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Debatte über Solares Geoengineering: Finger weg vom Dimmer! - taz.de
Debatte über Solares Geoengineering: Finger weg vom Dimmer! Wissenschaftler fordern ein Abkommen, das das Verringern der Sonneneinstrahlung zum Abkühlen des Klimas verbietet. Dafür haben sie gute Gründe. Solares Geoengineering kann das Aus für Kohle, Gas und Öl nicht verhindern Foto: Michael Probst/ap BASEL taz | Solares Geoengineering muss weltweit verboten werden. Das verlangt eine Gruppe von Wissenschaftlern von der Staatengemeinschaft. Bei diesem Eingriff in die Atmosphäre werden Aerosole, etwa Schwefeldioxid, ausgebracht, um das Sonnenlicht zu dimmen und so das Klima zu kühlen. Dass das funktioniert, ließ sich beim Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen von 1991 beobachten. Der von dem Vulkan in die Stratosphäre geschleuderte Schwefel reduzierte die globale Durchschnittstemperatur im Folgejahr um ein halbes Grad. Die gleiche Menge mit Flugzeugen zu versprühen wäre sogar günstig: „Aerosole in der Stratosphäre auszubringen ist so billig, dass es Dutzende Länder gibt, deren Haushalt für die Luftwaffe dazu ausreichen würde“, sagt Klimaökonom Gernot Wagner. Die Frage sei „nicht ob, sondern wann“ das gemacht würde. Um das zu verhindern, schlagen die Wissenschaftler einen Staatsvertrag vor, mit dem sich die Länder dazu verpflichten, weder die Erforschung des solaren Geoengineerings finanziell zu unterstützen noch dessen Einsatz. Ein solches Verbot wäre nicht neu: Es ist auch nicht erlaubt, am Südpol Rohstoffe abzubauen, ozonschädigende Gase zu emittieren oder Abfälle im Meer zu entsorgen. Die größte Sorge bereitet den Wissenschaftlern, dass „solares Geoengineering im Rahmen des derzeitigen internationalen politischen Systems nicht auf eine global integrative und gerechte Weise geregelt werden kann“. Denn dazu müsste die Menschheit gemeinsam festlegen, wie stark und für wie lange das Klima gekühlt wird und wie Menschen und Länder entschädigt werden, denen dadurch ein Nachteil entsteht. Als weitere Gefahr sehen die Wissenschaftler, dass weniger für die Reduktion der Emissionen getan wird als möglich, solange die Option Geoengineering nicht formell ausgeschlossen ist. Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes und ein Mitunterzeichner des Aufrufs, sagt: „Solares Geoengineering lenkt von der Ursache für die Klimakrise ab. Wir müssen aufhören, Öl, Kohle und Gas zu verfeuern.“ Vorlage für Konflikte Zudem besteht die Gefahr internationaler Konflikte. Wenn einzelne Länder das Klima mittels Geoengineering kühlen, könnten andere es absichtlich aufheizen, um den Effekt zu konterkarieren. Länder mit unterschiedlichen Interessen würden in gegensätzliche Richtungen am Thermostat der Erde drehen. Dass es grundsätzlich Regeln für gezielte Eingriffe in das Weltklima geben sollte, ist weitgehend Konsens. Der Chef der Carnegie Climate Governance Initiative, Janos Pasztor, sagt, hinter den Kulissen werde bereits verhandelt. Ziel sei es, Geoengineering 2023 in der UN-Generalversammlung zu diskutieren. Zentrale Frage: „Sind die Risiken einer 2 Grad wärmeren Welt schlimmer als die Risiken des Geoengineerings?“ Erste Anhaltspunkte könnte ein Bericht des Weltklimarats IPCC liefern, der Anfang April erscheint.
Christoph Müller
Wissenschaftler fordern ein Abkommen, das das Verringern der Sonneneinstrahlung zum Abkühlen des Klimas verbietet. Dafür haben sie gute Gründe.
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„Die SPD wird zur 30-Prozent-Partei“ - taz.de
„Die SPD wird zur 30-Prozent-Partei“ ■ Der Juso-Vorsitzende Benjamin Mikfeld sieht seine Partei nach rechts driften und warnt vor einer Preisgabe sozialdemokratischer Identität taz: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat angekündigt, die jüngere Generation stärker einbinden zu wollen. Sie sind schon seit Mai im Amt und haben bisher nicht einmal einen Termin bei Schröder bekommen. Ärgert sie das? Benjamin Mikfeld: Es ärgert mich, daß sich Schröder an dem Spiel „Schlechte Jugend – gute Jugend“ beteiligt. Er hat ein falsches Bild von den Jusos. Ich würde ihn gerne vom Gegenteil überzeugen. Auch wir haben innovative Ideen. Deshalb halte ich ein Gespräch mit ihm für dringend erforderlich. Gerade hat Schröder den erst 33jährigen Hans Martin Bury zum Staatsminister im Kanzleramt berufen. Er gehört eher zur „guten Jugend“, nämlich zum rechten Flügel. Befürworten Sie seine Berufung dennoch? Ich finde es richtig, daß jüngere Menschen bei Schröder eine Chance bekommen, aber jung zu sein allein ist kein Verdienst. Wir haben in der SPD unterschiedliche Richtungen, und die finden sich in allen Generationen. Insofern freue ich mich über die Unterstützung für Hans Martin Bury. Aber er steht halt auf der anderen Seite. Teile des rechten Flügels der jüngeren SPD-Bundestagsabgeordneten, die selbsternannten „Youngster“, haben ein Papier mit ihren Forderungen veröffentlicht. Wo bleibt denn das Papier der Jusos und der jungen Linken? Zunächst einmal müssen wir das Ping-Pong-Spiel, das uns die Grünen vorgemacht haben, nicht imitieren. Wir Jusos haben unseren Zeitplan festgesteckt. Wir werden im September mit Blick auf den Parteitag im Dezember ein Papier vorlegen. Wir lassen uns durch keine Provokation aus der Ruhe bringen. Fühlen Sie sich denn von den schweigenden linken Abgeordneten im Bundestag überhaupt noch vertreten? Es gibt eine Reihe jüngerer Abgeordneter, die nach wie vor für linke Politik stehen. Und mit denen wollen wir eng zusammenarbeiten – in der Gegenwart und auch in der Zukunft. Welche Themen haben bei den Youngsters oder auch im Schröder-Blair-Papier Ihrer Ansicht nach zuwenig Gewicht? Es geht nicht um Themen, es geht um die politische Stoßrichtung. Sowohl im Schröder-Blair-Papier als auch von den Youngsters wird eine politische Richtung vertreten, die das Ergebnis konservativer Politik der letzten Jahrzehnte ist. Wenn die Linke die Frage der Verteilung von Macht und Reichtum nicht mehr thematisiert, dann exekutiert sie letztendlich konservative Politik. Die Frage ist, wie die Mittel für Innovation, Wachstum und mehr Beschäftigung mobilisiert werden können. Über den Markt allein funktioniert das nicht. Welche Alternativen schlagen Sie vor? Aktuell machen wir unter der Überschrift „Politikwechsel geht anders“ eine Kampagne, in der wir für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer plädieren. Das Geld wollen wir für einen Fonds „Innovation und Beschäftigung“ verwenden. Es soll also nicht einfach in den Staatshaushalt fließen, sondern für Investitionen in Infrastruktur und Beschäftigungsprojekte verwendet werden. In der SPD hat eine Debatte begonnen, das Grundsatzprogramm von 1989 durch ein neues zu ersetzen. Halten Sie das für notwendig? Wir warnen davor, daß die Linke jetzt in die Falle tappt, nur über Programme zu diskutieren und die Politik den konservativen Kräften in der SPD zu überlassen. Man muß Grundsatzprogramme nicht alle zehn Jahre verändern. Darin stehen eine Menge richtiger Dinge. Erforderlich ist jedoch eine Verständigung über die mittelfristigen Leitlinien sozialdemokratischer Politik. Wo will eine SPD-Regierung im Jahre 2006 stehen? Wir wollen, daß der nächste Parteitag einen öffentlichen Diskussionsprozeß unter der Überschrift „Perspektiven 2006“ einleitet. Sehen Sie die Gefahr, daß sich die SPD von der Neuen Mitte weiter nach rechts bewegt? Ich glaube, daß sich die SPD dem hohen Risiko aussetzt, den Spannungsbogen zu zerschneiden, den sie mit unterschiedlichen Positionen und politischen Milieus immer gezogen hat. Letztlich wird sie auf diese Weise eine 30-Prozent-Partei. Was Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder im Wahlkampf noch überbrückt hatten, ist nun auseinandergefallen. Ich sehe nicht, daß Gerhard Schröder die Bindewirkung des Duos jetzt über seine Person entfalten kann. Gibt es angesichts dieser Entwicklung für Linke wie Sie noch eine Zukunft in der Partei? Selbstverständlich. Wir habengerade eine Modediskussion über die neue Generation und Modernisierung. Ich bin mir sicher, daß in absehbarer Zeit auch wieder eine Diskussion darüber stattfindet, was sozialdemokratische Politik eigentlich ausmachen muß und was gegenwärtig alles fehlt. Dann wird es auch wieder gelingen, andere Stimmen in der Politik der SPD zu verankern. Interview: Jutta Wagemann
Jutta Wagemann
■ Der Juso-Vorsitzende Benjamin Mikfeld sieht seine Partei nach rechts driften und warnt vor einer Preisgabe sozialdemokratischer Identität
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Dieser Papst stirbt nie - taz.de
Dieser Papst stirbt nie Unbedingte Verehrung bei allerdings stark selektierter Folgsamkeit: Über den seltsam loyalen und zugleich eigensinnigen Umgang der polnischen Mehrheits- und Konsumgesellschaft mit ihrem größten Staatsmann, mit Papst Johannes Paul II. Natürlich lebt von den Polen kaum jemand so, wie es der Papst von ihnen fordert von STEPHAN WACKWITZ Die Angst um den schwerkranken Johannes Paul II., die Erleichterung, wenn eine der immer häufigeren und beängstigenderen Erschöpfungskrisen – wie eben jetzt – vorübergegangen ist und er sich wieder, wie hinfällig auch immer, öffentlich zeigt, die Freude über die manchmal überraschenden, fast verblüffenden Rüstigkeits- und Stimmfestigkeits-Comebacks in den letzten Jahren („Haben Sie den Papst im TV gesehen? Es scheint ihm wieder viel besser zu gehen!“) – solche Gefühle, Solidaritäten und Rührungen ergreifen in Polen auch einen kirchlich ganz indifferenten und nicht einmal seine eigene Observanz besonders eifrig praktizierenden deutschen Protestanten wie mich. Es ist nicht nur der Spaß, den man an dem schon fast an Woody Allen erinnernden Witz des Papstes hat, er lese schon wieder die Zeitungen, weil er sich ja über seinen Gesundheitszustand informieren müsse. Es ist die Angst um den letzten der großen demokratischen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts, der nicht nur noch lebt, sondern auch noch im Amt ist. Seine Faszination ähnelt der, die von Winston Churchill ausgeht (mit dem Johannes Paul II. übrigens auch das Talent zum öffentlichen Humor in höchster Staatsstellung und in den ernstesten Lagen gemeinsam hat). Man kommt über der Lektüre seiner Biografie von Jonathan Kwitny oder auch über der einsichtsvollen und sympathischen Würdigung von Jan Ross von 2000, die sich an die Gebildeten unter seinen linksliberalen deutschen Verächtern wendet, aus einem ganz ähnlichen Staunen nicht heraus wie über „The Last Lion“ von William Manchester. Wie hat er es geschafft, fragt man sich, in einem Meer des Appeasement den totalitären Feind nicht nur zu erkennen (viele wussten, was Karol Woityła und Winston Churchill wussten), sondern auch, von einem wirklich überweltlich wirkenden inneren Radar geleitet, keinen Moment Ruhe zu geben und nachzulassen, bis dieser Feind vollständig besiegt war. Hinterher scheint es vollkommen selbstverständlich und fast leicht gewesen zu sein. Aber vorher hat es oft genug wie Donquichotterie ausgesehen, wie gefährlicher Starrsinn. Wahrscheinlich kann man eine solche Zähigkeit und diese Art von Radar nur ausbilden, wenn man aus einer historisch gewordenen oder durch eine Randlage geschützten, fremden Bildungswelt kommt. Churchill war der letzte Eminent Victorian. Er trat dem Menschheitsfeind mit der Sicherheit entgegen, die einem eine lange Reihe adliger Vorfahren gibt, die sich im Parlament oder auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet haben. Die Welt der Bildung, des Stolzes, der Sicherheit und des Widerstands, aus der Johannes Paul II. kommt, ist genauso alt. Auch sie ist adelig geprägt, dabei aber viel offener für alle anderen Klassen und Schichten der Nation als die britische Verbindung von Adel und Demokratie. Es ist eine Art zweite Moderne, die in Polen während der Jahrhunderte der Teilung entstanden ist aus dem gemeinsamen Kampf der katholisch geprägten Bildungsschicht, des französisch-revolutionär inspirierten Adels und der von allen Abenteuern der europäischen Avantgarde periodisch infizierten künstlerischen Bohéme des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach dem Krieg ist diese zweite Moderne (sie wird, sobald wir uns ein bisschen besser kennen lernen, als der polnische Beitrag zur europäischen Kultur verständlich werden) in dem liberalen, unglaublich beschlagenen und belesenen, freundlichen, witzigen, dabei hochmoralischen und sittenstrengen Milieu katholischer Bildung aufgegangen, das sich seit den Fünfzigerjahren um einige Fakultäten der Krakauer Jagiellonen-Universität, um die Krakauer Zeitschriften Tygodnik Powszechny und Znak, um das „Stary Teatr“, die Cafés, Jazzklubs und Kabaretts des Krakauer Hauptmarkts formiert hat. Seit dem Untergang der jüdischen Bildungswelt im nationalsozialistischen Völkermord ist in Deutschland liberale Zivilisation eigentlich nur als säkulare denkbar. Wir bekommen so etwas wie einen Schock, wenn wir den jungen Polen, mit dem wir eben noch eine hoch kompetente Diskussion über Stanley Fish geführt haben, in der nächsten Kirche verschwinden sehen, weil es zur Vesper geläutet hat. Aber der welthistorische Sieg gegen eine unwahrscheinliche Übermacht, den dieses Milieu in der Gestalt und im politischen Wirken Johannes Paul II. vor noch nicht zwanzig Jahren über eine totalitäre Weltmacht davongetragen hat, ist ja nicht wegzudiskutieren. Je früher wir den beschriebenen Schock hinter uns bringen und uns auf ein ernsthaftes Gespräch mit diesem Milieu einlassen, desto lehrreicher für uns. Ohne ernsthaften Streit wird es nicht abgehen. Auch das zeigt das epochale Wirken des polnischen Papstes. Die christliche Moderne unterscheidet sich von der liberalen vor allem in ihrem Begriff dessen, was Freiheit ist. Wir Liberalen werden unseren formalen Freiheitsbegriff in dieser Diskussion verteidigen und vielleicht genauer formulieren müssen. Besonders was die Sexualmoral, die Stellung zu Familie und Ehe, die gay rights, die Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und der Stammzellenforschung angeht, werden wir uns wohl darauf einigen müssen, dass wir uns nicht einig werden. Das Wichtigste, was eine liberale Gesellschaft besonders in Deutschland von der polnischen Moderne lernen kann, ist vielleicht der seltsam loyale und zugleich eigensinnige Umgang, den die Mehrheitsgesellschaft hierzulande mit ihrem größten Staatsmann und mit den strengeren Forderungen jenes theologisch geprägten Kernmilieus pflegt. Wenn es so etwas wie unbedingte Verehrung bei stark selektierter Folgsamkeit gibt, wäre das vielleicht die richtige Formulierung für das Verhältnis zwischen der Kirche und der großen Mehrzahl vor allem der jungen Polinnen und Polen, die (wie wir Modernen überall sonst auch) sich so durchwursteln durch Konsumgesellschaft, sexuelle Revolution, MTV, den Wertezerfall und das übrige Sodom und Gomorrha, das uns nun einmal aufgegeben ist und in dem wir unser Leben führen, unsere Kinder groß kriegen und unseren Spaß haben wollen, ohne uns und anderen unnötig wehzutun. Dass Johannes Paul II. gerade bei deutschen Intellektuellen im Ruch eines antiliberalen Gottseibeiuns steht, hängt mit der deutschen Sehnsucht nach systematischer Konsistenz theologischer und sonst theorieförmiger Aussagen zusammen. Von nicht hintergehbaren oder evidenten abstrakten Grundaussagen, so hätte es diese Sehnsucht gern, führt ein logisch streng kontrollierbares Gefüge von Aussagen und Schlüssen zu theoretisch begründeten und deshalb moralisch allgemein zwingenden Entscheidungen in konkreten Anwendungssituationen. Die linke deutsche Theoriefolklore versteht seit 1968 nicht mehr so recht, dass einzelne Gedankengebäude zwar so funktionieren, nicht aber eine liberale Kultur als Ganzes. Liberale Kultur hat nicht ein konsistentes Gedankengebäude. Sondern eine ganze Stadt davon. Und in deren Mittelpunkt steht neben dem Rathaus seit Jahrhunderten die Kirche. Dass die katholischen Vorstellungen über Leben und Tod in der beschriebenen Weise systematisch aus einander hervorgehen, heißt ja noch lange nicht, dass jeder sich diesen Vorstellungen lückenlos unterordnen müsste. Es heißt aber auch nicht, dass die katholische (oder evangelische, oder wahabitische) Sicht der Welt endgültig irrelevant ist. Man muss eben vom eigenen Haus ins Gotteshaus, ins Rathaus und meinetwegen auch mal in ein weniger gut beleumdetes Haus wechseln, jede der dort jeweils herrschenden Wahrheiten und Konsistenzen ernst nehmen können und doch derselbe bleiben, nämlich der freie, selbstbewusste Bürger einer einzigen Stadt. Und der glaubt nun mal nicht daran, dass, wie Isaiah Berlin diese falsche Vorstellung von Demokratie charakterisiert hat, „alle positiven Werte, an die die Menschen geglaubt haben, am Ende miteinander verträglich sein oder sogar auseinander folgen müssen“. Natürlich lebt von jenen jungen Polinnen und Polen kaum eine oder einer so, wie es der Papst von ihnen fordert. Trotzdem finden sie es verständlich, verehrungswürdig und richtig, dass er diese Forderungen aufstellt. „Einer muss es doch sagen. Was willst du, er ist schließlich der Papst!“ Diese Haltung ist, finde ich, sehr durchtrieben und menschlich und ein gutes Beispiel dafür, wie auch wir Westler und vor allem die konsequenzsüchtigen Deutschen den „Sinn und den Geschmack für das Unendliche“ (wie Friedrich Schleiermacher das religiöse Empfinden definierte) wiederfinden könnten, ohne der Moderne den Rücken zu kehren. Vor zwei Jahren im Sommer fragte ich einen jungen Jesuiten, mit dem ich damals morgens joggte und abends manchmal Fahrrad fuhr, irgendwo zwischen Krakau und Wadowice auf einer jener endlosen, baumbeschatteten, praktisch autofreien Landstraßen, die sich durch Südpolen winden und auf denen man nach einer halben Stunde keine Sorgen mehr hat, außer der, in ein Schlagloch zu fahren, was in der Kirche wohl passieren werde, wenn Johannes Paul II. einmal nicht mehr sei. Er sah mich im Fahren kurz an. Dann grinste er, wie nur junge Jesuiten grinsen können und sagte: „Der stirbt nie.“ Ich glaube, das stimmt.
STEPHAN WACKWITZ
Unbedingte Verehrung bei allerdings stark selektierter Folgsamkeit: Über den seltsam loyalen und zugleich eigensinnigen Umgang der polnischen Mehrheits- und Konsumgesellschaft mit ihrem größten Staatsmann, mit Papst Johannes Paul II.
