 56-jähriger Bezirksverordneter in Berlin-Mitte, beklagte, dass der Prozess auch für ihn belastend gewesen sei, und holte dann in AfD-Manier zum Rundumschlag gegen die Presse aus. Borrmann sagte: „Das ist wirklich niederträchtig, was die Medien hier treiben.“ Sie hätten seine Lebensgefährtin, die bekannte Soziologin Cornelia Koppetsch, in den Fall mit hineingezogen. Und die müsse sich ohnehin schon mit Plagiatsvorwürfen herumschlagen; der Prozess und die Öffentlichkeit belaste auch sein privates Verhältnis zu seiner Partnerin. Dass letztlich sein eigenes übergriffiges Verhalten zum Prozess geführt hatte, ließ Borrmann unter den Tisch fallen. Und behauptete stattdessen, dass er kein aggressiver Rassist sei. Das Gericht sah das Gegenteil als erwiesen an: Die Richterin verurteilte Kai Borrmann zu 180 Tagessätzen à 60 Euro wegen rassistischer Beleidigung und gefährlicher Körperverletzung. Borrmann muss die Kosten des Verfahrens und die der Nebenklägerin tragen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Borrmann sich bei einem gemeinsamen Kneipenbesuch mit seiner Partnerin in das Gespräch am Nebentisch einmischte. Dabei habe er der jüngeren Gruppe nebenan erklären wollen, wer schwarz sei und wer nicht, und habe darauf bestanden, das N-Wort zu sagen. Nebenklägerin bricht in Tränen aus In der folgenden Auseinandersetzung beschimpfte er vor allem die Musikjournalistin Steph Karl und ihre Freundin mehrfach mit dem N-Wort – auch nachdem diese fluchtartig das Lokal verlassen hatten. Borrmann beschimpfte sie danach auf der Straße weiter. Selbst nachdem Karl in Tränen ausgebrochen war, rief er: „N****! Heult doch, ihr N****“, und kam mit seinem Gesicht ganz dicht an die Betroffene, um das N-Wort zu wiederholen, wie die Richterin schilderte. Daraufhin habe Karl sich Platz mit den Armen verschaffen wollen, wobei Borrmanns Hut auf die Straße gefallen sei. Dann habe Borrmann zugeschlagen und Karl in den Schwitzkasten genommen, woraufhin Karls Freundin eingegriffen und beide zu Boden gebracht habe. Im folgenden Ringen am Boden habe Karl wiederum Borrmann in den Schwitzkasten genommen. Daraufhin habe dieser kräftig in ihren Oberarm gebissen. Die Wunde von Karl verheilte erst Monate danach, sei ein Jahr lang sichtbar gewesen. Sie habe danach unter Flashbacks gelitten, sich nicht mehr vor die Tür getraut, Schlafstörungen und Angst gehabt. Als die Richterin den Tathergang und das N-Wort wiederholte, brach Karl in Tränen aus. Zu Borrmann direkt sagte die Richterin: „Sie wollten sie kränken, herabwürdigen“ und legte ihm nahe, über das Urteil zu reflektieren und sich mit seinem Vergehen auseinander zu setzen. Borrmann muss insgesamt 10.800 Euro zahlen und ist damit vorbestraft. Alle Beteiligten können gegen das Urteil binnen einer Woche Berufung und Revision einlegen. Berühmte Soziologin Koppetsch wenig glaubwürdig Das Gericht stützte sich in der Darstellung des Tathergangs auf mehrere glaubwürdige Zeugenaussagen auch Unbeteiligter. Als wenig glaubhaft eingestuft hat sie hingegen die Aussage von Borrmanns Partnerin Koppetsch. Ihre entlastenden Aussagen seien lückenhaft, unergiebig und „in Teilen fragwürdig“ gewesen. Koppetsch hatte ausgesagt, dass Borrmann lediglich das N-Wort benutzt habe, um einen „abstrakten akademischen Diskurs“ über Hautfarben zu führen, habe dann die weitere Auseinandersetzung nicht mehr mitbekommen, weil sie mit dem Fahrrad vorgefahren sei. Ihre schuldumkehrende „Theorie“ sei es, dass seine erwähnte AfD-Mitgliedschaft zur Aggression geführt habe. Im politischen Feuilleton galt die Soziologin Koppetsch bisher als so etwas wie eine Rechtspopulismus-Versteherin. Erst im Zuge des Prozesses gegen Borrmann ist öffentlich geworden, dass die 55-jährige Soziologin von der TU Darmstadt mit einem AfD-Politiker liiert ist. Insbesondere deswegen wirft das Urteil nicht nur im politischen Feuilleton und der Soziologie nun die Frage auf, inwiefern Koppetschs „Konzept“ der „theoriegeleiteten Empirie“ und ihren Darstellungen nicht vielmehr auch ein inhaltliches Einverständnis, Apologetik und zu große Nähe innewohnt. Mit Plagiatsvorwürfen schlägt sich die Wissenschaftlerin überdies schon länger herum. Darüber hinaus wirft der Prozess aber auch ein Schlaglicht auf die medial weitgehend unkritische Verbreitung von Koppetschs Positionen und ihrer viel gefeierten Schriften. Rückblickend vielsagend ist auch eine Danksagung in ihrem viel gelobten Buch „Die Gesellschaft des Zorns“. Darin bedankte sich Koppetsch gar ausdrücklich bei ihrem „Lebensgefährten Kai“, der „den Stoff immer wieder mit mir diskutiert und weiterentwickelt“ habe. Weniger dankbar dürfte Koppetsch ihrem Mann nun wiederum für die mit dem Prozess verbundene Aufmerksamkeit sein. Eine seltsame Koinzidenz ist dabei wohl, dass das Urteil auf den Valentinstag fiel. „Ich muss erst mal klarkommen“ Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung gefordert, die Nebenklägerin Karl eine einjährige Freiheitsstrafe. Ob sie Berufung oder Revision einlegen werden, sei noch unklar, sagte die Verteidigung nach dem Urteil. Das Opfer von Borrmann wiederum war nach der Urteilsverkündung froh, dass der Prozess endlich vorbei war. Nicht nur aufgrund der Tränen war der Nebenklägerin Karl anzusehen, dass ihr der Prozess schwerfiel. Danach wirkte sie erleichtert und umarmte Freund*innen, die sie zu Gericht begleitet hatten. Sie habe sich das alles angetan, damit Borrmann vorbestraft sei und niemand anderes jemals wieder so etwas von ihm erleben müsse, sagte Karl. Sie hätte sich zwar eine höhere Strafe gewünscht, aber sei immerhin froh, dass Borrmann nun vorbestraft sei – was sich erschwerend auswirke, wenn er zum Wiederholungstäter werde. „Ich muss erstmal alles sacken lassen und klarkommen psychologisch“, sagte Karl, „ich bin froh, dass ich ihn nicht mehr sehen muss.“
Gareth Joswig
Kai Borrmann wurde wegen Beleidigung und einer Beißattacke verurteilt. Er ist Partner der Soziologin Koppetsch, die als AfD-Erklärerin gilt.
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Sanierung von Wäldern im Rheinland: Bäume fällen, um Wald zu retten - taz.de
Sanierung von Wäldern im Rheinland: Bäume fällen, um Wald zu retten Der Klimawandel gefährdet das Rheintal: Die Dürre rafft viele Buchen dahin. Damit sie nicht andere Bäume in die Tiefe reißen, werden sie gefällt. Sicherung der Steilhänge durch natürliche Terrassierung der Steilhänge mit Tothölzern und Biomasse Foto: Johannes Nass BOPPARD taz | „Stopp – Forstarbeiten – Lebensgefahr!“ Ein Banner zwischen zwei Bäumen versperrt den Zugang zu dem Forstcamp im „Brandswald“ der Gemarkung Holzfeld, hoch über dem Rheintal bei Boppard. Zehn Meter weiter beginnt die Abrisskante. Dort geht es unvermittelt bergab. Die extrem steilen Hänge des Mittelrheins, die der Fluss in Jahrmillionen in das Rheinische Schiefergebirge eingeschnitten hat, werden hier vom Niederwald zusammengehalten, von Krüppeleichen, Gebüsch und Sträuchern. Noch. Durch die extrem trockenen Sommer und den Klimawandel steht dieser Wald auf der Kippe. Axel Henke, Leiter des zuständigen Forstamts Boppard, spricht von einer „tickenden Zeitbombe“. Nahezu alle Buchen, darunter 30 Meter hohe Baumriesen, sind bereits abgestorben. Sie drohen bei Wind oder Starkregen umzufallen und Erde, Geröll und andere Bäume mit ins Tal zu reißen. An diesem trüben Morgen wird der Verkehrslärm aus dem Rheintal vom Nebel verschluckt. Doch in 100 Meter Tiefe verlaufen hier wichtige Bahn- und Straßenverbindungen. Das Team von Landesforsten Rheinland-Pfalz versucht, mit Unterstützung von ExpertInnen der Universität Freiburg und einer Spezialfirma in einem Pilotprojekt diesen Wald zu sichern. Es scheint paradox. Um ihn zu erhalten, müssen zunächst in großem Stil Bäume gefällt werden. 150.000 Hektar in kritischem Zustand Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden die „Niederwälder“ an den Hängen der Flusstäler in dieser Gegend genutzt und dadurch gleichzeitig gepflegt. Regelmäßig wurde Holz entnommen, bis zum Baumstumpf, „auf den Stock“ geschlagen“. So wuchsen keine Baumriesen, der Wald blieb Niederwald. Axel Henke, Leiter Forstamt Boppard„Weder die kommunalen noch die privaten Waldbesitzer werden den Aufwand finanzieren können“ Die meisten großen Bäume jedoch, die inzwischen gewachsen sind, weil sich die aufwendige forstliche Nutzung für die Waldbesitzer nicht mehr lohnte, sind infolge von Trockenheit und Erwärmung abgestorben und werden jetzt zur Gefahr. Die Wurzelbasis ist klein, die große Biomasse bringt den Baum aus dem Gleichgewicht. Die schweren Kronen neigen sich oft talwärts. Die Bäume gelten nicht mehr als „verkehrssicher“. 150.000 Hektar solcher Niederwälder in kritischem Zustand haben die Experten von Uni und Landesforsten identifiziert. Hier, am Hang über Rheinkilometer 560 und 561, wird in einem Pilotprojekt erprobt, wie ein solcher Wald saniert, gesichert und neu aufgeforstet werden kann. Arbeit an Hängen gefährlich Zwei Bergungsteams arbeiten an diesem Tag, eins unten im Hang und ein zweites oben an der Abrisskante, 100 Meter über dem Tal. Von oben sind die Arbeiten unten nicht einsehbar, eine der vielen spärlich bewaldeten Felskuppen versperrt die Sicht. Im Tal, an den auslaufenden Hängen, stehen die größten Baumleichen. Manche fallen bereits, wenn man an ihnen mit Seilwinden rüttelt, berichtet der Projektleiter. Die Arbeit an diesen Hängen mit bis zu 90 Prozent Gefälle ist schwer und gefährlich. Während der Arbeiten ist der Bahnverkehr im Tal zwischen Oberwesel und Boppard eingestellt. Die Männer mit ihren Motorsägen sind zu ihrer Sicherheit angeseilt. Auch die Bäume werden mit Seilen fixiert, bevor die Sägen zum Einsatz kommen. Sie sollen kontrolliert fallen, möglichst quer zum Hang. Ihre Baumstümpfe bleiben stehen, wo immer möglich. Auch die Wurzeln der abgestorbenen Bäume tragen noch zur Sicherung der Böden bei. Quer zum Hang werden Stämme und Äste abgelegt, die Baumstümpfe sichern sie gegen das Abrutschen. Im Idealfall entstehen so natürliche Terrassen, an denen sich Biomasse sammeln und zu Humus werden kann. Mit den Baumfällarbeiten musste bis zum Ende der Vegetationsperiode gewartet werden, nicht nur wegen brütender Vögel. „Die Arbeiten wären noch viel gefährlicher, wenn die Bäume ihr Laub nicht verloren hätten, mit Blattwerk geraten sie noch viel leichter ins Rutschen“, sagt Forstamtsleiter Henke. Wasserrinnen müssen frei bleiben Zur Vorbereitung der Aktion wurde jeder einzelne Baum in diesem Abschnitt kartiert und markiert. Die mit grünen Strichen müssen fallen, weil sie tot oder talwärts geneigt sind. Gerade gewachsene und gesunde Bäume erhalten einen weißen Kringel; sie bleiben stehen, gleichsam als Sicherheitsanker. „Manchmal entdecken wir im Gelände Reste von Trockenmauern, mit denen unsere Vorfahren die Hänge terrassiert und so gesichert haben“, berichtet Henke und fügt hinzu. „Unsere Vorfahren wussten, was sie da machten. Es ist schade, dass dieses Wissen so schnell verloren gehen konnte.“ Die Wasserrinnen müssen frei bleiben, damit das Regenwasser ablaufen kann. Ein Teil der gefällten Bäume kann deshalb nicht vor Ort bleiben. Diese überzähligen Baumstämme werden aufwendig mit einer Seilbahn auf einem Schlitten in die Höhe gezogen. Das auf solche Forstarbeiten spezialisierte Unternehmen Marco Susenberg hat eine Seilbahn eingerichtet. Ein fixierter Seilkran bildet die Bergstation auf der Höhe. Ein zweiter Kranwagen mit Seilwinde übernimmt das geborgene Material und legt es auf dem Holzplatz ab. Gleich daneben, in einer Baumschule, mit einem Bretterzaun vor Wildverbiss gesichert, wächst die Hoffnung für die Zukunft: Setzlinge von Flaum- und Zerreichen, die gegen Hitze und Trockenheit resistenter sind als Buchen und Linden. Nach Abschluss der Baumfällarbeiten sollen auf dem Kamm 200 kleine Bäume gepflanzt werden, auch mediterrane Steineichen. Wenn sie angewachsen sind, sollen ihre Samen im Tal Wurzeln ziehen und zu Bäumen heranwachsen, die der Trockenheit trotzen. Auf fünf Hektar sammeln die ExpertInnen hier Erfahrungen, die bei der Sicherung großer, von der Trockenheit bedrohter Waldflächen nützen können. Das Problem: „Weder die kommunalen noch die privaten Waldbesitzer werden den erheblichen Aufwand dafür finanzieren können“, fürchtet Forstamtsleiter Enke. „Es werden öffentliche Förderprogramme nötig sein, um diese Waldflächen dauerhaft zu sichern“, sagt er der taz und fügt bedauernd hinzu: „Wir müssen uns wohl leider von den Wäldern mit ihren 30 Meter hohen Buchen verabschieden. Das ist deprimierend.“
Christoph Schmidt-Lunau
Der Klimawandel gefährdet das Rheintal: Die Dürre rafft viele Buchen dahin. Damit sie nicht andere Bäume in die Tiefe reißen, werden sie gefällt.
