title
stringlengths
8
1.02k
content
stringlengths
7
306k
author
stringlengths
0
255
description
stringlengths
0
2.72k
keywords
sequencelengths
3
26
opinion
bool
2 classes
date_published_time_at
unknown
date_modified_at
unknown
__index_level_0__
int64
1.04k
1.1M
Coronatests für Schulen in Österreich: Nasenbohren gegen Covid-19 - taz.de
Coronatests für Schulen in Österreich: Nasenbohren gegen Covid-19 Dank des leicht anwendbaren Selbsttests können Corona-Infizierte an österreichischen Schulen gefunden und isoliert werden. Endlich! Endlich wieder unbesorgt in die Schule gehen mit dem negativen Coronaschnelltest Foto: Georg Hochmuth/dpa WIEN taz | „Negativ“, sagte die 13-jährige Matilde A., als sie am Mittwoch nach Hause kam, und strahlte über das ganze Gesicht. Die Freude galt nicht einer Schulnote, sondern einem Covid-Test. Nasenbohren vor Unterrichtsbeginn, das ist die Strategie, mit der Österreichs Bildungsministerium die Schulen nachhaltig offen halten will. Diese Woche wurden dabei bei 1,3 Millionen Proben 536 symptomfreie Infizierte entdeckt. Sie müssen für zehn Tage in Quarantäne, wenn der zuverlässigere PCR-Test das Ergebnis bestätigt. Der Name „Nasenbohrer-Test“ soll darauf hinweisen, dass die Selbsttestung kinderleicht ist. Anders als die gängigen Tests, bei denen das Wattestäbchen unangenehm in den oberen Nasenraum geschoben wird, muss das Stäbchen hier nur wie der Finger beim Popeln den unteren Nasenschleim abgreifen. Nur wenige Eltern verweigern ihr Einverständnis zu den Tests, ihre Kinder müssen dann zu Hause bleiben. Letzte Woche hatten die Reagenzien nur etwa 200 Covid-19-Positive zu Tage gefördert. Allerdings nur in den Bundesländern Wien und Niederösterreich. Die Schulkinder in den anderen sieben Ländern sind erst diesen Montag aus den Semesterferien zurückgekehrt. Diesmal waren es in Wien und Niederösterreich zusammen 353 positive Tests. „Wir führen das nicht auf eine steigende Infektionshäufigkeit zurück, sondern auf eine vermehrte Testroutine“, zitiert die Austria Presse Agentur Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP). Unter den bundesweit positiv Getesteten fanden sich 364 Kinder und 172 Lehrpersonen. Das entspricht einer Inzidenz von unter 50 während die 7-Tages-Inzidenz zuletzt bei 111 lag. Der Unterricht findet trotz des flächendeckenden Testens im Schichtbetrieb statt: Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler kommt am Montag und Dienstag in die Klassen, die andere Hälfte am Mittwoch und Donnerstag. Am Freitag machen alle virtuelles Homeschooling. Soziale Isolation Mit den Nasenbohrer-Tests betritt Österreich Neuland. Die Opposition, unterstützt von Soziologinnen und Psychiatern, hatte schon länger Druck gemacht, die Schulen wieder zu öffnen. Bei der Coronahotline des Psychosozialen Dienstes in Österreich melden sich jeden Tag zwischen 35 und 40 Menschen, die im Lockdown mit Interessen- und Energieverlust nicht zurechtkommen oder sogar in Depression verfallen. Während ältere Menschen, vor allem Pensionisten, mit der Krise besser klarkommen, leiden vor allem Jugendliche. Ihnen fehlt der soziale Austausch von Schule und Freizeit. Eine Studie der Abteilung für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität in Krems hat bei 26 Prozent der Befragten depressive Symptome konstatiert, auch Angstsymptome und Schlafstörungen sind demnach zu Massenphänomen geworden. Was auch zur Öffnung der Schulen nach mehr als zwei Monaten beigetragen hat, ist die Sorge um Kinder, die während des Homeschoolings „verloren“ gegangen sind. Schüler, die sich mit Geschwistern ein Handy oder mit den Eltern einen Laptop teilen müssen, sind schwer erreichbar und können ihre Hausaufgaben nicht rechtzeitig oder gar nicht einschicken. Eine Umfrage des Instituts für Höhere Studien, die auf Aussagen von 4.000 Lehrerinnen und Lehrern basiert, zeigt, dass über alle Schulen gerechnet 12 Prozent aller Kinder in Volksschule und Unterstufe während des ersten Lockdowns kaum oder gar nicht erreichbar waren. In Schulen mit hohem Ausländeranteil oder in einkommensschwachen Bezirken lagen die Quoten bei 40 Prozent (Volksschulen) und 37 Prozent (Unterstufen).
Ralf Leonhard
Dank des leicht anwendbaren Selbsttests können Corona-Infizierte an österreichischen Schulen gefunden und isoliert werden. Endlich!
[ "Österreich", "Schule und Corona", "Europa", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,249
Studie zur Demokratie in der Polizei: Lieber nicht genau hinsehen - taz.de
Studie zur Demokratie in der Polizei: Lieber nicht genau hinsehen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen wollen herausfinden, wie es Hamburger Po­li­zis­t:in­nen mit der Demokratie halten. Das passt den Gewerkschaften nicht. Eine ihrer Studien wird von den Gewerkschaften abgelehnt: Hamburger Polizeiakademie Foto: Angelika Warmuth/dpa HAMBURG taz | Akademische Forschung sei wichtig, auch über ihre Kol­le­g:in­nen – das betonen Hamburgs Polizeigewerkschaften. Und doch stößt das rasch an Grenzen: Wenn etwa For­sche­r:in­nen der Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg und der Polizeiakademie Niedersachsen Erkenntnisse darüber erhalten wollen, wie ausgeprägt demokratische Ansichten innerhalb der Polizei sind. Gegen die Umsetzung eines entsprechenden Projekts nämlich stellen sich nun eben diese Gewerkschaften: Der benutzte Fragebogen sei „inakzeptabel“, finden sie, die kritisierten Wis­sen­schaft­le­r:in­nen widersprechen. Seit 2019 schon ist das Projekt „Demokratiebezogene Einstellungen und Werthaltungen innerhalb der Polizei Hamburg“ (DeWePol) in Vorbereitung. Laut den Wis­sen­schaft­le­r:in­nen um die Kriminologieprofessorin Eva Groß gibt es aber nicht nur ihrerseits ein Interesse, die Einstellungen unter Po­li­zis­t:in­nen auszuleuchten. Auch die Hamburger Polizei selbst strebe proaktiv eine Studie an. Die soll zu wichtigen Erkenntnissen für die Weiterentwicklung der Aus- und Fortbildung der Hamburger Polizei und des Studiums an der Fachhochschule führen. Spätestens Mit den „Black Lives Matter“-Protesten 2020 sei die Erforschung der demokratischen Einstellung von Po­li­zis­t:in­nen auch gesellschaftlich als notwendig erachtet worden. Das Forschungsteam legte nun den Fragebogen, den teilnehmende Hamburger Po­li­zis­t:in­nen ausfüllen können, dem Personalrat vor – und dieser lehnte das Papier ab. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) und Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG), selbst in dem Gremium vertreten, unterstützen dessen Nein umgehend öffentlich. Beamte könnten sich strafrechtlich belasten Sie kritisieren etwa, dass keine Einschätzung des Datenschutzkonzeptes durch externe Datenschutzbeauftragte vorliege. Auch sei die Anonymität der Teilnehmenden nicht gewährleistet: „Über die Rohdateien sind die Kolleginnen und Kollegen, die sich an der Umfrage beteiligen, identifizierbar.“ Deniz Çelik, Innenpolitischer Sprecher der Hamburger Linksfraktion„Wer diesen zentralen Punkt ablehnt, der will in Wahrheit die Studie torpedieren“ Neben den Vorwürfen, der Fragebogen habe handwerkliche Mängel, lassen zwei weitere Beanstandungen auf eine grundsätzliche Ablehnung des Forschungsprojekts seitens der Gewerkschaften schließen: So gebe es Fragen, durch deren wahrheitsgemäße Beantwortung „sich die teilnehmenden Beamtinnen und Beamten selbst strafrechtlich belasten könnten“. Drei Fragen richten sich auf die Einstellungen von Be­am­t:in­nen gegenüber übertriebenen Zwangshandlungen von Kolleg:innen. Ebenfalls stört die Gewerkschaften, dass „Religionszugehörigkeit und politische Orientierung“ thematisiert würden: „Diese Umfragemethodik und Fragestellungen lehnen wir ab“, erklären die drei Organisationen abschließend. Die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen reagierten umgehend mit einer eigenen Stellungnahme: Darin kritisieren sie, dass ein partizipativ angelegter Forschungsprozess durch die Gewerkschaften einseitig infrage gestellt werde. Ihr Datenschutzkonzept sei durch die behördliche Datenschutzbeauftragte der Polizei geprüft worden – eine weitere externe Prüfung sei unnötig. Nach politischen Ansichten soll nicht gefragt werden Auch seien Vorkehrungen getroffen worden, Daten einzelner Befragter in ausreichendem Maß zu schützen. Überhaupt bestehe an individuellen Daten gar kein Interesse: „Es ist nicht das Ziel, Daten zu Einzelfällen auszuwerten“, stellen die Forschenden klar. Dass das Beantworten des Fragebogens die befürchteten Folgen haben könnte, sehen sie demnach nicht: „Wir fragen gerade nicht nach strafrechtlich relevanten Einzelfällen“, schreiben die Forscher:innen. Erfasst würde vielmehr die Einschätzung des Verhaltens von Kol­le­g:in­nen in hypothetischen Situationen. Der vielleicht zentrale Anlass für die gewerkschaftlichen Bedenken – die Frage nach politischen Einstellungen? Dies sei ja eben Ziel der Forschung: „Auch wenn solche Daten besonders sensibel und daher besonders geschützt sind, heißt das nicht, dass in wissenschaftlichen Studien wie unserer nicht danach gefragt werden darf“, entgegnen die Wissenschaftler:innen. „Die grundlegende Ablehnung durch die Gewerkschaften kommt einer generellen Ablehnung von wissenschaftlichen Untersuchungen zu demokratiebezogenen Einstellungen in der Polizei gleich.“ Druck auf Polizei wächst Dass Polizeigewerkschaften sich gegen die wissenschaftliche Forschung nach antidemokratischen Tendenzen innerhalb der Polizei sträuben, ist nicht neu. So kritisierte die DPolG im vergangenen Jahr eine Studie der Bochumer Ruhr-Universität als „üble Stimmungsmache“. Andererseits wächst der Druck auf die Polizei, sich für solche wissenschaftliche Erforschung zu öffnen. Das zeigt sich etwa auch an der neuen Bundesregierung: „Die Institutionen des Staates stehen in besonderer Verantwortung, an jeder Stelle fest und zweifelsfrei auf der Grundlage unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu agieren und jede Form der gruppenbezogenen Diskriminierung entschieden entgegenzutreten“, konstatieren die Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag. Dafür sei Selbstkontrolle ebenso wichtig wie unabhängige wissenschaftliche Erkenntnisse über die innere Verfasstheit von Einrichtungen und ihren Beschäftigten. „Wir wollen entsprechende Studien fördern“, bekennen SPD, Grüne und FDP. Der ehemalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte sich zuvor gegen derlei Studien gestellt. Politik will Fortführung Deniz Çelik, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, kritisiert die Gewerkschaften wegen ihrer Ablehnung – es gehe schließlich gerade darum, mit der Studie die politischen Positionen der Be­am­t:in­nen herauszufinden. „Wer diesen zentralen Punkt ablehnt“, so Çelik, „der will in Wahrheit die Studie torpedieren.“ Seitens der regierenden rot-grünen Koalition weist Sina Imhof, innenpolitische Sprecherin der Grünen, auf die Wichtigkeit der Polizei-Studie hin. Diese könne einen großen Erkenntnisgewinn bringen und Chancen eröffnen. „Der bisherige partizipative Prozess“, fordert die Abgeordnete, „muss fortgesetzt werden.“
André Zuschlag
Wis­sen­schaft­le­r:in­nen wollen herausfinden, wie es Hamburger Po­li­zis­t:in­nen mit der Demokratie halten. Das passt den Gewerkschaften nicht.
[ "Polizei Hamburg", "Gewerkschaft der Polizei", "Rot-Grün Hamburg", "Hamburg", "Polizeigewalt und Rassismus", "Nord", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,250
Islamischer Staat im Irak: Erst Ramadi, dann Palmyra? - taz.de
Islamischer Staat im Irak: Erst Ramadi, dann Palmyra? Milizen des Islamischen Staates haben den Regierungssitz in der westirakischen Stadt Ramadi erobert. Die Kämpfe um Palmyra gehen unvermindert weiter. Regierungstruppen in Ramadi. Bild: ap BAGDAD afp | Nach eintägiger Offensive hat die Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS) am Freitag den Regierungssitz in der umkämpften westirakischen Stadt Ramadi erobert. Nach Angaben eines Polizeioffiziers übernahmen die IS-Kämpfer die Kontrolle über das Regierungsgebäude und hissten dort ihre schwarze Flagge. In Syrien verstärkte die Armee wegen des IS-Vormarschs auf Palmyra ihre Präsenz in der weltberühmten antiken Stadt. Auch der IS selbst verkündete in einer Mitteilung die Eroberung des Regierungssitzes in Ramadi. Zudem erklärte die Gruppe, sie habe „benachbarte Gebäude“ der Regierung und der Polizei „in die Luft gejagt“. Mit der Eroberung des Regierungskomplexes in Ramadi kontrolliert die Dschihadistenmiliz die Hauptstadt der Provinz Anbar nun nahezu komplett. Seine Offensive auf die Stadt hatte der IS am Donnerstag begonnen. Auch ein Stammesführer bestätigte die Angaben zu der Eroberung. Die Regierung kämpft seit Monaten gegen die IS-Miliz, die im Juni vergangenen Jahres nördlich und westlich von Bagdad eine Offensive gestartet hatte. Der Konflikt zwischen der Zentralregierung in Bagdad und den sunnitischen Aufständischen trieb nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration inzwischen fast drei Millionen Menschen in die Flucht. Der IS hatte im Sommer vergangenen Jahres große Gebiete im Nordirak und in Syrien überrannt. In beiden Ländern werden die Dschihadisten am Boden von einheimischen Einheiten und aus der Luft von einer internationalen Militärallianz unter Führung der USA bekämpft. Aus dem Irak hieß es seitens der Behörden und des IS am Freitag, die Extremisten hätten auch an anderen Orten in der Provinz Anbar Boden gut gemacht. Kämpfe um Palmyra halten an In Syrien entsandte die Armee Soldaten zur Verstärkung nach Palmyra. Die syrische Armee fliege Luftangriffe gegen die Extremisten, die nur noch einen Kilometer von der Oasenstadt in der zentralen Provinz Homs entfernt stünden, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag weiter mit. Der Provinzgouverneur Talal Barasi bestätigte die Angaben und versicherte, die Lage in Palmyra sei „unter Kontrolle“. Bei ihrem Vorstoß auf Palmyra hatten die Dschihadisten nach Angaben der Beobachtungsstelle, deren Erkenntnisse aus einem Informantennetzwerk vor Ort stammen und unabhängig kaum überprüfbar sind, 26 Bewohner umliegender Dörfer hingerichtet, darunter zehn durch Enthauptung. Seit Donnerstag sollen darüber hinaus bei Kämpfen 73 Soldaten und 65 IS-Kämpfer getötet worden sein. Die Sorge um das zum Unesco-Weltkulturerbe gehörende Palmyra ist wegen der vom IS in anderen antiken Stätten wie Nimrud und Hatra angerichteten Zerstörungen groß. Gut einen Monat nach der Nachricht von der Zerstörung der nordirakischen Ruinenstadt Nimrud zeigte der IS Mitte April in einem Video das Ausmaß der Verwüstung in der Ausgrabungsstätte aus dem 13. Jahrhundert vor Christus. Das Video lässt erahnen, dass von der Stätte am Ufer des Tigris, rund 30 Kilometer südöstlich von Mossul, kaum noch etwas erhalten sein dürfte. Nimrud war einer der berühmtesten archäologischen Fundorte im Zweistromland, das wiederum oft als Wiege der Kultur beschrieben wird. Der Leiter von Syriens Altertümerverwaltung, Maamun Abdulkarim, forderte nun, die Weltgemeinschaft müsse zum Schutz von Palmyra „mobilmachen“.
taz. die tageszeitung
Milizen des Islamischen Staates haben den Regierungssitz in der westirakischen Stadt Ramadi erobert. Die Kämpfe um Palmyra gehen unvermindert weiter.
[ "Ramadi", "Palmyra", "„Islamischer Staat“ (IS)", "Syrienkrieg", "Nahost", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,251
Investitionen in Berlins kaputte Schulen: Hoffnung auf weniger Stillstand - taz.de
Investitionen in Berlins kaputte Schulen: Hoffnung auf weniger Stillstand Der Schulbau wird mit einer Rekordsumme in der Investitionsplanung bedacht. Aber macht das viele Geld die zähe Schulbauoffensive auch schneller? Berlin, deine Schulen: Welche saniert man bloß zuerst? Foto: picture alliance/dpa | Britta Pedersen Eine Rekordsumme von mehr als eine Milliarde Euro will die rot-grün-rote Landesregierung in den Schulbau investieren – pro Jahr. 2025 sollen es sogar, einschließlich Kreditmittel, rund 1,7 Milliarden Euro sein. Viel Geld, mit dem da hantiert wird? Tja, das ist die Frage, die beim Thema Schulbau gar nicht so leicht zu beantworten ist. Was jedenfalls ziemlich eindeutig ist: Es ist eine politische Schwerpunktsetzung, die die Koalition da trifft. Die Mittel für Schulsanierung und -neubau machen in 2022/23 etwas weniger als ein Drittel des Gesamtvolumens der Investitionsplanung aus. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sprach am Dienstag denn auch vom „Flaggschiff“ bei den Investitionen. Doch der Glanz des vielen Geldes sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bezirke – die als Schulträger in der Regel für Sanierungsvorhaben zuständig sind – trotzdem nicht so richtig glücklich sind. Sie vermissen viele Bauvorhaben im Fahrplan des Finanzsenators Daniel Wesener (Grüne). Denn alles, was dort nicht drinsteht, kann nicht weiter „beplant“ werden. Die Folge: Auf einigen Schulbaustellen werde Stillstand herrschen, warnen Bezirkspolitiker*innen. Eine einigermaßen fortgeschrittene Bauplanung ist aber wiederum Voraussetzung, um es in die Investitionsplanung zu schaffen. Da beißt sich also die Katze in den sprichwörtlichen Schwanz. Wer da nun Recht hat, ist vermutlich eine Betrachtungsfrage jeder einzelnen Baustelle. Der Finanzsenator sieht das alles anders: Die Baustellen, die die Bezirke jetzt vermissen, seien ohnehin mehr Wunsch als Wirklichkeit gewesen: Platzhalter also für Projekte, die man mal angehen will, aber für die man keine (Personal-)Kapazitäten im Bauamt hat. Wer da nun im Recht ist, ist vermutlich eine Betrachtungsfrage jeder einzelnen Baustelle. Man macht sich locker Interessant ist dieses Mal das Kleingedruckte in der Investitionsplanung. Denn es gibt Ausnahmen von den strengen Vorgaben: „Schulbau- und Schulsanierungsmaßnahmen, die in der Investitionsplanung keinen Ansatz haben“, deren Notwendigkeit die Bezirke aber auf Grund von „aktuellen Entwicklungen“ begründen, können vorzeitig durch die Finanzverwaltung grünes Licht bekommen. Kurz gesagt: Man macht sich locker in der Finanzverwaltung. Es vergeht im Zweifel kein Jahr Stillstand mit dem Warten darauf, dass der Senat die nächste Investitionsplanung beschließt und für die Mensaerweiterung von Schule xy endlich Geld da ist. Die Frage ist natürlich, wie weit die Finanzverwaltung dann die Notwendigkeit von „aktuellen Entwicklungen“ erkennen mag. Und bei krassen Havariefällen wie der Anna-Lindh-Schule im Wedding, die zu Schuljahresbeginn wegen massiven Schimmelbefalls komplett ausgelagert werden musste, gab es schon immer spontan Geld. Aber die Finanzverwaltung hat den Bezirken eine Tür offen gelassen: Zeigt, dass ihr einen Plan habt, dass die Baustelle nicht nur auf dem Papier existiert, und dann könnt ihr loslegen. Mal sehen, ob das ein bisschen Schwung in die oft immer noch viel zu zähe Schulbauoffensive bringt. In Pankow zum Beispiel warten Schulamt und Senatsverwaltung beim völlig maroden Gymnasium am Europasportpark schon seit einiger Zeit aufeinander: auf Planungsunterlagen, auf beendete Prüfverfahren. Eine Grundsanierung vor 2026 ist derzeit unwahrscheinlich – obwohl die Schulleitung schon jetzt sagt, dass sie morgens Zweifel hat, ob sie das Gebäude noch ruhigen Gewissens aufschließen kann für den Schulbetrieb. Würden nur die Planungsmittel für ein Ersatzgebäude an der Storkower Straße endlich freigegeben, hatte die Schulstadträtin gesagt, würde man ja gerne anfangen. Na dann: mal los.
Anna Klöpper
Der Schulbau wird mit einer Rekordsumme in der Investitionsplanung bedacht. Aber macht das viele Geld die zähe Schulbauoffensive auch schneller?
[ "Wochenkommentar", "Schulbauoffensive", "Schulbau", "Daniel Wesener", "Franziska Giffey", "Berlin", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,252
Vom verarmten Grafen zum Millionär - taz.de
Vom verarmten Grafen zum Millionär Knackpunkt beim letzte Woche in Bonn verabschiedeten Entschädigungsgesetz sind nicht die enteigneten Eigenheimbesitzer, sondern die „Bodenreformopfer“, sprich: der alte Landadel  ■ Von Jantje Hannover Berlin (taz) – In der unendlichen Geschichte um das Entschädigungsgesetz ist mal wieder ein Vorhang gefallen – der Szenenapplaus nimmt sich mäßig aus. Unter Leitung des Bundeskanzlers hat die Bonner Koalitionsrunde Anfang letzter Woche den Vorschlag einer Arbeitsgruppe gebilligt, nach dem der größere Teil des Entschädigungsfonds vom Bund finanziert werden soll. Vermutlich wird diese Gesetzesvorlage nicht die endgültige Fassung sein. Beim heißen Eisen Entschädigung geht es zwar vor allem um Macht und Geld, in der jahrelangen Diskussion schlagen allerdings die emotionalen Wogen am höchsten: Da wird mit dem toten Opa der vergewaltigten Großmutter und dem Schmerz um die bei der Enteignung verlorene Heimat argumentiert. Wichtigste Neuerungen der Vorlage: die Vermögensabgabe (30 Prozent des Rückgabewertes) für Alteigentümer fällt unter den Tisch und damit die von Theo Waigel geplante „haushaltsneutrale“ Finanzierung des Entschädigungsfonds. Dessen Gesamtvolumen wird gleichzeitig auf 187 Milliarden Mark aufgestockt – eine Summe, die nun der Steuerzahler berappen darf. Berechnungsgrundlage für die Ausgleichszahlungen ist nicht mehr der 1,3fache Einheitswert von 1935, sondern ein fiktiver Verkehrswert von 1990. Das entspricht mindestens einer Verdoppelung der Entschädigung. Über Schuldverschreibungen soll dieses Geld ab 2004 ausgezahlt werden. „Wir sind angetreten, unseren Mitgliedern zumindest Teile ihres Eigentums zurückzuverschaffen.“ Rechtsanwalt Dr. von Hugo, Geschäftsführer der AFA (Arbeitsgemeinschaft für Agrarfragen) aus Braunschweig, sieht in der Neuregelung keinen Grund für Applaus. Hinter dem unscheinbaren Namen verbirgt sich die wichtigste Interessengemeinschaft der Alteigentümer. Man rechne mit einem erheblichen Wertverlust, da die Schuldscheine erst ab 2004 ausgezahlt werden. Knackpunkt bei der Entschädigung sind nicht die einfachen Enteignungen, wie etwa bei Eigenheimbesitzern, für die der Einigungsvertrag klar die Rückgabe vorsieht. Ärger machen die sogenannten Nichtrestitutionsberechtigten, die „Bodenreformopfer“ (1945–49), die laut Einigungsvertrag keinen Anspruch auf Rückgabe haben. Die einstigen Herren über Grund und Boden sind es, die heute mit einer starken Lobby den Herren in Bonn im Nacken sitzen und das Entschädigungsgesetz wieder und wieder in den Ring schicken. Vergeblich hatte Theo Waigel versucht, die leere Staatskasse vor neuen Heimsuchungen zu bewahren: Eine Expertenrunde aus Justiz und Wirtschaft, im September zur Begutachtung des Vorschlags aus dem Finanzministerium angetreten, hatte das Papier förmlich in der Luft zerrissen. Daß mit der Vermögensabgabe „Opfer Opfer entschädigen“ würden und gleichzeitig die Wertschere zwischen Rückgabe und vorgesehener Entschädigung zu groß sei, hielt man für verfassungsrechtlich bedenklich. Um so besser standen die Chancen für das „Coupon-Modell“, geistiges Kind der Alteigentümerorganisation AFA, mit dem Hans Gattermann (FDP) im Oktober für neuen Zündstoff in der Bonner Diskussionsrunde sorgte. Das Modell sicherte den Anspruchsberechtigten Schuldscheine zu, die wahlweise gegen Naturalien, sprich: Immobilien und Boden, oder vom Jahre 2004 an gegen Bargeld einzulösen wären. „Der kleine Mann wäre der Gewinner gewesen“, behauptet Baron Rudolph Freiherr von Schröder, der beim Coupon-Modell die Querelen um Rückübertragung und damit das Investitionshemmnis Nummer eins für den Aufschwung Ost aus der Welt geschaffen sieht. Der adelige Geschäftsführer des OAC (Ost-Vermögens und Agrarconsult GmbH), in erster Linie eine Unternehmensberatungsgesellschaft für Alteigentümer, ist gleichzeitig Landwirt auf seinem Gutsbetrieb im Herzogtum Lauenburg. Nebenbei betreibt er die Rückgabe seines ostelbischen Grundbesitzes bei Klützer-Winkel in Mecklenburg-Vorpommern. Tatsächlich hätte beim Coupon- Modell allein die Berechnung der Schuldscheine Jahre gedauert. Für die Ostdeutschen wäre dieser Vorschlag allerdings schlichtweg eine Katastrophe gewesen. Kurt Pasewald, Vorstandsvorsitzender der Agrargenossenschaft Börde (Sachsen-Anhalt): „Das war doch nur ein Hintertürchen, um den Einigungsvertrag auszuhöhlen.“ Die zahlreichen Agrargenossenschaften in Ostdeutschland sind die Nachfolgeorganisationen der LPGs. Sie bewirtschaften bislang noch den Löwenanteil an Boden und sind damit die Intimfeinde der Alteigentümer. Inzwischen ist auch das Coupon-Modell und damit der endgültige Ausverkauf Ost vom Tisch. Was die Arbeitsgruppe aus Abgeordneten, Bonner Staatssekretären, ostdeutschen Ministern und Verfassungsrechtlern jetzt vorgelegt hat, ist ein Kompromiß, mit dem alle Beteiligten halbwegs leben können. Im Landwirtschaftsministerium von Brandenburg wird vorerst aufgeatmet. Zwar wäre die „Kuh noch nicht vom Eis“, wie Pressesprecher Detlef Herbst erklärt, „aber die wichtigste Forderung unseres Hauses, also die Trennung von Entschädigung und Rückgabe, hat Gehör gefunden“. Das Land Brandenburg war noch im September vor das Verfassungsgericht gezogen. Stein des Anstoßes: die Treuhandrichtlinie (Bohl-Papier), die die Verpachtung volkseigener Flächen regelt und dabei Alteigentümer bevorzugt. „Die Enteignungen sollten endlich als ein Ergebnis des Krieges akzeptiert werden“, findet Diethard Stadtler (SPD), stellvertretender Landrat in Prenzlau, und verweist auf die Vertriebenen aus Schlesien, die auch allen Besitz verloren und nun mit 4.000 Mark abgespeist werden sollen. Bei der BVVG (Bodenverwertungs- und verwaltungsgesellschaft), zuständige Institution für die Verteilung volkseigener Flächen, zeigt man sich bedeckt. Heraushalten möchte sich auch Herbert von Arnim, der seit der Wende wieder Gutsherr in Bietikow/Brandenburg mit über 1.000 Hektar Land ist. „Ich habe mir abgewöhnt, Ideen zu haben“, behauptet er resigniert. Mit seiner Adoptivtochter Anke von Arnim Freifrau von Reitzenstein und deren Gemahl Tront Batzlaff hatte sich der Alteigentümer geschickt das Seinige zurückbesorgt, noch bevor es irgendeine Treuhandrichtlinie gab – vorerst allerdings nur zur Pacht. Nach endlosen Querelen mit der in die Liquidation gedrängten LPG vor Ort zählt die Familie zu den meistgehaßten im Dorfe. Bei der Bürgermeisterwahl habe der angetretene Schwiegersohn nicht eine einzige Stimme erhalten – so munkelt man. „Ich fühle mich wie ein Kosovo-Albaner – unerwünscht in jeder Richtung.“ Graf Christoph Schlippenbach möchte allerdings keineswegs den Eindruck erwecken, „daß wir Alteigentümer nur jammern“. Der ausgebildete Landwirt wohnt schon über ein Jahr im Wohnwagen auf seinen angepachteten 350 Hektar in Raakow bei Prenzlau. Mehr hat er „den alten Kadern“ bei der BVVG von seinen 4.000 Hektar Altbesitz bislang nicht abtrotzen können. Über den neuesten Stand des Entschädigungsgesetzes weiß er noch nicht so recht Bescheid, aber: „Die Bundesregierung will das Diebesgut wahrscheinlich selbst verkaufen, um damit die Wiedervereinigung zu finanzieren.“ Geht es nach dem aktuellen Plan der Bundesregierung, dürfte der verarmte Graf wohl bald Millionär sein. Zur Zeit gibt das Bonner Finanzministerium noch keine Auskunft über die Höhe von Entschädigungen. Man müsse erst noch das Bruttovolumen des Entschädigungsfonds von derzeit 29,4 Milliarden auf die vorgesehenen 18 Milliarden herunterrechnen. Das geschieht über eine Degressionsstaffelung, also Abschlägen in den höheren Bereichen. Es wird wohl auch eine Höchstgrenze geben, die aller Wahrscheinlichkeit nach höher liegt als die bislang vorgesehene von 950.000 Mark. Mit 4.000 Hektar Land (schon der Einheitswert von 1935 für den Hektar liegt über 55 Mark) dürfte Herr Schlippenbach die locker erreichen. Auf die Steuererhöhung im Jahre 2004 darf man sich schon heute freuen.
jantje hannover
Knackpunkt beim letzte Woche in Bonn verabschiedeten Entschädigungsgesetz sind nicht die enteigneten Eigenheimbesitzer, sondern die „Bodenreformopfer“, sprich: der alte Landadel  ■ Von Jantje Hannover
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,253
Dokukomödie „The Happy Film“: Buchstaben aus Obst und Milch - taz.de
Dokukomödie „The Happy Film“: Buchstaben aus Obst und Milch Der Grafikdesigner Stefan Sagmeister unternimmt den systematischen Versuch, das Glück zu messen. Das sieht verdammt gut aus. Fein plantschen: Stefan Sagmeister in „The Happy Film“. Foto: Mindjazz Gäbe es einen internationalen Preis für den bestaussehenden Film des Jahres, er wäre diesem hier wohl ziemlich sicher. „The Happy Film“ ist in visueller Hinsicht ein absolutes High-End-Produkt. Alles andere ginge auch gar nicht, denn immerhin ist sein Initiator, Ko-Regisseur und Haupt(selbst)darsteller Stefan Sagmeister nicht irgendwer, sondern ein international renommierter Grafikdesigner mit eigener Firma in New York. Dies ist sein erster Film. Ein Jahr lang wollte Sagmeister mit seinem Team daran arbeiten; sieben Jahre sind es geworden. Was ist Glück? Wie wird man glücklich? Zu große Fragen, fand der Designer nach einiger Beschäftigung mit dem Thema, um sie ernsthaft bearbeiten zu können. Für die Zwecke des Films hat er sich daher auf sein eigenes Glücksstreben und – noch wichtiger, denn Sagmeister ist Systematiker – das Messen des eigenen Glücksempfindens beschränkt. Das, so stellt sich heraus, ist verwirrend genug. In der Anfangssequenz sieht man Menschen Ballons aufblasen. Es werden sehr viele Ballons aufgeblasen in diesem Film. Diese hier sind dafür gedacht, zusammen als Traube einen Riesenballon zu bilden. An ihm, so der Plan, soll Sagmeister in die Luft schweben. Der aber scheitert, denn der Designer wiegt zu schwer. Statt seiner ist es schließlich seine Freundin, die am Glücksballon in den Himmel enthoben wird. „I love it!“ hört man sie rufen. Es ist wohl das schönste der vielen metaphorisch gedachten Tableaus, aus denen dieser Film zusammengesetzt ist, der das Glück im wahrsten Sinne des Wortes durchzubuchstabieren versucht. Das Denken in Buchstaben, das Grafikdesigner verinnerlicht haben, lebt Sagmeister hemmungslos aus. Da werden Worte in Obst geschnitzt, wachsen Schriftzüge aus Ästen, lecken Haustiere Buchstaben aus Milch auf, tanzen balinesische Tänzerinnen in opulenten Kostümen ein ganzes Buchstabenballett. Das ist insgesamt unglaublich aufwendig gemacht und steht in keinem Verhältnis zum Inhalt. Mal steht da „happiness“, dann vielleicht „keeping a diary supports personal development“ oder auch „make the first step“. Sieht immer toll aus, ist oft aber ziemlich schwer zu lesen. Zuerst Meditation, dann Verhaltenstherapie Eine Art Storyboard gibt es auch, das vorsieht, dass Sagmeister, um seinem persönlichen Glücksempfinden auf die Sprünge zu helfen, je drei Monate lang jeweils eine andere Methode im Selbstversuch ausprobieren soll. Zuerst Meditation, dann Verhaltenstherapie, schließlich Psychopharmaka. Dabei passiert Folgendes: Bei der Meditation in Bali trifft der Designer auf eine ehemalige Studentin und verliebt sich. Nach kurzer Zeit folgt die Trennung. Während der Verhaltenstherapie fliegt er nach Österreich und trifft dort eine gute alte Freundin. Sie beginnen eine Beziehung, die bald wieder vorbei ist. Zum Dritten: Nach einer schrecklichen Woche auf einem milde dosierten Antidepressivum lernt Sagmeister eine junge Frau kennen, in die er sich leidenschaftlich verliebt. Nach zehn Tagen macht er ihr einen Heiratsantrag. (Im Vergleich der drei Therapiemethoden schneiden die Psychopharmaka in puncto Steigerung des Glücksempfindens mit weitem Abstand am besten ab.) Nach dem Absetzen der Tabletten beginnen die ersten Konflikte. Das ist, so von außen betrachtet, natürlich ein durchschaubares Muster; und es nötigt Respekt ab, wenn sich da einer so schonungslos vor den Augen der Öffentlichkeit entblößt. Natürlich ist vieles, oder das meiste, inszeniert (zum Beispiel wenn der Österreicher mit seiner deutschen Freundin vor der Kamera Englisch spricht) und damit im Prinzip eine erzählerische Fiktion, was dem Ganzen eine gewisse Hintergründigkeit verleiht. Allgegenwärtiger Buchstabenzauber Insgesamt reicht diese Hintergründigkeit allerdings nicht sehr weit hinter den allgegenwärtigen Buchstabenzauber. Am Schluss erklärt Stefan Sagmeister sein Projekt für mehr oder weniger gescheitert. (Man darf das wohl teilweise für Ironie halten. Seine Vortragsreihe und die Ausstellung zum Glücksthema, die er während der Zeit der Dreharbeiten konzipierte, waren derweil ungemein erfolgreich.) Der Film„The Happy Film“. Regie: Stefan Sagmeister & Hillman Curtis. USA 2016, 95 Min. Das macht natürlich nichts, denn auch das Scheitern beinhaltet ja eine Erkenntnis – jedenfalls für den Filmemacher selbst. Für viele andere dagegen wird es kaum eine neue Einsicht sein, dass sich Glück weder messen noch per Willenskraft erzwingen lässt. Zuzusehen, wie es einer vergeblich versucht, ist trotzdem anregend. Nicht zuletzt deshalb, weil alles soo gut aussieht. Fast könnte man Lust bekommen, mal wieder die Wohnung aufzuräumen.
Katharina Granzin
Der Grafikdesigner Stefan Sagmeister unternimmt den systematischen Versuch, das Glück zu messen. Das sieht verdammt gut aus.
[ "Glück", "Kino", "Film", "Kultur", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,254
Bilanz nach Sturmtief „Xavier“: Sieben Tote, hunderte Unfälle - taz.de
Bilanz nach Sturmtief „Xavier“: Sieben Tote, hunderte Unfälle Nach und nach normalisiert sich der Zugverkehr. Feuerwehren sind weiter im Dauereinsatz. Sieben Menschen hat „Xavier“ das Leben gekostet. „Xavier“ forderte sieben Menschenleben: umgestürzte Bäume und herabfallende Äste Foto: dpa BERLIN dpa | Nach dem verheerenden Sturm „Xavier“ über Deutschland mit mindestens sieben Toten laufen vielerorts Aufräumarbeiten. Das Tief war am Donnerstag mit großer Wucht über Deutschland gezogen. Besonders stark von dem Unwetter betroffen waren Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg. Die Feuerwehren mussten tausende Einsätze fahren, besonders häufig in Hamburg und Berlin. Vier Tote gab es allein in Brandenburg. Ein 72 Jahre alter Mann wurde bei Hoppegarten von einem Baum erschlagen, als er Äste von der Straße entfernen wollte. Nahe Gransee nördlich von Berlin fiel ein Ast in eine Windschutzscheibe und tötete einen Menschen. Zudem wurde in derselben Region eine Frau in einem Auto von einem Baum erschlagen. Ein weiterer Mensch kam bei Müllrose ums Leben. In Berlin starb eine Frau, als ein Baum auf ihr Auto stürzte. In Hamburg wurde ebenfalls in einem Wagen eine 54-jährige Beifahrerin getroffen und getötet. In der Nähe von Schwerin wurde ein Lastwagenfahrer von einem umstürzenden Baum erschlagen. Es kam zu hunderten Verkehrsunfällen in Folge des Sturms. Alleine in Brandenburg gab es neben den vier Todesopfern 24 weitere Verletzte und über 100 Unfälle. Aufräumarbeiten unter Hochdruck Viele Bahnreisende waren noch am Abend an Bahnhöfen gestrandet. Der Zugverkehr in der Nordhälfte Deutschlands wegen umgestürzter Bäume war zuvor in großen Teilen zum Erliegen gekommen. Für viele Fahrgäste ging es beispielsweise am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe nicht weiter, weil Schnellzüge aus dem Süden in Richtung Norden dort gestoppt wurden. Dieser Verkehrsstopp sei am Nachmittag verhängt worden, sagte ein Bahnsprecher in Berlin. Die Bahn habe in Kassel Hotelzüge für rund 1000 Menschen bereitgestellt. Die Gestrandeten bekämen Kaffee, Tee und andere Getränke. Der Sturm legte allerdings nicht nur den Fernverkehr lahm. Für mehrere Stunden brachen große Teile des öffentlichen Nahverkehrs und des Straßenverkehrs zusammen. Noch fahrende U-Bahnen waren hoffnungslos überfüllt. Am Berliner Hauptbahnhof war die Lage chaotisch. Hunderte standen am Abend im Eingangsbereich herum, viele waren auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Zum Abend lief immerhin der Großteil des U-Bahn-, Straßenbahn- und Busverkehrs wieder an. Auf den Flughäfen gab es zeitweise nur eingeschränkten Betrieb, weil die Abfertigung eingestellt wurde. Passagiere mussten in gelandeten Flugzeugen warten. In der Nacht zum Freitag beruhigte sich die Wetterlage – die Aufräumarbeiten wurden allerorts mit Hochdruck weiter vorangetrieben. Reisend und Berufspendler müssen dennoch mit langen Wartezeiten, Verspätungen und Zugausfällen rechnen. Wer auf den Regionalverkehr angewiesen ist, solle besser auf andere Verkehrsmittel umsteigen, sagte ein Sprecher der Bahn. „Das ganze Netz in der Region ist massiv eingeschränkt. Wir haben zahlreiche Bäume auf den Gleisen, beschädigte Oberleitungen und abgeknickte Fahrmasten.“ Die Reparaturen würden voraussichtlich den ganzen Tag dauern.
taz. die tageszeitung
Nach und nach normalisiert sich der Zugverkehr. Feuerwehren sind weiter im Dauereinsatz. Sieben Menschen hat „Xavier“ das Leben gekostet.
[ "Sturm", "Orkan", "Unwetter", "Berlin", "Brandenburg", "Alltag", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,255
5 dinge, die wir diese woche gelernt haben - taz.de
5 dinge, die wir diese woche gelernt haben: 1 Russland gehen langsam, aber sicher die Maschinen aus Die Sanktionen wirken: Seit dem Angriff auf die Ukraine mangelt es Russland an Hochtechnologie. Es sollen schon alte Flugzeuge nach Ersatzteilen ausgeschlachtet worden sein, nun ergießt sich Häme über ein Elektro-Notebook namens Titan, gebaut von Baikal Electronics. Klobig und lahm sei das Ding – technisch auf dem Stand von 2012, lästern Fachleute. Umgerechnet 1.600 Euro kostet der russische Retro-Laptop. 2 Liefer-Start-ups schmieren derbe ab Flink, Gorillas und wie sie alle heißen: Glaubt man der europäischen Wirtschaftspresse, ist „das Ende des Liefer-Hypes“ da. So formulierte es diese Woche das Handelsblatt. Investoren ziehen verstärkt ihre Gelder ab, viele Blitzbringdienste verkleinern hektisch ihre Belegschaften oder schließen bereits Standorte. Laut dem Kölner Institut für Handelsforschung konnte das Business nur unter Coronabedingungen florieren. 3 Die documenta fifteen ist echt nicht mehr zu retten Kann diese schauerliche Schau bitte dichtgemacht werden – sofort! Schon im Juni verstörten antisemitische Darstellungen auf einem Werk des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi, die documenta-Direktorin Sabine Schormann musste gehen. Diese Woche wurde ein weiteres Judenhass-Motiv gefunden – gefühlt das 13. –, verschämt war es überklebt worden. Und wieder stottert die künstlerische Leitung herum. 4 Paparazzi haben die Nase ­gestrichen voll Oft werden sie beschimpft, die Paparazzi, auch „Promi-Knipser:innen“ genannt. Der Fotograf Aaron Parfitt wehrte sich nun in britischen Medien gegen das üble Image: „Die Leute denken, dass wir Dreckskerle sind, die in Bäumen hängen“, um Bilder zu ergattern, dabei laufe es längst umgekehrt: „Vor allem sogenannte Realitystars und Influencer rufen uns an und bestellen uns, um in die Schlagzeilen zu kommen!“ 5 Elvis lebt (wahrscheinlich doch nicht mehr) Am 16. 8. 1977 gab er Ruhe: Elvis Presley, die berühmteste Schmalztolle aller Zeiten. Aber: Starb der Mann tatsächlich? Auch zum 45. Todestag blühten die Legenden wieder auf: Er, der Alien, sei auf den Mond emigriert. Oder nein, er sei als CIA-Agent oder Ex-Mafiamitglied untergetaucht. Auf eine Milliarde Dollar schätzen seine Erben heute jedenfalls – ganz handfest – den Wert von Elvis Presley Enterprises. Katja Kullmann
Katja Kullmann
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,256
Wegüda gegen Pegida: „Die wirkliche Gefahr“ - taz.de
Wegüda gegen Pegida: „Die wirkliche Gefahr“ Warum demonstrieren Menschen gegen Menschen? Moritz Trautner will etwas gegen Außerirdische unternehmen und ruft zur Montagsdemonstration in Berlin auf. Außerirdische auf Demo. Bild: Reuters taz: Herr Trautner, Sie sind Gründer von Wegüda – Weltbürger gegen die Übernahme von Außerirdischen– und werden heute erstmals eine Montagsdemonstration in Berlin durchführen. Die Zahlen, die Sie nennen, sind alarmierend. Zwischen 0 und 0,8 Prozent soll die Alien-Population inzwischen bei uns auf der Erde betragen. Wieso wurde das Problem bislang so wenig thematisiert? Moritz Trautner: Eben weil die Zahlen nur geschätzt werden können. Oft sind gerade diejenigen Außerirdische, von denen man es gar nicht denkt. Eigentlich kennt jeder in seinem privaten Umfeld einen Alien oder hat zumindest schon von Außerirdischen gehört, die hier auf der Erde ihr Unwesen treiben, auch wenn diese sich nicht immer gleich als Aliens zu erkennen geben, aber genau das ist ja deren Trick. Sie verweisen explizit auf Cristiano Ronaldo und Dieter Bohlen als prominente Aliens. Was ist mit Helene Fischer? Da gehen die Meinungen auseinander. Ich glaube, sie ist keine Außerirdische. Viele behaupten ja auch, Angela Merkel sei ein Alien, das glaube ich aber auch nicht. Wenn ein Alien sich schön bei uns integriert und nicht weiter auffällt, kann man doch eigentlich nichts gegen dieses haben, oder? Na ja, die Unscheinbaren können auch Schläfer sein. Die warten nur darauf, dass sie ein Signal kriegen, um dann zeitgleich ihr wahres Gesicht zu zeigen. Ehrlich gesagt, wissen wir nicht, wie das dann genau aussehen wird, denn wir wissen überhaupt noch relativ wenig über Außerirdische. Vieles ist vorerst noch Spekulation. Es könnte beispielsweise auch sein, dass ein einziger Außerirdischer gleichzeitig Dieter Bohlen und Cristiano Ronaldo ist. Gibt es denn jemanden, der schon jemals Dieter Bohlen und Cristiano Ronaldo im selben Raum gesehen hat? Eben nicht – und das könnte seine Gründe haben. Wenn wir so wenig über die Außerirdischen wissen, könnten wir ihnen da nicht wenigstens eine kleine Chance geben? Wir sollten Neuem und Fremdem immer kritisch gegenüberstehen. Am Ende sind wir sonst die Gelackmeierten. Wir haben doch nur diesen einen Planeten. Wenn wir uns den wegnehmen lassen, schauen wir dumm aus der Wäsche. Sie weisen auf die unrühmliche Rolle des Lügenkinos hin. Hier werde in sogenannten Science-Fiction-Filmen ein völlig falsches und naives Bild von Außerirdischen gezeichnet. Entweder werden Außerirdische als süß dargestellt wie E.T., oder es wird verharmlost, wie in „Independence Day“ oder „Mars Attacks“. Wer gewinnt dort am Ende? Die Menschen. Es wird so suggeriert: Selbst wenn sie kommen, gewinnen wir. Man muss natürlich schon differenzieren: Hippie-Aliens etwa bauen keine Raketen, die bleiben auf ihrem Planeten. Die anderen aber, die Eroberer, die haben es wahrscheinlich auf ihrem Heimatplaneten verzockt und brauchen jetzt von uns Rohstoffe, die sind gefährlich. Wenn man Ihnen zuhört, wird klar, was unsere wirklichen Probleme sind. Da wirken Gruppierungen wie Pegida und deren Anliegen etwas kleinkariert. Auf jeden Fall. Warum bitte demonstrieren Menschen gegen Menschen? Wir sind uns so ähnlich, wir bestehen alle aus Kohlenstoff. Ich versteh auch überhaupt nicht, wie man Angst haben kann, dass einem ein Zuwanderer aus Rumänien den Arbeitsplatz wegnehmen könnte. Ein Alienzuwanderer dagegen ist vielleicht vier Meter groß und hat fünf Arme und kann mit Gedankenkraft im Supermarkt die Regale einräumen. So einer ist eine wirkliche Gefahr für den deutschen Arbeiter! Wir haben, wenn die Menschheit dank Wegüda endlich aufgerüttelt wird, jetzt aber auch eine Chance, oder? Wir könnten gegen eine Bedrohung von außen zusammenfinden, der Ukrainekonflikt würde schlagartig verpuffen. Bilden Sie doch einfach mal eine Reihe: Russe, Ukrainer, Palästinenser, Israeli, Alf. Wer passt hier nicht hinein? Eben: Alf. Das ist der Feind.
Andreas Hartmann
Warum demonstrieren Menschen gegen Menschen? Moritz Trautner will etwas gegen Außerirdische unternehmen und ruft zur Montagsdemonstration in Berlin auf.
[ "Pegida", "Berlin", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,257
Jurist über Rechte im Justizwesen: „Keine Berührungsängste“ - taz.de
Jurist über Rechte im Justizwesen: „Keine Berührungsängste“ In seinem Sachbuch „Rechte Richter“ geht Joachim Wagner der Gefahr durch AfD-Juristen nach. In ihren Grenz­überschreitungen sieht er eine neue Qualität. Richter Jens Maier 2016 im Landgericht in Dresden Foto: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance taz: Herr Wagner, in der taz gab es kürzlich einen Kommentar zur Frage der Gleichbehandlung der AfD im Bundestag. Da hieß es als Fazit: „Wenn die Mehrheit des Bundestags die AfD wirklich für eine undemokratische und protofaschistische Partei hält, kann und sollte sie einen Verbotsantrag stellen. Bis dahin sollte die übliche parlamentarische Gleichbehandlung gelten.“ Hat der taz-Kollege nicht recht, dass wir, auf das Thema Ihres Buches bezogen, es in einem Rechtsstaat hinnehmen müssen, wenn rechtsextreme Richter, Schöffen und Staatsanwälte im Justizwesen ihren Platz finden, solange die Politik nicht handelt? Joachim Wagner: Solange die AfD nicht verboten ist, sind Richter und Staatsanwälte mit AfD-Parteibuch, aber auch reine rechtspopulistische Gesinnungsgenossen der AfD in den Reihen der Justiz zu dulden. Es gibt aber zwei Schranken. Auch rechte Richter müssen auf dem Boden der verfassungsmäßigen Grundordnung stehen. Und sie müssen die Gebote zur Mäßigung und politischen Neutralität beachten, gerichtlich wie außergerichtlich. Wird sich daran durch den angekündigten Rücktritt von AfD-Chef Jörg Meuthen etwas ändern? In meinem Buch habe ich sorgfältig unterschieden zwischen den Richtern und Staatsanwälten, die von ihrer Gesinnung her eher dem pragmatischen AfD-Flügel zuzurechnen sind, und solchen, die eher dem völkisch-nationalen Flügel angehören. Rechtlich wird sich durch den angekündigten Rücktritt Meuthens nichts ändern. Bei jedem rechten Richter kommt es auf den Einzelfall an. Was unterscheidet denn AfD-Mitglieder oder -Sympathisanten genau von anderen Richtern und Staatsanwälten mit Parteibuch? Ausgangspunkt für jede Beurteilung ist das Richterbild des Deutschen Richtergesetzes. Es geht von einem politischen Richter aus und begrüßt politische Betätigung, auch in Parteien. Es gibt etliche Bundestagsabgeordnete, die vorher Verwaltungs- oder Sozialrichter waren. Aber sie haben immer scharf zwischen ihrer beruflichen Arbeit und ihrer politischen Betätigung unterschieden. Was wir jetzt neu erleben, ist die Tatsache, dass die Grenze zwischen rechtspopulistischem Engagement und richterlicher wie staatsanwaltlicher Tätigkeit in Einzelfällen überschritten wird oder beide Bereiche sich in einer Grauzone vermischen. Das ist kritikwürdig und gefährdet unseren Rechtsstaat, insbesondere die politische Neutralität der dritten Gewalt. Was sind die schlimmsten Fälle solcher Grenzüberschreitungen? im Interview:Joachim WagnerFoto: imago Der Autor Dr. Joachim Wagner ist Volljurist. Nach vier Jahren als Assistenzprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der FU Berlin übernahm er 1979 das Ressort Rechtspolitik beim NDR-Hörfunk. 1987 bis 2008 war er Leiter und Moderator des Magazins „Panorama“, Leiter des ARD-Studios London und zum Schluss als stellvertretender Chefredakteur im ARD-Hauptstadtstudio. Seitdem ist er als freier Journalist und Autor aktiv. Das Buch Joachim Wagner: „Rechte Richter – AfD-Richter, -Staatsanwälte und -Schöffen: eine Gefahr für den Rechtsstaat?“. Berliner Wissenschafts-Verlag 2021, 194 Seiten, 29 Euro Ein Richter vom Amtsgericht Zittau schreibt in einem Urteil, dass Bundeskanzlerin Merkel durch die offenen Grenzen 2015/16 „den öffentlichen Frieden mehr gefährdet zu haben scheint als ein wegen Volksverhetzung angeklagter Facebook-Kommentar“. Verwaltungsrichter in Gera sprechen in Urteilen von „renitenten“ Asylbewerbern oder einem „sogenannten“ Kirchenasyl. In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vertritt ein Richter Höfer die Auffassung, dass der NPD-Slogan „Migration tötet“ eine „empirisch zu beweisende Tatsache“ sei. Solche politischen Meinungen in Urteilen sind unzulässig. Sie hat es vorher nicht gegeben. Spiegelt sich darin auch die Stärke der AfD im Osten? Es fällt auf, dass solche Tabubrüche relativ häufig in Sachsen und Thüringen vorkommen. Angesichts der Tatsache, dass die AfD bei den Bundestagswahlen in beiden Bundesländern stärkste Partei geworden ist, kann das nicht verwundern. Idealerweise soll die personelle Zusammensetzung der Richterschaft ja ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. In Gera gibt es zum Beispiel keine Berührungsängste zwischen einigen Verwaltungsrichtern und einem Wirt, der AfD-Landtagsabgeordneter ist und für das Amt des Oberbürgermeisters kandidiert hat. Die Verwaltungsrichter essen dort regelmäßig zu Mittag und haben seine Wahlpartys besucht. Solche Nähe zwischen Justiz und AfD kennt man in den alten Bundesländern nicht. Wer soll diese Nähe zum Rechtsextremismus sanktionieren? Gesinnungen sind überhaupt nicht zu sanktionieren, sondern nur Verletzungen von rechtlichen Vorschriften. Die Dienstaufsicht liegt in den Händen der jeweiligen Gerichtspräsidenten. Sehr interessant ist, dass die zitierte Aussage zu Bundeskanzlerin Merkel und den offenen Grenzen als Gefährdung des öffentlichen Friedens vom Landgerichtspräsidenten in Görlitz mit einem sogenannten Vorhalt gerügt wurde. Dem wollte sich der Richter nicht beugen. Daraufhin hat der Bundesgerichtshof im November 2020 entschieden, dass eine solche politische Meinungsäußerung nicht in eine Urteilsbegründung gehört. Das ist ein richtungsweisendes Grundsatzurteil und bietet für Dienstvorgesetzte die Möglichkeit, gegen eine offene Politisierung in der Rechtsprechung vorzugehen. Das Urteil ist allerdings bisher ein Einzelfall geblieben. Bei der Bundestagswahl sind mehrere Vertreter der Justiz, die für die AfD im Bundestag saßen, nicht wieder ins Parlament gekommen. Bestes Beispiel dafür ist der Richter Jens Maier aus Sachsen: Was machen wir mit so jemandem? Maier ist dem völkisch-nationalen Flügel der AfD zuzurechnen und darf als Extremist bezeichnet werden. Auf solche Rückkehrer aus der politischen Arena ist die Justiz nicht vorbereitet. Nach Rechtslage kann Maier verlangen, dass seine Disziplinarstrafe – ein Verweis – nach zwei Jahren gelöscht wird. Seine Personalakte wäre damit sauber. Eigentlich hätte er dann einen Wiedereinstellungsanspruch in die sächsische Justiz. Wie diese damit umgeht, wenn er wirklich zurückkehren will, ist völlig offen und rechtlich schwierig zu beantworten. Was hat sich mit der Coronapandemie verändert? Drei Corona-Urteile des Amtsgerichts Weimar und des Amtsgerichts Weilheim spielen eine Sonderrolle. Neu ist hier, dass alle drei Amtsrichter mit ihren Beschlüssen eine rechtspopulistische Agenda verfolgt haben. Die Richter haben Familiengerichte missbraucht, um ihre politische Auffassung zur Maskenpflicht in der Schule zu verbreiten. In einem Beschluss wirft ein Richter der Bundesregierung sogar offen vor, mit „Schreckensszenarien“ zu agieren, den Lockdown nennt er „eine katastrophale politische Fehlentscheidung“. Wenn wir über Justiz in Deutschland reden, ist häufiger vom konservativen Korpsgeist die Rede, und das Schreckgespenst von Weimarer Verhältnissen wird beschworen. Wie sehen Sie das? Nehmen wir das Beispiel des Richters Höfer in Gießen, der in einem Urteil gesagt hat, der NPD-Slogan „Migration tötet“ sei eine „empirisch zu beweisende Tatsache“. Daraufhin stellte der Anwalt eines Asylbewerbers den Antrag, Höfer wegen Befangenheit abzulehnen – und dann hat sich die ganze Kammer hinter diesen Richter gestellt und gesagt, der sei nicht befangen. Bis zum Bundesverfassungsgericht musste die Sache gehen, bis dieses festgestellt hat, dass die Ablehnung des Befangenheitsantrages „offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich“ war. Dass Richter Höfer seine politische Meinung als rechtliches Argument ausgibt, ist schlimm, dass seine Kammer ihn dann aber noch deckt, ist schlimmer. Enttäuscht hat mich ferner, dass die Initiative zu Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte nur in zwei Verfahren aus der Justiz kam. Alle anderen sind durch Druck der Zivilgesellschaft angestoßen worden. In der Justiz fehlt meist der Wille zur Selbstkritik und Selbstkontrolle. Ärgerlich ist weiter die mangelnde Transparenz bei Disziplinarverfahren mit politischem Hintergrund, zum Beispiel in Berlin und Sachsen. Sie werden dort als normale Personalangelegenheiten betrachtet, die vertraulich behandelt werden, obwohl die Justiz ein Verfassungsorgan ist und ein öffentliches Interesse besteht, Informationen darüber zu bekommen, ob sie ihrer Dienstaufsicht gegenüber rechten Richtern und Staatsanwälten gerecht wird. Wenn wir einmal unterstellen, dass die Vorgesetzten dieser Juristen nicht unbedingt selbst rechtspopulistisch sind, sondern dass sie mangelnde gesellschaftliche Sensibilität kennzeichnet, muss dann die Juristerei nicht letztlich wieder politischer werden – gerade auch in der Ausbildung? Ich habe in den 1960er und 70er Jahren Jura studiert und promoviert. Es war immer klar, dass die Ausbildung vor dem Hintergrund des Versagens der Justiz in der Weimarer Republik und im Dritten Reich so gestaltet wurde, dass sich das nicht wiederholen kann. Ich muss sagen, dass ich bei der Lektüre vieler Entscheidungen erschrocken war, in welchem Maße Richter und Staatsanwälte heute wieder rein rechtspositivistisch argumentieren, ohne die Folgen ihrer Rechtsfindung angemessen zu berücksichtigen. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Staatsanwälte bei der Beurteilung von antisemitischen Plakaten der rechtsextremistischen Partei „Die Rechte“ nur nach Argumenten suchen, die zu einer Straflosigkeit führen, alle Argumente, die für eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung sprechen, hingegen nicht angemessen gewichten. Das kann ich nicht verstehen.
Gareth Joswig
In seinem Sachbuch „Rechte Richter“ geht Joachim Wagner der Gefahr durch AfD-Juristen nach. In ihren Grenz­überschreitungen sieht er eine neue Qualität.
[ "Richter", "deutsche Justiz", "AfD", "Alltag", "Gesellschaft", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,258
Ermittlungen gegen Netzpolitik.org: Bundesanwalt stellt ein - taz.de
Ermittlungen gegen Netzpolitik.org: Bundesanwalt stellt ein Nach Protesten und dem Zerwürfnis mit dem Justizminister: Die Ermittlungen wegen Landesverrats gegen zwei Journalisten werden eingestellt. Andre Meister (li.) und Markus Beckedahl kommentieren subtil die Ermittlungen wegen Landessverrats. Foto: dpa KARLSRUHE taz/afp | Der Generalbundesanwalt hat die Landesverrats-Ermittlungen gegen zwei Journalisten des Internetblog Netzpolitik.org eingestellt. Er gehe in Übereinstimmung mit dem Bundesjustizministerium davon aus, „dass es sich bei den veröffentlichten Inhalten nicht um ein Staatsgeheimnis“ im Sinne des Strafgesetzbuches handele, hieß es am Montag in einer Erklärung der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Ende Juli war bekannt geworden, dass die Bundesanwaltschaft aufgrund einer Anzeige des Verfassungsschutzes Ermittlungen wegen Landesverrats gegen die beiden Journalisten Markus Beckedahl und Andre Meister aufgenommen hatte. Die Frage, ob es sich bei den vom Blog Netzpolitik.org weitergegebenen Informationen um Staatsgeheimnisse gehandelt habe, sollte ein Gutachten klären. Über diese Frage war es in den darauffolgenden Tagen zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Justizminister Heiko Maas (SPD) und dem Generalbundesanwalt Harald Range gekommen. In dessen Folge wurde die Versetzung Ranges in den Ruhestand angekündigt und mit Peter Frank bereits ein designierter Nachfolger vorgestellt. Die Ermittlungen bescherten Netzpolitik.org eine große Solidaritätswelle, sowohl von Politikern, Aktivisten, als auch anderen Journalisten. Die Kernforderung von Beckedahl und Meister war von Anfang an die Einstellung des Verfahrens, ein Ziel das nun erreicht ist. Inwieweit die Affäre damit beendet ist, oder ob zum Beispiel der Präsident des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen noch weiter unter Rechtfertigungsdruck für die alles auslösende Anzeige steht ist noch unklar. Auch offen ist die Rolle seines Dienstherren, des Innenministers Thomas de Maizière, der bislang jede Detailkenntnis des Vorgangs abstreitet.
taz. die tageszeitung
Nach Protesten und dem Zerwürfnis mit dem Justizminister: Die Ermittlungen wegen Landesverrats gegen zwei Journalisten werden eingestellt.