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Kollegin über den Künstler Thomas Rieck: „Tief ins Innerste gestiegen“ - taz.de
Kollegin über den Künstler Thomas Rieck: „Tief ins Innerste gestiegen“ Das Hamburger Künstlerhaus Frise zeigt abgründige und weniger abgründige Werke des kürzlich verstorbenen Zeichners, Malers und Autors Thomas Rieck. Visionär und Wegbegleiter: der Künstler Thomas Rieck (1951 – 1922) Foto: Ingo Sergej Kischnick taz: Frau Mohr, welches Genre war für Ihren kürzlich verstorbenen Künstlerkollegen Thomas Rieck am wichtigsten: Malerei, Zeichnung oder Schriftstellerei? Sabine Mohr: Ich würde sagen, dass er zuallererst und vor allem ein wirklicher Meisterzeichner war. Wie würden Sie Thomas Riecks Zeichnungen beschreiben? Es war ein virtuoser Selbstausdruck in der Linie und hatte auch viel mit dem Schreiben zu tun. ­Schreiben und Zeichnen sind sehr intime Dinge, bei denen die Gedanken über die Bewegung der Hand direkt aufs Papier laufen – seit jeher ist die Handzeichnung ja die elementarste künstlerische Äußerung. Was hat Thomas Rieck gezeichnet und gemalt? Viele gnomische Gesichter und Figuren, Schreck- und Fantasie­gestalten, die er aus seinem Innersten schöpfte. Er hat sich echt was getraut und etwas hervorgeholt, zu dem Menschen selten Zugang haben – Ängste, dunkle Vorstellungen, Schreckensvisionen, Horror­fratzen. Ich kenne keinen Künstler, der so tief ins Unterbewusste stieg wie Thomas Rieck. Um welche Themen kreisten seine Werke? Um Tod, Sexualität, Spiritualität, Tabus – das ganze Spektrum des Lebens, vom Positiven bis zum Abstoßenden. Thomas hat sich intensiv mit der Spiritualität Indiens befasst, er ist oft dorthin gereist, und auch in diesem Denken steht ja alles gleichwertig nebeneinander. Und in seinen letzten Lebenswochen habe ich gedacht: Er hat dargestellt, was ihm dann selbst widerfahren ist in seinem schmerzhaften Sterben. im Interview:Sabine MohrFoto: Ingo Sergej Kischnick67, Bildende Künstlerin, lebt und arbeitet im Künstlerhaus Frise. Sie hat in Hamburg unter anderem einige Kunstwerke im öffentlichen Raum gestaltet und verschiedene Preise und internationale Stipendien erhalten. Hatte sein Zeichnen etwas Selbsttherapeutisches? Auf jeden Fall hatte seine intensive künstlerische Arbeit etwas Selbstkonstituierendes. Ob sie selbsttherapeutisch war, weiß ich nicht. Allerdings ist der Kontrast zwischen seinen abgründigen Werken und seinem freundlichen, zurückhaltenden Wesen sehr auffällig. Vielleicht ist er das Abgründige durch seine Kunst gut losgeworden, indem er es umleitete. Andererseits gibt es auch sehr schöne Tier- und Naturdarstellungen von ihm – Frösche, Katzen, Kühe, Elche, Insekten: Alles hat er gezeichnet. Aber nicht wie eine naturkundliche Skizze, sondern sehr virtuos und frei. Was hatte es mit seinem Projekt „Innewerden“ auf sich? Das war einerseits eine aus der indischen Kultur gespeiste Grundhaltung – Meditation und Yoga zielen ja auf Konzentration, Sichloslassen, Innewerden. Andererseits war es der Titel einer Ausstellung, für die sich Thomas 14 Tage im Künstlerhaus Weidenallee einschloss. Er hat meditiert, in diesem Raum gelebt, direkt auf die Wände und auf den Boden gezeichnet und das dann ausgestellt. In einem anderen Projekt hat er seine alten Zeichnungen vergraben und Karotten darauf gepflanzt. Im nächsten Jahr erntete er die Karotten und grub die von ihnen durchbohrten Zeichnungen wieder aus. Es ging um Vergänglichkeit, um Kreislauf und Umformung. Wohingegen das Projekt „Trans“ eher Gemeinschaft stiftetet. Fahrt ins Irgendwo: Schiffszeichnung von Thomas Rieck Foto: Künstlerhaus Frise Ja, das war der Gegenpol zum individuellen „Innewerden“. Denn das Ego aufzugeben, heißt auch, sich mit anderen zu verbinden, indem man zum Beispiel Werke anderer KünstlerInnen kommentiert, übermalt oder neu in Beziehung setzt. Das alles mit dem Ziel, hergebrachte Begriffe und Vorstellungen aufzulösen und das kollektive Unbewusste anzusprechen. Wie lief das Projekt ab? Er hatte KünstlerInnen gebeten, Werke mitzubringen, die sie für nicht fertig oder gelungen hielten. Sie wurden ausgelegt, und dann konnte man Werke anderer KünstlerInnen mitnehmen und übermalen. Ich habe Werke von vier KünstlerInnen überarbeitet. Es war ein wunderbares Projekt. Die AusstellungVernissage der Schau „Thomas Rieck (1951–2022)zum Gedenken“: 3.3., 19 Uhr, Künstlerhaus Frise, Arnoldstraße 26, HamburgGeöffnet: Sa+So 15–18 Uhr sowie nach Vereinbarung: Tel. 040-455514 oderbinemohr@aol.com. Laufzeit bis 12.3. Thomas Riecks letztes Kooperationsprojekt war die „Goldene Schnitte“. Wie funktionierte das? Da ging es ums Schreiben. Thomas Rieck hat immer viel geschrieben, vor allem Philosophisches, war ein großer Sloterdijk-Leser. Das Projekt war mir zuerst nicht ganz klar. Thomas hatte Texte über ein Zwillingspaar geschrieben: Einer von ihnen lebt in Rom, einer in Indien. Vielleicht waren es zwei Facetten seiner selbst, denn er hat ja mit dem Stipendium der Villa Massimo ein Jahr in Rom gelebt. Zwischen diesen beiden Personen spielt sich die „Goldene Schnitte“ ab. Thomas Rieck lud uns KünstlerkollegInnen ein, seine Gedanken fortzuführen oder etwas Eigenes zu schreiben. Irgendwann habe ich verstanden, dass jeder ­schreiben konnte, was er wollte, und Briefe an einen der „Zwillinge“ verfasst. Es haben so viele KünstlerInnen mitgemacht, dass zwei Bände entstanden. Ist der Titel ernst gemeint? Nein. Der „Goldene Schnitt“ bezeichnet die ideale Proportion in Natur und Kunst und ist hier natürlich eine Ironisierung. Denn „Schnitte“ erinnert ja auch an Häppchen, Schnittchen, wie sie auf Empfängen gereicht werden. Welche Bedeutung hatte Thomas Rieck für die Hamburger Künstlerszene? Er war 1977 Mitbegründer des ersten Hamburger Künstlerhauses in der Weidenallee, in dem KünstlerInnen sowohl arbeiteten als auch wohnten. „Erfunden“ hatten das unter anderem AbsolventInnen der Hamburger Kunsthochschule, die auch nach dem Studium gemeinsam arbeiten, die Leben und Kunst verbinden wollten. Das hat auch mich so fasziniert, als ich 1984 dazustieß. Das Haus hatten wir von einer Erbengemeinschaft gemietet. Als es verkauft wurde, mussten wir nach 25 Jahren ausziehen. Nach vielen Mühen haben wir das heutige Künstlerhaus Frise gefunden, in dem auch Thomas Rieck bis zu seinem Tod im September 2022 wohnte und arbeitete. Was wird die Gedenkausstellung zeigen? Viele seiner Künstlerbücher, Zeichnungen, Gemälde – sowie einige Gemeinschaftswerke aus dem „Trans“-Projekt. Was geschieht mit Thomas Riecks Nachlass? Ein Teil bleibt hier im Künstlerhaus Frise. Ein anderer Teil geht in die „Stiftung Kunstsammlung Dr. Maike Bruhns“, die speziell Hamburger KünstlerInnen gilt und in der Ohlsdorfer St.-Nikodemus-Kirche und deren Gemeindehaus derzeit ein Forschungs- und Ausstellungszentrum aufbaut.
Petra Schellen
Das Hamburger Künstlerhaus Frise zeigt abgründige und weniger abgründige Werke des kürzlich verstorbenen Zeichners, Malers und Autors Thomas Rieck.
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EU protegiert Gentechnikindustrie: Der Lobbyist als Kontrolleur - taz.de
EU protegiert Gentechnikindustrie: Der Lobbyist als Kontrolleur Wissenschaftler der EU-Lebensmittelbehörde arbeiten zugleich für ein Forschungsinstitut, das der Gentechindustrie nahesteht. Das hat sich auf Studien zur Riskobewertung ausgewirkt. Könnte dieser Maiskolben lügen? Wenn die EU mit der Gentechindustrie klüngelt, werden Ungefährlichkeitseinstufungen zur Farce. Bild: ap BERLIN taz | Der wichtigste Gentechnik-Gutachter der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) arbeitet gleichzeitig für ein überwiegend von der Industrie finanziertes Forschungsinstitut. Harry Kuiper, Vorsitzender des Efsa-Gremiums, das für die Sicherheitsprüfung gentechnisch veränderter Pflanzen und Tiere zuständig ist, liefert nach eigenen Angaben Beiträge für das International Life Sciences Institute (Ilsi). "Solche Berichte werden benutzt, um die Zulassung von Gentechpflanzen zu erleichtern", kritisiert die Nichtregierungsorganisation Testbiotech. Kuipers Doppelrolle erschüttere die Glaubwürdigkeit der EU-Behörde. Auch mit solchen Vorwürfen begründen Umweltschützer das strenge Haftungsrecht für den Anbau von Gentechpflanzen, gegen das Sachsen-Anhalt vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hat (siehe oben). Weil die Behörde die Pflanzen vor der Zulassung nicht ausreichend prüfe, seien besondere Vorsichtsmaßnahmen nötig. Das Forschungsinstitut Ilsi ist den Aktivisten verdächtig, weil dessen Mitglieder ausschließlich Firmen wie Monsanto und Bayer sind. Diese Unternehmen müssen ihre gentechnisch veränderten Pflanzen von der Efsa auf Risiken untersuchen lassen. Immer haben die Experten der Behörde diese Sorten als ungefährlich eingestuft. Auf diese Einschätzungen stützt sich die EU-Kommission bei der Entscheidung, ob eine Pflanze verwendet werden darf oder nicht. "Unmittelbar bevor Kuiper 2003 zur Efsa kam, arbeitete er bei Ilsi mit der Gentechnikindustrie ausgerechnet an Kriterien für die Risikobewertung von gentechnisch veränderten Pflanzen", sagt Testbiotech-Chef Christoph Then. Tatsächlich veröffentlichte das Industrieinstitut eine Studie von Kuiper und anderen Wissenschaftlern über die Sicherheitsprüfung von Gentech-Lebens- und -Futtermitteln mit verbesserten Nährwerten - mitgeschrieben haben dem Impressum zufolge auch Beschäftigte von Monsanto und Bayer. Dass sich die EU-Behörde in ihrer im Jahr 2004 veröffentlichten Leitlinie über die Risikoprüfung von dieser Studie hat beeinflussen lassen, ist offensichtlich: Darin empfahl sie ihren Gutachtern im Zusammenhang mit der Beurteilung von Nährwerten eines Gentech-Lebensmittels die Ilsi-Analyse. Diese kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass "alle Lebens- und Futtermittel mit verbesserten Nährwerten hinsichtlich ihrer potenziellen Wirkung auf die Gesundheit unabhängig von der Herstellungstechnik beurteilt werden sollten". Dabei halten Umweltschützer die möglichen Risiken bei Gentechpflanzen für viel größer, weil deren Erbgut künstlich verändert wurde. Kuiper ist nicht der einzige industrienahe Beschäftigte der Efsa. Auch Gijs Kleter, einer seiner Mitarbeiter im Prüfungsgremium, hat der EU-Behörde zufolge von 2002 bis 2007 für das Ilsi gearbeitet. Im Gegensatz zu Kuiper hat er diese Tätigkeit zumindest aufgegeben, bevor er 2009 bei der Efsa als Gutachter anfing. Die Präsidentin der Behörde, Diána Bánáti, trat von ihrem Posten im Verwaltungsrat von Ilsi Europe erst nach einem Aufschrei in den Medien im Oktober zurück. In einem anderen Fall war die Leiterin der Gentechnikabteilung, Suzy Renckens, direkt von der Efsa zur Gentechindustrie gewechselt. "Da kann die Industrie die Risiken ihrer Pflanzen gleich selber bewerten", sagt Then. Kuiper und Kleter reagierten nicht auf die Bitte der taz um eine Stellungnahme. Efsa-Sprecher Stephen Pagani sagte: "Es gibt keinen Interessenkonflikt." Die Wissenschaftler müssten jährlich alle Tätigkeiten veröffentlichen, die mit ihrem Efsa-Job kollidieren könnten. Bei möglichen Interessenkonflikten könnten Experten jederzeit von Entscheidungen ausgeschlossen werden.
Jost Maurin
Wissenschaftler der EU-Lebensmittelbehörde arbeiten zugleich für ein Forschungsinstitut, das der Gentechindustrie nahesteht. Das hat sich auf Studien zur Riskobewertung ausgewirkt.
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Triste Aussichten für Nazigegner - taz.de
Triste Aussichten für Nazigegner Bundesregierung will Aktionsprogramm gegen rechte Gewalt auf Islamismus und Linksextremismus ausweiten. Die Folge wären sinkende Fördergelder für Antinazi-Projekte, vor allem in Brandenburg von Beate Selders Brandenburger Projekten gegen Rechtsextremismus drohen einschneidende Mittelkürzungen. Hintergrund sind Ankündigungen des Bundesministeriums für Jugend und Familie, aktuelle Förderprogramme ab dem kommendem Jahr auch auf Islamismus und Linksextremismus auszudehnen – ohne die Gelder aufzustocken. Bei Initiativen stößt die Neuausrichtung auf scharfe Kritik: „Die politische Aussage ist: Rechtsextremismus ist nicht unser Hauptproblem. Das ist fatal und falsch“, sagt Heinz-Joachim Lohmann, Superintendent von Wittstock und Vorsitzender des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Konkret geht es um das Bundesprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie“. 2001 wurde es mit seinen Teilprogrammen Civitas und Entimon als „Aktionsprogramm gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ aufgelegt. Das Volumen beträgt 19 Millionen Euro pro Jahr, der Schwerpunkt liegt auf den ostdeutschen Bundesländern. Ende diesen Jahres läuft das Programm regulär aus. Nach Auskunft des parlamentarischen Staatssekretärs im Familienministerium, Hermann Kues, soll im Herbst ein Nachfolger vorgestellt werden, der ab 2007 gelte. Titel: „Förderung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie“. Die Fördersumme bleibe bei jährlich 19 Millionen Euro. Das Programm werde aber um Maßnahmen gegen Islamismus und für die Erforschung des Linksextremismus erweitert. Kürzungen bei Projekten gegen Rechtsextremismus scheinen unvermeidlich. In den Jahren 2001 bis 2005 sind aus dem laufenden Civitas-Programm 4,7 Millionen Euro in Brandenburger Projekte gegen Rechtsextremismus geflossen. Vier Netzwerkstellen, die Arbeit des Vereins Opferperspektive und mehr als 200 lokale Initiativen konnten damit bezuschusst werden. Das hört sich nach viel an, ist aber angesichts der hohen Akzeptanz rechtsextremen Gedankenguts eine geringe Summe. Und: Die Mittel reichen schon heute nicht aus. Dennoch ist Brandenburg im Vergleich mit den ostdeutschen Bundesländern ein Musterländle, wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht. Die gesellschaftliche Dimension des Problems wurde vergleichsweise früh erkannt, die öffentliche Debatte mündete 1998 in das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“, das von allen Parteien getragen wird. Das Mobile Beratungsteam (MBT) wird mit 14 Stellen vollständig vom Land finanziert – die Landesregierung in Thüringen etwa ist nicht einmal bereit, die Kofinanzierung zu tragen. Konzepte, wie das des Vereins Opferperspektive, der Beratung von Opfern rechter Gewalt mit kommunaler Intervention verbindet, wurden in Brandenburg entwickelt und von anderen Ländern übernommen. Allein wegen dieser Erfahrungen wäre es sinnvoll gewesen, die Verantwortlichen für das neue Bundesprogramm hätten sich vor Ort informiert, sagt Wolfram Hülsemann, Leiter des MBT und Mitglied im Beirat von Civitas. Mehr Kommunikation mit den Adressaten der Gelder, den Ländern, findet er grundsätzlich wünschenswert: „Immerhin maßt sich der Bund an, mit dem Programm bis in die kommunalen Strukturen hineinzuwirken.“ Auf mangelnde Kommunikation führt Hülsemann auch die inhaltliche Ausrichtung des neuen Aktionsprogramms zurück. Die Ausdehnung auf Islamismus und Linksextremismus sei der Situation in den Ländern nicht angemessen und auch konzeptionell nicht nachvollziehbar. „Ich verstehe schlechterdings das Ansinnen mit diesem Förderprogramm, so wie es sich derzeit darstellt, nicht.“ Für Bernd Mones, den Geschäftsführer des Landesjugendrings, in dem 32 Jugendverbände organisiert sind, ist die Neuausrichtung ebenfalls unverständlich. „Es gibt in Brandenburg keinerlei Anzeichen für eine Problemlage Islamismus oder Linksextremismus. Dagegen ist der Rechtsextremismus in Ostdeutschland ein flächendeckendes Problem.“ In einem Papier zu den Plänen des Bundesfamilienministeriums, das die Jugendringe der östlichen Länder an die jugendpolitischen Sprecher der Parteien verschickten, heißt es sachlich-unterkühlt: Man erwarte, „dass die Mittel zur Förderung von Zivilgesellschaft auch zukünftig vor allem nach der inhaltlichen Notwendigkeit vergeben werden.“ Auch das landesweite Aktionsbündnis mit dem Vorsitzenden Heinz-Joachim Lohmann ist inzwischen aktiv geworden. Es hat einen Brief an alle Brandenburger Bundestagsabgeordneten verschickt mit der Bitte, sich einzumischen „und auf eine Verstetigung der bisher geleisteten Arbeit hinzuwirken“.
Beate Selders
Bundesregierung will Aktionsprogramm gegen rechte Gewalt auf Islamismus und Linksextremismus ausweiten. Die Folge wären sinkende Fördergelder für Antinazi-Projekte, vor allem in Brandenburg
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Eine Kurzgeschichte: Anleitung zum Kielholen - taz.de
Eine Kurzgeschichte: Anleitung zum Kielholen Unreflektierte Gender-Identifikation, Hells Angels, Meeresungeheuer und Karpfenangler. Ein kleines Bestiarium. Der Seestern, Facehugger der Ostsee Foto: Privat/FTZ CAU Kiel Mein Fernbus kam am Nachmittag an. Ich hatte mich nahezu verflüssigt. Die Klimaanlage war während der Vierstundenfahrt ausgefallen, weil ein Reisender in einer der Bus-Steckdosen einen Kurzschluss verursacht hatte. Es war sehr stickig und der Körpergeruch der Fahrgäste hatte sich mit dem Uringestank aus der Bordtoilette gemischt. Was für eine Erleichterung, als die Türen sich öffneten und eine frische Brise direkt aus der Förde durch den Wagen wehte. Ich verließ den Bus als Letzter, nahm meine Rucksackreisetasche in Empfang und stiefelte los. Der letzte Taucheinsatz lag eine Weile zurück und ich war seitdem nicht mehr hier gewesen. Die Einheimischen hatten sich verändert. Sie liefen wie ferngesteuert mit gesenkten Köpfen umher. Auch auf Grünflächen und in Parks: Gestalten mit gebeugten Häuptern, zuweilen in Gruppen herumstehend. Autos hielten am Wegesrand und heraus stiegen wortlos Menschen mit nach unten gerichtetem Blick. Sie hatten Handys in der Hand. Ich hatte schon von Pokémon go gehört, aber an diesem Tag sah ich zum ersten Mal eine ganze Stadt voller Pokémon-Zombies. Es war später Sommer. Die untergehende Sonne tauchte die Dächer Kiels in ein warmes Gelb-Orange-Rot, das nach und nach von einer kräftiger werdenden pinkvioletten Korona umrahmt wurde. Wir saßen zu dritt unter Valeries Mansardendachbalkon und blickten über die Stadt, dem Geschrei eines Möwenpärchens lauschend, das direkt am Dach nistete. Es war sich nicht sicher, ob wir friedlich waren oder imstande, seiner Brut etwas zuleide zu tun. Im Hafen trötete ein Schiffshorn. „Georg ist am Boden zerstört. Marieke hat sich von ihm getrennt, weil sie von seiner Affäre mit Julia erfahren hat. Stefan hat ihr ein Bild von der Party bei Julia geschickt, er hat Georg mit Miriam beim Ficken auf der Toilette erwischt und ein Foto gemacht, auf dem man Georgs Schwanz noch in Miriam stecken sieht und die beiden ziemlich doof gucken.“ Noch gar nicht richtig angekommen, steckte ich schon tief im Tratsch der Stadt. Höllenengel Valerie und Daniel schienen schon eine ganze Weile auf dem Dach gewesen sein, neben ihren Liegestühlen standen jeweils 3 leere Bierflaschen. Ich hatte erst seit Kurzem wieder Kontakt zu Valerie und vom Hafen mal abgesehen keine Ahnung von Kiel und wer Georg, Miriam und Marieke waren. „Marieke hat ihn aus dem Haus geworfen, er ist jetzt nach Gaarden gezogen, 40 Quadratmeter, die Kinder bleiben bei ihr.“ Die klassische Geschichte. Alle begeben sich in ihre angelernten Geschlechterrollen. Heiraten muss sein. Die Beziehung reicht irgendwann nicht mehr, um das Bedürfnis an Aufmerksamkeit, Bestätigung und wildem Sex zu decken. Die innere Leere zu füllen. Affären müssen her. Georg tat mir leid. Er wird irgendwann feststellen, dass er mit seinen Kindern leben und seine Rolle ändern möchte. Marieke wird das aber nicht wollen. Weil er sich ja vorher auch nicht um die Kinder gekümmert hat und sie ihn nicht mehr mag. Sie tat mir auch leid. Sie werden sich streiten. Auf dem Rücken ihrer Kinder, die mir am meisten leid taten. Sie alle werden später eine gute Therapie brauchen. „Ich verstehe nicht“, sagte Daniel, „warum Marieke sich so aufregt, sie hatte doch selbst drei Affären oder zwei, wenn man Andreas mal abzieht, den Hells Angel, den sie sich über Tinder angelacht hat und den sie immer noch versucht, sich vom Hals zu halten. Und die waren beide verheiratet und einer hatte selbst auch Kinder.“ „Ein Hells Angel“, fragte ich, „in Kiel?“ „Ja. ’92 wurde hier in einer Lagerhalle nach der einbetonierten Leiche eines Mannes gesucht, den die Angels umgebracht haben sollen; konnten sie aber nicht finden. Verboten wurden die Hells Angels trotzdem, aber die Küste ist immer noch unter ihrer Kontrolle.“ „Was meinst du mit ‚unter Kontrolle‘?“ „Schutzgelder, Prostitution und solche Sachen. Was die eben so machen.“ Während wir weiterredeten, versuchte ich mir vorzustellen, wie die Hells Angels einen distinguierten schleswig-holsteinischen Fischrestaurantbesitzer um Schutzgelder erpressen, aber das ging nicht, immer hatte der Hells Angel am Ende ein Fischmesser im Bauch oder wurde mit dem Regenschirm einer Restaurantbesucherin im Hintern aus der Stadt gejagt. „ … das Echo einer nur in der Illusion eines Kindergehirns existierenden heilen Welt.“ Das waren nichts als positive Vorurteile, das Schleswig-Holstein meiner Kindheit, das Echo einer nur in der Illusion eines Kindergehirns existierenden heilen Welt. „Natürlich ist es genauso sinnvoll, die Hells Angels zu verbieten wie die NPD. Ihnen nicht zu erlauben, ihrem antisozialen und menschenverachtenden Treiben den Anstrich von Legitimität zu verleihen. Aber so ein Verbot kann ja immer nur eine Pro-forma-Funktion haben. Wer glaubt, dass irgendwas nur durch ein Verbot aufhört zu existieren, muss ganz schön naiv sein.“ Daniel und ich nickten stumm. Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um halb sechs. Im Tauchlager packten wir die Ausrüstung zusammen und hängten das Schlauchboot an die Pritsche. Im Hafen angekommen, verluden wir alles auf den Kutter und stachen in See. Schönes Wetter, die Ostsee begrüßte uns mit offenen Armen und einer sanften Brise. Wir brauchten eine Stunde, bis wir den Einsatzort in der Hohwachter Bucht erreicht hatten. Wir gingen vor Anker. Prüften den Flaschendruck, legten die Anzüge an, ließen das Schlauchboot zu Wasser und packten die Ausrüstung ins Boot. Unser Auftrag: Steine zählen, Proben nehmen, eine Sedimentbestimmung vornehmen und den Bewuchs dokumentieren. Wir waren zu viert. Sabina und Jens1 gingen zuerst ins Wasser, Jens2 war der Einsatzleiter. Als Sicherungstaucher musste ich in voller Montur auf dem Boot sitzen. Der Fahrtwind fehlte jetzt, die Sonne brütete. Apocalypse Now Jens2 schälte sich halb aus seinem Anzug, trug Sonnenmilch auf, setzte seine Sonnenbrille auf, stellte sein Handy laut und legte sich so ins Boot, dass er noch gut sehen konnte. Ich musste lachen. „Apocalypse Now“ auf der Ostsee. Ich schaufelte mir ab und an eine Ladung Wasser ins Gesicht, bis die beiden wieder hochkamen. Wir holten Sabina und die an Hebesäcken hängenden Proben an Bord. Ich verabredete mich mit Jens1 unten am Grundgewicht. Dies war mein erster Alleintauchgang am Blubb, einer langen, wurstförmigen Boje. Nach dem Abtauchen fand ich am Grund keinen Jens1. Die Sicht war schlecht, sie betrug etwa einen halben Meter. Auf halber Strecke zu meinem Arbeitsplatz tauchte aus dem Nichts Jens1 auf. Er wedelte mit seinem Tauchermesser. Etwas näher an ihn herangetaucht sah ich, dass auf seinem Messer eine dicke Scholle steckte. Sicher wollte er für das prächtige, aufgespießte Schollenmädchen gelobt werden, aber ich bin Vegetarier. Also kein Lob. An meinem Bestimmungsort angelangt, löste ich die Kamera vom Karabiner und flog, so gut es ging die Strömung ausgleichend, über meinen Quadranten, um Fotos zu machen. Eine Bahn hin, wenden, eine Bahn zurück, wenden und so weiter. Zum Schluss widmete ich mich einer Bewuchsplatte, die noch ziemlich nackt war, von ein paar kleinen Algen und Seesternen einmal abgesehen. Seesterne sind widerliche Tiere. Wenn sie Hunger bekommen, setzen sie sich auf ihre Lieblingsspeise, die Miesmuschel. Die schließt sich bei Gefahr, muss sich aber nach einer Weile wieder öffnen, um frisches Wasser zum Atmen einzulassen. Wenn sie das tut, stülpt der Seestern seinen Magen in die Muschel hinein und verdaut sie lebend in ihrer eigenen Schale. Ähnlich den Facehuggern in Ridley Scotts „Alien“. Man stelle sich vor, wir Menschen täten das mit den Kühen auf der Weide. „Man stelle sich vor, wir Menschen täten das mit den Kühen auf der Weide.“ Die Arbeit war erledigt, ich hatte noch neunzig Bar Luft und ein bisschen Zeit. Die Kamera kam wieder an ihren Karabiner. Da fiel mein Blick auf eine Liocarinus holsatus, eine glatte Ruderkrabbe, nicht ganz ausgewachsen, die hinter einem Stein hervorkam, um mich besser sehen zu können. Mein linker Fuß musste arbeiten, um die Strömung halbwegs auszugleichen und die Position zu halten. Ich schwebte 20 cm über dem Boden. Die Krabbe starrte mich regungslos verharrend an. Auge in Auge. Schwebeteilchen strömten an uns vorbei. Hier unten, in neun Metern Tiefe, dehnte sich die Zeit. Sie schien durch mich hindurchzufließen. Zwischen Sediment, dem jahrhundertelang von den Wassermassen geschliffenen und bewegten Gestein, und der kleinen Krabbe als direktem Nachfahren der Saurier offenbarte mir dieser Moment die Union der Zeiten, Schicksale und Elemente. Bis die Krabbe genug hatte vom Sich-gegenseitig-Anstarren, ihre Scheren hob, auf mich zustürmte und direkt vor mir innehielt. Was für ein mutiges Tier. Ich richtete einen Finger auf sie. Das genügte, um sie, eine Wolke aus aufgewirbeltem Sand hinterlassend, hinter ihren Stein zurückzuscheuchen. Was für ein kluges Tier. Benson Der Tag sollte noch lang werden. Zum Mittagessen auf dem Kutter hatte der von allen gefürchtete Schiffskoch Berge von Fleisch und die Scholle von Jens1 zubereitet, den Vegetariern blieb nur der Blumenkohl. Danach folgten weitere Tauchgänge bis zur Dämmerung. Die Kapitän beschloss, dass es zu spät sei, um in den Hafen zurückzukehren, und so blieben wir vor Ort. Erschöpft setzten wir uns bei Sonnenuntergang zu einem gemeinsamen Bier aufs Oberdeck und legten die Füße hoch. Sabina erzählte, dass sie zur Gay pride nach Berlin fahren wolle. Es war sehr angenehm, nicht nur in Gesellschaft der sonst eher testosterongesteuerten Kollegen zu sein. Ich fragte Jens1 nach seiner Scholle. „Lecker. Sie sind sehr leicht zu stechen. Die schwimmen nicht weg, wenn sie sich bedroht fühlen, sondern tarnen sich und bleiben ganz ruhig liegen. Du musst sie mit dem Messer direkt hinter den Augen erwischen und die Mittelgräte durchtrennen, dann sind sie sofort tot. Karpfen fangen ist schwieriger.“ „Hast du noch deine Ausrüstung?“, fragte Jens2. Jens1 war in einer wichtigen Phase seines Lebens fanatischer Karpfenfischer gewesen. Er hatte Zehntausende Euro in seine Ausrüstung investiert, deren erstaunlichster Bestandteil aus einem Baitboat bestand; einem ferngesteuerten Futterboot, das der Karpfenangler mit dem Köder belädt, um ihn an einer geeigneten Stelle auszubringen. Ich lernte, dass es den richtigen Karpfenanglern gar nicht um das Essen der Fische ging. Wenn der Fisch gefangen ist, wird er nicht getötet, sondern gewogen, vermessen und fotografiert. Danach versorgt der Fänger die Wunde, die der Angelhaken gerissen hat, mit Klinik, einer Wundsalbe, und lässt ihn wieder frei. Den besonders widerstandsfähigen Tieren geben sie Namen. Als Benson in Großbritannien starb, ein 30-Kilo-Karpfen, der in 25 Jahren 63-mal gefangen worden war, versammelte sich die Karpfenfischergemeinde zu einer großen Trauerfeier. In meinem Gaumen breiteten sich Phantomschmerzen aus. Als Jens1 mein Gesicht sah, gab er sich sinnlos Mühe, mir zu erklären, dass der Haken den Karpfen keinen Schmerz bereitet. Er sprach langsam, wir waren alle sehr müde geworden und zogen uns nach dem letzten Bier zurück in unsere Kajüten. Ich fühlte mich in der sargähnlichen Enge meiner Koje ganz wohl. Das Meer leckte am Bullauge, das Rollen des Schiffs und die vibrierenden Laufgeräusche des Schiffsgenerators tuckerten mich in den Schlaf. Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
Ulf Schleth
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Kapitalismus und Raumfahrt: Unendliches Wachstum im All - taz.de
Foto: NASA/peepo/getty Kapitalismus und Raumfahrt:Unendliches Wachstum im All Superreiche wie Elon Musk greifen nach den Sternen. Was wollen sie dort? Und wer kontrolliert sie eigentlich? Ein Artikel von Timm Kühn 25.5.2022, 10:16  Uhr Für Mul­ti­mil­lio­nä­r:in­nen hat die Redewendung „The sky is the limit“ keine bindende Gültigkeit mehr. Sie können sich seit dem 15. September 2021 zu viert für einen Gruppenpreis von 200 Millionen US-Dollar ins All schießen lassen. Möglich macht dies das Raumfahrtunternehmen SpaceX, das dem 300-fachen Milliardär und reichsten Menschen der Welt, Elon Musk, gehört. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Mit der Aktion übernahm Musk die Führung in einem absurden Wettkampf einiger Superreicher darum, wer sich und andere Reiche länger und höher ins All zu schießen in der Lage ist. In dem Wettstreit hatte zuletzt Richard Branson, Besitzer des Virgin-Konglomerats, dem Amazon-Gründer Jeff Bezos eins ausgewischt. Im Juli 2021 ließ er sich überraschend nur neun Tage vor Bezos’ geplantem Weltraumflug in den Orbit katapultieren. Dass heute nicht mehr atomare Supermächte, sondern Superreiche ums All wetteifern, kann man wohl so deuten, dass Karl Marx recht hatte: Die Geschichte spielt sich tatsächlich zunächst als Tragödie und dann als Farce ab. Doch es wäre zu einfach, die kapitalistische Expansion ins All als Schwanzvergleich einiger obszön reicher Männer abzutun. Denn der Weltraum ist heute nicht nur ein gigantisches Geschäft, mit dem Unternehmen im Jahr 2020 450 Milliarden US-Dollar Umsatz generierten – längst ist das All auch ein Feld militärischer und geheimdienstlicher Aktivitäten geworden. Das Paradebeispiel der kapitalistischen Raumfahrt ist Elon Musks Unternehmen SpaceX. Seit Jahren schon transportiert es regelmäßig Frachten zur Internationalen Raumstation ISS; 2020 brachte die Firma auch erstmals As­tro­nau­t:in­nen dorthin zur Arbeit. Für die USA war das ein großer Schritt. Seit der Einstellung des Space-Shuttle-Programms im Jahr 2011 war nur noch die russische Weltraumorganisation Roskosmos überhaupt in der Lage gewesen, bemannte Missionen zur ISS durchzuführen. Mit SpaceX ist wieder ein westlicher Anbieter vorhanden. Gigantisches Netzwerk Wie viel SpaceX für diese Trips berechnet, ist nicht gesichert bekannt. Im letzten Jahr soll das Unternehmen aber etwa 1,6 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht haben. Insgesamt soll es laut dem Magazin t3n mehr als 100 Mil­liarden US-Dollar wert sein. Damit sei SpaceX die zweitwertvollste nichtbörsennotierte Firma der Welt. Das Unternehmen betreibt auch ein gigantisches Satellitennetzwerk namens Starlink. Mindestens 1.800 der insgesamt 4.800 Satelliten, die laut der Union of Concerned Scientists derzeit insgesamt die Erde umkreisen, gehören dazu. Geht es nach Musk, sollen es einmal sage und schreibe 40.000 SpaceX-Satelliten sein. Eine Zahl, die zwar absurd hoch, aber nicht völlig unrealistisch ist: Bereits jetzt sollen befristete Genehmigungen für fast 12.000 dieser Satelliten bis 2027 vorliegen. Anbieten will Musk mit Starlink eine besonders schnelle, weil satellitengestützte Internetverbindung, die ohne Kabelinfrastruktur auskommt – und deshalb global empfangbar ist. Bereits jetzt ist das System in 32 Ländern, darunter auch Deutschland, aktiviert. Der Preis allerdings ist happig: Laut SpaceX-Webseite kostet allein das nötige Empfangsgerät 829 Euro – zuzüglich 73 Euro Versand nach Berlin und 99 Euro monatlicher Gebühren. Tesla und Weltall: Elon Musk steht wie kaum ein anderer für Kapitalismus – auch im All Foto: reuters Berühmt geworden ist Starlink spätestens mit dem Ukrainekrieg, weil Elon Musk prominent auf Twitter ver­kündete, dem Land die Technologie ­kostenlos zur Verfügung zu stellen. Zehntausende bejubelten den Milliardär dafür in in den sozialen Medien. Weniger bekannt sein dürfte, dass Musks Hilfe subventioniert wurde – und zwar von US-Steuerzahler:innen. Die Washington Post berichtete unter Verweis auf interne Dokumente der Entwicklungsbehörde USAID, dass die USA einen Teil der Geräte im Wert von 3 Millionen US‑Dollar sowie 800.000 US-Dollar für den Transport gezahlt haben sollen. Die Kolonialisierung des Mars SpaceX arbeitet auch mit Armeen und Geheimdiensten zusammen, zum Beispiel, um Spionagesatelliten ins All zu schießen. Für die Bundeswehr ist das Unternehmen dafür ebenfalls die erste Wahl. Und auch in der Ukraine stellt Starlink nicht nur die Internetverbindung in einigen abgelegenen Dörfern sicher. Wie etwa die Londoner Times berichtete, steuern ukrainische Einheiten mit Starlink Drohnen, um Artillerietruppen zu koordinieren – was Russland als Aggression auffasst. Der Chef der russischen Weltraumbehörde, Dmitri Rogosin, drohte Musk kürzlich, er werde sich für seine Taten „wie ein Erwachsener“ verantworten müssen. All das ist aber erst der Anfang. Musk, Bezos und Co überschlagen sich förmlich mit ihren Plänen für das All. Musk will binnen eines Jahrzehnts den Mars kolonisieren. Bezos sagte einmal, perspektivisch könne man die gesamte globale Schwerindustrie ins All verlegen. Der eigentliche Traum heißt aber „Space-Mining“. Denn das All, da ist man sich in der Branche einig, ist voller Gold, Platin und Seltenen Erden. Eine ganze Reihe abenteuerlustiger Ka­pi­ta­lis­t:in­nen wähnt sich deshalb bereits am Beginn eines neuen Goldrauschs. Ist der Sprung in den Weltraum erst einmal geschafft, sind dem Kapitalismus keine Grenzen mehr gesetzt Technologisch verwirklichbar ist all das auf absehbare Zeit aber noch nicht – obwohl SpaceX mit seinen Falcon-9-Raketen, die sowohl starten als auch landen können, der Sache schon näher kommt. Wieso aber investieren Ka­pi­ta­lis­t:in­nen dennoch in diese Pläne? Die Un­ter­neh­men selbst geben auf die Frage zumeist eine verwässerte und verzerrte Version alter Sci-Fi-Träume zum Besten: Ansporn sei die Wiederbelebung des Glaubens, dass die Zukunft besser als die Vergangenheit werde, zitiert zum Beispiel die Space-X-Seite Musk. Der Sozialwissenschaftler Alex Demirović sieht dagegen andere Gründe: „Die Kontrolle über den Weltraum ist ein schwelender geostrategischer Konflikt“, sagte er der taz. Insbesondere die USA könnten im All „konkurrierende Staaten auf lange Sicht wohl nicht akzeptieren“. Sich selbst aber würden die Staaten wegen ihrer neoliberalen Überzeugungen keine Großprojekte mehr zutrauen. „Also streben sie eine Mobilisierung von privaten Kapital an, um langfristige Verwertungsinteressen zu fördern.“ Ziel sei auch, militärtechnische Entwicklungen anzustoßen. Dabei helfen, den Weltraum für die Unternehmen schmackhaft zu machen, dürfte wohl die langfristige Perspektive, das All in die kapitalistische Verwertungslogik zu integrieren. Denn ist der Sprung in den Weltraum erst einmal geschafft, sind dem Kapitalismus keine Grenzen mehr gesetzt. Eine Welt nach der anderen könnte einverleibt und in Kapital umgewandelt werden, in einer unendlichen Welt wäre auch unendliches Wachstum möglich. Anders formuliert: Die Expansion ins All entspricht dem kapitalistischen Klasseninteresse. Regeln für Staaten – und Unternehmen Doch – dürfen Musk & Co das alles überhaupt? Marcus Schladebach, Professor für Weltraumrecht an der Universität Potsdam, sagt: Nein. „Vieles von dem, was Unternehmen wie SpaceX planen, ist klar völkerrechtswidrig“, so der Jurist zur taz. Die Rechtsgrundlage für alles Treiben im All sei der Weltraumvertrag von 1967. Dieser regele bereits in Artikel 2, dass jede „nationale Aneignung“ des Alls verboten ist. Und was für Staaten gilt, gelte erst recht für Unternehmen. Für deren Treiben könnten die Staaten sogar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantwortlich­ gemacht werden. Historisch ist es bemerkenswert, wie 1967, inmitten des Kalten Kriegs, ein von den USA, der Sowjetunion und über 100 weiteren Staaten ratifizierter ­Vertrag entstehen konnte, der Raumfahrt nur „zum Vorteil aller Länder“ erlaubt. „Visionär“ sei auch, das der Vertrag bereits private Raumfahrtunternehmen und Umweltschutzregeln benenne, so Schladebach. In den folgenden Jahren wurde der Vertrag punktuell ergänzt. Der Mondvertrag von 1979 sehe sogar ein ausgefeiltes Umverteilungsregime vor, nach dem alle Profite, die sich aus dem Abbau von Bodenschätzen im All ergeben, international geteilt werden müssten. Doch zu diesem Zeitpunkt wäre der Zeitgeist bereits ein anderer gewesen: Keine große Raumfahrtnation unterschrieb den Vertrag. Hiermit geht es ab in die Zukunft der Raumfahrt: vier Prototypen auf Abschussbasis von SpaceX, Mai 2022 Foto: Veronica Cardenas/reuters Insbesondere die USA und Luxemburg sind erklärte Geg­ne­r der gemeinwohlorientierten Raumfahrt. Beide Länder haben den kommerziellen Ressourcenabbau im All durch nationale Gesetze ausdrücklich erlaubt. So heiße es in den Grundsätzen des neuen Artemis-Mondprogramms der Nasa, der Abbau von Bodenschätzen sei keine Aneignung des Weltraums, sagt Schladebach. Das aber sei absurd: „Wenn ich eine Mine auf einen Asteroiden setze, ist das eine Aneignung.“ Doch wie realistisch ist es, dass sich eine milliardenschwere Industrie, unterstützt durch die USA, vom über 50 Jahre alten Weltraumvertrag aufhalten lässt? Auch Schladebach zweifelt. „Ich vermute, irgendwann wird einer der Superreichen einfach Fakten schaffen, etwa durch die konkrete Ankündigung eines solchen Vorhabens“, sagt er. Und dann würde das Vorhaben auch rechtlich ermöglicht werden. Auch in Europa sieht Schladebach niemanden, der sich dagegen stellen würde. „Dazu sind die Hoffnungen auf Profite viel zu groß“, sagt er. Das darf bedauert werden. Denn damit, so scheint es, ist auch für die globale Ungleichheit der Himmel kein Limit mehr.
Timm Kühn
Superreiche wie Elon Musk greifen nach den Sternen. Was wollen sie dort? Und wer kontrolliert sie eigentlich?
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Syrisch-russische Beziehungen: Mehrzweckkrieg im Nahen Osten - taz.de
Syrisch-russische Beziehungen: Mehrzweckkrieg im Nahen Osten Russland führt seit 2015 Krieg gegen Aufständische in Syrien. Die wichtigsten Ziele sind erreicht. Nun kann sich Moskau auf die Ukraine konzentrieren. Der russische und der syrische Präsident besuchen den Luftwaffenstützpunkt Hmeymim in der Provinz Latakia, Syrien, 2017 Foto: Mikhail Klimentyev/Sputnik/Reuters Fragil, aber weitgehend ruhig: So lässt sich die Lage in Syrien beschreiben, über die vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine weniger Nachrichten zu vernehmen sind als zuvor. Der Grund für die Ruhe: Der russische Präsident Putin, der sein Militär 2015 nach Syrien schickte und es bis heute nicht vollständig abgezogen hat, hat seine wichtigsten Ziele erreicht. Das Assad-Regime hat mit russischer Unterstützung weite Teile des Landes wieder unter seine Kontrolle gebracht. Moskau konnte also den Schwerpunkt seiner militärischen Aktivitäten in die Ukraine verlegen. Die dortige Konfrontation beansprucht aktuell den Löwenanteil der russischen Militärkapazitäten. Ein Teil des russischen Truppenkontingents und Militärgeräts wurde vergangenes Jahr aus Syrien abgezogen, insbesondere die S-300-Flugabwehrraketensysteme. Diese wurden bereits in der Ukraine für Bodenangriffe eingesetzt. Mehrere Tausend russische Soldaten stabilisieren aber weiterhin die Lage in Syrien. Offizielle Angaben, wie viele Soldaten in Syrien geblieben sind, gibt es nicht. Im Herbst sprach Oleksiy Orestowitsch, Berater des ukrainischen Präsidenten, unter Berufung auf den ukrainischen Geheimdienst von 6.000 bis 11.000 Soldaten. Der russische Militärexperte Kirill Michailow geht von 3.000 bis 4.000 Soldaten aus. Michailow zufolge spielt das russische Kontingent aktuell keine große Rolle. „Sie patrouillieren in Regimegebieten, aber auch im Nordosten des Landes.“ Dort haben größtenteils kurdische Kräfte die Kontrolle, aber auch Assads Streitkräfte sowie die Türkei oder protürkische Kräfte kontrollieren Teile des Gebiets. Da die Gebiete nur schwer abgrenzbar sind, tauchen die Russen manchmal auch in kurdisch kontrollierten Zonen auf, was der Kurdenführung missfällt, ihr aber lieber ist als türkische Truppen. „Die Einheimischen sind von den russischen Patrouillen nicht begeistert“, sagt Michailow. „Kürzlich ist ein Video aufgetaucht, in dem gepanzerte Fahrzeuge mit einem Z, dem inoffiziellen Symbol der ‚Sonderoperation‘ in der Ukraine, mit Steinen beworfen werden.“ Dutzende russische Kampfflugzeuge sind weiter in Syrien stationiert. Die meiste Zeit patrouillieren sie am syrischen Himmel. Mehrmals im Monat fliegen russische Flugzeuge außerdem Luftangriffe in der nordwestsyrischen Rebellenhochburg Idlib: entweder auf dortige Streitkräfte oder auf zivile Objekte. Kirill Michailow, Militärexperte„Die Einheimischen sind von den russischen Patrouillen nicht begeistert“ Darüber hinaus unterhalten die Russen im syrischen Tartus einen Marinestützpunkt, der als Reparaturstelle der Flotte und als Hafen für zivile Schiffe dient. Vor Kurzem lief dort aus der Ukraine gestohlenes Getreide ein. „Russische Marinesoldaten bewachen Stützpunkte in Syrien und sind froh, dass sie nicht in die Ukraine geschickt wurden“, sagt Michailow. Die sieben Ziele Russlands im Syrien-Krieg Mit seinem kostspieligen Einsatz in Syrien hat Russland mehrere Ziele verfolgt. In erster Linie wollte der Kreml einen weiteren Regimesturz infolge des Arabischen Frühlings verhindern. Aus Sicht Moskaus hätte ein Sturz des Assad-Regimes eine weitere Farbrevolution dargestellt, die im Falle Syriens auf dem Territorium eines langjährigen Verbündeten ausgebrochen war. Das zweite Ziel bestand darin, einen Kriegsschauplatz zu schaffen und so die EU und die Nato durch den Zustrom muslimischer Migranten zu schwächen. Russland zerbombte deshalb absichtlich Krankenhäuser, Schulen und Wasserleitungen. Drittens ist der Syrienkrieg für Russland ein Instrument, um Druck auf Israel auszuüben. Nicht nur offene Unterstützung, sondern bereits Russlands Nachsicht mit Iran und der libanesischen Hisbollah sind ein Albtraum für den jüdischen Staat. Der Druck trägt Früchte: Israel hat seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine bis heute keine Waffen an die Ukraine geliefert. Das vierte Ziel ist innenpolitisch: Die Gräueltaten der russischen Armee sowie von Angehörigen der Wagner-Organisation in Syrien – einschließlich eines Videos über einen Mord mit Vorschlaghammern sowie einer Zerstückelung und Verbrennung eines Deserteurs – sind für die liberale Minderheit in Russland ein Hinweis, was passieren würde, sollten die Bürger sich gegen Putin erheben. Das fünfte Ziel ist auf einen anderen, den reaktionären Teil der russischen Bevölkerung gerichtet: Der Syrieneinsatz ist eine Art blutige Show. Je weniger Brot der chauvinistische Teil der russischen Gesellschaft hat, desto mehr füttert Putin ihn mit brutalen „Zirkusspielen“. Das 6. Ziel bestand darin, Waffen zu testen. Analytikern in der Ukraine war schon seit Beginn der russischen Intervention in Syrien 2015 klar, dass die Waffen später Tod und Verwüstung auch in der Ukraine bringen würden. Ein Beispiel sind die „Kalibr“-Raketen, die oftmals von denselben Schiffen im Kaspischen Meer abgeschossen werden – früher in Richtung Syrien, heute in Richtung Ukraine. Russlands siebtes Ziel war es, sich militärische Präsenz in Syrien zu sichern. Während des Kriegs erhielten die russischen Luftstreitkräfte von Damaskus die Erlaubnis, die Hmeimim-Basis im Westen Syriens neben dem Mittelmeerhafen von Latakia auf unbestimmte Zeit zu nutzen. Der Militärflugplatz dient heute als wichtiger Transitpunkt für russische Militär­operationen in Afrika. Trotz der riesigen Verluste für Russland in der Ukraine reicht der bewaffnete Arm des Kreml in fast alle Teile der Welt. Aus dem Russischen Barbara Oertel
Alexander Gogun
Russland führt seit 2015 Krieg gegen Aufständische in Syrien. Die wichtigsten Ziele sind erreicht. Nun kann sich Moskau auf die Ukraine konzentrieren.