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G20-Prozess in Hamburg: Mit­gefangen, mitgehangen - taz.de
G20-Prozess in Hamburg: Mit­gefangen, mitgehangen Mit dem „Rondenbarg-Verfahren“ beginnt der letzte große Gerichtskomplex um die Hamburger G20-Proteste. Einige der Angeklagten sind Minderjährige. Transparent bei einer Solidaritätsaktion für die Angeklagten im „Rondenbarg-Verfahren“ Foto: Boillot HAMBURG taz | Die juristische Aufarbeitung der Ausschreitungen rund um den Hamburger G20-Gipfel im Juli 2017 steuert auf ihr vorläufiges Finale zu. Während sich noch immer kein einziger Beamter, keine Beamtin wegen Polizeigewalt vor Gericht verantworten musste, beginnt im vierten Jahr nach dem Treffen der Staatschefs voraussichtlich am 3. Dezember ein Verfahrenskomplex, in dem insgesamt 75 Personen angeklagt sind: der Komplex Rondenbarg. 19 Angeklagte waren zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Taten jünger als 21 Jahre, die ersten fünf von ihnen – zwei Männer und drei Frauen, die während des G20-Gipfels 16 oder 17 Jahre alt waren – müssen sich nun vor dem Hamburger Landgericht verantworten. Aufgrund ihres Alters wird die Öffentlichkeit vermutlich vom Verfahren ausgeschlossen werden. Am Morgen des 7. Juli 2017 waren in der Straße Rondenbarg in einem Gewerbegebiet in Hamburg-Bahrenfeld etwa 150 bis 200 überwiegend dunkel gekleidete und bis dahin weitgehend friedlich demonstrierende DemonstrantInnen von einer Hundertschaft der berühmt-berüchtigten Bundespolizeieinheit Blumberg ohne erkennbaren Grund gestoppt worden. Die Polizeivideos zeigen, dass etwa ein Dutzend Steine und auch Leuchtmunition in Richtung der sich im Laufschritt nähernden Polizeihundertschaft geschleudert wurden. Doch keines der Geschosse traf, kein Polizist wurde verletzt. Ohne Schilder und Schlagstöcke waren die BundespolizistInnen auf die DemonstrantInnen zugestürmt, um sie mit bloßen Händen gewaltsam zu Boden zu bringen. Bei den nicht gerade zimperlich verlaufenden und willkürlich wirkenden Festnahmen wurden elf DemonstrantInnen schwer verletzt. „Zur Rechtfertigung der Maßnahme“, so kann man in dem Polizeivideo vernehmen, wurden neben den herumliegenden Steinen und der Leuchtmunition auch alle Gegenstände, mit denen man theoretisch Gewalt ausüben könnte, gesichert und bald darauf der Öffentlichkeit präsentiert. Keines der Geschosse traf, kein Polizist wurde verletzt Keiner der fünf Jungerwachsenen, die ab kommenden Monat auf der Anklagebank des Landgerichts Platz nehmen werden, kommt aus Hamburg. Ihre Wohnorte sind über die gesamte Republik verteilt, drei von ihnen wohnen mehr als 500 Kilometer entfernt. Entgegen dem eigentlich bindenden Wohnortprinzip, das dafür sorgen soll, dass heranwachsende Beschuldigte nicht aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen werden, wird den Angeklagten nicht an ihrem Heimatgericht, sondern an dem für den Tatort zuständigen Gericht der Prozess gemacht, der vermutlich rund ein Jahr dauern wird. Für die Angeklagten wird es aufgrund der wöchentlich anberaumten Termine fast unmöglich sein, ihre jeweilige Ausbildung geordnet fortzusetzen. In ihrer Anklage setzt die Staatsanwaltschaft darauf, dass sämtliche DemoteilnehmerInnen für alle aus dem Aufzug heraus verübten Straftaten juristisch verantwortlich seien. Demnach sollen „alle Beschuldigten durch dieselbe Handlung gemeinschaftlich“ schweren Landfriedensbruch und versuchte gefährliche Körperverletzung begangen haben, daneben auch Sachbeschädigung und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Dabei ist es den Ermittlern in ihrer Beweisführung egal, welche*r Angeklagte einen Stein geworfen hat und welche*r nicht. Sie geht davon aus, dass alle DemonstrantInnen einen „gemeinsamen Tatplan“ gehabt hätten, der die angeklagten Straftaten beinhaltet habe. Wer nicht selbst einen Stein geworfen habe – so die staatsanwaltschaftliche Konstruktion –, habe den anderen „psychische Beihilfe“ geleistet – der gemeinsame Tatplan sei so arbeitsteilig umgesetzt worden. Dass anders als im G20-Verfahren um die Vorfälle an der Elbchaussee, wo vermummte DemonstrantInnen Autos in Brand setzten und Scheiben klirren ließen, am Rondenbarg kein nennenswerter Sach- und erst recht kein Personenschaden entstand, interessiert die Staatsanwaltschaft dabei nicht. Sie versucht Rechtsgeschichte zu schreiben. Die Staatanwaltschaft will Rechtsgeschichte schreiben Setzt sie sich mit ihrer Rechtsauffassung durch, könnte zukünftig jede*r, der oder die an einer Demo teilgenommen hat, aus der heraus Straftaten begangen wurden, für alle Ausschreitungen rechtlich verantwortlich gemacht werden, selbst wenn er oder sie an diesen nachweislich nicht beteiligt war. Die Devise lautet: Mitgegangen – mitgefangen – mitgehangen. Die bisherige auch vom Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte Rechtsprechung zielt hingegen darauf ab, bei Demonstrationen friedliche ProtestlerInnen und aktive GewalttäterInnen säuberlich voneinander zu trennen. Hamburgs Staatsanwaltschaft legt es hingegen darauf an, Spreu und Weizen zu mischen, indem sie die G20-Versammlungen nicht als Demonstrationen einstuft, die unter die BGH-Rechtsprechung fallen. Stattdessen sollen die Versammlungen als geplante Zusammentreffen verstanden werden, bei denen alle TeilnehmerInnen das Ziel haben, gemeinsam Straftaten zu begehen. Im Elbchaussee-Verfahren scheiterte die Anklage weitgehend mit dieser Rechtsdeutung. Die Angeklagten, denen nicht vorgeworfen wurde, selbst Sachbeschädigungen begangen zu haben, verurteilte die Kammervorsitzende Anne Meier-Göring aufgrund ihrer Teilnahme an der gewalttätig verlaufenden Demonstration wegen Landfriedensbruch und der Beihilfe zu Brandstiftungen zu Strafen, die weit unter den Anträgen der AnklägerInnen blieben. Die Behauptung der StaatsanwältInnen, es habe einen gemeinsamen Tatplan gegeben, aufgrund dessen jede*r Demo-TeilnehmerIn für jede aus dem Zug heraus verübte Straftat verantwortlich sei, wies die Richterin entschieden zurück.
Marco Carini
Mit dem „Rondenbarg-Verfahren“ beginnt der letzte große Gerichtskomplex um die Hamburger G20-Proteste. Einige der Angeklagten sind Minderjährige.