[ "Landesverrat", "Generalbundesanwalt", "Markus Beckedahl", "Überwachung", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,259
Der Klimarat warnt: 50 Prozent mehr Brände - taz.de
Der Klimarat warnt: 50 Prozent mehr Brände Die Brandkatastrophe in Australien ist nicht nur ein Werk von Brandstiftern - sondern auch eine Folge des Klimawandels. Die Feuersbrünste werden in Australien in der Zukunft noch zunehmen. Bild: dpa BERLIN taz Australien wird in den kommenden Jahrzehnten immer öfter mit Waldbränden wie den aktuellen zu kämpfen haben. Nicht nur der Chef der dortigen Grünen-Partei, Bob Brown, sagte am Sonntag, Australien müsse als Folge des Klimawandels mit bis zu 50 Prozent mehr Feuerereignissen rechnen. Auch der Weltklimarat IPCC widmet Australien und Neuseeland in seinem aktuellen Report über die Auswirkungen des Klimawandels ein ganzes Kapitel. Darin warnen die Wissenschaftler, dass die Gefahr von Bränden in Süd-Ost-Australien bis 2020 um bis zu 25 Prozent steigen könnte, bis 2050 sogar um bis zu 70 Prozent. Und sowohl in Australien als auch in Neuseeland werde sich die jährliche Waldbrandsaison verlängern. Dabei ist den Wissenschaftlern der Unterschied zwischen extremen Naturereignissen wie Fluten und Waldbrände sowie langfristigen Klimaveränderungen durchaus bewusst. Zudem gehören sogenannte Buschfeuer zum natürlichen Ablauf in Australien. Für viele Forscher ist aber klar, dass der Klimawandel die Häufigkeit und Intensität der Brände verstärkt. Denn: Australien wird seit 100 Jahren trockener und heißer. Von 1910 bis 2004 stieg die maximale Durchschnittstemperatur um 0,6 Grad, die Minimummarke sogar um 1,2 Grad. Bis 2020 werde es im Schnitt um 1,3 Grad heißer sein als noch 1990, bis 2050 um bis zu 3,4 Grad. Das bedeutet bis zu 32 Tage mehr im Jahr, an denen das Thermometer auf über 35 Grad Celsius steigt. Die so entstehende Trockenheit zumindest im Süden des Landes wird nicht nur die Land- und Forstwirtschaft vor riesige Probleme stellen. Auch die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser wird eine der Aufgaben, die die Australier dringend lösen müssen. Wie stark die Folgen des Klimawandels für Australien sein werden, hängt auch davon ab, wie schnell der Ausstoß von Treibhausgasen weltweit reduziert werden kann. Lange Zeit waren die Australier gemeinsam mit dem USA Blockierer einer internationalen Klimapolitik. Doch unter dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten Kevin Rudd hat sich das geändert. Er unterzeichnete nicht nur das Kioto-Protokoll, sondern verknüpfte zum Beispiel auch das in Australien notwendige Konjunkturprogramm mit ökologischen Anreizen. Darin spendierte er den 2,7 Millionen Eigenheimbesitzern eine kostenlose Wärmedämmung. Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen Australien im Vergleich zu 2000 um fünf Prozent sinken. Allerdings überschreitet das Land seine Verpflichtungen aus dem Kioto-Protokoll derzeit noch um 20 Prozent.
Stephan Kosch
Die Brandkatastrophe in Australien ist nicht nur ein Werk von Brandstiftern - sondern auch eine Folge des Klimawandels.
[ "Asien", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,260
Protest in Uganda: Razzia mit Sonnenbrille - taz.de
Protest in Uganda: Razzia mit Sonnenbrille Viele Festnahmen begleiten in Uganda ein umstrittenes Verfassungsvotum. Oppositionelle wurden daran gehindert, ihre Häuser zu verlassen. Während Yoweri Museveni vor der UN-Generalversammlung sprach, rief Ugandas Opposition zum Protest auf Foto: dpa KAMPALA taz | Samanja Rahmas Hände zittern. Die Sprecherin der ugandischen Menschenrechtsgruppe „Action Aid“ steht vor dem Tor ihres Bürogebäudes. Im Hof parken Polizeiautos. Männer mit Sonnenbrillen trotz Regenwetter laufen emsig umher. Einer filmt den Inhalt eines Containers. Mit Durchsuchungsbefehl hatten die Einheiten, kommandiert von zwei Offizieren der Spezialkräfte, das Gelände am Mittwoch gestürmt. Sie hielten die Angestellten bis nach Mitternacht dort fest, berichtet Rahma. Telefone, Laptops und Unterlagen wurden beschlagnahmt. Landesweit rückten Polizei, Militärpolizei und Spezialkräfte aus, um Oppositionelle festzunehmen. Der Anlass: Am Donnerstag sollte Ugandas Parlament über eine Verfassungsänderung abstimmen, die das Höchstalter von 75 Jahren für Präsidentschaftskandidaten ab­schafft. Sonst kann Präsident Yoweri Museveni, heute 73 Jahre alt, bei den nächsten Wahlen 2021 nicht mehr antreten. Seine Regierungspartei NRM (Nationale Widerstandsbewegung), die über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt, hat das vorige Woche abgesegnet, die Abstimmung war Formsache, Museveni flog zur UNO nach New York. Rund um das Parlament stehen so viele Sicherheitskräfte, dass der Verkehr zum Erliegen kam Doch dann machte Ugandas Opposition mobil. Eine Koalition von Nichtregierungsorganisationen rief am Samstag die Bevölkerung auf, sich für den Schutz der Verfassung einzusetzen. Am Montag kam es auf dem Campus der Makerere-Universität zu ersten Protesten. Die Polizei rückte sofort aus und nahm zehn Studenten fest. Seitdem wurden an Kampalas wichtigsten Straßenkreuzungen Polizei und Militär postiert und Wasserwerfer geparkt. Rund um das Parlament stehen so viele Sicherheitskräfte, dass der Verkehr zum Erliegen kam. In der Nacht vor der Abstimmung holten die Generäle dann zum Schlag aus. Kampalas Bürgermeister Erias Lukwago wurde von Polizisten aus seinem Haus abgeführt. Die Zen­tra­le der stärksten Oppositionspartei FDC (Forum für Demokratischen Wandel) wurde im Morgengrauen umstellt und versiegelt. Zahlreiche Abgeordnete der Opposition wurden daran gehindert, ihre Häuser zu verlassen. Polizeichef Kale Kayihura rechtfertigte das: Man habe Informationen, „dass einige Gruppen die Proteste ausnutzen wollten, um Chaos und Gewalt zu schüren“. Am selben Morgen wird am Stadtrand von Kampala in einem Busch die Leiche einer Frau gefunden. Es ist das 23. Opfer eines Serienmörders, der seit Wochen sein Unwesen treibt. Er foltert Frauen und zieht ihnen die Haut ab. Die Polizei scheint unfähig, dem Täter auf die Spur zu kommen.
Simone Schlindwein
Viele Festnahmen begleiten in Uganda ein umstrittenes Verfassungsvotum. Oppositionelle wurden daran gehindert, ihre Häuser zu verlassen.
[ "Yoweri Museveni", "Uganda", "Afrika", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,261
DER SPECHT DER WOCHE: Auf den Tischen getanzt - taz.de
DER SPECHT DER WOCHE: Auf den Tischen getanzt ■  Christian Specht, 45, ist politisch engagiert und unter anderem Mitglied im Behindertenbeirat in Berlin-Kreuzberg-Friedrichshain sowie im Kulturausschuss. Er hat ein Büro in der taz und zeichnet. Wenn er es zulässt, zeigt die taz sein Bild der Woche. Ich war am Wochenende auf der Biermeile, dem Internationalen Berliner Bierfestival. Das findet einmal im Jahr in Friedrichshain am Frankfurter Tor statt. Da ist ein großes dreitägiges Straßenfest mit vielen Ständen und natürlich viel Bier. Das mag ich eigentlich nicht so. Was ich aber gut finde, ist das Musikprogramm auf drei Bühnen – da kann man sich viel aussuchen. Am Samstag war es sehr voll mit vielen Besoffenen, da ging gar nichts mehr. Aber am Sonntag habe ich dort „Die Junx“ entdeckt, eine Band aus Hamburg, die Schlagermusik mit Techno mischt. Die sind auf die Tische gegangen und haben richtig gefeiert. PROTOKOLL: IPP
IPP
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,262
Frankreichs Wirtschaftsminister Macron: Rücktritt im Wahlkampf - taz.de
Frankreichs Wirtschaftsminister Macron: Rücktritt im Wahlkampf Der 38-jährige Emmanuel Macron soll Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur haben. Sein Rücktritt wird in jedem Fall als Rückschlag für Hollande gewertet. Den Blick fest in die Zukunft gerichtet: Emmanuel Macron Foto: dpa PARIS afp | Acht Monate vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich tritt der populäre Wirtschaftsminister Emmanuel Macron zurück und befeuert damit Spekulationen über eine eigene Präsidentschaftskandidatur. Der 38-jährige Reformpolitiker kündigte am Dienstag vor Mitarbeitern an, er werde die Regierung verlassen, wie aus seinem Ministerium in Paris verlautete. Seinen Rücktritt will er noch am Dienstagnachmittag bei Staatschef François Hollande einreichen. Der frühere Investmentbanker und Hollande-Berater war vor zwei Jahren überraschend zum Wirtschaftsminister ernannt worden und verfolgt eine unternehmerfreundliche Reformpolitik. Aus seiner Feder stammt ein im vergangenen Jahr verabschiedetes Reformgesetz, das unter anderem den Busfernverkehr liberalisierte und die Regeln zur Sonntagsarbeit lockerte. Bei den Franzosen genießt der parteilose Minister mit dem gewinnenden Lächeln hohes Ansehen. Bei den regierenden Sozialisten eckte er aber immer wieder an, unter anderem, weil er die 35-Stunden-Woche offen in Frage stellte. Im April gründete Macron dann seine eigene politische Bewegung „En marche!“ (in etwa: Vorwärts!„), mit der er nach eigenen Worten eine neue “Dynamik„ gegen Reform-“Blockaden„ in Frankreich schaffen will. Seitdem sind die Spekulationen über eine mögliche Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr nicht abgerissen. Macron selbst hat die Spekulationen mit zweideutigen Äußerungen und Auftritten immer wieder angeheizt. Rückschlag für Hollande Er zog sich deswegen den Unmut von Premierminister Manuel Valls zu. Hollande selbst rief Macron wiederholt zur Ordnung und forderte von ihm bedingungslose Solidarität mit der Regierungspolitik. Zuletzt mehrten sich die Gerüchte, Macron werde aus der Regierung ausscheiden, um wieder mehr Freiräume zu gewinnen. Ob er wirklich bei den Präsidentschaftswahlen 2017 antreten wird, ist noch offen. Ein Minister bezeichnete den Rücktritt des 38-Jährigen am Dienstag als neuen Rückschlag für Staatschef Hollande. Ein anderer Minister sagte dagegen, immerhin würden nun die „Dinge klargestellt“. Der bei den Franzosen höchst unbeliebte Hollande will erst im Dezember bekanntgeben, ob er bei den Präsidentschaftswahlen im April und Mai 2017 für eine zweite Amtszeit kandidiert. Umfragen sagen ihm derzeit kaum Chancen voraus, überhaupt in die Stichwahl zu kommen.
taz. die tageszeitung
Der 38-jährige Emmanuel Macron soll Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur haben. Sein Rücktritt wird in jedem Fall als Rückschlag für Hollande gewertet.
[ "Frankreich", "Emmanuel Macron", "Francois Hollande", "Europa", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,263
Sonntag bleibt Badetag - taz.de
Sonntag bleibt Badetag Die Geschäfte in Schleswig-Holsteins Tourismusorten dürfen nicht länger öffnen. Gewerkschaften und Kirchen verhindern Saisonverlängerung in der Bäderverordnung Sonntägliche Ruhe bleibt: Timmendorfer Strand Foto: Bodo Marks/dpa Von Sven-Michael Veit Für die Gewerkschaft Ver.di Nord ist die Schmerzgrenze erreicht: „Die neue Bäderverordnung für Schleswig-Holstein ist ein Kompromiss, den wir gerade eben noch mittragen können“, sagt der stellvertretende Landesbezirksleiter Michael Rüther. Dadurch sei verhindert worden, „dass der Rechtsweg beschritten werden muss, um den grundgesetzlich festgeschriebenen Sonntagsschutz zu gewährleisten“. Damit stellt Rüther klar, dass Wirtschafts- und Tourismusminister Bernd Buchholz (FDP) am gemeinsamen Widerstand von Gewerkschaften und Kirchen gescheitert ist. Der Freidemokrat hatte eine Ausweitung der Ladeöffnungszeiten erreichen wollen – ohne Erfolg. Die neue Bäderverordnung, auf die sich die Landesregierung am gestrigen Dienstag mit Ver.di sowie der evangelischen und der katholischen Kirche geeinigt hat, schreibt die bisherige, im Dezember auslaufende Regelung weitgehend fort. Danach gilt im Grundsatz weiterhin ein landesweites Sonntagsöffnungsverbot, an zehn Sonntagen im Jahr gilt dieses auch für die Tourismusorte. In diesen 95 Städten und Gemeinden dürfen Läden des alltäglichen Bedarfs (siehe Kasten) jedoch vom 15. März bis zum 31. Oktober und vom 17. Dezember bis zum 8. Januar sonntags zwischen 11 und 19 Uhr jeweils sechs Stunden lang öffnen. Buchholz bedauerte, dass eine Ausdehnung „nicht konsensfähig“ gewesen sei. Er wollte die Sonntagsöffnungszeit schon am 1. März beginnen lassen, um die Nebensaison zu stärken. Zudem gibt es Begehrlichkeiten in den beiden größten Städten. Lübeck würde gerne mit dem gesamten Stadtgebiet in die Bäderregelung aufgenommen werden, in Kiel gibt es Sonderwünsche für die Sonntage, an denen große Kreuzfahrtschiffe anlegen und vorwiegend skandinavische Touristen sich mit vorwiegend geistigen Getränken eindecken möchten. Beides wird es nun nicht geben. Dabei war Buchholz im Juli vorigen Jahres in die Verhandlungen gegangen mit den Worten: „Ich bin nicht der Überzeugung, dass man einen Feiertag nur dann heiligen kann, wenn die Geschäfte geschlossen sind.“ In einem Tourismusland wie Schleswig-Holstein stehe nun mal kein Gast gern vor geschlossenen Türen. Shoppen am StrandIn Schleswig-Holstein einigten sich Regierung, Wirtschaft, Gewerkschaften sowie die evangelische und katholische Kirche 2013 darauf, die Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen einzuschränken.Vorausgegangen war eine Klage der Kirchen vor dem Oberverwaltungsgericht Schleswig. Diese wurde nach der Einigung zurückgezogen.Seitdem dürfen in gut 90 Tourismusorten vom 17. Dezember bis 8. Januar und vom 15. März bis 31. Oktober Läden des täglichen Bedarfs öffnen: Supermärkte, Bäckereien, Souvenirläden. Die Öffnungszeiten wurden auf sechs Stunden zwischen 11 und 19 Uhr beschränkt.Nicht öffnen dürfen Möbel- und Autohäuser, Baumärkte und Fachmärkte für Elektrogroßgeräte. „Die Verfassung schützt den freien Sonntag als ein hohes gesellschaftliches Gut“, beharrt hingegen der evangelische Bischof Gothart Magaard. Der bisherige Kompromiss sei bereits „an der Grenze dessen, was wir vertreten können“ gewesen, sagt auch die Leiterin des katholischen Büros Schleswig-Holstein, Beate Bäumer. In Kürze wird in Mecklenburg-Vorpommern eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Greifswald über die dortige wirtschaftsfreundlichere Regelung erwartet. Gegen die seit Anfang 2016 geltende liberalere Regelung hat Ver.di geklagt. „Der Sonn- und Feiertagsschutz ist für uns von zentraler Bedeutung“, bekräftigt Rüther: „Der Sonntag ist eben kein Tag wie jeder andere.“
Sven-Michael Veit
Die Geschäfte in Schleswig-Holsteins Tourismusorten dürfen nicht länger öffnen. Gewerkschaften und Kirchen verhindern Saisonverlängerung in der Bäderverordnung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,264
Interview mit Hedwig Schmutte, ehemals Studentin bei Jean Rouch: "Er glaubt, die Bilder konservieren zu können" - taz.de
Interview mit Hedwig Schmutte, ehemals Studentin bei Jean Rouch: "Er glaubt, die Bilder konservieren zu können"
swantje siebke
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,265
Regierungsbildung in Israel: Neue Runde, neues Glück? - taz.de
Regierungsbildung in Israel: Neue Runde, neues Glück? Am Mittwoch läuft die Frist für eine Regierungsbildung ab. Die Hoffnung, dass das klappt, ist gering. Vorsorglich wird ein Neuwahl-Termin vereinbart. Zu spät? Weder Benny Gantz noch Benjamin Netanyahu haben die erforderlichen Stimmen erhalten Foto: Amir Cohen/reuters TEL AVIV taz | Zwei Tage vor Ablauf der Frist zur Regierungsbildung haben sich der Likud und Blau-Weiß auf den 2. März als Termin für die Neuwahlen geeinigt. Der Likud hielt sich bis Redaktionsschluss mit einer Bestätigung zurück. Theoretisch haben sämtliche Parlamentsabgeordneten noch die Chance, 61 Knessetmitglieder hinter sich zu versammeln. Dass der Termin für die Neuwahlen bereits steht, zeigt aber, wie gering diese Chance ist. Nachdem zuerst der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und danach sein Herausforderer Benny Gantz nicht die erforderlichen 61 Stimmen bekommen konnten, ist dies bisher auch keinem anderen Mitglied der Knesset gelungen. Aller Voraussicht nach wird die Frist am Mittwoch um Mitternacht auslaufen, die Knesset wird sich auflösen und die israelische Bevölkerung wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres an die Urnen gerufen. Israels Regierungsbildung befindet sich seit April in der Sackgasse. Weder bei den Wahlen im April noch bei den Neuwahlen Ende September hatten das rechtsreli­giöse und das Mitte-links-Lager eine eigene Mehrheit erzielt. Verhandlungen über eine Einheitsregierung scheiterten. Netanjahu bestand da­rauf, mit dem gesamten Block rechter und religiöser Parteien in das Bündnis einzutreten. Gantz hatte sich jedoch zur Bildung einer liberalen, säkularen Koalition verpflichtet und lehnte darüber hinaus ein Bündnis mit Netanjahu als Regierungschef wegen der Korrup­tionsvorwürfe ab. Einig sind sich die Parteien in Israel derzeit nur in einem: dass dritte Wahlen ein Desaster für Israel bedeuten. Verantwortlich dafür machen die meisten den amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu; das zeigt eine Untersuchung von Jitzhak Katz von der Universität Tel Aviv. 52 Prozent der befragten Israelis machen Netanjahu für die Neuwahlen verantwortlich, Nur 8 Prozent geben dem Heraus­forderer Benny Gantz die Schuld. Netanjahus Rückhalt bröckelt Ein Rücktritt des wegen Bestechung, Betrug und Untreue angeklagten Netanjahu gilt als unwahrscheinlich. Eine Veränderung für die nächsten Regierungsverhandlungen könnte durch Likud-Vorwahlen kommen, denn einer Einheitsregierung etwa unter Netanjahus Likud-internem Herausforderer Gideon Saar und Benny Gantz (Blau-Weiß) stünde nichts im Wege. Doch ergaben Umfragen vor einigen Wochen, dass im Falle eines Duells zwischen Parteichef Netanjahu und seinem Herausforderer Gideon Saar Netanjahu die Vorwahlen um den Parteivorsitz gewinnen würde. Netanjahus Rückhalt bröckelt aber immer mehr, auch innerhalb des rechten Blocks und unter denen, die bisher fest zu ihm gehalten haben. Sollte er Parteichef bleiben, so sieht es derzeit so aus, als würde das Land in der Sackgasse stecken bleiben. Laut einer Umfrage des Fernsehsenders Channel 12 wird im Fall von Neuwahlen weder für das Mitte-links-Lager noch für das rechte nationalreligiöse Lager eine Mehrheit zustande kommen.
Judith Poppe
Am Mittwoch läuft die Frist für eine Regierungsbildung ab. Die Hoffnung, dass das klappt, ist gering. Vorsorglich wird ein Neuwahl-Termin vereinbart.
[ "Israel", "Benjamin Netanjahu", "Likud", "Nahost", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,266
LIEGENSCHAFTSPOLITIK: Ausverkauf geht weiter - taz.de
LIEGENSCHAFTSPOLITIK: Ausverkauf geht weiter Massive Kritik am Kompromiss von SPD und CDU selbst aus dem Regierungslager. Initiative fühlt sich brüskiert. "Freie Hand beim Ausverkauf der Stadt"? Berlins parteiloser Finanzsenator Ulrich Nußbaum. Bild: dpa Wie soll Berlin in Zukunft mit seinen landeseigenen Grundstücken umgehen? Diese Frage sorgt für Ärger in der rot-schwarzen Regierungskoalition. Vergangene Woche hatten die SPD- und CDU-Mitglieder im Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses das Senatskonzept für die künftige Liegenschaftspolitik abgesegnet, obwohl es daran deutliche Kritik gibt – sowohl in Opposition und Zivilgesellschaft als auch im Regierungslager. „Das ging uns viel zu schnell“, heißt es aus der SPD. „Keinem erschließt sich, warum das so plötzlich durchgepeitscht wurde“, so eine Stimme aus der CDU. Sauer stößt vielen auf, dass Rot-Schwarz mit seinem Vorpreschen den Runden Tisch zur Liegenschaftspolitik brüskiert hat. Dort wollten Vertreter aller Fraktionen und außerparlamentarische Initiativen bis Ende März gemeinsam eine Verbesserung des Senatskonzepts erarbeiten. „Es war eigentlich eine erneute Beratung mit der Zivilgesellschaft vereinbart“, sagte Florian Schmidt von der Initiative Stadt Neudenken der taz. Doch auf der Koalition laste zu großer Druck wegen der Flughafenkrise, weshalb einige wohl einen schnellen Beschluss wollten. Deutlicher wurde Herbert Lohner vom ebenfalls am Runden Tisch vertretenen BUND für Umwelt und Naturschutz: „Die Hauptausschuss-Mitglieder von SPD und CDU haben ein unrühmliches Zeichen für ein Weiter-so in der Berliner Liegenschaftspolitik gesetzt." „Weiter-so“, das würde bedeuten: Berlin setzt wie in der Vergangenheit darauf, Grundstücke möglichst gewinnbringend zu verkaufen. Rund zwei Milliarden Euro hat das Land so seit dem Jahr 2000 verdient. Eine Abkehr von dieser Verkaufsstrategie forderte das Abgeordentenhaus 2010: Berlin solle seine Flächen lieber für wohnungs-, kultur- und wirtschaftspolitische Ziele nutzen. Nach langem Streit innerhalb des Senats legte Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos) vergangenen Herbst ein Umsetzungskonzept vor. Es stieß innerhalb wie außerhalb des Parlaments auf Kritik, unter anderem weil die Vergabe an den Höchstbietenden die Regel und ein inhaltliches Konzeptverfahren die Ausnahme bleiben. „Nußbaums Konzept bedeutet die Fortsetzung der alten Verkaufspolitik mit noch schärferen Mitteln“, sagte die Linken-Abgeordnete Jutta Matuschek. Nußbaum hat freie Hand Trotzdem hatten es die Koalitionsvertreter im Hauptausschuss eilig, „die Hängepartie soll jetzt mal ein Ende haben“, sagte SPD-Mann Torsten Schneider. Zwar gaben SPD und CDU dem Senat Änderungswünsche zu Protokoll, unter anderem dass „eine Abkehr vom Vorrang des Verkaufs erfolgt“. Doch wie sehr dies den Senat bindet, ist offen. „Tatsächlich hat der Finanzsenator jetzt freie Hand beim Ausverkauf der Stadt“, sagte Matuschek. So weit will Stadt-Neudenken-Vertreter Schmidt nicht gehen: „Wir müssen jetzt die im Hauptausschuss formulierten Änderungswünsche mit Leben füllen und dabei die Rolle des Runden Tisches instutionalisieren.“ Scheitere die Kooperation zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft, werde seine Initiative ein Volksbegehren anstreben. Konkrete Forderungen haben Parlamentarier und Aktivisten am Runden Tisch bereits Mitte Januar aufgestellt: Zum einen soll es ein öffentliches Kataster geben, in dem jeder den Grundstücksbestand einsehen kann. Zum anderen soll ein beratendes Gremium mit Vertretern der Zivilgesellschaft bei allen Liegenschafts-Entscheidungen einbezogen werden. Warnende Worte schicken Vertreter der Koalitionsfraktionen in Richtung Finanzsenator: „Wir werden genau beobachten, wie Nußbaum mit den Änderungswünschen umgeht.“ Bekanntlich könne das Parlament über den Vermögensausschuss jeden einzelnen Grundstücksverkauf stoppen.
Sebastian Puschner
Massive Kritik am Kompromiss von SPD und CDU selbst aus dem Regierungslager. Initiative fühlt sich brüskiert.
[ "Berlin", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,267
■ Kambodscha: Flucht vor Roten Khmer - taz.de
■ Kambodscha: Flucht vor Roten Khmer Phnom Penh (AFP) – Im Nordwesten Kambodschas sind nach Augenzeugenberichten 40.000 Menschen auf der Flucht vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Roten Khmer.
taz. die tageszeitung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,268
Wissenschaft beim Deutschlandfunk: Protestbrief an den Intendanten - taz.de
Wissenschaft beim Deutschlandfunk: Protestbrief an den Intendanten Der Deutschlandfunk will bei seiner Wissenschafts­berichterstattung kürzen. Das verschafft ihm den Unmut seiner AutorInnen. Konkret sollen die Honorare bei „Wissenschaft im Brennpunkt“ erheblich gekürzt werden Foto: dpa Stefan Raue ist gerade mal seit einem halben Jahr Intendant des Deutschlandradios, doch schon in dieser knappen Zeit hat er lernen müssen, wie selbstbewusst seine Leute sind – einschließlich der freien MitarbeiterInnen, die immerhin die Programme überwiegend mit Leben füllen. Besonders deutlich dürfte ihm das geworden sein, als ihn neulich ein Brief seiner WissenschaftsautorInnen erreicht hat. Konkret sollen für die mit Preisen überhäufte und in der Szene hoch angesehene Reihe „Wissenschaft im Brennpunkt“ die Honorare „erheblich gekürzt“ werden, mahnen die AutorInnen. „Statt sorgfältig recherchierter und komponierter Feature-Beiträge sollen verstärkt Reportagen in Auftrag gegeben werden.“ Reportagen sind billiger als Features, die AutorInnen argumentieren allerdings inhaltlich: Eine kontinuierliche und vor allem kritische Begleitung der Wissenschaft sei „nur in den seltensten Fällen durch eine reine Reportage leistbar“. Das schaffe oft nur ein „komplex gebautes“ Feature. Nur hier könnten „unterschiedliche Positionen und Methoden dargestellt und eingeordnet“ werden. „Die Wissenschaftsberichterstattung im Deutschlandfunk wird sowohl in ihrer Qualität als auch in ihrer Quantität erhalten bleiben“, verspricht hingegen der Intendant in seiner Antwort, die der taz ebenso zugespielt wurde wie der Protestbrief. Letztlich verteidigt Raue aber die Kürzung. Kein Wunschkonzert Zur Zukunftssicherung gehöre „auch, dass nicht mehr alles journalistisch Wünschenswerte, und mag es noch so begründet sein, erfüllt werden kann“. Es müssten „neue Formen der Berichterstattung entwickelt werden, wie Sie es derzeit bei ,Wissenschaft im Brennpunkt' erleben“. Neben Reportagen und Talks werde es dort aber „auch das von Ihnen herausgestellte Feature“ weiter geben. „Ja, mit diesen Veränderungen sparen wir auf dem Sendeplatz auch moderat Mittel ein“, sagt Matthias Gierth, der die Hauptabteilung Kultur des Deutschlandfunks leitet, zu der auch die Wissenschaft gehört. Verglichen mit dem Gesamtbudget – einem „hohen sechsstelligen Betrag“ – gehe es aber um eine Summe von „nicht einmal fünf Prozent“. Die Einsparungen blieben zudem im Wissenschaftsetat. Sie seien nötig, um in der Wissenschaft „publizistisch noch profilierter auftreten und auf den digitalen Wandel reagieren“ zu können. Die Wissenschaftssendungen – vom Hardcoremagazin „Forschung aktuell“ bis zur serviceorientierten „Lebenszeit“ – sollen „stärker inhaltlich verzahnt“ werden. „Forschung aktuell“ werde sich dafür neben Naturwissenschaften und Technik künftig etwa auch mit Philosophie und Ethik beschäftigen. Was Gierth nicht konkret sagt, erklärt wiederum Deutschlandradio-Sprecher Jörg Schumacher. Letztlich müsse die Wissenschaft künftig ihre aktuellen Beiträge auch selbst fürs Internet aufbereiten – so wie das auch für alle anderen Ressorts „2018 Teil der regulären Redaktionsaufgaben“ werde. Die Fachredaktionen müssten nun „mit den vorhandenen Budgets stärker auswählen, welche Inhalte wie publiziert werden sollen“ – dabei würden auch nicht mehr alle Beiträge in Texten aufbereitet. Mehr Arbeit für Redaktion Die zentrale Onlineredaktion übernehme neben der Pflege der Homepage und der Audiotheken künftig „verstärkt strategische Aufgaben wie die Konzeption und Entwicklung digitaler Produkte, Multimedia-Stücke oder anderer Angebote zu den Inhalten der drei Programme“, zu denen auch Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova zählen. Mit anderen Worten: Die Onlineredaktion gibt Aufgaben an die Fachredaktionen ab, aber kein Geld. Die Redaktionen müssen andernorts sparen, damit sie künftig auch das Internet bespielen können. Die Wissenschaft hat sich entschieden, dafür die Sendung „Wissenschaft im Brennpunkt“ zu verändern. Hauptabteilungsleiter Gierth betont, wer sich nicht nur auf ein einzelnes Format beschränke, finde in seiner neu strukturierten Wissenschaftsredaktion „auch weitere Betätigungsmöglichkeiten“. Die betroffenen AutorInnen fragen sich im Schreiben an ihren Intendanten allerdings, „ob unsere Arbeit uns noch eine Perspektive bietet“. Zwischen den Zeilen steht: Sie meinen das nicht nur finanziell.
Daniel Bouhs
Der Deutschlandfunk will bei seiner Wissenschafts­berichterstattung kürzen. Das verschafft ihm den Unmut seiner AutorInnen.
[ "Deutschlandradio", "Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk", "Medien", "Medien", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,269
taz-Dossier „Comeback der Folter“: Eine paradoxe Strategie - taz.de
taz-Dossier „Comeback der Folter“: Eine paradoxe Strategie Staaten, die foltern, unterschätzen die Sprengkraft der Wut der Gefolterten. Ein Gastbeitrag der Generalsekretärin von Amnesty International. Protest gegen Folter in Mexiko im November 2014 in Berlin. Bild: dpa Der Senatsbericht über die jahrelange Folter durch die CIA ist schwere Kost: Mitarbeiter und Subunternehmer des US-Geheimdienstes sperrten Terrorverdächtige in enge Holzkisten, quälten sie bis zur Bewusstlosigkeit. Grausame Details bestätigen der US-Volksvertretung, was schon lange kein Geheimnis mehr war: Die Vereinigten Staaten haben sich beim Kampf gegen das Verbrechen des Terrorismus selbst eines schweren Verbrechens bedient: der Folter. Terror mit Folter zu bekämpfen ist eine verhängnisvolle, paradoxe Strategie. Denn es bedeutet Unrecht mit Unrecht zu bekämpfen. Terroranschläge treffen ganz bewusst Menschen mitten im zivilen Leben. Den Tätern ist egal, wer getroffen wird – Alte, Kinder, Frauen, Männer – Hauptsache sie verbreiten Angst und Schrecken. Terror ist die Antithese zu den Menschenrechten, dem Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit. Folter trifft aber auch ins Herz der Menschenrechte: Sie erniedrigt Menschen zum Objekt, die der staatlichen Gewalt schutzlos ausgeliefert sind. In der Konsequenz ist Folter auch ein Angriff auf den Rechtsstaat und zerstört das Vertrauen der Menschen in ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter. So ist Folter ein Verbrechen und ein großer Fehler: Denn unbestraft bildet sie einen idealen Nährboden für Destabilisierung, Gewalt und Terrorismus. Die USA haben mit dem CIA-Entführungs- und Verhörprogramm ein Parallelsystem neben dem weitgehend funktionierenden rechtsstaatlichen System geschaffen – für mutmaßlichen Terroristen. Die US-Regierung ließ im Namen der Sicherheit Menschen an Leib und Seele quälen, die häufig völlig unschuldig waren. Mit welchem Ergebnis? Der CIA-Bericht zeige, sagt Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Senats, dass durch die Folter weder Anschläge verhindert, noch Terroristen gefangen genommen oder Leben gerettet wurden. Verlorenes Ansehen Das Vorgehen der CIA war also sogar im Sinne der Erfinder nutzlos. Wegen seiner Symbolkraft war es ein herber Rückschlag im weltweiten Kampf gegen Folter. Die USA dürfen sich jetzt nicht damit begnügen, sich dafür auf die Schultern zu klopfen, vor den Augen der Welt so viel Selbstkritik zugelassen zu haben. Nur mit einer strafrechtlichen Verfolgung der Folterer könnten die USA ein Stück ihres verlorenen Ansehens als eine große Demokratie, für die Menschenrechte das Fundament der Gesellschaft darstellt, zurückgewinnen. Amnesty schaut aber nicht nur auf die USA, sondern auch auf andere Staaten. Mit einem erschreckenden Ergebnis: Folter wird auch heute noch – drei Jahrzehnte nach der Verabschiedung der UN-Antifolterkonvention – weltweit eingesetzt. Die alltägliche Folter macht nur keine vergleichbaren Schlagzeilen wie die CIA-Methoden. Der Amnesty-Bericht „30 Jahre gebrochene Versprechen“ aus dem vergangenen Jahr versucht eine Bestandsaufnahme. In insgesamt 141 Ländern haben wir in den vergangenen fünf Jahren Folter und Misshandlung dokumentiert. Zum Teil handelt es sich um Einzelfälle, aber in zahlreichen Ländern ist Folter in den Polizeistationen alltäglich. Anders als die USA schaffen diese Staaten kein Parallelsystem, in dem Folter gerechtfertigt sein soll. Es wird ohne ideologische Maskerade gefoltert. Ganz gewöhnliche Verdächtige Dass Staaten foltern, um regierungskritische Stimmen zu unterdrücken oder unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung, das ist vielen bewusst. Aber sind es vor allem Terrorismusverdächtige und Oppositionelle, die gefoltert werden? Nein. Die meisten der Gefolterten werden einer ganz gewöhnlichen Straftat verdächtigt. Sehr oft sind es Menschen mit niedrigem sozialen Status: ethnische Minderheiten, von Armut Betroffene, Jugendliche und Kinder. Frauen werden besonders häufig Opfer sexualisierter Folter. Oft sind sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort und werden herausgegriffen, um als Täter herzuhalten. Sie sind einfache Opfer für die Justiz, da sie keinen sozialen Schutz genießen, kein Geld und keine einflussreichen Fürsprecher haben. Die Polizei erfoltert so einen großen Teil ihrer benötigten „Ermittlungserfolge“. Um die Wahrheit geht es dabei nicht. Gefolterte werden alles aussagen, um aus der schrecklichen Situation herauszukommen. Realität und Rechtsordnung So erging es auch Moses Akatugba aus Nigeria, der 2005 als 16-Jähriger von Soldaten verhaftet wurde, weil er angeblich einige Handys und Headsets gestohlen hatte. Er berichtet, dass Polizisten ihm in die Hand schossen, ihn mit Macheten und Schlagstöcken schlugen und ihn stundenlang an den Füßen aufgehängten. Mit Zangen rissen die Polizisten ihm Fuß- und Fingernägel heraus. Nach drei Monaten dieser Qualen im Polizeigewahrsam unterschrieb der Jugendliche schließlich zwei Geständnisse. Erst 2013, nach acht Jahren Haft, wurde Moses aufgrund dieser erzwungenen Geständnisse zum Tode verurteilt und sitzt nun in einer Todeszelle. In Nigeria – wie in vielen Staaten, in denen regelmäßig gefoltert wird – klaffen Welten zwischen der offiziellen Rechtsordnung und der Realität. Die demokratische Bundesrepublik Nigeria ist Vertragspartei des UN-Zivilpakts und der UN-Antifolterkonvention. Die nigerianische Verfassung verbietet Folter und Misshandlung. Soweit die Theorie. In der Realität gibt es in vielen Polizeistationen nach wie vor Folterkammern, die inoffiziell einem „Folterbeamten“ unterstehen. Die meisten rechtsstaatlichen Garantien sind in Nigeria gegenstandslos: Viele Beschuldigte haben keine Möglichkeit, einen Rechtsbeistand zu bekommen oder Angehörige zu kontaktieren. Weite Teile der Polizei sind zudem korrupt. Die Familien von Beschuldigten werden aufgefordert, der Polizei Geld zu zahlen, um Hafterleichterungen oder sogar eine Freilassung zu erreichen. Wenn Folterüberlebende Vorwürfe gegen die Polizei erheben, wird ihnen fast nie nachgegangen – die Folterer gehen straffrei aus. Eine „Art Kavaliersdelikt“ Diese Straflosigkeit zu beenden, das war das Ziel der UN-Antifolterkonvention. Das vor 30 Jahren geschlossene Übereinkommen wurde unter anderem durch eine Amnesty-Kampagne gegen Folter angestoßen und schreibt konkret vor, wie das absolute Folterverbot praktisch durchgesetzt werden kann. Zentraler Ausgangspunkt ist: Folter muss als schwere Straftat eingestuft und mit einer angemessenen Strafe belegt werden. Denn oft fehlt schon das Bewusstsein, dass Folter ein schweres Menschenrechtsverbrechen ist. So berichtet der ehemalige UN-Sonderberichterstatter über Folter, Manfred Nowak, aus seiner Erfahrung: „In vielen Staaten wird Folter noch immer als eine Art Kavaliersdelikt gehandelt.“ Bei seinen Untersuchungsreisen sagten ihm Verantwortliche offen, dass sie – „bei allem Respekt für das Folterverbot“ – gern mal ein Auge zudrückten: „Sometimes a little bit of torture helps“, erklärte ihm zum Beispiel ein nepalesischer Polizeichef. Wenn die gesetzliche Grundlage geschaffen ist, müssen im zweiten Schritt Foltervorwürfe tatsächlich untersucht, die Verantwortlichen bestraft und die Folterüberlebenden entschädigt werden. Ein Großteil der mittlerweile 156 Vertragsstaaten der Antifolterkonvention hält sich allerdings schon an diese selbstverständlich wirkenden zentralen Vorgaben nicht – von der Weltöffentlichkeit meist unbemerkt. Vorbildlich – auf dem Papier Auch deshalb hat Amnesty International 2014 eine neue weltweite Kampagne gegen Folter gestartet. Wir lenken den Blick dabei auf Staaten wie Mexiko, Marokko oder eben Nigeria. Internationaler öffentlicher Druck kann dort etwas erreichen. Erst im Dezember hat ein Amnesty-Bericht zu Folter auf den Philippinen, einem weiteren Schwerpunktland unserer Kampagne, einen ersten positiven Schritt bewirkt. Die Philippinen sind ein Land mit einer vorbildlichen Gesetzgebung gegen Folter – auf dem Papier. In der Realität ist bei der philippinischen Polizei Folter an der Tagesordnung und nach dem seit 2009 geltenden Antifoltergesetz wurde bisher niemand verurteilt. Selbst als Handyvideos mit eindeutigen Beweisen für einen besonders grausamen Fall von Polizeifolter durch die nationalen Medien gingen, wurden nicht einmal Strafverfahren gegen die Polizisten eingeleitet. Auf den jüngsten Bericht von Amnesty haben die Behörden dagegen sofort reagiert: Immerhin sollen jetzt alle Fälle aus dem Bericht vom philippinischen Senat untersucht werden. Eine Daueraufgabe Das Beispiel zeigt, dass wir die Angehörigen von Folterüberlebenden sowie lokale Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten mit internationalen Druck unterstützen müssen. In vielen Staaten fehlt zwar der politische Wille, von sich aus das Folterverbot konsequent umzusetzen. Aber sie stehen doch sehr ungern mit ihrer beschämenden Bilanz im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Trotz kleiner Erfolge: Der Kampf gegen Folter ist eine Daueraufgabe. Folter ist ein Seismograf dafür, wie Staaten es mit den Menschenrechten halten: Staaten, die foltern, behandeln die ihnen anvertrauten Bürger nicht als Menschen, sondern als Objekte, die gequält werden können. Sie unterschätzen allerdings die Sprengkraft der Wut über das eigene zerstörte Leben und die tiefe Enttäuschung über den Vertrauensmissbrauch des Staats: Dadurch können sich leicht Hass und Gegengewalt aufbauen. Und neue Gewaltakteure erscheinen auf der Bildfläche. Menschenrechtliche Garantien wie das absolute Folterverbot müssen Ausgangspunkt jedes staatlichen Handelns sein. Sie sind kein Luxusgut für gute Zeiten und reiche Staaten, sondern ein langfristiger und friedensbildender Gegenentwurf zu Krieg, Terrorismus und Unterdrückung.
Selmin Caliskan
Staaten, die foltern, unterschätzen die Sprengkraft der Wut der Gefolterten. Ein Gastbeitrag der Generalsekretärin von Amnesty International.
[ "Philippinen", "USA", "Nigeria", "Amnesty International", "Folter", "Debatte", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,270
Atomausstieg grundrechtskonform: "Schlechte Aussichten für Betreiber" - taz.de
Atomausstieg grundrechtskonform: "Schlechte Aussichten für Betreiber" Der geplante Atomausstieg verletzt keine Grundrechte der Atom-Konzerne, erklärt Rechtsprofessorin Wallrabenstein. Das wüssten sie auch, ihnen ginge es gar nicht um Entschädigungen. So schön kann ein abgeschaltetes Akw aussehen. Der "Schnelle Brüter" in Kalkar ging allerdings nie ans Netz. Bild: dpa taz: Mehrere Atomkonzerne bereiten Verfassungsklagen gegen den geplanten Atomausstieg vor. Haben auch Unternehmen Grundrechte? Astrid Wallrabenstein: Im Prinzip ja. Das Grundgesetz garantiert auch Unternehmen passende Grundrechte wie das Eigentumsrecht. Allerdings können sich nur private, nicht aber staatliche Akteure auf Grundrechte berufen. Vattenfall, das mittelbar dem schwedischen Staat gehört, dürfte also wohl keine Verfassungsklage erheben können. Auch EnBW gehört indirekt fast vollständig dem Land Baden-Württemberg und oberschwäbischen Landkreisen. Auf welche Grundrechte können sich die anderen Atomkonzerne RWE und Eon berufen? im Interview:Astrid WallrabensteinFoto: privatASTRID WALLRABENSTEIN (41) ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Frankfurt/Main. Sie hat SPD und Grüne bei deren Klage gegen die Laufzeitverlängerung vertreten. In der Diskussion sind vor allem das Eigentumsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung. Bei beiden Grundrechten käme es letztlich vor allem darauf an, ob der geplante Atomausstieg das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahrt. Und was sagen Sie? Ich habe keine Bedenken wegen der Verhältnismäßigkeit. Auf der einen Seite steht die Vermeidung gewaltiger Risiken durch die Atomenergie und der Einstieg in eine nachhaltige Energieversorgung. Das sind überragend wichtige Gemeinwohlbelange. Auf der anderen Seite machen die Energiekonzerne geltend, dass sie einen kleinen Teil der ihnen zugestandenen Reststrommengen nicht mehr nutzen oder verkaufen können. Das ist eine sehr begrenzte Beeinträchtigung. Außerdem können sich die Investitionen der Unternehmen auch dann amortisieren, wenn ein AKW nicht ganz 32 Betriebsjahre erreicht. Denn der Gesetzgeber hat hierbei sehr großzügig zugunsten der Betreiber gerechnet und viele Puffer eingebaut. Im Herbst 2010 wurden die Reststrommengen aber von Schwarz-Gelb deutlich ausgeweitet. Das wird den Konzernen nun alles wieder weggenommen... Das Gesetz über die Laufzeitverlängerung war verfassungswidrig, unter anderem weil ihm die erforderliche Zustimmung des Bundesrats fehlte. Dadurch konnten keine Rechtspositionen der Betreiber entstehen. Im übrigen schützt das Grundgesetz keine bloßen Gewinnaussichten. Rot-grüne Atomexperten rügen Merkels Gesetz, weil der Atomausstieg darin schlecht begründet werde. Entstehen so unnötige Prozessrisiken? Für die öffentliche und parlamentarische Debatte wäre es natürlich besser, die Schwachstellen der deutschen AKWs – zum Beispiel der fehlende Schutz gegen Flugzeugabstürze, die ungeklärte Atommüllentsorgung – würden deutlich benannt. Aber eine dünne Begründung macht ein Gesetz nicht verfassungswidrig. Entscheidend ist, dass dann vor dem Bundesverfassungsgericht gute Argumente für den Atomausstieg vorgetragen werden können. Und daran besteht kein Zweifel. RWE kritisiert, dass die baugleichen Blöcke Gundremmingen B und C verschieden lange laufen sollen. Ist das willkürlich und damit verfassungswidrig? Nein, denn es gibt ja einen sachlichen Grund für die gestaffelten Laufzeiten: Energiewirtschaftlich ist der Übergang einfach leichter zu gestalten, wenn nicht alle AKWs gleichzeitig vom Netz gehen. Warum bereiten die Konzerne mit so viel Aufwand Verfassungsklagen vor, wenn sie doch – nach Ihrer Ansicht – keine Chance haben? Ich glaube, den Unternehmen geht es weniger um einen Stopp des Atomausstiegs und nicht einmal so sehr um Entschädigungen. Dass die Aussichten hierfür schlecht sind, wissen auch die AKW-Betreiber. Ich vermute vielmehr, dass die Firmen den Moment hinausschieben wollen, an dem sie rechtlich verpflichtet sind, ihre AKWs rückzubauen. Denn dann müssten sie die milliardenschweren Rückstellungen auflösen, mit denen sie derzeit noch gute Geschäfte machen können.
Christian Rath
Der geplante Atomausstieg verletzt keine Grundrechte der Atom-Konzerne, erklärt Rechtsprofessorin Wallrabenstein. Das wüssten sie auch, ihnen ginge es gar nicht um Entschädigungen.
[ "Anti-AKW", "Ökologie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,271
Deutsche Konzerne spenden für Trumpisten: Eine Schande - taz.de
Deutsche Konzerne spenden für Trumpisten: Eine Schande Es ist ein Skandal, dass Bayer und Telekom an Trump- Anhänger gespendet haben. Die Konzerne müssen ihr Sponsoring für Verfassungsfeinde einstellen. Durch Konzernspenden mitfinanziert: Sturm auf das Kapitol in Washington durch Trump-Anhänger Foto: John Minchillo/ap Deutsche Firmen wie der Chemiekonzern Bayer und die Telekom müssen so schnell wie möglich aufhören, an Unterstützer von Donald Trump zu spenden. Das sollte spätestens nach der Erstürmung des Kapitols in Washington durch bewaffnete Anhänger des US-Präsidenten klar sein. Dass die Telekomtochter T-Mobile USA und die Bayer-Firma Monsanto Tausende von Dollar an den Verband der Republikanischen Generalstaatsanwälte (Raga) gespendet haben, widerspricht einer ethischen Unternehmensführung. Denn die Raga war daran beteiligt, für die Demonstration zu mobilisieren, auf der Trump mit seinem haltlosen Vorwurf des Wahlbetrugs Anhänger so aufhetzte, dass sie ins Parlamentsgebäude eindrangen. Die von Telekom und Bayer mit finanzierte Raga unterstützt auch die demokratiezersetzenden Eingaben vor Gericht, die das Wahlergebnis nachträglich ändern sollen. Und die Spendenausschüsse der beiden Firmen sponsern seit Jahren Trump-Unterstützer im Parlament, die nun gegen die Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden gestimmt haben. Da zieht auch nicht die Ausrede von Bayer, dass der Konzern ja auch den Verband der Demokratischen Generalstaatsanwälte unterstützt habe. Denn Trump und seine Anhänger wollen die liberale Demokratie zerstören. Sie sind Rassisten, Sexisten und Verfassungsfeinde. Sie haben einen gewaltsamen Angriff auf das Parlament zu verantworten, bei dem fünf Menschen ums Leben gekommen sind. Sie sind keine normalen politischen Gegner. Wer sie durch Spenden unterstützt, macht sich mitschuldig an einem Putschversuch gegen einen pluralistischen Staat. Trotzdem hat Bayer nicht sofort die Spenden an die Raga gestoppt, sondern will eine Prüfung der Vorwürfe durch den Verband selbst abwarten. Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch. Der Spendenausschuss des Unternehmens schließt auch Zahlungen an Parlamentarier nicht grundsätzlich aus, die gegen die Zertifizierung des Wahlergebnisses votiert haben. Es soll nur eine Pause geben. Ähnlich lasch ist die Reaktion von T-Mobile. Das ist nicht nur peinlich, sondern eine Schande.
Jost Maurin
Es ist ein Skandal, dass Bayer und Telekom an Trump- Anhänger gespendet haben. Die Konzerne müssen ihr Sponsoring für Verfassungsfeinde einstellen.
[ "Telekom", "US-Präsidentschaftswahl 2020", "Ökonomie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,272
Schadstoffe in Markenklamotten: Gift auf dem Catwalk - taz.de
Schadstoffe in Markenklamotten: Gift auf dem Catwalk Bekleidung großer Modelabels enthält oft hormonell wirksame und krebserregende Substanzen. Greenpeace fordert eine umweltfreundliche Produktion. Spitze beim Chemieeinsatz: Kleidung von Tommy Hilfiger, hier bei einer Modenschau in New York. Bild: reuters BERLIN taz | Nicht nur Billighersteller, auch führende Modemarken setzen bei der Produktion von Kleidung häufig umwelt- und gesundheitsschädliche Chemikalien ein. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Analyse der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die dazu Jeans, Hosen, Kleider, T-Shirts und Unterwäsche auf Weichmacher, krebserregende Amine und andere Schadstoffe untersuchen ließ. Insgesamt 141 Kleidungsstücken aus 29 Ländern ließ die Organisation in unabhängigen Laboren untersuchen. In 63 Prozent davon wurden sogenannte Nonylphenolethoxylate (NPE) gefunden, deren Abbauprodukte den Hormonhaushalt beeinflussen können. Das Kleidungsstück mit dem höchsten NPE-Gehalt ist ein T-Shirt der niederländischen Textilienkette C&A, das etwa 45 Gramm pro Kilogramm enthielt. Es wurde in Mexiko produziert und verkauft. Auch in Textilien von Mango, Levi’s, Calvin Klein und Zara wurde NPE nachgewiesen. Zwei Produkte der spanischen Bekleidungskette Zara enthielten darüber hinaus Azofarbstoffe, die krebserregende Amine freisetzen. Mehr als 30 Produkte besaßen einen plastisolhaltigen Aufdruck, in dem in allen Fällen Weichmacher, sogenannte Phthalate, gefunden wurden. Die höchsten Konzentrationen wurden bei zwei Tommy-Hilfiger-Produkten nachgewiesen: Der Weichmacher-Anteil lag bei 36 beziehungsweise 20 Prozent des Aufdruck-Gewichts. Schädlich von Anfang bis Ende Greenpeace kritisiert vor allem die Fertigung schnelllebiger Massenware, die nicht lange getragen und dann weggeworfen wird. Dies schade vor allem der Umwelt: „Modemarken missbrauchen weltweit Flüsse als private Abwasserkanäle und verschmutzen so das Trinkwasser von Millionen Menschen“, erklärte die Greenpeace-Mitarbeiterin Christiane Huxdorff. Auch wenn Textilien in China, Mexiko oder Pakistan produziert worden seien, „sind die eingesetzten Schadstoffe in unserem Blut nachweisbar“. Damit schadeten Textilchemikalien „von der Produktion bis zur Entsorgung“ Umwelt und Gesundheit. Im vergangenen Jahr hatten Untersuchungen der Umweltschutzorganisation belegt, dass Textilchemikalien durch Fabrikabwässer im Herstellungsland und die Haushaltswäsche im Absatzland freigesetzt werden können. Nach der Veröffentlichung der internationalen Studie in der Nacht auf Dienstag in Peking waren die Reaktionen der betroffenen Modelabels zunächst verhalten. Das Unternehmen Inditex etwa, zu dem Zara gehört, gab an, die Ergebnisse der Studie seien ihr bislang unbekannt. C&A dagegen kündigte an, das beanstandete NPE-haltige T-Shirt vom mexikanischen Markt zu nehmen. Von Tommy Hilfiger war bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme zu bekommen. Greenpeace testet im Rahmen der „Detox-Kampagne“ regelmäßig Textilien auf giftige Chemikalien. Ziel ist, die Substanzen aus der Produktion gänzlich zu verbannen.
Thomas Schmid
Bekleidung großer Modelabels enthält oft hormonell wirksame und krebserregende Substanzen. Greenpeace fordert eine umweltfreundliche Produktion.
[ "Mode", "Chemikalien", "Schadstoffe", "Greenpeace", "Konsum", "Öko", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,273
Vereint im Zorn gegen Papst Benedikt - taz.de
Vereint im Zorn gegen Papst Benedikt In Ägypten folgten vor allem islamistische Gruppen dem Aufruf zum Tag des Zorns wegen der umstrittenen Äußerungen des Papstes zum Islam. In den arabischen Medien sind aber auch zunehmend selbstkritische Stimmen zu vernehmen AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY „Mit unserem Blut und unserer Seele verteidigen wir den Islam“, hieß es auf dem großen Banner, das beim Freitagsgebet in der Kairoer Azhar-Universität aufgespannt war und das mit dem Logo der Jugend der Muslimbrüderschaft unterzeichnet war. Vor allem islamistische Gruppierungen folgten gestern dem Aufruf zum „Tag des friedlichen Zorns“, den Scheich Yussuf Qaradawi, der bekannteste Fernsehprediger in al-Dschasira TV, als Protest gegen den Papst wegen dessen umstrittener Äußerungen zum Islam proklamiert hatte. „Gott wird für unseren Sieg sorgen“, riefen mehrere hundert Gläubige, die sich nach dem Gebet versammelt hatten. In einer spontanen Kundgebung wandte sich die Muslimbrüderschaft auf dem Moscheenhof anschließend an die Gläubigen. „Die Papstrede war kein Fehler, sondern ist ein Teil der Kreuzzüge“, verkündete der Chef der Muslimbrüder im ägyptischen Parlament, Muhammad Hilmi. Der Papst habe die Muslime anschließend noch zweimal beleidigt, führte er fort: das erste Mal, als er erklärte, dass die Muslime ihn nicht verstanden hätten. Und das zweite Mal, als er an die Öffentlichkeit ging, um zu sagen, dass es ihm leidtue, die Muslime verärgert zu haben. „Sollen wir jetzt klatschen“, endete er unter Applaus, bevor die Betenden unter den Augen der Polizei friedlich nach Hause gingen. Die Rede des Papstes wird von vielen Muslimen nicht isoliert betrachtet. „Der Papst gibt US-Präsident George Bush Schützenhilfe, wenn dieser von islamischen Faschismus spricht“, verkündete Fernsehscheich Qaradawi. Auch für Abdel Wahab al-Messiri, einen der bekanntesten islamistischen Intellektuellen Ägyptens, ist der Papst „aus opportunistischen Gründen auf den Wagen des Antiterrors aufgesprungen, um seine Kirche wiederzubeleben“. Araber und Muslime fühlten sich vom Westen unterdrückt, sei es in Afghanistan, dem Irak oder Palästina, glaubt Messiri, der den Siedepunkt fast erreicht sieht. „Die Regime verhindern, dass sich der Ärger gegen den Westen Luft machen kann. Also warten die Leute auf Karikaturen oder Aussprüche des Papstes.“ Es sei eine bittere Realität, dass die Menschen in islamischen Gesellschaften in gescheiterten und korrupten Polizeistaaten, in besetzten oder mit Sanktionen belegten Ländern leben, schreibt Messiri im in Beirut erscheinenden Daily Star. Unter diesen abnormalen Umständen chronischen Stresses, von Spannungen und Entbehrungen werde die Religion zum zentralen Instrument des Schutzes im privaten und öffentlichen Leben. Aber es finden sich durchaus auch selbstkritische Töne in den arabischen Medien. „Vielleicht sollten wir auch einmal vor unseren eigenen Türe kehren“, fordert die unabhängige ägyptische Zeitung al-Dustour in einem Editorial. Sicher, der Islam werde immer wieder beleidigt, „aber viele unserer Scheichs könnten ebenso angeklagt werden, die Christen immer wieder als Ungläubige zu beschimpfen“, merkt die Zeitung an und fordert einen internationalen Kodex für den gegenseitigen Respekt der Religionen, „zu dem sich besonders die Muslime beispielhaft verhalten müssten“. Auch das überregionale Blatt Scharq al-Aussat reflektiert das Verhalten der islamischen Welt. „Wir stellen ein Fünftel der Weltbevölkerung dar, und genauso wie wir Rechte haben, haben wir Pflichten“, heißt es dort und weiter: „Allzu oft werden uns unsere Rechte verweigert, aber genauso drücken wir uns davor, uns unseren Pflichten zu stellen. Wir wollen keine Angst vor dem Rest der Welt haben und wir wollen dem Rest der Welt auch keine Angst einjagen.“
KARIM EL-GAWHARY
In Ägypten folgten vor allem islamistische Gruppen dem Aufruf zum Tag des Zorns wegen der umstrittenen Äußerungen des Papstes zum Islam. In den arabischen Medien sind aber auch zunehmend selbstkritische Stimmen zu vernehmen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,274
Schienenkonkurrenz im Hamburger Westen: Neue Wege durch den Westen - taz.de
Schienenkonkurrenz im Hamburger Westen: Neue Wege durch den Westen Die Hamburger S-Bahn hat Alternativkonzepte zum Bau der neuen U-Bahn-Linie 5 im Westen der Stadt erarbeitet. Fahren in Zukunft S-Bahnen auf neuen Gleisen durch die Stadt? Ein Konzept sieht‘s vor. Foto: dpa HAMBURG taz | Die Hamburger Hochbahn bekommt Konkurrenz bei den Plänen für die geplante neue U-Bahn-Linie 5. Die S-Bahn-Hamburg hat für den westlichen Teil der Strecke Alternativkonzepte vorgelegt. Klar ist: Die Linie soll von Bramfeld über Steilshoop, City Nord, Winterhude, Uhlenhorst, Jungfernstieg und Hoheluft zum Osdorfer Born. Der ganz genaue Verlauf der Strecke im Osten der Stadt steht schon fest. Wo die neue Linie im Hamburger Westen allerdings verlaufen soll, ist noch offen. Zwei Varianten werden geprüft. Die Hamburger S-Bahn schlägt ebenfalls zwei Szenarien vor. Im Gegensatz zur U-Bahn sind die Abschnitte, die neu gebaut werden müssen, wesentlich kürzer. Mit unterschiedlichen Ausfädelungspunkten aus den Trassen der S1 und S3 soll eine Schienenanbindung über Lurup, Osdorf und die Volksparkarenen verlaufen, berichtete das Hamburger Abendblatt. Zum Vergleich: Die Nordvariante der U-Bahn würde eine neue Querverbindung vom Siemersplatz über die Volksparkarenen zum Osdorfer Born bedeuten. Die mittlere Variante führt die U-Bahn ab Hoheluftbrücke über den neuen Fernbahnhof Altona am Diebsteich. Insgesamt beträgt die geplante U-Bahn-Strecke etwa 28 Kilometer Egbert Meyer-Lovis, Pressesprecher der Deutschen Bahn, bestätigt, dass erste Konzeptstudien bei der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation eingereicht wurden. Die nächsten Schritte hingen nun von der zuständigen Behörde ab. Verkehrsstaatsrat Andreas Rieckhof (SPD) erklärt, dass die Alternativenprüfung für die Rechtssicherheit im Planfeststellungsverfahren ein ganz üblicher Vorgang ist. Das Konzept sei der Behörde schon Anfang Juli vorgestellt worden. Klar ist, dass der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs eines der größten Bauprojekte der nächsten Jahre in Hamburg sein würde. Ein Mammutprojekt, dessen Kosten in die Milliarden gehen werden. Zu den genauen Kosten kann Rieckhof noch nichts sagen. Das müsse erst noch geprüft werden. Das Projekt U-5Auftakt: Bürgermeister Olaf Scholz kündigte im Dezember 2013 in einem Zeitungsinterview die Planung der neuen U-Bahn-Linien an.Ziel: Aufbau neuer Kapazitäten für den Nahverkehr, Anschluss der Stadtteile Steilshoop und Bramfeld an das Bahnnetz. Und das, so hoffen die Befürworter, mit vergleichsweise wenig Anwohnerbeschwerden.Alternativen: Deutlich günstiger wäre der Bau einer Stadtbahn. Den lehnt sie SPD allerdings ab.Kritik: Die Opposition moniert vor allem die hohen Kosten eines U-Bahn-Baus und befürchtet, dass sie am Ende nicht umgesetzt werden. Im rot-grünen Koalitionsvertrag steht, dass eine U-Bahn für den Hamburger Westen geplant werden soll. Ob ein Zuschlag für die S-Bahn überhaupt möglich ist, werde derzeit in den parallel laufenden Konzeptstudien geprüft, so Rieckhof. Nach seinen Angaben werden in einem nächsten Schritt die Konzeptstudien einer wirtschaftlichen Bewertung unterzogen. Danach folge im Idealfall für die bevorzugte Variante die Machbarkeitsstudie. Baubeginn der ersten Streckenabschnitte zur Anbindung von Steilshoop und Bramfeld ist für 2022 vorgesehen – 2027 könnte der erste Streckenabschnitt in Betrieb genommen werden. Pressesprecher Birger Wolter vom Hamburger Landesverband des Fahrgastverbands Pro Bahn findet es gut, dass es noch ein Alternativkonzept gibt: „Sowohl bei der S-Bahn, als auch bei der U-Bahn gibt es Vorteile“, sagt er. Bei der S-Bahn sei es möglich, die Strecke in das vorhandene Netz einzubinden, wodurch der Ausbau beschleunigt werde. „Die U-Bahn bietet den Vorteil, dass durch eine neue Linie neue Kapazitäten geschaffen werden. Welches Konzept das bessere ist, muss die Prüfung zeigen“, sagt Wolter.
Larissa Robitzsch
Die Hamburger S-Bahn hat Alternativkonzepte zum Bau der neuen U-Bahn-Linie 5 im Westen der Stadt erarbeitet.