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Punkrock-Szene in Südostasien: Auf der Suche nach den „Messies“ - taz.de
Punkrock-Szene in Südostasien: Auf der Suche nach den „Messies“ Ihr Film- und Buchprojekt „A Global Mess“ führt Diana Ringelsiep und Felix Bundschuh auf eine Reise. Dahin wo Punk noch echte Rebellion bedeutet. Skatepunk beim Grinden auf einer Bank in Cebu City auf den Philippinen Foto: Ventil Verlag Trägt ein Punk Springerstiefel, Lederjacke und Iro? Oder Vans, Hoodie und Baseballkappe? Es gibt wohl keine Subkultur, in der nicht darüber gestritten wird, wer dazugehört. Dass diese feinen Unterschiede an der Oberfläche selbst im dezidiert konsumkritischen Punkrock ein Thema sind, ist schade, aber nichts Neues. Dass der „Nietenpunk vs. Skatepunk“-Streit nicht nur im sogenannten Westen, sondern selbst auf den Philippinen ausgetragen wird, dagegen schon. Von dieser und weiteren Kuriositäten erzählt der Reportageband „A Global Mess“. Mehrere Monate haben die Autorin Diana Ringelsiep und der Musikmanager Felix Bundschuh Südostasien bereist. Abseits ausgetretener Backpacker-Pfade haben die beiden Freunde nicht nur auf den Philippinen, sondern auch in Indonesien und Singapur, auf Malaysia und in Thailand eine Antwort auf die Frage gesucht, welches Lebensgefühl junge Menschen aus alternativen Szenen weltweit miteinander verbindet. Bei der Suche nach versteckten Plattenläden, der Begleitung illegaler Graffititouren oder dem Pogen auf Undergroundkonzerten in verlassenen Gebäuden gerieten sie dabei mehrfach in heikle Situationen. Die Ergebnisse ihrer abenteuerlichen Recherchen sind nach einer Crowdfunding-Kampagne mit prominenter Unterstützung von Szenegrößen wie Slime, Dritte Wahl oder Terrorgruppe in einem knapp dreihundert Seiten starken, farbig bebilderten Buch, einer Doku in Spielfilmlänge und auf einem Vinyl-Sampler veröffentlicht worden. Ringelsiep und Bundschuh wollten dahin, wo Gangster-Rap noch nicht im Radio läuft, ein Leben abseits des Mainstreams also echte Rebellion bedeutet. Mission geglückt: Durch Interviews mit Musikern, Aktivisten und Künstlern zeichnen Buch und Film das Bild einer Region, in der unkonventionellen Lebensentwürfen und emanzipatorischen Projekten nicht nur mit gesellschaftlicher Isolation, sondern auch mit staatlicher Repression begegnet wird – und einer Szene, die mit wenigen Mitteln viel auf die Beine stellt. Zwischen Gentrifizierung und Freiräumen Das Problem der Gentrifizierung, das Plattmachen von Proberäumen, Ateliers und Konzertlocations ist vor diesem Hintergrund dann auch das Einzige, was die Sub- und Gegenkultur von Südostasien mit der Europas oder Amerikas teilt, wo erkämpfte Freiräume einen vergleichsweise sicheren Status haben, sieht man mal von dem merkwürdigen Umstand ab, dass sich das Establishment auch dort gern die Werke unbequemer junger Künstler an die Wände hängt. Schade ist, dass Ringelsiep und Bundschuh nur das erste Etappenziel ihrer Crowdfunding-Kampagne erreicht haben und der Film deswegen vorerst ausschließlich in Kleinstauflage während der Lesereise zu sehen ist. Das Buch mit seiner multiperspektivischen Mischung aus Tagebucheinträgen, E-Mail-Kommunikation und Interviews ist informativ und kurzweilig. Dennoch vermitteln die bewegten Bilder den authentischeren, direkteren und emotionaleren Eindruck der örtlichen Szene. Flimmern die Aufnahmen aus der Mitte tobender Moshpits über den Bildschirm, kann man den Schweiß förmlich riechen. Hardcore, Street-, Skate- und Pop-Punk Die hierzulande unbekannten Bands können sich alle durchaus hören lassen. Die beste Visitenkarte für sie ist deshalb auch der Sampler, eine Veröffentlichung für sich, die gänzlich ohne Buch und Film funktioniert. Ein Dutzend Songs von ebenso vielen Bands haben Ringelsiep und Bundschuh auf ihrem perfekt produzierten und liebevoll aufgemachten Vinyl untergebracht. Wer fremde Klänge aus fernen Ländern erwartet, sei gewarnt: Vor allem musikalisch ist der westliche Einfluss auf die Szene Südost­asiens nicht zu leugnen. Rap, Reggae und Rock sind auch vertreten, der Schwerpunkt liegt aber eindeutig auf Punkrock – das allerdings in allen Spielarten des Genres, von Hardcore über Street- bis hin zu Skate- und Pop-Punk. Kein Wunder, schließlich sind die beiden „Messies“ mit Punk groß geworden und wollten der Szene mit diesem Projekt etwas zurückgeben. Buch und Film„A Global Mess. Eine SubkulTOUR durch Südost­asien“, Ventil Verlag, Mainz 2019, 280 Seiten, 27 Euro„A Global Mess – Vol. One: Asia“ (Concrete Jungle Records/X-Mist)Buch- und Filmpräsentation: 6.9. „at.tension Festival“, Müritz; 11.9. „Kulturhaus Arthur“, Chemnitz; 13.9. „Ramones Museum“, Berlin; wird fortgesetzt Doch warum eigentlich „A Global Mess“, wenn der Spot doch nur auf eine Region dieser Erde geworfen wird? Mit dem Titel, einer Hommage an die amerikanische Streetpunkband „A Global Threat“, wollten die beiden Enthusiasten sich bewusst die Option offenhalten, die Arbeit in anderen Ländern weiterzuführen. Auf dem Cover des Samplers steht deswegen vorsorglich schon mal „Volume One“.
Tilmann Ziegenhain
Ihr Film- und Buchprojekt „A Global Mess“ führt Diana Ringelsiep und Felix Bundschuh auf eine Reise. Dahin wo Punk noch echte Rebellion bedeutet.
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Regierungschefs besuchen Kiew: Unmissverständliche Solidarität - taz.de
Regierungschefs besuchen Kiew: Unmissverständliche Solidarität Dank der deutschen Zurückhaltung ist die Bedeutung der Länder Ostmitteleuropas im Ukrainekrieg politisch gewachsen. Deutschland gilt als Appeaser. Vorkehrungen für Einmarsch der Russen: Maidan-Platz im Zentrum Kiews am 12. März Foto: Andrea Filigheddu/imago Die recht abenteuerlich anmutende Visite der Regierungschefs von Polen, Slowenien und Tschechien in der umkämpften ukrainischen Hauptstadt Kiew am Dienstag beweist mal wieder, dass Raum und Zeit nur Formen unserer sinnlichen Anschauung sind. Denn der Westen reicht heute bis tief in die Ukraine. Als Wertegemeinschaft zumindest. Die Ministerpräsidenten waren ja nicht auf eigene Faust am frühen Morgen per Zug von Warschau nach Kiew gereist, um dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski ihre „unmissverständliche Unterstützung“ auszudrücken. Sondern auch als Vertreter der EU und des Europarats. Mag die EU ihre ersten Andeutungen eines beschleunigten EU-Beitritts der Ukraine auch relativiert haben, wobei die Idee ja schon von Anfang an eher emotional begründet schien. Zu „Europa“ und ihren Werten gehöre die Ukraine schon jetzt. Das ist die unüberhörbare Meta-Message dieses Besuchs. Dank der deutschen Zurückhaltung sind die Länder Ostmitteleuropas außenpolitisch enorm gewachsen. Aber wer würde auch die Lage der Ukrainer besser verstehen als die, die sie aus historischer Erfahrung kennen? Die Tschechen zum Beispiel erkennen im Minderheitenkampf im Donbas die Sudetenkrise von 1938 wieder und russische Panzer sind überall in der Region noch in lebhafter und leidvoller Erinnerung. Sehr viele Menschen in Osteuropa sehen Deutschland heute in der Rolle des „Appeasers“. Die Deutschen glauben offenbar noch immer, so der Eindruck, Autokraten und Diktatoren beschwichtigen zu können. Deutschland, so der Vorwurf, hat viel zu viel Angst vor Putin und seinen Drohungen. Viel lieber würde Mitteleuropa eine härtere Linie fahren, von Waffenlieferungen bis Flugverbotszone. Die wird inzwischen ja schon von den baltischen Staaten gefordert und findet in den Visegrad-Staaten immer mehr Unterstützung. Aber wenn die EU ihren Eiertanz zwischen Slava Ukraina und Putin-Appeasement so weitermacht, könnte sich bald eine Spaltung der EU-Außenpolitik abzeichnen.
Alexandra Mostyn
Dank der deutschen Zurückhaltung ist die Bedeutung der Länder Ostmitteleuropas im Ukrainekrieg politisch gewachsen. Deutschland gilt als Appeaser.
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GESAGT IST GESAGT - taz.de
GESAGT IST GESAGT „Icke bin Berliner“ WIR WOLLEN JA NICHT ALLZU KLEINLICH SEIN, ABER SOLLTE EINE FEMINISTIN WIE DIE GRÜNEN-CHEFIN RENATE KÜNAST GERADE GEGENÜBER EINEM RAMSCHBLATT WIE DER „B.Z.“ NICHT EHER MAL SAGEN: „ICKE BIN BERLINERIN“? ODER WILL SIE BÜRGERMEISTER WERDEN? „Gott schütze unser Schleswig- Holstein“ PETER HARRY CARSTENSEN, SCHEIDENDER MINISTERPRÄSIDENT, VERGREIFT SICH IM TON. GOTT SCHÜTZE BREMEN? GOTT SCHÜTZE BERLIN? GOTT SCHÜTZE DAS SAARLAND? GEHT DOCH AUCH NICHT
Renate Künast / Peter Harry Carstensen
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Debatte Westen und Islam: Der rote Faden der Kränkung - taz.de
Debatte Westen und Islam: Der rote Faden der Kränkung Die Willkommenskultur ist nur ein Anfang. Oder: Was Hassan al-Turabi und das Versagen des Westens miteinander zu tun haben. Hassan al-Turabi: „Ihr habt es kaputt gemacht.“ Foto: dpa Wir sind wie Aliens für euch, wie Tiere fast. Irgendetwas Dunkles. Und Dunkelheit macht immer Angst, nicht wahr?“ Der schmächtige Mann in der schneeweißen Galabija lachte grimmig. „Sehen Sie, da steckt das Problem. Wir kennen Ihre Sprache, Ihre Geschichte, Ihre Kultur. Sie wissen nichts über uns. Wir glauben an den Dialog. Aber Dialog heißt doch, man akzeptiert den anderen ...“, er zögerte, dann flüsterte er: „... als fast gleich. Wenigstens das: fast gleich. Sonst kriegen wir es nie geregelt.“ Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass ich in Khartum Hassan al-Turabi traf, lange vor 9/11, Irakkrieg und ISIS. Die Informationen über diesen sudanesischen Muslimbruder waren dünn und verwirrend disparat: der erste Promovierte des Landes, der in Paris und London Jura studiert hatte; ein Islamgelehrter, der für Frauenrechte eintrat und die Fatwa gegen Salman Rushdi verurteilte; ein geistiger Mentor der von den USA finanzierten Mudschaheddin; der Theoretiker einer panarabisch-islamischen Internationale; die graue Eminenz des Präsidenten Baschir. Nachdem sein Büro sechs Tage lang den Termin mit Turabi immer wieder verschoben hatte, war ich am Tag vor meinem Abflug schließlich zu seinem Privathaus im Vorort Hay al-Amariyya gefahren. Ein unbewaffneter Türsteher nahm meine Karte, und verschmitzt lächelnd wie im Orient-Klischee begrüßte mich Turabi. „Sechs Tage hat man Sie warten lassen? Sie hätten eher hierherkommen sollen.“ Und dann verstrickte er mich – Kollegen hatten mich gewarnt – in einen windungsreichen Grundkurs: über die notwendige Historisierung des Koran; über eine islamische soziale Marktwirtschaft „ohne Atheismus, ohne Zinsen und mit intakten Familien“; über die Rolle der Religion bei der Entstehung des Kapitalismus. „Warum sind wir für euch die Bösen? Wir wollen doch nursein wir ihr“ „Ja, wir sind rückständig. Wir brauchen die Herausforderung, aber wie wollen Sie denn in einem gläubigen Volk mit 120 Stämmen und noch mehr Sprachen anders als mit Religion Arbeitsmoral und Lesen verbreiten, wie Nationen bauen? Die einzige Modernität, die wir kennen, ist der Islam.“ Es wurde, ich kann es nicht anders sagen, ein sechsstündiges, intellektuell anregendes Gespräch. Fragen nach dem Terrorismus schüttelte Turabi lächelnd ab: Ja, er habe den jungen Männern immer wieder gepredigt, sie könnten nur zerstören, nicht aufbauen, aber die Sache in Afghanistan sei aus dem Ruder gelaufen. Und dann schwärmte er metaphernreich weiter: von einer Islamischen Renaissance, die gegen die profane Verwestlichung ebenso wie gegen die korrupten alten Oberschichten und Militärs eine kulturelle und politische Erneuerung entfachen würde. „Ihr habt es kaputt gemacht“ „Wir haben euch etwas anzubieten“, flüsterte er werbend, und als ich ihm entgegenhielt, für solche Intellektuellenträume von Modernität ohne Individualismus und Pluralität und Kälte und Kapitalismus sei der Zug schon abgefahren, wurde er wütend: „Nein, wir werden euch Westler nicht hindern, den Weg des Mammons zu gehen, aber es geht anders. Wir haben es gezeigt: Wir waren eine entwickelte Gesellschaft, modern, mit Hunderten von Universitäten, mit Banken und Wasserleitungen und Kultur und Toleranz. Mit Gemeinschaften, die Menschen halten. Aber ihr habt es kaputt gemacht.“ Wir? – „Ja, ihr Europäer“, zischt er da über den Tisch, „ihr habt es zerschmettert.“ Der AutorMathias Greffrath lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle unter dem Titel „Yes, wir können“ über Europa, seine Migrationspolitik und was wir noch heute von Winston Churchill lernen können (14.10. 2015). Wann? „Vierzehnhundertzweiundneunzig.“ Da wurde er unter allem Lächeln plötzlich sichtbar: der jahrhundertelange rote Faden der Kränkungen, der Fremdherrschaft, der Ausbeutung, der Missachtung. Und des Verrats durch den Westen: von Lawrence von Arabien über den CIA-Putsch gegen den iranischen Präsidenten Mossadegh bis zum Golfkrieg, in dem sich westlicher Ölhunger mit der reaktionären Familiendiktatur der Saudis verband. Historische Wunden, die in einer mündlichen Kultur viele stärker gegenwärtig waren als in unserer, die das historische Gedächtnis im Medienbrei erstickt. Als ich, zugetextet und leicht betäubt, aus dem Haus ging, brachte mich sein Neffe zum Taxi. „Warum sind wir für euch die Bösen?“, fragte er mich. Und da er sehr jung war und kein Diplomat, setzte er hinzu: „Wir wollen doch nur sein wir ihr.“ Das war, wie gesagt, vor 20 Jahren. Nichts hat der zerfledderte Westen seither „geregelt“ bekommen. Aber an Turabis „wenigstens fast gleichberechtigt“ und an dieses gemurmelte „Wir wollen doch nur sein wir ihr“ seines Neffen musste ich denken, als ich vor zwei Wochen in der Zeit Bernd Ulrichs Frage las: „Haben sich Franzosen, Deutsche, Briten, Italiener und Amerikaner eigentlich jemals offiziell entschuldigt bei den Menschen in Nordafrika? Für den Kolonialismus? Nein? Und warum nicht?“ Macht der Erinnerung Die Frage ist gut, aber Jahrzehnte zu spät und politisch naiv, denn historische Schuld anzuerkennen zieht Forderungen nach sich. Aber noch naiver wäre es anzunehmen, dass sie dort vergessen haben. Zu glauben, dass korrupte Eliten nicht weiterhin mit diesen Erinnerungen Politik machen; naiv anzunehmen, dass sich nicht auch nach der Zerschlagung des IS aus den arbeitslosen und armen Massen Terroristen rekrutieren und mit diesen – falschen wie gefälschten – Erinnerungen nähren werden. Und am naivsten zu glauben, dass wir mit drei Milliarden oder sechs oder neun Milliarden Tribut die Türkei und einige nordafrikanische Staaten auf Dauer zu wirksamen Türstehern Europas machen können. Kein Zweifel: Die nächste Zukunft wird vom Dreiklang aus Asylgewährung, wenig wirksamen Grenzkontrollen und militärischen Schlägen gegen das Terrorkalifat bestimmt sein. Die Globalisierung komme jetzt „in unser Haus“, sagte die Kanzlerin neulich, und „wir“ würden jetzt unseren Beitrag liefern müssen. Solche Sätze und der humanitäre Betriebsunfall der Willkommenskultur sind ein zaghafter Anfang, in der Gegenwart zu landen, aber Globalisierung heißt eben auch Globalisierung der Erinnerungen – und der Zukunft. „Offizielle Entschuldigungen“ wären da eine schöne Geste, aber der Kontenausgleich, der folgen muss, wird ungleich härter sein als ein Warschauer Kniefall.
mathias greffrath
Die Willkommenskultur ist nur ein Anfang. Oder: Was Hassan al-Turabi und das Versagen des Westens miteinander zu tun haben.
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DER CRASHKURS: Hund in der Pfanne - taz.de
DER CRASHKURS: Hund in der Pfanne ■ Die Jungen Liberalen in Sachsen-Anhalt wollen das Schlachtverbot für Hunde und Katzen aufheben. Es diskriminiere andere Kulturen Wer fordert was? Im Sommer stellte der sachsen-anhaltinische Landesverband der Jugendorganisation der Liberalen (Julis) einen Antrag: „Die Jungen Liberalen fordern die Aufhebung des Schlachtverbots für Hunde und Katzen.“ Das Schlachtverbot sei nur „durch merkwürdige Moralvorstellungen zu erklären“ und „eine Diskriminierung anderer Kulturen“. Nimmt das jemand ernst? Anfang November wurde der Antrag auf dem Bundeskongress in Düsseldorf gestellt und sorgte im Internet, für Empörung. „Auch junge Liberale kann man essen.“ „So eine Partei braucht Deutschland sicher nicht!“ Wie geht es weiter? Diese Woche erklärte Alexander Hahn, Bundesvorsitzender der Julis, deren Mutterpartei nicht mehr im Bundestag sitzt: „Wir mögen Haustiere, allerdings nicht auf dem Teller.“ Der Antrag wurde an den Arbeitskreis Innen und Recht verwiesen und wird im erweiterten Bundesvorstand angenommen oder abgelehnt. Die Julis entschuldigten sich „für die entstandenen Irritationen“. WAHN
WAHN
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Wahl im Kongo: Zwischen Zorn und Zuversicht - taz.de
Wahl im Kongo: Zwischen Zorn und Zuversicht Die Opposition ist vom Wahlsieg überzeugt, fürchtet aber Wahlbetrug. Besuch beim „Steh-Parlament“ der Getreuen des Oppositionschefs Tshisekedi. Es krusieren bereits Wahlergebnisse – woher sie kommen, weiß niemand Bild: dapd KINSHASA taz | Jeden Morgen, wenn über dem Kongo-Fluss die Sonne aufgeht, werden an einer Straßenkreuzung im Viertel Limete in Kongos Hauptstadt Kinshasa frische Tageszeitungen auf einem Holzgerüst ausgehängt. Daneben werden an einer Verteilerstation Blätter auf Lkws verladen. Um dieses Holzgerüst herum sammeln sich dann fast hundert Männer: Sie studieren die Schlagzeilen, tauschen Neuigkeiten aus, palavern, streiten und lassen ihrer Meinung und ihrem Frust freien Lauf. In diesen Tagen nach der Präsidentschafts- und Parlamentswahl vom 28. November ist der Frust groß. Der 18-jährige Merlin Younkou zieht ein Blatt Papier aus seiner Schultasche. Seit Mittwoch kursieren in Kinshasa vorläufige Ergebnisse auf den Straßen. Woher sie stammen – das ist niemandem klar. Der Inhalt dieses Blattes heizt die Stimmung gewaltig an: Präsident Joseph Kabila soll die Wahl mit 56 Prozent gewonnen haben, Oppositionsführer Etienne Tshisekedi folge mit 32 Prozent. „Das ist Betrug!“, brüllt einer in der Menge. „Der wahre Sieger ist Tshisekedi – es lebe unser Präsident!“ donnert ein anderer. Alle nicken. „Stehparlament“ nennt sich die informelle Institution, weil die selbsternannten „Abgeordneten“ hier unter einem Baum im Stehen debattieren. Es erinnert ein wenig an sozialistische Arbeiter- und Bauernräte. Basisdemokratie auf kongolesisch. Schattenparlament seit der Diktatur Gegründet 1990 von der sozialdemokratisch geprägten UDPS (Union für Demokratischen und Sozialen Fortschritt) von Etienne Tshisekedi, der größten Oppositionspartei des Kongo, fungierten diese Diskussionsgruppen bereits unter dem 1997 gestürzten Diktator Mobutu als Schattenparlament. „Damals gab es keine Meinungsfreiheit und vor allem keine Pressefreiheit“, erläutert Fice Mokambala, Vizepräsident des „Parlaments“ in Limete. „Wir begannen deshalb, unsere Parteigenossen landesweit zu vernetzen, um Informationen auszutauschen und zu diskutieren.“ Er selbst gehörte 1990 zu den ersten Mitgliedern. Dass sich die Hauptversammlung ausgerechnet in Limete zusammenfindet, ist kein Zufall. Hier lebt seit jeher die gebildete Mittelklasse, die Querdenker. UDPS-Chef Tshisekedi wohnt nur wenige Ecken weiter. Dass Tshisekedi die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, davon sind die „stehenden Parlamentarier“ fest überzeugt, und was Kinshasa angeht, besteht daran auch kein Zweifel. Am Morgen nach der Wahl hingen vor jedem Wahllokal die jeweiligen Ergebnisse der nächtlichen Stimmauszählung aus. In Kinshasa liegt fast überall Tshisekedi klar vorn. Einen leichten Vorsprung für Kabila gibt es nur dort, wo die Minister und die Frauen der Generäle wählen waren. Insgesamt, das lässt sich nach Besuch von elf Wahlzentren mit jeweils mehreren Wahlbüros schätzen, hat der Oppositionschef in der Hauptstadt wohl rund 60 Prozent erhalten, der Präsident rund 30. Fast alle Anwesenden in Limete haben die nächtlichen Auszählungen in den Wahllokalen mitverfolgt, meist bei Kerzenlicht. „Ich bin danach sogar dem Wagen mit den Urnen hinterhergefahren, bis zum Auswertungszentrum“, erzählt Israel Mudiambi, 25-jähriger Exstudent. Dort wurde er von Polizisten nicht hineingelassen. „Die fälschen dort die Ergebnisse!“, wettert er. Zusammenrechnen mit dem Handy Das Auswertungszentrum in Limete ist eines von vier, wo die 24.000 mülleimergroßen Urnen aus ganz Kinshasa zusammengetragen werden. In der großen Lagerhalle herrscht Chaos. Am Dienstag erst eingerichtet, stapeln sich die Säcke mit den Zetteln kreuz und quer, meterhoch. Es ist stickig und schwül. Mitarbeiter der Wahlkommission CENI dösen auf Plastikstühlen oder schichten ächzend Säcke um. Sie müssen durch drei Stationen, wo die Ergebnisse der Gemeinden und Distrikte jeweils zusammengezählt werden, per Handy-Taschenrechner. Erst an der letzten Station sitzen Männer hinter vier Laptops, die ab und zu mit Strom versorgt werden. Bis zum 6. Dezember müssen laut Wahlgesetz die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl feststehen. Ob die Frist eingehalten werden kann, ist fraglich. Viele Wahllokale haben die Stimmzettel viel zu spät erhalten und mussten die Wahl verlängern. Afrikanische Wahlbeobachterorganisationen haben zur erfolgreichen Durchführung der Wahl gratuliert, „trotz der Schwierigkeiten“. Die EU-Wahlbeobachter erklärten zurückhaltend: „Der Mangel an Kommunikation hat den Wahltag beeinträchtigt.“ Einer Forderung dreier Oppositionskandidaten, die Wahl wegen Unregelmäßigkeiten und Gewalt für nichtig zu erklären, hat sich Tshisekedi nicht angeschlossen. Er rechnet offenbar damit, zu gewinnen. Sein Pressesprecher Albert Moleka spricht sogar von einer „Revolution“. Um Revolution geht es auch den Straßenparlamentariern in Limete: Sie bereiten für die Ergebnisverkündung eine Siegesfeier vor, erzählen sie. „Wir planen eine Party“, sagen sie. „Wenn aber die Ergebnisse gefälscht werden, dann werden wir Kabila mit unseren bloßen Händen stürzen!“, brüllt einer. In der Diskussion kommen Vergleiche mit Libyen oder Ägypten auf. Und mit der Elfenbeinküste, deren Expräsident Laurent Gbagbo vor einem Jahr vergeblich versucht hatte, trotz Wahlniederlage im Amt zu bleiben. Am Mittwoch wurde Gbagbo dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag übergeben. „Das hat uns Mut gemacht“, sagt einer.