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Hamburg, das Tor zum Universum - taz.de
Hamburg, das Tor zum Universum ■ Gestern begann in Hamburg mit Ethno und Eso der weltweite Qi Gong-Kongress Sonnenblumen am Rednerpult, ein zartrosa Kristallstein daneben, Regenbogenfarben-Spotlights von links und rechts, ein gelb-orange-roter Lichtkreis im Hintergrund. Bei der gestrigen Eröffnung des ersten, weltweiten Qi Gong-Kongresses im Auditorium der Hamburger Uni spricht das Ambiente für sich. Mindestens die Hälfte der gut 1000 anwesenden Qi Gong-Fans ist in erster Linie gekommen, um an der Qi-Übertragung mit speziellen Heilenergien teilzunehmen, die Professor Wei Ling Yi, Präsident der Qi Gong Universität in Sichuan (China) vornehmen will. Sie alle legen die Hände mit der Handfläche nach oben auf ihre Oberschenkel, schliessen die Augen, und vertrauen sich ihren Selbstheilkräften an: „Wenn zum Beispiel Ihr Blutdruck zu hoch ist, so sagen Sie sich autosuggestiv: er wird niedriger werden.“ Telepathisches Qi Gong. Die „Botschaft der Heilung für unsere Gesundheit und für den Weltfrieden“ wird untermalt von den gutturalen Tonexperimenten der schwarzen Soul-Sängerin Jocelyn B. Smith. Krista Sager, zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin, eröffnet den Kongress: „Warum sollte das Tor zur Welt Hamburg nicht auch Tor zum Universum sein?“ Die westliche Kultur habe keine Veranlassung zu „intellektueller Überheblichkeit“, betont Sager, „zumal sie den Zusammenhang von Geist, Energie und Materie nur wenig durchdrungen hat“. Das will der Kongress ändern: In fünf Tagen sollen die Grundlagen der unterschiedlichen Richtungen des Qi-Gong in wissenschaftlichen Vorträgen erörtert und in praktischen Übungen erlernt werden. Qi Gong, die 7000jährige Meditations-, Bewegungs-, und Atemtechnnik, findet sich in sämtlichen Lebensbereichen: vom Sport über Kunst und Architektur bis hin zur Medizin. Die Schirmherrin Monika Griefahn lässt sich wenigstens brieflich vertreten, und bezeichnet die Veranstaltungen als „wichtigen Baustein einer präventiven Sicherheitspolitik“. Qi Gong ist in seinem Ursprungsland China in den letzten 50 Jahren zur Massenbewegung avanciert. Li Zhi Nan, Vizedirektor der Qigong Science Society China, befürchtet, dass „das wahre Qi Gong“ durch das „falsche Qi Gong“ unseriöser, kommerzieller Scharlatane in Misskredit gerate. Die wissenschaftlich fundierten Grundlagen allerdings werden bei der Kongresseröffnung auch überlagert von dem bunten Mischmasch aus Eso, Ethno, Multikulti und Wunderheilung. Uta Caspary
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■ Ufo-Rausch in Spanien: Who the fuck is pathfinder?: Rush-hour am Himmel - taz.de
■ Ufo-Rausch in Spanien: Who the fuck is pathfinder?: Rush-hour am Himmel Was macht ein Weltraumfreak, dem die Panne beim Pathfinder den Samstagabend versaut hat? Er setzt sich auf den Balkon und hört Radio Onda Cero. Statt der immer gleichen Marsfotos, die das bis auf weiteres unbewegliche Pannenfahrzeug ans Internet liefert (http:/ /www.jpl.nasa.gov), sorgt der spanische Privatsender mit einer „Nacht der Ufo-Jäger“ für Abwechslung. 450 Teams suchen von Mitternacht bis fünf Uhr morgens den Himmel nach OVNIS, Nicht Indentifizierte Fliegenden Objekten, ab, von Teneriffa bis Barcelona, von Montevideo bis Miami. Die Sondertelefone in Madrid stehen nicht lange still. Bereits eine viertel Stunde vor Sendebeginn wollen die Ufo-Fans im nordspanischen Orense die ersten drei unbekannten Flugobjekte der Nacht gesichtet haben. Als „oval, mit rundumlaufenden Blinklichtern“, beschreibt sie ein aufgeregter Entdecker. In einer langgezogenen Flugbahn hätten sie den sternenklaren galizischen Nachthimmel durchflogen und seien dann am Horizont verschwunden. Nur wenig später will sie ein Hörer am anderen Ende des Landes, im 800 Kilometer entfernten andalusischen Huelva, erneut gesichtet haben. Juan Carlos in Valencia verständigte sich gar mit einem Ufo – einer Reihe von Lichtblitzen – per Morsezeichen aus seiner Taschenlampe. Die Beobachtergruppe auf der Urlaubsinsel Ibiza bekam es mit einem besonders schüchternen Exemplar zu tun. „Kaum hatten wir das ovale Objekt gesichtet, versteckte es sich hinter einer großen Klippe.“ Aus Tres Cantos, einem Vorort von Madrid, ruft Marcos an: „Ich habe hier Richtung Südosten einen 15 Zentimeter langen Lichtfleck am Himmel.“ – „Wieviel Grad über dem Horizont“, kommt die Frage aus dem Studio. „50“ – „Dann ist das vielleicht Jupiter.“ – „So groß?“ – „Stimmt, kann eigentlich nicht sein“, gesteht der Fachmann ein und gibt einen Ratschlag. „Nimm einen Stock, steck ihn in den Boden und peile, ob sich das Objekt langsam mit den Sternen bewegt. Wenn nicht, dann ruf uns wieder an.“ Bruno, Chef-Ufologe im Studio wird es plötzlich zuviel der Anrufe: „Ich bitte euch, Ruhe zu bewahren, sonst sehen wir vor lauter Aufregung Dinge, die nicht da sind. Das ist nicht Sinn der Sache.“ Es nutzt nichts: Dreiecke, Lichtpunkte mit s-förmiger Flugbahn, ein Ding, was aussieht wie ein Notarztwagen – Spaniens Himmel gleicht einer Autobahn zu Ferienbeginn. Die Beobachter bei der Banque OVNI in Paris verwundert das nicht weiter (http://www.chez.com/ frenchufo). „Die größte Ufologen- Vereinigung Europas geht von insgesamt 40 Millionen Ufos aus, seit vor 50 Jahren die ersten Beobachtungen gemacht wurden“, berichtet die Sonderberichterstatterin von Onda Cero. Warum trotzdem noch immer viele Menschen nicht an die Existenz der Außerirdischen glauben wollen? Antonio, ein OVNI-Veteran aus Valencia hat eine Erklärung: „Die Regierungen sind schuld. Sie verheimlichen uns ihre Erkenntnisse.“ Das wichtigste an der „Nacht der Ufo- Jäger“ sind für ihn deshalb auch nicht die Meldungen, die bei Onda Cero eingehen, „sondern, daß den Zweiflern endlich klar wird, daß uns die Außerirdischen überall und ständig beobachten.“ Fünf Uhr morgens. Das Nachtteam übergibt das Mikro an den Sprecher des Frühaufsteherprogrammes. Der durchgefrorene Pathfinder-Fan geht enttäuscht darüber, zu den wenigen zu gehören, die keine Außerirdischen ausgemacht haben, ins Bett. Zum Einschlafen werden fliegende Untertassen gezählt. Reiner Wandler
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„Diese Kampagne ist unmenschlich“ - taz.de
„Diese Kampagne ist unmenschlich“ Mit ihrer Kampagne gegen Susanne Albrecht greifen CDU und Bildzeitung den Rechtsstaat an, sagt Daniel Cohn-Bendit DANIEL „DANY“ COHN-BENDIT, 61, Vorsitzender und -denker der Grünenfraktion im Europa-Parlament, hat 1968 in Paris die Mai-Revolte angeführt. taz: Susanne Albrecht, vor 30 Jahren RAF-Mitglied, unterrichtet Migrantenkinder in Deutsch. In Bremen ist das ein Skandal… Daniel Cohn-Bendit: Erst einmal ist das ein Skandal der CDU. Die sagt: Die Menschen auf der Straße verstehen nicht, dass Ex-Terroristen ihre Kinder unterrichten können. Das sagt die Bildzeitung auch. Wer das sagt, sagt damit: Wir müssen den Rechtsstaat abschaffen, das Recht auf Resozialisierung. Dürfte Susanne Albrechts Sohn bei Werder Bremen spielen? Dürfte er Werder zum Titel verhelfen? Dürften 40.000 Menschen darüber jubeln? Das ist doch gaga. Wie gehen andere Länder mit dem Thema um? Unterschiedlich. Es gibt da in Brasilien zwei Männer, die Terroristen waren und während des Junta-Regimes den amerikanischen Botschafter entführt haben. Der eine ist später Umwelt-Dezernent in Rio geworden, der andere ist Abgeordneter und war eine Zeit lang Staatssekretär. So geht man in Lateinamerika damit um. Und in Europa? In Italien gibt es verurteilte Linksradikale, die heute Professoren an einer Universität sind. Aber es ist eigentlich egal, wie andere Länder damit umgehen. Es gibt in Deutschland eine Gesetzeslage, die sagt: Wenn jemand seine Strafe verbüßt hat, ist er oder sie ein freier Bürger und soll sich wieder integrieren in die Gesellschaft. Und integriert werden. Wenn jemand zwölf Jahre irgendwo arbeitet wie Susanne Albrecht und alle sind zufrieden, dann ist es eine menschliche Sauerei, die an den Pranger zu stellen. Man stellt sie wieder dahin, wo sie nicht mehr stehen will. Ich möchte mir nicht vorstellen, was das für sie und ihren Sohn bedeutet, nachdem sie es doch offenbar geschafft hat, ein neues Leben zu beginnen. Sie sind bereit, für eine Agit-Prop-Nummer, einen Menschen fertig zu machen. Diese Kampagne ist unmenschlich. Fragen: kawe
kawe
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Keine Rente für Ghetto-Arbeit: Zynisches Spiel auf Zeit - taz.de
Keine Rente für Ghetto-Arbeit: Zynisches Spiel auf Zeit Engor-Cemachovic musste während des 2. Weltkrieges für die Deutschen arbeiten. Als Zwangsarbeiterin wurde sie nie anerkannt. Eingangstor vom KZ Stutthof bei Stuttgart: Von hier wurde die 15jährige Sarra Engor-Cemachovic auf den Todesmarsch geschickt. Bild: imago/newspix BRÜSSEL taz | Brüssel. Avenue Adolphe Lacomblé 92, 3. Etage. Sarra Engor-Cemachovic ist erleichtert. Der Aufzug stockte mal wieder, sie wollte noch Bescheid sagen. Aber es ist ja alles gut gegangen. Ein kurzes charmantes Lächeln, ein fester Händedruck, sie wirkt in ihrer hellen Sommerhose deutlich jünger als 84 Jahre. Durch eine weiße Flügeltür führt sie in ihr stilvoll eingerichtetes Appartement, auf dem braunen Jugendstiltisch stehen Apfelsaft und Wasser. Man fühlt sich willkommen bei Sarra Engor-Cemachovic in der Hauptstadt Europas. Sie war in diesem Europa vor 70 Jahren nicht willkommen. Dass sie überlebt hat, ist ein Wunder. Zusammen mit 11.600 Frauen und Mädchen wurde die damals 15-Jährige am 25. Januar 1945 vom KZ Stutthof aus auf den „Todesmarsch“ Richtung Westen geschickt. Es war die letzte Etappe aus der Hölle. In dieser Hölle war Sarra Engor-Cemachovic Hausmädchen – und ging damit einer „Beschäftigung“ nach. Wie Zehntausende ihrer Leidensgenossen, die in den über 1.150 Nazi-Gettos in Ostmitteleuropa für die Deutschen schufteten. Fünf Jahrzehnte lang existierten Menschen wie Sarra Engor-Cemachovic für die deutschen „Wiedergutmacher“ nicht. KZ-Opfer, ja, später die Zwangsarbeiter. Aber Menschen, die in den „Wartesälen der Vernichtung“ (Bundessozialgericht-Richter Ulrich Steinwedel) noch für die Rente klebten? Undenkbar. Bundesrat fordert rückwirkende Rente Sarra Engor-Cemachovic’ Geschichte ist eine Geschichte über Menschenverachtung, Ignoranz und Überlebenswillen. Es ist die Geschichte des Holocaust. Gleichzeitig steht sie für ein beschämendes Kapitel deutscher Wiedergutmachungspolitik, das jetzt noch zu einem versöhnlichen Ende kommen könnte. Denn der Bundesrat fordert für alle ehemaligen Getto-Arbeiter rückwirkend eine Rente ab 1997. Für offiziell 22.000 Menschen wären dies bis zu 400 Millionen Euro. Es wäre eine historische Entscheidung. An den Wänden des Appartements unweit eines „EU Business Centers“ hängen viele Familienfotos mit glücklichen Menschen: Sarra Engor-Cemachovic mit schwarzen langen Haaren im weißen Brautkleid neben ihrem stattlichen Mann; ihre Tochter, ihr Sohn, ihre fünf Enkelsöhne, der kleine Urenkel. Fotos von ihren Eltern und ihrer älteren Schwester fehlen. Chronologie des Grauens Für das Gespräch hat sie eine kleine Liste vorbereitet, die auf dem edlen Esstisch liegt: August 1941–Juli 1942: Getto Smorgon; Juli 1942–Januar 1943: Arbeitslager Ziezmariai; Januar 1943–Juli 1943: Pskow; August 1943–Januar 1944: KZ Riga; Januar 1944–Januar 1945: KZ Stutthof. Eine Chronologie des Grauens, das an einem Sommertag im Juli 1941 beginnt. Smorgon, Polen, 25. Juli 1941. Die Sonne scheint in dem 30.000-Einwohner-Städtchen nahe der litauischen Grenze. Bauern schneiden Getreide. Sarra Engor geht in die 6. Klasse und erlebt die glücklichste Zeit ihrer Kindheit. Die Russen haben Ostpolen zwar seit zwei Jahren besetzt, aber sie behandeln die Juden gut. Sarras Vater Solomon ist Metzger, Mutter Cila macht den Haushalt, die drei Jahre ältere Schwester Miriam ist ein abenteuerlustiger Teenager. Eine glückliche Familie. Doch Sarra und ihre Freunde ahnen, dass dies kein guter Tag wird. Die Russen sind schon geflohen, die Schulen sind geschlossen. Sarra und die anderen Kinder verstecken sich unter einer Brücke. Deutsche Panzer in Smorgon Gegen Mittag sehen sie von dort zum ersten Mal die deutschen Panzer in Smorgon einrollen, das bis zur Schoah ein bedeutendes jüdisches Zentrum in Polen war. Am Morgen danach müssen sie auf dem Dorfplatz antreten, bevor sie in ein Getto gepfercht werden. „Die Deutschen forderten von jeder Familie einen Arbeiter.