[ "S-Bahn", "U-Bahn", "Hamburg", "Nord", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,275
der symbolcheck - taz.de
der symbolcheck: Was bedeutet eigentlich der AnKer? Kein Schiff ohne AnKer. Er ist meist kreuzförmig mit gebogenen Armen, schwer und an einer Kette befestigt. Will man ein Schiff am Abtreiben hindern, wirft man den AnKer über Bord, er gräbt sich ein und hält das Schiff so sicher am Platz. Und symbolisch? Deshalb hat der AnKer seit jeher eine hohe Be­deutung für Seefahrer, was sie beispielsweise in selbst gestochenen Tattoos zum Ausdruck bringen. Ursprünglich durften übrigens nur Seebären ein AnKer-Tattoo tragen, die bereits den Atlantik überquert hatten. In der Seefahrt steht der AnKer für die feste Verbindung zwischen Schiff und Meeresboden, für die Sicherheit der Bootsbesatzung in stürmischen Zeiten also. Und er steht für die Hoffnung, den sicheren Hafen zu erreichen. Heute tragen längst nicht mehr nur Seemänner AnKer-Tattoos, sie gehören zu den beliebtesten Motiven überhaupt. Denn all die Seefahrersymbolik lässt sich auch romantisch deuten. Selbst die österreichische Kaiserin Sisi soll sich 1888 mit 51 Jahren in einer griechischen Hafenkneipe ein AnKer-Tattoo stechen haben lassen. Ob sie damit ihre Liebe zum Meer oder zu ihrem Mann ausdrücken wollte, ist nicht überliefert. Gerne werden AnKer heute mit Herzen kombiniert, ob in Tattoos oder als Schmuck. Denn AnKer stehen für Liebe, Hoffnung und Halt. Für die Liebe zu einer Person, für den Halt, den die Familie gibt, für die Hoffnung auf ewige Treue und feste Verbindung. Ist durchaus kitschig. Aber schön kitschig. Herzlichen Glückwunsch, Anne und Kersten! Paul Wrusch
Paul Wrusch
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,276
Fußball-Bundesliga: Darmstadt zögert Abstieg hinaus - taz.de
Fußball-Bundesliga: Darmstadt zögert Abstieg hinaus Der Tabellenletzte gewann 3:0 gegen den SC Freiburg. Damit ist Darmstadt vorerst nicht raus. Doch das nächste Spiel wartet schon – es ist gegen FC Bayern München. Freut sich: Darmstadts Trainer Torsten Frings Foto: dpa DARMSTADT dpa | Der SV Darmstadt 98 hat den vorzeitigen Bundesliga-Abstieg zum dritten Mal abgewendet. Der Tabellenletzte siegte am Samstag auch gegen den Europa-League-Anwärter SC Freiburg hochverdient mit 3:0 (2:0) und gewann dadurch zum ersten Mal in seiner Bundesliga-Geschichte drei Spiele nacheinander. Felix Platte in der 22. Minute, Jerome Gondorf in der 45. und Sven Schipplock in der 64. veredelten mit ihren Toren die beste Saisonleistung der „Lilien“. Für die Freiburger dagegen bedeutete diese Niederlage den Verlust des sechsten Tabellenplatzes und einen schweren Rückschlag im engen Rennen um die Europa-League-Plätze. Aber auch Darmstadt dürfte die Rückkehr in die 2.Fußball-Bundesliga nur erneut aufgeschoben haben und kaum mehr verhindern können. Dazu müsste die Mannschaft von Trainer Torsten Frings nach ihren Siegen gegen Schalke, Hamburg und Freiburg auch noch ihre letzten drei Saisonspiele gewinnen und gleichzeitig auf regelmäßige Niederlagen des FC Ingolstadt und FC Augsburg hoffen. Bereits am nächsten Samstag muss Darmstadt bei Branchenprimus Bayern München antreten. Fans und Spieler am Böllenfalltor haben im Moment aber gerade wegen dieser nahezu aussichtslosen Situation ihren Spaß. Die Mannschaft stürmte gegen Freiburg völlig unbeschwert drauflos. Und die Anhänger sangen dazu ironisch: „Niemals Zweite Liga!“ 17. 400 Zuschauer sahen am Samstag zeitweise Kombinationen, wie sie sich die Darmstädter Fußball-Handwerker in den vergangenen anderthalb Bundesliga-Jahren nur selten getraut hatten. Bevor die spielstarke und immer anspielbare Schalker Leihgabe Platte nach Vorarbeit von Marcel Heller zum längst fälligen 1:0 traf, hatte allein Mario Vrancic schon drei gute Möglichkeiten vergeben (2./19./21.). Freiburg ohne Durchschlagkraft Zu den großen Verdiensten von Frings gehört eben nicht nur, dass sich seine Mannschaft in dieser Phase der Saison nicht hängenlässt. Sie hat sich unter dem früheren Nationalspieler und Cheftrainer-Debütanten vor allem spielerisch stark weiterentwickelt. Freiburg spielte ungewohnt lethargisch und ohne Durchschlagskraft. Im Spielaufbau misslangen selbst einfachste Pässe. Und in der Offensive war abgesehen von einem Fernschuss von Nils Petersen (14.) nichts von dem Aufsteiger zu sehen. Schon Schalke 04 und der HSV hatten in den vergangenen Wochen ohne jede Entschlossenheit gegen Darmstadt agiert. Als ob sich niemand trauen würde, diesen von allen so geschätzten Verein in die Zweite Liga zurückzuschicken. Als Reaktion darauf wechselte SC-Trainer Christian Streich während und kurz nach der Halbzeitpause drei neue Spieler ein. Freiburg schaffte es aber auch jetzt nicht, so etwas wie Druck aufzubauen geschweige denn sich brauchbare Möglichkeiten herauszuspielen. Darmstadt war selbst aus einer Konterhaltung heraus die deutlich gefährlichere Mannschaft. Kurz nachdem Heller und Gondorf in der 64. Minute fahrlässig eine große Konterchance verschleudert hatten, traf sogar der eingewechselte Schipplock. Für den Stürmer war es das erste Bundesliga-Tor seit mehr als zwei Jahren. Zuletzt hatte er am 25. April 2015 für 1899 Hoffenheim getroffen.
taz. die tageszeitung
Der Tabellenletzte gewann 3:0 gegen den SC Freiburg. Damit ist Darmstadt vorerst nicht raus. Doch das nächste Spiel wartet schon – es ist gegen FC Bayern München.
[ "Fußball-Bundesliga", "Bundesliga", "Darmstadt 98", "SC Freiburg", "Fußball", "Sport", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,277
Gaza unter Beschuss: Wir tranken Kaffee unter Drohnen - taz.de
Gaza unter Beschuss: Wir tranken Kaffee unter Drohnen Menschen prügeln sich um Brot, ein Vater will sein Haus wieder aufbauen, die Fischer fangen Sardinen. Eindrücke von einer Seite des Krieges. Während der Waffenruhe: Bewohner holen Habseligkeiten aus ihren zerstörten Häusern. Bild: ap GAZA taz | Am 15. Juli fiel mir das Haus vor unserem Küchenfenster auf. Es war mein erster Tag in Gaza-Stadt. Das sanfte Licht des Nachmittags tauchte es in ein warmes Gelb, die Palme davor warf einen gezackten Schatten auf den Vorgarten. Jemand hatte ein buntes Graffiti auf die sandfarbenen Mauern gesprüht. Auf einer Wäscheleine hingen T-Shirts und Hosen. Sie schienen wie ein Zeichen, dass es in diesen vier Wänden noch einen Alltag gab. Aber ich täuschte mich. Am nächsten Morgen war die Wäsche noch da. Der Wind hatte sie über den Garten verstreut, die Haustür und die Fenster waren immer noch geschlossen. Das Haus stehe leer, erzählte mir Mahmud, unser Vermieter. Als der Krieg begann, war die Familie ins Zentrum von Gaza gezogen, eine Gegend, die bei früheren Konflikten meist verschont blieb. Aber während dieses Krieges, den Israel als Operation „Fels in der Brandung“ bezeichnet, wird das Zentrum viel stärker angegriffen als die nördliche Hafengegend, in der ich wohne. Die malerische Ruhe des Nachbarhauses bekam jetzt etwas Unheimliches. Auf einem Streifen von 44 Kilometer Länge und 8 Kilometer Breite, der vom Land, vom Meer und von der Luft aus beschossen wird, gibt es weder Frontlinien noch sichere Orte. Das Haus machte mir klar, dass jede Straßenecke in Gaza eine Geschichte von diesem Krieg erzählt. Da ist der muslimische Taxifahrer, dessen Familie eine Bleibe in der griechisch-orthodoxen Kirche fand. Da sind die langen Schlangen, in denen Menschen für Brot anstehen und immer wieder übereinander herfallen. Da sind die palästinensischen Freunde, die anrufen, weil sie seit dem Bombardement des wichtigsten Kraftwerks am Dienstag keinen Strom haben und deshalb keine Nachrichten. An einem grauen Morgen, dem 20. Juli, strömten Menschen durch die Straße auf uns zu. Sie kamen aus Schedschaija, einer Vorstadt im Osten von Gaza-Stadt, gleich an der Pufferzone. Die israelische Armee geht davon aus, dass von hier viele der Raketen abgeschossen werden und dass auch die Grenztunnel hier verlaufen. Das Rattern einer Kalaschnikow Männer und Frauen trugen ihre Kinder, sonst kaum etwas. Raketen und Artilleriefeuer trafen auf Häuser, die nur ein paar hundert Meter entfernt lagen, Drohnen surrten über den Köpfen, und immer wieder war das Rattern einer Kalaschnikow zu hören, viel zu nah. Die Menschen schrien, diskutierten, was sie zurücklassen konnten, und bettelten darum, dass Fremde sie in ihren Autos mitnehmen. Mohammed Abu Qumbaz trug beide Kinder in seinen Armen. Sein weißer Bart lässt ihn älter aussehen, obwohl er erst Mitte 30 ist. Die ganze Nacht, erzählte er, habe er die Kinder von einem Zimmer ins nächste gebracht, damit keines der Geschosse sie treffen konnte. In den frühen Morgenstunden hatten sie die Kinder gepackt und waren nach Westen aufgebrochen, zu seiner Schwester. „Wir können unsere Kinder hier nicht schützen. Aber wo können wir das?“, rief er. „Ich kann einen Kilometer laufen, dann bin ich für heute sicher, aber was ist morgen?“ Vorausgegangen war wieder eines dieser Rituale, die mit halbherziger Diplomatie beginnen, der Ausrufung und dem Bruch des Waffenstillstands, die dann dazu führen, dass noch mehr Menschen sterben, verletzt werden oder ihre Häuser verlieren. An den Waffenstillstand vom vergangenen Samstag erinnern sich hier noch alle, weil manche zu ihren Häusern zurückkonnten, weil andere erfuhren, ob ihre Häuser überhaupt noch stehen, und wieder andere, ob die Leichen ihrer Verwandten gefunden wurden. Sie liefen über Straßen, die sie einmal gekannt hatten und die jetzt voll Schutt lagen. Die Häuser, die Läden, die Bäume am Straßenrand waren verschwunden. Alle kletterten über die Trümmerberge, die einmal ihre Häuser gewesen waren, und suchten nach Verwandten, als wären die von einer Lawine verschüttet worden. Habseligkeiten überall verteilt In Abusan, beim Flüchtlingslager Chan Junis, las ein Mann Papierfetzen auf. Das sei der Koran, sagte er. Er sammelte die Fetzen in einer Plastiktüte. Der Islam verbietet es, den Koran in den Müll zu werfen. In Schedschaija hatten die Explosionen die Habseligkeiten überall verteilt. T-Shirts hingen von Bäumen. Häuser waren entzweit, widerwillig öffneten sich ihre Zimmer den Blicken der Öffentlichkeit. Auch Abed Qarara, ein junger Muslim, hat sein Haus am 20. Juli verlassen. Jetzt kampiert seine Familie vor einer Klinik im Westen von Gaza-Stadt. Ein Bild von seinem Sohn und seiner Tochter trägt er bei sich. Als wir die Treppen seines zerbombten Hauses hinaufstiegen, zeigte er auf die Vorhänge, auf Teppiche, Sessel und bemühte sich zu betonen, wie schön alles einmal ausgesehen hatte. Dem Wohnzimmer fehlten jetzt die Wände. Was er tun werde, wenn der Krieg vorbei sei, fragte ich. „Wir kommen mit einem Zelt zurück“, antwortete er. „Wir werden das Haus einreißen müssen, reparieren lässt sich da nichts mehr. Und dann“, er zögerte, „werden wir es wieder aufbauen.“ Er zählt zu den Optimisten. Andere haben Angst, dass ein langfristiger Waffenstillstand diese östliche Gegend für unbewohnbar erklären wird. Die Anzahl der sicheren Orte sinkt Nach fast jedem Waffenstillstand setzen aber bisher die Bombardements wieder ein, und die Beschuldigungen zwischen Israel und Palästina, wer nun welchen Angriff wann und wo zu verantworten hatte. Am Montag starben palästinensische Kinder im Flüchtlingslager Beach Camp. Am Dienstag starben Menschen beim Bombardement einer Schule in Beit Lahia, am Mittwoch in einer Schule in Dschabalija, am Donnerstag beim Angriff auf einen Markt in Schedschaija. Die Anzahl der sicheren Orte sinkt, während die Zahl der Toten, die in den Leichenhallen ankommen, steigt. Mit ihnen kommen die Familien, ihre Kleider blutgetränkt. Eltern versuchen verzweifelt zu begreifen, ob ihre Kinder wirklich tot sind. Am lebhaftesten können die Menschen beschreiben, was sie vermissen. Ein palästinensischer Kollege etwa vermisst es, nachts durch die Straßen zu laufen. Einmal haben wir uns mit ihm rausgeschlichen. Wir gingen in ein Restaurant namens Thailandi. Alles schließt zurzeit sehr früh, wo das Nachtleben sonst doch bis in den Morgen dauert. Wir durften trotzdem ein wenig länger bleiben. Die Bedienungen hängten Lampen auf. Dann fiel der Strom aus und damit auch der Fernseher, der Hamas-Einsätze an der Grenze gezeigt hatte. Die tragbaren Lichter verliehen dem Raum eine seltsame Atmosphäre. Wir saßen bewegungslos da, bis eine Bedienung, die sah, dass wir das Essen im Dunkeln nicht gewohnt waren, uns noch ein Licht brachte. Den Kaffee tranken wir draußen. Die Drohnen übertönten unsere Gespräche. Niemand bemüht sich mehr, das sinnlose Töten zu verstehen. Also kümmern sich die Menschen um die kleinen Dinge, wischen Treppen, bereiten Süßigkeiten zu oder lesen in der Sonne ein gutes Buch. Schutt in den Straßen Am Freitagmorgen weckte mich das Röhren der Motorbote, die den Hafen verließen. Der neue Waffenstillstand setzte um acht Uhr unserer Zeit ein. Er sollte 72 Stunden dauern. Seit dem 8. Juli hatten die Fischer nicht gearbeitet. Während wir zwischen dem Schutt durch die Straßen liefen, um die Folgen der letzten Bombardements zu inspizieren, hörten wir immer wieder Explosionen. Gegen Mittag erzählte unser Fahrer, dass Kämpfer irgendwo auf einen israelischen Jeep getroffen seien. Ein Freund hatte mich gebeten, sein Haus zu filmen. Das Haus war eine Ruine. Kein Vorgarten mehr, keine Palmen auf der Einfahrt. Ein Granatsplitter schlug in der Nähe ein, und wir machten uns auf den Nachhauseweg. Als wir uns dem Hafen näherten, drang der Geruch von Fisch ins Auto. Die Fischer waren zurück und verkauften Sardinen. Dann klingelte das Handy. Der Waffenstillstand ist vorbei. Immer wenn es mir wieder einfällt, mache ich ein Bild von dem Haus vor unserem Küchenfenster. Ich halte die Veränderungen fest. Und jeden Tag hoffe ich, dass morgen der Tag sein wird, an dem ich seine Bewohner treffe, an dem sie mir ihre Geschichte erzählen. ■ , 37, arbeitet als Fotojournalistin in Jerusalem. Aus Gaza berichtet sie unter anderem für die italienische und Al-Dschasira International
Silvia Boarini
Menschen prügeln sich um Brot, ein Vater will sein Haus wieder aufbauen, die Fischer fangen Sardinen. Eindrücke von einer Seite des Krieges.
[ "Gaza", "Bombardement", "Waffenstillstand", "Hamas", "Nahost-Konflikt", "Nahost", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,278
Steine haben ein Eigenleben - taz.de
Steine haben ein Eigenleben TREND-MATERIAL Das Bauen mit Naturstein war einmal Fürsten vorbehalten, aber immer mehr Bauherren leisten sich ein paar Akzente aus dem lebendigen Baustoff Naturstein trägt dem menschlichen Urbedürfnis Rechnung, etwas Beständiges zu schaffen, das auch über Generationen hinaus noch zeitgemäß ist VON JOHANN TISCHEWSKI Wer etwas über Bert Bepplers Beruf erfahren will, kann ihn entweder in seiner Werkstatt besuchen – oder ins Museum für antike Geschichte gehen. „Die Werkzeuge, die bei Ausgrabungen in Ägypten zutage kommen, sind dieselben, die wir auch heute noch benutzen“, sagt Beppler. Beppler ist Steinmetz von Beruf. Es gebe kaum ein Handwerk, das so alt sei und sich so wenig verändert habe, sagt er. Allerdings habe sich die Kundschaft in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Während Naturstein früher nur Fürsten und Kirchenvätern vorenthalten gewesen sei, erlebe das Baumaterial derzeit gerade einen Boom bei den Normalverdienern. Naturstein habe den Vorteil, dass er praktisch unvergänglich ist und als Naturprodukt, das mit relativ geringem Energieaufwand gewonnen wird, zudem kaum der Umwelt schade, sagt Beppler. Fensterbänke, Treppenbeläge, Arbeitsplatten und Spülbecken für Bad und Küche lassen sich Bepplers Kunden aus Naturstein fertigen, aber besonders stark im Kommen sei das Baumaterial im Gartenbereich, sagte er. Hier wird es etwa für Brunnen, Schwimmbecken, Terrassen und Skulpturen verwendet. „Guter Naturstein verleiht selbst den tristesten Garten noch einen verwunschenen, nostalgischen Akzent“, sagt Beppler. Im Außenbereich werden vor allem Granit und Basalt verbaut, die sehr hart und widerstandsfähig sind. Für Skulpturen und Brunnen werden Marmor und Kalksteine bevorzugt, da sie sich gut formen lassen. Ansonsten kommen Marmor und Kalksteine in Deutschland eher im Innenausbau vor. Der bekannteste Marmorsteinbruch liegt im italienischen Carrara. Schon die Römer gewannen hier einen großen Anteil ihres Marmors. Auch Michelangelos David ist aus Carrara-Marmor gefertigt. Die meisten Natursteine kommen heute allerdings aus China, Indien und Südafrika. Der Gartenarchitekt Thomas Eckholdt hat sein Büro in der Hafencity und es gruselt ihn, wenn er vor die Tür tritt. „Die Materialien, die hier verwendet wurden, sind einfach ein Alptraum“, sagt er. Eckholdt hat sich mit seinem Unternehmen Gardener auf die Verwendung von gebrauchten Natursteinen konzentriert. „Ein guter Naturstein ist wie ein guter alter Wein“, sagt er. Auch Naturstein müsse reifen, damit er eine besondere Qualität erlange. Seine Materialien bekommt Eckholdt bei Abrissen von alten Scheunen, Speichern oder Straßen in Frankreich, Polen oder Italien. Natursteine nähmen die Einflüsse ihrer Umwelt auf. Sie veränderten ihre Farbe, ihre Oberfläche. „Sie leben einfach, sie haben alle eine Geschichte“, sagt er. Nach einem harten Winter könne ein Naturstein etwas mitgenommen aussehen und sich dann über den Sommer, wenn der denn warm ist, wieder „aufrappeln“. Angst, beim Verwenden der alten Steine in den von Architekten oft verpönten Historismus abzugleiten, hat Eckholdt nicht. Es sei ein menschliches Urbedürfnis etwas Beständiges zu schaffen, das auch über Generationen hinaus noch zeitgemäß ist, sagte er. Naturstein bringe diese zeitlose „Wertigkeit“ mit – nicht nur wegen seiner Widerstandsfähigkeit. Auch die Hobbygärtnerin Monika Belutzski arbeitet in ihrem Eimsbütteler Hinterhofgarten gerne mit Natursteinen. Schieferplatten führen zu einer kleinen Sitzecke unter einem mit Efeu bewachsenen Kastanienbaum in der Ecke des Gartens. Die Platten hat sie selber in einem alten Steinbruch im Harz gesammelt. Besonders freut sie sich aber über die Beschaffenheit ihrer Sitzgelegenheit: Den Tisch bildet ein riesiger mit Moos überzogener alter Mühlstein, den sie von einem Freund aus dem schwäbischen Schwetzingen bekommen hat. Darum gruppieren sich vier große Findlinge als Stühle, ebenfalls mit Moos überzogen. „Alle an der Ostsee gesammelt und mit meinem alten Auto und sehr viel Willenskraft hierher verfrachtet“, sagt Belutzski stolz.
JOHANN TISCHEWSKI
TREND-MATERIAL Das Bauen mit Naturstein war einmal Fürsten vorbehalten, aber immer mehr Bauherren leisten sich ein paar Akzente aus dem lebendigen Baustoff
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,279
Tatmotiv Rassismus?: „Burak fehlt jeden Tag“ - taz.de
Tatmotiv Rassismus?: „Burak fehlt jeden Tag“ Vor zehn Jahren, am 5. April 2012, wurde Burak Bektaş in Neukölln erschossen. Ein Täter wurde bis heute nicht ermittelt. Gedenken am Mahnmal für den Mord an Burak Bektaş gibt es auch in diesem Jahr Foto: Adora Press/M. Golejewski BERLIN taz | „Für mich macht es keinen Unterschied, ob es zwei Jahre sind oder zehn Jahre. Jeder Tag ohne meinen Sohn ist für mich schwer“, sagt Melek Bektaş. Zehn Jahre nach dem Mord an ihrem Sohn Burak mag sie zwar nicht mehr daran glauben, dass die Polizei den Täter noch findet, „aber ich will die Hoffnung darauf trotzdem nicht verlieren. Ich weiß, dass mein Sohn nicht zurück kommt. Aber der Täter sollte seine Strafe bekommen.“ Vor zehn Jahren, in der Nacht auf den 5. April 2012, feuerte ein Unbekannter an der Rudower Straße in Neukölln mehrere Schüsse auf eine Gruppe junger Männer ab. Burak Bektaş und seine Freunde hatten den Abend gemeinsam in einem nahen Park verbracht warteten dort auf den Nachtbus. Die Kugeln trafen drei von ihnen. Zwei der Freunde überlebten die Schüsse lebensgefährlich verletzt. Der 22-jährige Burak starb im Krankenhaus. Eine Kugel hatte seine Lunge durchbohrt. Der Täter entfernte sich unerkannt vom Tatort. Die Ermittlungen in dem Fall dauern zwar an, aber bis heute haben Polizei und Staatsanwaltschaft keine Hinweise auf den Täter. Das bestätigten die zuständigen Staatsanwälte am Freitag in einem kurzfristig organisierten Pressegespräch. Seit 2020 hätten neue Mit­ar­bei­te­r*in­nen die bisherigen Ermittlungen „akribisch überprüft“. Doch Fehler seien nicht zu erkennen, die Kol­le­g*in­nen hätten professionell und engagiert gearbeitet, hieß es. Staatsanwaltschaft plant Rasterfahndung Als nächster Schritt könne nun noch eine Rasterfahndung erfolgen, erklärte die derzeit für den Fall zuständige Staatsanwältin an. „Damit können wir noch mal Telefonnummern, Meldedaten von An­woh­ne­r*in­nen und etwa Informationen aus allen Krankenhäusern in der Tatnacht mit den bisherigen Ermittlungen abgleichen.“ Dazu sei ein richterlicher Beschluss nötig. Außerdem habe man sich den Schützenverein und dessen Waffenlager in der Nähe des Tatorts noch mal angesehen. Es hätten sich aber keine neuen Hinweise ergeben. „Es ist eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, sagte die Staatsanwältin. „Aber wir suchen noch.“ Erinnern und AufklärenJahrestag Mit der Aufforderung „Findet den Mörder“ erinnern Initiativen am 5. April sowohl lokal als auch online bundesweit dezentral an den Mord an Burak Bektaş und fordern AufklärungKundgebung Zum Gedenken an den 10. Jahrestag des Mordes an Burak Bektaş lädt die Initiative für dessen Aufklärung zu einer Kundgebung am Gedenkort für Burak Bektaş ein. Sonntag, 10. April, 14 Uhr, Rudower Straße Ecke MöwenwegGedenkort Die Arbeiten am Gedenkort sind abgeschlossen, die Initiative freut sich aber weiter über Spenden, um den Ort zu erhalten und die dazugehörige Webseite auszubauenUntersuchungsausschuss Ab voraussichtlich Mai soll ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Arbeit der Ermittlungsbehörden im Neukölln-Komplex kritisch beleuchten. Er wird von der SPD geleitet. Vorsitzender soll wohl der SPD-Abgeordnete und Innenpolitiker Florian Dörstelmann werden, er leitet bereits den Ausschuss für Verfassungsschutz (usch) Die Staatsanwaltschaft teilte zudem mit, dass die Polizei im Januar Rolf Z. vernommen habe. Z. wurde für den Mord an dem 31-jährigen Luke Holland im September 2015 verurteilt. Er hatte ihn vor einer Kneipe in Neukölln mit einer Schrotflinte erschossen – Täter und Opfer kannten sich nicht. Auch in den Akten zum Mord an Bektaş taucht Z. auf. In dessen Wohnung hatte die Polizei damals Nazidevotionalien gefunden, außerdem soll er sich darüber beklagt haben, dass in seiner damaligen Stammkneipe nur noch Englisch und Spanisch gesprochen würde. „Rolf Z. wäre als Täter im Fall von Burak Bektaş vorstellbar“, bestätigten die Staatsanwälte am Freitag. Rassismus als Tatmotiv sei nicht auszuschließen, aber es gäbe auch keine Hinweise darauf. Doch gerade weil Täter und Opfer sich nicht kannten, geht die Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş davon aus, dass Rassismus im Spiel war. Die Tat weise Ähnlichkeiten zu den Verbrechen des NSU auf. Und wie beim NSU auch wirft die Initiative den Behörden vor, diesem Motiv in den Ermittlungen nicht ausreichend nachgegangen zu sein. „Von Anfang an hieß es, die Behörden ermitteln in alle Richtungen“, sagt Helga Seyb von der Initiative. „Doch sie hätten sich direkt mehr auf Rassismus konzentrieren müssen, denn es war klar, dass niemand in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt war. Wir hätten uns gewünscht, dass hier die vielbeschworenen Konsequenzen aus den Taten des NSU tatsächlich gezogen worden wären. Das kann man nicht mehr gut machen“, sagt sie. Außerdem hätten die Behörden Haustürbefragungen nicht ausreichend ausgewertet, Berichte extrem spät weitergegeben und seien wichtigen Hinweisen auch auf Rolf Z. nicht nachgegangen. Untersuchungsausschuss für Neukölln-Komplex Dass nun ein Untersuchungsausschuss die Arbeit der Ermittlungsbehörden in Bezug auf den Rechtsterror im Neukölln-Komplex noch mal beleuchten soll, könnte dazu beitragen. „Ein Untersuchungsausschuss wird ja grundsätzlich keine Verbrechen aufklären, aber er wird möglicherweise untersuchen können, was es für Schwierigkeiten gibt für Ermittlungsbehörden, das aufzuklären“, sagt Seyb. „Ich verspreche mir davon, dass es eine Erklärung dafür gibt, warum es da eigentlich seit Jahren keinerlei Aufklärung von etwa Brandstiftungen oder Anschlägen auf Buchläden gibt.“ Die Initiative will sich auch weiter für das Gedenken an Burak Bektas einsetzen und den Gedenkort pflegen. „Es gibt dort immer wieder Pöbeleien und auch Beschädigungen“, sagt sie. „Wir sorgen dafür, dass so etwas schon am nächsten Tag wieder in Ordnung gebracht ist“, sagt sie. „Und auch bei den Ermittlungen zu diesen Beschädigungen kam ja bisher nichts heraus.“ „Nach all den Ermittlungen sagen sie uns immer noch das, was sie am ersten Tag schon gesagt haben“, sagt Buraks Mutter Melek Bektaş. „Dass Burak zur falschen Zeit am falschen Ort war.“ Sein Tod sei aber kein Unfall gewesen. „Jemand hat ihn mit Absicht erschossen. Unser Ziel ist es, den Täter zu finden“, sagt sie. Dafür kämpfe sie seit zehn Jahren, und sie sei sehr Dankbar für die Unterstützung, die sie von vielen Seiten erfahre. „Doch der Schmerz bleibt. Burak fehlt. Er fehlt immer noch, jeden Tag.“
Uta Schleiermacher
Vor zehn Jahren, am 5. April 2012, wurde Burak Bektaş in Neukölln erschossen. Ein Täter wurde bis heute nicht ermittelt.
[ "Berlin-Neukölln", "Burak Bektas", "Rassismus", "Rechter Terror in Berlin-Neukölln", "Berlin", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,280
Die Bilder kehren immer wieder - taz.de
Die Bilder kehren immer wieder Wie soll man einem Kind in Ruanda erklären, daß seiner Mutter der Bauch aufgeschlitzt wurde? Von den Problemen, traumatisierte Völkermordüberlebende zu behandeln  ■ Von Pierre-Olivier Richard „Wir wurden an eine Straßensperre gebracht“, erzählt das kleine Mädchen. „Wir saßen auf dem Boden. Neben uns waren Wachleute. Da waren auch Hutu- Kinder und haben uns angeguckt. Manche von ihnen sagten, sie wollten sehen, ob das Gehirn bei den Tutsi wirklich anders aussieht, wie man es ihnen erzählt hatte. Also hob ein Mann ein Kind hoch und öffnete ihm den Schädel mit einer Machete. Dann machte er das noch mal mit einem anderen Kind. Die Hutu-Kinder guckten zu.“ Das kleine Mädchen kam mit dem Leben davon. Denn an dieser Straßensperre wurden nur Männer und Jungen getötet. Ein Milizionär ließ das Mädchen laufen, nachdem seine Brüder ermordet worden waren. Und der Anblick der geöffneten Schädel sucht bis heute das kleine Mädchen heim. „Die Erinnerung kehrt zurück wie ein Film“, erklärt Tito Mugrefya, ruandischer Psychologe am nationalen Traumazentrum in der Hauptstadt Kigali. „Dann bricht die Krise aus. Sie sind in der Schule oder sehen Flüchtlinge. Dann werden sie ohnmächtig, und die Bilder des Völkermords kehren zurück.“ Manche Kinder reden dann kein Wort mehr, andere versuchen sich umzubringen. Einige geben sich die Schuld an dem, was sie erlebt haben, zum Beispiel wenn vor ihren Augen ihre Eltern getötet wurden. „Sie haben keinen Kinderblick mehr“, sagt Tito. „Man spürt eine ständige Angst. Sie verstehen nicht, was passiert ist.“ Es ist schwer, einem Kind zu erklären, wieso jemand seiner schwangeren Mutter den Bauch aufgeschlitzt hat. Wieso man ihr den Fötus herausgeholt und getötet hat. Vor allem wenn die Mörder Freunde der Familie waren oder Verwandte. Von Hutu und Tutsi zu reden bedeutet dem Kind nichts. Die meisten Kinder in Ruanda wußten vor dem Völkermord gar nicht, daß sie einer „Ethnie“ angehören. Erst später hat man es ihnen gesagt. Fast nie sagen sie von sich, sie seien Hutu oder Tutsi. Ihre Bezugsgruppe ist zunächst ihre Familie. Dann die Freunde, die Nachbarn und dann der Rest. Der Völkermord hat alle diese Bezugsrahmen zerstört, vor allem in Kindern, die aus sogenannten „gemischten Familien“ – Hutu und Tutsi – stammen. Von einem Tag auf den anderen wurden aus Nachbarn und Freunden, aus Lehrern, Priestern und Beamten Mörder. Wohin gehören die Kinder jetzt? Die Opfer sind nicht mehr sie selbst Die Therapie als solche ist nicht schwer. Schwer ist das Ausmaß der Schäden. Wie soll man eine ganze Bevölkerung heilen? „Idealerweise müßten alls Überlebenden (rescapés) eine psychologische Hilfe bekommen“, meint Tito. „Viele kommen gerade so über die Runden. Sie brauchen Unterstützung. Sobald man sie auf das Thema anspricht, steigen ihnen Tränen in die Augen, und sie lachen nervös. Sie sind nicht mehr sie selbst.“ Selbst für die bloße Beschreibung eines solchen Traumas gibt es nur wenig sprachliche Mittel. Und mit Kindern ist eine besonders spezialisierte Arbeit nötig: Zeichnen, Musik machen. Aber es gibt kaum Experten dafür in Ruanda. Und ausländische Helfer können wenig tun. Man muß ja mit den Leuten in der Landessprache reden können. „Wir versuchen, eine Sensibilisierung durch Traumaberater herzustellen“, erklärt Mugrefya. „Wir bilden Leute dafür aus, in Schulen und Krankenhäuser zu gehen, um weiterzugeben, wie man ein Trauma identifiziert, wie man mit dem Kind redet, was man den Eltern raten muß. Die schwierigsten Fälle kommen zu uns nach Kigali. Das ist wenig, aber mehr können wir zur Zeit nicht leisten.“ Trotzdem funktioniert das Zentrum leidlich. „Wir leben den Völkermord“, sagt Tito und senkt die Augen. „Jeder Patient hat seinen Völkermord. Jeden Tag. Die Daten, die Orte, die Ängste. Und mit psychischen Krisen dazu.“ Im vierten Jahr nach dem Völkermord ist das Problem der rescapés nicht kleiner geworden. Für Kinder, die noch Familie haben, ist die Behandlung einigermaßen gewährleistet. Kindersoldaten und vor allem Waisen ergeht es anders. Es gibt keine seriösen Studien, wie viele Waisen es in Ruanda gibt und wo sie Zuflucht gefunden haben. Es gibt nur Einzelfälle. Da ist die Familie, die ihr adoptiertes Waisenkind nach einem Monat wieder von der Schule nimmt und zur Arbeit schickt. Soll das Kind sich ausbeuten lassen? Oder sich beschweren und von der Armee in ein Waisenhaus gesteckt werden? So gibt es in Kigali immer mehr Straßenkinder. Und zwölfjährige Familienoberhäupter, die für fünf oder sechs jüngere Geschwister sorgen, für sie ein Dach über dem Kopf suchen und den Lebensunterhalt verdienen müssen. Für sie sind die Chancen von vornherein ungleich. Sie können nicht die Gebühren zahlen, um sich für die Schule einzuschreiben: Umgerechnet 50 Mark für ein Schuljahr, was für viele Ruander ein Monatseinkommen darstellt. „Man kann ja nicht die Privatschulen zwingen, sie aufzunehmen“, meint ein Abgeordneter. Sie haben zuwenig Plätze. Und dann wäre ja noch die Schuluniform und das Schulmaterial und bei weit entfernten Schulen auch eine Matratze. Zwei regierungsunabhängige Organisationen in Ruanda, Ibuka und Barakabaho, kümmern sich um allein gelassene Kinder. Aber auch sie haben kein Geld. Insgesamt gibt es für Ruandas Völkermordüberlebende kaum Hilfen. Für die Völkermörder und ihre Geiseln in den zairischen Flüchtlingslagern gab es zwischen 1994 und 1996 2,5 Milliarden Dollar. Seit ihrer Rückkehr geht der Großteil der internationalen Ruanda-Hilfe auch an die Wiedereingliederung der Flüchtlinge. Unicef, das UN-Kinderhilfswerk, das für die Betreuung psychisch geschädigter Kinder zuständig ist, hat dagegen seine Ruanda-Hilfe um 60 Prozent reduziert. Dabei sind mit der Rückkehr der Flüchtlinge die Traumaprobleme im Land ja eher größer geworden. Hilfsorganisationen lassen die Kinder fallen „Letztes Jahr“, erzählt Tito Mugrefya, „gab eine Hilfsorganisation ein Waisenhaus mit vierzig Kindern auf. Es dauerte mehrere Tage, bis Unicef und die Regierung davon erfuhren. Viele Organisationen lassen die Kinder fallen, wenn über sie kein Geld mehr einzutreiben ist.“ Vor dem finanziellen Druck hat jetzt auch Tito Mugrefya kapituliert. Der einzige für eine solche Arbeit ausgebildete einheimische Ruander lebt jetzt in Belgien – nach UN-Bestimmungen galt er als „Landsmann“, dem man nur ein Fünftel des Gehalts zu zahlen braucht, das eine des Ruandischen nicht mächtige US-Expertin bekommt, wenn sie in Ruanda arbeitet. Von einer solchen Entlohnung konnte er seine in Belgien lebenden Kinder nicht finanzieren. So ging er in das Land zurück, wo er bereits vor dem Völkermord fünfzehn Jahre lang gelebt hatte. Sein Institut in Kigali muß sehen, wie es über die Runden kommt. Das ist nicht das einzige Beispiel. Von zehn Kindern, die 1996 in der staatlichen Schule der Stadt Gitarama als traumatisiert eingestuft worden waren, sind in diesem Schuljahr nur noch zwei an der Schule. Zwei andere haben die Schule gewechselt. Sechs haben die Schule einfach verlassen, weil sie zuwenig finanzielle und psychologische Unterstützung bekamen und überfordert waren. Hilfsorganisationen reden sich heraus: „Am einfachsten ist es doch, Nothilfe zu kriegen“, erklärt der Leiter einer Hilfsorganisation. „Und die Regierung meint, es gebe keine Notsituation mehr.“ Will man so der ruandischen Bevölkerung die Werte des Gemeinsinns beibringen?
Pierre-Olivier Richard
Wie soll man einem Kind in Ruanda erklären, daß seiner Mutter der Bauch aufgeschlitzt wurde? Von den Problemen, traumatisierte Völkermordüberlebende zu behandeln  ■ Von Pierre-Olivier Richard
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,281
Björn Engholm hilft - ganz gegen seinen Willen? - taz.de
Björn Engholm hilft - ganz gegen seinen Willen? ■ Schleswig-Holstein: Der Landtagswahlkampf des SPD-Bundesvorsitzenden wird auch die erneuerten norddeutschen Grünen ins Rampenlicht ziehen
jürgen oetting
■ Schleswig-Holstein: Der Landtagswahlkampf des SPD-Bundesvorsitzenden wird auch die erneuerten norddeutschen Grünen ins Rampenlicht ziehen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,282
Debatte Arabische Revolution: Der lange Weg in die Freiheit - taz.de
Debatte Arabische Revolution: Der lange Weg in die Freiheit Gerade Deutsche sollten wissen: Demokratie braucht Zeit. Der Westen sollte den Prozess unterstützen, ohne sich zu sehr einzumischen. Revolutionen sind Lokomotiven der Geschichte" erkannte Karl Marx. Ihr Fahrtziel in Arabien wie in Europa ist die Befreiung des Menschen durch den Menschen. Gelegentlich führte die Reise rasch und ungefährdet zum Erfolg, so wie im November 1989 in Europa. Häufiger aber währt die Tour unerwartet lange, ehe die große Freiheit erreicht ist. Die Tunesier und Ägypter haben ihre Diktatoren gestürzt. Gegenwärtig erleben wir die Agonie der Gewaltherrscher in Libyen, Jemen, Syrien. Wer wird ihnen folgen? Wie wird sich Arabien entwickeln? Prognosen seien schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen, ironisierte Mark Twain. Doch aus der Geschichte kann man lernen. Im März 1848 revoltierten Deutschlands Bürger gegen ihre Unterdrückung durch reaktionäre Potentaten. Sieht man vom 12-jährigen Freiheitsintermezzo der zerbrechlichen Weimarer Demokratie ab, dauerte es nach Nazikrieg und Völkermord gut ein Jahrhundert, bis die Bundesrepublik Deutschland 1949 geschaffen wurde. Westdeutschland hatte endlich zur Demokratie gefunden. 40 Jahre später überwanden die Bürger friedlich die SED-Diktatur. Die Russen üben seit 1917 lupenreine Demokratie. Dies sind die zeitlichen Dimensionen, die Revolutionen benötigen, um ihre sozialen Kräfte in stabile demokratische Bahnen zu lenken. "Der" arabischen Welt sind kürzere Distanzen und weniger Opfer auf dem Pfad zur Freiheit zu wünschen. Rafael Seligmann63, ist Schriftsteller und Journalist. Seine Romane ("Der Musterjude") und Essays kreisen oft um deutsch-jüdische Themen. Zuletzt erschien seine Autobiografie "Deutschland wird dir gefallen" (Aufbau). Er lebt in Berlin und Tel Aviv. Entscheidende Mankos vieler arabischer Länder sind mangelhafte Bildung, das Fehlen demokratischer Traditionen sowie ein fundamentalistischer Islam. In einzelnen arabischen Staaten sind bis zu 50 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Menschen, die weder lesen noch schreiben können, schätzen die Freiheit nicht weniger als Gebildete, doch ihre Informationsmöglichkeiten sind beschränkt. Motor der Revolution Den arabischen Gesellschaften fehlt es an Demokratie-Erfahrung. Seit dem 19. Jahrhundert beuten die Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien und Italien die arabischen Länder aus. Politische Partizipation der Bevölkerung ließen sie nicht zu. Heute sind die Araber nicht länger bereit, Diktaturen hinzunehmen, in denen das Volk verarmt, seine Rechte missachtet werden. Jüngere Akademiker besaßen bislang kaum Chancen, adäquate Berufe auszuüben und ein menschenwürdiges Einkommen zu verdienen. Ägypten ist nicht die arabische Welt. Doch hier wird über den Erfolg der arabischen Revolution entschieden: durch die schiere Quantität seiner 84-Millionen-Bevölkerung, die knapp ein Viertel Arabiens ausmacht, die Qualität seiner Bildungsschicht und die zentrale Stellung Ägyptens im arabischen Raum. Hervorzuheben ist auch, dass die Revolutionäre hier bislang weitgehend gewaltlos vorgingen. 1952 putschten sich die Freien Offiziere unter Führung Gamal Abdel-Nassers an die Macht und proklamierten eine Republik. Ihr Ziel war ein freies und modernes Ägypten, in dem soziale Gerechtigkeit herrschen sollte. Tatsächlich aber errichteten Nasser und seine Nachfolger eine Militärdiktatur. Oppositionsgruppen wie die 1928 gegründeten Muslimbrüder wurden ausgeschaltet, das Potenzial des Landes wurde in Kriegen gegen Israel vergeudet. Doch breiten Schichten wurde zugleich der Zugang zu Schulen und Universitäten ermöglicht: Nun sind sie der Motor der Revolution. Wer die neuen Kommunikationstechniken beherrscht, kostet die Früchte der Freiheit. Das sind jedoch nicht die Herrschaftssysteme des Westens. Am wichtigsten sind der islamischen Bevölkerung soziale Gerechtigkeit und ein größere Bedeutung der Religion. Laut einer Umfrage des Pew Research Center wollen 95 Prozent der ägyptischen Muslime, dass der Islam im Staat eine größere Rolle spielt. Das birgt die Gefahr von Konflikten mit den christlichen Kopten. Die Muslimbrüder werden nach der Führung im Staat greifen. Ihre Aussicht, freie Wahlen zu gewinnen, ist gut. Es gibt mehr als drei Millionen aktive Muslimbrüder. Die Bewegung unterhält ein Netzwerk von sozialen Einrichtungen, Krankenhäusern, Schulen. Die modernen, weltlich orientierten Freiheitsaktivisten dagegen haben wenig politische und organisatorische Erfahrung und keine im Lande verwurzelten Galionsfiguren. Die Muslimbrüder aber können mit charismatischen Persönlichkeiten aufwarten. Am populärsten ist Scheich Jussuf al-Qaradawi: Seinen TV-Predigten lauschen Millionen Gläubige in ganz Arabien. Qaradawi propagiert die "Vereinigten Islamischen Staaten" - ein modernes Kalifat, in dem die Scharia, das Gesetz des Islam, verbindlich sein soll, und fordert, die "Zionisten bis zum Letzten von ihnen zu töten". Bei seiner ersten Predigt auf dem Kairoer Tahrirplatz rief er dazu auf, die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem zu "befreien". Dies würde Krieg gegen Israel bedeuten. Iran ist kein Vorbild Dennoch sollte der Westen sich hüten, dabei zu helfen, eine Machtübernahme der Muslimbrüder gewaltsam zu vereiteln. Dies geschah vor 20 Jahren in Algerien. Es folgte ein Bürgerkrieg. In Ägypten wären die Ausmaße einer solchen Auseinandersetzung gewaltig. Die Ägypter beobachten aufmerksam das Geschehen in Iran. Die Republik des Ajatollah Chomeini, zunächst von Demokraten unterstützt, wird heute von fundamentalistischen Mullahs und Revolutionsgarden beherrscht, die eine bürgerliche Freiheitsbewegung brutal niederhalten. Der heutige Iran ist deshalb kein Vorbild für die Ägypter, nicht einmal für einen Großteil der Muslimbrüder. Wir haben die arabische Revolution respektvoll anzuerkennen und sollten darauf eingehen - durch verstärkten kulturellen und intellektuellen Austausch und politische Dialoge, auch mit den Muslimbrüdern, sowie wirtschaftliche Kooperation. Doch wir sollten unter allen Umständen vermeiden, militärisch oder durch Drohungen in das Geschehen einzugreifen. Die arabische Revolution ist eine Chance für mehrere hundert Millionen Menschen, ein höheres Maß an Freiheit, kultureller Vielfalt und Wohlstand zu erlangen. Sie verdient daher unsere Unterstützung. Wie lange sie währt, wissen wir nicht. Doch am Ende könnte eine friedlichere Welt stehen. Inschallah.
Rafael Seligmann
Gerade Deutsche sollten wissen: Demokratie braucht Zeit. Der Westen sollte den Prozess unterstützen, ohne sich zu sehr einzumischen.
[ "Debatte", "Gesellschaft", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,283
Sechsteiliger Podcast zu Ken Jebsen: Der Weg zum Verschwörer - taz.de
Sechsteiliger Podcast zu Ken Jebsen: Der Weg zum Verschwörer „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ behandelt nicht nur die Figur Jebsen, sondern auch Desinformation im digitalen Zeitalter allgemein. Von 2001 bis 2011 moderierte Jebsen beim rbb-Sender Fritz die Show „KenFm“ Foto: Arnulf Hettrich/imago Zurückgegelte Haare, dunkle Sonnenbrille, grau geschminktes Gesicht, schwarze Lederjacke, blaue Jeans, nackte Füße. Im Schneidersitz harrt Ken Jebsen auf dem Dach eines Fahrzeugs aus, mit Kopfhörer im Ohr bei einer Demonstration im April vergangenen Jahres gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen. In sich ruhend, fast meditierend. Ein stiller Protest von einem der lautesten Protestierenden. Die Inszenierung gelingt mit der Visualisierung. Eine visuelle Ikone der anhaltenden Demonstrationen entsteht, eine der radikalsten Stimmen ist der reichweitenstarke Verschwörungsmystiker mit seinem Portal KenFM schon längst. In dem sechsteiligen Podcast „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ geht Autor und Redakteur Khesrau Behroz für das Studio Bummens, K2H und die öffentlich-rechtlichen Sender NDR und rbb dem Werdegang von Kayvan Soufi Siavash, so der Geburtsname von Ken Jebsen, nach. „Don’t feed the troll“ in den sozialen Medien, darf gedacht werden. Der Troll ist allerdings ein Star. Doch sollte das Ego eines Egomanen medial weitergefüttert werden? Der Podcast„Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“, ab Sonntag, 13. Juni, zwei Episoden bei njoy, Radioeins und rbbKultur, sowie bei den bekannten Podcatchern. Danach wöchentlich eine neue Episode am Sonntag. Das ist die Crux jeder Reflexion zu „falschen Propheten“, wie Leo Löwenthal schon vor über 70 Jahren in den Studien zum Autoritarismus rechter Agitatoren skizzierte. „Baut der Podcast einem Verschwörungstheoretiker wie Jebsen eine Bühne?“, fragen sich auch die Macher:innen. Nein, antworten sie, denn es gehe nicht allein um Jebsen. Ja, darf nach dem Hören zugestimmt werden. Denn über die Person und Vita eines rechten Populisten werden exemplarisch Strategien und Argumentationen eines solchen Populismus aufgezeigt – und das ist äußert spannend. Diese Spannung beruht nicht alleine auf dem investigativen Anspruch, sie entsteht auch durch eine aufwendige Montagetechnik. Behroz führt durch die Geschichte des ehemaligen Radio- und Fernsehmoderators, der einmal ganz groß rauskommen wollte; der anstrebte, der neue Thomas Gottschalk der Fernsehunterhaltung zu werden. Auch O-Töne von früheren Kol­le­g:in­nen beim rbb und einem ehemaligen Mitstreiter des Teams von KenFM sind eingebaut. Ex­per­t:in­nen ordnen Aussagen von Jebsen ein. Kurze, aber klare Definitionen wie jene von Verschwörungsnarrativen oder Antisemitismus werden eingestreut. Das ist nicht belehrend, sondern hinweisend. Von 9/11 bis Corona: Die Radikalisierung Ken Jebsens Die vier Folgen, die der Autor hören konnte, versuchen nicht die tiefsten psychologischen Motive zu erfassen. Sie markieren die Umbrüche des „revolutionären Radiomoderators“ beim Jugendsender Fritz des rbb. Die Aussagen von Jebsen werden in ihren jeweiligen konkreten Zeitkontexten verhandelt, wie auch andere O-Töne. Das Erkennen der vermeintlichen Matrix, der angeblichen Verschwörungen, sehen die Ma­che­r:in­nen bei Jebsen schon bei der Annahme des Terroranschlags vom 11. September 2001 als „Insidejob“. Der Rauswurf beim rbb führt ihn zum Aufbau von KenFM. Eine Marke, die mehr und mehr ein Publikum erschafft und bedient. Die Umstellung bei Youtube, die Algorithmen nach „Watchtime“ auszurichten, spielt KenFM massiv zu. Jebsen erscheint kurzweilig als Querfrontler bei den sogenannten Friedensdemonstrationen 2014. Das Wort „Querfront“ suggeriert Affinitäten zwischen Linken und Rechten. Die Ma­che­r:in­nen hinterfragen auch diese Annahme mit dem Hinweis, dass Begriffe wie Frieden hier nicht mehr klar definiert seien, ihren linken Inhalt verloren hätten. Die Krise der Flüchtlingspolitik 2015, und später die Maßnahmen gegen die Pandemie ab 2020 führen zur weiteren Radikalisierung von Jebsen. Mit dem Video „Gates kapert Deutschland“ verbreitet er 2020 das Verschwörungsnarrativ, dass Bill und Melinda Gates die WHO und die Bundesregierung letztlich gekauft hätten. Drei Millionen Aufrufe in kurzer Zeit. Jebsen ist der Verschwörunsmystiker. Und die Ma­che­r:in­nen des Podcasts werden deutlich: Mit seiner „alternativen Meinung“ hat er den Hass in die gesellschaftliche Mitte gebracht. Mit ihnen reden wollte Jebsen nicht.
Andreas Speit
„Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ behandelt nicht nur die Figur Jebsen, sondern auch Desinformation im digitalen Zeitalter allgemein.
[ "Ken Jebsen", "Verschwörung", "Podcast-Guide", "Medien", "Gesellschaft", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,284
Sachsen führte Neonazi als Spitzel: Rechte Polizeihelfer - taz.de
Sachsen führte Neonazi als Spitzel: Rechte Polizeihelfer Dokumente weisen auf den Einsatz von rechtsextremen Szeneangehörigen als V-Leute hin. Das Innenministerium hatte das stets bestritten. Konnte Widersprüche nicht auflösen: sächsischer Innenminister Markus Ulbrig (CDU). Bild: dpa HAMBURG taz | Die Sitzung des Untersuchungsausschusses war für den sächsischen Innenminister Markus Ulbrig (CDU) unangenehm. Am Dienstag konnte der Minister im Dresdener Landtag einen offensichtlichen Widerspruch zwischen Aussagen und Akten von der Polizei zu geführten V-Männern nicht auflösen. „Wiederholt sind Abgeordnete in diesem Zusammenhang belogen worden“, sagt Kerstin Köditz von der Landtagsfraktion die Linke. In den vergangen Monaten hatte das Innenministerium immer wieder verneint, dass die Polizei Rechtsextreme als Spitzel genutzt hätte. Zuletzt antwortete Ulbig auf eine Kleine Anfrage, dass „im Bereich der politisch motivierten Kriminalität (PMK) seit jeher keine Vertrauenspersonen geführt“ werden. Ein Schreiben des sächsischen Staatsministerium des Innern, am 7. Mai 2008 beim Landgericht Dresden eingegangen, legt allerdings anderes nahe. In dem Schreiben des Landespolizeipräsidenten im Kontext zu dem damaligen Prozess gegen die rechtsextreme Kameradschaft „Sturm 34“ wird der Freigabe einer Akte widersprochen. Einer der Kader der Kameradschaft, Matthias R, stand zu der Zeit unter anderem wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung vor dem Landgericht. Knapp ein Jahr zuvor hatte das Innenministerium die bis zu 40 Personen umfassende militante Gruppe aus der Region Mittweida verboten. Ministerium: Nur Informant, kein V-Mann In dem Schreiben, das der taz vorliegt, wird ausgeführt, das die Akten nicht freigegeben werden könnten, da „es dem Wohle des Freistaates Sachsen Nachteile bereiten würde“. Und noch deutlicher wird dargelegt, dass die „polizeiinternen Unterlagen zur Inanspruchnahme des R. als Informant“ vorschriftsmäßig in die „Informantenakte“ aufgenommen wurde. Die Offenlegung der Akte des R. würde „polizeiliche Arbeitsweisen sowie angewendete Ermittlungsmethoden offenbaren“ heißt es weiter. Nach dem Dokument liegt nahe, das R. damals mit der Polizeidirektion Chemnitz-Erzgebirge zusammen arbeitete. Seit 2006 galt R., Mitbegründer des „Sturms 34“, als “Verräter“ „in der Szene. „Herr R. ist selbst gekommen, wollte sich erleichtern“, sagt Frank Wend, Pressesprecher des Ministeriums der taz. R. wäre „nur Informant“, aber keine „Vertrauensperson“ gewesen.
Andreas Speit
Dokumente weisen auf den Einsatz von rechtsextremen Szeneangehörigen als V-Leute hin. Das Innenministerium hatte das stets bestritten.
[ "Sachsen", "Rechtsextremismus", "V-Leute", "Verfassungsschutz", "Neonazis", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,285
Tradition auf den Färöer-Inseln: Walmassaker als Volksfest - taz.de
Tradition auf den Färöer-Inseln: Walmassaker als Volksfest Obwohl das Fleisch ungenießbar ist und die Gesundheitsbehörde vor dem Verzehr warnt, bleibt es bei der blutigen Tradition der regelmäßigen Schlachtung von Grindwalen. In großen Gruppen leben die Grindwale in nördlichen Gewässern – das macht sie zu beliebten Fangopfern. Bild: dpa STOCKHOLM taz Das Fleisch gilt wegen der Belastung durch Umweltgifte eigentlich als Sondermüll. Trotzdem wird auf den zu Dänemark gehörenden Färöer-Inseln im Nordatlantik die blutige Jagd auf Grindwale fortgesetzt. Fischer trieben eine Herde von rund 100 Walen von der See aus in eine Bucht vor dem Ort Hvannasund, wo die Tiere einzeln mit Fanghaken ins seichte Gewässer gezogen und mit Messern geschlachtet wurden. Eine traditionelle, aber von TierschützerInnen längst als barbarisch verurteilte Jagdmethode. Früher war die auf die Wikingerzeit zurückreichende Grindwaljagd für die BewohnerInnen der kargen "Schafs-Inseln" eine Voraussetzung, um hier überhaupt überleben zu können. Heute jedoch hat das Fleisch seine Bedeutung für die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung fast vollständig verloren. Zwar wird es nach dem Schlachten immer noch zu gleichen Teilen kostenlos an sämliche BewohnerInnen des Dorfs oder der Insel verteilt. Doch hat das Ritual des Grindadráp - übersetzt: Grindtötung - nunmehr vor allem den Charakter eines bunten Volksfests. "Die Brutalität, mit der hier die Meeressäuger abgeschlachtet werden, ist vergleichbar mit den Delfin-Massakern, die jedes Jahr vor der japanischen Küste stattfinden", kritisiert Ulrich Karlowski von der Gesellschaft zur Rettung der Delfine. Vor allem aber tun sich die Färinger keinen Gefallen damit, das Fleisch tatsächlich zu essen. Schon in den letzten Jahren hatte die Gesundheitsbehörde der Färöer allenfalls einen Verzehr von nicht mehr als zweimal jährlich empfohlen und Schwangeren wegen möglicher Schädigungen des Fötus ganz davon abgeraten. Vor einem Monat warnte sie, das Fleisch sei mittlerweile derart von Umweltgiften belastet, dass es aus medizinischer Sicht für menschlichen Genuss gänzlich ungeeignet sei. "Es ist sehr bedauerlich, dass wir diese Empfehlung geben müssen. Grindwale haben viele Färöer über Jahrhunderte hinweg am Leben erhalten", erklärte die Behörde damals. Die Tiere, die am Ende der Nahrungskette stehen, sind so massiv mit Umweltgiften wie Quecksilber, PCB, Kadmium und Pestiziden vollgestopft, dass den FleischkonsumentInnen bleibende gesundheitliche Schäden drohen. Schon im Jahr 2000 hatte eine Langzeitstudie eine auffallend hohe toxische Belastung der BewohnerInnen der Färöer nachgewiesen. Zu einem regelrechten Verbot des auch auf den Inseln kontrovers diskutierten Grindwalfangs konnte sich die Regierung bislang aber nicht durchringen. In den letzten Jahren waren jeweils zwischen 600 und 1.000 der bis zu acht Meter langen und durchschnittlich eine Tonne schweren Grindwale beim Grindadráp geschlachtet worden.
Reinhard Wolff
Obwohl das Fleisch ungenießbar ist und die Gesundheitsbehörde vor dem Verzehr warnt, bleibt es bei der blutigen Tradition der regelmäßigen Schlachtung von Grindwalen.
[ "Ökologie", "Öko", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,286
Koalitionsverhandlungen in Berlin: Harmonie nur in der Chefetage - taz.de
Koalitionsverhandlungen in Berlin: Harmonie nur in der Chefetage Giffeys Kreisverband Berlin-Neukölln spricht sich gegen Schwarz-Rot aus. Wegner sorgt mit Plänen für Tempelhofer Feld und A100 für Empörung.  Hat im Gegensatz zu ihrem Kreisverband Bock auf Kai Wegner: Noch-Bürgermeisterin Franziska Giffey Foto: Hans Christian Plambeck | laif BERLIN taz | Kurz vor dem Beginn der Koalitionsverhandlungen wird die Kritik innerhalb der SPD an einer Koalition mit der CDU lauter. Am Samstag stimmte Franziska Giffeys Kreisverband Neukölln auf einer Delegiertenversammlung mit 48 zu 45 Stimmen gegen eine schwarz-rote Koalition. „Die Abstimmung war knapp, hat aber gezeigt, wie viele in unserer Partei eine Zusammenarbeit mit der Berliner CDU ablehnen“, twitterte der Berliner Jugendverband der SPD (Jusos) nach der Entscheidung. Die Jusos kündigten eine berlinweite Kampagne an. Der SPD-Kreisvorsitzende Fabian Fischer kommentierte die Entscheidung am Sonntag gegenüber der Presseagentur dpa: „Die Delegierten der SPD Neukölln haben sehr intensiv und gleichzeitig konstruktiv über das Für und Wider einer möglichen Koalition mit der CDU diskutiert.“ Nach dem Abschluss der Sondierungsgespräche vergangene Woche sind die Vorbereitungen für die Koalitionsverhandlungen bei CDU und SPD in vollem Gange. Bereits am Montag sollen die Mitglieder der Arbeitsgruppen festgelegt werden. Diese sollen sich dann wenige Tage später treffen und Vereinbarungen über spezielle Themenbereiche wie Verkehr, Bildung oder innere Sicherheit ausarbeiten. Insgesamt soll es 13 Arbeitsgruppen geben, die aus jeweils acht Personen bestehen. Die sogenannte Dachgruppe aus Spit­zen­po­li­ti­ke­r:in­nen von CDU und SPD, die auf Grundlage der Vorlagen der Arbeitsgruppen weitere Verhandlungen führt, wird sich erstmals am Donnerstag treffen. Bereits kurz nach der Entscheidung des CDU-Landesvorstands am Donnerstagabend, Koalitionsverhandlungen mit der SPD aufzunehmen, kündigte Wegner einen „straffen Zeitrahmen“ an. Man wolle in vier Wochen fertig sein, sodass der Koalitionsvertrag Ende März stehe. Laut Beschluss des SPD-Vorstands müssen dann ihre Mitglieder über die Vereinbarung abstimmen. Mehr Videoüberwachung Inhaltlich hat sich der wahrscheinlich nächste Regierende Bürgermeister am Wochenende in mehren Interviews vorgewagt: In den verbleibenden dreieinhalb Jahren der Legislaturperiode wolle er eine Verwaltungsreform voranbringen, den Lehrermangel beheben und stärkere Videoüberwachung an kriminalitätsbelasteten Orten voranbringen. Für heftige Kontroversen sorgen bereits die Aussagen des CDU-Chefs über den Umgang mit dem Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co enteignen. „Willkürliche Enteignungen von Immobilienunternehmen wird es mit uns nicht geben“, erklärte Wegner gegenüber dem Tagesspiegel. Laut dem Sondierungspapier der SPD ist geplant, ein „Enteignungsrahmengesetz“ entwickeln zu wollen. Die Initiative DW enteignen befürchtet, die zukünftigen Koalitionspartner wollen das Gesetz bewusst verschleppen. Ebenfalls für Empörung sorgte Wegners Ankündigung, eine Randbebauung des Tempelhofer Feldes auf den Weg zu bringen und die Stadtautobahn A100 weiterbauen zu wollen. Beide Projekte wolle er zunächst durch eine – bisher so nicht mögliche – Bür­ge­r:in­nen­be­fra­gung legitimieren. „Wir haben davor gewarnt, dass mit Schwarz-Rot eine Rückschrittskoalition kommt“, wetterte die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch am Samstag auf Twitter. „Klimaschutz und Mobilitätswende werden rückabgewickelt.“
Jonas Wahmkow
Giffeys Kreisverband Berlin-Neukölln spricht sich gegen Schwarz-Rot aus. Wegner sorgt mit Plänen für Tempelhofer Feld und A100 für Empörung. 
[ "NoGroko", "Kai Wegner", "Koalitionsverhandlungen", "Wahlen in Berlin", "Berlin", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,287
Verkehr in Berlin: Radler auf breiter Spur - taz.de
Verkehr in Berlin: Radler auf breiter Spur Mit neuen Markierungen soll die Zahl der Unfälle am Moritzplatz in Kreuzberg verringert werden. Die Fahrradlobby ist begeistert. Sollen am Moritzplatz weniger werden: Unfälle zwischen Autos und Fahrrädern. Foto: dpa Ein beißender Geruch von Farbe hängt über dem Moritzplatz in Kreuzberg. Am Rand des Kreisverkehrs blockiert ein oranger Transporter den Fahrradweg, die Lädefläche ist offen. Von ihr räumen zwei Arbeiter Klebeband und so etwas wie lange Lineale, an einer Ausfahrt stehen einige Verkehrskegel. Der bei RadfahrerInnen gefürchtete Kreisverkehr bekommt einen neuen Anstrich. Seit Samstag verschwinden alte Markierungen, neue kommen hinzu. Etwa ein Drittel des Kreisverkehrs ist bis Donnerstagmittag neu gestrichen. Vorsichtig nähern sich Autos dem etwa zwei Meter breiten roten Streifen, der die Zu- und Ausfahrt an der Prinzenstraße Richtung Süden markiert und auf vorbeifahrende RadlerInnen hinweist. Er gehört zu den drei wesentlichen Veränderungen am Kreisverkehr Moritzplatz. Zudem schrumpft die Fahrbahn für Autos leicht: Sie sollen nicht mehr nebeneinanderher fahren und sich so gegenseitig verdecken können. Der Radweg wird gleichzeitig breiter, bis zu 3,40 Meter, und bekommt an den Abfahrten eine zusätzliche Spur für RadlerInnen, die den Kreisverkehr verlassen wollen. Gestrichelte Flächen sollen dafür sorgen, dass Autos und Fahrräder sich nicht zu nahe kommen. Genau das war bisher ein Problem am Moritzplatz. Er ist ein Unfallhotspot in Berlin. Radfahrer machen ein Fünftel der Nutzer des Kreisverkehrs aus, besonders an den Ein- und Ausfahrten gibt es regelmäßig Unfälle mit Autos – allein 157 zwischen 2012 und 2014. An fast jedem zweiten waren RadfahrerInnen beteiligt. Das soll sich ändern. Mit der Umgestaltung des Kreisverkehrs am Moritzplatz sollen „ein besseres und nachvollziehbares Miteinander der Verkehrsteilnehmer gefördert werden“, teilte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt am Donnerstag mit. Gemeint ist, dass Rad- und AutofahrerInnen Augenkontakt miteinander aufnehmen sollen. Petra Rohland, Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, erhofft sich von der Maßnahme deutlich weniger Unfälle, besonders die Gefahr beim Abbiegen solle beseitigt werden. Bernd Zanke vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club /ADFC) zeigt sich euphorischer – außergewöhnlich für einen Berliner Fahrradlobbyisten. „Die Unfallzahlen sollen sich gen null bewegen. Der Plan ist gut, also muss es die Lösung auch sein.“ Bisher sei der Kreisverkehr nicht auffällig genug gekennzeichnet gewesen. Das ändere sich durch die roten Fahrradstreifen an den Zu- und Ausgängen, die aus rot eingefärbtem Asphalt bestehen. „Eine Neuentwicklung“, sagt Zanke. „Bisher wurde da immer roter Kunststoff aufgetragen, der hat sich aber schnell abgefahren.“ Hilfe auch für Fußgänger Die Kosten für die neue Markierung schätzt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auf 25.000 Euro. Bis zum Ende der Schulferien am 28. August sollen die Arbeiten am Moritzplatz abgeschlossen sein. Für das kommende Jahr ist eine Verkehrsinsel an der Abzweigung Richtung Süden in die Prinzenstraße geplant. Sie soll FußgängerInnen das Überqueren des Kreisverkehrs erleichtern.