Simone Schlindwein
Die Opposition ist vom Wahlsieg überzeugt, fürchtet aber Wahlbetrug. Besuch beim „Steh-Parlament“ der Getreuen des Oppositionschefs Tshisekedi.
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der check - taz.de
der check: Könnte eine verurteilte Po­li­ti­ke­r:in zur Bundeskanz­le­r:in gewählt werden? Gegen Donald Trump, den aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, wurde in dieser Woche die dritte strafrechtliche Anklage erhoben. Eventuell kommt es noch vor der Wahl zu einem Urteil. Doch auch nach einer strafrechtlichen Verurteilung könnte Donald Trump als US-Präsident kandidieren und gewählt werden. Wie wäre das bei uns? Richtig ist: Das deutsche Recht ist restriktiver als das US-Recht. Wer wegen eines Verbrechens verurteilt wurde, kann fünf Jahre lang kein öffentliches Amt bekleiden, also auch nicht Bun­des­kanz­le­r:in werden. Dies ist in Paragraf 45 des Strafgesetzbuchs geregelt. Auch die Wahl in den Bundestag ist dann nicht mehr möglich. Als Verbrechen gilt jede Straftat mit einer gesetzlichen Mindeststrafe von einem Jahr, also zum Beispiel Mord, Vergewaltigung, Brandstiftung und Raub. In weiteren Fällen können Strafgerichte die Wählbarkeit für zwei bis fünf Jahre aberkennen. Voraussetzung ist dann erstens eine gesetzliche Mindeststrafe von sechs Monaten und zweitens eine ausdrückliche Erwähnung dieser Möglichkeit im entsprechenden Strafparagrafen. Diese Option haben Strafgerichte zum Beispiel bei Landesverrat, Bildung einer terroristischen Vereinigung, Bestechlichkeit oder Straftaten zur Wahlbehinderung und Wahlfälschung. In der ­Praxis spielt diese Möglichkeit aber nur eine „minimale Rolle“, schreibt Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in seinem Standardkommentar zum Straf­gesetzbuch. Christian Rath
Christian Rath
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vorlauf: Trauerarbeit - taz.de
vorlauf: Trauerarbeit „Späte Reise“ (Do., 20.45 Uhr, Arte) „Du hast doch hierher gewollt! Immer wieder kaust du dein Leben durch. Was bringt es dir, dorthin zu fahren?“ – Riwka wird von ihrem Mann beschimpft. Die 65-Jährige hat sich spät dazu entschlossen, die Gedenkstätte in Auschwitz zu besuchen. Sie und ihr Mann sind extra aus Tel Aviv gekommen, um nun gemeinsam mit ihrer Reisegruppe in einem Bus zu sitzen, der wegen Motorschadens unweit vom Reiseziel stecken geblieben ist. Draußen liegt Schnee, die nahe gelegene Bar ist geschlossen. Eine alte Frau ist ohnmächtig geworden. Als der Arzt ihren Puls misst, erhascht die Kamera einen Blick auf ihren tätowierten Unterarm. Da es immer kälter wird, versucht der Reiseleiter zu beschwichtigen. Gleich soll es weitergehen, Decken werden ausgegeben. Einige wittern Gefahr, dass sie Opfer eines Attentats geworden sind. Szenen aus Emmanuel Finkiels Spielfilm „Späte Reise“, der 1999 in Frankreich und bei internationalen Festivals mit Preisen ausgezeichnet wurde und nun erstmals im Fernsehen gezeigt wird. Finkiel erzählt von drei jüdischen Frauen, die auf unterschiedliche Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden. Das Reisen ist das verbindende Motiv zwischen den Episoden, die auf dem Weg nach Auschwitz, in Paris und in Tel Aviv spielen. Auch wenn sich die Wege von Vera, Régine und Riwka lediglich kreuzen und nicht treffen, so verbindet die Frauen doch ihre jüdische Identität. Sie alle haben Entwurzelung erlebt, Teile ihrer Familie verloren und hatten das Glück, selbst der Katastrophe entgangen zu sein. Finkiel zeichnet mit viel Einfühlungsvermögen das Bild einer Generation, die genauso wie das Jiddisch, das hier gesprochen wird, im Aussterben begriffen ist. Die Darsteller, die allesamt Laien sind, verkörpern ihre Rollen mit viel Präsenz und Authentizität. Sie gehören zu den französischen Aschkenasim – Juden, die ursprünglich aus Mittel- und Osteuropa stammen. Für den Regisseur gilt wohl das Gleiche wie für seine Schauspieler: Er verarbeitete mit diesem Film ein Stück seiner eigenen Vergangenheit – Finkiels Eltern wurden während des Holocausts von den Nazis deportiert. LASSE OLE HEMPEL
LASSE OLE HEMPEL
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Verspätungschaos bei der Bahn: Mehr Service statt Pünktlichkeit - taz.de
Verspätungschaos bei der Bahn: Mehr Service statt Pünktlichkeit Die Bahn setzt auf mehr Mit­ar­bei­te­r:in­nen in Zügen und ehrlichere Fahrplanauskünfte. Längere Umsteigezeit soll verspätete Reisende gnädig stimmen. Warten auf den Zug: Szene vom Frankfurter Hauptbahnhof Ende Juni Foto: Arne Dedert/dpa BERLIN taz | Die Deutsche Bahn reagiert auf die Unzufriedenheit wegen Verspätungen und Zugausfällen, indem sie 980 zusätzliche Servicekräfte im Fernverkehr einstellt. Außerdem verlängert sie die eingeplanten Umsteigezeiten bei Buchungen und digitaler Abfrage des Fahrplans. Derzeit haben außergewöhnlich viele Fernzüge Verspätung, etliche fallen ganz aus. Verantwortlich dafür sind unter anderem Baustellen auf vielen wichtigen Strecken. Der Unmut darüber bei Kun­d:in­nen ist groß, aber auch bei Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Wissing hat auf den Missstand beim Staatskonzern reagiert, indem er eine Steuerungsgruppe in seinem Ministerium eingerichtet hat, um die Entwicklung enger zu kontrollieren. „Wir bieten unseren Fahrgästen zurzeit nicht, was sie erwarten“, sagte der für den Personenfernverkehr verantwortliche Vorstand der Deutschen Bahn, Michael Peterson, vor Jour­na­lis­t:in­nen in Berlin. Um die Begleitung der Reisenden zu verbessern, stockt das Unternehmen die bislang 8.000 Servicekräfte im Fernverkehr in den kommenden Monaten um 980 weitere auf. 750 sollen in der Bordgastronomie und als Zugbegleiter eingesetzt werden. 100 neue Gäs­te­be­treue­r:in­nen sollen Fahrgästen beim Ein- und Aussteigen, dem Finden eines Sitzplatzes oder dem Verstauen von Gepäck helfen. Weitere 130 neue Mit­ar­bei­te­r:in­nen werden in großen Bahnhöfen zur Unterstützung von Fahrgästen eingesetzt. Run auf die Schiene Auf die vielen Verspätungen reagiert die Deutsche Bahn mit einer Verlängerung der Umsteigezeiten. „Damit Anschlusszüge zuverlässiger erreicht werden, achten wir in den Fahrplanmedien ab sofort auf großzügigere Umsteigezeit“, sagte Peterson. Das gilt zum Beispiel für die App DB Navigator. „Knappe Anschlüsse, die in der aktuellen betrieblichen Lage schwer erreicht werden können, zeigen wir jetzt schon bei der Planung und Buchung nicht mehr an“, sagte Peterson. Davon betroffen sind rund 800 Verbindungen. Statt 8 Minuten beträgt die Umsteigezeit nun bis zu 14 Minuten. Sollten Kun­d:in­nen mit einem Sparticket, das eine feste Zugbindung auch bei Anschlüssen vorsieht, einen früheren Zug erreichen, können sie den nehmen, sagte Peterson. Die Zugbegleiter seien angewiesen, das zu akzeptieren. In den vergangenen Monaten habe es im Fernverkehr einen „historischen Run auf die Schiene“ gegeben, berichtete Peterson. „Noch nie sind so viele Menschen so viele Kilometer ICE und Intercity gefahren wie in den vergangenen drei Monaten von Mai bis Juli 2022.“ Auch der grenzüberschreitende Bahnverkehr hat sich im ersten Halbjahr fast verdoppelt auf 19 Millionen Fahrgäste.
Anja Krüger
Die Bahn setzt auf mehr Mit­ar­bei­te­r:in­nen in Zügen und ehrlichere Fahrplanauskünfte. Längere Umsteigezeit soll verspätete Reisende gnädig stimmen.
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Privatklinik gegen Betriebsrätin: Zu engagiert für den Chef - taz.de
Privatklinik gegen Betriebsrätin: Zu engagiert für den Chef Eine Hamburger Privatklinik versucht, eine Krankenpflegerin loszuwerden. Sie ist zugleich Betriebsrätin. Der Konzern unterstellt ihr Betrug. Schicke Hamburger Privatklinik mit eisigem Betriebsklima: Atos Klinik Fleetinsel Foto: Miguel Ferraz HAMBURG taz | Betriebsrät*innen, nicht nur im Gesundheitsbereich, haben in der Coronapandemie viel zu tun. Kurzarbeit, Hygienekonzepte, Verlagerung von Arbeit in Privaträume und der Schutz vor dem Virus am Arbeitsplatz – das alles sind Bereiche, in denen die Ver­tre­te­r*in­nen der Belegschaft darauf achten müssen, dass die Rechte der Ar­bei­te­r*in­nen gewahrt werden. Dass das nicht allen Ar­beit­ge­be­r*in­nen gefällt, ist klar, aber manche kommen offenbar besonders schlecht damit zurecht. Die Hamburger Privatklinik Fleetinsel versucht derzeit auf gerichtlichem Weg, eine unbequeme Betriebsrätin loszuwerden. Der Konzern Atos, der die Klinik betreibt, wirft ihr vor, Tätigkeiten für den Betriebsrat außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit verrichtet und auch noch dabei betrogen zu haben. Eigentlich müssen betriebsrätliche Tätigkeiten während der normalen Arbeitszeit erledigt werden, jedenfalls in Regelbetrieben. In einer Klinik geht das meistens nicht, es findet dort kein Regel-, sondern Schichtbetrieb statt und die vom Pflegepersonal zu erledigenden Aufgaben lassen meistens keinen Spielraum – etwa für die Arbeit im Betriebsrat. Zahlreichen solchen Aufgaben aber ging die Krankenpflegerin Anja C. nach: Sie war an der Gründung des Betriebsrats der Klinik Fleetinsel beteiligt, war Sprecherin des Wirtschaftsausschusses, außerdem zuständig für Arbeits- und Gesundheitsschutz, wechselte später in die Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit und ließ sich im August 2020 zur stellvertretenden Konzernbetriebsratsvorsitzenden wählen. Sie kümmerte sich um all das in ihrer Freizeit, von zu Hause aus – so erlaubt es auch das Betriebsverfassungsgesetz. Von Januar bis September stellte sie ihrem Arbeitgeber dafür 184,35 Stunden in Rechnung. Sonntagsarbeit? Verdächtig Das wirft ihr die Konzernführung nun vor und verdächtigt sie, zu viele Stunden angegeben zu haben. C. habe „falsche Arbeitszeiten zur Erschleichung von Arbeitsbefreiung vorgetäuscht, indem sie (…) Zeiten für Betriebsratsarbeit vorgetäuscht hat, die sie tatsächlich nicht (…) geleistet hat“, schreiben die von Atos beauftragten Rechts­an­wäl­t*in­nen dem Gericht. Auch, dass C. die Stunden häufig an Sonn- und Feiertagen veranschlagte, bemängelt die Konzernführung. Gegenüber der taz sagte Anja C., die Vorwürfe seien unberechtigt. Der Einsatz an Sonn- und Feiertagen sei durch den Schichtbetrieb und zum Wohl der Pa­ti­en­t*in­nen und Kol­le­g*in­nen geschehen. „Der Eindruck, man will mich einfach loswerden, ist doch sehr deutlich“, sagt sie. Unter ihrer Mitwirkung hat der Betriebsrat ein Verfahren gegen diverse personelle Maßnahmen der Klinikleitung eingeleitet – also gegen Einstellungen und Kündigungen, an denen Atos die Belegschaft nicht beteiligt hatte, obwohl das Unternehmen es hätte tun müssen. Auf die Nachfrage der taz, welche Anhaltspunkte die Atos-Gruppe für den Betrugsverdacht gegen C. habe, möchte sich der Konzern nicht äußern. Man wolle die Entscheidung des Gerichts abwarten. Den Vorwurf, Atos wolle eine unbequeme Betriebsrätin loswerden, weist eine Sprecherin aber von sich: „Wir streben grundsätzlich ein enges Verhältnis zu unseren Betriebsräten an. Dabei kann es vorkommen, dass Sachverhalte kontrovers diskutiert werden.“ Dies empfinde man jedoch nicht als unbequem, sondern „als notwendig, um weitere Optimierungen vorzunehmen.“ „Die Vorwürfe sind konstruiert“ Dem Arbeitsrechtsanwalt Simon Dilcher kommt die Argumentation der Unternehmensführung bekannt vor. Er vertritt den Betriebsrat vor Gericht. „Das sind konstruierte Standardvorwürfe, um Betriebsräte unschädlich zu machen“, sagt er. Dabei seien die Vorwürfe inhaltlich absurd. Das von C. veranschlagte Zeitkontingent sei sogar noch niedrig, gemessen an den ganzen Tätigkeiten, denen C. als Betriebsrätin nachgegangen sei. Und eine Erledigung innerhalb der Arbeitszeiten sei aufgrund der Schichtdienste zudem meist nicht möglich. Simon Dilcher, Anwalt„Die Vorwürfe sind konstruiert und rechtlich nicht ausreichend für eine fristlose Kündigung“ „Die Vorwürfe sind konstruiert und rechtlich nicht ausreichend für eine fristlose Kündigung“, sagt er. Auch der Konzernführung müsse klar sein, dass sie damit vor Gericht nicht durchkomme, meint Dilcher – was darauf hinweise, dass hier Machtspielchen gespielt würden, um auch andere Betriebsratsmitglieder einzuschüchtern. „Da wird versucht, psychischen Druck auszuüben“, vermutet der Anwalt. Auch die Gewerkschaft Ver.di kritisiert das Vorgehen des Konzerns. „Es ist ein maximaler Angriff auf die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten“, ordnet die Gewerkschaftssekretärin Kathrin Restoff das Verhalten der Atos-Chef*innen ein. „In diesen schwierigen Zeiten zu versuchen, eine Betriebsrätin loszuwerden, wirft kein gutes Licht auf den Konzern.“ Auch Restoff glaubt, dass es der Klinikleitung um Einschüchterung geht. Der Chief Operating Officer von Atos, Lars Timm, der seit einem Jahr einer von drei Geschäftsführern ist, sei zudem kein Unbekannter. Zuletzt war er als Regionalgeschäftsführer des privaten Gesundheitskonzerns Ameos tätig. Dort soll er laut Ver.di 14 fristlose Kündigungen als Reaktion auf Warnstreiks verantwortet haben.
Katharina Schipkowski
Eine Hamburger Privatklinik versucht, eine Krankenpflegerin loszuwerden. Sie ist zugleich Betriebsrätin. Der Konzern unterstellt ihr Betrug.
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Liebe deine nächsten – aber nur, wenn sie so sind wie du: Rechte Menschen und Menschenrechte - taz.de
Liebe deine nächsten – aber nur, wenn sie so sind wie du: Rechte Menschen und Menschenrechte Zu hause bei Fremden von Miguel Szymanski Zwei Studenten stoßen in einem öffentlichen Lokal in Lissabon auf die Freiheit an, küssen sich und werden deswegen festgenommen. Ein englischer Rechtsanwalt liest in einen Nachrichtenmagazin über den Übergriff der portugiesischen Polizei zu Zeiten der Diktatur und gründet ein Jahr später eine Menschenrechtsorganisation. So erinnert sich der Anwalt Peter Benenson an seine Motivation, Amnesty International (AI) zu gründen. Fünfeinhalb Jahrzehnte später können Menschen in Lissabon, London oder Berlin ohne Angst ihre bürgerlichen Freiheiten zelebrieren, sich in der Öffentlichkeit küssen und ihre sexuellen Präferenzen offen bekennen. Gefährlich kann es laut dem Anfang Juni veröffentlichten Bericht von AI aber werden, wenn die jungen Menschen Ausländer sind und sich in einem Flüchtlingsheim in Deutschland aufhalten: „Im ersten Jahresdrittel 2016 meldeten die Behörden 347 rassistisch motivierte Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte“, schreibt die Menschenrechtsorganisation in ihrem Bericht „Leben in Unsicherheit – Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt“. Laut Bundeskriminalamt wurden im letzten Jahr mehr als 1.000 Anschläge auf Asylunterkünfte verübt, etwa 90 Prozent dieser Attacken hätten nachweislich einen rechtsradikalen Hintergrund, sagt das BKA. Es gibt im Krieg dieser Bürger zwei Fronten: Einheimische gegen Flüchtlinge. Es sind aber nicht, wie in der arabischen, türkischen, persischen oder indonesischen Presse verbreitet, deutsche Christen gegen Muslime. Es sind rechte Menschen gegen Menschenrechte. Fremde sind ihre Zielscheiben. Flüchtlinge und Flüchtlingsheime sind Projektionsflächen von Hass, Vorurteilen, Aggressionen und Brandbomben. Rechte und selbstgerechte Menschen heißen wohl so, weil sie Rechte für sich selbst beanspruchen und diese nicht mit anderen – im Sinne von Menschen, die anders aussehen – teilen wollen. Diese Entwicklung nährt sich in den letzten Jahren selbst in einer Spirale: Rechte Menschen richten ihre Wut gegen Flüchtlinge und die Islamophobie selbst wird zum Verkaufsschlager der Medien. Während die meisten meiner muslimischen Freunde genau so muslimisch sind wie ich christlich (letzte Teilnahme an einem Gottesdienst im letzten Jahrtausend), zeigen die meisten Beiträge der öffentlich-rechtlichen Sendungen Terrorismus, Fanatismus, Fundamentalismus und Intoleranz permanent im Kontext des Islam. Ein rechtsradikaler Islamhasser und Christ tötet in Norwegen 77 Menschen, aber wir wissen: Im Grunde ist er nur ein Verrückter. Ferngesteuerte Drohnen töten Tausende unschuldige Menschen und wir wissen, dass sind keine christlichen Waffen, sondern es ist lediglich der normal funktionierende Apparat der westlichen Politik. Der Massenmord diese Woche in Orlando – es hätte in London oder Berlin sein können – ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wieder in einem Atemzug über eine Weltreligion und Terrorismus berichtet wird, diesmal mit der verschärfenden Zutat der sexuellen Intoleranz. Die Verdammung der Homosexualität durch islamische Geistliche wird in den Medien und in den sozialen Netzen als Zeichen einer mittelalterlich rückständigen Einstellung dargestellt und kaum jemand scheint sich zu erinnern, dass Schwule in Europa bis weit in die 60er (England), in die 70er (Deutschland), 80er (Schottland, Irland) und die 00er (Katholische Kirche) offiziell als Straftäter oder Kranke galten. Im Alten und im Neuen Testament steht auf Homosexualität die Todesstrafe. Die Aufforderung „Liebe deinen Nächsten“ könnte den falschen Eindruck erwecken, Schwulenfreundlichkeit und Promiskuität gehörten zur christlichen Doktrin.