“ Sarra ist erst zwölf, aber groß und mutig. Sie meldet sich beim Judenrat. Sie putzt, wäscht und kocht für deutsche Offiziere in Smorgon – neun Monate lang. „Man hat uns nicht schlecht behandelt. Wir haben sogar Weihnachten gefeiert“, sagt sie. Sie bekommt eine Mahlzeit am Tag, ihr „Lohn“ für acht Stunden Arbeit. Manchmal darf sie ein Stück Brot oder einen Teller Suppe mit nach Hause nehmen. „Das war ein Festtag für die ganze Familie.“ Im August 1942 endet „das kleine bisschen Menschlichkeit in der Hölle“ abrupt: Sarra wird auf dem Bahnhof Smorgon in einen Viehwaggon gesperrt. Ohne Eltern und Schwester. Nur ein Foto ihres Vaters hat sie dabei, sie versteckt es unter dem Hemd. Tränen laufen Sarra Engor-Cemachovic über die Wangen, als sie 71 Jahre später davon erzählt. „So ein kleines Mädchen. Ich wollte nach Hause.“ Sie kommt ins Arbeitslager Ziezmariai in Litauen. Eltern und Schwester sollen bald nachkommen. Im Wald erschossen Kurz darauf bekommt sie einen Brief von ihrer Mutter: Ihr geliebter Vater ist tot. Wenige Wochen später erfährt sie, dass sie auch ihre Mutter und ihre Schwester nie wiedersehen wird. Beide sind im Wald von Ponar vor Vilnius bei Massenhinrichtungen erschossen worden. „Das vergisst man nicht in seinem Leben.“ Das Foto ihres Vaters rettet sie von Ziezmariai bis ins KZ Riga. Als sie im Vernichtungslager Stutthof aus dem Waschraum kommt und die Sträflingskleidung anziehen muss, ist es verschwunden. Sarra Engor-Cemachovic senkt den Blick, ihre linke Hand wendet zitternd die Liste hin und her, die Augen hinter der großen braunen Brille werden feucht. Bundestag beschließt Gesetz Nach dem Krieg erhält sie 200 DM als Entschädigung für ihre KZ-Haft. Erst als das Bundessozialgericht (BSG) im Jahr 1997 einer jüdischen Überlebenden des Gettos Litzmannstadt eine Rente gewährt, stoßen Historiker allmählich auf eine Forschungslücke: Wie ging das Arbeiten und das Leben im Getto weiter? Im Jahr 2002 beschließt der Deutsche Bundestag einstimmig das Gesetz zur „Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ (ZRBG). Getto-Arbeiter sollen ab dem 1. 7. 1997 Geld bekommen für eine „Leistung, die sie erbracht hatten, und nicht nur weil sie den Krieg überlebt hatten“, wie Stephan Lehnstaedt, Historiker am Deutschen Historischen Institut Warschau, in seinem aktuellen Aufsatz „Wiedergutmachung im 21. Jahrhundert“ schreibt. Sarra Engor-Cemachovic stellt den Antrag, wie 70.000 andere Getto-Arbeiter auch. Im Fragebogen der Rentenversicherung muss sie angeben, ob sie den „Arbeitseinsatz“ freiwillig, „durch Vermittlung“ oder durch „Zuweisung“ aufnahm. Ob sie für ihre „Arbeit“ „Barlohn (ggf. in welcher Höhe täglich/wöchentlich und von wem?)“ und „Sachbezüge“ erhielt. Auch „Zeugen für die Arbeitszeit im Getto“ oder Dokumente wären hilfreich. Ihr Antrag wird abgelehnt: Sie hat nicht genug verdient im Getto, und richtig freiwillig war die Tätigkeit auch nicht. Entgelt? Freiwilligkeit? Zeugen? Dokumente? Nur ein Foto vom Vater Die Stimme der besonnenen Frau stockt, manche deutsche Wörter fallen ihr nicht ein: „Wie kann man uns mit normalen Menschen vergleichen? Die Juden waren keine Menschen, nur eine Nummer. Die von Freiwilligkeit oder Papieren sprechen, scheinen von la lune (dem Mond; d. Red.) zu kommen. Die Leute haben keine Ahnung, was da passierte im deutschen Regime.“ Sie formt ihre Hände zu einem kleinen Quadrat und sagt leise: „Ich hatte ein kleines Foto von meinem Vater, das war das einzige.“ 61.000 von 70.000 Anträgen werden abgelehnt. Am beflissensten ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für Überlebende in Israel und den Beneluxstaaten zuständig ist. Die Düsseldorfer lehnen 96 Prozent der Anträge ab: Im Prinzip gab es demnach keine Getto-Arbeit. Ein willkommener Nebeneffekt: Die Rentenkassen bleiben stabil, und die Regierung kann an der geplanten Senkung des Beitragssatzes im Jahr 2016 festhalten. Teilweise strich die Reichsversicherungsanstalt für die Gettoarbeit sogar Sozialversicherungsbeiträge ein – von Menschen, deren Zukunft nicht Rente, sondern „Endlösung“ hieß.
Frank Gerstenberg
Engor-Cemachovic musste während des 2. Weltkrieges für die Deutschen arbeiten. Als Zwangsarbeiterin wurde sie nie anerkannt.
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Sanssouci: Nachschlag - taz.de
Sanssouci: Nachschlag ■ Margot Müller variiert Dario Fo in der Scheinbar Zimmertheater können etwas sehr Schönes sein. Die Zuschauer sitzen fast mit auf der Bühne; Distanzen zwischen Publikum und Darstellern sind von vornherein reduziert. Daß diese natürliche Bedingung, wenn sie nicht richtig genutzt wird, zum Pferdefuß werden kann, war am letzten Wochenende in der Scheinbar in Schöneberg zu erleben. Dort erzählt Margot Müller satirische Geschichten von Dario Fo. Besser gesagt, sie benutzt Ideen von Fo als Grundlage, um sich selbst zu präsentieren, und offenbar ist sie der Meinung, die Nähe zu den Besuchern erlaube ihr jede mögliche Vereinnahmung. Schon der Auftritt von Frau Müller befremdet, gelinde gesagt. Wie ein Stehaufmännchen in schwarz-weiß gewürfelten Kochhosen springt sie auf die leere Bühne, starrt mit aufgerissenen Augen und vorgerecktem Hals die wenigen Zuschauer an und ruft ihre Freude über deren Erscheinen in den Raum. Wenn sie jetzt noch fragen würde: „Seid ihr alle daaa?“, man wäre vollends überzeugt, im Kasperletheater gelandet zu sein. Den erzählten und gespielten Texten bekommt die Bearbeitung durch die Schauspielerin nicht. Die eingefügten Aktualisierungen zerstören den Sprachfluß und rauben ihnen ihren Witz und Sarkasmus. Die vielen Grimassen und Verrenkungen, in die sich die Schauspielerin steigert, degradieren die hintersinnige Erotik eines Dario Fo zu peinlichen Obszönitäten. Wenn sie im ersten Teil zwischen den Füßen der Zuschauer im Dunkeln auf dem Boden herumkriecht, um das entlaufene Mäuschen, die Hauptfigur der gespielten Szene, wiederzufinden, und wie ein quengelndes kleines Mädchen alle auffordert, sie bei der Suche zu unterstützen, erinnert die Szenerie nicht mehr an Kindertheater, sondern gar an eine Krabbelstube. Die zweite Geschichte des Abends beschreibt einen Vorfall im italienischen Bologna, der sich 1334 tatsächlich ereignet hat. Die Bevölkerung wehrte sich seinerzeit gegen ihren Kardinalerzbischof, indem sie in Ermangelung anderer Waffen das über der Stadt gelegene Kartell zuschiß und so die (Be)Herrscher vertrieb. Margot Müller konzentriert sich in ihrer Erzählung derart auf den kotenen Aspekt dieser Anekdote, vergreift sich dabei immer wieder in ihren Mitteln und biedert sich damit so sehr dem Publikum an, daß jede Freude an der Komik der Story im Ekel vor der braunen Brühe ersaufen muß. Auf dem Plakat, das für den Abend wirbt, ist zu lesen: Goya: „Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer.“ Margot Müller hat dem handschriftlich hinzugesetzt: „Der Schlaf der Vernunft erzeugt ungeheuer wenig.“ Ein Abend mit Margot Müller erzeugt Wut. Sibylle Burkert „Satirische Geschichten von Dario Fo“: Vom 18.-20.12., täglich um 21 Uhr in der Scheinbar, Monumentenstraße 9, Schöneberg
sibylle burkert
■ Margot Müller variiert Dario Fo in der Scheinbar
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„Wir sind zu wilden Tieren geworden“ - taz.de
„Wir sind zu wilden Tieren geworden“ Im weiterhin international geächteten und ständig weiter verarmenden Irak wächst das wirtschaftliche und psychische Elend / „Unsere Gesellschaft ist korrumpiert und verdorben“  ■ Aus Bagdad Henri Heron Fünfundreißigtausend Dinar will der Verkäufer für seine Ware haben: die Tür seines Wohnzimmers. „Wozu braucht man eine Tür, wenn der Hunger in den Eingeweiden nagt“, sagt der 50jährige Beamte Mouhssen (alle Namen von der Redaktion geändert) bitter. Zu Hause warten neben seiner Frau fünf Kinder, die er ernähren muß. Zwei von ihnen besuchen die Universität. Ein weiterer Sohn hat dieses Jahr Abitur gemacht. Statt zu studieren, ging er zur Armee, um etwas zum Lebensunterhalt der Familie beitragen zu können. Mouhssen versucht sein Glück auf einer Art Flohmarkt im Bagdader Stadtviertel Al-Mansour, wo Angehörige der Mittelschicht und wohlhabende Familien leben. Hier kann man, wenn man Geld hat, so manches Schnäppchen machen, denn die heutigen Verkäufer waren stolze Besitzer manch schöner und teurer Dinge, ehe die Umstände sie zwangen, ihre Habseligkeiten feilzubieten. Auf dem Markt findet man Jacken, Anzüge, Schuhe, Geschirr, Brillen, Tonbandgeräte, Bücher. „Ich habe den ganzen Goldschmuck meiner Frau verkauft, den sie als Brautgeld erhalten hat“, sagt Mohssen. „Das gleiche habe ich mit vielen unserer Möbel gemacht. Wir haben nur das Nötigste behalten. Dann habe ich mir überlegt, was ich sonst noch verkaufen kann. Gott hat mir die Idee eingegeben. Die Türen, Mohssen, die Türen! sagte mir eine innere Stimme.“ Seit drei Wochen kommt Mohssen jeden Tag mit seiner Tür auf den Markt. „Das Warten lohnt sich“, sagt er. „Wenn ich einen Kunden finde, werde ich soviel verdienen wie sonst in zehn Monaten.“ Als „glücklicher“ Beamter, wie er sagt, erhält er monatlich 3.500 Dinar, etwa zehn Mark. „Wenn ich die Tür verkaufe, dann werde ich für meine Familie Fleisch kaufen, vielleicht ein Hähnchen oder einen großen Fisch. Und ein oder zwei Kilo Obst.“ Vor drei Jahren hat Mohssen zu rauchen aufgehört. Der Preis für eine Schachtel Zigaretten entspricht seinem Lohn von drei Arbeitstagen. „Siehst du, wie ich mich anziehe?“ fragt er, hebt seinen rechten Fuß und zeigt seine schwarzen Hausschuhe aus Plastik. „Ich habe nur noch ein Paar Schuhe. Ich trage sie nur, wenn ich zur Arbeit gehe oder wenn ich jemanden besuche. Das mache ich nur selten, denn ich will das Budget der Bekannten und Verwandten nicht belasten. Ehrlich gesagt, fürchte ich auch, daß sie mich dann besuchen kommen. Aber unsere Lage ist noch besser als die vieler anderer Familien. Sieh dir mal an, wie die Armen leben“, sagt er und wendet sich ab, um seine Tränen zu verbergen. „Du fragst mich, wie wir leben? Wie in der Hölle!“ schreit mir eine Hausfrau ins Gesicht. Hamed, ihr Mann, versucht, sie zu beruhigen, und lächelt mich hilflos an. „Unsere Lage ist schwierig. In den letzten Jahren habe ich weiße Haare bekommen.