Ronny Müller
Mit neuen Markierungen soll die Zahl der Unfälle am Moritzplatz in Kreuzberg verringert werden. Die Fahrradlobby ist begeistert.
[ "Friedrichshain-Kreuzberg", "Verkehrssicherheit", "Verkehrsunfälle", "Fahrrad", "ADFC", "Berlin", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,288
Prozess gegen Kardinal in Australien: Der, der nicht genannt werden darf - taz.de
Prozess gegen Kardinal in Australien: Der, der nicht genannt werden darf In Australien stehen Journalisten vor Gericht, weil sie über den Prozess gegen Kardinal George Pell berichten – entgegen einer richterlichen Verfügung. Presseauflauf im April 2020 vor dem Gericht, das George Pell freigesprochen hat Foto: James Ross/imago SYDNEY taz | Journalisten hinter Gittern – nur weil sie ihre Pflicht erfüllt haben, die Öffentlichkeit zu informieren. Was nach Alltag in einer Diktatur klingt, könnte auch in Australien zur Realität werden. In der Stadt Melbourne müssen sich derzeit 18 Journalistinnen und Journalisten und 12 Medienunternehmen vor dem Obergericht des Bundesstaats Victoria verantworten. Ihnen drohen Haft oder hohe Geldbußen, weil sie im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den Kurienkardinal George Pell gegen eine richterliche Verfügung verstoßen haben sollen. Ein Richter hatte den Medien verboten zu berichten, dass der katholische Kleriker und Papstverbündete am 11. Dezember 2018 schuldig gesprochen worden war, in den neunziger Jahren zwei Chorknaben sexuell missbraucht zu haben. Von der Verfügung betroffen waren alle Medien, die in Australien zugänglich sind – also auch Medien, die über das Internet zugänglich sind. Das hatte unter australischen Journalisten für Wut und unter internationalen Journalisten für Verunsicherung gesorgt. In Zeiten von Digitalisierung, wo jedes Medienunternehmen mit einer Webseite weltweit verfügbar ist, bedeutete das theo­retisch, dass weltweit niemand über den Fall hätte berichten dürfen. Damit sollte verhindert werden, dass die Geschworenen in einem bereits geplanten zweiten Prozess gegen Pell beeinflusst werden. Pell, der alle Vorwürfe stets zurückgewiesen hatte, wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Der zweite Prozess wurde wegen ungenügender Beweise abgesagt. Nach einer Berufung und 13 Monaten hinter Gittern wurde Pell im April freigesprochen. Der frühere Finanzminister des Vatikans und enge Vertraute von Papst Franziskus lebt inzwischen wieder in Rom. „Zensiert“ stand auf dem Titel Laut Experten sind solche Verfügungen im australischen Rechtssystem nicht unüblich. Trotzdem hielten sich verschiedene Medien nicht an die Anordnungen. Vor allem im Ausland wurde über das Urteil berichtet und Pells Name genannt. Die Medien bewiesen, dass solche Verbote in Zeiten globaler Vernetzung kaum durchsetzbar sind. Australische Publikationen zeigten sich empört über den Entscheid: Die Melbourner Tageszeitung Herald Sun bedruckte die Titelseite mit dem Vermerk „Zensiert“. Die Welt lese „eine sehr wichtige Geschichte“, aber die eigene Zeitung müsse ihren Lesern „Details dieser bedeutsamen Nachricht“ vorenthalten. Ein anderes Medienportal ging weiter: Es verwies auf eine ausländische Publikation mit dem Hinweis auf „die Geschichte, über die wir nicht berichten können“. Aber es gab auch Verteidiger des richterlichen Entscheids. Verschiedene Journalisten zeigten – nicht immer öffentlich – Verständnis. Pells Anwalt hätte im geplanten zweiten Prozess geltend machen können, die Geschworenen seien befangen, hätten sie vom ersten Urteil erfahren. „Die Gefahr bestand, dass der Prozess dann platzt“, so ein Kommentator damals. Auch in Australien gilt für Beschuldigte die Unschuldsvermutung. Der Prozess gegen die Journalisten und Verlagshäuser nun verstärkt unter Medienschaffenden das Gefühl, dass ihre Freiheit zu berichten immer weiter beschnitten wird. Die Regierung von Premierminister Scott Morrison habe durch die drastische Verschärfung von Sicherheits- und Antiterrorgesetzen in den letzten Jahren die Arbeitsbedingungen insbesondere für investigative Journalisten erschwert, sagen Kritiker. „Reporter und Whistleblower leben in wachsender Angst vor Strafverfolgung, Polizeirazzien und teuren Prozessen“, schreibt die Interessengemeinschaft „Your Right to Know“, der alle Verlage und Journalistenverbände angehören. Im letzten Jahr machten Polizeirazzien beim Fernsehsender ABC und bei einer Journalistin der Tageszeitung Daily Telegraph weltweit Schlagzeilen, nachdem die Reporter für die Regierung potenziell peinliche Informationen veröffentlicht hatten. Die Razzien wurden jüngst vor Gericht als unzulässig verurteilt. Your Right to Know fordert „fundamentale Rechte“ und „Ausnahmen“ für Journalisten von Gesetzen, „nach denen sie im Gefängnis landen würden, nur weil sie ihren Job machen“. Reporter ohne Grenzen kommt zu dem Schluss, australische Journalisten würden sich der „Zerbrechlichkeit der Pressefreiheit“ immer bewusster, „in einem Land, in dem das Grundrecht keine solche Freiheit garantiert und nicht mehr als eine,implizierte Freiheit politischer Kommunikation' anerkennt“. Die australische Regierung missbrauche das Argument „der nationalen Sicherheit“, um „investigative Reporter einzuschüchtern“.
Urs Wälterlin
In Australien stehen Journalisten vor Gericht, weil sie über den Prozess gegen Kardinal George Pell berichten – entgegen einer richterlichen Verfügung.
[ "Australien", "Presse", "sexueller Missbrauch", "Medien", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,289
Schwarz bleicht aus - taz.de
Schwarz bleicht aus ■ Bisher galt der MDR als Versorgungswerk für unionstreue Journalisten. Nun nimmt der erste aus der Chefetage seinen Hut. Die Nachricht wurde bei der rot-grünen Landesregierung in Magdeburg mit klammheimlicher Freude aufgenommen. „Der Direktor des Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt, Dr. Ralf Reck, wird seinen Vertrag nicht verlängern“, teilte am Freitag in dürren Worten die Pressestelle des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) mit. „Er übernimmt statt dessen Anfang 1996 die Aufgabe als MDR- Beauftragter für Osteuropa.“ Reck selbst deutete seinen Abgang im eigenen Sender zur „großen Herausforderung“ um. Die Herausforderung könnte ein Opfer sein: Beobachter glauben, daß der treue CDU-Parteisoldat über die Klinge springen muß, um wieder Ruhe in die medienpolitischen Kulissen der Dreiländeranstalt zu bringen. Eine wackelige Angelegenheit wäre Recks Wiederwahl ohnehin geworden, auch wenn das MDR- Aufsichtsgremium die nächsten drei Jahre noch so zusammengesetzt bliebe, wie es 1991 die CDU- Regierungen von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ausgewürfelt haben. Trotz der schwarzen Mehrheit war Reck, der Favorit des MDR- Intendanten Udo Reiter (CSU) für die Magdeburger Funkhausleitung, schon 1991 im ersten Wahlgang zunächst durchgefallen. Denn den FDP-Vertretern im damaligen Wahlgremium war der Mann aus Hamburg dann zu schwarz. Reiter konnte damals seinem Kandidaten die Mehrheit im zweiten Wahlgang erst dadurch sichern, daß er einen FDP-Mann zum Justitiar machte. Nun ist es möglicherweise Recks Abgang, der Reiter aus der Bredouille bringt. Über die Freiwilligkeit der Demission des Funkhauschefs wird denn auch heftig spekuliert. Intendant Reiter muß sich neuerdings bemühen, seinen Laden zusammenzuhalten. In der von Sachsens Regierungschef Biedenkopf mit ausgelösten Debatte über öffentlich-rechtlichen Rundfunk war Reiter selbst bei ARD-KolleGerade noch die Kurve gekriegt gen in Verdacht geraten, seinem Ministerpräsidenten in dessen ARD-kritischer Position zu sekundieren. Die schleswig-holsteinische Regierungschefin Heide Simonis hatte ihrem Magdeburger Kollegen kürzlich angeboten, Sachsen- Anhalt unter dem Dach des NDR eine neue öffentlich-rechtliche Heimat zu geben. Ähnliche Signale waren auch vom ORB aus Brandenburg gekommen. Die Angebote wurden von der rot-grünen Minderheitsregierung in Magdeburg gern gehört und als Druckmittel im Tauziehen mit der MDR-Intendanz benutzt. „Wir müssen ja schließlich nicht im MDR bleiben“, hatte der stellvertretende Regierungssprecher Franz Stänner noch vor kurzem gedroht. Ralf Reck, der 1991 vom NDR nach Magdeburg kam, hatte den Sozialdemokraten und den Bündnisgrünen von Anfang an schwer im Magen gelegen. Meist erwies er sich als bloßer Stichwortgeber der CDU-Regierung. Und auch später gab es immer wieder Vorwürfe, der Funkhauschef lege mehr Wert auf die richtige parteipolitische Einfärbung als auf journalistische Qualität. Nicht nur die einseitige parteipolitische Ausrichtung des regionalen Fernsehrogramms brachte Reck in die Kritik. Viel stärker noch wurden ihm eine Vielzahl journalistischer Fehlleistungen vorgeworfen. Die Zuschauer reagierten auf die Qualität ihres regionalen Fernsehprogramms auf ihre eigene Weise. Nicht einmal mehr 100.000 Zuschauer schalteten zuletzt noch die Regionalsendung „Sachsen-Anhalt heute“ ein. Da geriet Reck auch senderintern immer mehr in die Diskussion. Somit scheint er mit seinem vorzeitigen Abgang in den Osten die Kurve auf einen Versorgungsposten gerade noch gekriegt zu haben. Aus den Diskussionen um seine Nachfolge dringt indes Überraschendes an die Ohren der Beobachter: Heißeste Favoritin ist nämlich Elke Lüdecke, die im Gegensatz zu ihrem Vorgesetzten sehr erfolgreiche Hörfunkchefin des MDR-Landesfunkhauses Magdeburg. Schon vor mehr als einem halben Jahr hatte der MDR-Intendant das ostdeutsche Eigengewächs als mögliche neue Funkhauschefin in Magdeburg ins Gespräch gebracht. Seitdem darf Lüdecke, die nominell auch stellvertretende Funkhausdirektorin ist, auf Weisung von Reck an keiner Gremiensitzung des MDR mehr teilnehmen, die er selbst wahrnehmen kann. Nicht nur für den MDR wäre die Berufung Lüdeckes eine kleine Sensation. Sie ist nämlich parteilos. So wird die Kandidatin als die Frau gehandelt, die sich auch den Einflußambitionen der neuen Machthaber an der Elbe verwehren könnte. „Wichtig sind für uns ausschließlich journalistische Qualitätskriterien“, behauptet vorsorglich die Staatskanzlei. Der Anfang der Entfilzung des MDR? Oder bloß ein geschickter Schachzug des Intendanten, rot-grüne Parteibücher aus seiner schwarzen Machtzentrale herauszuhalten? Eberhard Löblich
Eberhard Löblich
■ Bisher galt der MDR als Versorgungswerk für unionstreue Journalisten. Nun nimmt der erste aus der Chefetage seinen Hut.
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,290
Importstopp für Syngentas Gen-Mais - taz.de
Importstopp für Syngentas Gen-Mais Während Sachsen-Anhalt für ein lasches Gengesetz streitet, geht die EU gegen illegale Gentech-Importe vor Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt will ihre Drohung wahrmachen und noch diese Woche eine Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gengesetz der rot-grünen Bundesregierung einreichen. Das Magdeburger Kabinett habe dies einstimmig beschlossen, sagte der Magdeburger Wirtschaftsminister Horst Rehberger (FDP). Für Rehberger ist klar: „Das Gesetz ist verfassungswidrig.“ Vor allem die umfassende Haftung für Gentech-Anbauer und das öffentlich zugängliche Register mit den genauen Daten der Gentech-Felder soll vom Karlsruher Gericht wieder gekippt werden. Die Regelungen seien in Wahrheit ein Gentechnikverhinderungsgesetz“, sagte Rehberger. Es diskriminiere die Gentechnik und verletze die vom Grundgesetz garantierte Berufsfreiheit und das Eigentumsrecht. Auch würden Wissenschaftler, die ihre Gentech-Pflanzen auf dem Acker testen wollen, durch das Haftungsrecht in einer „nicht zu tolerierenden Weise“ in ihrer Arbeit behindert. „Ich räume der Klage wenig Chancen ein“, sagte Alexander Müller, Staatsekretär im Verbraucherministerium. Fast zeitgleich, als Rehberger Details seiner Verfassungsklage vorstellte, war das Verbraucherministerium darum bemüht zu verhindern, dass weiterhin aus den USA illegaler Genmais importiert wird. Es sei nicht auszuschließen, dass der in Europa verbotene Genmais Bt10 von Syngenta auch nach Deutschland gekommen sei, sagte Verbraucherministerin Renate Künast (Grüne). Hatte die EU-Kommission vor wenigen Tagen sich noch dagegen ausgesprochen, einen Importstopp für Gentech-Mais aus den USA zu verhängen, änderte sie am Dienstag auf Druck der Mitgliedstaaten ihre Meinung. Nachdem Syngenta kein Testverfahren vorlegen konnte, mit dem illegale Bt10-Maisprodukte eindeutig unterscheidbar sind von Waren, die Mais der Sorte Bt11 enthalten, sollen jetzt „Notfallmaßnahmen“ greifen. Noch in diese Woche wird beschlossen, dass nur noch zertifizierte Maisprodukte in die EU eingeführt werden dürfen, die mit Sicherheit keine Bt10-Bestandteile enthalten. Da derzeit kein Test zur Verfügung steht, der Bt10 von Bt11 unterscheiden kann, bedeutet das de facto ein Importstopp für alle Bt11-Produkte. „Die Maßnahme kommt zwar spät, ist aber auf jeden Fall zu begrüßen“, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Hiltrud Breyer. Die Einfuhr von nicht genehmigten Gentech-Produkten sei nicht akzeptabel. Das EU-Recht sei da auch eindeutig. Selbst in Spuren dürften nicht zugelassene Gentech-Produkte auf den Markt gebracht werden. Angesichts des Maisskandals sei es „schon perfide“, dass Sachsen-Anhalt die Haftungsregelungen wieder kippen möchte. Die Agrarexpertin der Grünen, Ulrike Höfken, weist darauf hin, dass Sachsen-Anhalt in der Klage auch dafür plädiere, gentechnische Verunreinigungen mit nicht als Lebensmittel zugelassenen Organismen nicht unter die Haftungsregelungen fallen zu lassen. Der derzeit illegale Syngenta-Mais dürfte dann auch weiterhin als hinzunehmende Verschmutzung in den Produkten vorhanden sein. W. LÖHR
W. LÖHR
Während Sachsen-Anhalt für ein lasches Gengesetz streitet, geht die EU gegen illegale Gentech-Importe vor
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,291
Die neue Welt oder Amerika - taz.de
Die neue Welt oder Amerika Zum Nachlesen für Weltenbummler und gegen das Vergessen: Der Sprachforscher Storfer erforschte in den Dreißigerjahren, wie die fünf Kontinente zu ihrem Namen kamen. Seine Beiträge strotzen vor unbekanntem enzyklopädischem Wissen Vespucci selbst hatte sich nämlich keineswegs als Taufpate aufgedrängt von ADOLF JOSEF STORFER Es ist allgemein bekannt, dass Kolumbus einen Seeweg nach dem asiatischen Indien suchte und dass man, als die ersten Inseln in Mittelamerika entdeckt wurden, von „Westindien“ sprach. Kolumbus hielt so eigensinnig an dem Gedanken fest, dass er auf der zweiten Fahrt die Mannschaften seiner Schiffe veranlasste, eidlich und schriftlich zu erklären, das entdeckte Land gehöre zu Asien, damit er dieses feierlich beglaubigte Dokument den Zweiflern entgegenhalten könne. Als Strafe sollte jedem Mitglied der Besatzung, das jemals das Beschworene in Abrede stellte, die lügnerische Zunge aufgeschlitzt werden. Der neue Erdteil musste sozusagen zweimal entdeckt werden. Zunächst einmal entdeckte ihn Kolumbus, als er am 12. Oktober 1492 seinen Fuß auf die Insel Guanahani setzte. Aber es musste darüber hinaus auch noch der Umstand entdeckt werden, dass ein neuer Erdteil entdeckt worden war. Dieses Verdienst wird schließlich dem Florentiner Amerigo Vespucci zugeschrieben. lm Jahre 1499 nahm Vespucci an einer Expedition des Alonzo de Hojeda teil und gelangte mit ihm nach Guyana, Venezuela, Nordbrasilien. In einem ausführlichen Briefe, den Vespucci im Jahre 1503 an seinen Freund und früheren Chef Lorenzo di Medici schrieb, stehen gewichtige Worte über die neu entdeckten Gebiete: „… es ist angemessen, sie eine neue Welt zu nennen.“ Das Verdienst des Vespucci besteht darin, durch die erstmalige Verknüpfung des Begriffes „neu“ mit dem Begriffe „Welt“ in seiner durch Übersetzen und Nachdruck stark verbreiteten Schrift die Grundlage für den stehenden Ausdruck „Neue Welt“ geschaffen zu haben. Ähnliche Bezeichnungen tauchten allerdings schon sofort nach Bekanntwerden der ersten Entdeckungen des Kolumbus auf. Zum Beispiel schon 1494 in Sebastian Brants „Narrenschiff“ oder in Bezeichnungen wie Newes Land, Nüwe Insulen, Neu gefundene Inseln. Die Wirkung des Vespucci ist im Grunde genommen die eines smarten Journalisten, der sich nicht scheut, den Mund möglichst voll zu nehmen und von einer neuen „Welt“ zu sprechen, und bei der Prägung eines solchen Schlagwortes auch das Glück einer großen Publizität hat. 1507 erschien unter dem Namen von Waldseemüller-Hylacomylus eine Einführung in die Kosmographie des Ptolemäus. Zu dieser Schrift wurde auch zusaätzlich eine Weltkarte herausgegeben, und diese war die erste gedruckte Karte, auf der die überseeischen Entdeckungen der Spanier und Portugiesen eingezeichnet waren. Auf dieser Karte erschien auch zum ersten Male die Bezeichnung „Terra America“ für die neu entdeckten Gebiete. Zweifellos war eine Ehrung des Amerigo Vespucci damit auch beabsichtigt. Der große Anteil der Weltkarte von Waldseemüller an der Verbreitung des Namens Amerika blieb lange unbeachtet, und so konnte die (von Hertslet zu den „Treppenwitzen der Weltgeschichte“ gezählte) Auffassung Platz greifen, Vespucci hätte dem von anderen entdeckten Kontinent absichtlich durch schlaue Ränke den Namen „Amerika“ verschafft. „Seltsam“, schreibt Ralph W. Emerson 1856, „dass das große Amerika den Namen eines Diebes tragen muss. Amerigo Vespucci, der Heringhändler von Sevilla, dessen höchster seemännischer Rang der eines Bootsmannmaates war, hat es in dieser lügnerischen Welt fertig gebracht, den Kolumbus zu verdrängen und die halbe Welt mit seinem unehrlichen Namen zu taufen.“ Das ist gewiss eine Übertreibung. Vespucci selbst hatte sich nämlich keineswegs als Taufpate aufgedrängt und scheint sogar bis zu seinem 1512 erfolgten Tode in keiner Weise die damals schon in Verbreitung befindliche Benennung des neuen Erdteils von sich aus in irgendeiner Weise gefördert zu haben. Es gibt noch andere Etymologien des Wortes „Amerika“, die in ihm eingeborenen amerikanischen Sprachstoff, also indianische Sprachwurzeln vermuten. Drei solcher Deutungen nennen wir: a) Karl Lokotsch gibt eine aus dem Toltekischen an; die Bedeutung von Amerika wäre demnach: großes Gebirge (zu merik = Berg, ike = groß). b) 1888 gab der Amerikaner Thomas de St. Bris folgende Deutung: Die Augsburger Handelsherren Welser, die von Karl V. Venezuela bekamen, fanden dort einen Ortsnamen „Ameraca“ und nannten diesen im Bericht an den Kaiser, der dann seinen Kartografen Mercator beauftragte, den Namen „Amerika“ über den ganzen Erdteil zu schreiben. c) 1875 stellte der französische Amerikanist Jules Marcou folgende Behauptungen auf. Als „Americ“ oder „Amerrique“ wurde eine Bergkette östlich vom Nicaraguasee bezeichnet; ein Gold führendes Gebirge in Nicaragua heißt heute noch Sierra de Amerique oder de Amerriques; ebenso nennen sich die dort lebenden Indianer Ameriques oder Ammerisques. Das Land wurde von Kolumbus auf seiner letzten Fahrt entdeckt. Er ließ sich von der Moskitoküste zu den Ammerisques führen, welche besonders dadurch auffielen, dass sie ganz nackt gingen, um den Hals aber goldene Spiegel trugen. Da dieses Land großen Eindruck machte auf die Begleiter des Kolumbus, verbreitete sich sein Name „Amerique“, der in der Sprache der dortigen Indianer die Bedeutung „Goldland“ hatte, bald unter den Seeleuten über alle Häfen Westindiens und auch Europas. Teil 2 unserer Serie „Der Name der fünf Kontinente“ ist ein gekürzter Nachdruck aus Adolf Josef Storfers Buch „Im Dickicht der Sprache“. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000 (Erstausgabe 1937)
ADOLF JOSEF STORFER
Zum Nachlesen für Weltenbummler und gegen das Vergessen: Der Sprachforscher Storfer erforschte in den Dreißigerjahren, wie die fünf Kontinente zu ihrem Namen kamen. Seine Beiträge strotzen vor unbekanntem enzyklopädischem Wissen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,292
Die mit dem Raum tanzt - taz.de
Die mit dem Raum tanzt BÜHNE Für die Unverwechselbarkeit vieler Inszenierungen hat im letzten Jahrzehnt die Bühnenbildnerin Katrin Brack gesorgt. Jetzt ist eine Werkschau erschienen In die Leere hineinzuschreiben und am Ende alles wieder zergehen zu lassen, das weist schon in die Transzendenz VON KATRIN BETTINA MÜLLER Eigentlich könnte man über Katrin Brack wie über eine Malerin reden: Statt Farbe auf Leinwand zu werfen, schleudert sie Luftschlangen in den Raum. Oder man könnte behaupten, dass ihre von Nebel, Schaumkaskaden und Schnee gebildeten Atmosphären den künstlichen Naturen des dänischen Künstlers Olafur Eliasson sehr nahe stehen. Aber Katrin Brack ist weder Malerin noch Konzeptkünstlerin, sondern eine der gefragtesten Bühnenbildnerinnern der Zeit. Es gibt wenige Bühnenräume, die in ihren Mitteln so reduziert und gleichzeitig doch so verschwenderisch reich ausgestattet, so abstrakt und doch von einer ganz konkreten Dinghaftigkeit geprägt wirken wie die von Katrin Brack. Für einen „Tartuffe“ in der Regie von Dimiter Gotscheff ließ sie 2006 fünf Minuten lang Konfettikanonen Kaskaden von Luftschlangen in den sonst leeren Bühnenraum ballern: Und alles, was danach geschah, zeichnete in dem knöcheltiefen Papier neue, verschlungene Muster auf den Bühnenboden. Für ein Molière-Projekt von Luk Perceval fielen 2007 kleine Schneeflocken fast vier Stunden ununterbrochen aus dem Bühnenhimmel, bis man als Zuschauer beinahe besoffen von dieser ständigen Abwärtsbewegung glauben konnte, selbst gegen den Strom allmählich nach oben zu driften. In einem „Prinz Friedrich von Homburg“, den Arnim Petras inszenierte, tränkte Bracks Dauerregen jede Hose und jeden Rock, bis die Erdenschwere jedes Körpers bis in die kleinste Faser zu spüren war. Katrin Brack, 1958 in Hamburg geboren, lebt heute in Wien. Dreimal wurde sie im letzten Jahrzehnt in der Umfrage der Zeitschrift Theater heute zur Bühnenbildnerin des Jahres gewählt. Am Erfolg der Regisseure Dimiter Gottscheff, Angela Richter und Luk Perceval haben ihre in der Erinnerung haftenden Räume großen Anteil. Keine Simulationen Blättert man in dem neuen Bildband, den der Verlag Theater der Zeit über sie herausgebracht hat, dann fällt ihre Liebe zum Talmi-Glanz auf, zum Ausstellen der einfachsten Mittel, die für Glamour und die Welt der Illusionen stehen: Girlanden aus Gold („Büchner/Leipzig/Revolte“) und Girlanden aus Silber („Anatol“), Luftballons („Ubukönig“) und Glühbirnenketten („Der Fall Esra“) erzählen stets auch vom Theater als der Wunschmaschine, einem Ort von märchenhaftem Glanz, wo alles, was auf die Bühne kommt, auch Illusion bleiben darf. Dabei gibt es andererseits wohl kaum Bühnenbilder, die so wenig behaupten, etwas anderes darzustellen als das Material, aus dem sie sind, wie die von Katrin Brack. Nie wird etwas simuliert oder abgebildet. Eine einzelne Glühbirne, eine Schneeflocke: Bracks Bühnenbilder sind zerlegbar in winzig kleine Teilchen, die erst in großen Massen zur elementaren Energie werden. Mit diesen Teilchen in die Leere hineinzuzeichnen und alles Hineingeschriebene am Ende der Aufführung auch wieder zergehen zu lassen, das weist schon in die Transzendenz. Doch vor diesem hohen Gedankenflug steht erst einmal der Körper und wie Bracks Installationen den Schauspieler herausfordern. Sie kommen natürlich im Brackbuch zu Wort: „Den Kampf mit ihren Materialien, ihren Naturkunstgewalten nimmt man lustvoll auf“, sagt die Schauspielerin Almut Zilcher, „die Materie nimmt dich mit, treibt dich an, verwandelt dich, macht dich unsichtbar, sichtbar, nackt, lässt dich verschwinden, vergehen (…)“. Und Wolfram Koch, der in ihren Bühnen Stücke von Koltès, Tschechow und Jarry gespielt hat, meint: „Ein Raum von Katrin Brack ist ein zusätzlicher Schauspielkollege, den so keiner auf dem Besetzungszettel hatte – unberechenbar, störrisch, hält sich nicht an Verabredungen, macht einen wütend. Man muss ihn so nehmen, wie er ist, nicht zwingen, dann spielt er mit.“ Existent nur im Verlauf Tatsächlich müssen die Schauspieler in den Strukturen, die Brack vorzeichnet, den Raum selbst erst mit ihrem Körper und ihrer Stimme konstituieren, darin Tänzer viel ähnlicher als in anderen Bühnenbildern. Es gibt in dem Buch keine Skizzen oder Werkstattbesuche, nur Fotografien der Inszenierungen, meist doppelseitig. Das heißt, man kann ihre Bühnenbilder nicht unabhängig von der Aufführung sehen, sie manifestieren sich nur im Verlauf, existieren vorher und nachher nur als Idee. Denn ihre Räume tanzen. Sie entstehen erst in der Bewegung und entfalten sich in der Zeit. Ein Nachteil des zweisprachigen (deutsch und englisch) Buches ist allerdings, dass die Namen der Theaterfotografen, die diese umfassende Werkschau ermöglichten, nicht zu finden sind. ■ „Katrin Brack: Bühnenbild/Stages“. Von Katrin Brack. Hrsg. von Anja Nioduschewskis, Theater der Zeit, 2010, 256 Seiten, 28 €
KATRIN BETTINA MÜLLER
BÜHNE Für die Unverwechselbarkeit vieler Inszenierungen hat im letzten Jahrzehnt die Bühnenbildnerin Katrin Brack gesorgt. Jetzt ist eine Werkschau erschienen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,293
Jahrestag der Hinrichtung: Die Weiße Rose und ihr Henker - taz.de
Jahrestag der Hinrichtung: Die Weiße Rose und ihr Henker Vor 75 Jahren tötete der Scharfrichter Johann Reichhart die Geschwister Scholl. Wer war der Mann, der für die Nazis tausende Menschen hinrichtete? Der ehemalige deutsche Henker Johann Reichhart auf der Anklagebank in München (Archivbild 1947) Foto: dpa BERLIN taz | „Es lebe die Freiheit!“ Das waren die letzten Worte von Hans Scholl, als er am 22. Februar 1943 – heute vor genau 75 Jahren – zur Guillotine geführt wurde. „Die Verurteilte wirkte ruhig und gefasst“, heißt es im Protokoll über die Hinrichtung seiner Schwester Sophie Scholl. Der Mann, der die Geschwister auf staatlichen Geheiß umbrachte, hieß Johann Reichhart und war ein geübter und altgedienter Henker. Die Münchner Studentengruppe Weiße Rose um die Geschwister hatte das Verbrechen begangen, auf Flugblättern gegen den Krieg und die Nazi-Herrschaft zu agitieren. „Jedes Wort, dass aus Hitlers Mund kommt, ist Lüge: Wenn er Frieden sagt, meint er den Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan“, heißt es in ihrem ersten Flugblatt, das Mitte März 1942 verbreitet wurde. Ihr fünftes Flugblatt erinnerte die Deutschen an dem Massenmord an den Juden. Es rief zum Widerstand gegen das Regime auf, wollte man nicht „dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist“. Das sechste Flugblatt wurde der akademisch geprägten Gruppe zum Verhängnis. Am 18. Februar 1943 legten Hans und Sophie Scholl die Blätter stoßweise in den Gängen der Münchner Universität aus. Vom 2. Stock aus nahm Sophie einen Stapel und warf ihn über die Brüstung in den Innenhof. Doch der Hausschlosser der Universität hatte sie dabei beobachtet und hielt sie fest. Danach übernahm die Gestapo den Fall von Landesverrat. Todesurteil nach vier Tagen Nur vier Tage später begann in München der Prozess des Volksgerichtshofs gegen die Geschwister und ihren Freund Christoph Probst. Vollstreckt wurde das Todesurteil wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung noch am gleichen Tag gegen 17 Uhr. Für Johann Reichhart war diese Hinrichtung Routine. Der Henker von München hat im Auftrag des Regimes mehrere Tausend Menschen umgebracht – die Konsequenzen für ihn nach dem Krieg hielten sich in Grenzen. Reichhart durfte zeitweise gar weiter Menschen hinrichten. Für ihn war das Nazi-Regime gleichbedeutend mit goldenen Zeiten. Schließlich kassierte jeder Scharfrichter im NS-Regime nicht nur ein jährliches Salär von 3.000 Mark. Zudem erhielten die freiberuflich tätigen Nazi-Henker und ihre beiden Gehilfen auch noch pro Mann eine „Sondervergütung“ für jeden Hingerichteten in Höhe von 60 Mark. Da kamen leicht mehrere Zehntausend Mark pro Jahr zusammen. Henker ohne Skrupel Reichhart kannte keine Skrupel und hatte sich an seine Tötungsarbeit gewöhnt. Schon seit 1924 stand er Bayern als Scharfrichter zur Verfügung. Die Zahl der Hinrichtungen hielt sich in der Weimarer Republik freilich in Grenzen, so dass sich der Mann zusätzliche Einnahmequellen suchen musste. Er arbeitete zeitweise als Kneipier, vertrieb religiöse Traktate und war als Gemüsehändler tätig. Nach dem Krieg wurde Reichhart noch im Mai 1945 von den Amerikanern festgenommen und an seiner alten Wirkungsstätte – dem Gefängnis Stadelheim – inhaftiert. Doch schon nach einer Woche war er wieder in Freiheit, denn die US-Besatzer benötigten dringend seine Dienste. In Landsberg am Lech, wo viele Nazi-Verbrecher inhaftiert waren, ging er wieder seiner alten Tätigkeit nach und brachte dort noch einmal zwischen 42 und 156 Menschen um – nun aus dem Kreis seiner ehemaligen Auftraggeber. Der Freistaat Bayern zahlte unterdessen weiter seine Jahresvergütung. Erst im Mai 1947 wurde Reichhart schließlich inhaftiert. Der Ex-Scharfrichter brachte anschließend Zeugen bei, mit denen er beweisen wollte, dass er doch eigentlich im Widerstand gewesen sei. Das Urteil der Münchner Spruchkammer am 17. Dezember 1948 fiel milde aus. Reichhart wurde als „Belasteter“ eingestuft und zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt. Schließlich hatte er nur vollstreckt, was die deutsche Justiz angeordnet hatte. Johann Reichhart ist 1972 im Alter von 78 Jahren verarmt verstorben. Historische Gerechtigkeit Die Flugblätter der ermordeten Geschwister Scholl aber gingen früh um die Welt. Die westlichen Alliierten bekamen noch im Krieg Wind von der Sache. Nun flogen die Worte der Geschwister Scholl zwecks „Wehrkraftzersetzung“ aus den Bäuchen der Maschinen, die über dem Reichsgebiet Propagandapapiere abwarfen. Thomas Mann würdigte die Gruppe aus dem Exil in einer BBC-Radioansprache im Sommer 1943: In den Flugblättern hätten Worte gestanden, „die vieles gut machen, was in gewissen Jahren an deutschen Universitäten gegen den Geist deutscher Freiheit“ gesagt worden sei. Heute hat wohl fast jeder Deutsche schon einmal etwas von der „Weißen Rose“ gehört. Johann Reichhart dagegen ist vollständig vergessen. Die Guillotine, mit der er Tausende Menschen getötet hatte, fand sich vor einigen Jahren vergessen in einem Museumsdepot in München. Kurz wurde ernsthaft darüber debattiert, sie auszustellen. Doch dann nahm man von dieser makaberen Idee wieder Abstand. Es gibt manchmal doch noch ein historische Gerechtigkeit.
Klaus Hillenbrand
Vor 75 Jahren tötete der Scharfrichter Johann Reichhart die Geschwister Scholl. Wer war der Mann, der für die Nazis tausende Menschen hinrichtete?
[ "Widerstand", "Drittes Reich", "Todesstrafe", "Jahrestag", "Nazis", "Deutschland", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,294
Die Wahrheit: Zahnlose Tänzer auf dem Karussell - taz.de
Die Wahrheit: Zahnlose Tänzer auf dem Karussell Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (151): Seepferdchen sind die wohl allerseltsamsten Meeresmitbewohner. Dieses schwangere, männliche Seepferdchen will in Rio de Janeiro eine Familie gründen Foto: AP „Als Gott die Seepferdchen erschuf, war er wahrscheinlich besoffen“, vermutet der Meeresbiologe Jorge Gomezjurado. Bei ihnen, die zu den Fischen zählen, werden die Männchen schwanger. Es sind „launische Faulpelze, schwerhörige Vielfraße, Meister der Tarnung, romantisch Liebende und anmutige Tänzer“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Till Hein in seinem Seepferdchenbuch: „Crazy Horse“ (2021). Wahrscheinlich gehört der Autor zu den vielen Aquariumsbesuchern, bei denen die senkrecht schwimmenden Seepferdchen besonders beliebt sind. Schon als 1853 in London das erste Großaquarium eröffnete, gehörten sie zu den Attraktionen, der Daily Telegraph bezeichnete sie als die „Helden des Aquariums“. Seepferdchen werden stark verfolgt, nicht nur, weil sie trotz ihrer guten Tarnung zwischen Algen und Seegras eine leichte, weil langsame Beute für Raubfische sind, sondern vor allem wegen ihrer angeblichen Heilkraft. Die Tiere werden getrocknet und pulverisiert in der chinesischen Medizin für unzählige Rezepturen verwendet. Rund 20 Millionen Exemplare kommen jährlich auf die Märkte. Die Mehrzahl stammt aus Indien, Vietnam, Indonesien und den Philippinen. Allein China, wo man sie auch gern gegrillt isst, importiert pro Jahr rund 45 Tonnen Seepferdchen, von denen einige Arten inzwischen vom Aussterben bedroht sind. Mit der Krone auf dem Kopf Es gibt Seepferdchen, die kaum fingernagelgroß werden, und andere, die bis zu 35 Zentimeter lang werden. Viele haben eine Krone auf dem Kopf und können ihre Farben wechseln. Till Hein interviewte eine Seepferdchenzüchterin in Visselhövede: „Seit mehr als zehn Jahren verkauft Elena Theys nun Qualitätsseepferdchen.“ Die meisten Kunden wollten Pärchen. Dummerweise werden jedoch bei der Züchterin von ihren Riesenseepferdchen mehr Männchen als Weibchen geboren – bei einem Wurf waren es 30 Weibchen und 270 Männchen. Einige Seepferdchen bleiben lebenslang zusammen, was ihnen die mühsame Suche nach einem Paarungspartner erspart, so Hein: „Zwergseepferdchen erreichen gerade mal eine Höchstgeschwindigkeit von 0,054 Stundenkilometer.“ Bei Elena Theys’ brasilianischen Riesenseepferdchen gebaren die Männchen bis zu 1.472 Jungtiere, einige Hundert konnte sie großziehen. Bei den Pazifik-Seepferdchen kommen während nur einer Geburt „bis zu 2.000 Seefohlen zur Welt, bei den Zwergseepferdchen hingegen ‚nur‘ etwa zehn.“ Theys sagt, sie habe bislang „keinen Tag ohne Seepferdchen verbracht“. Seepferdchen sind Raubfische, und weil sie, da ohne Zähne und Magen, ihre unzerkaute Beute schlecht verdauen, lauern sie ständig auf Kleinstlebewesen, die sie mit ihrer Röhrenschnauze einsaugen – schneller, so weiß Till Hein, „als das menschliche Auge gucken kann“. Meister der Umklammerung Die Seepferdchenzüchterin ist auch eine Seepferdchenschützerin und kritisiert das Artenschutzabkommen, weil es erlaubt, „dass jeder Reisende weltweit vier tote Seepferdchen im Gepäck mitführen darf“. 2008 ging einem Fischer ein Nordsee-Seepferdchen ins Netz, das eine Pflanze aus grünem Plastik umklammerte. Es kam mitsamt seiner Pflanze zu Elena Thys. Was das Seepferdchen einmal umklammert hat, lässt es nicht leicht wieder los. „Festhalten ist das, was diese Tiere am besten können“, meint der Meeresbiologe Ralf Schneider vom Geomar Helmholtz-Zentrum in Kiel, den Till Hein interviewte. Zu Wort kommt daneben auch der Biologieprofessor Axel Meyer von der Universität Konstanz, der mithalf, das Erbgut des Tigerschwanz-Seepferdchens zu entschlüsseln. Sie zählten 23.458 Gene und wunderten sich: So viele?! Von der Seepferdchenexpertin Sara Lourie aus Montreal erfuhr Hein, dass nicht alle 30 bis 80 Seepferdchenarten die an ihnen vorbeitreibenden Beutetierchen einsaugen: „Dreipunkt-Seepferdchen zum Beispiel spritzen einen Wasserstrahl ins Bodensediment, um darin verborgene Kleinstlebewesen aufzuwirbeln und zu verschlingen.“ Die Tiefseetaucherin Helen Scales aus Cambridge interessierte sich vor allem für die „Tarnkünste“ der Seepferdchen: Die Bargibangt-Seepferdchen imitieren nicht nur die Farbe, sondern auch die Form „ihrer“ Fächerkoralle, an der sie klammern. Zu den seepferdchenähnlichen Nadelpferdchen zählen die Fetzenfische, die sich fast perfekt in schwimmende Algen verwandelt haben. Balzspiele wie Trommelwirbel Zu meiner Freude erwähnt Till Hein auch den DDR-Direktor des Meeresaquariums in Stralsund, Karl-Heinz Tschiesche, der sich auf die akustische Kommunikation von Meerestieren konzentriert hat, wie er in seinem Buch „Seepferdchen, Kugelfisch und Krake“ (2005) berichtet. Über Erstere fand er heraus: „Während ihrer Balzspiele erzeugen sie Laute, die an Trommelwirbel erinnern.“ Es gibt aber auch welche, die wie Grillen zirpen. Mit gemeinsamen „Balzklicks“ synchronisieren Männchen und Weibchen ihr Balzverhalten. Dazu gehört auch das tägliche Tanzritual, das einem Vorspiel gleicht. Der Wiener Biologieprofessor Friedrich Ladich meint: „Nur wenn Männchen und Weibchen da sehr gut zusammenarbeiten, klappt es mit der Übergabe der Eier durch das Weibchen in die Bauchtasche des Männchens und der Befruchtung.“ Was sich kompliziert anhört, scheint die Seepferdchenpaare jedoch nicht zu beunruhigen: „Sie plaudern, flirten, tanzen – oder haben Sex“, faßt Till Hein seine Recherche zusammen. Vielen Forschern ist hier vor allem die Monogamie der Seepferdchen ein Rätsel. Sie gilt jedoch nicht für alle Arten. Da sind beispielsweise die 2001 von einem australischen Taucher entdeckten Denise-Zwergseepferdchen, bei denen das Weibchen „gleichsam ständig auf zwei Hochzeiten tanzt“, indem es sich mit zwei Männchen liiert. Oder die vor Neuseeland dümpelnden Dickbauchseepferdchen, die jeder „festen Partnerschaft“ abhold sind: Ist die Auswahl groß genug, verpaaren sich täglich „bis zu 25 Partnerinnen und Partner“. Und dann noch die Kurzkopf-Seepferdchen, bei denen die Männchen „regelrechte Boxturniere“ veranstalten, „um Weibchen zu beeindrucken“. Dominanzfreies Liebesspiel Der Berliner Biologe Cord Riechelmann wird von Till Hein wegen seiner romantischen Sicht auf das Liebesleben der Seepferdchen zitiert. In einer Rezension des berühmten Seepferdchenfilms aus dem Jahr 1934 von Jean Painlevé schrieb Riechelmann, „dass das Liebesspiel der Seepferdchen ohne jede Dominanz des einen Geschlechts über das andere auskommt“. So sei es gleichgültig, ob Männchen oder Weibchen das tagelang dauernde „Karussellschwimmen“ beginne, „in dessen Verlauf die beiden sich, immer wieder umeinander kreisend, so weit an die Wasseroberfläche bewegen, bis die Krönchen aus dem Wasser ragen“. Obwohl es an Seepferdchenforschung so gar nicht mangelt, sind noch viele Fragen offen – etwa wie sich die Art der Paradoxen Seepferdchen im Wasser fortbewegt. „Denn ihnen“, stellt Till Hein fest, „fehlt die Rückenflosse – das Organ, das bei allen anderen Seepferdchen für den Antrieb beim Schwimmen sorgt.“ Die Wahrheit auf taz.de
Helmut Höge
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (151): Seepferdchen sind die wohl allerseltsamsten Meeresmitbewohner.
[ "Die Wahrheit", "Meeresbiologie", "Tiere", "Geschlechter", "Wahrheit", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,295
Tupperseufzer, unkaputtbar - taz.de
Tupperseufzer, unkaputtbar Karens KochKunst – die Serie der taz hamburg für GenießerInnen. Teil 48:Statt Verpackungsmüll – die berühmt-berüchtigten Dosen  ■ Von Karen Schulz Mit dem grünen Punkt hat die Industrie dem hartnäckigen Ruf nach Müllvermeidung den Wind aus den Segeln genommen – auch wenn Skandale und Gerüchte immer wieder darauf hinweisen, dass dieses Entsorgungssystem weit von Perfektion entfernt ist. Müllvermeidung im eigenen Haushalt beschränkt sich daher mittlerweile oft auf den Gebrauch von Leinenbeuteln, die jedoch die Plastiktüte auch nicht verdrängen konnten. Die Umverpackungen, die einen Großteil des Hausmülls ausmachen, werden weiter nach Hause getragen, manchmal von dem Seufzer begleitet, dass es doch sinnlos sei, diese im Supermarkt zurückzulassen und so ein Zeichen zu setzen – auch dort wandern sie in die gelbe Tonne. Dabei könnte man zumindest bei nicht abgepackten Waren an der Theke zu dauerhaften Alternativen greifen und die Umwelt schonen: zum Beispiel mit der altbewährten Tupperdose. Das Sortiment hält Dosen in jeder Größe und Form parat wie zum Beispiel „Kolumbus“, eine robuste Eierschachtel, in der Eier gänzlich unversehrt nach Hause transportiert werden können, ohne dass sich die Pappen dort türmen. Die bunten Schüsseln aus dem 1949 von Earl S. Tupper entwickelten Kunststoff bieten viele Vorteile, die auf einer der unnachahmlichen Tupperpartys von den BeraterInnen vorgeführt werden. So wurde ebenfalls 1949 der Sicherheitsverschluss patentiert, der runde Schüsseln luftdicht verschließt und den typischen „Tupperseufzer“ beim Entweichen der Luft hinterlässt. Was die Produkte zudem einzigartig macht, ist die Umtauschgarantie: Auch wenn sie eigentlich unkaputtbar sind, werden trotz sachgemäßer Behandlung ausgeleierte oder eingerissene Teile von Tupperware 30 Jahre lang ersetzt. Wer den Tupper-Versprechungen misstraut, kann sich meist mit einem Blick in die Schränke der Eltern überzeugen – die dort versammelten Stücke in den blassen Pas-telltönen der 60er oder den quietschigen 70er-Jahre-Farben tun schon seit Jahrzehnten fleißig ihren Dienst, meist in bester Kondition. Auch das merkwürdig anmutende Vertriebssystem, die Tupperparty, existiert schon seit Anbeginn der Tuppertöpfe: Die meisten Teile benötigen besondere Erläuterungen, damit die Gäste kaufbereit sind, schließlich sind die Stücke in der Regel teurer als vergleichbare No-Name-Produkte. Doch sind so manche Tupperteile wirklich durchdacht und intelligent, wie beispielsweise Aufbewahrungsdosen, die mit einem Kühlakku den Transport von leicht verderblicher Ware erleichtern. Ob man hingegen die optisch passende Rührschüssel kauft oder sich bei solch schlichten Teilen an günstigere Fremdprodukte hält, muss der Geldbeutel entscheiden. Schließlich locken weitere Highlights wie der Mix-Fix für Salatsaucen, die praktische Brot-, Gemüse- oder Joghurtdose für Schule oder Arbeitsplatz und die Eisbecher, an die sich die nächste Tuppergeneration noch aus der eigenen Kindheit erinnert: Mit Orangensaft oder Fruchtjoghurt befüllt und tiefgekühlt, sorgen die Tupper-eislutscher für eine ganz eigene Nostalgie. Wer eine Tupperparty veranstalten möchte, wende sich an die Tupperware Hamburg, G. Loewer de Freyhofer GmbH, Gisela Roll, Tel. 547 79 40 oder surft unter www.tupperware.de .
Karen Schulz
Karens KochKunst – die Serie der taz hamburg für GenießerInnen. Teil 48:Statt Verpackungsmüll – die berühmt-berüchtigten Dosen  ■ Von Karen Schulz
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,296
Ein Punktgewinn, der Zebras befriedigt - taz.de
Ein Punktgewinn, der Zebras befriedigt ■ Handball: Spitzenreiter THW Kiel trennt sich mit viel Glück vom TUS Schutterwald 18:18 „Hier werden auch noch andere Spitzenmannschaften verlieren. Heute abend müssen wir mit diesem Punkt zufrieden sein“, lautete das Resümee von Heinz Jacobsen, Funktionärsschwergewicht des THW Kiel. Nur unentschieden spielte am Donnerstag abend der ewige Meisterschaftsanwärter aus der Fördemetropole beim abstiegsgefährdeten TUS Schutterwald und zeigte dabei wiederum keine meisterliche Leistung. Vor 4000 Zuschauenden in der Offenbacher Ortner-Halle gelang es Thomas Knorr erst in der Schlußminute durch die souveräne Vollstreckung eines Siebenmeters den Punktgewinn zu sichern. Zuvor bissen sich Wolfgang Schwenke und Magnus Wislander unentwegt in der stabilen, wenn auch etwas überharten Deckung der Schutterwalder fest. Wohl glaubend, daß es ausreicht, als Tabellenführer der Handballbundesliga über bessere spielerische Möglichkeiten zu verfügen als das Kellerkind, ließen sich die Zebras von der Kampfkraft der „Roten Teufel aus der Ortenau“ den Schneid abkaufen. Die Gastgeber lagen während der gesamten Spielzeit fast immer in Führung und hatten gegen die enttäuschenden Kieler drei Minuten vor Spielende noch einen Drei-Tore-Vorsprung. Doch dann manifestierte sich, warum die kampfstarken Schutterwalder nicht in höheren Tabellengefilden zu finden sind. Unkonzentrierte Würfe, die eine sichere Beute für den Kieler Schlußmann Michael „Pumpe“ Krieter waren, mäßige Angriffsversuche und ein Schiedsrichtergespann, das im Zweifelsfall für die prominentere Mannschaft pfiff, sorgten für den glücklichen Punktgewinn des Teams aus der schleswig-holsteinischen Metropole. THWs sportlicher Leiter Heinz Jacobsen fand es in Offenburg wieder einmal wie schon in der Vergangenheit hektisch aber amüsant. Obwohl: Der THW-Kiel stolperte an diesem Abend über seine eigene Überheblichkeit. So wird es schon schwer, als hoch ambitioniertes Team der Spitzengruppe in der Handball-Bundesliga nach vier Vizemeisterschaften in der Vergangenheit nach dieser Saison die Meisterschale in den Händen zu halten. Harald Bleyer
Harald Bleyer
■ Handball: Spitzenreiter THW Kiel trennt sich mit viel Glück vom TUS Schutterwald 18:18
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,297
Buch über Wladimir Putin: Ein vierfacher Krieg - taz.de
Buch über Wladimir Putin: Ein vierfacher Krieg Wer ist Putin wirklich und was will er? Im „Schwarzbuch Putin“ suchen international renommierte Ex­per­t*in­nen Antworten auf drängende Fragen. Was will Putin? Eine Sowjetunion ohne Kommunismus? Foto: Dmitri Lovetsky/dpa „Ich weiß, dass sich Selenski wie Hitler in seinem Bunker verschanzt hat. Aber ich weiß, wo sein Bunker ist … Entweder ich mache die Ukraine dem Erdboden gleich oder ich schlage ihr den politischen Kopf ab.“ Dieser Satz von Russlands Präsidenten Wladimir Putin soll einem Bericht des Figaro zufolge bei einem Telefongespräch mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron kurz nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angiffskriegs gegen die Ukraine, gefallen sein. Seit nunmehr über einem Jahr wird die, schon längst zu Putins persönlicher Obsession gewordene, „Entnazifizierung“ des Nachbarn ins Werk gesetzt: Sie hat zehntausende Tote gefordert, Städte und Dörfer ausradiert, Millionen zu Flüchtlingen gemacht, aber Russland – auch wegen des ungebrochen Widerstandswillens der Ukrai­ne­r*in­nen – seinem Ziel kaum näher gebracht. Wie konnte es zu diesem wahnwitzigen Gemetzel mitten in Europa kommen, das eine Zäsur der Weltgeschichte markiert? Wäre dieser Krieg, den Russland immer noch als „Spe­zial­operation“ verkauft, vermeidbar gewesen? Wer ist Wladimir Putin – der Mann, der 1999 und gerade erst vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin zum Regierungschef ernannt, die Tsche­tschen*­in­nen auf dem Abort kaltmachen wollte? Und der sich mit seinem brutalem militärischen Amoklauf in der Ukraine endgültig aus dem Kreis zivilisierter Staaten verabschiedet hat? Galia Ackerman, Stéphane Courtois (Hg.): „Schwarzbuch Putin“. Übersetzt von J. Hagestedt, U. Held et al. Piper Verlag, 512 Seiten, München 2023, 26 Euro Sowjetismus ohne Kommunismus Wer auf diese und andere Fragen Antworten sucht, könnte in dem „Schwarzbuch Putin“ fündig werden. Herausgeber sind die beiden französischen His­to­ri­ke­r*in­nen Galia Ackerman und Stéphane Courtois. Letzterer ist mit seinem in 26 Sprachen übersetzten zweiteiligem „Schwarzbuch des Kommunismus“ seit den nuller Jahren auch dem deutschen Publikum bekannt. Das Buch enthält 21 Beiträge von französischen und internationalen Expert*innen, die deutsche Ausgabe wurde um Aufsätze des Osteuropahistorikers Karl Schlögel, des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie sowie der Journalistin Katja Gloger ergänzt. Die einzelnen Abhandlungen beziehen sich nicht aufeinander und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. In ihrer Einleitung versuchen sich Ackerman und Courtois an einer ersten allgemeinen Charakteristik von Putins Regime. Dieses habe sich in eine „schädliche Macht“ verwandelt, deren Hauptexportprodukt die Angst sei. Der Begriff „postkommunistisch“ werde dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht. Man könne von einem „Sowjetismus ohne kommunistische Idee“ sprechen. Das Neue an diesem System bestehe in einem Zusammenschluss des Regimes mit mafiösen Gruppen, deren grausame Praktiken angewendet würden, sowie einer endemischen Korruption, vor allem in den oberen Etagen der Macht. „So ist es dieses System, das in der ganzen Welt Unruhe sät und dessen imperialistische Ziele weit über die Ukraine hinausgehen.“ Russland verstehen Zu verstehen, wie Russland letztendlich zu dem wurde, was es heute ist, verlangt zuallererst eine Annäherung an die Person Putins, die unter dem Titel „Chronik einer angekündigten Diktatur“ Gegenstand des ersten Teils des „Schwarzbuchs“ ist. Im Zentrum der Betrachtungen steht, wie nicht anders zu erwarten und für Fortgeschrittene in Sachen Russland von eher geringen Erkenntnisgewinn, Wladimir Putins Sozialisation im Geheimdienst – erst KGB, dann FSB. Sie prägt das Denken und Handeln des Kremlchefs bis heute. „Einmal Tschekist, immer Tschekist“ ist einer der Beiträge, in dem der französische Historiker russischer Herkunft, Andrei Kosovoj, Putins Werdegang unter diesem Aspekt nachzeichnet. Äußerst aufschlussreich ist hingegen ein Rückblick auf die Geschichte des Geheimdienstes nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Anders als von vielen erwartet oder erhofft gelang es dem FSB, die staatlichen Strukturen quasi generalstabsmäßig zu infiltrieren und wieder zu einem entscheidenden Machtfaktor zu werden – außen- wie innenpolitisch. Nach vorn in die Vergangenheit Ackerman und Courtois sprechen in diesem Zusammenhang von „Putins Flucht nach vorn in die Vergangenheit“ und verweisen auf Sergei Medwedjew, einen russischen Historiker und Politologen, der sich auf die postsowjetische Periode spezialisiert hat. Laut Medwedjew führt Putin seit Jahren einen vierfachen Krieg: einen territorialen neoimperalistischen, der vor allem die Ukraine im Visier hat; einen symbolischen zur Schaffung einer neuen russischen Identität, die vor allem auf militärischer Macht gründet; einen biopolitischen, der die Bür­ge­r*in­nen dazu zwingt, sich die Werte der Staatsmacht sowohl im Privatleben als auch politisch zu eigen zu machen; sowie einen memorialen, der mittels der Rehabilitation Josef Stalins und der Überhöhung des „Großen Vaterländischen Krieges“ das vergangene Imperium der Zaren sowie die einstige sowjetische Supermacht zu neuer Größe erhebt. Wie dieser Kampf an den verschiedenen Fronten aussieht, ist in den Teilen zwei („Politik der Destabilisierung und Aggression“) und drei („Wege und Mittel der Allmacht“) nachzulesen. Souveränität verweigern „Die Verweigerung der Souveränität“ ist der Beitrag von Thornike Gordadse über Georgien betitelt – ein Beispiel dafür, wie der Kreml in den einstigen Sowjetrepubliken, die er nach wie vor als Einflusssphäre betrachtet, seine Machtansprüche durchsetzt. In der Südkaukasusrepublik, laut Lesart des Kreml seit der Rosenrevolution und der Präsidentschaft von Michail Saakaschwili (2004 bis 2013) auf „Abwegen“ in Richtung Europäische Union und Nato, hat der Kreml spätestens mit dem russisch-georgischen Krieg um die Region Südossetien 2008 Fakten geschaffen. Seitdem hält Moskau 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt. Der Friedensplan, unter Vermittlung der EU zustande gekommen, wurde von russischer Seite nie umgesetzt. Der Westen habe seine Lektion aus dem Südossetienkrieg nicht gelernt. Er habe Putin sogar noch in dessen revisionistischer Politik bestärkt und ihn ermutigt, sich unter totaler Missachtung internationalen Rechts in andere Eroberungen zu stürzen, lautet Gordadses Befund. Dieser ist so bitter wie wahr, aber bezüglich Russlands nur ein blinder Fleck des Westens unter vielen. Wem hätten sie sich nicht ins Gedächtnis eingebrannt, die Bilder vom Frühjahr 2022 aus der ukrainischen Kleinstadt Butscha: Massengräber, wehrlose abgeschlachtete Zi­vi­lis­t*in­nen auf den Straßen, vergewaltigte Frauen, Gefolterte und Verschleppte. Flankiert werden diese Gräueltaten durch die gezielte Zerstörung von Dörfern und Städten, Bombardierungen von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern. Ein Déjà-vu Das alles gab es schon einmal – während der beiden Kriege in Tschetschenien (1994–96 und 1999–2009). Wie sagte seinerzeit der russische Verteidigungsminister Igor Sergejew: „Wir übernehmen unsere Städte nicht, wir befreien sie.“ Ein Déjà-vu, wie der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine jeden Tag zeigt. Wladimir Putin wolle, nicht nur in den besetzten Gebieten, die Völker in das Stadium eines Homo sovieticus zurückwerfen – die einzige ­Möglichkeit, eine totale und dauerhafte Kontrolle zu garantieren. Dieses Unternehmen sei in Russland bereits erfolgreich realisiert worden, heißt es in dem Aufsatz „Ermordung der Völker“ von Françoise Thom. Gemeint ist damit Putins veritabler Feldzug gegen Nichtregierungsorganisationen, unabhängige Medien sowie alle, die ihre Stimme gegen das Regime erheben. Mit Memorial und der Moskauer Helsinki-Gruppe wurden vor Kurzem auch noch die letzten Menschenrechtsgruppen zum Schweigen gebracht. Hätte man diese Entwicklung voraussehen können? Man hätte. Anzeichen gab es genug, entsprechende Ankündigungen ebenfalls. Sich dabei ausschließlich auf die Person Putins zu fokussieren, greift jedoch zu kurz. Denn auch mit einem Machtwechsel im Kreml, der die russische Zivilgesellschaft in Geiselhaft genommen hat, ist das Problem nicht erledigt. „Das russische Unglück“ „Wohin geht Russland?“ ist eine Frage, die sich derzeit viele stellen. Sie wird auch im „Schwarzbuch Putin“ nicht beantwortet. Nur so viel: „Das russische Unglück ist zurück, das große Katastrophen bei den Russ*innen, ihren engen Nachbarn und in der ganzen Welt verursacht. Russland läuft in den Abgrund“, heißt es im abschließenden Kapitel. Wie schrieb Alexander Solschenizyn, Dissident und Literaturnobelpreisträger, am 12. Februar 1974, dem Tag seiner Festnahme: „Das ist er, der Schlüssel zu unserer Befreiung: Die Weigerung, sich persönlich an der Lüge zu beteiligen.“ Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Barbara Oertel
Wer ist Putin wirklich und was will er? Im „Schwarzbuch Putin“ suchen international renommierte Ex­per­t*in­nen Antworten auf drängende Fragen.
[ "Wladimir Putin", "Russland", "Ukraine-Krim-Krise", "Krieg in der Ukraine", "Buch", "Kultur", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,298
verstorben: Otto Steidle: Traktor statt Jet - taz.de
verstorben: Otto Steidle: Traktor statt Jet Den Nimbus des Stararchitekten hat er nicht sonderlich geschätzt. Doch genoss der Münchner Architekt, Stadtplaner und Professor Otto Steidle in den letzten Jahren auch international hohes Ansehen. Mit größeren Siedlungen in Italien und China tauchte er zuletzt gar in die Riege der Global Player der Zunft auf. Mehr als den Jet aber mochte er den Traktor auf seinem Hof in Niederbayern. In Norddeutschland ist er vor allem mit dem Hamburger Gruner + Jahr-Gebäude hervorgetreten, das 1983 bis 1990 in Zusammenarbeit Uwe Kiessler entstand. Mit seinen vier zu Norderelbe gerichteten Kopfbauten prägt der komplex strukturierte Baukörper die Silhouette am Baumwall. In den letzten Jahren experimentierte Steidle zunehmend mit Farben. Dem etwas tristen norddeutschen Backstein-Stil versuchte er mit Mustern aus glasierten Steinen wie beim Michaelis-Quartier in Hamburg oder dem Neubau des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven eine frische Note zu geben (taz vom 21.2.). Die Eröffnung des AWI im Mai wird nun ohne den Architekten stattfinden. Der Sechzigjährige ist am Wochenende überraschend auf seinem Hof verstorben. Der Bremer Architekt Andreas Schneider, der bei Steidle studiert hat und in Bremerhaven die Bauleitung macht, würdigte den Verstorbenen als einen Menschen, der Architektur immer als Teil seiner Umgebung begriff. Auch habe er es verstanden zu vermitteln, „an welchem Ort man sich befindet“. Eberhard Syring
Eberhard Syring
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,299
Mehr Erneuerbare für Westafrika: Sonne für Senegal - taz.de
Mehr Erneuerbare für Westafrika: Sonne für Senegal Deutschland, Frankreich und andere Industrieländer geben dem westafrikanischen Land 2,5 Milliarden Euro. Das Ziel: der Ausbau erneuerbarer Energien. ​ Solaranlage in Thies, Senegal, 16. Oktober 2017 Foto: Xaume Olleros/Bloomberg/getty images BERLIN taz | Der westafrikanische Staat Senegal soll unter anderem aus Deutschland 2,5 Milliarden Euro erhalten, um in erneuerbare Energien zu investieren. Das gaben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Senegals Präsident Macky Sall in Paris bekannt – anlässlich der dort stattfindenden Konferenz zur Finanzierung von Armutsbekämpfung und Klimaschutz. Gleichzeitig will Senegal aber bald auch Erdgas vor seiner Küste fördern. Die 2,5 Milliarden Euro sollen in den nächsten drei bis fünf Jahren aus öffentlichen und privaten Mitteln fließen. Sie werden vor allem dazu dienen, „den Anteil erneuerbarer Energien auf 40 Prozent der installierten Leistung“ der Stromproduktion in Senegal zu steigern. Heute liefern unter anderem Solarkraftwerke dort etwa 30 Prozent des Stroms. Die Vereinbarung heißt „Partnerschaft für gerechte und klimafreundliche Energie“ (Just Energy Transition Partnership, JETP). Die reichen Staaten der G7-Gruppe, darunter Deutschland, USA, Großbritannien und Frankreich, haben solche Abkommen bisher mit Südafrika, Indonesien und Vietnam geschlossen. Die Logik: Die Industriestaaten helfen ärmeren auf dem Weg in die Klimaneutralität, weil letztere sich die aufwändigen Investitionen alleine nicht leisten können. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) betonte, das Abkommen mit Senegal diene sowohl der Energiewende als auch der Armutsbekämpfung. „Erneuerbare Energien sind vor allem für weit abgelegene Kommunen die einzige realistische Technologie, um Energie bezahlbar zur Verfügung zu stellen“, schreibt das Entwicklungsministerium. Wenn Strom vorhanden sei, entstünden Arbeitsplätze und der Wohlstand der Bevölkerung nehme zu. Scholz hat Interesse an senegalesischem Erdgas Senegal verfolgt eine Doppelstrategie. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien wird bald die Ausbeutung riesiger Gasfelder im Atlantik beginnen. Diese Projekte treiben unter anderem BP und senegalesische Firmen voran. Zunächst wird das verflüssigte Erdgas wohl größtenteils exportiert. Davon verspricht sich die Regierung Einnahmen für den Staatshaushalt. Bei seinem Besuch in Senegal vor einem Jahr bekundete Kanzler Scholz Interesse am Kauf senegalesischen Erdgases für den Verbrauch in Deutschland. Später will die Regierung Senegals einen Teil des geförderten Gases auch im Inland nutzen. Heute verbrennen die Kraftwerke zum guten Teil noch Erdöl, um Elektrizität herzustellen. Gas verursacht dagegen weniger klimaschädliche Abgase. Außerdem sollen mit neuen Gaskraftwerken Millionen Privathaushalte zusätzlich Strom erhalten. Besonders auf dem Land steht vielen EinwohnerInnen heute nur Holz als Energiequelle zur Verfügung. Die Klimaschutzorganisation Fridays for Future und ihre Partner in Senegal lehnen die Gasstrategie ab. Sie plädieren für den kompletten Umstieg auf erneuerbare Energien. Lisa Badum, Energiepolitikerin der Grünen im Bundestag, sagte: „Der Erfolg von JETP darf nicht durch einen Gasdeal geschmälert werden.“ Der Bundeskanzler solle den angepeilten Gaseinkauf in Senegal „endlich beerdigen“. Das Entwicklungsministerium in Berlin erklärte, die Gasförderung werde über JETP weder finanziert noch unterstützt. Im Text der Vereinbarung wird Erdgas allerdings als „Übergangsenergie“ erwähnt.