Miguel Szymanski
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Karl-Heinz Vorsatz zusammengebrochen - taz.de
Karl-Heinz Vorsatz zusammengebrochen ■ DVU-Abgeordneter mit Notarztwagen ins St.-Jürgen-Krankenhaus Der DVU-Abgeordnete Karl- Heinz Vorsatz hat gestern in der Bremer Bürgerschaft einen Herzinfarkt erlitten und mußte mit einem Notarztwagen ins St.-Jürgen-Krankenhaus eingeliefert werden. Kurz nach 18.00 Uhr vernahm das Plenum des Parlamentes einen Schrei, der DVU- Abgeordnete war nach seiner letzten Rede von seinem Stuhl gerutscht, lag auf dem Boden des Parlamentssaales. Kultursenatorin Helga Trüpel unterbrach sofort ihre Rede. Sie hatte sich im Augenblick des Infarktes direkt an Vorsatz gewandt. Abgeordnete leisteten vor Ort Erste Hilfe. Staatsrat Gerhard Schwandner massierte das Herz des DVU-Mannes, er ist Mediziner. In seiner letzten Rede war Vorsatz als Sprecher der Kulturdeputation auch auf die Überfälle Rostocker Bürger auf ein Ausländerwohnheim eingegangen. Der DVU-Abgeordnete, der im ständigen Clinch mit seiner Fraktion lag, hatte dazu erklärt, daß er die Handlungsweise der Täter zwar verstehen, aber nicht gutheißen könne. Er distanzierte sich auch nicht von den Hetzreden gegen Ausländer, die seine FraktionskollegInnen Marion Blohm und Hans-Otto Weidenbach in der Bürgerschaft gehalten hatten. Vorsatz war bereits in den 60er Jahren als Mitglied der NPD in der Bremer Bürgerschaft und ist auch jetzt noch Mitglied der Partei. Zuletzt hatte er für Aufregung gesorgt, als er bestätigte, daß die Fraktionsgelder der DVU auf Heller und Pfennig in die Parteizentrale nach München fließen. Über den Gesundheitszustand des Abgeordneten war bei Redaktionsschluß nichts zu erfahren. kvr
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Mehrere Razzien in Sydney: Anti-Terror-Operation wird Politikum - taz.de
Mehrere Razzien in Sydney: Anti-Terror-Operation wird Politikum Die Polizei verhindert mit mehreren Razzien angeblich einen Terroranschlag. Kritiker meinen, die Regierung will nur von sich ablenken. Nach einem Terrorverdacht in Sydneys Stadtteil Surry Hills Foto: dpa SYDNEY taz | Bei Razzien in mehreren Stadtteilen von Sydney sind am Wochenende mindestens vier verdächtige Männer festgenommen worden. Sondereinheiten der australischen Polizei und des Geheimdienstes Asio stürmten die Wohnungen von islamistischen Terrorverdächtigen. Die Behörden hätten „glaubhafte Informationen“ ausländischer Geheimdienste, wonach in Sydney eine Gruppe „islamistisch inspirierter“ Personen einen Anschlag planten, so der Chef der Bundespolizei, Andrew Colvin. Laut Premierminister Malcolm Turnbull wurden bei den Einsätzen Materialien sichergestellt, die zum Bau eines Sprengsatzes verwendet werden könnten. Die mutmaßlichen Täter hätten offenbar geplant, ein Passagierflugzeug mit einem „improvisierten Sprengsatz“ während des Fluges zu zerstören, so Colvin. Australien habe aber „einige der besten, wenn nicht die besten Flugsicherheitsmaßnahmen auf der Welt“. Bereits in der Nacht auf Samstag waren die Kontrollen an allen Flughäfen verstärkt worden. Australische Fernsehstationen zeigten Bilder von Verhafteten, die auf dem Weg zum Polizeifahrzeug erklärten, sie wüssten nicht, weshalb sie festgenommen werden. Bis Sonntagabend war keiner der Verhafteten angeklagt worden. Unter strikten Antiterrorgesetzen ist es der Polizei erlaubt, Bürger ohne Angabe von Gründen zwölf Stunden festzuhalten. Danach benötigt die Polizei die Zustimmung eines Spezialrichters. Laut Justizminister Michael Keenan haben Sicherheitsbehörden damit bereits 13 Verschwörungen aufgedeckt, seit Australien 2014 die Sicherheitsstufe erhöht hatte. In diesem Zeitraum seien in Australien fünf Menschen bei islamistisch motivierten Angriffen ums Leben gekommen. Kritiker meinten am Sonntag, die Razzien, die in der Anwesenheit von offenbar rechtzeitig alarmierten Journalisten und im Scheinwerferlicht von Fernsehkameras stattfanden, seien möglicherweise ein Ablenkungsmanöver der Regierung. Zuletzt hatte die Kritik an der Regierung zugenommen, das wachsende Gefälle zwischen Arm und Reich zu ignorieren. Auch befindet sich Premierminister Malcolm Turnbull persönlich unter zunehmendem Druck des ultrarechten Flügels der liberal-konservativen Regierungspartei.
Urs Wälterlin
Die Polizei verhindert mit mehreren Razzien angeblich einen Terroranschlag. Kritiker meinen, die Regierung will nur von sich ablenken.
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Rassismus in der „Festungsstadt“ - taz.de
Rassismus in der „Festungsstadt“ ■ In Saarlouis bedrohen faschistische Skinheads Asylwohnheime/ Seit 1987 hat es fünf Brandanschläge auf Asylbewerberheime gegeben/ SPD-Bürgermeister Alfred Fuß: „Eine richtige Szene gibt es hier nicht“ Saarlouis (taz) — Als Samuel Yeboah in der Nacht zum letzten Donnerstag mit einem Freund über den Saarlouiser Marktplatz ging, fiel den beiden Männern auf, daß sich knapp zwei Dutzend Skinheads am Brunnen zusammengerottet hatten. „Irgendwann werden die mich umbringen“, sagte Yeboah zu seinem Freund. Wenige Stunden später war er tot; verbrannt, nachdem „unbekannte Täter“ das Wohnheim, in dem der 27jährige Flüchtling aus Ghana mit 20 anderen aus Westafrika und Jugoslawien untergebracht war, niedergebrannt hatten. Die Bedrohung durch faschistischen Skinhead-Terror und spießbürgerlichen Rassismus ist für Flüchtlinge im Saarland tägliche Lebenserfahrung. „Es ist keine Seltenheit, wenn du während eines Abends in der Stadt zehnmal oder öfter angepöbelt wirst“, erzählen Flüchtlinge in Saarlouis. Schon im August hatte es einen Brandanschlag auf ein Asylwohnheim in Saarlouis gegeben. Und keine 24 Stunden nach dem tödlichen Anschlag brannte knapp zehn Kilometer entfernt wieder eine Asylbewerber-Unterkunft. Saarlouis nach dem Anschlag: In der „Festungsstadt“, so der stolz getragene Beiname, herrscht Alltag. Zwei Skinheads schlendern über den Marktplatz und recken einem offensichtlich „Linksverdächtigen“ grinsend die Hand mit zum Victory-Zeichen ausgespreizten Fingern entgegen. Einem schwarzen Flüchtling wird in der properen Fußgängerzone unverhohlen nachgegafft. Nirgends ein Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen. Am ausgebrannten Flüchtlingsheim wird neugierig vorbeispaziert. Die feindselige Stimmung ist mit Händen greifbar. „Ist doch gar nicht sicher, ob das ein Deutscher war“, nimmt ein Passant seine Landsleute in Schutz. In Saarlouis will man die eigene Fremdenfeindlichkeit nicht wahrhaben. Abwiegelei und Ignoranz sind angesagt. „Eine richtige Szene gibt es hier nicht“, meint SPD-Bürgermeister Alfred Fuß. Sicher, die vielen Asylbewerber würden „natürlich“ in der Bevölkerung nicht gern gesehen. Skinheads? Sicherlich, ein paar gebe es, aber ausländerfeindlich sei man ganz bestimmt nicht. Was Fuß nicht erzählt: Bei den letzten Kommunalwahlen erreichten die „Republikaner“ in Saarlouis mit über zehn Prozent der Stimmen ihr landesweit bestes Ergebnis, in Fraulautern, dem Stadtteil, wo das Asylwohnheim angezündet wurde, lagen sie noch darüber. Darüber spricht man in der Saarlouiser SPD nicht gern, war doch ein SPD-Mitglied über die Liste der Reps in den Stadtrat gekommen und hilft nun — offiziell fraktionslos — den Sozialdemokraten als Mehrheitsbeschaffer. Ebensowenig berichtet der Bürgermeister über das monatelange Gezerre um ein Wohnheim für Asylbewerber in der Innenstadt. Saarlouiser BürgerInnen waren sogar gegen das Heim vor Gericht gezogen. Kein Wort auch über die vorangegangenen Brandanschläge. Fünf Anschläge auf Flüchtlingsheime hat es im Saarland seit 1987 gegeben. Auch der Vorstandssprecher der saarländischen Grünen, Hubert Ulrich, weiß von einer rechten Szene nichts. Daß Skinheads „mal einen Penner im Park zusammengeschlagen haben“, ja, „aber das ist Ewigkeiten her“. Auch ein Verein für militärhistorische Fahrzeuge, dessen Mitglieder in Kampfkluft der Bundeswehr auftauchen und zu obskuren Militaria- Treffen oder einfach durch die Gegend fahren, sind ihm kein Indiz dafür. Genaues weiß man nicht über den Verein, das scheint bislang so recht niemanden interessiert zu haben. Daß Saarlouis in der rechtsradikalen Szene offenbar einen Ruf hat, hat der Pädagoge Joachim Selzer durch ein Dresdener Pärchen erfahren, das bei ihm auftauchte: In Dresden, erzählten sie, hätten sie zum Umfeld des aus den eigenen Reihen getöteten Obernazis Rainer Sonntag gehört und auch schon Anschläge verübt. In der Frankfurter Fascho- Szene sei ihnen dann das Saarland empfohlen worden. Da gebe es so viele Gleichgesinnte, die würden ihnen schon Arbeit verschaffen. „Wer behauptet, es gebe keine rechtsradikale Szene hier, macht einen schlechten Witz“, meint Selzer. Im städtischen Krankenhaus treffen Besucher auf eine andere alltägliche Spielart des Rassismus: „Sie wollen zu den Negern, die sitzen da hinten in der Ecke“, bescheidet die Pförtnerin knapp und weist den Weg zu den beim Brandanschlag verletzten Heimbewohnern. Auf die Idee, ihnen gegenüber Solidarität mit einem Besuch zu bekunden, ist bislang kein Offizieller in Saarlouis gekommen. Auch die Landesregierung glänzt durch Abwesenheit. Wut über diese Zustände dokumentierten 400 DemonstrantInnen. „Wir trauern um Samuel Yeboah, ermordet von Faschisten und alltäglichem Rassismus“, stand auf einem Transparent. Thomas Krumenacker
thomas krumenacker
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Eine neue Zeche ist keine große Liebe - taz.de
Eine neue Zeche ist keine große Liebe Selbst an den Bergwerksstandorten Hamm und Marl bröckelt die Kohlelobby. Die gewagten Ideen des RAG-Chefs Werner Müller, angesichts des hohen Kokspreises eine neue Zeche abzuteufen, stoßen nur auf wenig Gegenliebe HAMM taz ■ “Wir sollten keine Geisterdiskussion führen. Das, was Herr Müller da veranstaltet hat, ist schlicht unseriös.“ Wer das sagt, sollte sich eigentlich über jeden Krümel geförderte Kohle freuen: Thomas Hunsteger-Petermann (CDU) ist Oberbürgermeister von Hamm, seine Stadt ist einer der letzten deutschen Bergwerksstandorte für Steinkohle mit über 3.300 Bergarbeitern. Das bestehende Bergwerk Ost will Hunsteger-Petermann auch unbedingt erhalten. Auch die Erweiterung des Abbaus nach Norden ist für ihn kein Tabu. Doch eine neue Zeche, wie von RAG-Chef Werner Müller gewünscht? „Das müssten wir dem Bürger erklären können: Hier diskutieren wir darüber eine neue Zeche aufzumachen, während wir gleichzeitig Beschlüsse haben, andere Zechen zu schließen“, wundert sich der Lokalpolitiker. Hamms OB steht zum existierenden Bergwerk – doch der energiepolitische Kurs seiner Partei spricht eine andere Sprache: die Fördermenge soll bis 2010 auf die Hälfte des heutigen Niveaus reduziert werden. Das wäre hart für Hamm: „Ich gehöre in der CDU einer Minderheit an, trotzdem will ich meine Meinung gegenüber Jürgen Rüttgers offensiv vertreten.“ Mangelnde Akzeptanz der Pläne ist das Eine – doch für die RAG und ihre Tochter, die Deutsche Steinkohle AG (DSK), gibt es andere Probleme: Der Satz „was gut ist für den Bergbau, ist gut für die Stadt“ gilt nicht mehr. Die Anwohner stehen nicht mehr voll hinter dem Bergwerk: „Man muss die Ängste der Bürger ernst nehmen, wenn ein Gebiet fünf bis sieben Meter absinkt“, meint auch Hamms Stadtchef. Im östlichen Ruhrgebiet hat Werner Müller mit seinen Plänen kein leichtes Spiel. Anders sieht es im Norden aus. In Marl steht zum einen das Bergwerk Auguste Victoria/Blumenthal und zum anderen steht auch die mittlerweile parteilose Bürgermeisterin Uta Heinrich fest hinter den Plänen der RAG: „Wir können es uns nicht leisten, einen einzigen Standort zu schließen – die wackelige Haltung der CDU-Landespartei ist nicht sinnvoll.“ Wegen der gestiegenen Preise für Koks lohne sich auch der Bergbau in Deutschland wieder. Und geht es nach Marls Oberbürgermeisterin soll die geballte Macht der kommunalen Verbände der CDU an den Bergwerksstandorten gemeinsam mit der RAG imstande sein, die CDU zu beeinflussen. „Ich gehe davon aus, dass wir uns durchsetzen – die Leute in der CDU brauchen eben etwas Zeit, ihren Kurs zu ändern“, glaubt Heinrich – die wurde von der CDU allerdings längst ausgeschlossen. Schließlich würden noch andere Industriezweige wie die Stahlwerke von der gestiegenen Fördermenge profitieren. Doch selbst der Verband der Stahlindustrie hält nichts von der Idee einer neuen Zeche. Der Nachrichtenagentur Reuters sagte Vorsitzender Dieter Ameling schon mal ab: „Die Unternehmen können ihren Kohlebedarf auf dem Weltmarkt decken“. Eine neue Zeche sei deshalb überflüssig. Doch in die Industrie geht nur ein relativ kleiner Teil der Kohle. Das meiste wird verfeuert: 70 Prozent der deutschen Produktion wandern in die Kraftwerke. Und die sind hierzulande keine Wachstumsbranche, denn der Verbrauch ist nach einer Untersuchung der Technischen Universität Berlin inzwischen auf den Stand von 1990 gesunken. Doch die RAG hat ein noch viel größeres Problem. Auch in Zeiten nach dem Wahlkampf achten Politiker auf Kosten. Und ein Darlehen durch den Bund und das Land NRW zum Bau der neuen Zeche will niemand gewähren. HARALD SCHÖNFELDER
HARALD SCHÖNFELDER
Selbst an den Bergwerksstandorten Hamm und Marl bröckelt die Kohlelobby. Die gewagten Ideen des RAG-Chefs Werner Müller, angesichts des hohen Kokspreises eine neue Zeche abzuteufen, stoßen nur auf wenig Gegenliebe
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Was signalisiert die Sonnenblume? - taz.de
Was signalisiert die Sonnenblume? ■ Wie kommt Berlin zu neuen Mehrheiten? / War am Wahldebakel der Ostgrünen die unpopuläre Aufarbeitung schuld oder der von Westlern geplante Wahlkampf? / Fehlt den Grünen Radikalität oder "positive... Das enttäuschende Ergebnis der Bundestagswahl für das Bündnis 90 in Ostdeutschland und in Ostberlin hat zu heftiger Kritik an den Ostgrünen geführt. Aufgeschreckt sind auch die Grünen in Berlin: eine Ablösung der Großen Koalition durch ein rot-grünes Reformbündnis bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in einem Jahr ist bei den gegenwärtigen Ergebnissen von Bündnis 90 in Ostberlin unrealistisch. Über Ursachen und Aufgaben diskutieren Renate Künast (West), Mitglied des Abgeordnetenhauses, Uwe Lehmann (Ost), Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90, und Erhard Müller (gelernter Ostler), Mitglied des Sprecherrats der Bürgerbewegung. Die Debatte wird fortgesetzt. taz: Was ist falsch gelaufen? Künast: Wieso eigentlich soviel Frust? In Bonn zumindest sind wir drittstärkste Partei geworden. Wir haben aber den Fehler gemacht, daß wir uns Deutschland geographisch aufgeteilt haben: Die Westgrünen machen Westpolitik und die Bündnis-90-Leute orientieren sich zu den neuen Bundesländern. So haben wir Westthemen versehen mit einer Ostprominenz, die den Schwerpunkt auf das Aufarbeiten legte. Da haben auch die Westler versagt, weil wir es nicht geschafft haben, uns schon sehr viel früher darüber zu streiten und gemeinsam andere Schwerpunkte zu setzen. Wir haben den Leuten die persönliche Aufarbeitung gelassen, haben uns nicht gestritten, sondern Kritik unter den Teppich gekehrt. taz: Lehmann und Müller kritisieren, das Bündnis 90 konnte im Osten gar keine originäre Stimme sein, weil es zu west-dominiert ist. Künast: Die Inhalte von Gerd Poppe, von Wolfgang Templin und Marianne Birthler, die hat doch keiner aus dem Westen bestimmt. Womit sich Marianne Birthler in Brandenburg präsentiert hat als Bildungsministerin, das war am Ende das Thema Aufarbeitung. Lehmann: Das ist eine falsche Wahrnehmung. Man kann nicht sagen, wir haben die Vergangenheitsbewältigung in den Vordergrund gestellt. Aber dieses Thema ist wichtig und hat einen durch und durch politischen Anspruch, nämlich daß Politik auch etwas mit Moral zu tun hat. Offenbar gibt es in dieser Frage keinen ost-west-übergreifenden Konsens mehr. Deshalb haut es in unserer Partei nicht hin, wenn die falschen Leute einen moralischen Anspruch haben und der sich dann auch noch mit Leuten aus der CDU deckt. Ich lasse mir aber nicht schon wieder einreden, daß mein „Klassenstandpunkt“ nicht gefestigt ist, und ich lasse mich nicht ständig in diese Lagermentalität einbauen. Natürlich will uns dort die CDU auch funktionalisieren, aber es gibt parteiübergreifend eben auch gleiche Einschätzungen über das Wesen der DDR-Gesellschaft. Und es gibt bei uns eben Leute, die das alles nicht so sehen und eine andere Erinnerung haben. Solange dies so ist, wird es darüber Streit geben. Außerdem: Wenn man in Brandenburg Wahlkampf gemacht hat und der Name Marianne Birthler fiel, dann fiel der nicht wegen Stolpe und Aufarbeitung, sondern dann wurde ihre Bildungspolitik hinterfragt, so wie in Mecklenburg-Vorpommern die Verkehrspolitk mit dem Autobahnbau und in Sachsen unsere Position zum Polizeigesetz. taz: Das sind doch alles hausgemachte Probleme, kein Ergebnis von Westdominanz. Müller: Das war ein wesentlich im Westen konzipierter Wahlkampf, der im Osten realisiert wurde. Nehmen wir allein die Wahlplakate: Die Sonnenblume signalisiert so etwas wie sommerfrisches Lebensgefühl, und dieses Lebensgefühl ist nicht das, was die Gesamtsituation in der Ex-DDR prägt. Das meinen wir, wenn wir sagen, die Leute sind zuwenig dort abgeholt worden, wo sie sind, und es ist zuwenig betont worden, daß es um Aufbau Ost geht und nicht um Nachbau West. Künast: Das ist doch Quatsch. Marianne Birthler ist noch Sprecherin des Bundesvorstands, die Bundestagsgruppe hat die letzten vier Jahre nur aus Bündnis-90- Leuten bestanden. Ich fand den Wahlkampf in seinen Herbstlaubfarben auch komisch. Einflußmöglichkeiten aber gab es. Für mich ist viel wichtiger: was heißt es, Leute dort abzuholen, wo sie sind? Für mich ist Aufarbeitung sehr wichtig, und das habe ich im Parlament intensiv betrieben. Aber ich weiß, daß man mit keinem Menschen Politik machen oder irgend etwas gestalten kann, wenn der die ganze Zeit das Gefühl hat, du würdest seine Lebensleistung nicht akzeptieren. Unseren Zielgruppen, den Mitgliedern des akademischen Mittelstands oder Frauen, die mit der Verschlechterung ihrer Situation konfrontiert sind, kannst du nicht anbieten, vergiß zehn, zwanzig Jahre deines Lebens, war alles Schrott. Wenn wir den Leuten nur vermitteln, du sollst aufarbeiten und immer sagen, du warst da schlecht und da warst du feige, dann würde ich da auch nicht hingehen. Das ist der Punkt, den wir verpaßt haben. Wir verschnarchen mit Blick nach gestern die heutige Politikgestaltung. Lehmann: Es ist richtig, daß auch Ostler am Wahlkampf-Konzept beteiligt waren. Wenn ein paar Ostler ständig nach Bonn fliegen, heißt das aber noch lange nicht, daß sie dort Einfluß haben. Ein Fehler war sicher, daß wir einen Wahlkampf durchgezogen haben, der für ganz Deutschland konzipiert war, für den Osten und den Westen. Ich habe an Wahlständen und Kneipentischen fast nie gehört „Ihr mit eurem Stolpe“, sondern immer nur gehört: „Wat, Ihr wollt fünf Mark für das Benzin haben?