“ Der Tagelöhner Hamed lebt mit seiner siebenköpfigen Familie in einem Dreizimmerhaus in Madinat al-Thaura, der „Stadt der Revolution“, einem Armenviertel Bagdads. Wir sitzen auf zerfetzten Matratzen, den einzigen „Möbeln“. Jeden Tag, kurz vor Sonnenaufgang, geht Hamed ins Betaween-Viertel, wo sich Tausende von Arbeitsuchenden sammeln. „Manchmal finde ich eine Woche lang keine Arbeit“, sagt Hamed. „Wenn jemand auf der Suche nach Arbeitern vorbeikommt, dann wird er von uns regelrecht umzingelt. Wir betteln um Arbeit. Einer sagt vielleicht: Guck mal, ich bin kräftiger als die anderen. Ein anderer bietet an, für weniger Geld zu arbeiten. Manchmal gibt es eine Schlägerei. Wir sind zu wilden Tieren geworden. Alle haben eine Familie zu ernähren.“ Seit zwei Jahren schickt Hamed seine Kinder nicht mehr zur Schule. Die ältesten, zehn und zwölf Jahre alt, verkaufen Zeitungen und Zigaretten. Die jüngsten verbringen die meiste Zeit auf den Straßen. „Die subventionierten Lebensmittelrationen sind unsere einzige Chance, zu überleben“, erklärt seine Frau Souad, nun etwas ruhiger. Mit zitternden Händen füllt sie kleine Teegläser. „Es gibt nur Mehl, Zucker, Reis, Tee, Speiseöl, Waschmittel und Seife. Die Menge reicht normalerweise für zehn Tage, aber wir haben davon den ganzen Monat gelebt. Jetzt hat die Regierung die Lebensmittelrationen noch mal reduziert. Waschmittel und Seife erhalten wir nicht mehr. Kaufen kann ich das nicht, die Preise sind horrend.“ Souad ist krank. Sie hat Schmerzen im ganzen Körper. Hamed hat sie vor drei Wochen zum Arzt begleitet. „Nervosität und psychische Überanstrengung“ lautete die Diagnose. Der Arzt stellte ein Rezept aus. In der Apotheke hieß es dann, die Medikamente seien nur auf dem Schwarzmarkt zu haben. Das würde 700 Dinar in der Woche kosten. „Woher sollen wir das Geld nehmen?“ fragt Souad. „Ich versuche einfach, die Schmerzen zu vergessen.“ Salim, ein Taxifahrer, entwickelt den Ehrgeiz, mir die negativsten Seiten Bagdads zu zeigen. Wir fahren durch die Shara'al-Nidal, „Straße des Kampfes“, im Karadah-Viertel. Plötzlich hält er an und weist auf eine Gruppe von sechs jungen Mädchen, die am Rande der Straße hocken. Vier, die 18 Jahre alt sein mögen, tragen das traditionelle schwarze Umschlagtuch der armen Viertel und Dörfer. Zwei jüngere Mädchen sind in Lumpen gehüllt. Wenn jemand vorbeikommt, laufen sie hinterher und betteln. Da hält ein Auto neben den jungen Frauen. Eine geht zum Fahrer, redet durchs Fenster, winkt den anderen zu und steigt ein. „Sie hat sich für heute ihr tägliches Brot verdient“, sagt Salim, der Taxifahrer. „Die meisten Familien dieser Frauen, die meisten Ehemänner wissen genau, wie ihre Töchter und Frauen das Geld verdienen. Sie wollen nur den Verdienst am Ende des Tages sehen. Gott verzeihe uns allen.“ Von der „Straße des Kampfes“ fahren wir weiter in die „Straße des Friedens“, die Schara'al-Salam. Vor einem großen Gebäude haben sich Hunderte von Männern und Frauen mit Tüten versammelt. Auf einem Schild steht „Besserungsanstalt Bagdad“, es handelt sich um ein Gefängnis. „Heute ist Besuchstag“, sagt Salim. „Die Kriminalität hat zugenommen. Diebstahl, Mord, Vergewaltigung, Drogen, alles. Ich erlaube meinen Kindern nicht mehr, alleine auszugehen, besonders meiner Tochter nicht.“ Die Tochter seines Nachbarn sei zwei Tage verschwunden gewesen, am dritten habe man ihre Leiche gefunden. Das 17jährige Mädchen war brutal vergewaltigt worden. Gegen die Kriminalität greift das Regime zuweilen zu brutalen Strafen. Auf Diebstahl steht die Amputation einer Hand. Deserteuren wird ein Ohr abgeschnitten. Diese Körperstrafen führten in mehreren Städten, vor allem in Basra im Süden, zu Protestdemonstrationen. Mittlerweile werden diese Strafen nicht mehr so häufig verhängt. Nun will Salim mir noch eine ganz besondere „Sehenswürdigkeit“ vorführen. Am Ufer des Tigris stoßen wir auf eine riesige Baustelle. Eine Fläche von vielen tausend Quadratmetern ist von einer fast drei Meter hohen Mauer umgeben. Durch das große Tor sieht man Hunderte von Arbeitern. Dutzende schwerer Lastwagen, Kräne und Planierraupen sind im Einsatz. Hier wird der neue Palast für „Almagedah Al-Ulah“ gebaut, die „erste ruhmvolle Frau“ im Lande, wie die Ehefrau Saddam Husseins genannt wird. Im März hatte der Revolutionsrat, der von dem irakischen Diktator geleitet wird, einen Erlaß verabschiedet, demzufolge das irakische Volk der „Frau des geliebten Führers“ einen Palast schenken möchte. Der Grund: ihre „historische Rolle“ bei der Erziehung der Kinder des Paares, vor allem des ältesten Sohnes Udai und des jüngeren Kusai. Auf dem Gelände sollen auch Villen für Gäste und Leibwächter, ein Schwimmbad und Tennisplatz errichtet werden. So, wie der Vater für die „Erziehung“ der Nation zuständig ist und die Mutter für die der Kinder, ist Sohn Udai verantwortlich für die „Erziehung“ der jungen Generation. Udai ist Chef des Journalisten- und Schriftstellerverbandes, Chef des olympischen Komitees, Chefredakteur der Tageszeitung Babel und Besitzer der einzigen „privaten“ Rundfunk- und Fernsehstation, die den Namen „Stimme der Jungen“ trägt. Vor einigen Monaten begann Udai mit einer neuen Kampagne, die den Namen „1.001 Sänger und Sängerinnen“ trägt. Im ganzen Land soll nach neuen Stimmen gesucht werden, die dann in seinem Programm auftreten dürfen. Viele Iraker sagen, daß sie sich lieber langweilige politische Kommentare anhören, als sich von den schrecklichen Stimmen der auf solche Weise „entdeckten“ Sänger und Sängerinnen foltern zu lassen. Für Udai hat diese Kampagne auch einen geschäftlichen Aspekt. Jeder der neuen Stars muß einen Fünfjahresvertrag unterzeichnen, nach dem 50 Prozent der Einnahmen aus Konzerten oder Auftritten in Nachtclubs an Udai gehen. Auch mit der Werbung macht Udai ein gutes Geschäft. Vertreter seines Senders, meistens elegante junge Frauen, suchen Geschäftsleute auf und fragen mit zuvorkommendem Lächeln, ob sie Werbung schalten wollen. Wer wagt es da, nein zu sagen? Auch auf anderen Gebieten hat Saddam Hussein mittlerweile die Stützen seiner Macht reorganisiert und verstärkt. Die Agenten des Geheimdienstes und die Angehörigen der Republikanischen Garden und der Sondereinheiten, die für die Sicherheit des Regimes verantwortlich sind und von Sohn Kusai geführt werden, genießen große Privilegien. Sie bekommen höhere Gehälter und größere Lebensmittelrationen. Das Regime teilt ihnen Grundstücke zu und gewährt großzügige Finanzhilfe für den Hausbau oder den Autokauf. „Die psychologischen, moralischen und ethischen Konsequenzen des Embargos sind viel tiefgreifender als die wirtschaftlichen“, meint Djamal, ein irakischer Schriftsteller. „Das Embargo wird früher oder später aufgehoben werden; die wirtschaftlichen Folgen lassen sich mit Geld beseitigen. Aber die moralischen und ethischen? Das Embargo, die Folgen des Krieges und die Unterdrückung des Regimes haben viele unserer Traditionen und Werte zerstört. Sie haben unsere Gesellschaft korrumpiert und sie verdorben.“ Es ist das erste Mal während meines Aufenthaltes in Bagdad, daß im Gespräch das Wort „Embargo“ fällt. Darauf angesprochen, entgegnet Djamal: „Die Leute haben aufgehört, an das Embargo zu denken oder wann es aufgehoben wird. Sie glauben, daß sie zu Geiseln in einem blutigen Spiel zwischen Saddam Hussein und den Amerikanern geworden sind. Sie können nichts tun. Deshalb kämpfen sie, manchmal auch gegeneinander, um das eigene Überleben.“ Könnte die andauernde wirtschaftliche Misere nicht auch zu einem Aufstand führen? „Die meisten Leute wissen genau, daß das Regime brutal zuschlagen würde“, erwidert Djamal. „Ich bete zu Gott, daß die Leute passiv bleiben. Die Brutalität, die das Regime in die Gesellschaft eingepflanzt hat, und die Ergebnisse des Embargos würden jeden Aufstand in ein blutiges Massaker verwandeln. Im Vergleich zu dem, was dann bei uns geschehen würde, ist Ruanda nichts.“
henri heron
Im weiterhin international geächteten und ständig weiter verarmenden Irak wächst das wirtschaftliche und psychische Elend / „Unsere Gesellschaft ist korrumpiert und verdorben“  ■ Aus Bagdad Henri Heron
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Energiewende in Europa: Norwegen will kein Akku sein - taz.de
Energiewende in Europa: Norwegen will kein Akku sein Norwegen bietet zur Speicherung von Strom gute Bedingungen für Pumpspeicherwerke - eine Ergänzung zur Windkraft. Doch die Norweger wollen nicht. Großes Interesse: Wirtschaftsminister Rösler (FDP) besichtigt das Wasserereservoir Blåsjø. Bild: dpa STOCKHOLM taz | Klingt verlockend. Pumpspeicherkraftwerke in norwegischen Stauseen springen dann für die deutsche Stromversorgung ein, wenn in der Nordsee mal gerade Flaute herrscht und die Offshore-Windkraftparks nicht genug Energie produzieren. Wenn Deutschland bei starkem Wind zu viel Strom über hat, wird Wasser in die norwegischen Reservoirs zurückgepumpt; die Speicherseen sind wieder voll. 60 Atomkraftwerke würde dieser gegenseitige Austausch ersetzen. In Deutschland soll bis 2020 rund 25 Prozent der Energie aus Windkraft kommen. Das Problem: Windenergie ist sehr von der Wetterlage abhängig. Weht mal kein Wind, könnte eine Versorgungslücke entstehen. Die Energiewende hängt nicht zuletzt an der Frage, wie Strom gespeichert werden kann. Eine mögliche Lösung sind Pumpspeicherkraftwerke: In großen Oberbecken wird Wasser gespeichert. Fehlt es an Strom, strömt das Wasser durch Turbinen und hilft, die Lücken im Stromnetz zu schließen. Rund 30 dieser Anlagen gibt es in Deutschland - viel zu wenig, falls es zu Engpässen kommen sollte. Norwegen mit seinen vielen Seen könnte zu Europas Stromspeicher werden. Tatsächlich bietet das skandinavische Land mit viel Regen, steilen Fjordhängen und vielen unbewohnten Hochebenen gute Bedingungen für Pumpspeicherkraftwerke. Doch die Befürworter haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn in Norwegen selbst stößt diese Idee nur auf wenig Zustimmung. In der vergangenen Woche hatte die norwegische Industrie- und Energie-Gewerkschaft angekündigt, dass es mit ihr solche Pläne nicht geben werde. Die negativen Folgen für die Umwelt seien nicht ausreichend bedacht worden. Und auch Norwegens Energieminister Ola Borten Moe ist skeptisch: "Ich glaube nicht, dass Norwegens Wasserkraft das angedachte Regulierungspotenzial für Europa leisten kann." Die Norweger sind dagegen Die Zahlen geben ihm recht. Die Speicherkapazität der norwegischen Wasserkraft reicht derzeit gerade einmal für eine jährliche Produktion zwischen 85 und 110 Terrawattstunden. Deutschlands Gesamtstromproduktion lag jedoch allein 2010 bei 607. "Ich möchte die Reaktionen hören, wenn der Wasserspiegel am Blåsjø jeden Tag mehrere Meter steigt oder sinkt", sagte Moe. Der Blåsjø ist Norwegens neuntgrößter Binnensee. Aber auch in der Bevölkerung stößt der Plan auf Ablehnung. Der bis in die siebziger Jahre rücksichtslos betriebene Wasserkraftausbau hat bereits tiefe Spuren hinterlassen. Flora und Fauna sind dauerhaft zerstört, Fischbestände geschrumpft, viele Tier- und Pflanzenarten völlig verschwunden. Vor zehn Jahren verkündete Oslo, dass die Zeit des Wasserkraftausbaus vorbei sei. Das Forum for natur og friluftsliv, dem mit 600.000 Mitgliedern größten Umweltverband Norwegens, verabschiedete im Februar eine Resolution, mit der allen Träumen von Norwegen als "Europas grüne Batterie" eine Absage erteilt wurde. Statt Strom würde Norwegens Energieminister lieber noch mehr Erdgas verkaufen. Schon jetzt liefere sein Land jährlich 1.200 Terrawattstunden Energie über die bestehenden Erdgasleitungen ins übrige Europa, rechnet Moe vor. "Wenn wir für Europas Regulierungskapazität etwas leisten können, dann ist das vor allem durch flexible Gaslieferungen möglich."