Hannes Koch
Deutschland, Frankreich und andere Industrieländer geben dem westafrikanischen Land 2,5 Milliarden Euro. Das Ziel: der Ausbau erneuerbarer Energien. ​
[ "Erdgas", "Senegal", "Energiewende", "Klimawandel", "Ökologie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,300
SPD-Parteitag in Wiesbaden: Nun abstimmen, später debattieren - taz.de
SPD-Parteitag in Wiesbaden: Nun abstimmen, später debattieren Die SPD will sich erneuern, alle Hoffnungen richten sich auf die designierte Vorsitzende Andrea Nahles. Alle? Nein. Es wird auch Verdruss geben. Andrea Nahles (r.) und ein Reisender, der den Zug verpasst hat Foto: dpa BERLIN taz | Am Sonntag wird etwas für die SPD doppelt Ungewöhnliches passieren. Beim Parteitag in Wiesbaden werden die Ge­nos­sIn­nen nicht nur die erste Parteichefin überhaupt wählen, es gibt auch mehr als eine Kandidatin. Die Arrivierte, Fraktionschefin Andrea Nahles, tritt als Favoritin an. Alles andere als ein deutlicher Sieg mit wenigstens 75 Prozent wäre überraschend. Die Neue, Simone Lange, Oberbürgermeisterin von Flensburg, ist ihre Gegenkandidatin. Sie wirkt frisch, links, unverbraucht, nicht so stark von der Arbeit in Apparaten geprägt wie Nahles. Aber Chancen hat sie wohl nicht. Das liegt auch am Timing. Carsten Schneider, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, hält die Wahl von Nahles für „den Abschluss eines Prozesses“ – nämlich des wirren Wegs vom donnernd Nein zum erst zaghaften, dann selbstverständlichen Ja zur Regierungsbeteiligung. Diesen Weg hat wesentlich Nahles gebahnt. Jetzt, nach Schulz-Hype und seinem Scheitern, Streit und Basisvotum zur Groko stehen erst mal alle Signale auf innerparteilichen Frieden. Oder fast alle. Denn es fühlt sich anders an als 2013, als die Basis ebenfalls den Eintritt in die Regierung durchwinkte. Damals rasteten sofort die normalen SPD-Reflexe ein. Regieren ist wichtig, die Fraktion nicht so sehr, die Partei darf beim Parteitag die Hand heben. Jetzt ist die Stimmung etwas anders. Die SPD und der Paragraf 219a Yannick Haan, SPD-Ortsvorsitzender in Berlin-Mitte und Netzpolitiker, glaubt, dass es „noch immer aufgestaute Wut über die Große Koalition gibt“, die auch in Wiesbaden zum Vorschein kommen kann. 2013 hatte die SPD noch die Illusion, dass solide Regierungsarbeit reicht, um auch bei Wahlen erfolgreich zu sein. „Jetzt“, so Haan, „fragen viele, was wir falsch gemacht haben und wie sich verhindern lässt, dass wir nächstes Mal bei 15 Prozent landen.“ Das Gefühl sich auf einem sinkenden Boot einzurichten, ist noch immer da. Die Antwort der SPD-Spitze auf dieses Unbehagen lautet: Nahles. Die soll als Partei- und Fraktionschefin ein alternatives Machtzentrum zu der Riege der SPD-MinisterInnen bilden, die schnell im tagesaktuellen Regierungsmodus sind. Allerdings ist bislang nicht zu erkennen, wo Nahles einen Deut von der Regierungslinie abweicht oder weitergehende Ziele formuliert. Yannick Haan, SPD-Politiker„Wie verhindert man, dass wir bei 15 Prozent landen?“ Dass die SPD, angetrieben von Partei und Fraktion, in der Regierung eigenständiger auftritt als in der letzten Koalition, dafür gibt es bislang kein Indiz. Im Gegenteil: Beim Paragrafen 219a übte sich Nahles in vorauseilender Konfliktvermeidung. Wenn es beim Parteitag ein Ventil für den Verdruss gibt, dürfte es die Kritik an Nahles’ Zickzackkurs beim 219a werden. Debattencamp geplant Das Zauberwort in der Partei lautet derzeit Erneuerung. Die SPD soll eine nach außen offene, nach innen durch und durch demokratische Organisation werden. Das jedenfalls proklamiert Generalsekretär Lars Klingbeil. Ende des Jahres soll es ein Debattencamp geben, das Ideen der Basis sammelt, hat Klingbeil vergangene Woche vorgeschlagen. Die SPD-Spitze soll diese Ideen im kommenden Jahr bündeln und zu einem Zukunftsprogramm verdichten. Zudem will Klingbeil digitale Beteiligungsformate populär machen – ein anspruchvolles Vorhaben bei einer weitgehend dezentral organisierten Partei mit 450.000 Mitgliedern und einem Durchschnittsalter von 60 Jahren. Ob dieser Erneuerungsversuch erfolgreicher sein wird als die bisherigen, wird man im nächsten Jahr beurteilen können. Neu für die SPD-Kultur ist auf jeden Fall, dass die Delegierten in Wiesbaden überhaupt die Wahl haben. Das letzte Mal, dass es in der SPD eine Kampfkandidatur um einen Spitzenjob gab, liegt eine Weile zurück. 2005 wollte eine aufstrebende Jungpolitikerin gegen den Willen der SPD-Spitze Generalsekretärin werden. Sie gewann, der damalige SPD-Chef Müntefering trat zurück. Ihr Name: Andrea Nahles.
Stefan Reinecke
Die SPD will sich erneuern, alle Hoffnungen richten sich auf die designierte Vorsitzende Andrea Nahles. Alle? Nein. Es wird auch Verdruss geben.
[ "SPD", "Andrea Nahles", "Lars Klingbeil", "SPD-Parteitag", "Deutschland", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,301
■ Belgien/Ruanda: Drei Haftbefehle - taz.de
■ Belgien/Ruanda: Drei Haftbefehle Brüssel (AP) – Belgien hat internationale Haftbefehle gegen drei Ruander ausgestellt, denen eineBeteiligung an den Massakern in dem ostafrikanischen Land im vergangenen Jahr vorgeworfen wird. Wie gestern aus amtlichen Quellen in Brüssel bekannt wurde, handelt es sich bei zwei der Gesuchten um Armeeoffiziere. Bei dem dritten Gesuchten handelt es sich um einen ruandischen Bürgermeister, der an Massakern beteiligt gewesen sein soll.
taz. die tageszeitung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,302
Simonis fliegt der Hut vom Kopf - taz.de
Simonis fliegt der Hut vom Kopf ■ Expo-Affäre: Vorwürfe gegen die Regierungschefin In der Kieler Korruptionsaffäre um den verhafteten Expo-Beauftragten Karl Pröhl hat sich der Hamburger Unternehmer Falk Brückner zu Wort gemeldet. Brückner, gegen den die Staatsanwaltschaft ebenfalls ermittelt, erhob im Interview des Nachrichtenmagazins Focus Vorwürfe gegen Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD). Pröhl habe sich mit Wissen der Landesregierung um eine Tätigkeit in seiner B&B-Firmengruppe beworben. Zu den Äußerungen von Simonis, die erst Anfang des Jahres von der Doppelrolle Pröhls beim Verkauf des Kieler Schlosses erfahren haben will, erklärte Brückner: „Wenn Frau Simonis das behauptet, dann lügt sie.“ Simonis habe schon seit mehr als einem Jahr über Pröhls Engagement Bescheid gewusst, meinte Brückner. Bei einem Treffen am 2. März 2001 anlässlich des Besuches des Außenministers von Oman in Kiel seien auch Simonis, Staatskanzlei-Chef Klaus Gärtner und Pröhl dabei gewesen. Dabei sei auch über die berufliche Zukunft von Pröhl und dessen Wechsel in die B&B-Gruppe gesprochen worden. Laut Focus war Pröhl im November 1999 nach Katar gereist, um den Bau einer Sport- und Rehabilitationsklinik anzubahnen. Am 22. November 1999 unterschrieb er in der Hauptstadt Doha „für die Regierung Schleswig-Holsteins“ eine Absichtserklärung für die Errichtung der Klinik. Simonis unterstrich in einem Brief an die zuständige Behörde von Katar das Interesse ihres Landes an dem Geschäft. Simonis hatte Mitte März offenbart, dass Pröhl vor einem Jahr dabei war, als sie mit dem Außenminister von Oman über ein Gesundheitsprojekt sprach. Der Expo-Beauftragte habe sich im Zuge der „Wellness“-Offensive von Simonis um solche Dinge kümmern sollen, doch sei pikant, dass mit Pröhl der auch im arabischen Raum engagierte Hamburger Projektentwickler Brückner gekommen war. In dessen Firma hatte Pröhl einen Vorstandsposten inne – ohne Genehmigung seines Dienstherren. Die Affäre war ins Rollen gekommen, nachdem der beabsichtigte Verkauf des Kieler Schlosses an eine Investorengruppe um Brückner gescheitert war. Dabei wurde bekannt, dass Pröhl bei Brückner einen Vorstandsposten inne hatte. lno
taz. die tageszeitung
■ Expo-Affäre: Vorwürfe gegen die Regierungschefin
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,303
30 Euro und keinen mehr - taz.de
30 Euro und keinen mehr Symbolischer Kampf gegen die Gepflogenheiten der Marktwirtschaft: Michel Chevalier betreibt im Münzviertel einen Laden für „konsequente Kunst“, in dem Wohlhabende nichts kaufen dürfen VON KATRIN BONNY In großen Lettern steht es über dem Ladentisch: „Wenn Sie mehr als 50.000 Euro Vermögen haben, können Sie hier nicht einkaufen. Sie können sich jedoch gern umschauen.“ An der Decke wellen sich einzigartige Tapeten: Ein Wasserschaden im Stockwerk drüber. In einer Seitenstraße im Münzviertel hat Michel Chevalier seinen temporären Kunstladen „Unlimited Liability“ eingerichtet. Im Untergeschoss einer leer stehenden Mietwohnung. Es riecht feucht hier, nur wenig Licht fällt durch die vergitterten Fenster. Der Laden sei „ein symbolischer Kampf“, erklärt Chevalier, „außerhalb der Konventionen der freien Marktwirtschaft“. Spricht’s und setzt sich hinter den Ladentisch für 30 Euro, mit Selbstbauanleitung. Er selbst bezeichnet sich als „Art-Practioner“, momentan als kostenloses Interface zwischen Künstler und Käufer, sagt der 39-Jährige in ständig wechselnder Sprache – seine Herkunft französisch, seine Heimat Washington in den USA. 77 Künstler, Verleger und Musiker aus acht Ländern seien hier vertreten, sagt er, mit ihren Sachen zum Hören, Sehen, Lesen und Schmecken. Alles für jeweils weniger als 30 Euro. „Stickers, DVDs, CDs, Dienstleistungen, Fotos, Poster, Zines, Shirts, Buttons, Essen, Getränke“ zählt eine Selbstdarstellung im Internet auf – „nur Zeichnung und Malerei sind ausgeschlossen“. Das großformatige Foto der „Queen Mary“ am Eingang habe die Preisschwelle bereits überschritten, sagt Chevalier. Für das Bild werden nur Lose angeboten, 50 Cent das Stück. Ein anderes Alternativ-Angebot sind „bei der Erwerbsarbeit geklaute Objekte“, die nur getauscht werden. Unlimited Liability – englisch für „unbegrenzte Haftung“ – bedeute eine „Gegenbewegung zur GmbH“, sagt Chevalier, „dem Grundstein der kapitalistischen Unternehmensform“. Zum Erwerb eines Kunstwerks wird ein Kaufvertrag aufgesetzt. Bei falschen Angaben über die eigenen Vermögensverhältnisse verpflichtet der den Käufer zu einer Vertragsstrafe in Höhe von 1.000 Euro – und zur Rückgabe des Gekauften. „Dieses Verfahren soll vor allem ein Anlass zur Auseinandersetzung sein“, sagt Chevalier. Bisher habe sich nur ein einziger Käufer nachträglich als vermögender Galerist entpuppt. Chevalier: „Er wollte mich provozieren.“ Gegen die „zunehmende kapitalistische Steuerung des Kunstmarktes“ wolle er sich verwahren, fährt er fort. Seinen Lebensunterhalt verdient Chevalier mit Übersetzungen. Mit der Kunst beschäftigt er sich dann anschließend. Inspiriert habe ihn besonders die Idee „einer angewandten Ästhetik“, sagt er: die Situationisten und die Fluxus-Bewegung – Referenzen, die er im Lehrplan der örtlichen Kunsthochschule nicht finde. Statt das „aufgesetzte Comeback der Malerei“ und seinen „Geniekult“ zu unterstützen, die derzeit den Kunstmarkt beflügeln, sucht Chevalier das andere Publikum für seine „konsequente Kunst“: Eingeschweißte Konfetti in Tütchen, hergestellt aus Einladungskarten für Ausstellungen, ein „Ready-made zur unbeschränkten Haftung“, doppelseitig haftendes Klebeband, ein Roman aus Mustersätzen eines englischen Wörterbuches sowie „Theoriemarmelade“. Seit zehn Jahren lebt Chevalier selbst in St. Georg, nicht weit vom Laden entfernt: „Für die Eröffnung habe ich hier 150 Sektglas-Gutscheine verteilt“, erzählt er, „und drei Nachbarn sind gekommen. Voll ist es trotzdem geworden.“ Norderstr. 71, UG, geöffnet Do–Sa 13–20 Uhr, So 13–16 Uhr
KATRIN BONNY
Symbolischer Kampf gegen die Gepflogenheiten der Marktwirtschaft: Michel Chevalier betreibt im Münzviertel einen Laden für „konsequente Kunst“, in dem Wohlhabende nichts kaufen dürfen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,304
Konzertempfehlungen für Berlin: Sie nennen es Musik - taz.de
Konzertempfehlungen für Berlin: Sie nennen es Musik Laura Lee bringt im neu eröffneten Lido poppige Social-Media-Kritik zum Klingen. Und die Düsseldorfer Düsterboys bleiben zuversichtlich. The Düsseldorf Düsterboys Foto: Felix Aaron Mittwochabend: Morgen wird mal wieder was beschlossen oder auch nicht. Die Vorstellung ist zwar irre, dass kein Wellenbrecher dabei heraus kommt – oder wie auch immer man den Lockdown diesmal nennen will. Aber irre ist derzeit ja vieles. Nun, tun wir einfach mal so, als ob es auch Richtung Wochenende noch jedem einzelnen selbst überlassen sein wird, seine Risikoabwägung zu treffen und stellen ein paar – vielleicht vorerst letzte – Gelegenheiten vor, Musik gemeinschaftlich zu erleben. Da gäbe es etwa an diesem Freitag eine Jazz-Session des Christof Thewes Quartet im Neuköllner Club Peppi Guggeheim. Die kann man übrigens – für alle, die sich damit wohler fühlen – auch per Livestream verfolgen. Als Solist ist der experimentelle Posaunist oft in freieren Kontexten unterwegs, in seinen Ensembles sucht er gerne den Bezug zur Tradition. Zusammen mit dem Saxofonisten Hartmut Oßwald, Benjamin Lehmann am Kontrabass und dem Schlagzeuger mit dem schönen Namen Martial Frenzel, hat Thewes aus seiner Sammlung von Eigenkompositionen, dem sogenannten SurRealbook, einen breit gefächerten Stückefundus erarbeitet, aus dem bei Auftritten spontan geschöpft werden kann. Es ist in über 35 Jahre entstanden und umfasst zehn Mal so viele Stücke wie Jahre. tazplanDer taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz. Benannt ist es übrigens in Anlehnung an die Jazz-Standardsammlung des „American Songbooks“, auch unter dem Namen “Realbook“ bekannt. Mal sehen also, was die Stimmung der Musiker am Freitagabend hergibt (3. 12., 20 Uhr, Spende erwünscht, www.peppi-guggenheim.de) Am Sonntag will Laura Lee im gerade wiedereröffneten Lido zusammen mit ihrer Band The Jettes dann auf jeden Fall feiern, nämlich des Record Release ihres vor zwei Tagen erschienenen Solodebüts „Wasteland“. Kennen könnte man Lee als eine Hälfte des Berliner Riot-Girl-Indie-Punk-Duos Gurr, die auch international einiges Aussehen erregen. Mit dem Songwriting für ihr eigenes Album begann sie in der Pandemie. Dem Vernehmen nach soll es ein Liebesbrief an die vielleicht eigenständigste der deutsche Popmusiken sein: den guten alten Krautrock. Das allerdings hört man das etwa der Vorabsingle „Craigslist Boy“ zwar nicht unbedingt an. Die handelt eher recht poppig von einem Ärgernis unserer Social-Media-Gegenwart – dem Umstand, dass angesichts der Allgegenwart von Profilbildern offenbar jedwedes Ansinnen von einigen Männern als Dating-Absicht missverstanden werden kann. Lee wollte eigentlich ja nur ein Regal verkaufen – und hatte dann so nen Typen an der Backe (5. 12., 20 Uhr, 11,20 Eintritt, 12 Euro AK, www.lido-berlin.de) Doch zurück zum Krautrock: Der galt in den 1980ern oder auch 1990ern bekannterweise hierzulande nicht allzu viel, wie das eben so ist mit den Propheten im eigenen Land. Dafür war er aber in der angloamerikanischen Musikwelt ein großer Einfluss, nicht zuletzt für Bands wie Stereolab oder Sonic Youth – die für Lee in ihrer Jugend wiederum ein großer Einfluss waren. Insofern taucht der krautige Einfluss eher über Bande auf, durch eine gewisse Rhythmusgetriebenheit. Produziert wurde das Album übrigens vom tollen Max Rieger von Die Nerven – was ja schon mal Gutes verheißt. Als International Music haben Peter Rubel und Pedro Goncalves Crescenti uns mit „Ententraum“ eines der schönstens Alben des Jahres geschenkt. Mit ihrem anderen Bandprojekt, den folkigeren Düsseldorf Düsterboys, brachten sie bereits 2019 ihr Debüt „Nenn Mich Musik“ heraus. Dass die Tour, die sie nun am Freitag in Huxleys Neue Welt führen soll – verlegt übrigens aus dem halb so großen Hole44, was reichlich Abstand verspricht – nun immer noch „Nenn Mich Musik“-Tour heißt? Nun ja, auf dem weiten Weg seit 2019 kam eben so manches dazwischen. Wie oft wurde verlegt? Und kann das Konzert nun stattfinden? Wir würden ganz bestimmt auch nächstes Jahr gerne kommen. Aber schön wäre es ja. Wie Ingo Zamperoni zum Ende der Tagesthemen immer so schön sagt: Bleiben Sie zuversichtlich (11. 12., 20 Uhr, Eintritt 19 Euro, www.huxleysneuewelt.com).
Stephanie Grimm
Laura Lee bringt im neu eröffneten Lido poppige Social-Media-Kritik zum Klingen. Und die Düsseldorfer Düsterboys bleiben zuversichtlich.
[ "Indierock", "Jazz", "Berliner KünstlerInnen", "taz Plan", "Berlin", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,305
Kenias Parlament wird Selbstbedienungsladen - taz.de
Kenias Parlament wird Selbstbedienungsladen DIÄTEN Abgeordnete wollen Bezüge um fast 50 Prozent erhöhen. Es droht eine Regierungskrise NAIROBI taz | Nach einem Beschluss des Parlaments, die Abgeordnetenbezüge um fast 50 Prozent zu erhöhen, droht in Kenia eine Regierungskrise. Präsident Mwai Kibaki hat für Dienstag zu einer außerordentlichen Kabinettssitzung geladen. Zwar ist die Regierung gegen die saftige Erhöhung. Doch einige Abgeordnete haben bereits durchblicken lassen, dass sie dringende Gesetzesvorhaben blockieren werden, wenn ihrem Wunsch nicht entsprochen wird. Das kenianische Parlament ist für seine Selbstbedienungsmentalität berüchtigt. Doch diesmal sind die Abgeordneten selbst den politikverdrossenen Kenianern zu weit gegangen. Weil die Abgeordneten unter öffentlichem Druck der Besteuerung ihrer Bezüge zustimmen mussten, beschlossen sie kurzerhand eine Erhöhung von umgerechnet 8.075 auf 11.766 Euro und ignorierten dabei die Empfehlungen einer Diätenkommission, die eine moderatere Erhöhung gefordert hatte. „Das ist nichts anderes als ungestrafter Diebstahl“, regt sich Priscilla Nyokabi, Sprecherin eines Bündnisses von Nichtregierungsgruppen, auf. Nyokabi und ihre Mitstreiter drohen mit Massendemonstrationen, sollte die Erhöhung beschlossen werden. „Die Reichen kriegen immer mehr, und wir immer weniger“, klagt auch Milton Ogange, der als Fahrer 100 Euro im Monat verdient und davon seine Frau und seine beiden Kinder mitfinanzieren muss. Ogange hat dabei noch Glück: Der Mindestlohn liegt gerade einmal bei 60 Euro in der Stadt und 30 Euro auf dem Land. Auch im weltweiten Vergleich wären Kenias neue Diäten spitze: in Deutschland etwa verdienen MdBs 7.668 Euro im Monat. Dass sie gierig sind, finden Kenias Abgeordnete dennoch nicht. „Wenn Sie glauben, dass Abgeordnete zu viel verdienen, werden sie doch selbst einer“, pöbelte ein Parlamentarier in Kenias größter Tageszeitung Daily Nation. Klare Worte kommen von Premierminister Raila Odinga. „Die Diätenerhöhungen setzen ein falsches Zeichen, sie sind weder fair noch sind sie richtig.“ Doch Odinga hat leicht reden. Der Bericht der Diätenkommission setzt auch für ihn neue Bezüge fest, die derzeit nicht zur Debatte stehen. Demnach soll Odinga künftig 31.200 Euro im Monat verdienen – die Hälfte mehr als Bundeskanzlerin Angela Merkel. MARC ENGELHARDT
MARC ENGELHARDT
DIÄTEN Abgeordnete wollen Bezüge um fast 50 Prozent erhöhen. Es droht eine Regierungskrise
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,306
Libanon: Islamisten eröffnen neue Front - taz.de
Libanon: Islamisten eröffnen neue Front Der Anschlag auf UNO-Soldaten im Süden des Landes verschärft die politische Krise. Die Hisbollah verurteilt die Tat. Sie geht möglicherweise auf das Konto von Fatah al-Islam. Spanische UN-Soldaten im Libanon nach dem Attentat auf ihren Konvoi Bild: dpa Einen Tag nach dem Tod von drei spanischen und drei kolumbianischen Blauhelmsoldaten bei einem Bombenanschlag im Südlibanon hat die Libanon-Schutztruppe der UNO (Unifil) am Montag ihre Sicherheitsmaßnahmen erhöht. Der Oberkommandierende der rund 13.000 Mann starken Truppe, der italienische Generalmajor Claudio Graziano, erklärte, der Anschlag habe sich nicht allein "gegen den Libanon und die Unifil" gerichtet, "sondern gegen die Stabilität in der ganzen Region". Die seit 1978 im Libanon präsenten, nach Ende des Libanonkrieges im August 2006 drastisch verstärkten Einheiten würden "nun noch stärker darauf bedacht sein, ihre Mission im Südlibanon zu erfüllen". Laut libanesischen Sicherheitskreisen wurde die in einem Wagen am Straßenrand zwischen den südlibanesischen Städten Khiam und Marjajoun deponierte Bombe am Sonntagnachmittag per Fernsteuerung gezündet. Es ist der erste Anschlag auf Unifil-Einheiten seit Ende des Libanonkrieges. Zunächst bekannte sich niemand zu dem Anschlag. Erst vor einer Woche waren unweit der Anschlagstelle mehrere Katjuscha-Raketen nach Israel abgeschossen worden. Der "Libanon-Flügel" einer bislang unbekannten sunnitischen Gruppe namens "Dschihadi Badr Brigade" bekannte sich zum ersten Beschuss israelischen Territoriums seit knapp einem Jahr. Die im Südlibanon über eine starke Anhängerschaft verfügende schiitische Hisbollah verurteilte den Anschlag auf die Unifil: "Dieser Akt der Aggression zielt darauf ab, Unsicherheit im Libanon, speziell im Süden des Landes zu verbreiten", hieß es in einer Erklärung der von Generalsekretär Hassan Nasrallah geführten "Partei Gottes". Spaniens Verteidigungsminister José Antonio Alonso traf am Montag in Beirut ein. Er bezeichnete den Anschlag als "terroristischen Akt". Der Anschlag auf die Unifil fällt mitten in die heftigste innere Krise, die der Libanon seit Ende des Bürgerkrieges (1975-1990) durchmacht. Rund um das im Norden des Landes gelegene Palästinenserlager Nahr al-Bared führt die Armee seit mehr als fünf Wochen einen Krieg gegen Kämpfer der sunnitschen Terrorgruppe Fatah al-Islam. Mehr als 160 Menschen sind bei den Kämpfen bislang ums Leben gekommen, darunter über 70 Soldaten. Am Wochenende weiteten sich die Kämpfe auf die nordlibanesische Hafenstadt Tripoli aus, wo Gefechte zwischen Armee und Islamisten 11 Tote forderten. In den vergangenen Wochen verhaftete Fatah al-Islam-Kämpfer hatten in Verhören gestanden, dass die erst vor einem Jahr in den Libanon eingesickerte Gruppe Anschläge auf die Unifil plane. Sunnitische Fatah-al-Islam-Kämpfer hatten der Unifil schon nach Beginn der Kämpfe um Nahr al-Bared vorgeworfen, die libanesische Marine militärisch zu unterstützen. Der stellvertretende Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri hatte "die Präsenz internationaler Kräfte und Kreuzritter" im Südlibanon schon im Februar als inakzeptabel bezeichnet. Timur Göksel, langjähriger politischer Berater der Unifil-Kommandeure, schloss gegenüber der taz aus, dass die Hisbollah hinter dem Anschlag stehe: "Das wäre nicht in ihrem Interesse", sagte der heute als Dozent an der Amerikanischen Universität Beirut (AUB) tätige Türke. Auch der Beschuss Israels durch Katjuscha-Raketen vor einer Woche ginge nicht auf deren Konto.
Markus Bickel
Der Anschlag auf UNO-Soldaten im Süden des Landes verschärft die politische Krise. Die Hisbollah verurteilt die Tat. Sie geht möglicherweise auf das Konto von Fatah al-Islam.
[ "Nahost", "Politik", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,307
Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz: Frauen als Beute - taz.de
Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz: Frauen als Beute Eine Ex-Mitarbeiterin der Ärztekammer Hamburg erhebt schwere Vorwürfe: Ein Kollege habe sie jahrelang belästigt, die Kammer habe sie nicht geschützt. Kein Einzelfall: Grenzüberschreitendes Verhalten am Arbeitsplatz Foto: Reporters/imago HAMBURG taz | Zum Strafprozess war es nicht gekommen, die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen eingestellt. Dabei besteht eigentlich kein Zweifel, dass Sven C. seine Kollegin Miriam M. (Name geändert) sexuell belästigt hat. Es sei nur nicht zu beweisen gewesen, sagt der Richter und Vizepräsident des Arbeitsgerichts, Oliver Krieg. M. hat einen zweiten Anlauf gestartet und klagt nun vor dem Arbeitsgericht gegen ihren früheren Arbeitgeber, die Ärztekammer. Über Jahre hinweg habe der Kollege gegenüber M. sexuelle Anspielungen gemacht, ihr anzügliche Whatsapp-Nachrichten geschickt, sie zweimal gegen ihren Willen geküsst und ihr unter die Bluse und in den Schritt gefasst. So stellt es die Klägerin dar. C. bestreitet alles, bis auf einen Kuss, zu dem es seiner Meinung nach aber anders kam, als die Klägerin es schildert. Das Arbeitsgericht befasst sich aber nicht mit den Vorgängen an sich – die waren Gegenstand des bereits eingestellten Strafverfahrens. Stattdessen geht es um die Frage: Hat die Ärztekammer genug getan um ihre Mitarbeiterin zu schützen? Dazu ist sie laut dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verpflichtet. Das könnte zum Beispiel bedeuten, den Täter abzumahnen, zu versetzen oder ihm zu kündigen. Aber nichts dergleichen passierte. Die Ärztekammer, vertreten durch die Vizepräsidentin Birgit Wulff und ihren Rechtsanwalt, ist sich sicher, angemessen auf die Vorwürfe reagiert zu haben. Man hätte ja auch die Verhältnismäßigkeit wahren müssen – „die Ärztekammer ist keine Ermittlungsbehörde“, sagt deren Anwalt. Keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen Die Arbeitgeberin habe M. von allen Terminen freigestellt, bei denen C. anwesend war, außerdem habe sie C. ein Kontaktverbot auferlegt. Nach einem taz-Artikel im September 2018, der kritisierte, dass C. keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen spüren musste, verschickte der damalige Kammerchef Frank Ulrich Montgomery außerdem ein Schreiben an alle Mitarbeiter*innen, in dem er darlegte, dass er nicht untätig gegenüber den Übergriffen sei. Aus Sicht der Klägerin sind die Maßnahmen „Feigenblätter“, die einen Missstand überdecken sollen. Es habe eine „Atmosphäre geherrscht, in der Frauen als Beute gesehen wurden“, zitiert der Richter die Vorwürfe der Klägerin. M.s Anwalt Joachim Breu kritisiert zudem, dass dem Täter zu keinem Zeitpunkt gesagt worden sei, welches Verhalten er gegenüber M. zu unterlassen habe – nur, dass er den Kontakt meiden solle. „So wurde ihm vermittelt, er dürfe weiterhin übergriffig sein, nur eben nicht gegenüber denen, die sich beschwert haben“, so Breu. Zwei weitere Mitarbeiterinnen der Ärztekammer hatten ihrer Arbeitgeberin Belästigungen durch C. gemeldet. Geklagt haben sie nicht – was daran liegen könnte, dass sie, anders als M., die bereits gekündigt hat, noch bei der Ärztekammer arbeiten. Die Fälle interessieren das Gericht aber – die Verhandlung endet mit der Anweisung an die Ärztekammer, vorzutragen, was sie über diese anderen beiden Fälle weiß. Der Mann arbeitet weiter Für Editha Maßberg, Beraterin und Projektleiterin bei der Beratungsstelle „read“ für Opfer von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, ist das ein positives Signal. Der Fall sei klassisch: „Es wird als Einzelfall verhandelt, was offensichtlich kein Einzelfall ist“, sagt sie. Das Verhalten der Ärztekammer sei ebenfalls im negativen Sinne exemplarisch: „Der Mann arbeitet weiter, ohne Konsequenzen zu spüren. Die Frau musste gehen.“ Am fünften Februar soll der Prozess weitergehen. Ein Vergleich zwischen den Streitparteien ist aussichtslos: Die Ärztekammer würde sich nur darauf einlassen, wenn M. sich zur Verschwiegenheit verpflichtete. Es ist das einzige Mal, dass M. im Gerichtssaal selbst ihre Stimme hebt: „Auf keinen Fall!“, sagt sie.
Katharina Schipkowski
Eine Ex-Mitarbeiterin der Ärztekammer Hamburg erhebt schwere Vorwürfe: Ein Kollege habe sie jahrelang belästigt, die Kammer habe sie nicht geschützt.
[ "Sexualisierte Gewalt", "Arbeitsrecht", "Ärztekammer", "Patriarchat", "Hamburg", "Nord", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,308
Scholz und Cum-Ex: Vorgänger belastet Tschentscher - taz.de
Scholz und Cum-Ex: Vorgänger belastet Tschentscher Der Hamburger Ex-Finanzsenator Peiner (CDU) behauptet, er wäre mit Steuersachen anders umgegangen als sein Nachfolger. Neues zum „teuflischen Plan“. Götz Wiese (CDU) und Norbert Hackbusch (Die Linke) im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss Foto: Christian Charisius/dpa HAMBURG taz | Dass sich der ehemalige Hamburger Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) über den Cum-Ex-Steuerfall Warburg informieren ließ, hat einer seiner Vorgänger jetzt als „Beginn einer Einflussnahme“ bezeichnet. „Wenn über den Finanzsenator etwas in den Apparat eingespeist wird, dann macht sich die Verwaltung Gedanken“, sagte Wolfgang Peiner (CDU), der von 2001 bis 2006 Finanzsenator der Hansestadt war, am Donnerstag vor dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft. „Es setzt die Besorgnis der Befangenheit ein.“ Damit hat der ehemalige Senator die Frage des Untersuchungsausschusses, ob Senat und Steuerverwaltung zum Nachteil der Hamburger Einfluss auf ein Steuerverfahren genommen haben, zwar nicht im Einzelfall, aber grundsätzlich bejaht. Das schlägt auch zurück auf den damaligen Bürgermeister und heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Tschentscher hatte bei seiner Befragung im Ausschuss zwar eingeräumt, er habe sich als Chef der Finanzbehörde über den Fall berichten lassen; die Entscheidung habe er aber den Experten des Finanzamtes und der Finanzbehörde überlassen. „In steuerliche Entscheidungen der Finanzämter wurde ich nicht eingebunden, in besonderen Fällen aber informiert“, sagte er. Gegenstand des Untersuchungsausschusses sind Cum-Ex-Geschäfte der Hamburger Privatbank MM Warburg, von denen sich inzwischen herausgestellt hat, dass sie rechtswidrig waren. Bei den Geschäften wurden Aktien so gehandelt, dass sich die Beteiligten eine einmal gezahlte Kapitalertragssteuer mehrfach erstatten lassen konnten – ein schlichter Griff in die Staatskasse. Zum Rückfordern gezwungen Der Ausschuss untersucht, warum die Hamburger Finanzverwaltung 2016 und 2017 Steuererstattungen aus solchen Geschäften nicht zurückforderte wollte, sondern in Kauf nahm, dass die Forderungen verjährten. 2016 verjährte eine Forderung von 47 Millionen Euro tatsächlich, 2017 zwang das Bundesfinanzministerium die Hamburger, 43 Millionen Euro einzutreiben. Inzwischen hat die Bank 177 Millionen Euro zurückgezahlt. Ex-Senator Peiner schilderte, dass er vor vielen Jahren einmal von dem Miteigentümer der Warburg-Bank Christian Olearius gefragt worden sei, ob er sich bei einem steuerlichen Problem Rat von der Politik holen sollte. „Mein Rat war: auf keinen Fall“, sagte Peiner. „In dem Moment, in dem sie erkennen, dass es sich um eine Steuerangelegenheit handelt, müssen sie das Gespräch beenden.“ Peiner wollte zwar nicht ausschließen, dass er selbst ein Schreiben eines Steuerpflichtigen in den Behördenapparat gereicht habe. Das wisse er nicht mehr. „Aber ich hatte meine Prinzipien“, sagte Peiner. Es sei die Sache des Staatsrates, sich mit solchen Schreiben zu befassen. Der Senator repräsentiere die politische Ebene, die sich da nicht einmischen dürfe, der Staatsrat leite die Verwaltung. Allerdings sind die Staatsräte politische Beamte. Im Warburg-Fall hatte der damalige Finanzsenator Tschentscher ein Argumentationsschreiben der Bank in seine Behörde gegeben mit der Bitte, ihn auf dem Laufenden zu halten. Die Bank hatte das Papier auf Empfehlung von Bürgermeister Scholz an Tschentscher geschickt. Dabei lag das Schreiben dem zuständigen Finanzamt für Großunternehmen längst vor. Referentin fühlt sich unbeeinflusst Eine Referentin der Finanzbehörde, bei der das Schreiben landete, sagte bei ihrer Vernehmung am Donnerstag: „ Ich habe mich davon nicht angesprochen gefühlt“. SPD-Obmann Milan Pein hakte nach: „Wenn der Senator um Sachstand bittet, will er doch was?“ Er wolle informiert werden, antwortete die Referentin. „Er hat nicht gesagt: Entscheide so oder so!“ Allerdings sei das auch der einzige derartige Fall außerhalb des Beschwerdemanagements gewesen, der ihr untergekommen sei. Die Ausschusssitzung war ein schräges Licht auf eine entscheidende Sitzung in der Finanzbehörde am 17. November 2016. Dort wurde eine 29-seitige Ausarbeitung der Sachgebietsleiterin Daniela P. diskutiert, die zu dem Schluss kam, das Geld solle von Warburg zurückgefordert werden. Am Ende kam die Runde aber zu dem Schluss, nicht zurückzufordern. Warum, das ist und bleibt rätselhaft. Die Schlüsselrolle auch in der Sitzung scheint P. gespielt zu haben, die ein Gespräch mit eine Kölner Staatsanwalt einführte. Der habe darauf hingewiesen, dass der Sachverhalt noch nicht ausermittelt sei und die Steuern im Zweifel noch in einem Strafverfahren zurückgeholt werden könnten. Das war damals noch nicht die Rechtslage, hat aber offenbar keiner aus der Runde überprüft. Ebenfalls nicht überprüft worden zu sein scheint, ob die Bank durch die Rückforderung in ihrer Existenz bedroht gewesen wäre. P. scheint ausgeführt zu haben, dass sich seit Abfassung ihres Papiers sechs Wochen zuvor neue Erkenntnisse ergeben hätten, die gegen eine Rückforderungen sprächen. Das Anlagenkonvolut, das sie mitlieferte, deutete nach Auffassung von Ausschussmitgliedern aber in die entgegengesetzte Richtung. Der „teuflische Plan“ Nur hat den Ordner, wie es sich nach den Zeugenaussagen darstellt, keiner vorher gelesen oder Schlüsse daraus in die Runde eingebracht. In dem Gespräch habe es nur Zweifel an der bisherigen Argumentation gegeben, sagte die inzwischen pensionierte Leiterin des Finanzamtes für Großunternehmen, „bis ich irgendwann sagte: Sollen wir es lieber lassen?“ Dieser Satz könne am ehesten zu einem von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten Chat P.s mit anderen Verwaltungsmitarbeitern gehören. Darin äußerte sich P. nach der Sitzung gegenüber einer Kollegin erfreut darüber, dass ihr „teuflischer Plan“ aufgegangen sei. Zudem bezeichnete P. zwei Kollegen aus der Finanzbehörde als „Totalausfälle“ und das Bundesminsterium der Finanzen als „doof“. Allerdings sei ihr ein teuflischer Plan nicht bekannt, sagte die Finanzamtschefin.
Gernot Knödler
Der Hamburger Ex-Finanzsenator Peiner (CDU) behauptet, er wäre mit Steuersachen anders umgegangen als sein Nachfolger. Neues zum „teuflischen Plan“.
[ "Cum-Ex-Geschäfte", "Olaf Scholz", "Steuerhinterziehung", "Finanzindustrie", "Hamburg", "Nord", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,309
Spielfilm „Endless Poetry“: Wo Normalität absurd ist - taz.de
Spielfilm „Endless Poetry“: Wo Normalität absurd ist Mit knapp 90 Jahren immer noch frisch: Der chilenische Kultfilmemacher Alejandro Jodorowsky kehrt mit „Endless Poetry“ ins Kino zurück. Alejandro und sein Vater treffen sich am Hafen (Brontis Jodorowsky und Adan Jodorowsky) Foto: Steppenwolf Poesie ist ein Akt! In Alejandro Jodorowskys neuem Film wird die Dichtkunst zum Gestaltungsprinzip eines halb erfundenen Lebens. Der mittlerweile fast 90-jährige Kultfilmemacher und Guru erzählt in „Endless Poetry“ nach, wie er im Chile der vierziger Jahre vom Kind zum jungen Mann wird, mit seiner Familie bricht, die Liebe zur Kunst entdeckt und sich mit Anfang zwanzig zum Aufbruch nach Frankreich entschließt. Mit dem Aufbruch endet die Erzählung und bildet nach „The Dance of Reality“ die zweite von drei geplanten Verfilmungen der Autobiografie Jodorowskys. Der Umstand, dass der Regisseur heute beinahe so alt ist wie das Kino selbst, ist seinem Film in keinem Moment anzusehen. Ganz im Gegenteil: Neben „Endless Poetry“ wirkt ein Großteil heutiger Produktionen träge und altbacken. Warum der Aufbruch? In Paris will der junge Jodorowsky Philosophie an der Sorbonne studieren, mit Marcel Marceau als Pantomime arbeiteten, sich mit André Breton austauschen und den Surrealismus retten. Keine bescheidenen Ziele. Doch die Begegnungen wird es geben, auch wenn sie nicht zur Handlung von „Endless Poetry“ gehören. Jodorowsky wird seine Einflüsse in einer visionären Kunstsprache und Lebensweise kanalisieren, die ihn in den Siebzigern zu einer Inspiration der US-Gegenkultur und zu einem Aushängeschild des widerständigen Kinos machen. Filme wie „El Topo“ (1970) und „The Holy Mountain“ (1973, produziert von Beatles-Manager Allen Klein) bescheren dem Künstler nach ihren Mitternachtsvorstellungen in New York ein bis heute andauerndes Renommee. Der Film„Endless Poetry“. Regie: Ale­jandro Jodorowsky. Mit Adan Jodorowsky, Brontis Jodorowsky u. a. Frankreich/Chile 2016, 128 Min. Noch vor seinen filmischen Arbeiten gründet er gemeinsam mit dem Künstler Roland Topor und dem Theatermacher Fernando Arrabal die Performancegruppe „Mouvement panique“. Später beschäftigt er sich in ganzen Büchern, mittlerweile seit Jahrzehnten, mit Tarot und Mystik. Jodorowsky zählt zu den renommierten Verteidigern der Psychomagie, einer Praxis der psychologischen Heilung durch bildhaftes Handeln – im künstlerischen Ausdruck und darüber hinaus. Mit seiner neuen Trilogie kehrt Jodorowsky nach einer über 20-jährigen Pause zum Kino zurück, begleitet von der Wiederentdeckung und Restaurierung seiner Filme in den USA. Mit seiner neuen Trilogie kehrt Jodorowsky nach einer über 20-jährigen Pause zum Kino zurück „Endless Poetry“ zeigt etwa zur Halbzeit zwei stilvoll gekleidete Dichter, die die Idee vom künstlerischen Handeln wörtlich nehmen und geradeaus durch die Stadt gehen, allen Hindernissen zum Trotz, über Laster hinweg, durch eine Wohnung und ein Parkhaus, verfolgt von Hunden und fliegenden Orangen ausweichend, bis auf die Mundart-Bühne, wo sie ihrerseits das bürgerliche Publikum mit Essen bombardieren. Der eine ist Enrique Lihn (Leandro Taub), der einmal zu den wichtigsten chilenischen Dichtern gehören wird. Der andere ist der junge Alejandro, kurz vor seinem Aufbruch nach Europa, auf der Suche nach einer künstlerischen Freundschaft und Partnerschaft, gespielt von Alejandro Jodorowskys Sohn Adan. Die beiden werden miteinander schreiben, streiten und sich wieder lieb gewinnen, als Teil von Alejandros Freundeskreis: einer ganzen Gruppe von Wahnsinnigen, die in dieser Welt allerdings keineswegs verrückt erscheinen. Denn Jodorowskys Film zeichnet nicht die Abweichung als Abweichung, sondern setzt stattdessen die Normalität als Absurdität. Als Absurdität, die Diktaturen hervorgebracht hat. Als Absurdität, in der Gewalt zum Alltag zählt. Als Absurdität, die über ihre Künstlichkeit nicht hinwegtäuschen kann. Schwarz verhüllte Phantome In zahllosen Szenen reichen den Figuren schwarz verhüllte Phantome aus dem Hintergrund Gegenstände an, als wäre die Welt dieses Films in sich eine einzige, hergestellte Bühne. Die Liebhaberin Alejandros und die Mutter etwa werden beide gespielt von derselben Frau, der Opernsängerin Pamela Flores. Begleitet von Hakenkreuzen kehrt gegen Ende des Films, beinahe wie in einer Fußnote, der Militärdiktator Ibáñez aus dem argentinischen Exil zurück, um im Land aufzuräumen. Der Zug ist aus Pappe, getragen von den Phantomen. Seine Gefolgschaft trägt Besen und ausdruckslose, hautfarbene Kunststoffmasken. Für Alejandros Protestrufe sind diese Statistinnen und Statisten nicht empfänglich. Doch ohnehin liegen die Realitäten, mit denen er bricht, im Innern: Wie schon in „Dance of Reality“ tritt im Film wieder Jodorowskys zweiter Sohn Brontis als homophober, herrischer Vater auf. Ein gescheiterter, brutaler Mann, der am Ende des ersten Films sein eigenes Bild und das Bild seiner politischen Ikonen gleichermaßen verbrannte. Wie Jodorowsky die eigenen Söhne als Vater und Alter Ego inszeniert, das macht diese Emanzipationsgeschichte auf ungekannte Weise frei, verwundbar und doch verbindlich, letztlich zeitlos und ungemein vital. „Das Alter ist keine Demütigung“, meint der Regisseur bei einem seiner Auftritte vor der Kamera. Stattdessen geht es um eine tiefgreifende Verwandlung, um das Licht selbst. Also auch ums Kino.
Dennis Vetter
Mit knapp 90 Jahren immer noch frisch: Der chilenische Kultfilmemacher Alejandro Jodorowsky kehrt mit „Endless Poetry“ ins Kino zurück.
[ "Spielfilm", "Autobiografie", "Film", "Kultur", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,310
US-Historiker über Palästinakrieg 1948: Neugierde statt Wut - taz.de
US-Historiker über Palästinakrieg 1948: Neugierde statt Wut Ein Vortrag des US-Historikers Derek Penslar über die Hintergründe zum Palästina-Krieg von 1948 bringt Fakten in eine emotional geführte Debatte. Der palästinensische Exodus von 1948, auf Arabisch als Nakba bekannt Foto: imago Kaum ein Teilungsplan, kaum ein regionaler Krieg hat weltweit so viele Kontroversen hervorgerufen wie die bewaffneten Auseinandersetzungen um Palästina 1947/48. Dies war eine der zentralen Ausgangsthesen von Derek Penslars Berliner Vortrag am Dienstag. Eingeladen hatten den US-Historiker der linksliberale Verein New Israel Fund Deutschland gemeinsam mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung (LzpB). Penslar ist Professor für moderne jüdische Geschichte an der Harvard University in Boston und gehört zu den renommiertesten Historikern im Bereich Zeitgeschichte. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem „Shylock’s Children: Economics and Jewish Identity in Modern Europe“, „Jews and the Military: A History“ und „Theodor Herzl: The Charismatic Leader“. Demnächst wird von Penslar auch das Buch „Zionism: An Emotional State“ erscheinen. Weltweite Bedeutung In der Landeszentrale für politische Bildung in Berlin stellte Penslar sein aktuelles Forschungsprojekt zur weltweiten Bedeutung des Krieges von 1948 vor. Die Veranstaltung war als akademisches Werkstattgespräch konzipiert. In seinem Eingangsvortrag gab der 65-jährige US-Amerikaner Einblick in die zentralen Fragen und konzeptuellen Dimensionen seines Vorhabens. Anschließend diskutierte Penslar mit Lutz Fiedler vom Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum und dem Publikum zu möglichen Erweiterungen des Projekts. Im Rahmen einer International History interessiert sich Penslar dafür, wie genau sich Nationalstaaten, die Vereinten Nationen sowie die christlichen Kirchen um 1948 herum zur sogenannten Palästinafrage positioniert hatten. Allein die Voten in der Abstimmung über den UN-Teilungsplan werfen zahlreiche Fragen auf: 33 Staaten stimmten dafür, 13 dagegen, 10 enthielten sich. Seinen derzeitigen Forschungsgegenstand versteht Penslar auch als Kontrast zu neueren Publikationen zum Thema, die weniger von akademischer Neugierde angetrieben seien und mehr von politischer „Wut“. Dabei bezog sich Penslar vor allem auf Jeffrey Herfs Studie „Israel’s Moment“. In einer sehenswerten Harvard-Veranstaltung hatten die beiden US-Historiker kurz nach der Publikation von Herfs Buch zu ihren jeweiligen Forschungsergebnissen miteinander diskutiert. Der Staat Israel war, so sagte es Penslar am Dienstag, in einem einzigartigen „Zwielicht“ entstanden: In einer Zwischenphase von Hochimperialismus und Dekolonisierung, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und noch vor Beginn des Kalten Krieges. Dieser besondere zeithistorische Kontext prägte auch die internationalen Beziehungen im Zusammenhang mit der Abstimmung zum UN-Teilungsplan. Auf Druck der Arabischen Liga Penslar betonte, dass nicht nur die USA, sondern selbstverständlich auch die Arabische Liga mit diplomatischem Druck versucht hatte, in ihrem Votum noch nicht festgelegte Staaten zu beeinflussen. Als besonders interessantes Beispiel erwähnte Penslar an dieser Stelle etwa China, das sich aus Rücksichtnahme auf arabische Interessen letztlich der Stimme enthielt. Auch gesellschaftliche Diskurse zum Krieg in Palästina 1948 fanden in dem besagten „Zwielicht“ statt. Penslar bezog sich vor allem auf die journalistischen Arbeiten des jüdischen Schriftstellers Arthur Koestler, des protestantischen Reporters Kenneth W. Bilby sowie der Autorin Marion Gräfin Dönhoff für die Wochenzeitung Zeit. In den großen deutschen Medien sei die Berichterstattung in der Regel sachlich und ausgewogen gewesen. Gräfin Dönhoffs Stücke hingegen beinhalteten klare politische Wertungen – inklusive „in schockierender Offenheit“ vorgebrachter antisemitischer Ressentiments, legte Penslar dar. Entstehung der Nabka Ein weiterer zentraler Aspekt von Penslars Forschung ist die Schaffung von Narrativen zum 1948er-Krieg. Dabei bezieht er sich weniger auf die israelischen Neuen Historiker wie Tom Segev und Benny Morris, die nach der Öffnung der Archive Jahrzehnte nach dem Krieg vorherrschende Mythen und Verkürzungen der klassischen zionistischen Geschichtsschreibung infrage gestellt hatten. Penslar interessiert sich vor allem für die Entstehung und Etablierung der Idee einer „Nakba“ unter Pa­läs­ti­ne­ne­r:in­nen sowie in der gesamten arabischen Welt. All diesen Fragen widmete sich Penslar mit einer für die emotionalisierte Debatte untypischen Gelassenheit und zudem mit einer auffälligen Offenheit für neue Denkanstöße. Einige der präsentierten Archivfunde führten im Publikum zu sarkastischem Kopfschütteln. So etwa die absurde Erklärung eines irakischen Journalisten für die überraschende UN-Rede des sowjetischen Diplomaten (und späteren UdSSR-Außenministers) Andrei Gromyko für den Teilungsplan: Marx sei ja schließlich auch Jude gewesen – was könne man von den Sowjets da anderes erwarten?
Till Schmidt
Ein Vortrag des US-Historikers Derek Penslar über die Hintergründe zum Palästina-Krieg von 1948 bringt Fakten in eine emotional geführte Debatte.
[ "Palästina", "Israel", "Buch", "Kultur", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,311
„Katastrophe für ganz Spanien“ - taz.de
„Katastrophe für ganz Spanien“ Gespräch im Gefängnis: Jordi Cuixart vom Kulturverein Òmnium über politische Perspektiven Spaniens und Kataloniens Foto: Yves Herman/reuters Interview Reiner Wandler, Haftanstalt Lledoners taz: Herr Cuixart, Sie sind seit 14 Monaten in Untersuchungshaft. Wie geht es Ihnen? Jordi Cuixart: Dafür, dass ich eingesperrt bin, gut. Ich fühle mich geistig frei und bin zufrieden mit mir selbst. Das ist wichtig. Ich bin hier, weil ich gegen die Einschränkung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten im heutigen Spanien demonstriert habe. Wie sieht Ihr Leben hier aus? Haft heißt vor allem Routine, die es zu brechen und zu füllen gilt. Ich meditiere, arbeite in der Töpferwerkstatt, treibe Sport. Ich schreibe, beantworte schriftliche Interviews und lese viel. Ich mache auch meine Arbeit als Vorsitzender von Òmnium Cultural weiter, soweit das geht. Zudem pflege ich Sozialkontakte, sowohl mit den restlichen politischen Gefangenen als auch mit den sozialen Gefangenen. Die Kontakte nach draußen sind sehr eingeschränkt. Wir dürfen nur sechs Mal die Woche für jeweils acht Minuten telefonieren; einmal die Woche mit Trennscheibe Besuch empfangen; zwei Mal im Monat von Frau und Kind in einem Zimmer ohne Trennscheibe und Überwachung. Was vermissen Sie am meisten? Meinen 20 Monate alten Sohn Amat. In den letzten 400 Tagen habe ich ihn zusammengerechnet gerade einmal vier Tage um mich gehabt. Und dafür musste er mit meiner Frau erst nach Madrid und jetzt hier her reisen. Das waren bisher 50.000 Kilometer. Ich frage mich, was für ein schweres Verbrechen habe ich begangen, damit mein Sohn so etwas durchmachen muss? Ganz einfach: Aufstand und Rebellion. So steht es in der Anklageschrift. Aber für Rebellion ist Waffengewalt notwendig, und für Aufstand braucht es auch gewalttätiges, organisiertes Vorgehen. Es gab keine Gewalt und wir haben auch nie zur Gewalt gerufen, ganz im Gegenteil. Wir haben nur das Recht auf Meinungsfreiheit und auf Demonstrationsfreiheit verteidigt. Es gibt kein Gesetz, das die Organisierung eines Referendums oder die Teilnahme daran unter Strafe stellt. Das Verfassungsgericht kann eine solche Befragung untersagen, eine Straftat ist es dennoch nicht. Sie plädieren also auf unschuldig? Wir fordern Freispruch. Das ganze ist juristisch nicht haltbar. Was mit am meisten Sorgen bereitet, ist die Haltung der großen Parteien des Landes und der Monarchie. Sie unterstützen dieses juristisch fragwürdige Konstrukt. Wir sollen um jeden Preis zu langen Haftstrafen verurteilt werden. Die Forderung, nach dem Recht über die Zukunft Kataloniens zu entscheiden, soll kriminalisiert werden. Sie wollen der Bevölkerung Angst machen. Sie glauben also fest an einen Schuldspruch? Unsere Rechte wurden während des gesamten Untersuchungsverfahrens verletzt, warum soll das jetzt beim Hauptverfahren anders sein? Was hier in Spanien geschieht ist – in kleinerem Maßstab – das gleiche wie in der Türkei. Hier werden mit dem sogenannten Knebelgesetz mittlerweile 20.000 Menschen verfolgt. Rapper für ihre Texte, Twitteraktivisten für ihre Nachrichten, Puppenspieler wegen ihrer Stücke … Vor wenigen Tagen wurden gar die Computer und Handys von Journalisten auf Mallorca beschlagnahmt, weil sie einen Korruptionsfall recherchierten und sich weigerten, ihre Quellen preiszugeben. Die Freiheiten in Spanien haben in den letzten Jahren schweren Schaden erlitten. Wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen? Der zivile Ungehorsam muss gewaltfrei sein, und er muss dem Allgemeininteresse dienen. Geht es gegen ungerechte Gesetzte oder gegen ungerechte richterliche Entscheidungen, dann ist der Ungehorsam gerechtfertigt. Vier Ihrer Mitgefangenen sind im Hungerstreik, weil das Verfassungsgericht die Beschwerden, die sie eingelegt haben, nur zögerlich bearbeitet. Warum nehmen Sie nicht teil? Regierungsbesuch, Proteste und ProzessauftaktDas Hauptverfahren gegen 18 angeklagte Unabhängigkeitsbefürworter, zu denen auch Jordi Cuixart gehört, hat am Dienstag mit einer Anhörung zu Verfahrensfragen begonnen. Die Verteidiger sehen den Obersten Gerichtshof in Madrid als nicht zuständig an. Sie wollen, dass vor dem höchsten Gericht der Region Katalonien verhandelt wird. Ihr Antrag wird aller Voraussicht nach abgelehnt.Auch politisch spitzt sich der Konflikt weiter zu. Am Freitag wird die spanische Regierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez eine Kabinettssitzung in Barcelona abhalten. Die Unabhängigkeitsbewegung hat Proteste angekündigt. (rw) Wir von Òmnium unterstützen die Hungerstreikenden, glauben aber, dass ein Monat vor dem Hauptverfahren nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Aktion ist. Heißt das, dass Sie später sehr wohl einen Hungerstreik in Erwägung ziehen könnten? Ja. Aber dann unbefristet und mit allen Konsequenzen. Neun Inhaftierte, sieben im Ausland, 18 Angeklagte, mehrere hundert Ermittlungsverfahren wegen Durchführung der Abstimmung … War es das wert? Würden Sie das gleiche die Widerstandskämpfer gegen den Faschismus fragen? Würden Sie Rosa Luxemburg, Václav Havel oder Lech Walesa fragen, ob es für etwas gut war, dass sie ins Gefängnis mussten? Wir kämpfen für die selben Ziele wie sie. Es geht nicht nur um die Unabhängigkeit, sondern um Bürgerrechte in Katalonien, Spanien und Europa. Das Verfahren gegen uns wird Auswirkungen auf die Rechte und Freiheiten für alle Bürger in Spanien in den kommenden Jahren haben. Aber die Unabhängigkeit ist soweit entfernt wie zuvor. Es ist wichtig, die Debatte zu zentrieren. Wo steht geschrieben, dass die Katalanen nicht das gleiche Recht haben über ihre Zukunft zu entscheiden, wie etwa die Schotten? Ist das ein göttliches Gesetz? Sind wir etwa für immer Minderjährige? Wer hat das Recht dies zu entscheiden. In Europa werden Konflikte an den Urnen gelöst, warum nicht hier? Die Regierung in Madrid ist nicht in der Lage und Willens, den Konflikt politisch zu lösen. Sie haben Katalonien eine Zeit lang unter Zwangsverwaltung gestellt, die eigene Wirtschaft boykottiert. Das Ganze ist nicht nur für Katalonien eine Katastrophe, sondern für ganz Spanien. Warum bestehen Sie auf der Unabhängigkeit? Katalonien ist eine der reichsten Regionen Europas und gleichzeitig haben wir eine der größten Armutsraten. Was Katalonien an den spanischen Staat abführt, entspricht dem, was Hessen, Baden-Württemberg und Bayern zusammen abführen. Über 100 soziale Gesetze des katalanischen Parlaments – etwa gegen Energiearmut und Zwangsräumungen – wurden vom spanischen Verfassungsgericht annulliert. Solange das so ist, werden wir unsere sozialen Probleme nicht lösen können. Darum geht es und nicht um Fahnen. Im restlichen Spanien werfen Ihnen viele vor, dass Sie die alten Gespenster wieder heraufbeschworen haben. Die rechtsradikale VOX erhält dank einer harten zentralstaatlichen Linie immer mehr Zulauf. Wie sagt Rosa Luxemburg: „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.“ Es ist schäbig uns zu beschuldigen, dass wir die faschistische Bestie geschaffen haben. Sie war immer da. Wir Katalanen sind die ersten Opfer des Faschismus. In Europa wurde nur ein demokratisch gewählter, amtierender Präsident hingerichtet. Das war 1940 der Katalane Lluis Companys, nachdem ihn die Gestapo an Franco ausgeliefert hat. Wir fordern Solidarität statt Vorhaltungen. Jorgi Cuixart, 43, (auf dem Poster): Der ­Vorsitzende der ­katalanischen Kultur­vereinigung Òmnium Cultural sitzt seit 16. Oktober 2017 in Unter­suchungshaft. Ihm wird im Zusammenhang mit Kataloniens Unab­hängigkeits­referendum am 1. Oktober 2017 Rebellion und Aufstand vorgeworfen Nach dem Regierungswechsel in Madrid im Juni sah alles nach Tauwetter aus. Jetzt kommen wieder harte Worte auf beiden Seiten. Was ist schief gelaufen? Wir wollen Taten sehen und die blieben bisher aus. Ich bin mir sicher, dass es bei den regierenden Sozialisten viele gibt, die eine politische Lösung wollen. Aber es gibt auch andere, die das torpedieren. Zum Beispiel der Außenminister Josep Borrell, der auf den Demonstrationen für die Einheit Spaniens sprach. Dort waren auch Faschisten mit ihren Fahnen anwesend. Können Sie sich einen SPD-Minister vorstellen, der vor Hakenkreuzfahnen spricht? Was wird die Zukunft für Katalonien bringen? Kurzfristig bin ich wenig optimistisch. Die Pattsituation wird weiter bestehen. Mittel­fristig werden wir uns zusammensetzen müssen, um den Konflikt politisch zu regeln. Und langfristig wird sich zeigen, dass sich im 21. Jahrhundert niemand über den anderen stellen kann. Der Feudalismus im Mittelalter wurde bezwungen, ebenso die autoritären Regime in Europa im vergangenen ­Jahrhundert. Spanien wird die Monarchie bezwingen. Dann wird Katalonien das sein, was die Katalanen wollen. Und Ihre eigene Zukunft? Im Gefängnis. Aber das beunruhigt mich nicht. Mein vorrangiges Ziel ist es nicht, frei zu kommen, sondern den politischen Konflikt zu lösen. Ich weiß, dass ich meinen Sohn noch lange nicht um mich haben werde. Aber das größte Geschenk, das ich ihm machen kann, ist der Kampf für Rechte und Freiheiten in Europa.