“. Das war absurd. In Hamburg und Frankfurt/Main, wo viele wohlhabende Leute wohnen, wo das grüne Milieu intakt ist, da wirkt so etwas völlig anders als in Leipzig oder Erfurt. Künast: Die PDS hat es einfacher als wir. Sie schauen immer, wo ist im Osten die Wut der Menschen, der Ärger, der Frust, und das formulieren sie. Wir haben das Problem, das wir zwei verschiedene Republiken darstellen müssen. Wer im Kapitalismus im Westen groß geworden ist und in relativem Wohlstand war, hat an Ökologie gedacht. Diese breite Schicht gibt es in den neuen Bundesländern eben gar nicht. Das haben wir zu spät formuliert. Lehmann: Wenn die CDU und die PDS die einzigen Parteien sind, die im Osten auf ein gewachsenes Milieu bauen können, dann muß doch mein Hauptproblem sein, wo krieg' ich das her? Wie sieht ein Wahlkampf aus, wie sieht die Zeit zwischen den Wahlkämpfen aus, wie sehen die Themen aus, wie müssen die Menschen aussehen, die auf andere Menschen zugehen, um dieses Milieu herzustellen? Und da zweifle ich, daß wir in den nächsten zehn Jahren dasselbe Milieu herstellen können, wie es in den Großstadträumen des Westens für die Grünen da ist. Eine Ursache für den falschen Wahlkampf war, daß in einem Gutachten des Bundesvorstands stand, es gibt die selbe Wählerklientel für Bündnis 90 im Osten und im Westen. Das stimmt offenbar nicht. taz: Woher kommt es, daß in Prenzlauer Berg zwölf Prozent erreicht wurden und in anderen Ost- Bezirken nur fünf Prozent? Ist das ein anderes Milieu, oder wird dort anders Politik gemacht? Künast: Wir haben – sowohl in den Berliner Ostbezirken als auch in den neuen Ländern – ein Stück Bündnispolitik vergessen. Die Zusammenarbeit mit Gruppen ist an vielen Orten vernachlässigt worden. In Prenzlauer Berg hat sich das Bündnis 90 dagegen weitaus offener gezeigt. Alle Initiativen, die dasselbe wollten, rückten zusammen. Woanders aber haben wir uns abgeschlossen. Müller: Im Unterschied zu anderen Ostbezirken gibt es in Prenzlauer Berg seit langem ein gewachsenes alternatives Milieu. Ich bin im Zweifel, ob das auf ganz Ostberlin übertragbar ist. Im übrigen gab und gibt es im Osten etliche kommunale Bündnisse, mit Bauernverband, unabhängigem Frauenverband, Bürgerbündnis oder dem Neuen Forum. taz: Die PDS geht in Basisinitiativen. Müßten Sie nicht dasselbe tun und auch Berührungsängste gegenüber der PDS abbauen? Müller: Eine Zusammenarbeit in Sachfragen gibt es doch längst – ebenso wie mit der CDU. Die PDS spricht die Menschen bei ihren realen Benachteiligungen an und baut daraus eine Ost-West-Konfrontation auf. Dieser Ostnationalismus kommt natürlich gut. Was eine parlamentarische Zusammenarbeit mit der PDS angeht, müssen wir fragen, ob Koalitionen oder Listenverbindungen mit der PDS nützen oder schaden. Ich meine, es wird uns extrem schaden. Lehmann: Für mich ist die PDS eine ostdeutsche Volkspartei. Daß in fast allen Parlamenten nur noch drei Volksparteien sitzen, kommt auch durch die Gewöhnung an den vormundschaftlichen Staat, der in gewisser Hinsicht eben bequem und sicher war. Für mich ist die PDS aber zunächst einmal das Hauptproblem der SPD. Künast: Ich teile diese Einschätzung nicht. Wir haben Überschneidungen unserer Wählerklientel mit der der PDS. Da bin ich ganz egoistisch: Diese drei bis vier Prozent will ich gerne haben. Ich halte es für falsch, immer wieder über die PDS zu diskutieren. Die von der PDS-Spitze angekündigten Veränderungen erwarte ich mit Interesse. Wenn dann am Ende irgenwelche Tolerierungsfragen stehen werden – schön. Aber die Frage, wie ich die PDS spalten kann, interessiert mich nicht. Lehmann: Da sind wir gar nicht so weit auseinander. Ich habe aber – gerade in Berlin – den Eindruck, daß es bei einem Teil der Partei im Verhältnis zur PDS um das Eifersuchtsdrama geht, wer die wirklichen Linken im Lande sind. Die PDS ist aber keine linke Partei. Wenn sie das wirklich wäre, hätte sie nicht so viele Stimmen bekommen. taz: Viele Grün-Wähler haben mit der Erststimme PDS gewählt... Lehmann: ...insofern ist es in Berlin zu einer Verfremdung des eigentlichen Wahlergebnisses gekommen. Hier hat es die Polarisierung gegeben: Nur mit der Erststimme konnte man bestimmte Leute und die PDS in den Bundestag hineinbringen. taz: Kann es da nicht auch inhaltliche Übereinstimmungen geben? Als links gilt gemeinhin die außerparlamentarische Arbeit und ein systemkritischer Ansatz. Künast: Schon beim Slogan unseres Bundestagswahlplakats „Ein Land reformieren“ kommt doch keine Begeisterung auf. Das klingt wie: „Daran herumdoktern“. Mich erinnert das auch an moderate Herbstfarben, Schaukelstuhl und eine Tasse Darjeeling. Die PDS hingegen verbalisiert die Emotionalität, die Wut, den Ärger, die Kritik. Damit kann man Helmut Kohl ärgern, damit hat man jemanden im Parlament, der immer wieder die Grundsatzfrage stellt. Das haben die Westgrünen früher gekonnt. Mir ist daher der Begriff der „Reform“ zuwenig. Ich will nicht nur Regierung im Wartestand sein. Wir müssen uns unsere alte Radikalität zurückerobern. Wir müssen deutlich machen, daß wir – im Gegensatz zur PDS – nicht nur die Grundsatzfrage stellen, sondern auch reale Umsetzungsmöglichkeiten anbieten. Freude und Begeisterung für Wahlen kommt nur auf, wenn ich den Wählern sage: Ich habe noch einen Traum von einer Republik, die anders aussieht. Müller: Was die Form betrifft, kann man sagen: Von der PDS lernen, heißt siegen lernen. Das Letzte wäre es aber, wenn wir nur unsere alte Radikalität „zurückerobern“ wollten. Darunter verstehe ich den Rückfall in die alten weltanschaulichen Sozialismus-Debatten und die systemoppositionelle Phrase. Wir müssen eine neue Art der konstruktiven Radikalität der Verantwortung entwickeln und nicht eine der dogmatischen Systemverweigerung. Künast: Ich habe nicht die dogmatische Einsortierung gemeint. Ich will nur betonen, daß wir wieder grundsätzliche Fragen aufwerfen und nicht nur auf Zwischenschritte setzen dürfen. taz: Wollen Sie im Osten den ökologischen Umbau hintenanstellen und sich auf ein moderates Wachstum konzentrieren? Müller: Das ist doch kein Gegensatz. Wir können den Aufbau Ost nicht mit dem Abbau einer überzogenen Weststruktur gleichsetzen. Das heißt: Natürlich müssen wir die Mittelstandsentwicklung im Osten positiv begleiten, um im ökologischen Sinne darauf Einfluß zu nehmen. Künast: Du kannst nicht Ökologie zwischendurch streichen und dann nach zehn Jahren wieder ins Programm hineinschreiben... Lehmann: Offenbar ist das traditionelle Konzept von CDU und SPD für die Ostwähler einprägsamer. So stimmen, trotz aller Vereinigungsprobleme, über die Hälfte der Arbeiter für die CDU. Künast: Wir können aber nicht die Arbeiter, die CDU oder PDS wählen, für uns gewinnen. Diesem kleinbürgerlichen Mittelstand brauchen wir uns nicht anbiedern. Wir werden unsere Stärke nicht unter den Handwerksmeistern, sondern in der Intelligenz, in der Frauenpolitik, in jenen Bereichen der Jugend, die für ökologische Themen sensibilisiert sind, finden. Müller: Ich bin dagegen, einen Kriterienkatalog aufzustellen, der festlegt, an welchen Schichten wir weniger oder mehr Interesse haben sollten. Wenn wir nicht selbst die Wirtschaftsentwicklung im Osten mit unseren Konzepten politisch positiv begleiten, sorgen wir dafür, daß unsere Basis uns auf Dauer entzogen bleibt. Lehmann: Ich bin der Überzeugung, wenn im Osten nichts eigenes wächst, dann wird es immer eine Westdominanz geben. Und da wächst nichts. Im Gegenteil. Ich beobachte in den letzten Wochen, daß die Resignation und die Fluktuation immer größer werden. Bevor wir an die Wählermotivierung denken, müssen überhaupt erst einmal die motiviert werden, die noch da sind und die 1995 Wahlkampf machen und Mandate übernehmen müssen. Und wenn in den nächsten Wochen nicht aktive Basispflege erfolgt, dann wird aus Resignation bald Fluktuation. Mir scheint, daß der Berliner Landesvorstand dafür kein Konzept hat. taz: Müssen sich die Westgrünen im Ostteil mehr einmischen? Künast: Wir müssen uns einmischen, aber nicht aus der luxurierenden Position, daß wir besser Bescheid wissen. Wir dürfen diese Trennung nicht zulassen, daß die einen das besser wissen und die anderen dafür zuständig sind. Wer Jugendpolitik macht, muß sie für Ost und West machen. Das gilt unabhängig davon, ob die Person gelernter Ossi oder Wessi ist. taz: Schluß mit der Politik der geographischen Trennung? Lehmann: Das Problem ist, daß sich die geographische Trennung nicht aufhebt, sondern sich sogar vergrößert. Warum kommen die Delegierten aus Köpenick weniger zum Landesausschuß als die Spandauer? Warum gehen Ostberliner Mitglieder kaum zu den inhaltlich arbeitenden Bereichssitzungen? Warum sind die Ostler im Landesvorstand nicht so wirksam? Da hat offenbar nie jemand nachgefragt. Das aufzuheben reicht eine Wahlkampftour durch die Bezirke nicht. Das Gespräch führten Severin Weiland und Gerd Nowakowski
weiland / nowakowski
■ Wie kommt Berlin zu neuen Mehrheiten? / War am Wahldebakel der Ostgrünen die unpopuläre Aufarbeitung schuld oder der von Westlern geplante Wahlkampf? / Fehlt den Grünen Radikalität oder "positive...
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Zukunft der Linkspartei: Das Charisma-Problem - taz.de
Zukunft der Linkspartei: Das Charisma-Problem Brauchen wir die Linkspartei? Und wenn ja, wie viele? Eine Wagenknecht-Partei wäre für die Bundesrepublik jedenfalls etwas revolutionär Neues. Der Kitt ist weg: Amira Mohamed Ali, Martin Schirdewan, Janine Wissler und Dietmar Bartsch Foto: Heiko Rebsch/dpa/picture alliance Die Spaltung der Linkspartei ist noch nicht vollzogen, aber absehbar. Entweder wird sich der Wagenknecht-Flügel aus der Partei unter Absingen schmutziger Lieder ins Private verabschieden – oder er wird ein neues Projekt starten. Dieser Zerfall vollzieht sich qualvoll lange. Die Unfähigkeit, die Trennung zu realisieren, ist das Ergebnis einer für die Linkspartei typischen Scheu, Konflikte offen auszutragen und eines von Dietmar Bartsch verkörperten Organisationspatriotismus: Hauptsache, der Apparat bleibt intakt. Dieser Kitt ist mürbe geworden. Zwei Fragen: Was wäre das Neue an der Wagenknecht-Partei? Und was bleibt übrig, wenn Wagenknecht, Klaus Ernst und Sevim Dağdelen gehen? Die Linkspartei von Janine Wissler und Martin Schirdewan wird dann stark auf junge, urbane, aktive Milieus setzen. Die Nominierung der Klima- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete für die Europawahl ist eine Art Wegweiser. Auf den ersten Blick ist das ein Rückgriff auf die Geschichte der PDS, die in den 90er Jahren Unabhängige wie Stefan Heym in den Bundestag schickte. Allerdings war dies eine Rehabilitierung von SED-Dissidenten, die eng mit kommunistischer Parteigeschichte verbunden waren. Viele ungelöste Probleme Die Kür von Rackete ist eher der Versuch, der kriselnden Partei mit einer Frischzellenkur aus parteifernen sozialen Bewegungen wieder auf die Beine zu helfen. Wenn Parteien ihre Hoffnungen auf soziale Bewegungen setzen, ist das oft ein Missverständnis. Bewegungen, so Ulrich Beck, kommen und gehen – vor allem gehen sie. Die Klima- und die Refugee-welcome-Bewegung sind derzeit in der Krise. Die Hoffnung, ausgerechnet aus diesen Bewegungen einen vitalen Schub zu bekommen, ähnelt dem Griff nach dem Strohhalm. Und selbst wenn die Linkspartei aktivistische Milieus in ausreichendem Maß an sich binden kann, bleibt ein ungelöstes Problem. Denn Wagenknecht ist nicht der Grund für den Riss in der Partei – sondern nur dessen dröhnend lauter Verstärkerin. Die Streitfrage lautet: Vertritt die Linke den Rentner in der Provinz mit Ölheizung und Diesel – oder woke Akademiker? Dieser Konflikt hat, lädt man ihn zur Identitätsfrage auf, etwas Toxisches. Die Linke (nicht nur die Partei) hat zudem ein intimes Verhältnis zu Wahrheit und Moral. Beides ist, anders als bei Liberalen oder Konservativen, ein hart umkämpftes Gut. Weil es bei Moral schnell um fast alles geht, sind Linke oft unfähig, die zerstörerische Eskalationsdynamik solcher Kämpfe abzukühlen und zu entgiften. Kurzum: Ob die Linkspartei ohne Wagenknecht über das Personal und das Handwerkszeug verfügt, Rackete & Co zu gewinnen, ohne traditionell eingestellte ältere GenossInnen zu verlieren, ist zweifelhaft. Die Linkspartei kann auf von der Ampel enttäuschte WählerInnen hoffen, denen die Klima- und Sozialpolitik zu unentschlossen ist. Aber auch das wird nur gelingen, wenn sie rational und geschlossen auftritt. Das ist offen. Und die Wagenknecht-Partei? Es gibt berechtigte Zweifel, ob dieses Kind je laufen können wird. Es fehlen die politischen Profis, die jede Partei braucht. Die Gefahr, Magnet für Profilneurotiker jeder Couleur zu werden, ist groß. Zwar könnte eine autoritäre Top-down-Organisation diesen Zustrom verhindern. Aber Ansagen von oben würden die basisdemokratischen Beteiligungsbedürfnisse jener „Misstrauensgemeinschaft“ (Sven Reichardt) von Querdenkern, Altlinken und Coronaskeptikern frustrieren, die die Partei für sich gewinnen müsste. Eine Partei für Unzufriedene Die Wagenknecht-Partei würde auf Unzufriedene spekulieren, die keine Rassisten sind. Sie wäre eine populistische Partei, deren Kern die Bewirtschaftung der Wut gegen Regierung und (grüne) Eliten wäre. Eine Partei, die kulturell rechts, sozialpolitisch links auftritt, könnte – jedenfalls auf dem Reißbrett – eine Repräsentationslücke füllen. Abwegig ist das nicht. Es gab auch in der SPD mit Blick auf die dänische Sozialdemokratie Überlegungen, einen solchen Kurs einzuschlagen – allerdings ohne populistische Affekte. Für die Bundesrepublik wäre die Wagenknecht-Partei etwas revolutionär Neues: nämlich eine Organisation, die vollkommen auf eine charismatische Figur an der Spitze fokussiert ist. Man kennt solche schillernden, abgründigen, hypertrophen Figuren aus dem internationalen Rechtspopulismus. Silvio Berlusconi, Donald Trump, Jörg Haider und Sebastian Kurz verkörperten diese charismatische Herrschaft, die sich um Verfahren, Justiz und Parteiapparate nicht scherte und völlig auf sie zugeschnitten war. Zur politischen Kultur der Bundesrepublik gehört indes ein tiefes Misstrauen gegenüber Charisma. Man vertraut lieber Pragmatikern, die emotionsarm Sachfragen darlegen. Das verbindet das großväterliche Besänftigende von Adenauer mit dem kühl Technokratischen von Helmut Schmidt, das Provinzielle von Helmut Kohl mit der Leidenschaftsferne von Angela Merkel. Der einzige Kanzler mit einem gewissen, demokratisch gründlich entschärften Charisma war Willy Brandt. Diese Charisma-Skepsis ist das Pendant zu der ebenfalls typisch bundesdeutschen Fixierung auf die Mitte, die Schutz vor Unheil verspricht. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, in beidem einen Reflex auf 1933 und Hitler zu erkennen. Beides ist ein bis in die politische Verästelung eingesickerter Lernprozess. Es ist auch kein Zufall, dass an der Spitze der AfD ein sächsischer Malermeister und eine lesbische Neoliberale stehen, mithin charismaarme Figuren. Auch die AfD traut sich bis jetzt nicht, ihren einzigen Charismatiker, Björn Höcke, an die Spitze zu stellen. Eine erfolgreiche Wagenknecht-Partei würde wohl der AfD Konkurrenz machen. Vor allem aber wäre sie eine Erschütterung des hiesigen Parteiensystems, das noch immer um die beiden Volksparteien SPD und Union zentriert ist. Es wäre das Zeichen, dass die typisch bundesdeutsche mittige Stabilität verschwindet und von einer europäischen Normalisierung verdrängt wird.
Stefan Reinecke
Brauchen wir die Linkspartei? Und wenn ja, wie viele? Eine Wagenknecht-Partei wäre für die Bundesrepublik jedenfalls etwas revolutionär Neues.
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Empörung über deutsche Leugnung des Genozids - taz.de
Empörung über deutsche Leugnung des Genozids Namibias Herero kritisieren Bundestagsbeschluss zum 100. Jahrestag des deutschen Völkermords. Oberhäuptling Riruako warnt vor neuer Feindseligkeit. Namibias Außenministerium verweigert jede Stellungnahme WINDHOEK taz ■ Auf heftige Ablehnung ist in Namibia die Bundestagsresolution vom 17. Juni zum Kolonialkrieg im damaligen Deutsch-Südwestafrika gestoßen, in der weder von Völkermord noch von Schuld gesprochen wird. Der Oberhäuptling der Herero, Kuaima Riruako, erklärte gestern gegenüber der taz, er könne sich nicht damit einverstanden erklären, dass der Vernichtungsbefehl General Lothar von Trothas und der Völkermord in der Bundestagsresolution übergangen würden. „Das schafft neue Feindseligkeit,“ warnte Riruako. Deutschland könne nicht ignorieren, dass „keine andere Kolonialmacht so etwas in Afrika getan hat“. Man müsse durch Dialog zu einer Lösung kommen, die den Menschen etwas Greifbares biete, sagte der Häuptling. Namibias größte Oppositionspartei, der „Congress of Democrats“ (CoD) beklagte die „zynische Art, in der die deutsche Regierung sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen versucht“. Als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs täte die Bundesrepublik gut daran, „die Schuld für den Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1907 voll anzuerkennen“, erklärte Parteiführer Ben Ulenga. Die deutsche Regierung sollte mit allen namibischen Einrichtungen und Instanzen einschließlich politischer Parteien und Gemeinschaften zusammenarbeiten, „um Versöhnung und die Wiederherstellung der Würde unter Namibiern zu gewährleisten“. Schockiert zeigte sich auch die „Demokratische Turnhallen-Allianz“, Namibias zweitgrößte Oppositionspartei. Ihr Vorstandsmitglied Rudolph Kamburona meinte, wenn die deutschen Konzentrationslager im damaligen Deutsch-Südwestafrika heruntergespielt würden, lasse das vermuten, „dass wir es mit gedankenlosen Menschen zu tun haben“. Aber die Herero würden sich, auch wenn das deutsche Parlament den Vernichtungsbefehl gegen die hererosprachige Bevölkerung herunterzuspielen versuche, nicht zum Schweigen bringen lassen. „Alle Hererogruppen werden sich weiterhin einsetzen und Wiedergutmachung fordern, um die Hererokultur wieder aufzubauen und neu zu beleben“, sagte Kamburona. Er appellierte an „friedliebende Deutsche“, auf ihre Regierung einzuwirken, die Frage der Wiedergutmachung „in reifer und ordentlicher Weise mit allen Hererogruppen“ zu behandeln. Das namibische Außenministerium verweigerte dagegen trotz einer Anfrage der taz jeden Kommentar zur Bundestagserklärung. In Berlin forderten gestern die Gesellschaft für bedrohte Völker und der Global Afrikan Congress mit einer Mahnwache vor der Neuen Wache, dass dort in der „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland“ auch des Völkermords an den 75.000 Herero und Nama gedacht werden sollte. Deutschland solle die Kolonialverbrechen nicht länger tabuisieren und mit einer Gedenktafel an die Opfer des Genozids erinnern. Die Organisationen forderten Außenminister Joschka Fischer auf, sich nach dem Scheitern ihrer Schadenersatzklagen bei den Herero offiziell zu entschuldigen. ROLF-HENNING HINTZE
ROLF-HENNING HINTZE
Namibias Herero kritisieren Bundestagsbeschluss zum 100. Jahrestag des deutschen Völkermords. Oberhäuptling Riruako warnt vor neuer Feindseligkeit. Namibias Außenministerium verweigert jede Stellungnahme
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Ein Fundus für alle - taz.de
Ein Fundus für alle Platz für Exponate und Bibliothek: Um- und Ausbau des Hamburger Schulmuseums  ■ Von Christine Andersen Ein Fundus, das ist ein Chaos von Sammler- oder Ausstattungsstücken, die unbemerkt und unzugänglich ihr angestaubtes Dasein fristen. Doch es geht auch anders: „Ein für die Öffentlichkeit begehbarer Fundus ist sicher einmalig in der deutschen Museumslandschaft“, erzählt der Leiter des Hamburger Schulmuseums, Professor Reiner Lehberger. Das „häßliche Loch“, in dem das Museum aus Platznot viele seiner Exponate stapeln mußte, wurde in drei Jahren vom ABM-Bauunternehmen Arbeit und Lernen Hamburg umgebaut. Gestern war Eröffnung. Neu ist auch der überdachte lichte Gang, über den man nun von den fünf Jahre alten Museumsräumen in der Rudolf-Ross-Schule in den frischausgebauten Fundus-Dachboden im Nachbarhaus spazieren kann. An den weißen Wänden präsentieren Vitrinen Schulhistorisches. Ausgestopfte Füchse und Hasen glotzen gläsern, eine menschliche Ontogenese aus buntem Plastik verbindet sich mit Rinderknochen und in Alkohol eingelegten Kuhaugen zur skurrilen Symbiose. Ein Glaskasten zeigt technisches Gerät längst verdrängter Physikstunden; gegenüber hölzerne Geodreiecke und alte Rechenmaschinen – vor der Koedukation wurden diese fast ausschließlich von Knaben benutzt. Gegenüber zeugen Häkeleien und Stickwerk vom „weiblichen Unterricht“. Ein Großteil der Exponate stammt aus Schulauflösungen in Hamburg, auch Privatleute spendeten eifrig. Während im „alten“ Teil ein Schulzimmer aus der Kaiserzeit eingerichtet wurde, ist auf dem Dachboden der Schulalltag während der Nazi-Zeit nachgebildet: Rassenkunde- und Wehrsport-Karten an der Wand, ohne die kleinste Kritzelei die Pulte. Und auch die Bibliothek hat hier endlich Platz gefunden. Rund 6000 Bücher zur Schulgeschichte – vergilbt zwar, aber auf neuen Regalen. Das Schulmuseum ist über einen Durchgang in der Poolstraße 10 zu erreichen und dienstags bis donnerstags von 9 bis 16 Uhr geöffnet; Tel.: 35 29 46
Christine Andersen
Platz für Exponate und Bibliothek: Um- und Ausbau des Hamburger Schulmuseums  ■ Von Christine Andersen
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Die Wahrheit: Ich Flugzeugentführer - taz.de