Reinhard Wolff
Norwegen bietet zur Speicherung von Strom gute Bedingungen für Pumpspeicherwerke - eine Ergänzung zur Windkraft. Doch die Norweger wollen nicht.
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Klima-Juristin Camilla Bausch: "UN haben einzigartige Legitimität" - taz.de
Klima-Juristin Camilla Bausch: "UN haben einzigartige Legitimität" Foren wie die G-20 können die Vereinten Nationen bei internationalen Verhandlungen nicht ersetzen, sagt die Juristin Camilla Bausch. Ein neues Abkommen in diesem Jahr hält sie für "ambitioniert". Aufgenommen an der Route 66 in Arizona. Bild: Diana Mullet – Lizenz: CC-BY-ND taz: Frau Bausch, die EU scheint die Hoffnung auf ein Klimaabkommen in diesem Jahr aufgegeben zu haben. Zudem hat Yvo de Boer, der als wichtiger Verfechter des Kioto-Protokolls galt, zum 1. Juli seinen Rücktritt als Chef des UN-Klimasekretariats angekündigt. Rückt das Protokoll damit jetzt als Grundlage für die UN-Verhandlungen in weite Ferne? Camilla Bausch: Yvo de Boer hatte eine wichtige Funktion inne, doch die Zukunft des Kioto-Protokolls und des internationalen Klimaregimes hängt nicht von de Boer ab, sondern vom Willen der Staaten gemeinsam zu handeln. Das war schon 1997 in Kioto so. Im Kioto-Protokoll wurden erstmals verbindliche nationale Pflichten zur Reduktion von Treibhausgasemissionen für die Periode 2008 bis 2012 festgelegt. Das heißt nicht, dass nach dieser Periode das Kioto-Protokoll aufhört zu existieren, aber für das Herzstück, die nationalen Reduktionspflichten, gibt es keine konkreten Vorgaben nach 2012. Es gilt jetzt, sich auf neue Verpflichtungen nach 2012 zu einigen. Der Erfolg ist dabei abhängig vom Willen der Vertragsstaaten des Klimaregimes, einschließlich etwa der USA. Warum sträuben sich die USA gegen Kioto? Camilla BauschDie 37-jährige Juristin leitet den Bereich Klima- und Energiepolitik im Ecologic Institute. Sie forscht zum "UN-Zukunftregime" nach 2012. Politisch hat sich in den USA sehr viel Widerstand gegen das Kioto-Protokoll aufgebaut. Bereits 1997 wurde eine Resolution einstimmig von Demokraten und Republikanern verabschiedet, die Folgendes sagt: Der Senat wird keinem internationalen Vertrag zustimmen, der der US-Wirtschaft schwerwiegend schaden könnte oder nicht auch Verpflichtungen zur Emissionsminderung für Entwicklungsländer niederlegt. Da das Kioto-Protokoll diesbezüglich ausschließlich Pflichten für die Industriestaaten umfasst und keine entsprechenden Verpflichtungen für Schwellen- und Entwicklungsländer enthält, ist es quasi ausgeschlossen, dass es im Senat angenommen würde. Welcher Art von Abkommen könnten sich die USA anschließen? Es wäre möglich, ein rechtlich verbindliches Abkommen zu schaffen, etwa ein neues Protokoll. Man muss sich aber fragen, was in diesem neuen Protokoll stehen wird. So wie sich die USA bisher positioniert haben, würde das Abkommen nicht dem Kioto-Protokoll gleichen, sondern einen Ansatz verfolgen, in dem die Staaten darlegen, welche Minderungsleistung sie national erbringen wollen, ohne sich völkerrechtlich dazu zu verpflichten. Die EU und andere Staaten haben im Gegensatz dazu bisher den Kioto-Ansatz mit international verbindlichen Emissionszielen verfolgt. Aufgrund dieser grundsätzlichen Differenzen ist der Abschluss eines internationalen Abkommens für die Verhandlungen in Mexiko im Dezember wohl ein recht ambitioniertes Ziel. In Kopenhagen gab es neben dem Abschlussdokument ja noch die Entwürfe der Arbeitsgruppen. Auf welcher Textgrundlage soll denn nun Ende Mai in Bonn weiterverhandelt werden? Die Verhandlungsmandate der Arbeitsgruppen unter der Klimarahmenkonvention und unter dem Kioto-Protokoll laufen weiter, und die Gruppen werden weitgehend auf der gleichen Grundlage wie in Kopenhagen weiterverhandeln. Entscheidend wird sein, wie die Ergebnisse des Abschlussdokuments, des "Copenhagen Accord", in die Verhandlungen bis Mexiko integriert werden können. Nach Kopenhagen wurde viel diskutiert, ob das die letzte Klimakonferenz dieser Art war. Wie sinnvoll ist es, die Verhandlungen auf anderen Ebenen fortzuführen? Interessanterweise wurde nach Kopenhagen gefragt: Sind das Major Economies Forum, in dem sich 17 der weltweit größten CO2-Emittenten treffen, oder die G 20 nicht die besseren Foren zur Lösung des Problems? Doch zum einen ist das keine Frage von "entweder - oder", sondern alle Foren sollten so gut wie möglich zur Lösung des Problems beitragen. Das Major Economies Forum kann seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten, ebenso wie die G 20 oder bilaterale Aktionen. Zum anderen aber liegt das verhältnismäßig magere Ergebnis von Kopenhagen auch an den sehr unterschiedlichen Ansätzen der USA und Chinas. Diese entscheidenden Spieler sind an allen Foren, die jetzt vorgeschlagen werden, beteiligt. Was folgt daraus? Nicht das Forum ist entscheidend, sondern der Wille der Staaten, zusammenzuarbeiten. Die genannten Foren können aber kein Ersatz für die UN-Verhandlungen sein. Die Vereinten Nationen haben eine einzigartige Legitimität durch die Anwesenheit aller Staaten, insbesondere auch der Staaten, die besonders stark von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, ohne wirklich dazu beigetragen zu haben.
Julia Otten
Foren wie die G-20 können die Vereinten Nationen bei internationalen Verhandlungen nicht ersetzen, sagt die Juristin Camilla Bausch. Ein neues Abkommen in diesem Jahr hält sie für "ambitioniert".