Reiner Wandler
Gespräch im Gefängnis: Jordi Cuixart vom Kulturverein Òmnium über politische Perspektiven Spaniens und Kataloniens
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,312
Kampf gegen Boko Haram: Betteln in Nigeria verboten - taz.de
Kampf gegen Boko Haram: Betteln in Nigeria verboten In Maiduguri in Nigerias Boko-Haram-Kriegsgebiet ist Betteln auf der Straße aus Sicherheitsgründen verboten. Bettler sollen Kredite aufnehmen. Gilt jetzt als Sicherheitsrisiko: Bettler im Norden von Nigeria Foto: reuters ABUJA taz | Betteln verboten: Ausgerechnet in Maiduguri, die zwei Millionen Einwohner zählende Hauptstadt des nordostnigerianischen Bundesstaates Borno und von mittellosen Flüchtlingen des seit Jahren andauernden Krieges zwischen der Armee und der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram überlaufen, darf ab sofort nicht mehr auf der Straße gebettelt werden. Ein entsprechendes Gesetz trat am Montag in Kraft. „Jeder, den dieses Gesetz aufspürt, wird verhaftet und angeklagt“, erklärte Bornos Polizeisprecher Usman Sadiq Usmobik. Das Gesetz verbietet im Bundesstaat Borno das städtische Betteln an Verkehrsknotenpunkten wie Kreisverkehren, Kreuzungen und Ampeln, wo sich wartende Autos stauen – und Elendsgestalten an den Autofenstern die Hand aufhalten. „Der Polizeikommissar warnt hiermit diejenigen, die sich an diesen dreisten Handlungen der Belästigung der Öffentlichkeit beteiligen und damit die relevanten Paragrafen des Strafgesetzes und anderer existierender Gesetze brechen, dass sie fortan davon Abstand nehmen müssen oder die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen“, führte Usmobik aus. „Das Polizeikommando wird nicht die Arme verschränken und zuschauen, wie skrupellose Elemente den hart verdienten Frieden und die Sicherheit des Staates in Gefahr bringen.“ Oft müssen Kinder betteln Eltern seien „aufgerufen, „ihre Kinder zu kontrollieren und zu überwachen, oder sie werden mit dem Zorn des Gesetzes konfrontiert.“ Es gebe keinen Grund mehr zu betteln, da Bornos Provinzregierung neuerdings Jugendlichen und Armen Kredite von 30.000 Naira (65 Euro) zur Unternehmungsgründung anbiete. Tatsächlich sind es zumeist Kinder, die zum Betteln auf die Straße geschickt werden. In Nigeria gibt es über eine Million Waisenkinder, zumindest als Ergebnis bewaffneter Konflikte, und 13 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule – mehr als in jedem anderen Land der Welt. In vergangenen Jahren ist in Nigeria mehrfach davor gewarnt worden, dass bettelnde Straßenkinder in Gefahr stehen, von Boko Haram angelockt und rekrutiert zu werden. Borno ist der Bundesstaat, in dem Boko Haram am aktivsten ist. Die Behörden sagen, dass Betteln Frauen und Kinder dem Risiko der Verschleppung und des Menschenhandels aussetze. In Nigerias größter Stadt Lagos mit 22 Millionen Einwohnern ist Betteln auf der Straße bereits illegal und kann mit Geldbußen von 15.000 Naira (37 Euro) und bis zu drei Monaten Haft bestraft werden.
Emeka Okonkwo
In Maiduguri in Nigerias Boko-Haram-Kriegsgebiet ist Betteln auf der Straße aus Sicherheitsgründen verboten. Bettler sollen Kredite aufnehmen.
[ "Nigeria", "Boko Haram", "Maiduguri", "Bettler", "Afrika", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,313
Sehnsucht nach der märchenhaften Wirklichkeit - taz.de
Sehnsucht nach der märchenhaften Wirklichkeit Vor 40 Jahren gingen die Ungarn auf die Straße. Gegen die Parteidiktatur und sowjetische Besatzungsmacht. Nach der Wende im Jahre 1989 reklamierten Ungarns neue Machthaber das Erbe des Aufstands für sich. Doch die Revolutionäre von 1956 wollten keine Restauration des Kapitalismus  ■ Von István Eörsi Am 23. Oktober 1956 brach in Budapest ein Aufstand aus. Er hatte zwei Ziele: die Erringung der nationalen Unabhängigkeit und den Sturz der stalinistischen Machtstruktur. Der Volkszorn richtete sich sowohl gegen die sowjetische Besatzung als auch gegen die Diktatur der Partei, denn diese beiden Dinge waren eng verbunden. Ohne sowjetische Hilfe hätte die Partei, wie sich bald herausstellen sollte, keinen Tag ihr Machtmonopol bewahren können. Und ohne die Partei hätte sich Ungarn keine Woche lang in die sowjetische Einflußsphäre zwingen lassen. Die Diskussion, ob in diesen Tagen ein Freiheitskampf oder eine Revolution ausgebrochen sei, entbehrt jedes Sinns. Denn unter den damaligen Umständen war das eine Voraussetzung und Nährboden für das andere. Die Führer der Staatsmacht unter János Kádár, die sich nach dem 4. November 1956 im Schlepptau der sowjetischen Panzer etablierte, führten ihren ehemaligen Genossen Imre Nagy, Ministerpräsident in den Tagen vor der Revolution, trotz Amnestieversprechens unter den Galgen. Er hatte es nämlich abgelehnt zu demissionieren und so die Illegitimität der Regierung Kádár in ein grelles Licht getaucht. Deshalb läutete in Ungarn die feierliche Neubestattung von Imre Nagy und seiner ebenfalls angeklagten Mitstreiter 1989 die Wende ein. Kádár stürzte schließlich wie Kreon, der König von Theben, weil er es nicht zuließ, daß die Toten begraben würden. Freilich, einem Kádár konnte auch gar keine Antigone drohen, denn wer auch immer hätte Gerechtigkeit tun wollen, er oder sie hätte die Leichen nicht gefunden, die irgendwo verscharrt worden waren, mit Draht zusammengebunden, die Gesichter nach unten gekehrt. Nach der Wende 1989 schöpfte die neue Macht ihre Legitimation aus der wiederhergestellten Kontinuität mit der Revolution von 1956. Kádárs Zöglinge legten im Namen der Ungarischen Sozialistischen Partei mit den Angehörigen der Hingerichteten, einstigen politischen Gefangenen sowie den Vertretern der 56er-Verbände und der neuen Parteien Kränze an den Särgen der Revolutionäre nieder. Dieser mehr als symptomatische Kompromiß tauchte aber jene Kontinuität zwischen dem neuen demokratischen System und der Revolution in ein ominöses Licht. Der Bankrott dieser Absicht zeichnete sich nicht nur auf der moralischen Ebene ab. Denn dies war eine Zeit, in der die politische Rechte in Ost und West glaubte, sie wäre rehabilitiert. Die Revolution war jedoch ein Weltereignis von verblüffend linker Natur. Zum einen pfiff sie auf die Vereinbarungen der Großmächte und trat an, das Gleichgewicht der in Militärblöcke aufgeteilten Welt zu kippen. Jalta setzte zwar dem Appetit der Großmächte Grenzen, gleichzeitig fühlten sie sich aber auch vor tödlichen Risiken sicher. Als Imre Nagy im Namen der Regierung Anfang November 1956 den Warschauer Pakt aufkündigte und die vier Großmächte ersuchte, die Neutralität Ungarns zu garantieren, stellte er den Westen und vor allem die USA vor eine Herausforderung. Ungarn wurde von den USA in erster Linie sich selbst überlassen, weil der Status quo dem Westen sehr zugute kam. Ein Status quo, in dem – als Folge des Überfalls auf Ungarn – die kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern geschwächt wurden. Und der bedeutendere Teil der mit der Sowjetunion sympathisierenden linken Intelligenz mit der Illusion von der Reformierbarkeit des real existierenden Sozialismus brach. Dieser Versuch, den Status quo aus den Angeln zu heben, stellte zweifellos eine revolutionäre Tat dar, welche die einander anfletschenden Gegner des Kalten Krieges mit einem Schlag ihre gemeinsamen Interessen erkennen ließ. Aus heutiger Sicht erscheint es aber noch verblüffender, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung eine Restauration des Kapitalismus ablehnte. In den Tagen der Revolution akzeptierten nicht nur die vier Koalitionsparteien das Programm des Sozialismus nichtsowjetischen Typs. Auch außerhalb des Machtgefüges gab es keine Kraft, die sich für eine Wiederherstellung der Eigentumsverhältnisse der Vorkriegszeit stark gemacht hätte. Als einer meiner Zellengenossen, ein „Kulake“, im Gefängnis 1958 seufzte, daß er im Falle des Sieges der Revolution seine Mühle zurückerhalten hätte, sprang ihm ein sozialdemokratischer Kraftfahrer an die Gurgel. „Wir sitzen im Knast. Beklagen wir deshalb die vielen Toten, damit du deine Mühle wiederbekommst?“ schrie er. Kurzzeitig doppelte Machtstruktur Nach der Niederschlagung der Revolution entstand für einige Wochen eine doppelte Machtstruktur. Auf der einen Seite versuchte die von den Russen unterstützte Regierung Kádár ihre Herrschaft zu konsolidieren, auf der anderen Seite wußte der Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest die Beschäftigten der Industrie hinter sich. Als Gesandter des Schriftsteller-Verbandes konnte ich an allen Sitzungen seines Führungsgremiums teilnehmen. Ich kann bezeugen, daß jeder, der sich als Kommunist bekannt hätte, hinauskomplimentiert worden wäre und daß selbst dem Wort „Sozialismus“ ein scheußlicher Beiklang anhaftete. Hätte jemand vorgeschlagen, die Fabriken ihren früheren Besitzern zurückzugeben, wäre er aus dem Fenster geflogen. Der Arbeiterrat vertrat die Auffassung, daß die Werktätigen selbst die Betriebe besitzen und verwalten müßten. Heute mag man über den utopistischen Pathos der Revolution lächeln. In der Ära der Globalisierung und der wissenschaftlich-technisch-industriellen Revolution stellt sich die Wettbewerbsfähigkeit der erprobten Formen des öffentlichen Eigentums als verschwindend gering dar. Trotzdem denke ich, daß dieser Ausbruch der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gleichheit von seelisch-moralischen Bedürfnissen zeugte, die zwar verdrängt, nicht aber für immer begraben werden können. Das derzeit armselige Ideologie- Angebot wird, mit den in den entwickeltsten Ländern erfahrbaren antisozialen gesellschaftlichen Tendenzen, in immer breiteren Schichten die Sehnsucht nach einer radikalen Andersartigkeit wecken. Und Sehnsüchte dieser Art erzeugen immer wieder Kontinuitäten mit Momenten vergangener Revolutionen. Das Zukunftsbild der ungarischen Revolution war aus heutiger Sicht naiv und utopistisch. Doch die Mentalität dieser kurzen Epoche beschenkte die dafür Empfänglichen mit unvergeßlichen Beispielen einer wahrhaftigen Citoyen-Moral. Auslagen mit zerbrochenen Scheiben, aus denen niemand etwas mitnahm; in Kisten, mitten auf der Straße, häuften sich Geldspenden für die Angehörigen der Gefallenen an. Einige Wochen lang regierte eine Moral, die vom Gefühl menschlicher Zusammengehörigkeit und nicht vom materiellen Interesse diktiert wurde. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1990 wurde klar, daß das neue Zeitalter mit jener Revolution nichts mehr gemein hatte. Wir betrauern die Opfer der Kádárschen Vergeltung, doch gegenüber den Überlebenden verteidigen wir die Persönlichkeitsrechte der Spitzel. Die Neutralität gilt als retrogrades Prinzip, denn wir laufen mit den übrigen Ländern der Region dem Zielband Nato entgegen um die Wette. Der Kapitalismus ist nicht nur lebensfähiger als der Sozialismus, seine neuen Anhänger sind auch aus ästhetischen Gesichtspunkten geradezu verrückt nach ihm. Wer ihn hingegen für häßlich hält, rechtfertigt sogar die gesetzlosen Aktionen der neuen Haie. Wenn ein Prozeß historisch notwendig ist, dann ist ein sentimentaler Esel, wer seine Scheußlichkeiten nicht akzeptiert. Denn je widerwärtiger dieser Prozeß verläuft, desto schneller wird wahr, wonach wir alle so dürsten. So wurde das, was im Sommer 1989 legitimierende Ursache war, zum Alibi des Machtwechsels, und selbst dieses Alibi wird verwässert. Die erste frei gewählte rechts-nationale Regierung unter Antall setzte es 1990 durch, daß nicht das Wappen der Revolution, sondern das mit der Krone und dem Doppelkreuz, das an groß-ungarische Reichs-Ambitionen erinnert, zum wichtigsten Symbol des Landes bestimmt wurde. Die Gedenkfeiern für 1956 erhielten in diesen Jahren eine revanchistische Tönung, etwas, was der Revolution komplett fremd war. Heute, nach dem Regierungswechsel im Jahr 1994, provoziert der Feiertag auf andere Weise. Staatspräsident Arpád Göncz, der nach 1956 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, trifft beim Kranzniederlegen auf Ministerpräsident Guyla Horn, der nach der Niederschlagung der Revolution in jene Arbeiter-Miliz eintrat, die halb Ungarn niedergummiknüppelte, und auf Parlamentspräsident Zoltán Gál, der im Endstadium des Parteistaates Vize-Innenminister war. In jener Zeit, als ein bedeutender Teil der Akten des Innenministeriums vernichtet wurde. Das ist auch dann peinlich, wenn Horn persönlich nicht geprügelt, Gál die Aktenverbrennung nicht persönlich angeordnet hat. Das Leben, das ein Wildwestkapitalismus mit zunächst feudal-gentryhaftem, dann apparatschikhaftem Ruch durchdringt, erinnert an die Zügellosigkeit der ursprünglichen Kapital- Akkumulation und schlägt immer weniger natürliche Brücken zum Gedenktag der Revolution. 1956 existierte und existiert weiter Sollen wir ihn also als reines Geschichtsdatum auffassen? Die ungarische Revolution zeigte seit Kronstadt erstmals über längere Zeit hindurch auf, daß die Arbeiter den Sowjet-Sozialismus nicht wollen. Das habe ich auch schon 1956 klar gesehen. Als János Kádár behauptete, daß die Arbeiterklasse nicht gegen ihre eigene Macht revoltieren kann, wir es also mit einer Konterrevolution zu tun hätten, setzte ich seiner Argumentation als guter Marxist eine Erfahrungstatsache entgegen. Die Arbeiterklasse hat revoltiert. Nachdem es unmöglich ist, daß eine Klasse gegen ihre eigene Macht revoltiert, hat es in Ungarn keinen Sozialismus geben können. Falls doch, dann hatte man vergessen, der Arbeiterklasse mitzuteilen, daß sie an der Macht ist. Diese kritisch-ironische Betrachtungsweise machte in den Jahrzehnten nach 1956 in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion Karriere und trug zum Sturz des totalitären Pseudosozialismus entscheidend bei. Doch noch mal: Was sollen wir heute mit den historischen Erfahrungen von 1956 anfangen? Wenn ich um jeden Preis eine Antwort geben wollte, würde ich am liebsten aus meinem Artikel zitieren, den ich aus Anlaß des 30. Jahrestages der Revolution für eine Samisdat-Zeitung verfaßte: „1956 existierte und existiert weiter, trotz seiner Andersartigkeit, weil es Teil eines revolutionären Gebirgszuges ist. Im Leben der Nation besteht jedoch nur dann eine Aussicht auf eine Fortsetzung, wenn es jenen, die diesen Jahrestag als Feiertag begreifen, gelingt, diese märchenhafte Wirklichkeit organisch in ihr Leben einzugliedern.“ Dieses würde nicht leichtfallen, fügte ich hinzu. Auch heute ist es nicht leicht, denn die politische Freiheit, in der wir seit 1989 zum Glück leben, legitimierte zwar die Revolution neu, würde aber am liebsten das Andenken an sie trotz aller Hochachtung in die Rumpelkammer sperren. Aus diesem Grunde ist dieser schöne runde Jahrestag so peinlich. István Eörsi, 1931 in Budapest geboren, Schriftsteller, war nach dem Aufstand von 1956 fast vier Jahre in Haft.
Istvan Eörsi
Vor 40 Jahren gingen die Ungarn auf die Straße. Gegen die Parteidiktatur und sowjetische Besatzungsmacht. Nach der Wende im Jahre 1989 reklamierten Ungarns neue Machthaber das Erbe des Aufstands für sich. Doch die Revolutionäre von 1956 wollten keine Restauration des Kapitalismus  ■ Von István Eörsi
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,314
Historikerin über die Firma Pelikan im NS: „Hakenkreuze retuschiert“ - taz.de
Historikerin über die Firma Pelikan im NS: „Hakenkreuze retuschiert“ Die Historikerin Annemone Christians soll die Firmengeschichte des hannoverschen Schreibwaren-Herstellers Pelikan aufarbeiten. Aufmarsch von Pelikan-Mitarbeiter*innen im Jahr 1938 Foto: Pelikan-Archiv taz: Frau Christians, an was denken Sie, wenn Sie heute einen Pelikan-Füller zur Hand nehmen? Annemone Christians: Das löst in mir eine positive Erinnerung aus, weil ich damit Schreiben gelernt habe. Wer Dr. Oetker-Produkte anrührt oder sich ein Hugo Boss-Hemd kauft, hat es ebenfalls mit Produkten von Unternehmen zu tun, die sich lange sehr schwer mit der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit taten. Pelikan ist allerdings noch später dran. Woran liegt das? Ein Grund ist, dass der Bereich der Zwangsarbeit bei Pelikan in Teilen schon erforscht worden war. Damit war wohl aus Unternehmenssicht eines der heißesten Eisen bereits angefasst. im Interview:Annemone ChristiansFoto: privatAnnemone Christians, 36, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München (IfZ), wo sie im Projekt „Das Private im Nationalsozialismus“ arbeitete. Seit 2017 ist sie am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig, an dem sie auch promoviert wurde. Haben Sie bei Ihren historischen Forschungen, mit denen Sie das Unternehmen nun beauftragt hat, weitere gefunden? Überraschend war für mich das große Ausmaß, in dem Pelikan in die Kriegswirtschaft eingebunden war. Pelikan produzierte unter anderem Patronen- und Granathülsen, deswegen ist meine Studie unter dem Titel „Tinte und Blech“ erschienen. Musste, damit das passiert, mit Claudio Esteban Seleguan erst jemand den Vorstandsvorsitz der Pelikan AG übernehmen, der selbst aus einer Verfolgten-Familie stammt? Herr Seleguan, ein Urenkel des jüdischen Conti-Chefs Siegmund Seligmann, hat die Aufarbeitung natürlich gefördert. Ausschlaggebend war jedoch, denke ich, ein Anstoß von Außen: die sehr engagiert geführte Diskussion um eine Umbenennung der Fritz-Beindorff-Allee. Da musste und wollte das Unternehmen aktiv werden und hat das Institut für Zeitgeschichte mit der Studie beauftragt. Pelikan, Beindorff und die VergangenheitDie 1832 gegründete Tinten- und Farbenfirma vergrößerte ihre Belegschaft zwischen 1933 und 1938 von 2.410 auf 3.701 Mitarbeiter*innen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden sie zu großen Teilen durch Zwangsarbeiter*innen ersetzt.Nicht nur in Hannover produzierte Pelikan, sondern auch in besetzten Ländern wie den Niederlanden und Polen. Dort übernahm Pelikan zwei „arisierte“ Betriebe. Bereits 1937 hatte die Firma auch von „Arisierungen“ in Hannover profitiert.Fritz Beindorff kam 1881 als Handelsvertreter zur Firma, heiratete die Tochter des Chefs und war ab 1895 Alleininhaber. 1916 war er Mitbegründer der Kestner-Gesellschaft, 1931 wurde die Fritz-Beindorff-Allee nach ihm benannt.Im November 1932 unterzeichnete Beindorff eine Eingabe von Industriellen und Bankiers an den Reichspräsidenten, die die Ernennung Hitlers zum Kanzler forderte. In Gegensatz zu seinen Söhnen wurde er dennoch – soweit bekannt – nicht Parteimitglied. Seit 1940 ist er Ehrenbürger von Hannover.Die Umbenennung der Beindorff-Allee empfahl 2015 ein vom hannoverschen Stadt­rat eingesetzter Beirat – als eine von zehn unter 497 untersuchten Namensgebungen.Mit einer Unternehmensstudie beauftragte Pelikan daraufhin die Münchener Historikerin Annemone Christians vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) , die nun unter dem Titel „Tinte und Blech“ veröffentlicht wurde. Und was haben Sie zu Beindorff, dem damaligen Pelikan-Chef, herausgefunden? Beindorff war ein überzeugter Bewunderer von Adolf Hitler, vor allem von dessen Wirtschaftspolitik, zugleich ein sozial und kulturell sehr engagierter Unternehmer, der explizit avantgardistische Künstler unterstützte. Kurt Schwitters zum Beispiel beauftragte er mit der Gestaltung von Werbeplakaten, auch El Lissitzky. Dokumentiert ist zudem, dass Beindorff Klaus Seligmann half, als jüdischer Flüchtling in Bue­nos Aires Fuß zu fassen. Das ist für die Firmenüberlieferung auch deswegen relevant, weil dessen Sohn der schon erwähnte heutige Vorstandsvorsitzende von Pelikan ist. Aber wie ging die Firma damals mit ihren jüdischen Mitarbeitern um? Das hat mich auch sehr interessiert, weil es ja durchaus Unterschiede dabei gab, wie schnell Firmen ihre jüdischen Mitarbeiter entlassen haben. Aber leider konnte ich dazu in den noch vorhandenen Firmenakten überhaupt nichts finden. Solche Lücken gehören zu den frustrierenden Erfahrungen bei der Pelikan-Studie. Haben Sie den Eindruck, dass Akten absichtlich vernichtet worden sind? Das kann ich nicht definitiv sagen, es gibt ja auch Verluste bei Umzügen und anderen Gelegenheiten. Aber der Umstand, dass die Lücken insbesondere in den 1930er- und 1940er-Jahren liegen, ist nicht zu übersehen. Interessant war der Fund des Bildes von einer großen Firmenfeier, das in zweifacher Ausfertigung existiert. Einmal mit opulentem Hakenkreuz-Schmuck und dann in einer Unternehmenschronik aus der Nachkriegszeit, aus der die Hakenkreuze akribisch heraus retuschiert worden sind. Angesichts der Lücken in den Quellen ist es nach Ansicht von Fritz Beindorff junior, dem Urenkel des Patriarchen, nicht möglich, zu einer „Verurteilung“ Beindorffs wegen dessen Rolle in der NS-Zeit zu kommen. Deswegen sei es auch „völlig unangemessen“, die Beindorff-Allee umzubenennen. Können Sie diese Schlussfolgerung nachvollziehen? Den Wunsch eines Nachkommens, das familiäre Erbe nicht beschädigt zu sehen, kann ich durchaus nachvollziehen. Allerdings sind die Lücken in der Überlieferung durchaus nicht so groß, dass man nichts Belastendes über Beindorffs Rolle sagen könnte. Man muss davon ausgehen, dass er über die zum Teil schlimmen Umstände Bescheid wusste, unter denen die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen – in ihrer Mehrheit polnische und ukrainische Frauen – in seinen Werken arbeiten mussten. Beindorff junior vertritt öffentlich die Ansicht, dass „die meisten Firmen“ Zwangsarbeiter hatten und sogenannte Arbeitserziehungslager (AEL) betrieben. Für Hannover sind nur zwei dieser besonders harten Lagerarten, die AEL, nachgewiesen – beide lagen auf einem Gelände der Pelikanwerke. Über die Zustände dort gibt es drastische Zeitzeugenberichte. Nach dem Krieg betonte das Unternehmen jedoch, dass seine AEL nicht, wie es sonst überwiegend der Fall war, unter Gestapo-Aufsicht standen, sondern von eigenen Leuten bewacht wurden. Stimmt das? Es lässt sich nachweisen, dass einer der Lagerführer ein Firmenmitarbeiter war. Und es sind Stellenanzeigen belegt, mit denen Pelikan nach Wachpersonal suchte. Hat Beindorff ein ehrendes Gedenken verdient? Das ist eine Entscheidung, die in der Konkretion der Straßenbenennung politisch getroffen werden muss – und auf die ich selbst sehr gespannt bin.
Henning Bleyl
Die Historikerin Annemone Christians soll die Firmengeschichte des hannoverschen Schreibwaren-Herstellers Pelikan aufarbeiten.
[ "NS-Forschung", "Hannover", "Nationalsozialismus", "Nord", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,315
Gurke des Tages - taz.de
Gurke des Tages ■ betr.: Eidgenössische Pulververwaltung Wie vom Donner gerührt waren die Schweizer Automobil-Importeure, als ihnen zum Jahresende ein Schreiben der Eidgenössischen Pulververwaltung ins Haus flatterte: Darin wurde angekündigt, daß im neuen Jahr für jede Zündkapsel, die in Auto- Airbags eingebaut ist, eine Gebühr von mindestens zehn Franken zu entrichten sei. Der Mini-Sprengsatz sorgt dafür, daß sich der Airbag bei einem Unfall blitzartig aufbläst. Die Pulververwaltung ist eine Unterabteilung der Eidgenössischen Kriegsmaterialverwaltung und gehört zum Verteidigungsministerium. Übrigens wird in dem Brief davon gesprochen, daß die Zündkapsel auch für Autos bewilligungspflichtig ist, die im Transit durch die Schweiz fahren.
taz. die tageszeitung
■ betr.: Eidgenössische Pulververwaltung
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,316
Geisel verlässt Jolo - taz.de
Geisel verlässt Jolo Philippinische Rebellen lassen einen zweiten Malaysier frei. Außenminister Fischer wird in Manila eine friedliche Lösung des Geiseldramas zugesagt aus Manila HUGH WILLIAMSON Die separatistischen Geiselnehmer auf der südphilippinischen Insel Jolo haben gestern eine weitere malaysische Geisel frei gelassen. Der Polizist Abdul Jawa Selawat verließ nach Angaben eines Mittelsmanns bereits in der Nacht zu gestern das Geiselcamp auf der Insel Jolo und wurde auf die Nachbarinsel Basilan gebracht. Heute soll er Malaysias Behörden übergeben werden. Für die Freilassung wurden keine Gründe genannt. Beobachter halten eine Lösegeldzahlung für wahrscheinlich. „Viel Geld muss geflossen sein, aber die Umstände sind nicht bekannt“, sagte ein europäischer Diplomat in Manila. „Das zeigt, dass Bewegung im Entführungsfall ist, aber heißt auch, dass die Kidnapper jetzt mehr Geld haben und länger durchhalten können.“ Selawat ist die zweite malaysische Geisel, die freigelassen wurde. Vor drei Wochen kam ein Landsmann ebenfalls gegen ein mutmaßlich hohes Lösegeld frei. Die Freilassung wurde in Manila erst bekannt, als Bundesaußenminister Joschka Fischer schon nach Bangkok abgereist war. Dort äußerte er sich enttäuscht, dass nicht alle Geiseln frei seien. Für Fischer steht die Freilassung nicht im Zusammenhang mit seinem gemeinsamen Manila-Besuch mit dem französischen und dem finnischen Amtskollegen. Fischer, Hubert Védrine und Erkki Tuomioja waren am Donnerstag nach Manila gereist, um die dortige Regierung zu einer friedlichen Lösung des Geiseldramas zu drängen. Dies sicherte ihnen die philippinische Regierung auch zu. In den vergangenen Wochen hatten die Zeichen auf ein gewaltsames Vorgehen gedeutet. Unter den zum Teil seit dem 23. April gefangenen knapp 40 Geiseln stellen Deutsche, Franzosen und Finnen die größte nichtasiatische Gruppe. Details über ihre Gespräche mit Präsident Joseph Estrada und Kabinettsmitgliedern nannten die Außenminister nicht. „Es gab viel Neues, aber darüber möchte ich nicht sprechen. Das wäre im Interesse einer Lösung der Krise nicht weise“, sagte Fischer. Er dementierte frühere Berichte, dass er zusätzliche Entwicklungshilfe für die Südphilippinen im Tausch gegen die Geiseln angeboten habe. Die philippinische Vizepräsidentin Gloria Macapagal-Arroyo hatte Anfang des Monats berichtet, Fischer habe ein solches Angebot am Rande einer internationalen Konferenz in Polen gemacht. Finnlands Außenminister Toumioja verteilte einen Brief der finnischen Geisel Risto Vahanen vom 8. Juli. Darin heißt es, die Geiseln lebten unter „miserablen und inhumanen Umständen“. Viele seien krank, einige stünden kurz vor dem Selbstmord. Zum Schicksal der entführten Journalisten, dem Deutschen Andreas Lorenz und einem dreiköpfigen französischen Fernsehteam, äußerten sich die Minister nicht. kommentar SEITE 11
HUGH WILLIAMSON
Philippinische Rebellen lassen einen zweiten Malaysier frei. Außenminister Fischer wird in Manila eine friedliche Lösung des Geiseldramas zugesagt
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,317
Dem Rocker an den Kragen: Hells Angel angeklagt - taz.de
Dem Rocker an den Kragen: Hells Angel angeklagt Noch vor kurzem engagierten in Walsrode öffentlich geförderte Vereine seine Firmen, jetzt klagt die Staatsanwaltschaft die Rotlicht- und Hells Angels-Größe Wolfgang Heer an. Razzien im Rotlichtmilieu: Ermittler des Landeskriminalamts (LKA) durchsuchen ein Bordell in Walsrode. Bild: dpa HANNOVER taz | Wegen ausbeuterischer und dirigistischer Zuhälterei hat die Staatsanwaltschaft Verden Anklage gegen den Walsroder Bordellbetreiber und Schatzmeister der Hells Angels Deutschland, Wolfgang Heer, erhoben. Hintergrund ist eine Razzia aus dem vergangenen August, bei der 140 Polizeibeamte zeitgleich sieben Bordelle, drei Wohnungen, drei Geschäftsräume und mehrere „Lovemobile“ in Walsrode und Umgebung durchsucht hatten. Damals ermittelte die Staatsanwaltschaft noch wegen Menschenhandels und Insolvenzverschleppung gegen neun Personen aus der Rocker-Szene. Diese Vorwürfe wurden zwischenzeitlich fallen gelassen, zu einer Anklage wegen ausbeuterischer Zuhälterei kam es nur gegen Heer, zwei weitere Beschuldigte und einen Gehilfen. 57 Frauen führt der Sprecher der Verdener Staatsanwaltschaft, Lutz Gaebel, als Geschädigte an. Die meisten von ihnen Osteuropäerinnen, die nur schlecht oder gar kein Deutsch sprechen. Heer und seine Mitbeschuldigten sollen die Frauen laut Gaebel zur Prostitution angehalten und zugleich Gründe geschaffen haben, „ihnen das Geld, das sie erarbeitet haben, gleich wieder wegzunehmen“. So sollen ihnen Kleidungsvorschriften, Arbeitszeiten und -orte oder die Preisgestaltung vorgegeben worden sein. Wer sich nicht daran gehalten hat, habe Strafgeld zahlen müssen. „Die Frauen waren nicht frei in ihrer Berufsausübung“, sagt Gaebel. Insgesamt sei der Großteil ihres Lohns einbehalten worden. Für die sogenannten Lovemobile etwa müssten sie Miete zahlen, selbst Transportfahrten dorthin hätten sie wie Taxifahrten bezahlen müssen. Die Rocker-VerbotsfrageDie Hells Angels werden der organisierten Kriminalität verdächtigt, seit 2009 werden ihnen vier Tötungsdelikte zugeschrieben.In Kiel und Aachen wurden Ende Januar die lokalen Hells Angels-Gruppen verboten.Niedersachsens Innenministerium will ein Verbot erst anstreben, wenn gerichtsfeste Erkenntnisse gegen Mitglieder vorliegen. Heer selbst bestreitet die Vorwürfe gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und nennt die Anklage einen „großen Lacher“. „Ich weiß gar nicht, was die wollen“, lässt er sich zitieren. Bis auf zwei Frauen würden alle der 57 Geschädigten noch heute bei ihm arbeiten. Dem Prozess, bei dem ihm bis zu fünf Jahren Haft drohen, sehe er „gelassen“ entgegen. An seinem Image als Wohltäter in der Kleinstadt Walsrode aber dürfte die Anklage kratzen: In Walsrode und Umgebung beherrscht Heer nicht nur das Rotlichtgeschäft, gemeinsam mit seiner Familie hat er ein ganzes Firmengeflecht mit Bowlingcenter und Fitnessstudio aufgebaut. Bei örtlichen Vereinen und Institutionen tritt er als zahlungsfreudiger Spender auf. Ein streitbares Engagement, das vor allem der Walsroder Grünen-Ratsherr Detlef Gieseke seit 2010 immer wieder zur Sprache gebracht hat. Das Gros der Stadtoberen hingegen hat sich erst nach monatelanger Diskussion klar positioniert. Auch die parteilose Bürgermeisterin Silke Lorenz hielt die Frage, ob man mit Hells Angels-Mitgliedern kooperiert, lange Zeit für eine „Frage, die jeder mit sich selbst ausmachen muss“. Erst Ende 2011 sprach sich der Stadtrat in einer Resolution gegen eine Zusammenarbeit mit „Clubs, deren Ziele und Einstellungen der Rat nicht teilt“ aus. Zuvor war die Sicherheitsfirma GAB Security, die Heer und dem Hannoveraner Hells Angels-Chef Frank Hanebuth gehört, neben dem örtlichen Fußballverein auch vom kommunal geförderten Stadtmarketing-Verein engagiert worden. Die Konzertreihe „Walsroder Mittwoch“ etwa hat der Förderverein Stadtmarketing noch im vergangenen Sommer von Heers Securityleuten bewachen lassen. In diesem Jahr will der Verein zwar auf deren Dienste verzichten. Heer und seine Familie mischen bei den „Walsroder Mittwochen“ trotzdem wieder mit. Für Anfang August ist die Bremer Band „Hells Balls“ – englisch für Höllen-Hoden – angekündigt. Ausrichter des Abends: das „Collosseum Bowling“-Center. Geschäftsführer dort: Heer junior.
Teresa Havlicek
Noch vor kurzem engagierten in Walsrode öffentlich geförderte Vereine seine Firmen, jetzt klagt die Staatsanwaltschaft die Rotlicht- und Hells Angels-Größe Wolfgang Heer an.
[ "Nord", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,318
Neidisch auf die Superjobs - taz.de
Neidisch auf die Superjobs Die Welt der studentischen Aushilfskräfte ist ebenso vielfältig wie ungerecht: Die einen verkaufen Brötchen, die anderen assistieren beim Radio von HELENE BUBROWSKI Samstag, halb sechs Uhr früh. Eine Zeit, zu der einige Kommilitonen erst nach Hause kommen, andere sich in ihren Betten wälzen, in der Gewissheit, dass noch fünf Stunden Schlaf vor ihnen liegen. Es ist noch dunkel und auf dem Fahrrad ziemlich kalt. Doch die Bäckerei ist nicht weit von zu Hause entfernt. Tür aufschließen, die weiße Schürze umbinden und die Kaffeemaschine anwerfen. Noch acht Stunden bis Feierabend. Warten, erst kommt keiner, dann alle auf einmal, um 12 geht der erste Kuchen weg. Bäckereiverkäufer ist ein unbeliebter Job. Die Bezahlung ist schlecht, die Zeiten sind ungünstig, die morgendlichen Kunden mies gelaunt. Dazu kommen schmerzende Beine, klebrige Hände und immer der süsse Geruch von Kuchen in der Nase. Der Job rangiert in der Beliebtheitsskala wahrscheinlich so kurz vor Regaleinräumen im Supermarkt, aber weit hinter dem Anrufebeantworten im Callcenter. Aber solche Jobs verlangen keine Fremdsprachenkenntnisse, kein Know how in Computer und keinen Führerschein. Da blickt man neiderfüllt auf die Kommilitonen mit den Superjobs. Klar, die sind eben besser qualifiziert oder hatten mehr Zeit und Geduld bei der Suche. Da wäre beispielsweise die Arbeit bei den öffentlich rechtlichen Sendern, beispielsweise beim NDR. Entweder als Assistent am Dreh oder als stellvertretende Sekretärin in der Redaktion. Beides ist zwar etwas stressig, aber auch interessant. Da laufen alle möglichen Leute rum, deren Gesichter jeder aus dem Fernsehen kennt. Außerdem ist die Arbeit gut bezahlt. Vor allem am Dreh ist die Dispositionszeit, also die Stundenzahl, die veranschlagt und bezahlt wird, oft das doppelte der tatsächlich gearbeiteten Stunden. Einziger Nachteil: Der NDR lässt jeden Studenten nur ein Jahr lang arbeiten; sonst würde ein Recht auf ein festes Arbeitsverhältnis entstehen. Solche Jobs sind rar. Doch nicht verzagen. Angebote gibt es nicht nur an schwarzen Brettern und in der Zeitung. Auch der Asta hat auf seiner Homepage (www.asta.uni-hamburg.de) eine Jobbörse. Und da werden neben Nachhilfe oder Umzugshilfe als Job auch mal Übersetzer, Fotomodelle oder Weinverkäufer gesucht. Außerdem bietet das Arbeitsamt eine studentische Jobvermittlung an (Kurt-Schumacher-Allee 16, ☎ 2485-1303, -2151, -2156, -2162 oder Mail: Hamburg.Studentenvermittlung@arbeitsamt.de). Dort gibt es auch ganz kurzfristig Ein-Tages-Jobs. Doch die beginnen mitunter früh um halb sechs.
HELENE BUBROWSKI
Die Welt der studentischen Aushilfskräfte ist ebenso vielfältig wie ungerecht: Die einen verkaufen Brötchen, die anderen assistieren beim Radio
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,319
Geiseln aus Gewalt von Rebellengruppe befreit - taz.de
Geiseln aus Gewalt von Rebellengruppe befreit PERU Der Leuchtende Pfad hielt die Entführten bis zu dreißig Jahre in einem Dschungelgebiet fest LIMA ap | Sicherheitskräfte in Peru haben 54 Menschen aus der Gewalt der Rebellenorganisation Leuchtender Pfad befreit. Unter ihnen waren 34 Kinder. Einige der Erwachsenen seien vor 20 bis 30 Jahren von den Aufständischen aus der Stadt Puerto Ocopa und umliegenden Orten verschleppt worden, sagte der Chef der Anti-Terror-Polizei, José Baella, am Samstag. Die Geiseln hatten demnach in mehreren Lagern in einem überdachten Areal eines abgelegenen Dschungelgebiets in der Provinz Pangoa gelebt. Dort seien die Frauen dazu missbraucht worden, Kindersoldaten für die Guerillakämpfer zu gebären, sagte Baella. Das älteste Kind war demnach 14 Jahre alt. Zudem mussten die Frauen Feldfrüchte anbauen. Auf die Spur der Kidnapper kamen die Sicherheitskräfte durch zwei junge Deserteure des Leuchtenden Pfads, die sie in die Lager geführt hatten. Eine Spezialeinheit aus Soldaten und Polizisten habe die Geiseln dann diese Woche bei Helikoptereinsätzen gerettet, sagte Baella. Nach Jahrzehnten seien einige der Entführten wieder mit ihren Verwandten vereint worden. Die Geiseln würden derzeit medizinisch behandelt und dann von Staatsanwälten in einer Polizeiwache in der Stadt Mazamari befragt, teilte Baella weiter mit. Den Medien würden sie jedoch zunächst nicht präsentiert. Der jüngste Einsatz hat die ohnehin angeschlagenen Rebellen vom Leuchtenden Pfad aus Sicht von Baella weiter geschwächt. Experten schätzen, dass die Gruppe inzwischen nicht mehr als 200 Kämpfer hat. Ihr letzter Zufluchtsort befinde sich an der Grenze zum größten Kokain-Anbaugebiet in Peru, der Region um Apurímac, Ene und dem Mantaro-Flusstal. Haupt­einnahmequelle der Rebellen ist der Kokainhandel. Erst im vergangenen Jahr wurde gegen zwei Anführer des Leuchtenden Pfads – die Gebrüder Victor und Jorge Quispe Palomino – in den USA Anklage erhoben, unter anderem wegen Planung von Terrorattacken auf die Anti-Drogen-Polizei.
taz. die tageszeitung
PERU Der Leuchtende Pfad hielt die Entführten bis zu dreißig Jahre in einem Dschungelgebiet fest
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,320
Kolumne Ich meld mich: Hinterm Horizont geht’s immer weiter - taz.de
Kolumne Ich meld mich: Hinterm Horizont geht’s immer weiter Es zieht uns ans Meer. Sanft laufen die Wellen an der Küste auf. Und dann, im nächsten Moment schon sind sie unberechenbar und zerstörerisch. Wenn das Meer nicht mehr atmet, weiß keiner mehr, dass es uns gab Foto: imago/Westend 61 Was zieht uns ans Meer? Was für eine Frage – wir wollen Sonne tanken, Sand zwischen den Zehen spüren und viel knusprig braune Haut vorzeigen. Aber wir möchten auch Salzluft schnuppern, kilometerweite Spaziergänge unternehmen und jede Menge Fisch und Krabben essen. Das Versprechen von Vergnügen und Gesundheit ist es, was uns ans Meer lockt. Ein guter Ort für Party und Relaxen. Alles andere, was hineingeheimnist wird, ist pure Spinnerei. Zugegeben, wenn wir am sehr frühen Morgen hinausblicken auf das graue, weite Wasser, dann überkommt uns schon auch mal leichtes Befremden. Zu groß, zu viel, zu weit ist dieses Meer. Eine Menge Wasser. Und so gar nicht zu fassen. Ein Berg ist erstiegen, wenn wir auf dem Gipfel stehen. Dann kommt der nächste, man kann sie abhaken. Mit dem Meer aber werden wir nie fertig. Hinterm Horizont geht’s weiter. Und weiter. Und immer weiter. Und, ja: Eine leichte Unsicherheit schwingt stets mit, wenn wir am Meer sind. Denn auf dieses Meer ist kein Verlass. Greifen einmal keine Haie im hüfthohen Wasser an, treiben sicher Quallen in die Bucht. Und vielleicht lauert er ja tatsächlich da draußen, der mörderische „Schwarm“, den Frank Schätzing auf die Welt losgelassen hat. An unseren Strandabschnitt kommt er natürlich nicht. Doch das glaubten wir auch von rebellischen Fluten. Bis wir das Wort „Tsunami“ nachschlagen mussten. Ein Monster ist dieses Meer, das sich den Bauch vollgeschlagen hat mit Unsäglichem: Seeschlangen, Wasserleichen, Plastiknetze, Torpedos, Teer. Und jederzeit ist es bereit, das eine oder andere auszukotzen. Es ist zu fremd, dieses Meer. Zu sprunghaft. Zu undurchsichtig. Es gibt Gründe über Gründe, sich fernzuhalten von jeder Küste. Die Wiege des Lebens Und doch: Es ist immer wieder auch tröstlich, ans Meer zurückzukehren. Hier sind wir, wo wir hingehören. Von hier kamen wir, hier ist die Wiege des Lebens. Das Schwappen der Wellen begleitet uns wie ein sanfter Herzschlag, der Kreislauf der Gezeiten ist der Kreislauf des Daseins. Das Meer erinnert uns, dass wir noch teilnehmen. Wenn das Meer nicht mehr atmet, weiß keiner mehr, dass es uns gab. Ach, dieses Meer. Es hat soviel kommen und gehen sehen, sagen wir. Es ist ein Versprechen auf steten Wandel. Und zugleich unsere Hoffnung auf Ewigkeit. Wie unbedeutend wir sind, neben dem Millionen Jahre alten Tosen. Das Meer ist Grab, Whirlpool, Schatzkammer – und es hat uns menschliche Schwachköpfe jahrhundertelang dazu verführt, bibliothekenweise sentimentales Zeug abzusondern. Warum kommt man nicht ohne Pathos aus, wenn man vom Meer redet? La Paloma, oje. Schluss damit. Noch einen Mojito! Gleich geht sie unter, die Sonne. Schickt wieder dieses kupferne Leuchten herüber. Hämmert Millionen von Goldplättchen aufs Wasser wie einen glitzernden Panzer. Ach, Mensch. Es macht uns fertig, das Meer.
Franz Lerchenmüller
Es zieht uns ans Meer. Sanft laufen die Wellen an der Küste auf. Und dann, im nächsten Moment schon sind sie unberechenbar und zerstörerisch.
[ "Meer", "Herkunft", "Reise", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,321
Die Geheimnisse von Madrid - taz.de
Die Geheimnisse von Madrid Von harmlosen Kichererbsen in der Schüssel über die Mortadella des Ekels und die Blutwurst des Reims bis hin zu durchgetrennten Kehlen und abgeschnittenen Ohren: Stadtromane aus Spanien  ■ Von Katharina Döbler Wie viele Dinge gehen in eine Truhe! Fast ein Universum, das Universum, das zur Diskussion steht und von dem wir alle Beweise und Abschnitte gesammelt haben, falls es einmal rekonstruiert werden sollte.“ Das Fast-Universum, von dem hier die Rede ist, ist die Stadt Madrid, wie sie vor dem Bürgerkrieg war; und die gesammelten Beweise und Abschnitte, aus denen es rekonstruiert wird, sind die erinnerten Beobachtungen eines professionellen Flaneurs. Magisch Ramón Gómez de la Serna, eine der schillerndsten Gestalten der zwanziger und frühen dreißiger Jahre in Madrid, war ein echter Vielschreiber, der neben unzähligen Zeitungsartikeln angeblich über 150 Bücher verfaßt hat. Gómez de la Serna — oder schlicht Ramón, wie er sich in kokettem Understatement selbst zu nennen pflegte — wird in Deutschland in den letzten Jahren gerade erst wiederentdeckt. Zum Beisiel als Erfinder der greguerias. In diesen hübschen kleinen Gedankenschleifen aus verblüffenden Verknüpfungen und poetischen Einfällen konzentriert sich sein äußerst eigenwilliger Stil, überreich an sich verselbständigenden Metaphern; seine Spuren lassen sich bis in die lateinamerikanische Gegenwartsliteratur hinein verfolgen. Don Ramón ging, wie so viele seiner Generation, ins Exil nach Buenos Aires, wo er 1963 starb. Dort entstanden eben jene „Nostalgias de Madrid“, sein Heimwehbuch über die jenseits des Atlantiks versunkene Stadt. Als Summe aller aus der erwähnten Truhe zutage geförderten magischen „Abschnitte“, in denen Straßen, Plätze, Theater und Parks vermerkt sind, entsteht die innere Textur einer Stadt, die zugleich eine Befindlichkeit ist, ein steinerner Zustand, ein Lebensgefühl: „Madrid ist eine Ecke im Wind, in der Kälte und der Sonne der Gerechtigkeit, ist ein junger Mann mit Mütze oder ohne, der auf niemanden wartet, denn er steht Wache für den Fall, daß uns das Ausländische überfällt.“ Dem Madridisten Ramón ist jeder Anlaß — ein Musikpavillon, das Geräusch von Kichererbsen in einer Schüssel — recht, um seinem geschriebenen Stadtplan noch eine Schraffierung, einen weiteren Schatten, ein paar schräge Striche hinzuzufügen. Und weil „der Witz etwas sehr Ernstes ist, das den Menschen verändern kann“, ist sein Madrid auch die Summe aller Witze, die man über eine Stadt, ihre Häuser, deren Bewohner und ihre alltäglichen Gebrauchsgegenstände machen kann. Ein bißchen Staub angesetzt hat sie aber doch, Don Ramóns poetische Magie des Gestern, in der ein langstieliger Löffel ebenso wie die traditionelle Spitzengardine schwer an der Patina ihrer Bedeutungen tragen. Das Madrid von heute, die Hauptstadt der — schon wieder dahingegangenen — movida, das neueuropäische Madrid, wird man in den „Nostalgias“ kaum wiedererkennen. Städte, möglicherweise, waren 'damals‘ noch etwas anderes. Wie das Gemurmel in einer Muschel rauschen Ramóns geistreiche Beschwörungsformeln Grüße aus alten Zeiten, wo die Leute sich nur aus dem Fenster beugen mußten, um per Telepathie Neuigkeiten zu erfahren. Die Stadt war noch reich an Geheimnissen: hier „ein unveröffentlichtes Stück Weg“, das es zu entdecken gilt, dort die Majestät der Balkone („Grandseigneure der Kontemplation“) und wieder woanders die unwiderstehliche Anziehungskraft der Plaza del Oriente — auf einem seiner „Bänke Platz zu nehmen, übertraf alle Begräbnisse“. Echte Don-Ramón-aficionados werden in diesem Buch vielfach Gelegenheit haben, beim Entdecken einer gelungenen gregueria begeistert aufzujuchzen. Leider hat sich die Übersetzerin Gerda Schattenberg mit Ramóns verwickelten Wortschnüren deutlich schwer getan. Das Ergebnis sind oft schwerfällige Bandwurmsätze, deren Rhythmus abhanden gekommen ist. Um sich in diesen Seiten unter dem Überhauch des Blicks zurück in Wehmut wohlzufühlen, um die „Spaziergänge“ genießerisch nachvollziehen zu können, muß man schon etwas übrig haben für das Manieristische des ramonismo — und für Nostalgien überhaupt. Imaginär In Luis Landeros Erstlingsroman „Späte Spiele“ erscheint die Stadt Madrid, immerhin zu Noch-Lebzeiten des Generalissimo, womöglich noch altertümlicher als in Ramóns „Nostalgias“. Gegenstände wie Solartaschenrechner wirken wie ferne Grüße aus der Zukunft, und schon Motorräder sind umgeben mit der Aura rasanten technischen Fortschritts. Das liegt hauptsächlich an dem Helden Gregorio Olias, einer Gestalt wie aus dem vorigen Jahrhundert. Ein in seinem Stadtviertel friedlich vor sich hinmodernder Kleinbürger, der vom Leben nicht viel mitbekommt, Schreiber (nicht etwa kaufmännischer Angestellter!) von Beruf, Dichter von Berufung. Wie schon sein Vater und sein Großvater, rechtschaffene Provinzler, wie auch sein Onkel, bei dem er aufwuchs, hat er schwer zu tragen an einer Leidenschaft, einem köstlichen Fluch: dem Eifern. Das spanische Wort afán — man könnte es auch mit „Drang“ oder gar „Sucht“ übersetzen — meint etwas Unkontrolliertes, etwas, das stärker ist als die Helden selbst, das sie entweder rauchend auf einem Stein, auf einer Gartenbank sitzend, oder in einem Kiosk unablässig „im Kontobuch ihrer Träume“ blättern läßt, in den langen Pausen eines ereignislosen Lebens; sie fühlten sich immer zu Höherem berufen. Was Gómez de la Serna in seinen „Nostalgias“ so wortreich beschwört — die Magie der Stadt Madrid —, existiert für Gregorio nur in der Imagination: Die wunderbaren Geheimnisse der Stadt erfindet er sich selbst. Seine ebenso lächerliche wie hartnäckige Muse ist ein Männchen jenseits der besten Jahre, mit Namen Gil, dreimal Gil, mit Vornamen, Vater- und Mutternamen, Vertreter für Wein und Oliven in der Provinz, wo sie am provinziellsten ist. Auch das Gregorio real umgebende Madrid ist franquistische Provinz, keine Metropole; ein Monument eisernen kastilischen Kleinbürgertums, weit, weit entfernt vom Meer, von Dschungeln und von der Revolution, kurz: von allen Abenteuern der Welt. Gils telefonische und kategorische Forderungen nach Nachrichten aus der Großstadt, nach den Zeugnissen von Geist! und Fortschritt! bescheren dem schon kahlköpfig gewordenen Gregorio einen Frühling des Eiferns. Ihm zuliebe wird er zum Hochstapler, zum imaginären Weltenbummler, Politaktivisten, Bohemien und Dichter Augusto Faroni, zum Autor in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: er beginnt, seine eigene Fiktion zu verkörpern. Was dem Don Quijote das Rittertum — schon zu seinen Zeiten eine längst außer Gebrauch gekommene Angelegenheit —, ist dem kleinen Angestellten Gregorio Olias das romantische, ebenfalls nicht mehr ganz zeitgemäße Dichtertum. Und weil zu einem Dichter auch Verse gehören, verfaßt er das zu seiner Fiktion passende Buch: Gedichte samt Biographie, Bibliographie, Vorwort (von einem gewissen Hemingway) und lobender Kritiken. Das Gedruckte ist die gültige Legitimation des Dichters. Oder, wie es Gregorio ausdrückt: „Der einzige wirkliche Schwindler ist das Buch.“ Die Grenze zwischen schizophrener und künstlerischer Produktivität, krimineller und kreativer Energie, zwischen Dichtung und Wahrheit ist fließend, wird zu einem reißenden Grenzfluß, der beide, den eifernden Dichter und sein einsames Publikum, mit sich trägt und schließlich auf einer anderen Seite der Realität, noch ein Stück weiter hinter dem Mond, wieder an Land setzen wird. Gregorios Abschied von seiner — trotz schwerer schöpferischer Krisen — recht beschaulichen Alltagswelt mit der ewig strickenden, ewig jungfräulichen Gattin („die legitime Tochter der Gewohnheit“) findet ausgerechnet an dem Tag statt, an dem sich „der General“ in den Straßen seiner Hauptstadt feiern läßt. Zwar interessiert sich der kleine Schreiber nicht für Politik; in seinen Träumen aber ist er Revolutionär, schon allein der damit verbundenen Romantik wegen. Sein Verhältnis zum Franco- Regime entspricht in etwa dem zu seiner Wohnung: auf den Polstern seiner Fortschrittsgläubigkeit und seiner überschäumenden dichterischen Phantasie hat er es sich bequem gemacht, wenn auch die Schwiegermutter als groteskes Zerrbild der herrschenden spanischen Offizierskaste manchmal etwas lästig wird. Ist Gregorio Olias aber nicht doch ein wirklicher Dichter? Oder, den Ausweg läßt er sich immerhin offen, wenigstens des Dichters Biograph und sein Vetter? Etwas jedenfalls hat der Hochstapler mit dem Romancier, der ihn erfunden hat, und dem Dichter, den er erfindet, gemeinsam: gelegentliche Selbstzweifel (welcher Kunstschreiber hat sie nicht?), eine blühende Phantasie und — ein gedrucktes Buch. Luis Landero läßt Olias genüßlich und ganz dichtermäßig in entgleister Metaphorik an „fehlender Inspiration, infernalischer Leere, der Spinne der Furcht, der Mortadella des Ekels und dem entsetzlichen Zweifel an der Tauglichkeit der Kunst und des Lebens“ leiden; er legt ihm eine deftige Poetik nach Hausmacherart („Suchen wir Nährwörter ohne jedes Naschwerk, ... das Erbsenwort, das sättigende Mahl, das rülpsen läßt, den Schinken eines Entwurfs, die Blutwurst eines Reims“) in den Mund. Wenn der angesehene „Professor“, Mittelpunkt eines sektenhaften Intellektuellenzirkels, das Ergebnis von Olias heißem Bemühen als beachtliches Werk „parodistischer Volkskunst“ bezeichnet, ist das nicht nur Landeros spöttisches Eigenlob, sondern auch ein Hinweis darauf, daß Hochstapelei und Kunst womöglich aus demselben „Eifern“ geboren sind. Im Gegensatz zu den „literarischen“ Platitüden aus Gregorios Feder, die Landero seiner kichernden Leserschaft zum Fraß vorwirft, steht seine gelassene, präzise Erzählweise voller Liebe zum bizarren Detail: Das doppelte Spiel eines Romanciers, der mit beidem, seinem eigenen Handwerk und dessen Parodie, gekonnt spielt, der mühelos die Fronten zwischen Kunst und Hochstapelei wechselt. Wenn man sich die beiden Helden, die die Weisheit der Narren mit Löffeln gefressen haben, genauer ansieht, kann es einem ergehen wie Gregorio selber beim Betrachten eines Dichterporträts: „und im tiefsten Innern erkannte er unfehlbar und arglos sich selbst.“ Unterirdisch Es gibt in Spanien immer noch die schöne Tradition, daß Schriftsteller, und zwar bekannte Schriftsteller, für eine Tageszeitung Romane schreiben. Richtige Auftragsarbeiten, Serien sozusagen, jede Woche ein Kapitel. (Zur Zeit kann man „Die geheimnisvolle Verabredung“ von Antonio Munoz Molina in El Pais lesen.) „Der Flug der erloschenen Schönheit“ von Manuel Vicent ist eine solche Auftragsarbeit und erschien letztes Jahr in El Pais unter dem wunderbaren Heftchenroman-Titel „Domingo Negro“ (Schwarzer Sonntag). Es ist dem Buch anzumerken, daß es etappenweise geschrieben wurde. Gebaut ist es wie eine wildgewordene Seifenoper, und am Ende jedes Kapitels erscheint unsichtbar ein kleingedrucktes „Fortsetzung folgt“. Ebenso wird am Anfang noch einmal kurz daran erinnert, was „Letzte Woche“ passierte. Wie in einem normalen Krimi fängt alles damit an, daß der Araber (?), Jude (?), pakistanische Prinz (?), persische Fürst (?) Boro Salami beim Zocken mit zwei Assen in der Hand den Löffel abgibt — zum Entsetzen des Rübenluis, des Schinkengroßhändlers mit rosafarbenem Mercedes, des schwulen Lateinlehrers und der übrigen Stammkundschaft des Spielclubs. Im Lauf der Zeit werden sie Stammkunden eines diskreten Leichenschauhauses, unter der Führung einer schon siebenmal gemordeten Unterweltprinzessin und Wahrsagerin; ruinierte Männerexistenzen pflastern ihren Weg. Die Toten haben das Sagen in dieser — im zweifachen Sinn — Unterwelt von Madrid: In der Kanalisation, den Tunnels, den Klappen, den Bars und Leichenkellern (wo sie traditionsgemäß immer in der Überzahl sind) spielen sie ein endloses Spiel in der Art des „Ich packe in meinen Koffer“-Spiels. Bei Manuel Vicent heißt das: Ich packe in meinen Roman. Und da geht eine Menge hinein: ein Toter, ein Ring, ein Hühnerficker, zwei wilde Eber, eine Wiederauferstandene, noch mehr Tote, eine durchschnittene Kehle, ein toter Richter, ein abgeschnittenes Ohr, eine Telefonleitung zur Hölle, ein verschrumpelter Herzog, ein Päderast, ein Krokodil, schon wieder ein Toter, ein goldener Schlüssel, ein verborgener Schatz, eine schwule Antilope usw. usf. Ein völlig entfesselter Reigen schräger Gestalten, miteinander verknüpft durch absurde Handlungsstränge, tobt durch ein mehr unterirdisches als irdisches Madrid, wo die Huren „mit vier glühenden Nägeln an das Holz der Haustore gekreuzigt“ auf Kundschaft warten und auf der Müllhalde Pflanzen in „mit vergammeltem Hühnerfleisch gefüllten Gamaschen“ blühen. Es ist das Madrid der achtziger Jahre, mit seiner Aufbruchstimmung, seinem hektischen Amüsement, das hier als schrille Nekropole auftritt, mit Kellern voller Erinnerungen, Müllhalden voller angebrochener Geschichten, eine Stadt voller Toter ohne Begräbnis. „Die brauchen noch eine Menge Musik“, sagt die tote Dame Georgina, „um dahinterzukommen, daß sie tot sind.“ So, als beginne sich die Handlungsebene allmählich (von Woche zu Woche) zu neigen, beginnt die Geschichte — genauer gesagt: die vielen ineinander verzahnten Geschichten — unaufhaltsam zu verrutschen und stürzt, ständig ihre Zusammenhänge verändernd, in ein rauschendes Finale. Die Elemente des Heftchenromans, der novela negra, des Märchens und des Melodrams mit einer Prise Grand Guignol fallen und kugeln übereinander und vermischen sich zur poetischen Groteske, zu einem sinnlos schönen, makabren und ganz und gar unernsten Totentanz — unter dem Pflaster von Madrid. Ramón Gómez de la Serna: „Madrid. Spaziergänge.“ Aus dem Spanischen von Gerda Schattenberg Rincón, Wagenbach-Verlag, 1992, 120 Seiten, 19,80 Mark. Luis Landero: „Späte Spiele“. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen, S. Fischer-Verlag 1992, 492 Seiten, 44 Mark. Manuel Vicent: „Der Flug der erloschenen Schönheit“. Aus dem Spanischen von Georg Danzer, Residenz-Verlag 1992, 176 Seiten, 38 Mark.
katharina döbler
Von harmlosen Kichererbsen in der Schüssel über die Mortadella des Ekels und die Blutwurst des Reims bis hin zu durchgetrennten Kehlen und abgeschnittenen Ohren: Stadtromane aus Spanien  ■ Von Katharina Döbler
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,322
Kernthema der Grünen: Unbemerkt sozial - taz.de
Kernthema der Grünen: Unbemerkt sozial Für die Grünen ist Sozialpolitik längst Kernanliegen. Aber wissen das alle? Minister Habeck droht zum Gesicht hoher Energiepreise zu werden. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Die Grünen) besucht eine Eltern-Kind-Gruppe in Bonn Foto: Thomas Imo/photothek/imago Lisa Paus hat die Zeit vergessen. Die Familienministerin ist am Montagmittag in Bonn-Dransdorf zu Besuch, einem Hochhausviertel im Norden der Stadt. In einem Eltern-Kind-Treff spricht sie mit Pädagoginnen über die Nöte der Menschen im Quartier. Spannendes Thema, es gibt viel zu bereden, aber nach einer halben Stunde geht ihr Büroleiter dazwischen. Der Kalender ist dicht, die Grünen-Politikerin muss weiter. „Wie viel Zeit haben wir noch?“ – „Seit drei Minuten keine mehr.“ Kurz bleibt Paus dann aber doch noch sitzen und sagt ihren Spruch auf: Sie arbeite hart an der Kindergrundsicherung, damit armen Familien mehr Geld bleibt. Weil das Projekt komplex ist und Zeit braucht, gibt es vorab 20 Euro Kinderzuschlag auf Hartz IV. Und weil die Preise so schnell steigen, braucht es schnell ein drittes Entlastungspaket: „Wir müssen gucken, dass wir Familien stärken.“ Seit Mai ist Paus im Amt, in dieser Woche besucht sie Kindereinrichtungen im Land, und wo sie auch hinkommt, in Wiesbaden-Biebrich oder in Duisburg-Hochfeld, wiederholt sie diese Forderung. Es kann ja nicht schaden. Nicht nur Paus, auch andere Grüne mahnen dieser Tage bei jeder Gelegenheit, dass neue Entlastungen bald kommen müssen. Es eilt: Im Herbst droht der nächste Inflationssprung. Die Gaspreise steigen weiter. Die Senkung der Mehrwertsteuer, vom Kanzler am Donnerstag angekündigt, federt die Folgen höchstens ab und die Not vieler Haushalte bleibt hoch. Darin liegt, neben allem anderen, auch eine Gefahr für die Grünen. Als Regierungspartei sind sie in der Verantwortung. Wird die soziale Misere nicht abgewendet, könnte die Schuld auch an ihnen hängen bleiben. Ein alter Vorwurf steht vor einem neuen Hoch: Grüne wählen muss man sich leisten können. Eigentlich will die Partei diesen Ruf abwerfen. Um der SPD die Vorherrschaft in der linken Mitte abzuknöpfen, darf sie nicht nur als Ökopartei wahrgenommen werden. Bei der Bundestagswahl wählten 27 Prozent der Aka­demi­ke­r*in­nen die Grünen, aber nur 5 Prozent der Menschen mit Hauptschulabschluss. Eine Erkenntnis, die sich in der Partei durchgesetzt hat: Will man neue Wählergruppen erreichen, muss man auch glaubwürdig für soziale Sicherheit stehen. Breite Unterstützung für die Klimatransformation kann man sich sonst ohnehin abschminken. Wer bei den Grünen nicht aus Überzeugung für eine starke Sozialpolitik ist, akzeptiert sie mittlerweile als Mittel zum Zweck. „Für uns als Partei und für mich ganz persönlich ist die Sozialpolitik ein wichtiger Pfeiler. Unsere Positionen sind in den letzten Jahren sozialpolitisch viel klarer geworden. Das hat man zum Beispiel am Wahlprogramm gesehen: Wir wollen Hartz IV überwinden, die Sanktionen in der Grundsicherung abschaffen und die Schuldenbremse reformieren“, sagt Parteichefin Ricarda Lang, die mit explizit sozialpolitischem Profil ins Amt kam. Tatsächlich hat sich die Programmatik der Ex-Agenda-Partei in den letzten Jahren verändert, wenn auch mit sorgfältigem Blick darauf, was sich in lagerübergreifenden Koalitionen denn umsetzen ließe. Die Forderung nach 200 Euro mehr Hartz IV fiel 2021 auf dem Parteitag durch. Im Wahlprogramm landeten überschaubare 50 Euro. Die Vermögenssteuer schaffte es zwar auch rein. In den Koalitionsgesprächen räumten die Grünen sie aber als Erstes wieder ab. Wenn es um harte Umverteilungsfragen geht, schreckt die Partei oft doch noch zurück. Tief sitzt das Trauma von 2013, als die Grünen die Spitzensteuer erhöhen wollten und im Wahlkampf scheiterten. In der Krise könnte jetzt aber auch diese Vorsicht schwinden: Selbst Spitzen-Grüne rufen vernehmbar nach einer Übergewinnsteuer. Und gegen die Pläne von Finanzminister Lindner, zum Ausgleich der kalten Progression die Steuern vor allem für Gutverdienende zu senken, war ihr Widerstand geschlossener als der aus der SPD. Verwundert sind sie darüber nicht: Bei den Grünen ist man spätestes seit den Sondierungen überzeugt, sozialer zu sein als die Sozialdemokraten. „Die Grünen haben in der Sozialpolitik Kompetenz aufgebaut und Profil gewonnen“, sagt auch Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Der Unterschied zur SPD: „Die Grünen fokussieren sich nicht nur auf Arbeitnehmer, sondern schauen auch stark auf die Millionen Menschen, die gar nicht arbeiten können.“ Viele Wäh­le­r*in­nen verbinden die Partei aber weiter nicht mit sozialer Gerechtigkeit. Das Misstrauen sitzt tief, wie sich zuletzt im Wahlkampf zeigte. Das Versprechen, Einnahmen aus einem erhöhten CO2-Preis als Pauschale an die Bür­ge­r*in­nen zurückzugeben, nahmen den Grünen nicht alle ab. „In der Regierungsarbeit haben wir jetzt die Gelegenheit zu beweisen, dass wir es ernst meinen. Das tun wir bei Themen wie der Kindergrundsicherung oder dem 9-Euro-Ticket, das den ÖPNV vielen Menschen zugänglich gemacht hat“, sagt Lang. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Wie schwierig es für die Grünen ist, mit ihrer Sozialpolitik durchzudringen, zeigen Umfragen des Politbarometers. Bei der Frage, welcher Partei in der Sozialpolitik am meisten zugetraut wird, fand man sie lange unter „ferner liefen“. Erst seit 2018 schaffen sie es konstant in den zweistelligen Bereich. Bei der letzten Abfrage im Juni erreichten die Grünen dann mit 18 Prozent ihr Allzeit-Hoch, erstmals gleichauf mit der Union – und doch noch klar hinter der SPD. Dass nach neun Monaten in der Regierung noch nicht ersichtlich ist, ob die Grünen es wirklich ernst meinen, ist dabei nur ein Faktor. Dazu kommt, dass Markenkerne träge sind. Eine Partei aus der Arbeiterbewegung, die das „Sozial“ im Namen trägt, hat es einfacher als eine Partei mit Blume im Logo. Und die Sozialressorts sind für die Grünen in Landesregierungen ebenso wenig erste Wahl wie im Bund, wo die SPD in Person von Hubertus Heil Erfolge wie den höheren Mindestlohn präsentieren darf. Mit Parteichefin Lang und Familienministerin Paus, die als Abgeordnete schon vor Jahren an einer Kindergrundsicherung tüftelte, gibt es jetzt zwar auch Gesichter einer grünen Sozialpolitik. Ganz große Bekanntheit haben sie in diesem Zusammenhang aber noch nicht erreicht. Und jetzt kommen auch noch die Energiepreise. Erste Narrative, nach denen die Grünen die Schuld tragen, kursieren längst: Manche schieben die Gasknappheit auf die Blockade von Nord Stream 2, andere auf das Ende der Atomkraft. Am Montag präsentierte Wirtschaftsminister Robert Habeck die Gasumlage, die das Heizen noch teurer macht. In Relation zum allgemeinen Preisanstieg fällt sie zwar kaum ins Gewicht und eine Alternative, Finanzspritzen für Gasimporteure aus dem Haushalt, scheiterte am Veto der FDP. Dennoch könnte Habeck das Gesicht der hohen Energiekosten werden. Wer zugunsten von Konzernen eine neue Belastung präsentiert, bevor neue Hilfen für Privathaushalte stehen, bietet Angriffsfläche. Attacken kamen prompt und plötzlich klang sogar die CSU fast sozialistisch. „Die Not einiger Gasimporteure ist auch eine Folge von Managementfehlern“, sagte ihr Finanzsprecher Sebastian Brehm. „Es ist unverständlich, dass dafür nun die Verbraucher zur Kasse gebeten werden.“ Die Rufe nach weiteren Entlastungen sind Teil der grünen Gegenstrategie. Vizefraktionschef Andreas Audretsch, Sozialpolitiker, kommt aus dem Wahlkreis Berlin-Neukölln. „Die Sorgen der Menschen sind enorm. Kürzlich war ich in Gropiusstadt. Viele Menschen dort haben wenig Geld, und die Frage, wie sie im Winter ihre Rechnungen bezahlen sollen, bereitet ihnen schlaflose Nächte“, sagt er. Deswegen sei es so wichtig, dass die Koalition die verfügbaren Mittel denen gebe, die sie besonders nötig hätten – und nicht, wie in den Steuerplänen des Finanzministers vorgesehen, vor allem den Topverdienern. „Wir müssen jetzt ganz konkrete Probleme von Menschen lösen, darum sind wir sehr deutlich in dieser Frage“, sagt Audretsch. So tragen gerade viele Grüne ihre Forderungen vor: Wir sind entschieden, aber die FDP ziert sich. Im besten Fall ist diese Strategie erfolgreich, dann wird es neben der Mehrwertsteuersenkung rechtzeitig weitere Kompromisse und ein einigermaßen austariertes Hilfspaket geben. Und wenn nicht? Wenn sich die Liberalen wieder durchsetzen? Dann, so die Hoffnung, werden die Wäh­le­r*in­nen schon erkennen, wer schuld an der Lage ist. Große Panik bricht in der Partei noch nicht aus. Zu Recht? Am Mittwochabend wehen Fahnen im Berliner Regierungsviertel. Zwei von Attac sind dabei, eine von der Antifa. Kaum 200 Menschen sind zu einem ersten Sozialprotest gekommen. Die Kundgebung gegen steigende Preise findet vor der FDP-Zentrale statt. „Wir können uns keinen Porsche-Minister leisten!“, steht auf einem Schild. „Ganz Berlin hasst die FDP!“, ruft die Menge. Dann beginnt die erste Rede: „Bei der FDP fangen wir an“, sagt die Sprecherin. „Aber bei den anderen Parteien machen wir weiter.“
Tobias Schulze
Für die Grünen ist Sozialpolitik längst Kernanliegen. Aber wissen das alle? Minister Habeck droht zum Gesicht hoher Energiepreise zu werden.
[ "Bündnis 90/Die Grünen", "Robert Habeck (Grüne)", "Ricarda Lang", "Sozialpolitik", "GNS", "Deutschland", "Politik", "Feed", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,323
Antisemitismus-Diskussion: Felix Klein hat verstanden - taz.de
Antisemitismus-Diskussion: Felix Klein hat verstanden Statt Antisemitismus zu bekämpfen, wird diskutiert, was genau ihn ausmacht. Doch am Ende aller theoretischen Debatten stehen immer echte Menschen. Foto: Illustration:Katja Kendikowa Einen Monat nachdem ich zur israelischen Armee eingezogen worden war, brach die erste Intifada aus. Statt Soldat zu sein, machte ich Polizeiarbeit, sagte den Menschen, wann sie zur Arbeit gehen konnten und wann sie ihre Läden schließen mussten, wann sie die Grenze passieren und wann sie schlafen konnten. Einen Monat nachdem ich aus der Armee entlassen worden war, ging ich auf Reisen. (In Israel sagen wir: Wir dienen drei Jahre und versuchen den Rest unseres Lebens, diese drei Jahre zu vergessen.) Auf meiner Reise begann ich Briefe an meine Freundin zu schreiben, die ich in Israel zurückgelassen hatte. Ich schrieb ihr, wie schrecklich depressiv ich war und dass diese drei Jahre des Anweisungenbellens und Anderen-Menschen-Sagens, was sie zu tun haben, mich für immer verfolgen würden. Dass sie ein Teil dessen geworden waren, was ich bin. Ich erinnere mich, dass ich ihr schrieb, dass wir da rausmüssen – nicht nur für die Palästinenser, sondern wegen der furchtbaren und brutalen Auswirkungen, die all das auf uns, auf die israelische Gesellschaft haben würde. Sie schrieb zurück: „Du hast recht. Ich habe einen neuen Freund.“ Felix Klein wurde als Beauftragter der Bundesregierung berufen, um die Auswirkungen des zunehmenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft, in Deutschland, zu bekämpfen. Was nicht in seiner Jobbeschreibung steht, ist, dass er dabei unsere Gesellschaft heilen muss, jene Gesellschaft, die diese Form des Hasses reproduziert und schützt. Klein hat das begriffen. Er versteht, dass man Krebs nicht mit einem Pflaster verarztet, er weiß, dass er das Bewusstsein der Deutschen schärfen und Diskussionen anstoßen muss. Er hat begriffen, dass das Problem nicht nur an den Rändern der Gesellschaft (bei den Rechten) liegt, sondern auch in ihrer Mitte. Dort, wo gebildete Menschen nicht einmal bemerken, dass das, was sie sagen und tun, antisemitisch ist. So wie sie es auch nicht merken, wenn sie rassistisch handeln. Er hat all das verstanden, und genau deshalb wollen einige, dass er seinen Posten räumt. Mehr als 60 deutsche und israelische Intellektuelle haben letzte Woche in einem Brief an Kanzlerin Merkel darüber geklagt, dass der aktuelle „Gebrauch des Antisemitismusbegriffs“ darauf abziele, „legitime Kritik an der israelischen Regierungspolitik zu unterdrücken“, und Klein vorgeworfen, rechtspopulistische israelische Stimmen zu fördern. Faszinierend an diesem offenen Brief ist, dass viele der Unterzeichneten keine Deutschen sind und auch nicht in Deutschland leben. Ich weiß nicht, woher sie – die meisten von ihnen sind Israelis – die Chuzpe haben, sich in eine innerdeutsche Angelegenheit einzumischen und zu fordern, eine Person zu entlassen, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Die Hälfte der Unterzeichneten lebt nicht hier, von der anderen Hälfte sind viele keine Juden – somit sind die allermeisten von ihnen nicht direkt vom Antisemitismus in Deutschland betroffen. Wie also können sie diesen Brief unterschreiben? Und warum eigentlich haben so wenige Deutsche unterschrieben? Dazu komme ich gleich. Debatte um Achille Mbembe Hintergrund des Briefs war, dass Felix Klein gefordert hatte, den Philosophen Achille Mbembe nicht die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten zu lassen. Als mit öffentlichen Mitteln gefördertes Event solle die Ruhrtriennale Mbembe wegen seiner Haltung zu Israels Existenzrecht, seiner Haltung zu BDS und der Art, wie er in einem seiner Werke den Holocaust relativiert, nicht einladen. Mbembes Unterstützer sagen, keine dieser Anschuldigungen sei wahr. Fürs Protokoll: In meinen Augen unterstützt Mbembe sehr wohl BDS, er schrieb unter anderem das Vorwort zu „Apartheid Israel“ und fordert die komplette Isolation Israels. Ich glaube auch, wenn Mbembe schreibt, die israelische Besetzung sei der „größte moralische Skandal unserer Zeit“, zeigt das, dass sein moralischer und geografischer Kompass etwas schief ist. Doch warum treibt die Debatte so viele Menschen um? Nun, zunächst gibt niemand gern auf, was ihm oder ihr selbstverständlich scheint. Über den gesamten politischen, sozialen, kulturellen, medialen und akademischen Sektor hinweg sind Menschen daran gewöhnt, so schlecht über Israel sprechen zu können, wie auch immer sie wollen. Der Spiegel hat – vielleicht in Anlehnung an seine Relotius-Standards, Israel erst kürzlich eine Corona-Diktatur genannt. Fakten und Belege für diese Behauptung gab es nicht. Doch Millionen Deutsche haben es gelesen, und es wird natürlich haften bleiben. Faktenlage hin oder her. Der Spiegel und andere Medien haben dieses Spiel perfektioniert: Titel so zu drehen, dass sie Israel indirekt anklagen, die Idee zu streuen, der Mossad kon­trol­liere die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten, und so fort. Doch sie stehen allesamt sofort auf den Hinterbeinen, wenn jemand es wagt, das Spiel beim Namen zu nennen: moderner Antisemitismus. Klein will dem entgegenwirken. Er versteht, dass antisemitische Attacken in Deutschland die Früchte solch falsch gezeichneter Bilder und eindimensionaler Narrative über Israel sind. Wenn er und andere versuchen, ein anderes Narrativ aufzuzeigen, wirft man ihnen Zensur vor: Wie können sie es wagen, das Geschäft der Anti-Israel-Propaganda zu stören? Liebe Deutsche, wenn ihr reden wollt, lasst uns gern reden: über die Besetzung, über Bibi und alles, was schiefläuft. Aber dann lasst uns bitte auch darüber reden, wie deutsche Steuergelder Terrortunnel finanzieren. Erst vergangene Woche räumte die niederländische Regierung ein, dass Gelder an eine Landwirtschaftsorganisation in Ramallah geflossen seien, die damit teilweise die Gehälter zweier des Mordes an der 17-jährigen Israelin Rina Shnerb Verdächtiger gezahlt haben. Auch die Bundesregierung unterstützt diese Organisation, obwohl Kritiker schon lange vor Verbindungen zu Terroristen warnen. Wir können uns also gerne unterhalten – aber im Dialog, nicht in Monologen. Denn Reden unter Menschen, die sich einig sind, ist nichts anderes als Impotenz. Israelkritik als Eintrittskarte Die Israelis, die die Petition unterzeichnet haben, haben übrigens ebenfalls etwas verstanden. Seit Jahren wissen sie: Es ist ihre Eintrittskarte in die Mitte der deutschen (und europäischen) Gesellschaft. Man hört nicht oft von Akademikern mit proisraelischen Ansichten. Weder in den Philharmonie-Orchestern noch in der Kunstszene. Die Eintrittskarte dafür ist ein antiisraelischer Standpunkt. Der mutmaßliche Grund, warum kaum Deutsche die Petition unterzeichnet haben: Sie mussten es nicht. Ihre Lieblingsjuden haben es für sie getan. Jetzt können sie sagen: „Schau, ich bin das ja nicht, meine jüdischen Freunde sagen es.“ Ich selbst war einige Jahre lang mit einem Paar hier in Berlin befreundet, bis ich herausfand, dass ich ihr Lieblingsjude war. Ja, selbst das jüdische Museum wurde so genutzt. Weil Attacken gegen Juden ein absolutes Tabu sind, wurden Umwege gefunden, um den Antisemitismus auf kleiner Flamme köcheln zu lassen: die unfundierte, unbegründete Kritik an Israel. Diese Art der Kritik ist gefährlich. Sie schwächt jede begründete und notwendige Kritik am Verhalten Israels. Und das Interessante ist: Trotz all der heftigen, pauschalisierenden Anklagen, all der offenen Briefe driftet Israel politisch immer weiter nach rechts. Doch statt mal einen anderen Ansatz zu versuchen, werden die antiisraelischen Stimmen nur lauter. Dasselbe versuchen und andere Ergebnisse davon erwarten – das ist die Definition von Wahnsinn. Kurz bevor der Prozess gegen den wegen des Attentats von Halle Angeklagten begann – des seit Kriegsende schlimmsten Akts von Antisemitismus in Deutschland –, lud eine Lokalzeitung den früheren Botschafter Shimon Stein und den Historiker Moshe Zimmermann ein, darüber zu schreiben, was Antisemitismus ist. Natürlich wendeten auch sie sich gegen Felix Kleins Ansatz. Sie zitieren die Kontroverse um die Umbenennung der U-Bahn-Station Mohrenstraße in Glinkastraße, die sich darum drehte, dass der russische Komponist Michael Glinka Antisemit gewesen sein soll. Stein und Zimmermann halten die Debatte für überzogen, Glinka sei nur ein Kind seiner Zeit gewesen. Folgt man ihrer Logik, können wir dann also in 20 oder 30 Jahren U-Bahn-Stationen nach den Kindern der 1930er Jahre benennen? Der Antisemit als Tierfreund Ich wünschte, die Sache hätte mit dem Artikel, mit der Petition geendet. Doch dann erschien ein Artikel, der den Leser auf einen Waldspaziergang mit einem veganen Koch und Antisemiten mitnahm. Darin setzt der Tierfreund erst behutsam einen Käfer wieder auf seine Beinchen und erklärt dann, dass die Todesstrafe in Deutschland wieder eingeführt werden solle, um einen gewissen Politiker (der zufällig pro Israel ist) an seinen Hoden aufhängen zu können. Dieser Koch hat Hunderttausende Follower, er sagt all solche Dinge am helllichten Tag in Berlin. Und in den Medien. Fälle wie dieser handeln bereits von Gewalt – und sie enden nicht bei den Juden. Der Hass richtet sich gegen Frauen, Muslime, Geflüchtete, ­LBTQI. Am Ende aller theoretischen Debatten stehen immer echte Menschen. Am Ende jeder Konferenz darüber, was Antisemitismus ausmacht, steht ein potenzielles jüdisches Opfer. Angesichts einer Welle von Antisemitismus über die Definition von Antisemitismus zu streiten ist, wie eine 10 Meter hohe Welle heranrollen zu sehen und darüber zu streiten, was einen Tsunami ausmacht. Felix Klein versteht, wie absurd es ist, zu sagen: Es sind nur die Rechten. Die Rechten sind Deutsche, so wie die Nazis Deutsche waren. Klein versteht, dass die Deutschen nicht aufgehört haben, Juden zu ermorden, weil sie irgendeine Art von Erleuchtung hatten. Sondern schlicht, weil sie den Krieg verloren haben. Um den Antisemitismus zu bekämpfen, bevor er die Gesellschaft frisst, in der er und wir leben, muss Deutschland seinen moralischen Kompass korrigieren. Immerhin: Mehr und mehr Deutsche fahren nach Israel, sie wollen ein anderes Narrativ hören. Mehr und mehr Deutsche verstehen, dass Antisemitismus Schockwellen auslöst, die die gesamte Gesellschaft betreffen. In einem normalen Universum würde Klein befördert werden für seine Leistung. In einer verdrehten Gesellschaft fordern Menschen seine Entlassung. Um es mit Mbembe zu sagen: Das ist Nano-Nonsens. Übersetzung: Ariane Lemme
Ze'ev Avrahami
Statt Antisemitismus zu bekämpfen, wird diskutiert, was genau ihn ausmacht. Doch am Ende aller theoretischen Debatten stehen immer echte Menschen.
[ "Judentum", "Antisemitismusbeauftragter", "Achille Mbembe", "Israelkritik", "BDS-Movement", "Debatte", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,324
„Die wollten nur Pipifax wissen“ - taz.de
„Die wollten nur Pipifax wissen“ ■ Zeugenvernehmung im Lummer-Untersuchungsausschuß: Worüber man mit Freunden spricht und worüber nicht / Stasi-Agent und Lummer-Biertischkumpel versucht sich zu erinnern Schon längst ist der „Fall Lummer“ aus den Zeitungen verschwunden, und auch juristisch dürfte die Affäre des ehemaligen Innensenators kein Nachspiel haben: Nur im Abgeordnetenhaus versucht sich dazu noch ein Untersuchungsausschuß. Gestern mußte nun derjenige in den Zeugenstand treten, der 1970 bis 1975 vom Ostberliner Stasi auf den damaligen CDU -Fraktionsvorsitzenden angesetzt war: Sven Bergmann, langjähriger Parteifreund und Biertisch-Genosse von Lummer. Er, Bergmann, habe seinen Freund Lummer sofort von diesem Auftrag unterrichtet, und danach bildeten die beiden ein eingespieltes Team: Vor jedem Gespräch mit den Herren der Stasi habe er mit Lummer gesprochen, und Lummer auch danach sofort wieder unterrichtet. Ohnehin hätten die nur „Pipifax“ wissen wollen. Wie er sich erklärt, daß soviel Geld für ihn investiert wurde, wo er doch nichts zu berichten hatte? Das habe er sich auch immer gefragt, sagte Bergmann. Er will damals nicht einmal gewußt haben, daß Lummer Mitglied des Sicherheitsausschusses war und Zugang zu vertraulichen Informationen hatte. Auch daß Lummer mit der DDR-Agentin Susanne Rau ein Verhältnis hatte, habe er nicht gewußt, obwohl sie sich zu dritt bei Kneipenrunden trafen. Zweimal, im Jahre 1973 und 1974, hat er Lummer auch auf seinen Reisen in den Libanon begleitet - auf Kosten der Stasi. Da in Zeitungsberichten die Libanon-Reisen mit Waffenhandel in Verbindung gebracht werden, interessierten sich die Abgeordneten dafür etwas näher. Doch Sven Bergmann mußte passen. Die Gespräche seien meistens auf Englisch geführt worden, er habe zwar immer dabei gesessen, spreche jedoch nur deutsch und habe deshalb kein Wort verstanden. Auch anschließend will er Lummer nie nach dem Inhalt gefragt haben. An anderer Stelle sprechen die beiden aber schon miteinander. An dem Tag etwa, als Sven Bergmann vom Generalbundesanwalt eine Vorladung erhielt. Ehe er zur Vernehmung ging, habe er Lummer angerufen. Der kam prompt, und das Duo setzte sich im Rathaus Zehlendorf auf eine Bank. Was sie besprochen haben? Nicht viel. „Wir haben uns an dem Tag nicht über die gemeinsame Vergangenheit unterhalten.“ U. Siebe
u. sieber
■ Zeugenvernehmung im Lummer-Untersuchungsausschuß: Worüber man mit Freunden spricht und worüber nicht / Stasi-Agent und Lummer-Biertischkumpel versucht sich zu erinnern
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,325
Gesundheits-Aufmarsch vor der Sommerpause - taz.de
Gesundheits-Aufmarsch vor der Sommerpause Gleich drei Gesetzentwürfe präsentierte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch in Berlin. Vor allem einer von ihnen sorgt für Unmut bei den Krankenkassen Nicht vielleicht doch noch arbeitsfähig? Foto: Karsten Thielker Von Julian Schmidt-Farrent Aus der Traum vom Karriere­sprung: Auf seiner Pressekonfe­renz am Mittwoch musste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den anwesenden Medienvertretern erst einmal erklären, warum nur eine Stunde zuvor seine Parteichefin und nicht er die Zügel im Verteidigungsministerium übergeben bekommen hatte. Dabei kam Spahn eigentlich mit einem ganzen Paket an gesundheitspolitischen Neuerungen vor die Presse. Gleich drei Gesetzentwürfe aus seinem Hause hatte das Kabinett frisch abgesegnet. Mit dabei: die komplette Umstrukturierung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen (MDK). Vor allem die Krankenkassen hatten dagegen bis zuletzt heftig protestiert. Die MDK sind bislang formal unabhängige Stellen, die Gutachten rund um die medizinische Versorgung erstellen. Finanziert werden die Dienste von den Kassen. Sie sollen unter anderem feststellen, ob beispielsweise Kliniken ihre Leistungen richtig abgerechnet haben oder ob ein Antrag auf Arbeitsunfähigkeit rechtmäßig ist. Gerade hier hatten Sozialverbände kritisiert, dass die Dienste oft rein nach Aktenlage entscheiden würden. Bundesweit gibt es 15 verschiedene solcher MDK, fast jedes Bundesland hat seinen eigenen. Die Aufsicht wird dabei jeweils von den Verwaltungsräten geregelt, in denen bislang lediglich Vertreter der Krankenkassen das Sagen haben. Genau das soll sich nun ändern. Gesundheitsminister Spahn möchte die MDK in unabhängige Körperschaften öffentlichen Rechts umwandeln, im Verwaltungsrat sollen zukünftig auch Vertreter von Ärzten und Patienten eine Stimme bekommen. Damit würden die Dienste von nun an unabhängig von den Kassen organisiert, argumentiert der Minister. „Die Patientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen können, dass der Medizinische Dienst neutral prüft und handelt“, so Spahn. Er reagiert damit auch auf Vorwürfe von Sozialverbänden, die die Dienste als verlängerten Arm der Krankenkassen bezeichnet hatten. Die üben derweil heftige Kritik: „Die geplanten Reformen gefährden die Sozialpartnerschaft in der Kranken- und Pflegeversicherung und damit eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung“, moniert Volker Hansen, Verwaltungsratsvorsitzender des Branchenverbands GKV. Immerhin sehe der Kabinettentwurf die Stimmenmehrheit der Vertreter von Versicherten und Arbeitgebern in den Verwaltungsräten vor, so Hansen. Die FDP teilt die Bedenken der Kassen. Zwar begrüße man die Umstrukturierung im Sinne der Patienten, so Christine Aschenberg-Dugnus, Gesundheitsexpertin der FDP im Bundestag. „Die Umgestaltung der Verwaltungsräte sehen jedoch wir kritisch, da der Verwaltungsrat mit der Begutachtung selbst nichts zu tun hat.“ Für den Sozialverband VdK geht der Gesetzentwurf nicht weit genug. Mit 16 Sitzen seien die Kassen gegenüber 5 Vertretern von Patienten deutlich überrepräsentiert, so VdK-Präsidentin Verena Bentele. Und auch die Linkspartei zeigt sich nicht zufrieden: Mit den neu geschaffenen Sitzen für Vertreter der Ärzte würden genau die Leistungserbringer im Verwaltungsrat sitzen, „die ja durch den MDK geprüft werden sollen“, so deren gesundheitspolitischer Sprecher Harald Weinberg. Neben der Umstrukturierung der Medizinischen Dienste präsentierte Spahn zudem auch einen Gesetzentwurf für eine Impfpflicht vor Masern in Kindergärten und Schulen. Daneben wolle das Ministerium mit einer Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel einen fairen Wettbewerb zwischen Vor-Ort-Apotheken und Versandapotheken schaffen. Unklar bleibt allerdings, ob das Vorhaben nicht gegen EU-Recht verstößt.
Julian Schmidt-Farrent
Gleich drei Gesetzentwürfe präsentierte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch in Berlin. Vor allem einer von ihnen sorgt für Unmut bei den Krankenkassen
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,326
Denkmal für einen Milliardär: Herr Kühne hat eine Idee - taz.de
Denkmal für einen Milliardär: Herr Kühne hat eine Idee Hamburgs Patriarch Klaus-Michael Kühne möchte ein neues Opernhaus. Die Stadt will es nur geschenkt, doch der Investor hat wirtschaftliche Interessen. Kann weg, sagt Herr Kühne: Das Hamburger Opernhaus am Gänsemarkt Foto: Markus Scholz/dpa BREMEN taz | Wenn es nicht die Idee eines sehr, sehr reichen weißen, also in jeder Hinsicht überprivilegierten alten Mannes wäre: Die Diskussion könnte hier schon zu Ende sein. Schließlich gab es – aus Gründen! – bis jetzt gar keine öffentliche Debatte darüber, ob Hamburg ein neues Opernhaus braucht. Dann aber hat Klaus-Michael Kühne kurz vor seinem 85. Geburtstag den Spiegel empfangen, für eine Homestory. Ebenda hat der Multimilliardär dann in patriarchaler Gutsherrenart seine Idee verlautbaren lassen: Hamburg braucht ein neues Opernhaus. Die örtliche Staatsoper nämlich missfällt dem Großinvestor, der schon seit Jahrzehnten als Steuerflüchtling in der Schweiz lebt, aber in Hamburg geboren wurde und sich irgendwie als Hamburger fühlt. Der Bau sei „asbestverseucht“, die Akustik „mangelhaft“, das Niveau „Durchschnitt“. Dem Haus fehle die „Strahlkraft“, Hamburg habe „Besseres“ verdient, so Kühne: „Dazu möchte ich gerne einen Beitrag leisten.“ Zumal klar ist, dass Kühnes Investment in den HSV nicht lohnt – der Club ist undankbar, will ihn nicht recht bei Transfers mitreden lassen und bleibt notorisch zweitklassig. Kühnes Idee klingt zunächst nach edlem Mäzenatentum eines Mannes, den uns der Spiegel als „Musikliebhaber“ und Poeten vorstellt, der keine Kinder hat, gern unter der Dusche singt; aber so einfach ist die Sache nicht, auch wenn Kühne selbst weiß, dass er nicht mehr in diesem Opernhaus wird sitzen können – „so realistisch muss man sein“. Ein Leuchtturm für die Hafencity Stehen soll es nach seinen Vorstellungen in der Hafencity – in der Gegend, in der aktuell der „Elb­tower“ des österreichischen Immobilienmagnaten René Benko entsteht, auch er ein Milliardär von bisweilen zweifelhaftem Ruf. Mit 245 Metern soll das Hochhaus einmal Hamburgs höchstes Gebäude werden, also ein Denkmal für den Investor. Benko gehören in Hamburg schon die Alsterarkaden, ein Luxuskaufhaus und etwa die geplante neue Gänsemarktpassage. Bundesweit bekannt wurde er als Eigentümer der Galeria Karstadt Kaufhof. Mit Benko nun arbeitet Kühne nach eigenen Angaben ein „Finanzierungskonzept“ für die Oper aus. Der Neubau soll bis zu 400 Millionen Euro kosten dürfen. Ob man dafür angesichts der Baukosten von Opernbauten in Düsseldorf, Stuttgart oder Köln eine neue Oper bekommt, ist fraglich. Und was soll aus der aktuellen Staatsoper werden, am Gänsemarkt? Den für seine Zeit sehr typischen Bau von 1955 will Kühne einfach abreißen und dort „ein modernes Immobilienprojekt entwickeln“, erklärt er, und verdrängt dabei, dass das Haus ja denkmalgeschützt ist und es in Hamburg schon seit 1678 ein Opernhaus gibt – es war das erste privatwirtschaftlich geführte im Land. Doch Tradition und kulturelles Erbe sollen Kühne nicht im Wege stehen: „Dann könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, sagte Kühne dem Spiegel. Das nicht näher erläuterte „Immobilienprojekt“ in bester Lage ist also Teil des „Finanzierungskonzeptes“. Die Linkspartei spricht von einem „vergifteten Angebot“ Die Stadt hat bereits erklärt, dass sie ein neues Opernhaus höchstens geschenkt haben will und der Abriss des bestehenden nicht in Frage kommt. Der Erste Bürgermeister und der Kultursenator hätten zudem „klar zum Ausdruck gebracht“, dass auch ein Mietkaufmodell ausscheide, so der Senatssprecher: „Eine Schenkung nach dem Vorbild der Kopenhagener Oper wäre dagegen ein bemerkenswertes mäzenatisches Engagement.“ Davon wiederum hat Geschäftsmann Kühne nichts gesagt, bisher. Wenn doch, erklärt die Stadt, dass sie die Bereitstellung und Erschließung eines Grundstücks sowie die Verlagerung des Opernbetriebs „prüfen“ werde. Weniger kann man kaum versprechen. Die Linkspartei sprach von einem „vergifteten Angebot“ und sagte, dass es „einen weiteren Ausverkauf der Innenstadt“ nicht geben dürfe. Kühne und Benko gehe es nicht um ein gemeinnütziges Vorhaben, sondern um „knallharte Wirtschaftsinteressen“, Benkos Droh- und Druckpotenzial in Hamburg „ist bereits viel zu hoch“. Das Argument, dass das bisherige Opernhaus „asbestverseucht“ sei, findet die Linke „fadenscheinig“. Und, in der Tat, dieser „bauzeittypische Mangel“ sei „seit langem bekannt“, erklären die Behörden. Er werde „Schritt für Schritt bereits in Angriff genommen“. Es bestehe keine gesundheitliche Gefährdung, weder für Beschäftigte, noch für Besucher:innen. Kein Geld für das „Arisierungs“-Mahnmal Opernintendant Georges Delnon findet die Idee erwartungsgemäß gut – ein spektakuläres neues Opernhaus wäre „ein starkes Signal“, sagt er, „würde den gesellschaftlichen Wert der Oper spiegeln und weltweit als ein wichtiges Statement für die Hochkultur wahrgenommen werden“. Hat Hamburg dafür nicht die Elbphilharmonie, in der es eine nicht-öffentliche Lounge gibt, die Kühnes Namen trägt? Auf eine Qualitätsdebatte mochte Delnon sich eh nicht einlassen. Da hilft bei Mängeln ein neues Haus auch nicht. In Bremen, am Sitz der neuen Deutschlandzentrale des Logistikkonzerns Kühne und Nagel, gäbe es noch andere Ideen für bemerkenswertes Engagement: So könnte sich Kühne ja an den Kosten des “Arisierungs“-Mahnmals beteiligen. Schließlich wurde der Konzern nur so groß, das haben Historiker nachgewiesen, weil er im Nationalsozialismus eine Quasimonopolstellung für den Transport beschlagnahmter Möbel aus ganz West­europa innehatte. Gleichwohl wurden diese NS-Profite beharrlich bagatellisiert, anfangs sogar komplett geleugnet. Bis Redaktionsschluss war von einer finanziellen Beteiligung Kühnes an den Kosten des Mahnmals und der Erinnerungsarbeit nichts bekannt. Aber derlei strahlt auch nicht so viel Glanz auf die Nachwelt aus wie ein neues Opernhaus.
Jan Zier
Hamburgs Patriarch Klaus-Michael Kühne möchte ein neues Opernhaus. Die Stadt will es nur geschenkt, doch der Investor hat wirtschaftliche Interessen.
[ "Klaus-Michael Kühne", "Kühne und Nagel", "Kulturbehörde Hamburg", "Immobilien Hamburg", "Oper", "Bremer Mahnmal zur „Arisierung“", "Hamburg", "Nord", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,327
■ intershop: Was geht uns die Reichspogromnacht an? - taz.de
■ intershop: Was geht uns die Reichspogromnacht an? Wenn ich den S-Bahnhof in der Oranienburger Straße verlasse, fällt mein erster Blick auf die strahlende Goldkuppel der Neuen Synagoge. Mein Blick fällt auch auf die Polizisten, die davorstehen, und auf das Schild, das an jenen Schupo erinnert, der am 9. November 1938 den deutschen Pöbel davon abhielt, das Gebäude niederzubrennen. Er tat das im Namen von Recht und Ordnung. Solche Beispiele mögen wir. Es ist genügend Zeit vergangen, um sie zulassen zu können. Wir danken Spielberg für seinen Schindler, und sogar Marlene Dietrich hat schließlich einen Winkel bekommen am Potsdamer Platz. Unsere Eliten jedoch tun sich neuerdings wieder schwer mit dem Gedenken. Beispielsweise mit einem Holocaust-Mahnmal mitten in dieser Stadt. Sie machen sich Sorgen um den Sinn eines solchen Mahnmals. Nicht, daß das grundsätzlich falsch wäre, aber ihre Verlautbarungen sind von seltener Eintracht. So als würden sie keine Parteien mehr kennen, als würden sie nur noch Deutsche kennen. Einer hat diese merkwürdige Haltung auf den Punkt gebracht. Es ist der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der Schriftsteller Martin Walser. Er hat wörtlich gesagt: „Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“ Während sich die Elite derartige Sorgen um das Wohlbefinden der Nation macht, erzählen uns die kleinen Meldungen in den Zeitungen von der unaufhörlichen Gewalt gegen Ausländer oder ausländisch Aussehende, von Übergriffen und Überfällen. So mahnt die Welt die vermischten Nachrichten an, daß die dumpfen Ursachen, die die Reichspogromnacht möglich machten, auch heute noch aktuell sind. Gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremden- und Ausländerhaß hilft auch keine Änderung in der Staatsangehörigkeitsfrage. Jedenfalls ist es keine Garantie. Zu ändern wäre vielmehr eine bis heute wirksame Mentalität der Ausgrenzung. Ich meine: Darüber nachzudenken lohnt es sich auch 60 Jahre nach der Reichspogromnacht. Richard Wagner Richard Wagner, freier Autor, ist gebürtiger Rumäne und lebt in Berlin. Unsere Kolumne „Intershop“ ist Autoren ausländischer Herkunft vorbehalten und entsteht in Zusammenarbeit mit dem Sender Freies Berlin, SFB 4, MultiKulti
Richard Wagner
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,328
Prozess gegen Horst Mahler: Staatsanwalt fordert fast 5 Jahre - taz.de
Prozess gegen Horst Mahler: Staatsanwalt fordert fast 5 Jahre Der Neonazi Horst Mahler soll wieder ins Gefängnis – wegen antisemitischer Hetzschriften, die er während seiner letzten Haft verfasst hat. Horst Mahler Ende November im Gerichtssaal in Potsdam: Der 87-Jährige ist mehrfach vorbestraft Foto: dpa POTSDAM dpa | In einem weiteren Prozess gegen den ehemaligen NPD-Anwalt Horst Mahler hat die Staatsanwaltschaft 4 Jahre und 8 Monate Haft für den 87-Jährigen gefordert. Mahler habe sich der Aufstachelung zum Hass und der Leugnung des Holocaust schuldig gemacht sowie die nationalsozialistische Willkürherrschaft gerechtfertigt, sagte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer am Dienstag vor dem Potsdamer Landgericht. Von der beantragten Gesamtstrafe sollten 4 Monate wegen jahrelanger Verzögerung des Verfahrens als verbüßt gelten, so der Staatsanwalt. Mahler wurde bereits mehrfach wegen Volksverhetzung und Leugnung des Holocausts verurteilt. Mahler habe das Verfassen von strafwürdigen Schriften im Prozess zwar eingeräumt, erklärte der Staatsanwalt. Dieses Geständnis sei aber nicht von Reue geprägt gewesen – vielmehr habe Mahler die Hauptverhandlung als Podium genutzt und seine Thesen verteidigt. Damit habe sich der 87-Jährige uneinsichtig und verblendet gezeigt. Mahlers Verteidiger Jan Dollwetzel forderte hingegen Freispruch für seinen Mandanten. Der 87-Jährige habe seine grundlegende Schrift, die er während seiner Haft im Jahr 2013 in der Justizvollzugsanstalt Cottbus verfasst habe, von der Anstaltsleitung prüfen lassen, die keine Bedenken erhoben habe. Daher sei sich sein Mandant nicht bewusst gewesen, dass er sich strafbar mache, sagte Dollwetzel. Zudem seien die Äußerungen Mahlers durch die Religionsfreiheit gedeckt. Zu der Schrift aus dem Jahr 2013 beantragte der Staatsanwalt allerdings Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung. Mahler will sich noch umfangreich äußern Dollwetzel kritisierte die Strafforderung der Staatsanwaltschaft als ein „verstecktes lebenslang“. Denn es sei keineswegs sicher, dass sein schwer kranker Mandant das Ende der Haft noch erleben würde, meinte der Verteidiger. Mahler betonte in seinem letzten Wort, er habe nicht zur Vernichtung der Juden, sondern zur Vernichtung des Judentums aufgerufen. Weil der 87-Jährige sich noch umfangreich äußern will, hat die Kammer bis zum Urteil noch fünf Verhandlungstage bis zum 16. März angesetzt. Die Anklage wirft Mahler strafbare Äußerungen in insgesamt elf Schriften vor, die er zwischen 2013 und 2017 teils aus der damals verbüßten Haft heraus über das Internet und Mails verbreitet haben soll. Darin beschwört er einen angeblichen Kampf des „deutschen Volksgeistes“ gegen das Judentum, das auf Weltherrschaft ausgerichtet sei. Mahler hatte im Prozess eingeräumt, die Schriften verfasst zu haben und diese auch verteidigt. Der 87-Jährige war bereits mehrfach wegen Holocaust-Leugnung verurteilt worden und hatte seine Freiheitsstrafen von 2009 bis Oktober 2020 mit einer Haftunterbrechung in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg an der Havel abgesessen. 2015 war Mahlers Haft wegen seiner schweren Erkrankung unterbrochen worden. Als er die Strafe im April 2017 wieder antreten sollte, floh der damals 81-Jährige nach Ungarn und bat dort vergeblich um politisches Asyl. Nach seiner Auslieferung im Sommer 2017 musste Mahler seine Reststrafe absitzen.
taz. die tageszeitung
Der Neonazi Horst Mahler soll wieder ins Gefängnis – wegen antisemitischer Hetzschriften, die er während seiner letzten Haft verfasst hat.
[ "Horst Mahler", "Holocaust-Leugner", "Shoah", "Volksverhetzung", "Antisemitismus", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,329
Doping bei der Frauen-WM: Zwei Spielerinnen gesperrt - taz.de
Doping bei der Frauen-WM: Zwei Spielerinnen gesperrt Die Teams von Kolumbien und Äquatorialguinea müssen beide mit einer Spielerin weniger auskommen. Eine fiel bei einer Dopingkontrolle auf, die andere hatte zuvor für Spanien gespielt. Die kolumbianischen Ersatzspielerinnen: Ihre Teamkollegin Yineth Baron ist raus Bild: dapd BERLIN dpa | Der Fußball-Weltverband Fifa hat zwei Nationalspielerinnen der WM-Neulinge Kolumbien und Äquatorialguinea gesperrt. Die kolumbianische Ersatztorhüterin Yineth Baron wurde „wegen eines von der Norm abweichenden Analyseergebnisses der A-Probe“ bei einer Trainings-Dopingkontrolle am vergangenen Samstag vorläufig suspendiert. Das teilte die Fifa am Dienstag während der Vorrunden-Partie der Kolumbianerinnen gegen Schweden mit. Die erst kurzfristig wegen einer Knieverletzung von Stammtorhüterin Paula Forero nachnominierte Baron habe „das Recht, eine Analyse der B-Probe zu verlangen“, hieß es in der Fifa-Mitteilung. Die 25 Jahre alte Jade Boho vom WM-Exoten Äquatorialguinea wurde für die Dauer von zwei Monaten vorläufig weltweit für alle Fia-Wettbewerbe suspendiert. Grund ist offenbar, dass die für Rayo Vallecano spielende Jade Boho in der jüngeren Vergangenheit bereits für die spanische Nationalmannschaft in Länderspielen zum Einsatz gekommen war. Damit wäre ein Verbandswechsel und der Einsatz für Äquatorialguinea laut Fifa-Statuten unzulässig. Der WM-Debütant aus Afrika, der am Mittwoch in Gruppe D in Augsburg auf Norwegen trifft, durfte die Spielerin Emiliana als Ersatz nachnominieren. Schon im Vorfeld der WM war das Team aus Äquatorialguinea in den Verdacht geraten, sich regelwidrig Vorteile verschaffen zu wollen. So gab es unbewiesene Vorwürfe von Rivale Nigeria, in der WM-Qualifikation seien für Äquatorialguinea Männer zum Einsatz gekommen. Zudem schwelen Zweifel, ob die Einbürgerung mehrerer brasilianischer Spielerinnen den Fifa -Regeln entsprach.
taz. die tageszeitung
Die Teams von Kolumbien und Äquatorialguinea müssen beide mit einer Spielerin weniger auskommen. Eine fiel bei einer Dopingkontrolle auf, die andere hatte zuvor für Spanien gespielt.
[ "Frauenfußball", "Fußball-WM", "Frauen-WM", "Fußballweltmeisterschaft", "Fußball", "Sport", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,330
Istanbuls Gezi-Park: Kaum geöffnet, schon wieder zu - taz.de
Istanbuls Gezi-Park: Kaum geöffnet, schon wieder zu Bäume gepflanzt, Rasen gesät: Der Gezi-Park durfte wieder genutzt werden. Aber nur für kurze Zeit - weil sich für Montagabend Demonstranten angekündigt hatten. Noch sitzt nur die Polizei auf den Bänken. Wer löst sie ab? Bild: ap ISTANBUL dpa/rtr/ap | Der Gezi-Park im Zentrum Istanbuls ist am Montag erstmals seit der gewaltsamen Räumung Mitte Juni wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, aber offenbar aus Sorge vor neuen Protesten nur wenige Stunden später abermals geschlossen worden. Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu hatte bei der Eröffnung am Montag lokalen Medienberichten zufolge gesagt, dass illegale Versammlungen im Park nicht geduldet würden. Mit Blick auf das Protestbündnis „Taksim Solidarität“ fügte er hinzu, der Park gehöre nicht einzelnen Gruppen, sondern allen Menschen in Istanbul. Für den Abend war jedoch eine neue Protestkundgebung im Gezi-Park angekündigt. Mutlu warnte vor Demonstrationen. Man werde nicht zulassen, dass Parks als Schauplätze für Kundgebungen missbraucht würden, sagte er. Offenbar um die geplante Versammlung von AktivistInnen zu verhindern, forderte die Polizei nur drei Stunden später alle Besucher auf, das Gelände wieder zu verlassen und riegelte den Park ab. Seit der Vertreibung der Demonstranten hatten die Behörden im Gezi-Park neue Bäume, Blumen und frischen Rasen pflanzen lassen. „Wir sehen hier, dass unsere Arbeit getan ist“, ergänzte Mutlu, mit Blick auf das frische Grün. Der Gezi-Park ist zum Symbol für die landesweiten Proteste in der Türkei geworden. Sie hatten sich an Regierungsplänen entzündet, eine der letzten Grünflächen im Stadtzentrum zu bebauen, und dauern seit Ende Mai an. Inzwischen richten sich die Proteste vor allem gegen den autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Ende Juni waren die Straßenproteste weitgehend abgeebbt. Am Samstag setzten die Sicherheitskräfte jedoch Wasserwerfer und Tränengas gegen Menschen ein, die auf dem Taksim-Platz und im angrenzenden Gezi-Park demonstrieren wollten. Im Zuge der Proteste waren im Juni nach Angaben des Türkischen Ärzteverbandes vier Menschen getötet und 7500 verletzt worden.
taz. die tageszeitung
Bäume gepflanzt, Rasen gesät: Der Gezi-Park durfte wieder genutzt werden. Aber nur für kurze Zeit - weil sich für Montagabend Demonstranten angekündigt hatten.
[ "Taksim-Platz", "Gezi-Park", "Proteste in der Türkei", "Taksim Solidarität", "Türkei", "Europa", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,331
„Wischmop“und mehr - taz.de
„Wischmop“und mehr ■ Auf dem Weg zur Gründerstadt Hamburg „Putzarbeit nach Hausfrauenart“– mit dieser Anzeige im Wandsbeker Wochenblatt begann das Geschäftsfrauenleben von Elke Schümmer (56) und Hedda Rückriem (47). Nachdem ihre Verträge bei einer Telefonmarketingfirma ausgelaufen waren, wollten sie weiter berufstätig sein. Am liebsten selbständig. Inzwischen vermittelt ihre Firma „Wischmop“15 Mitarbeiterinnen zum individuellen Hausputz. Für 25 Mark die Stunde kaufen die Putzfrauen auch ein, bügeln, waschen Wäsche – echte „Perlen“eben. Elke Schümmer und Hedda Rückriem sind zwei von rund 4000 HamburgerInnen, die sich im vergangenen Jahr selbständig gemacht haben. Seit einigen Jahren gibt es geradezu eine Welle von Existenzgründungen in Hamburg. Der Stadtstaat steht damit bundesweit an zweiter Stelle hinter Brandenburg. Für Gründungswillige gibt es mittlerweile eine Unzahl von Förderprogrammen – bei Land, Bund und EU. Das richtige Programm suchen die Spezialisten von der staatlichen Hamburger Initiative für Existenzgründungen und Innovationen H.E.I. heraus. H.E.I. soll als Drehscheibe Gründungsinteressierte an andere Hamburger Institutionen weitervermitteln. Bei H.E.I. gibt es außerdem ein Scheckheft für eine Vielzahl von Seminaren, in denen man zum Beispiel den Umgang mit Banken proben kann, Personalkosten kalkulieren lernt oder Gewerbeobjekte richtig anmieten. Außerdem vermittelt H.E.I. Partnerschaften für JungunternehmerInnen ( Die BürgschaftsGemeinschaft Hamburg übernimmt Ausfallbürgschaften für Kredite von Banken und Sparkassen. Das Risiko decken der Bund und das Land Hamburg. Diese Institution vermittelt auch zinsgünstige Darlehen der Deutschen Ausgleichsbank ( Weitere Ansprechpartner für ExistenzgründerInnen sind Handelskammer (Handwerkskammer (Arbeitsamt Hamburg ( cis
cis
■ Auf dem Weg zur Gründerstadt Hamburg
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,332
hamburger szene: Als wäre die Not der Bettler ansteckend - taz.de
hamburger szene: Als wäre die Not der Bettler ansteckend So schlimm bin ich doch gar nicht“, sagt er leise und senkt den Blick. Kurz verharrt er, sackt in sich zusammen, rafft sich auf und versucht es weiter, fragt die Leute in der Hamburger S-Bahn gen Bergedorf nach Geld, wird gemustert, abgewiesen, meistens ignoriert. Ich habe das selber oft gemacht, habe vielleicht kurz hochgesehen und den Kopf geschüttelt, wenn da jemand stand, der um Hilfe bat. Manchmal aber hat mein eher dickes Großstadtfell Löcher, dann funktioniert das nicht, dieses Ausblenden von Leuten, die vor mir stehen und etwas brauchen. Neulich war so ein Tag. Ich hatte gerade ein Buch geschenkt bekommen. Mit dem setze ich mich in die S-Bahn, will raus aus der Stadt und im Wald ein wenig wandern und lesen. Schien mir passend, denn es geht in der wahren Geschichte um ein Ehepaar, etwa Mitte 50. Die beiden verlieren alles, weil sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Stehen auf einmal mittellos und wohnungslos da und begeben sich auf eine Wanderung. Fragt sie unterwegs jemand, warum sie in ihrem Alter so viel Zeit haben und dann auch noch wild campen statt bequem im Hotel zu schlafen, sagen sie: „Weil wir alles verloren haben und obdachlos sind.“ Und erleben: Abwehr. Als wäre Not ansteckend, nehmen die Gesprächspartner sofort Reißaus. Ich konnte dieses Buch nicht in der S-Bahn lesen und alles um mich herum ausblenden. Der „So schlimm bin ich doch ich gar nicht“-Mann bekommt mein letztes Kleingeld, es sind nur noch acht Cent. Es ist mir Unangenehm, ihm acht Cent zu geben, murmele eine Art von Entschuldigung, er zuckt mit den Schultern und zieht weiter. Vor ihm haben schon drei andere Männer um Geld gebeten und welches bekommen. Nach ihm kommt ein junger Typ zu mir, aus Rumänien sei er, Diabetes habe er, er brauche Insulin, er wedelt mit einer Insulinpumpe vor meiner Nase herum. Keine Ahnung, was davon stimmt. Aber geht es darum überhaupt? Das Ehepaar in dem Buch geht irgendwann zu einer anderen Geschichte über und beantwortet die Frage nach dem Reisegrund mit: „Weil wir alles verkauft haben und uns jetzt Zeit nehmen.“ Nun erfahren sie: Bewunderung. So viel Mut hätte man ja auch gern, man wolle alles wissen. So groß die Sorge davor ist, sich mit dem Elend der anderen zu infizieren, so groß ist offenbar auch der Wunsch, etwas von dem Mut abzugreifen. Er rafft sich auf und versucht es weiter, fragt die Leute in der S-Bahn nach Geld, wird gemustert, abgewiesen Ich gebe dem Insulin-Mann einen Zehn-Euro-Schein, was anderes habe ich nicht mehr. Eine alberne Sekunde denke ich, dass zehn Euro doch viel zu viel sind und ob er vielleicht wechseln kann. Dann steige ich einfach aus, mehr Geld habe ich nicht dabei. Ilka Kreutzträger
Ilka Kreutzträger
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,333
Kohleausstieg in Europa: Ein Ende mit Schrecken - taz.de
Kohleausstieg in Europa: Ein Ende mit Schrecken Die EU rühmt sich ihrer Klimaziele. Wenn sie die ernst nimmt, gibt es nur eins, sagt eine neue Studie: Sofort raus aus der Kohle! Für zwei Blöcke im Kraftwerk Niederaussem ist 2017 der Ofen aus Foto: dpa BERLIN taz | Wenn Deutschland Ernst machen will mit dem Klimaschutz, müssen hier 2017 und 2018 etwa ein Dutzend Kohlekraftwerke stillgelegt werden. Das sind vier mehr als bisher geplant. Eine nächste Welle der Abschaltungen müsste es dann rund um 2020 geben und bis spätestens 2030 wären alle deutschen Kohlekraftwerke kalt. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Thinktanks „ClimateAnalytics“, im Auftrag der dänischen KR-Umweltstiftung. Dieser Kohleausstieg wäre doppelt so schnell wie von der Bundesregierung vorgeschlagen. Erst diese Woche hatte Wirtschafts-Staatssekretär Rainer Baake gefordert, bis 2030 die Hälfte der deutschen Kohlekapazitäten stillzulegen. Die Studie „A Stress Test for Coal in Europe“ ist eine aufwändige Rechnung für eine simple Frage: Was bedeutet das Pariser Klimaabkommen von 2015 für die Kohlekraft in der EU, die ein Viertel des Stroms liefert? Die Antwort: Schnelle Abschaltung aller etwa 300 europäischen Kohlemeiler, nämlich bis 2030. Denn wenn bis Mitte des Jahrhunderts global praktisch kein Kohlendioxid mehr emittiert werden darf, ist das Budget der EU-Kohle auf 6,5 Milliarden Tonnen CO2 begrenzt. Den Zeitpunkt für den Kohleausstieg haben die Experten von „ClimateAnalytics“ nach zwei Kriterien kalkuliert: Dem CO2-Ausstoß (dreckige Kraftwerke früher vom Netz) oder der Wirtschaftlichkeit (abgeschriebene Kraftwerke zuerst). Je nach Berechnung verschwinden in den nächsten Jahren einzelne Kraftwerke früher oder später: Je älter und dreckiger ein Meiler, desto schneller wird er stillgelegt. Je jünger und moderner, desto länger bleibt er am Netz. Dennoch gibt es junge Kraftwerke wie Moorburg bei Hamburg oder Datteln in NRW, die nach diesem Fahrplan abgeschaltet werden müssen, bevor sie sich amortisieren können. Kraftwerke müssen sterben, bevor sie abgezahlt sind Nach den Kalkulationen geht es zuerst den älteren Kraftwerken in den südlichen und östlichen EU-Ländern an den Kragen. Dabei haben schon bislang sieben EU-Länder gar keine Kohle, andere wie Frankreich, Großbritannien oder Finnland haben den Ausstieg in 10 bis 15 Jahren beschlossen. Nur Polen und Deutschland, die zusammen die Hälfte der europäischen Kapazität stellen, halten aus politischen und ökonomischen Gründen bislang an der Kohle fest. Sie haben auch in den letzten Jahren noch in die Kohle investiert, was sich nun rächt. Denn manche Projekte werden ihr Investment nicht wieder einspielen können. Denn lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, schreiben die Experten: Bis 2020, also in drei Jahren, „müssen ein Viertel der Kohlekraftwerke in der EU abgeschaltet werden“, fünf Jahre später noch einmal 47 Prozent. Denn wenn die bisherigen Kraftwerke weiterlaufen, würden sie ihr CO2-Budget bis 2050 um 85 Prozent überschreiten. Für ClimateAnalytics-Chef Bill Hare ist dieser schnelle Kohleausstieg „eine der größten Herausforderungen für Europa. Das wäre für jede Region eine gigantische Aufgabe, aber die EU hat bereits die Instrumente dafür.“ So müssten Erneuerbare ausgebaut werden, die betroffenen Regionen müssten beim Übergang zu anderen Strukturen unterstützt und neue Investitionen müssten abgesichert werden. Vor allem müsse der EU-Emissionshandel verbessert werden. Gerade darüber stimmt das Europäische Parlament am nächsten Mittwoch ab. Die neue Studie soll den Abgeordenten klar machen, worum es geht.
Bernhard Pötter
Die EU rühmt sich ihrer Klimaziele. Wenn sie die ernst nimmt, gibt es nur eins, sagt eine neue Studie: Sofort raus aus der Kohle!
[ "Pariser Abkommen", "Kohleausstieg", "Klimawandel", "Ökologie", "Öko", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,334
Mobil ohne Blech vor der Tür - taz.de
Mobil ohne Blech vor der Tür Keine Parkplatzsuche, keine Reparaturen: Auto fahren, ohne eins zu besitzen, ist für viele Kölner eine attraktive Option. Auch Unternehmen entdecken Carsharing als Alternative zum eigenen Fuhrpark Von Jessica Düster Frühling. Die Sonne lockt nach draußen, Brückentage verführen zu verlängerten Wochenenden mit einem Trip in die Eifel oder an die Küste. Am komfortabelsten geht das für viele mit dem Auto. Wer keins besitzt, dem verhilft Carsharing zu Mobilität. „Wenn Sie sich heute dazu entschließen, Carsharing-Kunde zu werden, können Sie am nächsten Werktag ab 13 Uhr losfahren“, meint Ulrich Ferber, Geschäftsführer von cambio Köln/Stattauto Carsharing GmbH. Ist man bereits Kunde, kommt man noch schneller an einen fahrbaren Untersatz. Voraussetzung ist die Buchung per Telefon oder Internet – und dass das gewünschte Fahrzeug verfügbar ist. Bei einer durchschnittlichen Wunscherfüllungs-Quote von 90 Prozent, so Ferber, sei das im Falle einer zeitigen Buchung gewährleistet. „Wenn Sie außerdem auf einen anderen Wagentyp oder eine andere Station ausweichen können, erhöhen sich die Chancen bei einer kurzfristigen Buchung.“ Bereits seit 1992 gibt es Carsharing in Köln. In den ersten Jahren firmierte man unter „Stattauto Köln“, bevor im März 2000 der Zusammenschluss mit „StadtteilAuto Aachen“ und „Stadtauto Bremen“ zu „cambio“ erfolgte. Seitdem werden Dienstleistungen wie Marketing, Finanzwesen, Internetauftritt und der Buchungsservice zentral von Bremen aus erledigt. In Köln gibt es mittlerweile 22 Stationen mit Namen wie „Wicht“ an der Wichterichstraße in Sülz oder „Holle“ an der Hollweghstraße in Kalk, an denen man die Autos abholt und zurückgibt. Die neueste Station liegt in der Tiefgarage unter dem Heumarkt, die größte mit 40 Fahrzeugen in der Maastrichter Straße, dem Sitz von cambio Köln. Bei Bedarf richtet cambio weitere Stationen ein. So werden in Kooperation mit der GAG/Grubo Tiefgaragenplätze für Carsharing genutzt; deren Mieter erhalten Sonderkonditionen. An der Station „Stadthaus“ mit 16 Pkw bedienen sich ausschließlich Mitarbeiter der Stadt Köln. Bislang teilen sich 4.300 Kölner die 130 cambio-Autos im Stadtgebiet. Das entspricht etwa 33 Nutzern pro Fahrzeug und liegt damit über dem bundesweiten Schnitt von 27,3. Nach Angaben des Bundesverbands CarSharing e.V. (bcs) wird ein Privat-Pkw statistisch gesehen sogar nur von 1,9 Personen genutzt. Unter dem Motto „Nutzen statt besitzen“ setzt sich der Naturschutzverband BUND für die so genannte intelligente Nutzung des Pkw ein. Das Potenzial an Carsharing-Kunden bundesweit, so der BUND in einer Untersuchung über zukunftsfähige Verkehrspolitik, werde vom Bundesverkehrsministerium auf über zwei Millionen geschätzt; andere Studien gingen von bis zu sieben Millionen Kunden aus. Würden bis 2015 nur Teile dieses Potenzials erreicht, hält der BUND den weiteren Ausbau des Straßennetzes für überflüssig. „Der ökologische Gedanke ist heute ein angenehmer Begleiteffekt“, berichtet Ulrich Ferber, der bei der Gründung von „Stattauto Köln“ 1992 noch als „ökologischer Spinner“ belächelt wurde. In erster Linie zähle bei den Kunden heute jedoch das Preis-Leistungs-Verhältnis. Der Aspekt der Umweltfreundlichkeit ist zwar auch für Elisabeth Herles wichtig, aber die Entscheidung für Carsharing traf die cambio-Kundin, nachdem ihr altes Auto den Geist aufgab. „Mein Mann und ich sind beide Radfahrer und brauchen nur ab und zu ein Auto“, erklärt die 31-jährige Journalistin. „Mit einem eigenen Kleinwagen wären wir wohl auf die gleichen Kosten gekommen, aber so entfällt die lästige Parkplatzsuche, man hat nach Bedarf verschiedene Autotypen zur Auswahl und muss sich weder um Reparaturen noch um Versicherungen und so weiter kümmern“, erklärt Herles. Nicht nur für Privatkunden ist das Carsharing eine Alternative. „Wir haben mittlerweile etwa 60 Prozent Geschäftskunden“, sagt Ulrich Ferber. Einer davon ist der Pflegedienst Carola Leyendecker, deren 25 Mitarbeiter hauptsächlich Patienten in der Innenstadt betreuen. „Aber wenn wir Aufträge außerhalb haben, nutzen wir Carsharing“, berichtet Geschäftsführer Marc Bennerscheidt. Für den Pflegedienst sei dies die deutlich preisgünstigere und zeitlich flexiblere Alternative zum eigenen Fuhrpark.