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Kita-Loch schluckt Ganztagsschulen - taz.de
Kita-Loch schluckt Ganztagsschulen Kein Ganztagsschulausbau in 2004, nur einige Gymnasiasten bekommen mehr Unterricht. Elternkammer-Vorsitzender Gisch verlangt, das Projekt „Abi 12“ zu stoppen. GAL wirft Bildungssenator Soltau erneut Unehrlichkeit vor „Alle reden von Ganztagsschulen. Ole von Beust und Reinhard Soltau verhindern“, sagte gestern GAL-Politikerin Christa Goetsch. Und Britta Ernst (SPD) erklärte: „In anderen CDU-regierten Ländern ist Bildung Chefsache. Ole von Beust hat daran kein Interesse.“ Die Rede ist von der Verschiebung des Ganztagsschulprogramms auf 2005. Von Beust hatte entschieden, dass Bildungssenator Reinhard Soltau (FDP) kein Geld für die nötige Personalausstattung bekommt. Damit, so fürchtet Ernst, ginge Hamburg die erste Jahresrate der 66 Millionen Euro verloren, die der Bund bis 2008 für den Ausbau neuer Ganztagsschulen bereitstellt. Dass es diese Bundesmittel gibt, ist seit 2002 bekannt. Doch Soltaus Vorgänger Rudolf Lange entschied erst im Oktober 2003, dass im Sommer 88 Schulen auf Ganztagsbetrieb umgestellt werden sollten. Doch Konzept und Drucksache ließen auf sich warten. Nachdem Soltau noch Anfang Januar beteuerte, Hamburg liege „im Zeitplan“, um die 2003er Mittel abzufordern, kam in dieser Woche scheibchenweise heraus, dass das nichts mehr wird: Am Dienstag hatte Soltau erklärt, die Entscheidung werde auf die Zeit nach der Wahl verschoben. Am Donnerstag gestand er dann gegenüber dem NDR ein, dass der gesamte Ganztagsschulausbau in 2004 auf Eis gelegt wird. Lediglich die 7. Klassen der 64 Gymnasien sollen an zwei Tagen nachmittags Unterricht und Essen bekommen, damit diese Schüler binnen 12 Jahren hochschulreif werden. Die übrigen bekommen nichts. In einem Brief an die Schulleitungen erklärt Soltau nun, ihm seien wegen der bevorstehenden Neuwahl leider „die Hände gebunden“, hier haushaltsrelevante Entscheidungen zu fällen. „Dies ist eine weitere Lüge“, sagt Christa Goetsch. So könne Soltau diese Entscheidung im Zuge der vorläufigen Haushaltsführung sehr wohl treffen. Goetsch hatte, noch bevor die Neuwahlen entschieden waren, durch eine Kleine Anfrage erfahren, dass auch ursprünglich im Bildungsetat für 2004 kein Geld für neues Ganztagsschulpersonal eingeplant war. Offenbar gab es angesichts des immer größeren Finanzlochs im Kita-Etat auch schon vor der Wahl seitens der Finanzbehörde wenig Neigung, der Bildungsbehörde Geld für Neues anzuvertrauen. Laut Britta Ernst mangelt es aber auch an schlüssigen Konzepten. So habe Soltaus Behörde keine Gespräche mit möglichen Kooperationspartnern, die für Nachmittagsangebote gebraucht werden. Die Tischvorlage für den Ganztagsschulausbau, die Staatrat Gerd Hünerberg am Montag in der Staatsräterunde vorlegte, soll sehr dürftig gewesen sein. Der Vorsitzende der Elternkammer, Holger Gisch, fordert nun, in Sachen Ganztagsschule die „Notbremse“ zu ziehen und das geplante Abitur nach 12 Jahren zu stoppen. Denn selbst diese Maßnahme sei „auf keiner Ebene richtig abgesichert“. So sei unklar, ob der Unterricht für Jahrgang acht und die folgenden Klassen gesichert ist. Auch sei es ohnhin fraglich, ob die bloße Aufstockung auf 35 Unterrichtsstunden pro Woche die Schüler schlauer mache. Gisch: „Nötiger wären Ganztagsschulen für Grundschulkinder.“ Kaja Kutter
Kaja Kutter
Kein Ganztagsschulausbau in 2004, nur einige Gymnasiasten bekommen mehr Unterricht. Elternkammer-Vorsitzender Gisch verlangt, das Projekt „Abi 12“ zu stoppen. GAL wirft Bildungssenator Soltau erneut Unehrlichkeit vor
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Steinmeier besucht Sachsen: Mit Kaffee gegen Spaltung - taz.de
Foto: Sebastian Kahnert/dpa Steinmeier besucht Sachsen:Mit Kaffee gegen Spaltung Der Bundespräsident reist durchs Land, um mit Menschen zu sprechen. In Sachsen trifft er Teil­neh­me­r von Montagsdemos und deren Geg­ne­r – an einem Tisch. Ein Artikel von Sabine am Orde Aus freiberg, 8.12.2022, 18:45  Uhr Es dauert einen ganzen Tag, bis Frank-Walter Steinmeier angebrüllt wird. Bedenkt man, was Ministerpräsident Michael Kretschmer so widerfährt oder was Ex-Kanzlerin Angela Merkel in Sachsen alles wegstecken musste, kann man das einen durchaus freundlichen Empfang nennen. Am frühen Mittwochnachmittag nähert sich der Bundespräsident dem Café Hartmann, einer Traditionskonditorei, die nur einen Sprung vom Rathaus entfernt in der Freiberger Altstadt liegt. Vor dem Café stehen ein paar Leute herum, es hat sich herumgesprochen, dass Politprominenz in der Stadt weilt. Einige von ihnen halten das Handy gezückt, sie wollen ein Foto von Steinmeier machen. Ein kleiner Trupp aber hat eine Nachricht mitgebracht. „Frieden mit Russland“ steht auf dem Plakat, das einer von ihnen hält. Vom Christmarkt vor dem Rathaus klingen Weihnachtslieder herüber, es schneerieselt. „Kriegstreiber“, ruft der Mann, als er den Bundespräsidenten sieht, und dass dieser die Gesellschaft spalte – Steinmeier erzählt davon später drinnen. Dort ist ein langer Tisch aufgebaut, zwölf Frei­ber­ge­r*in­nen sitzen daran. Sechs Männer und sechs Frauen, die recht unterschiedlich ticken – und das ist genau so gewollt. Zwei von ihnen gehen montags regelmäßig auf die Straße. Ein Pfarrer hat den Verein „Freiberg für alle“ mitbegründet, der sich für eine weltoffene Stadt und Solidarität einsetzt. Dazu unter anderen: eine Mitarbeiterin der Tafel, eine Altenpflegerin, die sich nicht impfen lassen will, zwei Kulturschaffende, die Vorsitzende des Gewerbevereins, ein ehrenamtlicher Jugendarbeiter. Auf der weißen Decke stehen Blumengestecke und Platten mit Kuchen, Stollen und Plätzchen, über allem hängt viel Stuck und ein gewaltiger Tannenkranz mit Weihnachtsschmuck. Kaffee und Tee bringt die Bedienung. Er wolle, sagt Steinmeier, als er und Oberbürgermeister Sven Krüger in der Mitte Platz genommen haben, die Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch bringen. „Kaffeetafel kontrovers“ heißt das Format, das sich das Bundespräsidialamt dafür ausgedacht hat. Es ist der jeweilige Höhepunkt der sogenannten Ortszeiten, für die Steinmeier in die Provinz reist und drei Tage lang bleibt. Offiziell verlegt er seinem Amtssitz hierher, vor der Tür seiner Bleibe wird also die Flagge gehisst, mal hat er einen Staatsgast dabei, mal verleiht er im Laufe der Reise Bundesverdienstkreuze. Im Zentrum aber steht, dass er Leute trifft, Gespräche führt, sich über aktuelle Herausforderungen und über die Demokratie austauscht, manchmal auch streitet. Nicht nur, aber eben auch an der Kaffeetafel. Steinmeier versucht hier also das genaue Gegenteil von dem, was der Mann vor der Cafétür ihm vorgeworfen hat: Er will die Gesellschaft zusammenhalten. Die Stärkung der Demokratie, das ist sein großes Thema als Bundespräsident. „Wenn wir aus den großen Umbrüchen einen gemeinsamen Aufbruch machen wollen, dann geht das nicht durch staatliche Verordnung allein. Dann müssen wir Brücken bauen“, so hatte er es im Februar in der Bundesversammlung gesagt, als er zum zweiten Mal gewählt wurde. Was ohne Zweifel stimmt. Zumal der Bundespräsident nichts verordnen kann, als Werkzeug hat er vor allem das Wort. Kann das aber mit seinen Kurztrips gelingen? Hilft es einer gespaltenen Stadt, wenn der Bundespräsident mit dem Zug aus Berlin anreist und Menschen an einem Cafétisch versammelt? Wenn er auf dem Weihnachtsmarkt spontane Gespräche führt und mit dem Ministerpräsidenten Unternehmen der Halbleiterindustrie besucht? Wenn er Grundschullehrerinnen, die mit ukrainischen Kindern arbeiten, ausländische Studierende und Händ­le­r*in­nen in ihren Geschäften in der Altstadt trifft? Die Teil­neh­me­r*in­nen scheinen sich im Laufe des Gesprächs zu öffnen, einen Schritt auf die anderen zuzugehen Vier Ortszeiten gab es schon: Altenburg, Quedlinburg und Neustrelitz in Ostdeutschland sowie Rottweil in Baden-Württemberg hat Steinmeier bereist. Jetzt also drei Tage in Freiberg in Sachsen, am Fuße des Erzgebirges. Die 40.000-Einwohner Stadt hat mit der Bergakademie die älteste noch bestehende technisch-montanwissenschaftliche Universität der Welt, sie ist von Bergbau und Hüttenindustrie geprägt. Diese Tradition lebt, Bergmannsmotiven jedenfalls entkommt man in Freiberg nicht. Selbst zur Weihnachtsbeleuchtung am Rathausturm gehört der mit dem Eisen gekreuzte Bergmannshammer, das bekannteste Symbol. Freiberg geht es heute nicht schlecht. Mit Halbleiterfertigung und Solartechnik gehört es zum „Silikon Saxony“, dies sei die Basis für den Wohlstand der Stadt, sagt der Oberbürgermeister. Die Altstadt mit den vielen kleinen Geschäften und Cafés ist hübsch saniert und steht unter Denkmalschutz, gerade in der Weihnachtszeit zieht sie viele Touristen an. Der Stadtkern gehört zum Unesco-Welterbe Montanregion Erzgebirge, das grenzüberschreitend bis nach Tschechien reicht. Im Stadtrat aber ist, wie so häufig in Sachsen, die AfD stärkste Kraft, während der Hochzeiten der Coronapandemie wurde Freiberg zu einem Zentrum der rechten Proteste. Der parteilose Oberbürgermeister verhielt sich ambivalent, sein Stellvertreter von der CDU lief auf den Demos mit, auch Rechtsextremisten wie die Freien Sachsen kamen, was kaum jemanden zu stören schien. Heute wird hier weiter montags demonstriert, wenn auch bei Weitem nicht mehr mit vierstelliger Beteiligung. Auch wegen dieser Demonstrationen ist Steinmeier nach Freiberg gekommen und das sagt er an der Kaffeetafel im Café Hartmann auch gleich. „Was treibt die Gesellschaft hier in der Stadt auseinander, wo sind die Ursachen für Risse und Spaltungen, die beklagt werden?“, fragt der Bundespräsident. Und: „Warum hatte das auf einmal eine solche Dynamik?“ Am Tisch mit zwölf Leuten, die sehr unterschiedlich ticken: Steinmeier am 7.12. in Freiberg Foto: Sebastian Kahnert/dpa Dann spricht er den Mann, der ihm gegenüber sitzt, direkt an. „Wollen Sie vielleicht beginnen? Sie gehören zu den Organisatoren der Proteste.“ Thorsten Hedrich-Wild antwortet, er sei in Berlin gewesen, als das Infektionsschutzgesetz von Bundestag und Bundesrat an nur einem Tag beschlossen wurde, während die Polizei draußen in der Novemberkälte mit Wasserwerfern gegen Demonstrierende vorgegangen sei. „Das hat für mich nichts mehr mit Demokratie zu tun.