Jessica Düster
Keine Parkplatzsuche, keine Reparaturen: Auto fahren, ohne eins zu besitzen, ist für viele Kölner eine attraktive Option. Auch Unternehmen entdecken Carsharing als Alternative zum eigenen Fuhrpark
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,335
Wie fair ist der „faire Handel“? - taz.de
Wie fair ist der „faire Handel“? ■ Von der Alternativstruktur über die Anpassung an die Verhältnisse bis zur lukrativen Geschäftsidee / Eine Stellungnahme zur Krisensitzung bei der „Gepa“ Heute soll in Schweden über die Zukunft des Dritte-Welt -Importeurs Gepa (Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt) entschieden werden. Für die BefürworterInnen der angestrebten Professionalisierung sind neue Vertriebswege, extra Supermärkte oder der Versandhandel, eine Möglichkeit, neue Kundenkreise anzusprechen. Die KritikerInnen befürchten, daß die entwicklungspolitische Bewußtseinsarbeit auf der Strecke bleiben wird (s. taz vom 13.7.). Zentrale Bedeutung nimmt in diesem Konflikt der Begriff „fairer Handel“ ein, den die Gepa zur Leitlinie ihrer künftigen Geschäftspolitik machen will. Die beiden Autoren sind frühere Gepa-Mitarbeiter, Sozialwissenschaftler und haben Schein und Wirklichkeit des „fairen Handels“ untersucht. Im Rahmen der Aktion Dritte Welt Handel (A3WH) hatte die Gepa neben politischer Aufklärung die Aufgabe des entwicklungsbezogenen Handels. Dabei sollte sie Selbsthilfegruppen in der Dritten Welt in ihren Bestrebungen um Unabhängigkeit unterstützen, indem sie „selektiv“ mit ihnen handelte, wie die Kriterien zur Förderung solcher Projekte es vorsahen. Die politischen Ziele blieben auf der Strecke. Es bleibt das Geschäft mit den Projekten in der Dritten Welt, das „fairer Handel“ genannt wird. Europaweit wird er von verschiedenen alternativen Handelsorganisationen, die sich selbst „Alternative Tryde Organizations“ (ATOs) nennen, betrieben und der alternativen Szene als „fairer“ oder „gerechter Handel“ verkauft. Der faire Handel oder alternative Handel soll die Unmoral im herkömmlichen Handel zum Anlaß nehmen, Partner in der Dritten Welt nach sozialen Gesichtspunkten auszuwählen und diesen „faire“ Bedingungen anbieten. Die geplante Ausweitung dieses Modells soll die Tauschbedingungen für Produzenten in der Peripherie verbessern helfen und so zu gerechteren Handelsbedingungen beitragen. Der faire Handel muß sich natürlich daran messen lassen, was er dem Partner in der Dritten Welt effektiv mehr bringt und wie er dessen Situation dauerhaft verbessert. Mehr bringen soll dieser Handel durch höhere Preise. Im Vergleich zu anderen Anbietern sind Dritte Welt-Läden ja recht teure Einkaufsquellen. Diese Läden sind meist gemeinnützig organisiert; Betreiber arbeiten unentgeltlich. Der so entstehende Überschuß soll den Partnern zugute kommen. Jeder kennt die bunten afrikanischen Flechtkörbe Kostenpunkt für den Kunden: etwa 44 Mark. Die Produzentin in Kenia erhält für diesen Korb 4 Mark 30, also etwa zehn Prozent. Die Einnahmen der Handelsorganisation, hier der Gepa, sind um ein Vielfaches höher. Wie in diesem Beispiel gezeigt, ist der Anteil, den die Produzenten erhalten, nur ein Bruchteil dessen, was sich die ATOs als sogenannten Kostendeckungsbeitrag (Erlös) einstecken. Die Kalkulation für solche Produkte wird zwar offengelegt, irreführend ist aber, daß sie auf dem sogenannnten FOB-Preis basiert, also dem Preis, den die Ware im Exporthafen in Afrika kostet. Dieser gibt keine Auskunft darüber, wieviel davon für die ProduzentInnen übrigbleibt, obwoh gerade dies von Interesse ist. Bei Kokosbodenbelag aus Indien nimmt die Gepa als Basis den Preis ab Antwerpen an. Das gibt keinen Aufschluß, was nach Abzug von Transport, Versicherung, Zwischenhandel und Verwaltung noch beim einzelnen Produzenten ankommt. Beim Kakao aus Bolivien ist es gar der Einkaufspreis in Basel, der als Basis für die Kalkulation dient. So wird die Schweiz zum Entwicklungsland. Mögen die ProduzentInnen im fairen Handel vergleichsweise etwas mehr für ihre Arbeit erhalten als im herkömmlichen Handel, so bleibt im Grunde doch alles beim alten: Die Mehreinnahmen der ProduzentInnen sind gering, im Vergleich zum hohen Endverkaufspreis und den Einnahmen der Importeure aber derart gering, daß die typischen Bedingungen herkömmlichen Handelns mit Entwicklungsländern bestehen bleiben. Der zweite wesentliche Aspekt fairen Handels soll die Kontinuität und damit die Sicherheit für die PartnerInnen sein. Entwicklungen im Verkauf von Juteartikeln, Alpaka -Produkten, Gewürzsoßen und einigem mehr zeigen jedoch, daß die Importorganisationen diesen Markt mit seinen Nachfrageschwankungen nicht kontrollieren. Sie können sich zwar durch geschickte Sortimentspolitik und damit einhergehendem Lieferantenwechsel selbst im Markt behaupten und expandieren, wie es die Gepa jetzt vorhat. Die ProduzentInnen bleiben aber wie gehabt dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage ausgesetzt, wenn nicht gar für sie das Risiko erhöht wird. In Cochas Grande, einem kleinen Dorf in den peruanischen Anden, haben die SchnitzerInnen der Asociacio Luis Vilca eine bittere Erfahrung hinter sich. Als ihr Geschäft mit geschnitzten Kürbissen, gefördert durch den Dritte-Welt -Handel, immer besser ging, verließen sie ihr Land uand zogen an die Straße. Sie konnten ihre Ware so besser abtransportieren und außerdem noch an Touristen verkaufen. Dann wurde der Dollar teurer, die ATOs konnten die Produkte nicht mehr verkaufen und also auch nicht einkaufen. Die Touristen blieben aus. Die Kürbisschnitzer sind ihrer erneuten Armut überlassen - nun auch noch landlos. In La Paz bildeten sich zu Zeiten, als Alpaka-Pullover sich hier in der Szene größter Beliebtheit erfreuten, immer neue Kooperativen von StrickerInnen, nicht zuletzt durch die starke Nachfrage der ATOs. Niemand hatte diesen StrickerInnen erzählt, wie schnell hier die Mode wechselt. Heute betteln sie vergeblich um Aufträge und arbeiten zu Löhnen weit unter dem Existenzminimum. Jutetaschen sind in unserem Straßenbild immer seltener anzutreffen, nachdem sie in den siebziger Jahren als Visitenkarte der entstehenden Alternativ-Szene überall zu sehen waren. In der Tat haben sich die Umsätze dezimiert. Was ist aus den ProduzentInnen in Bangladesch geworden, denen diese Projektarbeit als sichere Einnahmequelle dargestellt wurde? Die Geschichte solch alternativen Handels ist die Geschichte der Förderung von Exportabhängigkeit, ganz im Gegensatz zu den ursprünglichen Absichten. Der Begriff Partnerschaft wird ideologisiert und damit Gleichheit und Gegenseitigkeit vorgetäuscht, die nicht vorhanden ist. Im Gegenteil verfestigen sich typische einseitige Abhängigkeiten und vergrößern sich sogar. Kommerzialisierung eines solchen Dritte-Welt-Handels wird nicht Reformen zum Wohl der Partner, sondern Verstärkung externer Abhängigkeiten für diejenigen bedeuten, die bislang dem Weltmarkt noch nicht direkt ausgesetzt waren. So ist das Vorhaben „Kommerzialisierung“ letztlich nichts anderes als ein Rezept zur marktgerechten Anpassung eines Handelsunternehmens an die herrschenden Gegebenheiten. Weil es keine wirklichen Veränderungen gibt, ist dieser Handel weder fair noch gerecht und deshalb auch kein Modell. Solche Ideen sind eher ein Beitrag zur Verschleierung des Welthandels als Instrument kapitalistischer Durchdringung und neokolonialer Aneignung. Diese Neuauflage subtiler Modernisierungstheorien hilft das zu legitimieren, was ursprünglich Angriffspunkt der A3WH sein sollte. Gelingt es nicht, die geplante Entwicklung zu stoppen, wird der Dritte -Welt-Handel zur lukrativen Geschäftsidee, die in der Versorgung des gehobenen Bürgertums mit attraktiven Produkten, versehen mit einem moralischen „touch“, ihre Marktchancen erkennt. Und dies geschieht dann im Falle der Gepa auch noch auf Initiative kirchlicher Hilfswerke. Michael Sommerfeld/Rainer Stahl
r.stahl/m.sommerfeld
■ Von der Alternativstruktur über die Anpassung an die Verhältnisse bis zur lukrativen Geschäftsidee / Eine Stellungnahme zur Krisensitzung bei der „Gepa“
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,336
Kommentar ungarisches Mediengesetz: Leider kein Triumph - taz.de
Kommentar ungarisches Mediengesetz: Leider kein Triumph Die ungarischen Verfassungsrichter haben sich bisher nicht mit Courage hervorgetan. Vermutlich soll das kritische Urteil ein Signal an das Ausland sein. Ungarns Verfassungsgerichtshof hat Teile des seit Jahresbeginn geltenden Mediengesetzes aufgehoben. Einzelne Bestimmungen verstoßen gegen die Pressefreiheit. Eine Entscheidung, die von Presseleuten in Ungarn und dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) gleichermaßen begrüßt wird. Der DJV feiert den Spruch jedoch nicht als "Sieg für die Pressefreiheit". Denn mit Inkrafttreten der neuen Verfassung in zehn Tagen werde er bedeutungslos. Da hat der DJV wohl recht. Warum die Verfassungsrichter, die sich sonst nicht durch Entscheidungsfreudigkeit hervorgetan haben, gleichsam in letzter Sekunde Courage zeigen, ist nicht eindeutig zu interpretieren. Mit Jahresbeginn wird das Verfassungsgericht durch erzwungene Frühpensionierungen und die Erweiterung um zusätzliche Mitglieder ganz anders, nämlich noch regierungskonformer, aussehen. Kritik an den oft schludrig im Schnellverfahren beschlossenen Gesetzen ist dann noch weniger zu erwarten. Also zeigen jetzt Leute, die bald nichts mehr zu sagen haben werden, Premier Viktor Orbán, der infolge der Wirtschaftskrise auch politisch angeschlagen ist, die Zunge. Es gibt aber auch eine andere Deutung, wonach der Spruch - wie alle anderen Entscheidungen bisher - mit Orbán abgesprochen war und als Signal für das Ausland gemeint ist: Seht her, Ungarn ist ein Rechtsstaat. Selbst die EU hatte ja anfangs gegen die Einschränkung der Medienfreiheit protestiert. Die rechtsnationalistische Regierungspartei Fidesz, die das Mediengesetz stets als Glanzstück der Demokratie verteidigt hatte, war jedenfalls vorab informiert und keinesfalls überrumpelt. Selbst wenn die beanstandeten Artikel nachgebessert werden sollten, muss Orbán keine Abstriche machen. Für die Gleichschaltung der Medien ist die Regierung nicht auf das Mediengesetz angewiesen.
Ralf Leonhard
Die ungarischen Verfassungsrichter haben sich bisher nicht mit Courage hervorgetan. Vermutlich soll das kritische Urteil ein Signal an das Ausland sein.
[ "Debatte", "Gesellschaft", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,337
Faye über Heidegger: Disparat in Führers Nähe - taz.de
Faye über Heidegger: Disparat in Führers Nähe Emmanuel Fayes polemisches Buch über die Nähe Heideggers zur NS-Ideologie hat eine heftige Kontroverse ausgelöst. Der Philosoph soll in den Giftschrank. Und Denker wie Foucault gleich mit? Und wieder einmal ein Buch über Heidegger. Bild: dpa Wieder ein Buch, das Rumor machte, als es im Ausland erschien und gleichwohl sofort in Deutschland beachtet wurde - was ja nicht schlecht ist. Wieder ein Buch über Heidegger, das, obwohl anspruchsvoll und gewichtig, bei den Deutschen in keinem der bekannten Heidegger-Verlage erscheint, die sich ja überhaupt nicht zu verstecken brauchen, sondern diesmal sogar bei einem Außenseiter der Branche. Der Autor, Emmanuel Faye, kann sich über die Ausstattung seines Fünfhundert-Seiten-Werks nicht beklagen. Aber wird es das Bild Heideggers bei den Gelehrten und Gebildeten verändern? In Frankreich hat es das nicht getan. Wie stehen die Chancen dafür in Deutschland? In Deutschland wird man sich zunächst über die Fülle der sachlichen Fehler ärgern, Kleinigkeiten zwar, aber doch viele. Sie sind in den meisten Fällen unwichtig - Ernst Jünger war nie Freikorpsangehöriger -, aber so etwas mag vor allem anderen erwähnt werden, damit das dann erledigt ist. Ernster zu nehmen sind die verkürzten Hinweise, die ein falsches Bild von einer Situation geben. Faye erwähnt einen Brief Heideggers an seinen Freund, den Theologen Rudolf Bultmann in Marburg, der sich im Dezember 1932 beunruhigt erkundigt hatte, ob der Philosoph tatsächlich der Hitler-Partei beigetreten sei. Faye zitiert aus Heideggers Antwort, das seien "Latrinengerüchte", aber er zitiert nicht Heideggers Ausbruch, er gehöre dieser Partei nicht an und er werde ihr niemals angehören. Das ist einerseits komisch, weil er als Rektor der Freiburger Universität wenige Monate später eben doch beitrat, andrerseits sagt es aber doch einiges aus über Heideggers politisches Empfinden vor 1933. Fayes Buch strotzt von Vorwürfen, deren Plausibilität sich Auslassungen verdankt, und von Fehleinschätzungen. So deutet er Heideggers Bemerkung vor Studenten im Seminar, man müsse sich über den Staat Gedanken machen, weil der ja "auch noch nach 50 oder 100 Jahren existieren" solle, denn: "Unser Staat wird in 60 Jahren bestimmt nicht mehr vom Führer getragen, was dann aber wird, steht bei uns." Das muss man verstiegen nennen, darin darf man aber vielleicht auch Spurenelemente von Ironie entdecken. Ob es aber Heideggers Worte sind, ist alles andere als sicher, denn zitiert wird aus Seminarprotokollen. Aber auch dabei sollte man sich nicht aufhalten, wenn man sich daran macht, über Fayes Buch nachzudenken. Heidegger hat sich, und dafür gibt es schier endlos zuverlässige Zeugnisse gegenüber seinen Studenten emphatisch für Hitler und den NS-Staat eingesetzt. Er hat, über den Rücktritt vom Rektorat hinaus an einer Idee des Nationalsozialismus festgehalten, die wahrscheinlich seine spezielle war, die aber hässliche Züge genug aufweist, um davor zurückzuschrecken. Heidegger hat immer wieder mit Adjektiven wie "völkisch" und "rassistisch" herumargumentiert, herumschwadroniert, sodass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass er sich nicht einiges dabei gedacht hat. Das meiste davon weiß man seit langem. Relativ neu ist, dass in das Gesamtbild die Seminarprotokolle aus der Rektoratszeit eingefügt sind. Relativ neu ist auch die Unbedenklichkeit, mit der Faye fast alles, was man von Heidegger weiß, als typisch nationalsozialistisch vorstellt. In der Masse wäre es unerträglich, das alles zu lesen - nicht nur dessen wegen, was richtig beobachtet ist, sondern auch, was falsch gesehen wird -, wenn der Autor nicht mit dem pamphletartigen Charakter seiner Schrift den Ausführungen einen Schwung gäbe, der den Leser leicht mitreißt. Immer wieder nennt Faye einzelne Wendungen oder ganze Passagen bei Heidegger "abscheulich". Er plädiert dafür, dass Heideggers Bücher nicht in die Bibliothek philosophischer Seminare gehören. Darüber wird man eher lächeln, als sich zu empörter Zurückweisung provoziert fühlen. Die Frage indes, die man sich mit Bedacht stellen sollte, lautet: wie kam das zusammen, was Faye als grobes Durcheinander begegnet und dann in seiner Wahrnehmung zu jenem Nationalsozialismus wird, den Heidegger in die Philosophie eingeführt habe. Dazu ist einiges zu sagen. Jeder, der sich näher mit Heideggers Leben und Werk beschäftigt, wird bald auf extreme Disparatheiten stoßen, die nicht miteinander zu vermitteln sind. Heidegger, einfacher Leute Kind, aufgewachsen in einem bischöflichen Knabenkonvikt, als junger Mensch begeisterter Leser expressionistischer Schriftsteller, pflegte einen zeitgemäßen antibürgerlichen Affekt. Zugleich war er aufstiegsorientiert, auf akademische Reputation aus und sog, einmal einem engen katholischen Milieu entkommen, genussfreudig die milde Luft des Kulturprotestantismus ein, um sie nach exzessiver Luther- und Kierkegaard-Lektüre mit pathetischem Schnauben wieder auszustoßen. Er gab ehrgeizig vor, die Universitätsphilosophie zu verachten, war aber als Philosophieprofessor an der Universität institutionenbewusst wie kein zweiter. Er war ganz gewiss kein Antisemit - fast möchte man mit Blick auf seine Biografie sagen: eher im Gegenteil -, aber er partizipierte bei Gelegenheit gern und patzig an den Vorurteilen seiner Zeit. Vor allem aber - das wurde ihm 1933 zum Verhängnis: Er teilte mit vielen Professoren das fatale Bedürfnis, mit den Studenten in vieler Hinsicht, auch im Politischen, eines Sinnes zu sein und das lebhaft zu bekunden. Diese Professorenkrankheit haben auch die 68er erlebt und immer mal wieder mit bissigem Spott darauf reagiert. Heidegger hat 1933/34 öfter den Studenten nach dem Munde geredet, als dass er durch eigene Einfälle begeistert hätte. Nach dem Zweiten Weltkrieg beklagte er sich dann bitter, dass er die Studenten nicht mehr erreiche. Richard Rorty hat einmal ein Gedankenspiel darüber angestellt, dass Heidegger durch ein paar leicht mögliche andere Schritte auf seinem Lebensweg in die Lage hätte kommen können, 1933 zu emigrieren. So, wenn er durch Kurt Riezler den erwünschten Ruf nach Frankfurt erhalten hätte. Der Heidegger der 50er-Jahre hätte durchaus zu einem Vorläufer der Grünen werden können. Von solchen Disparatheiten liest man bei Faye nichts, aber gerade von der Einseitigkeit des Pamphlets her stellt sein Buch eine begrüßenswerte Herausforderung dar, ihnen nachzuspüren. Das kann und sollte man auch in Sonderheit mit einer Konzentration auf das Philosophische tun, das bei ihm zu oberflächlich genommen wird. So macht Faye viel her von Heideggers Schüler Oskar Becker, der ein strammer Nazi wurde, und dem Karrierenazi Erich Rothacker, der hier sehr in die Nähe Heideggers gerückt wird. Beide haben als Kollegen auch noch in den 50er-Jahren an der Uni Bonn ihr Unwesen getrieben und fleißig Studenten promoviert. Tatsächlich sind die allermeisten Schüler Heideggers keine Nazis geworden, Hannah Arendt zum Beispiel, die ihn bis an ihr Lebensende als Philosophen verehrte. Zum Thema Disparatheit ist aber nach der Lektüre von Fayes Buch vielleicht noch ein Aspekt nachdenkenswert: Es gibt im 20. Jahrhundert etliche Philosophen, die sich als - direkte: Hans Jonas, oder indirekte: Michel Foucault - Schüler Heideggers bezeichnet haben. Keiner von ihnen gleicht einem anderen von ihnen. Aber keiner mochte davon abrücken, sein Schüler gewesen zu sein, ihm viel zu verdanken, weder 1933 noch 1945 noch in späteren Jahren. Diesen Aspekt der Wirkung Heideggers streift Faye, der auch in seiner Bibliografie die Bücher nach gut und böse trennt, nur mit dräuenden Worten am Rande. Jedoch wenn es stimmte, was er im Untertitel seines Buchs behauptet, dann sollte man wohl den Nationalsozialismus neu im Lichte seiner Bedeutung für die Philosophie sehen? Das muss dann schließlich doch nicht sein. Emmanuel Faye: "Heidegger. DieEinführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis derunveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935". Aus demFranzösischen von Tim Trzaskalik. Verlag Matthes & Seitz, Berlin2009, 557 Seiten, 39,90 €
Jürgen Busche
Emmanuel Fayes polemisches Buch über die Nähe Heideggers zur NS-Ideologie hat eine heftige Kontroverse ausgelöst. Der Philosoph soll in den Giftschrank. Und Denker wie Foucault gleich mit?
[ "Buch", "Kultur", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,338
Debatte in NHL über Rauswurf der Russen: Putin on Ice - taz.de
Debatte in NHL über Rauswurf der Russen: Putin on Ice Alexander Owetschkin ist der beste Russe in der NHL. Weil er ein Fan des russischen Präsidenten ist, wird nun über den Rauswurf aller Russen aus der Liga diskutiert. Erfolgreichster russischer NHL-Spieler: Alexander Owetschkin im Einsatz für die Washington Capitals Foto: Patrick Semansky/ap Alle Russen raus! Es war nicht irgendwer, der den Rauswurf aller russischen Eishockeyprofis aus der nordamerikanischen Liga NHL gefordert hat. Dominik Hašek, einer der besten Torhüter aller Zeiten, war es. Der tschechische Olympiasieger von 1998 hat zwischen 1991 und 2008 über 850 Spiele in der Liga der bestverdienenden Eishockeypieler der Welt bestritten. Er war außer sich, als er gehört hatte, was Aleksander Owetschkin gesagt hatte, als er nach seiner Meinung zum Krieg Russlands gegen die Ukraine gefragt wurde. Owetschkin ist der erfolgreichste russische Eishockeyspieler in der Geschichte der Liga. Nur drei Spieler haben mehr Tore in der NHL erzielt als der 36-jährige Russe, der in seiner Heimat verehrt wird wie kaum ein zweiter Sportler und der bei den Washington Capitals, die er 2018 zum Titel geführt hat, ein Publikumsliebling ist. „Bitte keinen Krieg mehr“, sagte Owetschkin. „Egal wer am Krieg beteiligt ist – Russland, die Ukraine oder andere Länder –, ich denke, wir sollten friedlich in einer großartigen Welt leben.“ Über Wladimir Putin sagte er: „Nun ja, er ist mein Präsident.“ Und überhaupt sei es gerade sehr schwer, schließlich habe er Familie in Russland und außerdem sei er Sportler und habe mit Politik nichts zu tun. Wer sich auch nur am Rande mit der Karriere von Owetschkin beschäftigt hat, der kann da nur mit dem Kopf schütteln. Das Profilbild seines Insta­gram-Accounts zeigt ihn mit Wladimir Putin. 2017 hat er ein Promi-Netzwerk zur Unterstützung seines Präsidenten gegründet, das sich „Team Putin“ nennt. Und als Russland sich die Krim einverleibt und im Osten der Ukraine einen Krieg angezettelt hatte, veröffentlichte er auf Instagram ein Foto von sich, auf dem er ein Schild mit der Aufschrift „Save children from fascism“ hält. Die von Russland unterstützten Kämpfer in der Ost­ukraine haben sich gewiss gefreut über die propagandistische Unterstützung. Extreme Forderung Ein unpolitischer Sportler? Nein, das war Owetschkin gewiss nicht, und die Wut eines Dominik Hašek ist durchaus nachvollziehbar. Und doch ist seine Forderung extrem. Alle Russen aus der NHL rauszuschmeißen, beträfe auch Artemi Panarin, der bei den New York Rangers spielt. Der hatte vor gut einem Jahr in einem Interview den Umgang Russlands mit dem Oppositionspolitiker Alexei Nawalny kritisiert. Außerdem wagte er es anzumerken, dass es sich bei Wladimir Putin keineswegs um einen Übermenschen handle. Der sei ein ganz normales Wesen, das auch mal ersetzt werden könnte. Kaum hatte er das gesagt, wurden Vorwürfe laut, er habe als 20-jähriger Junior nach einem Spiel in Lettland ein 18-jähriges Mädchen geschlagen. Sein ehemaliger Jugendtrainer brachte die Vorwürfe auf. Nachdem sich niemand in Panarins ehemaligem Jugendteam fand, der sich daran hätte erinnern können, war bald klar, dass man Panarin einschüchtern wollte. Einen Fall Panarin, der sogar zu einer Geldstrafe geführt habe, wie es der Trainer behauptet hatte, hat es nicht gegeben. Wie hatte Goalie-Legende Hašek getwittert? „Alle Sportler repräsentieren nicht nur sich selbst, sondern immer auch ihr Land, dessen Werte und Handlungen.“ Was Panarin davon wohl hält? Würde die NHL nicht handeln, so Hašek weiter, mache sie sich indirekt mitschuldig am Töten in der Ukraine. Wie das in Russland ankommt, wird den Tschechen nicht wundern. Die Sportpostille Sowjetski Sport titelte: „Hašek gegen Owetschkin – Wie ein großer Torwart zu einem gewöhnlichen Nazi geworden ist“. Keiner der russischen Profis, die in den USA oder Kanada spielen würden, heißt es darin, würde unterstützen, was gerade in der Ukraine passiert. Worum es geht, bleibt im Dunkeln. Am Wochenende übrigens haben Owetschkins Capitals gegen Panarins Rangers gespielt. New York hat 4:1 gewonnen. Das Tor für Washington erzielte Owetschkin. Es war sein 762. in der NHL. Ginge es nach Hašek, wäre es sein letztes gewesen.
Andreas Rüttenauer
Alexander Owetschkin ist der beste Russe in der NHL. Weil er ein Fan des russischen Präsidenten ist, wird nun über den Rauswurf aller Russen aus der Liga diskutiert.
[ "NHL", "Russland", "American Pie", "Sport", "Serie", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,339
Fünfjähriger Superheld in den USA: „Batkid“ rettet San Francisco - taz.de
Fünfjähriger Superheld in den USA: „Batkid“ rettet San Francisco Stundenlang trieben die Schwerverbrecher „Riddler“ und „Pinguin“ in San Francisco ihr Unwesen. Doch die Stadt wurde von einem Superhelden namens „Batkid“ gerettet. Wer verbirgt sich hinter der Maske? Bild: reuters SAN FRANCISCO dpa | Der Superhelden-Wunsch eines krebskranken Jungen hat San Francisco am Freitag in Gotham City verwandelt. Der fünfjährige Miles Scott, der vor drei Jahren an Leukämie erkrankte, durfte in der US-Westküstenstadt als „Batkid“ auf Verbrecherjagd gehen. Organisiert wurde die stadtweite Aktion von der Make-A-Wish-Stiftung, die seit Jahrzehnten kranken Kindern besondere Wünsche erfüllt. Tausende Schaulustige säumten die Straßen und feuerten den kleinen Jungen in seinem schwarzen Batman-Kostüm an. Auch US-Präsident Barack Obama spornte Miles in einer Videobotschaft an. Unter dem Hashtag #SFBatKid schickten Menschen aus aller Welt Grüße ins fiktive Gotham City. Die örtliche Tageszeitung San Francisco Chronicle machte mit der großen Schlagzeile „Batkid rettet Stadt“ auf. Zwei schwarze Lamborghinis wurden mit gelben Aufklebern zu „Batmobilen“. Mit künstlichem Dampf ging es ab durch die Straßen von San Francisco. Ein ehrenamtlicher Helfer im Batman-Kostüm, Polizisten auf Motorrädern und Zigtausende Schaulustige standen Miles bei seinem Abenteuer zur Seite. Der Junge „rettete“ eine zum Schein gefesselte Frau entlang einer Cable-Car-Strecke. Er legte dem Riddler-Bösewicht beim Ausrauben einer Bank das Handwerk, und er stellte dem Pinguin-Schurken bis in ein Sportstadion nach. Fünf Stunden lang durfte sich Miles in Gotham City austoben. Helikopter kreisten über der Stadt, Straßen wurden gesperrt, und Hunderte Journalisten verfolgten die Aktion mit. Am Ende erhielt das strahlende „Batkid“ von San Franciscos Bürgermeister einen symbolischen Schlüssel für die Stadt. Miles, der mit seinen Eltern und einem jüngeren Bruder im Norden Kaliforniens lebt, geht es nach langer Behandlung seiner Leukämieerkrankung inzwischen besser. „Das waren drei lange Jahre“, sagte Vater Nick Scott vor der Menschenmenge am Rathaus der Stadt. Seit Juni komme Miles nun ohne Medikamente aus. Dies sei ein gebührender Abschluss, bedankte sich der Vater bei den Helfern und Schaulustigen für die gelungene Aktion. Von „Batkid“-Rufen angespornt streckte Miles stolz einen Arm mit geballter Faust in den Himmel.
taz. die tageszeitung
Stundenlang trieben die Schwerverbrecher „Riddler“ und „Pinguin“ in San Francisco ihr Unwesen. Doch die Stadt wurde von einem Superhelden namens „Batkid“ gerettet.
[ "Batman", "San Francisco", "Krebs", "Alltag", "Gesellschaft", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,340
Der homosexuelle Mann … und sein angeblich dunkles Geheimnis - taz.de
Der homosexuelle Mann … und sein angeblich dunkles Geheimnis Ein Münchner Modemacher wollte nicht beichten, dass er schwul ist. Das nimmt ihm die gesamte deutsche Weltpresse übel. Der Fall Moshammer. Ein Abschlussbericht Der Mann muss weg, raus. RTL hat zu tun, da gibt es noch Moshammer-Szenen in der „Ultimativen Chart Show“, in „Die größten TV-Hits aller Zeiten“ und in der „90er-Jahre-Show“, alles noch ungesendet, die Schere muss ran. Die ARD hat die Moshammer-Folge aus der Doku-Soap „Hausbesuche“ auf Eis gelegt, und Nestlé stoppte umgehend ihre „Nescafé Cappuccino“-Kampagne mit Moshammer. Der Mann ist tot. Aber sein Abgang war groß, à la bonheur! Kein Autounfall, kein Sturz von der Küchenleiter, nein, ein wirklicher Mord, stranguliert, von hinten, von einem Stricher, einem aus der untersten Kaste. Stoff genug für viele Boulevard-Schlagzeilen, für einen Stern-Titel, für die Bunte sowieso. Und die Hochzeit für die Poeten des Schmierenjournalismus: das „tragische Ende eines Doppellebens“ (dpa) und „er suchte die Liebe, wo München am dunkelsten ist“ (Bunte), „ganz unten im Milieu der Homosexuellen“ (Spiegel), als „Lumpensammler der Liebe“, getrieben nach „rostigen Lippen und harten Männerkörpern“ (Bild). Ein Feuerwerk der Klischees und Vorurteile. Und: So gar nichts habe man darüber gewusst, ja, gemunkelt schon, aber „er hat sein Outing nie vollzogen“ (Welt), sich „öffentlich nie bekannt“ (dpa), „hatte nie den Mut, sich zu bekennen“ (Süddeutsche Zeitung) – keine Beichte, das nehmen sie ihm übel jetzt. Und zerren die vermeintlich geheime Seite ans Licht. Voller Heuchelei, das ist ihre Rache. Dabei hat er ihnen die Tunte gegeben wie kein Prominenter vor ihm, mehr als 30 Jahre lang, hat seine manikürten Finger vor ihnen gespreizt, die Haare nachtschwarz lackiert, ihr hämisches Grinsen ertragen. „Paradiesvogel“ hieß das in ihrer Sprache. Doch niemand will etwas gewusst haben vom Leben dahinter? Die öffentliche Verdrängung gelingt perfekt, so als müsste man beim Ableben von Roberto Blanco plötzlich feststellen, dass man es zeitlebens mit einem Schwarzen zu tun gehabt hat. Moshammer spielte für sie den schrillen Hofnarren, die dralle Trine aus der Maximilianstraße – aber kein Wort darüber. „Erst mit seiner Ermordung wird deutlich, dass es da noch eine düstere, furchtbare Seite gab, über die man nicht zu viel wissen will“, bekennt Carl Graf Hohenthal in der Welt. Nur so konnte Rudolf Moshammer seinen Platz halten in der Öffentlichkeit, niedergeschwiegen und heimlich verachtet, aber Premium-Futter für die Fotografen. Und er hat jede Chance genutzt, diente sich den Boulevard-Redaktionen an, machte sich lächerlich auf der Eurovisions-Bühne, schleppte ein geföhntes Bündel Hund mit Schleife durch die Gegend, hochstapelte als „Modezar“ mit geleastem Rolls-Royce – Anerkennung und Respekt, dachte er, bekomme er nur, wenn er eine Fassade hochziehe, deren Glanz jedem das böse Wort abschneidet. So war Rudolph Moshammer, ein ganz gewöhnlicher Homosexueller. Dafür verachtete er sich, Homosexualität war ihm ein Unfall der Natur, der sich nicht mehr reparieren ließ, nur Tünche drauf, Puder und Farbe und schwere Stoffe mit Bommeln und Schleifen. Da war nicht einmal mehr zu ahnen, wie viel Schmutz sich darunter verbarg. Einmal am Ende der Siebzigerjahre, da zog ein Trupp aufgeweckter Schwuler demonstrierend an seinem Laden in der Maximilianstraße vorbei, und er kam vor die Tür und beschimpfte sie, wie die Bürger es taten. Er hatte sich entschieden, schwul sein wollte er nie, aber geliebt werden, ohne Einschränkung. Und die Schwulen? Heuchelei und Doppelmoral auch bei ihnen. Sie haben Moshammer nie gemocht, die barocke Tunte war untauglich als role model, und zwingt ihnen jetzt auch noch einen Blick hinter ihre Kulissen auf. Da kann man nur in Deckung gehen: „Moshammer war ganz und gar nicht typisch für die Schwulen in München“, sagt Münchens schwuler Stadtrat Thomas Niederbühl. Distanzierung auch in den Erklärungen des „Bund Lesbischer und Schwuler Journalisten“: „Schwule, Lesben und Stricher – gehören die etwa zusammen?“ Neeeiiiin! Außerdem „gibt es weitaus mehr heterosexuell Veranlagte, die die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen, als Schwule“, – was für eine Milchmädchenrechnung! Die gesamte Infrastruktur des homosexuellen Milieus wird getragen von den Säulen Sex und Geld, doch das darf keiner wissen. Es ist gerade mal ein paar Jahre her, dass das ramponierte Schwulenimage aufpoliert wurde mit Homo-Ehe, Wowereit und Westerwelle – das lässt man sich von einem Moshammer nicht wieder kaputt machen. Nein, die Schwulen trauern nicht, da ist keiner der ihren getötet worden, nicht so einer. Sie trauern so wenig wie die anderen, die ihn auch nicht haben wollten in ihrer Mitte, auch wenn er sich noch so drängte. „Bei aller Liebe zu Mosi“, schreibt gewohnt eiskalt Franz Josef Wagner in der Bild, „ich weine nicht.“ ELMAR KRAUSHAAR
ELMAR KRAUSHAAR
Ein Münchner Modemacher wollte nicht beichten, dass er schwul ist. Das nimmt ihm die gesamte deutsche Weltpresse übel. Der Fall Moshammer. Ein Abschlussbericht
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,341
Hans Söllner über die CSU nach der Wahl: „Das Wort Heimat ist wertlos“ - taz.de
Hans Söllner über die CSU nach der Wahl: „Das Wort Heimat ist wertlos“ Der Liedermacher Hans Söllner über das Ende der CSU-Alleinherrschaft in Bayern, Migranten als Feindbilder und ehrliches Lachen. Geh, schleich di, CSU. Hans Söllner war noch nie gut auf die bayerische Sonder-Partei zu sprechen Foto: Imago/ Horst Rudel taz: Hans Söllner, Sie sind gerade in Österreich auf Tour. Wie haben Sie vom Wahlergebnis in Bayern erfahren. Hans Söllner: Ich hab’s gestern früh nachgelesen. Und ich muss sagen, es ist schon okay, so wie es ist. Ich bedanke mich schon mal bei meinen Leuten in Bayern, dass sie diese Alleinherrschaft der CSU ein bisschen gekippt haben. Des find’ich schon mal gar nicht schlecht. Das rechte Lager ist aber nicht kleiner geworden. Ist das etwas, wovor Sie Angst haben? Also wenn der Söder so weitermacht wie zuletzt, wird er es nicht mehr lange machen. Der Söder und der Seehofer, die haben im Grunde nichts anderes gemacht, als Wähler, die vorher die CSU gewählt haben, auf die Seite der AfD zu treiben. Dass die das nicht erkennen, finde ich ziemlich schrecklich. Und der Söder? Darf ich das so sagen? Der Söder ist so ein dummer, so ein einfacher, so ein primitiv denkender Mensch, dass ich mir da keine Sorgen mache, dass das noch lange so weitergeht. Wenn man sich das gute Wahlergebnis der Grünen anschaut, hat man den Eindruck, dass sich Bayern doch etwas verändert hat. Merken Sie das im Alltag? Ich merk halt, dass die Leute wieder auf Demos gehen, dass etwas von unten kommt. Dass die Leute wieder auf die Straße gehen, dass die zeigen, dass es ihnen reicht. Es reicht ihnen einfach, dass sich diese großen Parteien ein Feindbild geschaffen haben, nennen wir es Migranten oder Flüchtlinge, mit dem die Leute nichts anfangen können. Die AfD ist dabei nur Symptom der Krankheit, die seit 30 Jahren grassiert. Sie haben sich nicht um die Rentner gekümmert, nicht um die Kranken, nicht um die alleinerziehenden Mütter, nicht um die Schüler. Sie haben halt immer weitergemacht, jetzt kriegen sie halt einfach ihr Fett dafür. Das heißt, Sie schauen schon auch hoffnungsvoll in die Zukunft. Irgendwie tue ich das. Trotzdem glaube ich, dass wir einen Zenit überschritten haben, und dass wir Sachen, die wir in den letzten 20 Jahren verbrochen haben, wiedergutmachen können. Wir müssten die Ozeane sauber machen, wir müssten die Überfischung beenden, wir müssten Massentierhaltung beenden, wir bräuchten ein anderes Schulsystem, ein anderes medizinisches System. Das heißt aber nicht, dass ich jetzt die Zeit, die ich auf dieser Welt bin mit meinen Kindern und meiner Family, nicht genießen kann. Uns geht’s gut. Gott sei Dank bin ich in einem Land geboren, wo ich mir keine großartigen Sorgen machen muss, was den Hunger betrifft. Trotz all dem, was schiefläuft, kann ich das Leben genießen. In Ihrem neuen Album geht es genau darum, aber auf eine ernste und beinahe schon ruhige Art. Sie sind nicht mehr so laut wie früher. Wir haben ja gesehen, wohin es führt, wenn man nur Hass verbreitet. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass Wut nicht schlecht ist. Aber Hass ist extrem schlecht. Wütend bin ich schon. Ich lasse meiner Wut dann freien Lauf, kann dabei auch mal laut werden. Aber das, was ich mache, das ist kein Hass. Hass ist eine schlechte Voraussetzung für das Zusammenleben, egal ob mit der Frau, mit seinen Kindern, mit seinen Freunden. Worauf sind Sie wütend? Ich bin wütend, weil es zu langsam geht für alles, was auf dieser Welt passiert – in der Natur, in der Landwirtschaft, im Schulsystem. Das heißt aber nicht, dass ich jemanden hasse. Ich hasse den Seehofer nicht dafür, dass er macht, was er macht, dass er Menschen diskriminiert, dass er Hass verbreitet. Ich bin halt wütend, weil er nicht erkennt, dass man so nicht weitermachen kann. Dass ein Staat nicht lebenswert ist, der so voller Hass ist, dass man Grenzen dicht macht, dass man Leute im Meer oder in ihren Ländern einfach sterben lässt. Bei aller Ernsthaftigkeit, die Leute kommen auch zu Ihren Konzerten, weil sie lachen wollen, weil sie auf Ihren Witz stehen. Es gibt Witze, wie den vom Seehofer mit den 69 ausgeflogenen Flüchtlingen an seinem 69. Geburtstag. Das ist kein Witz, das ist Sarkasmus. Die Leute brauchen Unterhaltung. Und ich merke halt, dass du mit Witz und einem ehrlichen Lachen weiterkommst als mit Hass und Diskriminierung. im Interview:Hans SöllnerGeboren 1955 im oberbayerischen Bad Reichenhall. Seit 1979 tritt er als Liedermacher auf und pflegt sein Image als Rebell. Seine kritischen Texte und sein Einsatz für die Legalisierung von Marihuana haben ihn zu einer Art Staatsfeind in Bayern werden lassen. Regelmäßig musste er sich vor Gericht rechtfertigen. Er hat bis jetzt 20 Alben veröffentlicht. Sein aktuelles Album „Genug!“ ist gerade bei Trikont erschienen und im Vertrieb von Indigo. So sind Sie zu einer Symbolfigur geworden für das, was man gerne „das andere Bayern“ nennt. Spüren Sie eine Verantwortung, die das mit sich bringt? Wenn es mir Mühe bereiten würde, anders zu sein, dann würde ich vielleicht eine Verantwortung spüren. Aber das ist doch das Einzige, was ich wirklich kann: mich selber leben, mich selber anerkennen mit meinen Ängsten, meinen Sorgen, auch mit meinem Grant, mit meiner Wut. Ich sehe halt, dass die Leute darauf anspringen und froh sind, dass da ein Gegenpol da ist. Das ehrt mich schon sehr. Wie wichtig ist Bayern für Sie als Heimat? In den letzten zwei, drei Jahren ist das Wort Heimat für mich entehrt und wertlos geworden. Der Seehofer und der Söder sind daran schuld. Wenn Heimat nur bedeutet, dass ich es mit niemandem teilen kann. Wenn Leistung nur bedeutet, dass es meine Leistung ist. Wenn Glück nur bedeutet, dass es mein Glück ist und dass dieses Glück keinen anderen was angeht, dann hat das keinen Wert und keine Bedeutung für mich. Heimat hat für mich nur dann eine Bedeutung, wenn ich auch zulasse, dass in meiner Heimat ein anderer auch eine Heimat findet. Im ersten Lied auf Ihrem neuen Album singen Sie „Du Scheißrassist, schau, dass di schleichst, des is mei Heimat und ned dei Reich“. Das singe ich ja genau deshalb, weil Seehofer und Söder aus meiner Heimat ein Reich gemacht haben. Gott sei Dank ist jetzt das Wahlergebnis so ausgefallen, dass sie ja jetzt nicht großartig weitermachen können. Ich bin überzeugt, dass jetzt ganz viele Leute das Denken anfangen und das beruhigt mich schon sehr. Jetzt sind Sie gerade in Österreich unterwegs. Wie kommt Ihre Botschaft eigentlich dort an? Ich erzähl viel von Bayern, von Söder und Seehofer. Die sind sehr interessiert, auch wenn sie da schon noch einen Schritt weiter sind. Und da sehe ich, dass da eine Generation ranwächst, die sich das nicht mehr gefallen lassen wird, weil sie merken, dass es nicht um Migranten geht, dass es nicht um irgendwelche Feindbilder aus dem Ausland geht, sondern dass es um sie selber geht. Und die Bayern haben jetzt auch angefangen, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen? Ja, das seh’ich doch an diesen Demos, wo in München 40.000 Leute auf die Straße gehen. Und da sind ja alle ­dabei, das ist ja keine Parteiver­anstaltung. Da sind Freie ­Wähler ­dabei, da sind auch CSUler ­dabei, da sind ja alle dabei. Und das macht mir schon ­Hoffnung.
Andreas Rüttenauer
Der Liedermacher Hans Söllner über das Ende der CSU-Alleinherrschaft in Bayern, Migranten als Feindbilder und ehrliches Lachen.
[ "Landtagswahl Bayern", "Grüne Bayern", "SPD Bayern", "Markus Söder", "Horst Seehofer", "Deutschland", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,342
Neue UN-Menschenrechtskommissarin: Michelle Bachelet wechselt zur Uno - taz.de
Neue UN-Menschenrechtskommissarin: Michelle Bachelet wechselt zur Uno Chiles Ex-Präsidentin muss von der Vollversammlung noch bestätigt werden. Es wäre Bachelets zweiter Job bei den Vereinten Nationen. Die Chilenin vor der Uno-Vollversammlung im Jahr 2016. Damals als Präsidentin ihres Landes Foto: ap Michelle Bachelet wird die neue UN-Kommissarin für Menschenrechte. An diesem Freitag soll die UN-Vollversammlung der Ernennung der früheren chilenischen Präsidentin zustimmen. Verläuft alles wie geplant, dann tritt die 66-Jährige am 31. August die Nachfolge des scheidenden Jordaniers Seid Ra’ad al-Hussein an. Bachelet hat bereits UN-Erfahrung. Von 2010 bis 2013 leitete sie die Behörde UN Women, die sich mit der Gleichstellung und die Rechte von Frauen befasst. Michelle Bachelet kam am 29. September 1951 in Santiago zur Welt, als Tochter eines Luftwaffenoffiziers und einer Archäologin. Als Jugendliche zog es sie zur Sozialistischen Jugend der Partei von Präsident Salvador Allende, in der ihr Vater für die Lebensmittelversorgung zuständig war. Der Militärputsch von Augusto Pinochet am 11. September 1973 war eine jähe Zäsur: Vater Alberto widersetzte sich, wurde gefangengenommen und starb 1974 an den Folgen der Folter. Auch Michelle Bachelet und ihre Mutter kamen in ein berüchtigtes Folterzentrum, wurden geschlagen und misshandelt. Nach ihrer Freilassung flohen sie über Australien ins Exil in die DDR. In Leipzig studierte Michelle Bachelet Deutsch, an der Berliner Humboldt-Universität Medizin. Sie heiratete einen ebenfalls exilierten Chilenen. Aus der Ehe stammt ihr erstes von drei Kindern. Nach der Rückkehr 1979 nach Chile wurde sie Kinderärztin und arbeitete nach dem Ende der Diktatur 1990 im öffentlichen Gesundheitswesen. Politisch engagierte sie sich bald in der sozialistischen Partei und befasste sich mit Militärpolitik. Im Jahr 2000 ernannte sie der sozialistische Präsident Ricardo Lagos zunächst zur Gesundheitsministerin. 2002 wurde sie die erste Verteidigungsministerin Lateinamerikas. Vier Jahre später die erste Präsidentin Chiles. Erste Amtszeit: Massive Schülerproteste Doch damals nahmen selbst Parteifreunde Bachelet nicht für voll. Ihre erste Amtszeit ist von massiven Schülerprotesten für ein besseres Schulsystem, einem Verkehrschaos infolge eines neuen Nahverkehrssystems in der Hauptstadt und einem Erdbeben mit der Folge eines verheerenden Tsunamis geprägt. Zwar blieben grundlegende Reformen aus, aber es gelang ihr, ein Maßnahmenpaket zu schnüren, das Chile glimpflich durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 kommen ließ. Nach dem Ende der ersten Amtszeit übernahm sie den Posten an der Spitze der neu geschaffenen UN-Behörde für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen, kurz UN Women. 2014 trat sie abermals zur Präsidentschaftswahl an. Diesmal mit dem Versprechen, eine Verfassungs- und Bildungsreform sowie die Lockerung des Abtreibungsverbots anzuschieben. Doch Korruptionsvorwürfe gegen ihren Sohn und ihre Schwiegertochter legten sich wie Mehltau über nahezu die gesamte Amtszeit und ließen ihre Imagewerte steil nach unten gehen. Geschickt nutzte die rechte Opposition die Lage zur Blockadepolitik. Immerhin konnte sie eine Lockerung des strikten Abtreibungsverbots durchsetzen.
Jürgen Vogt
Chiles Ex-Präsidentin muss von der Vollversammlung noch bestätigt werden. Es wäre Bachelets zweiter Job bei den Vereinten Nationen.
[ "UN-Menschenrechtsausschuss", "Menschenrechte", "Michelle Bachelet", "Chile", "Amerika", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,343
Orthodoxe Kirche in Estland: Kirche im Vorwahlkampf - taz.de
Orthodoxe Kirche in Estland: Kirche im Vorwahlkampf Die orthodoxe Kirche lädt zu einem Friedensgebet in Tallinn ein. Kurz darauf sagt sie das Vorhaben ab – man habe sich politisch vereinnahmen lassen. Metropolit Jewgeni mit Kreuz in Tallinn Foto: Tairo Lutter/imago BERLIN taz | Im estnischen Innenministerium fand zuletzt ein eher ungewöhnliches Treffen statt: Vorgeladen war das Oberhaupt der estnisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchat (EPZMP), der Metropolit von Tallinn und ganz Estland Jewgeni. Grund für die Audienz am vergangenen Dienstag, der weitere folgen könnten, war die Ankündigung der EPZMP, sie lade am 22. Februar in die Tallinner Alexander-Newski-Kathedrale zu einem Friedensgebet ein. Der Gottesdienst sollte im Rahmen einer Aktion „Gemeinsam für den Frieden“ der Bewegung Koos (Zusammen) stattfinden – wohlgemerkt zwei Tage vor dem Jahrestag des Beginns von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie dem estnischen Unabhängigkeitstag. Koos tritt im Verbund mit der Estländischen Vereinigten Linkspartei, die sich als Interessenvertreterin der russischen Minderheit versteht, bei der Parlamentswahl am 5. März an. In einem Video, das Anfang der Woche in den sozialen Netzwerken kursierte, hatten die Veranstalter potenzielle In­ter­es­sen­t*in­nen mit Speis und Trank zu locken versucht. Zusätzlich sollten sie sich von einer Bühne zu der Frage äußern können, „wie die Menschen in Estland mit allen Flüchtlingen in Frieden und Harmonie leben können, die aus der Ukraine gekommen“ seien. Doch aus dem Stoßgebet wird nichts, die Kirche sagte ihre Beteiligung an der von der Koos initiierten Aktion ab. Zur Begründung heißt es auf der hauseigenen Webseite, man sei zum Opfer einer politischen Provokation geworden. Man habe geglaubt, es mit aktiven Bür­ge­r*in­nen zu tun zu haben, die aus hehren Motiven zu einem Gebet für den Frieden aufgerufen hätten. „Die Kirche beteiligt sich nicht an der Politik und kann die politischen Folgen und Aktivitäten einiger unverantwortlicher Ak­teu­r*in­nen nicht immer richtig einschätzen“, heißt es darin. Soviel Naivität verwundert. Denn die Ansichten der Koos, die unverkennbar auf Kreml-Kurs ist, sind bekannt. So wirbt einer der Koos-Chefs, Aivo Peterson, für eine Freundschaft mit Russland, kritisiert die Unterstützung für die Ukraine als inakzeptabel und diskutiert auf verschiedenen Plattformen über eine „Ukrainisierung“ Estlands. Im vergangenen November hatten einige Ver­tre­te­r*in­nen von Koos an einer Talkshow des russischen Oberkreml-Propagandisten Wladimir Solowjow teilgenommen, wo sie sich über eine „wachsende Russophobie“ in Estland ausließen. In Moskau ist Kirill auf Kriegskurs Freundschaftliche Beziehungen zu Russland liegen offensichtlich auch Jewgeni am Herzen, der russischer Staatsbürger ist, vom Moskauer Patriarchat gewählt wurde und der EPZMP seit 2018 vorsteht. Kurz darauf tauchte er im Jahrbuch des estnischen Auslandsgeheimdienstes auf: So soll ­Jew­geni 2014die Halbinsel Krim kurz nach deren völkerrechtswidriger Annexion durch Russland besucht und sich im Propagandakrieg gegen die Gründung der eigenständigen orthodoxen Kirche in der Ukraine hervorgetan haben. Anders als Stephanos, Oberhaupt der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche – sie untersteht dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel und ist autonom – kommt Jewgeni keine Verurteilung des Moskauer Patriarchen Kirill, ja nicht einmal eine vorsichtige Distanzierung über die Lippen. Kirill ist hart auf Kriegskurs, er segnet russische Soldaten und predigt, ein heldenhafter Tod auf dem Schlachtfeld garantiere die Vergebung aller Sünden. Dennoch hält Jewgeni sein Credo aufrecht, dass seine Kirche außerhalb alles Politischen stünde. Dabei ist der Krieg gegen die Ukraine auch in Estland schon längst in den Gotteshäusern angekommen. Das gilt besonders in Zeiten des Wahlkampfes, in dem nicht nur die Koos um die Stimmen russischstämmiger Wäh­le­r*in­nen buhlt. Estlands Innenminister Lauri Läänemets brachte sogar eine Ausweisung von Jewgeni ins Gespräch. Sollte er rote Linien überschreiten, den Krieg in der Ukraine rechtfertigen, in Moskau geäußerte politische Positionen der Russisch-Orthodoxen Kirche gutheißen oder etwaige politische Veranstaltungen zusammen mit kreml­freundlichen Parteien organisieren, käme eine Ausweisung auf die Tagesordnung, zitiert ihn das estnische Webportal err.ee
Barbara Oertel
Die orthodoxe Kirche lädt zu einem Friedensgebet in Tallinn ein. Kurz darauf sagt sie das Vorhaben ab – man habe sich politisch vereinnahmen lassen.
[ "Estland", "Orthodoxie", "Tallinn", "Krieg in der Ukraine", "Europa", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,344
Kommentar Wahl in Brasilien: Erschreckende Normalität - taz.de
Kommentar Wahl in Brasilien: Erschreckende Normalität Veranwortlich für die Wahl von Jair Bolsonaro ist auch Brasiliens politische und wirtschaftliche Elite. Für ihren Machterhalt nimmt sie alles in Kauf. Hat sich bei den Wahlen in Brasilien durchgesetzt: Ex-Fallschirmspringer Jair Bolsonaro Foto: ap Es war ein zutiefst tragischer Wahltag in Brasilien. Erschreckend war schon die Normalität, ja geradezu Gleichgültigkeit, mit der das vorhergesagte Ergebnis und der tiefe Einschnitt in die Geschichte des Landes zur Kenntnis genommen wurde. Viele Millionen Menschen gaben dem erklärten Rechtsextremisten Jair Bolsonaro ihre Stimme. Ab dem 1. Januar 2019 wird ein Befürworter von Folter, der sich über Minderheiten lustig macht und politische Gegner in den Knast stecken will, das größte Land Lateinamerikas regieren. Es ist über die Landesgrenzen hinaus ein dramatisches Signal. Der Rechtsruck in der Region ist endgültig besiegelt. Und die Linie, die menschenverachtende Diskurse und ihre Umsetzung in der Praxis notdürftig begrenzte, ist weit nach rechts verschoben worden. Tödliche Polizeischüsse, Vertreibung von Indígenas, Morde an Andersdenkenden oder -aussehenden und die Abholzung des Amazonaswaldes sind jetzt demokratisch legitimiert. Die Hoffnung, dass Bolsonaro nicht all das umsetzen wird, was er ankündigt, ist nachvollziehbar. Nur gibt es wenig Anlass für diese Hoffnung. Die rechtsstaatlichen Institutionen in Brasilien, allen voran die machthörige Justiz und die Medien, machen nicht den Eindruck, dass sie seinem Tun Einhalt gebieten würden. Zumal es nicht nur um seine Taten geht: Genau wie er behauptete, keine Schuld an den millionenfach in seinem Namen verschickten Fakenews zu haben, genauso wird er es nicht verantworten, wenn Schlägertrupps, Milizen und skrupellose Landbesitzer das umsetzen, was er mal als Neuanfang, mal als Säuberung und mal als notwendiges Übel ankündigte. Dass es soweit kommen konnte, hat viele Gründe. Die Fehler der gemäßigten Linken, die jahrelang an der Macht war und auch gravierende Fehler machte, gehören genauso dazu wie die ausgebliebene Aufarbeitung der Militärdiktatur (1964-1985) und ein seit langem angefaultes politisches System. Die größte und aktive Verantwortung trägt jedoch die politische und wirtschaftliche Elite, die für ihren eigenen Machterhalt alles in Kauf nimmt. Sie hat mit tatkräftiger Unterstützung der Medien ihr politisches Gegenüber, die Arbeiterpartei, verteufelt und als das grundsätzlich größere Übel dargestellt. Ihr Ziel war nicht, Bolsonaro an die Macht zu bringen. Doch mangels eigener konservativer Kandidaten, die alle im Sog von Korruption und Vetternwirtschaft untergingen, blieb dieser Elite am Ende nur noch die Option des Rechtsextremismus, um eine Neuauflage der durchaus erfolgreichen Regierung der Arbeiterpartei zu verhindern. Unisono zeigten die Massenmedien bereits am Wahlabend, wie es nun weitergehen wird: Die Kommentatoren glaubten und lobten Bolsonaros Ankündigung, die Verfassung zu respektieren und inneren Frieden herstellen zu wollen. Aber die Ankündigung des unterlegenen Fernando Haddad, den Rechtsstaat und die Institutionen zu verteidigen, wurde als aggressiv oder kontraproduktiv abgetan.
Andreas Behn
Veranwortlich für die Wahl von Jair Bolsonaro ist auch Brasiliens politische und wirtschaftliche Elite. Für ihren Machterhalt nimmt sie alles in Kauf.
[ "Präsidentschaftswahlen Brasilien 2018", "Jair Bolsonaro", "Luiz Inácio Lula da Silva", "Lateinamerika", "Amerika", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
true
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,345
berliner szenen: Gyulai Kolbász bei Oma - taz.de
berliner szenen: Gyulai Kolbász bei Oma In der Ringbahn sitzt mir ein besonderes Paar gegenüber. Sie sind um die 70 und sehen aus wie aus der Zeit gefallen. Der Mann ist klein und trägt einen zu großen Anzug, dazu einen Hut. Er hat ein energisches Kinn und redet unentwegt auf vermutlich Ungarisch auf die Frau ein, die in ihr Handy sieht und nicht reagiert. Er wird immer ungeduldiger, macht Pausen, setzt wieder an und nimmt den Finger zur Unterstreichung seiner Worte. Die Frau sieht durch eine kleine Nickelbrille weiter in ihr Handy. Sie hat graue Locken bis zum Kinn und ist dunkel angezogen. Ich überlege, ob sie von einer Beerdigung kommen. Neben mir an der Tür hockt ein Mädchen auf ihrem Rucksack. Sie ist vielleicht dreizehn, trägt eine Jeans und offene Wanderschuhe, hat Haare bis zur Hüfte und lernt aus einem Stapel Karteikarten Vokabeln. Sie murmelt Wörter vor sich hin, schiebt die Karte unter den Stapel, liest die nächste, murmelt etwas und überprüft es auf der Rückseite. Der energische Mann sieht das Mädchen manchmal an, bevor er weiter auf seine Frau einredet. Jetzt sagt er etwas, das die Frau ärgert. Man kann es sehen. Sie lässt das Handy sinken, funkelt ihn an und zischt einen kurzen Satz. Danach ist er still. Das Mädchen sieht nun auch zu den beiden herüber. Dann steht sie auf, packt ihre Karteikarten in den Rucksack und sagt zu den beiden: „You come from Hungary?“ Der Mann und die Frau nicken. „My grandparents come from Hungary“, sagt das Mädchen. Dann sagt sie stockend und etwas überlegend: „When I visit, I eat Gyu­lai Kolbász. The sausage.“ Die beiden Alten lächeln und freuen sich. „Yes, yes“, sagen sie erfreut und wiederholen „Gyulai Kolbász“. Ich glaube, ihr Englisch ist nicht so gut. Das Mädchen winkt zum Abschied und geht. Das alte Paar hat aufgehört zu streiten. Isobel Markus
Isobel Markus
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,346
Präsidentschaft der EU-Kommission: Doch lieber ein Sozialdemokrat - taz.de
Präsidentschaft der EU-Kommission: Doch lieber ein Sozialdemokrat Seit Wochen streiten die EU-Staaten über die neue Führung der Europäischen Union. Jetzt liegt zumindest ein neuer Vorschlag auf dem Tisch. Ciao, Manfred Weber? Gegen den konservativen Spitzenkandidat hatte es viel Widerstand gegeben Foto: dpa BRÜSSEL dpa | EU-Ratschef Donald Tusk hat dem Europaparlament erstmals ein mögliches Personalpaket für die EU-Spitzenposten vorgelegt: Demnach soll der Posten des Kommissionschefs nicht an den CSU-Politiker Manfred Weber, sondern an einen Sozialdemokraten gehen. Das sei der Ausgangspunkt der Verhandlungen vor dem EU-Sondergipfel am Sonntagabend, sagten Teilnehmer nach einem Treffen Tusks mit den Fraktionschefs im EU-Parlament. Chancen auf die Nachfolge des EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker hat damit der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans, auch wenn Tusk im Kreis der Fraktionschefs keine Namen nannte. Gegen Timmermans gibt es aber Widerstand einiger östlicher EU-Länder. Ein ungarischer Regierungssprecher hatte am Samstag erklärt, weder Timmermans noch Weber seien für die vier Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen akzeptabel. Den ganzen Sonntag über sollte noch verhandelt werden, bevor um 18.00 Uhr der Sondergipfel beginnt. Timmermans, derzeit Vizepräsident der EU-Kommission, war Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl. Ursprünglich hatte Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), Anspruch auf die Juncker-Nachfolge erhoben, zumal die EVP stärkste Fraktion im EU-Parlament wurde. Doch gab es gegen Weber noch größere Widerstände im Kreis der 28 EU-Länder. Deshalb könnte nun der Kandidat der zweitstärksten Kraft an die Spitze rücken. Weber ist für einen anderen Spitzenposten im Gespräch. Nach dem von Tusks vorgetragenen Vorschlag könnte die EVP das Amt der EU-Außenbeauftragten und des EU-Parlamentspräsidenten bekommen. Die Liberalen, die im Parlament inzwischen mit dem Namen „Renew Europe“ auftreten, könnten den Ratspräsidenten stellen, also Tusks eigenen Nachfolger. Weiteres Spitzenpersonal für die EU gesucht Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Samstag von einer möglichen Lösung mit Weber und Timmermans gesprochen. „Auf jeden Fall sind die beiden Spitzenkandidaten Teil der Lösung, und das ist ganz wichtig“, sagte Merkel beim G20-Gipfel im japanischen Osaka. Um Junckers Nachfolge beworben hat sich auch die dänische Liberale Margrethe Vestager, die aber nicht alleinige Spitzenkandidatin ihrer Parteienfamilie war. Der Rat der EU-Staats- und Regierungschefs hat das Vorschlagsrecht für den Posten, der in etwa einem Brüsseler Regierungschef der EU entspricht. Das Europaparlament will nur einen der Spitzenkandidaten zum Kommissionschef wählen. Der französische Präsident Emmanuel Macron und andere Regierungschefs sind eigentlich gegen das Spitzenkandidaten-Prinzip. Sie wollen freie Hand bei der Auswahl. Vor allem aber wollte Macron Weber verhindern. Neben dem Amt des Kommissionspräsidenten sind noch weitere Spitzenposten zu besetzen: Gesucht werden Präsidenten des Europäischen Rats, des EU-Parlaments und der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie ein neuer Außenbeauftragter. Der Gipfel soll ein Personalpaket schnüren aus Männern und Frauen, verschiedenen Parteien und unterschiedlichen EU-Regionen.
taz. die tageszeitung
Seit Wochen streiten die EU-Staaten über die neue Führung der Europäischen Union. Jetzt liegt zumindest ein neuer Vorschlag auf dem Tisch.
[ "Manfred Weber", "EU-Kommission", "EU-Ratspräsident", "Donald Tusk", "Sozialdemokraten", "EU-Sondergipfel", "Europa", "Politik", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,347
Stutenmilch und Krawattenformer - taz.de
Stutenmilch und Krawattenformer ■ Auf der hafa eine Woche Rummel / Essen, Trinken und Gucken Wer nicht dem Hitzschlag beim diesjährigem hafa-Besuch erliegen möchte, sollte Strandkleidung tragen. In den Ausstellungs- Zelten vor der Stadthalle wird bei sonnigem Wetter mit 40 Grad gerechnet. Doch der da schwitzet, soll entlohnt werden mit allerlei Vergnüglichem: im Carousel- Cafe langsam kaffeetrinkend in der Runde drehen, Schnitzereien aus Afrika bewundern, altes Handwerk wie Blaudrucke, Glasbläser, oder Spitzen aus Plauen angucken, Stutenmilch probieren, Naturfaser-Kleidung und Kleidung sonstwelcher Art testen. Ganz zu schweigen von all den interessanten Produkten wie Krawatten-Former, Kontaktlinsen- Reinigungsgerät, windgeschützte Freisitze, Rosenkugeln oder Jeans-Schmuck. Die 24. Informations- und Verkaufsausstellung „Hauswirtschaft Familie“ fängt heute unter dem Motto: „Europa '93 — ein Markt für alle Verbraucher“ an. Für den Deutschen Hausfrauenbund bedeutet dies in erster Linie „die Verbraucher fähig zu machen, sich in diesem großen Markt orientieren zu können“. Daher stellen sie die verschiedenen EG- Länder durch Produkt-Schauen und kulinarischen Leckerhäppchen vor. Die Verbraucher-Zentrale beschäftigt sich auf der hafa mit den Fragen Gentechnologie, neuartige Zusatzstoffe und Lebensmittelbestrahlung. Auf dem EG-Markt erlaubt: eine Produkt mit dem Namen Erdbeermilch, in der weder Erdbeeren noch Milch zu finden ist. Die Bremer Umweltberatung wird auf der hafa einen „Dialog Umwelt“ mit geladenen Sachverständigen zu Themen aus dem Bereich „Konsum und Umwelt“ durchführen. In den Dialog begeben sich auch die Fußballer Wynton Rufer und Rune Bratseth. Sie werden mit der Bremischen evangelischen Bibelgesellschaft ihre Lieblingsstellen aus der Bibel vorstellen. vivA 14.-23.5.1993, tägl. 9.00-18.00 Uhr, Eintritt, Erwachsene 10,-, Ermäßigt 8,-und Kinder bis 6 Jahre frei.
viva
■ Auf der hafa eine Woche Rummel / Essen, Trinken und Gucken
[ "Archiv", "Archiv", "Nachrichten", "News", "taz", "tageszeitung" ]
false
"2013-04-15T16:33:00+02:00"
"2013-04-15T16:08:00+02:00"
1,102,348