“ Warum er Maßnahmen, die mit demokratischer Mehrheit beschlossen worden seien, für eine Unterdrückung der Demokratie halte, will Steinmeier nun wissen. Da ist Hedrich-Wild schon bei kritischen Ärzten, deren Meinung unterdrückt würde, und dass mit Masken nur Geld gemacht werde. Schnell ist klar: Der Mann zweifelt die Pandemie grundsätzlich an. Steinmeier widerspricht, es geht hin und her, die anderen schweigen noch. Hedrich-Wilds Initiative „Dialog für unsere Zukunft“ hat auch am Abend zuvor demonstriert, ausnahmsweise an einem Dienstag. Steinmeier sei in der Stadt fehl am Platz, sagt einer der Redner und fordert den Bundespräsidenten zum Rücktritt auf. Gut 100 De­mons­tran­t*in­nen sind auf den Schlossplatz gekommen, manche in blauen AfD-Westen, einige mit Armbinden mit der Aufschrift „Ungeimpft“, andere fordern auf Plakaten „Unser Land zuerst“. Auch die örtliche AfD-Bundestagsabgeordnete und der Organisator der Dresdner „Querdenker“-Demos sprechen. Steinmeier bekommt davon nichts mit, auch wenn er zu dieser Zeit nur wenige hundert Meter entfernt mit dem Oberbürgermeister im Schneeregen über den Christmarkt zieht. Hier ist die Stimmung ganz anders. Zwischen Schwibbögen und Glühweinständen wünschen sich viele ein Selfie mit dem Bundespräsidenten, mal fragen sie dies zögerlich, mal offensiv an, mal bieten die Mitarbeiter dies an; eine Frau mit Pudelmütze hakt sich einfach bei Steinmeier unter. Der lächelt und lacht, legt seinen Arm auf Schultern und Rücken, wirkt gelöst und ganz bei sich. Er möge Menschen, wird er später dem WDR ins Mikrofon sagen. Ein alter Mann erzählt ihm von seinem Rentnerdasein, ein Chefarzt spricht über den Pflegenotstand im Krankenhaus und dann steht plötzlich ein junger Mann neben Steinmeier und hält ihm auf dem Handy ein Foto entgegen, ein Denkmal für die Opfer der beiden Weltkriege ist darauf zu sehen. Steinmeiers Sprecherin ist alarmiert und rückt sofort an seine Seite, auch der Personenschutz aus BKA-Beamten nähert sich rasch. Doch der Mann sagt, dass man Putin drei Tage lang vor dieses Denkmal zwingen sollte. Und Steinmeier erzählt, wie er jüngst in der Ukraine in einem Keller war, wo zuvor Menschen wochenlang von Russen gefangengehalten wurden und Kinder neben Leichen spielen mussten. Dann gehen die beiden auseinander. Fragt man bei Christmarkt-Besucher*innen, ist die Rückmeldung zu Steinmeier durchgehend positiv. Es sei doch gut, dass er sich für ihre schöne Stadt Zeit nehme und mit den Leuten spreche. Und was für ein Glück überhaupt, dass der Markt wieder öffnen dürfe. Manch einer sagt aber auch, dass dessen zweijährige Schließung wegen Corona keineswegs angemessen gewesen sei. Der Unterton kann dabei auch mal etwas aggressiv werden. Steinmeier aber bekommt das an diesem Abend nicht mit, was auch am Respekt vor dem Amt liegen kann. Ein Kinobetriebsleiter hat zu Beginn der Pandemie auch demonstriert. Er sei empört gewesen, dass Kultur nicht als systemrelevant gegolten habe. Als er zur Bühne des Markts kommt, bei der großen Weihnachtspyramide, auf der sich, na klar, Berg- und Hüttenleute im Kreis drehen, spielt das Berg-Musikkorps Saxonia ihm zu Ehren das Steigerlied; viele der Be­su­che­r*in­nen stimmen ein. Dass Steinmeier die erste Strophe mitsingen kann, dürfte ihm hier zusätzliche Sympathien einbringen. Das Handy mit dem Text, das ein Mitarbeiter des Oberbürgermeisters schnell rüberreicht, braucht er nicht. Die Ortszeit sieht eine Mischung aus spontanen und geplanten Begegnungen vor. Am Mittwochmorgen lässt sich Steinmeier gemeinsam mit Ministerpräsident Kretschmer in einer Halle mit großen silbernen Kesseln die Züchtung von Einkristallen zeigen. Die Halbleiter-Firma Freiberger Compound Material stellt daraus sogenannte GaAs Wafer her, die unter anderem in Handys und Autos verbaut werden. Für die Produktion wird sehr viel Strom gebraucht. Als später Mitarbeitende dieser und zweier anderer Firmen mit Steinmeier und Kretschmer zusammensitzen, fragt der Bundespräsident, was die Firmen umtreibe. Es geht um die hohen Energiepreise, die Konkurrenz in Singapur, fehlende Fachkräfte und darum, dass viele ausländische Studierende Deutschland nach ihrer Ausbildung verlassen, obwohl sie als Arbeitskräfte dringend gebraucht werden. Steinmeier hört zu, fragt nach. Das kommt hier ebenso gut an wie später beim Gespräch mit Studierenden des Helmholtz-Instituts für Ressourcentechnologie. „Ich fand es gut, das unsere Nöte gehört werden“, sagt Schichtleiter Thomas Buschner. „Ich denke, er will sich Input holen und das ist wichtig“, meint Tina Pereira, Projektmanagerin am Helmholtz-Institut. Internationales Personal sei „essenziell“ für sein Institut, betont der wissenschaftliche Direktor Jens Gutzmer gegenüber Jour­na­lis­t*in­nen. Wie die Unternehmer sorgt er sich um den Ruf der Stadt. Darum, dass die Demonstrationen diesen verderben. Bei Compound Materials werden Halbleiter hergestellt, auch Mikrochips genannt Foto: Matthias Rietschel/reuters Der Ruf der Stadt treibt auch Oberbürgermeister Krüger um, doch lange hat er sich zu den Protesten nicht verhalten. Auch die Polizei griff erst nicht ein, obwohl die Demons­trierenden damals klar gegen die Corona-Verordnung verstießen. Schließlich initiierte der Verein „Freiberg für alle“ eine Unterschriftenliste und forderte die Polizei auf, die Aktionen nicht länger zu dulden. Mehr als 5.000 Bür­ge­r*in­nen unterschrieben. Krüger war früher in der SPD, fast 20 Jahre lang. 2018 ist er aus Protest gegen die Große Koalition in Berlin und auch gegen deren Flüchtlingspolitik ausgetreten. Fragt man ihn danach, winkt er ab. Das könne man alles auf seiner Facebook-Seite nachlesen. Jetzt sitzt er im Café Hartmann neben dem Bundespräsidenten und scheint froh darüber, hier auf der richtigen Seite zu sein. An der Tafel geht es zunächst um die Vergangenheit, um Corona-Einschränkungen, das Impfen, die Proteste dagegen. Schnell wird klar, wie sehr das alles die meisten noch umtreibt, wie tief die Verletzungen auch heute noch sind. „Bin ich eine schlechtere Krankenschwester, weil ich ungeimpft bin?“, fragt die Frau von der AWO. Nein, entgegnet Steinmeier. „Das nicht. Aber nach Meinung einer Mehrheit der Immunologen sind Sie ein höheres Risiko für die Patienten.“ Die Superintendentin der Kirchengemeinde am Dom berichtet, wie sie von Demonstranten übel beschimpft worden sei, weil sie eine Maske getragen habe. Hannelore Lohse, die ehrenamtlich „Ausländern hilft“, wie sie es nennt, hat sich einen Zettel gemacht, um nichts zu vergessen. Die 72-Jährige demonstriert regelmäßig am Montag mit und ärgert sich darüber, als Schwurblerin und Nazi bezeichnet zu werden. Wer bei den Demonstrationen mitlaufe, dafür könne sie doch nichts. Lohse vermisst Demut und Dankbarkeit bei den Geflüchteten aus der Ukraine, auch sorgt sie sich, dass „alle reingeholt werden und unsere Kultur überrannt wird“. Wenn rechtsradikale Gruppen sich vor die Demonstrationen stellten, müsse man das schon unterbinden, entgegnet Pfarrer Michael Dieter Stahl von „Freiberg für alle“. Er berichtet, dass sich bei vielen Menschen bereits der Eindruck festgesetzt habe, wieder in einer Diktatur zu leben, Vertrauen in den Staat werde strategisch erschüttert. Auch Hiltrud Anacker, die Superintendentin, meldet sich. Später wird sie sagen, dass ihre Erfahrung mit den Geflüchteten aus der Ukraine eine ganz andere ist: „Sie sind für unsere Hilfe sehr dankbar.“ Das war auch Steinmeiers Eindruck, als er am Vortag eine Initiative der Kirchengemeinde besucht hat, in der Ukainerinnen Deutsch lernen. Doch manche krude Äußerung an der Kaffeetafel bleibt auch unwidersprochen – etwa als Lohse die USA als „unsere Marionettenspieler“ bezeichnet, was eine klassische Verschwörungserzählung ist. Auch beklagt die alte Frau, dass von der Presse niemand verstehe, warum demonstriert werde und dass ständig alle als Nazis diffamiert würden. Robert Ahnert arbeitet ehrenamtlich im kirchlichen Jugendtreff Teeei, auch den hat Steinmeier kurz besucht. Ahnert organisiert dort Freizeiten für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Er kritisiert, dass die Stadt durch die Berichterstattung stigmatisiert worden sei. „Aus Freiberg seid ihr?“, sei er gefragt worden, als er eine Skifreizeit in Bayern organisiert hatte. Die Antwort sei dann oft abweisend gewesen: „Mit euch wollen wir nichts zu tun haben.“ Die Teil­neh­me­r*in­nen bewegen sich aufeinander zu Auch der Intendant des örtlichen Theaters stimmt bei der Medienschelte ein. Die De­mons­tran­t*in­nen bekämen zu viel Aufmerksamkeit, findet er. Jüngst hätten 400 demonstriert, vier Mal so viele aber seien im Theater und beim Domkonzert gewesen. Dann erinnert Olaf Thomas Erler an die Pressefreiheit. Er ist Betriebsleiter eines Kinos, das auch Raum für Dialoge bietet. Im Laufe des Gesprächs werden bei vielen der Teil­neh­me­r*in­nen Ambivalenzen deutlich, sie wägen ab, bewegen sich. Der Kinobetriebsleiter und die Vorsitzende des Gewerbevereins erzählen, dass sie zu Beginn der Pandemie auch demonstriert haben. Man sei empört gewesen, dass Kultur nicht als systemrelevant gegolten habe, sagt Erler. „Wir hatten Angst um unsere Existenz“, betont Anke Krause, die Frau vom Gewerbeverein, die einen Schreibwarenladen in der Altstadt betreibt. „Deshalb haben wir mit den Montagsdemonstrationen angefangen.“ Ihr Verein habe damit aufgehört, als nicht mehr zu kontrollieren gewesen sei, wer da alles so mitlaufe. Die Superintendentin macht später, als Steinmeier nach dem Ukrainekrieg fragt, ihr eigenes Dilemma klar: Dass sie gegen jeden Krieg sei, aber Unrecht eben auch Unrecht sei und unterbunden werden müsse. „Ich finde da keine Lösung“, sagt sie. Nicht nur die Kirchenfrau scheint sich im Laufe des Gesprächs zu öffnen, einen Schritt auf die anderen zuzugehen. Beide Seiten – sie meint die Coronaverharmloser und deren Gegner – hätten in den letzten Jahren Dinge gesagt, die besser nicht gesagt worden wären. Und dass jedes Gespräch hilfreich sei, um den entstanden Verletzungen und Verhärtungen zu begegnen. Kaffee und Kalender: Schü­le­r*in­nen beschenken den Bundespräsidenten Foto: Sebastian Kahnert/dpa Möglicherweise ist es genau das, was Steinmeiers Initiative leisten kann. Dass die Menschen friedlich zwei Stunden lang an einem Tisch sitzen und debattieren, sich im respektvollen Umgang auch mal die Gegenseite anhören. Einige Teil­neh­me­r*in­nen wollen das nun häufiger tun. „Ich kann mir vorstellen, dass wir wieder in den Dialog treten“, sagt jedenfalls Robert Ahnert, der ehrenamtliche Jugendarbeiter nach dem Gespräch. „Das ändert atmosphärisch schon etwas“, meint auch der Pfarrer. Ob das auch bei Hedrich-Wild von den Montagsdemonstranten der Fall ist? Das kann man bezweifeln. Als Einziger hat er sich während des Gesprächs keinen Millimeter bewegt. Fragen kann man Hedrich-Wild nicht mehr. Während die anderen nach dem offiziellen Ende des Gesprächs noch weiter plaudern, ist er gleich verschwunden. Der Bundespräsident jedenfalls betont, dass sein Anstoß in anderen Städten verfangen habe. Auch nach der Tafel in Freiberg ist Steinmeier zufrieden. „Mein Eindruck ist, wir müssen den politischen Dialog miteinander wieder neu lernen.“ Zuzuhören, das Argument der anderen zu bewerten und sich selbst zu überprüfen, all das wieder einzuüben, dazu diene die Kaffeetafel. „Es war eine kontroverse Auseinandersetzung, aber ich darf auch sagen, wenn sie immer so verläuft wie an diesem Tisch, dann kommen wir in dieser Gesellschaft ein Stück voran“, sagt Steinmeier. Dass dies der Demokratie in unserem Land guttun werde. Man kann sich für diese Gesellschaft durchaus einen Dialog wünschen, der egalitärer und weniger an einer Person ausgerichtet ist als Steinmeiers Tafel. Und man kann sich fragen, ob sein Ansatz wirklich nachhaltig ist. Aber einen Versuch sind seine Kaffeefahrten in jedem Fall wert.
Sabine am Orde
Der Bundespräsident reist durchs Land, um mit Menschen zu sprechen. In Sachsen trifft er Teil­neh­me­r von Montagsdemos und deren Geg­ne­r – an einem Tisch.
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