Die Wahrheit: Ich Flugzeugentführer Beim Sicherheitscheck am Flughafen fiel mir plötzlich das Messer in meiner Tasche ein. Und da waren auch noch die Mitbringsel aus dem Urlaub … Neuerdings fliegt Ryan Air vom Frankfurter Flughafen himself und nicht mehr von der 114 Kilometer entfernten Provinzpiste „Frankfurt-Hahn“. Allerdings sind der irischen Billigfluglinie in Frankfurt spukhafte ­Gates zugewiesen, so gut versteckt, wie das fiktive Gleis für den Zug nach Hogwarts auf dem Londoner Bahnhof King’s Cross. Wird der Flug aufgerufen, geht’s zunächst durch ein Labyrinth aus Putzräumen und Hintertreppen zu einem Bus. Der irrt dann auf der Suche nach der entlegen geparkten Maschine so lange über das Flugfeld, dass er ebenso gut nach Frankfurt-Hahn fahren könnte. Aber man will sich ja nicht beschweren. Sowieso ist das Gewicht entscheidend. Der Koffer darf offiziell nur 20 Kilo auf die Waage bringen. Dieser Umstand, verbunden mit meiner Schusseligkeit, machte mir unlängst die Rückreise beschwerlich. Und das, obwohl ich zuvor noch ausgiebig im Internet zum Thema „Sicherheit an Bord“ recherchiert hatte. Als Mitbringsel waren in der Provinz Valencia allerlei regionale Leckereien eingekauft worden. Honig von spanischen Bienen, Olivenpaste, iberische Seife mit dem Aroma sonnengereifter Orangen. Zur Vermeidung von Übergewicht packte ich den Krempel kurzerhand ins Handgepäck, hehe. Erst am Laufband an der Sicherheitskontrolle des Flughafens von Alicante, als ich der transparenten Tüte bei ihrer gemächlichen Fahrt in diesen ominösen Röntgenkasten nachschaute, kamen mir gewisse Zweifel. Da wirkten Honig, Paste und Seife auf einmal wie Plastiksprengstoff. Und siedend – wirklich: siedend – heiß erinnerte ich mich an das Opinel in meiner Hosentasche. Nicht auszuschließen, dass ein auf Skepsis trainiertes Personal in einer zwölf Zentimeter langen Klinge aus schärfstem Kohlenstoffstahl so etwas wie eine Waffe sehen könnte. Also Karten auf den Tisch, ich hatte nichts zu verbergen. Verstohlen und bereits leicht errötend legte ich das Messer oben auf meinen Kleiderstapel. Da waren der Röntgenfrau bereits Honig, Paste und Seife aufgefallen, ihr Kollege packte den Kram aus und zitierte mich herbei. „Miel!“, radebrechte ich hilflos, „jabón!“, während die Beamten abwechselnd den potenziellen Plastiksprengstoff und den potenziellen Attentäter – mich – beäugten. Verzweifelt schraubt ich das Glas auf und schleckte Honig vom Finger: „Hmmm!“, aber die Sicherheitsleute ließen sich nicht erweichen. Während noch die teuren Spezialitäten mit dumpfem Plumps in die Tonne wanderten, tauchte mein Laptop auf. Bitte öffnen und hochfahren. Ich öffnete und fuhr hoch. Unter den Augen von inzwischen drei Gorillas tauchte die von mir zuletzt besuchte BBC-Seite auf: „Who, what, why? How are cockpit doors locked?“ Ich versuchte noch ein Lächeln. In diesem Augenblick tauchte auf dem Röntgenschirm das Messer auf. Meine Zelle ist klein, aber durch die Stäbe kann ich das Mittelmeer sehen. Die Mithäftlinge sind freundlich zu mir, behandeln mich mit Respekt. Später besucht mich mein Anwalt. Hoffentlich wird er diese Zeilen rausschmuggeln können. Die Wahrheit auf taz.de
Arno Frank
Beim Sicherheitscheck am Flughafen fiel mir plötzlich das Messer in meiner Tasche ein. Und da waren auch noch die Mitbringsel aus dem Urlaub …
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■ Interview mit Azmi Bishara zur Lage in Nahost: „Ich sehe Arafat nicht in Jerusalem“ - taz.de
■ Interview mit Azmi Bishara zur Lage in Nahost: „Ich sehe Arafat nicht in Jerusalem“ taz: Sie gehören zu den Nachfahren der Palästinenser, die 1948 nicht flüchteten. Welches Verhältnis hat die israelische Gesellschaft heute zu den Palästinensern? Azmi Bishara: Die israelische Gesellschaft ist meiner Meinung nach bereit, aus den besetzten Gebieten rauszugehen. Aber die Eliten entscheiden, in Israel wie überall sonst. Und wenn die wirtschaftliche, die militärische und die politische Elite deckungsgleich sind, dann ist es schlimmer. Bei ihnen gibt es keine Bereitschaft zu territorialen Konzessionen – außer mit Syrien. Weil sie Syrien für eine Bedrohung halten, nicht aber die Palästinenser. Aber in der israelischen Gesellschaft ist eine psychische Lage entstanden, die den Rückzug möglich machen würde. Die Leute sind müde, besonders seit dem Golfkrieg. Die beste „Sicherheitsgrenze“ ist der Frieden. Das wissen die Leute. Aber solange sie die Besatzung von West Bank und Gaza-Streifen nichts kostet, gehen sie trotzdem nicht für den Frieden auf die Straße. Und sie werden böse, wirklich böse mit uns, wenn ein Soldat stirbt. Dann werden die Araber in den Straßen geschlagen. Sie wollen zwei Millionen Leute unter Besatzung halten, aber kein Soldat soll sterben. Im Nahen Osten ist eine neue Situation entstanden. Es gab Krach zwischen den Sprechern der Palästinenser in den besetzten Gebieten und der PLO-Führung in Tunis, die jetzt sehr moderat auftritt. Womöglich will die israelische Regierung neuerdings doch direkt mit der PLO verhandeln. Die Quelle dieser ganzen Verwicklung ist ein Defekt in der Struktur der Nahostverhandlungen. Die Palästinenser sind die einzige Seite, die nicht entscheiden durfte, wie sie vertreten wird. Für sie wurde entschieden. Es gab keine Großmacht, die in der Frage der Zusammensetzung ihrer Delegation nicht mitgemischt hätte. Die Delegierten, die ihre Sache gar nicht schlecht machen, konnten von den Palästinensern nicht als ihre Delegierten akzeptiert werden. Und dann gab es diesen Kompromiß mit der PLO, daß die Delegation die besetzten Gebiete vertreten kann, weil sie von der PLO selbst legitimiert ist. Damit kommen wir zum zweiten Defekt. Die PLO soll Legitimation geben, ohne legitimiert zu werden. Dafür wird sie instrumentalisiert. Die USA, Israel und zum Teil auch Ägypten wußten genau, daß es unmöglich sein würde, ohne Zustimmung der PLO eine palästinensische Delegation zu formieren. Die PLO soll die Delegation handlungsfähig machen, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Um diese Aufgabe beneide ich Arafat nicht. Irgendwann, wenn diese Übergangsphase durch ihn legitimiert ist, wird man fragen, wer ist Arafat? Und damit sind wir beim dritten Problem in der Struktur der Verhandlungen. Die PLO muß permanent beweisen, wie moderat sie ist, um beteiligt zu bleiben. Bis man ihre wirkliche Position nicht mehr erkennen kann. Die Delegation muß hingegen zeigen, wie nationalistisch sie ist, um sich auf der palästinensischen Straße zu legitimieren. Eben weil ihre Zusammensetzung nicht von den Palästinensern beschlossen wurde. Wir haben also einen Mechanismus, der die palästinensischen Beteiligten in eine ganz unwirkliche Lage bringt. Und für die PLO ist das jetzt umgeschlagen. Sie erscheint unglaubwürdig: Was wollen sie eigentlich für die Palästinenser erreichen, heißt es, wollen sie nun einen Staat oder nicht? Ist die Autonomie das Ziel, verzichten wir auf Jerusalem, was ist los? Warum hat Arafat jetzt das amerikanische Dokument akzeptiert? Das US-Positionspapier, das einen Kompromiß zwischen den Grundsatzerklärungen von Israelis und Palästinensern zur Autonomie herstellen sollte? Ja. Sogar Peres selbst war überrascht von der totalen Identifikation der Amerikaner mit der israelischen Position. Zum Beispiel nicht mehr von „besetzten Gebieten“ zu sprechen, sondern von „umstrittenen Gebieten“. Die Leute, die jetzt unter Clinton zuständig sind, beziehen nicht einmal Labour-, sondern Likud-Positionen. Die palästinensische Delegation akzeptiert das natürlich nicht. Über solche Positionen kann man nicht verhandeln. Aber Arafat war in Ägypten und er wurde unter Druck gesetzt, natürlich auch mit Versprechungen, daß er dann reinkommt in die Gespräche. Haben wir am Ende womöglich eine offiziell anerkannte PLO, aber nichts mehr, worüber sie verhandeln könnte? Das könnte sein. Geht es dabei um die Sperrung von Geldern aus den Golfstaaten, deren Weiterfließen garantiert wird, wenn die PLO sich jetzt israelischer gibt als die Israelis? Das auch. Aber natürlich geht das nicht alles bewußt vonstatten. Die Leute in der PLO glauben zum Teil, daß sie hier neue Strategien entwickeln. Das fängt wieder mit Madrid an. Für die PLO war es fatal, diese ganzen israelischen „Vorbedingungen“ zu akzeptieren. Damit hat man einen Rahmen akzeptiert, ohne UNO, ohne internationale Konferenz, ohne akzeptierte Interpretation der UN-Resolution 242 und 338 (über den israelischen Abzug aus [den] besetzten Gebieten), und die PLO ist raus, Jerusalem ist raus. Das waren die israelischen Bedingungen von Madrid. Die anschließende Geschichte der Verhandlungen war ein einziger Versuch, die Bedingungen zu revidieren. Und diese Versuche werden jetzt wirklich teuer. Es gibt natürlich Wege da raus, aber wenn man sie beschreiten will, braucht man andere Strukturen – und andere Denkweisen. Woran denken Sie? Es gibt viele Möglichkeiten, die noch nicht probiert wurden, wegen der bestehenden Strukturen. Die Intifada muß zu einem wirklichen Volksaufstand werden. Wir müssen es schaffen, nicht nur die jungen Leute, sondern wirklich die Massen auf die Straße zu kriegen. Das sind Methoden, die im Iran und in Algerien ausprobiert wurden – mit viel Erfolg. Bei uns wurde das nicht versucht. Bei uns wurde ein ganz anderes Modell von Intifada entwickelt, dessen schwache Punkte allmählich sichtbar werden: vor allem diese langen Streiks, die unsere Wirtschaft zerstört haben. Wir haben eine dauernde Konfrontation mit der israelischen Armee, aber wir kriegen die Menschen nicht alle auf die Straße. Außerdem gibt es eine Spaltung zwischen politischen Sprechern und lokaler Führung. Aber Arafat in Jerusalem? Das sehe ich nicht. Schade, sonst würde ich diese Politik vielleicht ein bißchen besser verstehen. Je mehr Konzessionen er macht, desto weniger Grund haben sie, ihn ernst zu nehmen. Die israelische Regierung redet ja längst mit der PLO und holen sich in Tunis, was sie brauchen. Aber ohne offizielle Anerkennung, ohne Kameras, ohne sie diplomatisch zu akzeptieren. Man redet, aber im Hinterzimmer. Interview: Nina Corsten Azmi Bishara ist Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit, lehrt Philosophie an der Universität Bir Zeit (West Bank); ist derzeit in Berlin am Wissenschaftscolleg.
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Kommentar Stromversorgung: Grundrecht Strom - taz.de
Kommentar Stromversorgung: Grundrecht Strom Bei einem Wohnungsbrand sterben vier Kinder – weil der Familie der Strom abgeschaltet worden war. Fahrlässigkeit ist nicht nur ein privates Problem. Der verheerende Wohnungsbrand, bei dem am vergangenen Freitag in Saarbrücken vier kleine Kinder ums Leben gekommen sind, ist auf eine brennende Kerze zurückzuführen. Sachverständige sprechen in diesem wie in anderen Fällen von Fahrlässigkeit. Das Wort suggeriert, dass da jemand schlicht nicht aufgepasst hat –im Zweifelsfall natürlich die Eltern: ein Fall also wie bei der berüchtigten brennenden Zigarette. Tatsächlich liegt dieser Fall anders: Der siebenköpfigen Familie war kurz vor der Katastrophe der Strom abgestellt worden, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen konnte. Offenbar wussten sich die Eltern in ihrer Notlage nicht anders zu behelfen als mit einer Kerze. Dabei zahlen Sozialämter in einem solchen Fall üblicherweise ein Darlehen zur Begleichung offener Rechnungen. Sei es mangelndes Selbstbewusstsein, sei es der Stolz, seien es Sprachprobleme, sei es einfach Unwissen – ein solches Darlehen ist von der Roma-Familie jedenfalls nie beantragt worden. Gerade in Zeiten explodierender Energiekosten haben es insbesondere einkommensschwache Familien immer schwerer, ihre Elektrizitätskosten zu tragen. Während etwa ein Fernsehgerät nicht gepfändet werden darf, darf der Strom für den Fernseher in der Regel nach der vierten Mahnung abgestellt werden. Dabei sollte gerade Strom für Schutzbedürftige zur infrastrukturellen und sozialen Grundversorgung zählen. Wünschenswert wäre deshalb, wenn die Energieversorger enger mit den Sozialbehörden oder Jugendämtern vernetzt wären. Oder wenn offensive Beratungs- und Informationsangebote den Betroffenen die Scheu nehmen könnten, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Denn Fahrlässigkeit ist nicht nur ein privates Problem, sondern in Zeiten, in denen die soziale Schere immer weiter auseinandergeht, auch ein gesellschaftliches.
Arno Frank
Bei einem Wohnungsbrand sterben vier Kinder – weil der Familie der Strom abgeschaltet worden war. Fahrlässigkeit ist nicht nur ein privates Problem.
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Auch Adoptivmütter legen ihr Kind einfach an die Brust - taz.de
Auch Adoptivmütter legen ihr Kind einfach an die Brust ■ Allein das Saugen regt die Milchproduktion an / Ein Gespräch über das unbekannte Thema Adoptiv-Stillen mit Martá Guóth-Gumberger: Sie berät bundesweit Mütter Sie hat selbst zwei Adoptivkinder gestillt und hat viele Jahre Erfahrung in der Beratung von Müttern: Martá Guóth-Gumberger berät vom bayrischen Rosenheim aus derzeit bundesweit telefonisch Adoptivmütter. Die „Leche Liga“ – eine weltweite gemeinnützige Organisation – vermittelt von Bremen aus Kontakt zu der Fachfrau, damit sich auch Bremer Mütter betreuen lassen können (Kontakt über Tel.: 0421/56 11 830). Denn zum Stillen von Adoptivkindern braucht frau viel Unterstützung und Beratung. taz: Manche sagen, das Stillen von Adoptivkindern sei mit vielen Tabus behaftet und deshalb so wenig verbreitet. Woran liegt das? Márta Guóth-Gumberger: Tabu würde ich nicht sagen. Denn es gibt einfach sehr wenige Kinder, die in so einem frühen Alter als Adoptivkind vermittelt werden, in dem Stillen möglich ist. Das ist eher der vorrangige Grund für die sehr geringe Verbreitung. Es haben sich außerdem erst sehr wenige Leute darum bemüht, das Thema publik zu machen. Viele reagieren allerdings schon erstmal mit Staunen und auch mit ein bisschen Abwehr. Warum Staunen und Abwehr? Staunen, weil die meisten die Vorstellung haben, dass eine Geburt absolut notwendig ist für das Stillen eines Kindes. Und die Abwehr hängt damit zusammen, dass Stillen immer noch nicht selbstverständlich ist. Wenn Probleme beim Kind auftauchen, wird oft die Ursache beim Stillen gesucht. Und diese Einstellung wirkt sich auch auf das Adoptiv-Stillen aus. Und die Abwehr hängt nicht damit zusammen, dass die Moralvorstellung vorherrscht, nur das leibliche Kind einer Mutter und kein fremdes darf an die Brust? Das habe ich schon ein paarmal so gehört – aber ich glaube eher, dass die Tendenz unserer Gesellschaft ist, Kinder eher auf Abstand zu erziehen – zum Beispiel, dass man sehr erwartet, dass das Kind alleine ohne Körperkontakt einschläft. Und diese Sichtweise überträgt man dann eben auch auf das Adoptivkind. Aber mittlerweile ist Stillen wieder mehr angesagt – und auch die Einstellung zu körperlicher Nähe, da passiert doch ganz viel? In den letzten Jahren wurde viel für das Stillen getan und es ist dadurch auch vielen Frauen wieder viel bewusster geworden. Heute möchten mehr Frauen stillen. Und wieso können Frauen überhaupt stillen, obwohl sie gar nicht schwanger waren? Milchbildung kann bei jeder Frau angeregt werden – allein durch das Saugen des Kindes. Wenn die Adoptivmutter ihr Baby an die Brust anlegt, kommt am Anfang keine oder ganz wenig Milch. Das ist für ein junges Baby meist kein Problem, weil bei jeder Mutter kurz nach der Geburt wenig Milch kommt. Also kommt die Milchproduktion allein durch den mechanischen Reiz in Gang? Nach der Geburt setzt bei einer Frau automatisch die Milchbildung ein – egal ob eine Frau stillt oder nicht. Dieser Prozess ist rein hormonell bedingt und hört nach einer bestimmten Zeit auf. Die Milchbildung wird danach durch das Saugen aufrechterhalten – und diesen Prozess, dass durch Saugen die Milchbildung angeregt wird, kann man sich beim Adoptiv-Stillen zunutze machen. Aber das geht natürlich viel langsamer als nach einer Geburt – und die Mengen sind im Allgemeinen deutlich geringer. Also muss man zufüttern. Und das unterbricht nicht wieder den Stillprozess? Wenn das Zufüttern mit der Flasche geschieht, ist das in der Tat schwierig. Die Flasche ist oft der Beginn zum Abstillen. Deshalb ist es beim AdoptivStillen sehr günstig, wenn während des Stillens zugefüttert wird – und dafür gibt es ein Hilfsmittel: Das sogenannte Brusternährungsset. Das ist ein kleines Fläschchen, das sich die Mutter mit einer Kordel um den Hals hängt. Unten sind zwei Schläuche befestigt. Das Baby nimmt die Brust und den Schlauch in den Mund. Wenn es dann saugt, bekommt es sowohl die Milch aus der Brust als auch die zugefütterte Milch aus dem Schlauch. Und wie kommen die Frauen mit dem Brusternährungsset zurecht? Die meisten sind mit dieser Art des Zufütterns sehr zufrieden. Allerdings ist die Milchmenge von Frau zu Frau sehr unterschiedlich. Sie hängt stark davon ab, wieviel Unterstützung die Frau erhält. Denn um die Milchmenge stark zu steigern, bräuchte sie sehr starke Entlastung im Haushalt, damit sie ihr Baby sehr oft stillen kann. Die Familie muss also wissen, ob sie sich mehr Zeit nehmen will – oder ob sie es ein bisschen lockerer handhabt und die Mutter sechsmal am Tag mit dem Hilfsmittel und ein paarmal zwischendurch ohne stillt. Das kann für sie auch eine schöne Erfahrung sein. Die meisten Adoptivmütter und -babys genießen diese Erfahrung sehr. Fragen: Katja Ubben/ Foto: Laura Marina
Katja Ubben
■ Allein das Saugen regt die Milchproduktion an / Ein Gespräch über das unbekannte Thema Adoptiv-Stillen mit Martá Guóth-Gumberger: Sie berät bundesweit Mütter
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Mit den Punks durch die Tundra - taz.de
Mit den Punks durch die Tundra Beim 13. Nordischen Filmfestival im Norden Norwegens kam die ethnische Minderheit der Samen ganz groß raus: Zum Beispiel mit dem ersten samischen Sciencefiction und der ersten Coming-out-Geschichte einer Saami-Lesbe. Eindrücke aus Kautokeino von BARBARA LOREY DE LACHARRIÈRE Ab Ivalo, tausend Kilometer nördlich von Helsinki, führt die Straße nach Nordwesten durch die sanfte Hügellandschaft der tief verschneiten Tundra. „Murmansk, 250 km“, steht auf dem Straßenschild an einer Kreuzung, das nach rechts weist. Unser Bus fährt weiter geradeaus, über die norwegische Grenze in Richtung Guodudageaidnu in der Finnmarkvidda. Karasjok, erste Station hinter der Grenze im Herzen von Sápmi, dem Land der Samen. Die Samen sind eine lose miteinander verbundene ethnische Minderheitengruppe mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte, die nördlich des Polarkreises über Norwegen, Finnland, Schweden und Russland verstreut ist. Über die Hälfte der insgesamt etwa 70.000 Samen leben in Norwegen, wo ihnen seit etwa 20 Jahren weit reichende kulturelle Autonomie zugesichert wird. Hier befinden sich auch das nagelneue Parlament der Samen und die samischen Niederlassungen des staatlichen norwegischen Rundfunks und Fernsehens sowie andere eigene Kultur- und Sozialeinrichtungen. Nach weiteren 140 Kilometern tauchen schließlich die ersten Häuser von Guodudageaidnu auf, der flächenmäßig größten Gemeinde Norwegens. Für die circa 3.000 Einwohner Kautokeinos, wie der überwiegend von Saami bewohnte Ort auf Norwegisch heißt, ist dieses Jahr zu Ostern mächtig was los. Dem traditionellen großen Osterfestival der Samen mit Rentierwettfahrten, Joikmusik, Kindstaufen und dreitägigen Hochzeitsfeiern geht hier nämlich das Nordische Filmfestival voraus, ein Schaukasten der neuesten nordischen Filmproduktionen. Organisiert wird es gemeinsam von den verschiedenen nationalen Filminstituten Skandinaviens, und seit seiner Gründung 1978 findet es abwechselnd in den Hauptstädten und in den entlegensten Ecken der fünf Länder statt. Und da Filmemachen „voll in der Tradition“ der samischen Kultur steht, wie Anne Lajla Utsi kühn behauptet, gibt es parallel hierzu im Kulturzentrum eine Art Mini-Saami-Filmfestival mit immerhin 18 Dokumentarfilmen und 5 Kinderfilmen, das von der jungen Frau mit sehr viel Energie und in akzentfreiem Englisch geleitet wird. Für lange Spielfilme fehlt es wohl noch an Geld, gedreht wird überwiegend auf Video, meist für das Saami-Fernsehen. Aber das soll sich bald ändern, dank eines im Aufbau begriffenen Saami Film Fonds, den man sich vom vor sechs Jahren gegründeten Saami Council erhofft, einem länderübergreifenden kulturellen und politischen Zusammenschluss der Samen in Norwegen, Finnland, Schweden und Russland. Anne Lajla, die stolz die traditionelle rote Tracht der Samen mit der hohen Kopfbedeckung trägt, hat auch selbst zwei kurze Videoreportagen gemacht, in denen sie die Identitätsprobleme und das neu erwachte Selbstbewusstsein der jungen Saamigeneration behandelt – Themen, die wie ein roter Faden fast alle der hier gezeigten Dokumentarfilme aus Norwegen, Schweden und Finnland durchziehen. Stellvertretend für viele andere ihrer Generation sieht auch Anne Lajla die Forderungen der Saami nach kultureller Autonomie und Selbstbestimmung durchaus global. So hat sie bereits Vergleichsmöglichkeiten während eines mehrmonatigen Aufenthalts bei den Indianern im Amazonasgebiet sammeln können, die dort gegen die Zerstörung des Regenwaldes kämpfen. Großen Beifall von den überwiegend jugendlichen Zuschauern erhält der Kurzfilm „Back to Saimu“, im Programm als „erster samischer Sciencefiction-Film“ angekündigt. Er handelt vom Ausbruch einer Gruppe jugendlicher Punks aus einer tristen Hochhaussiedlung. Auf geklauten Snowscootern und mit einer hoch im Wind flatternder Saami-Flagge jagen sie in die verschneite Tundra hinaus. Bis auf die wunderschöne schwarz gewandete Anführerin und ihren Gefährten kehren sie nach einer ersten Nacht im traditionellen Lappenzelt aber recht kleinmütig wieder in die klimatisierte Zivilisation zurück. Die Regisseurin Silja Somby, eine weitere taffe junge Frau, steht der Saami Film Association vor und sitzt im Vorstand des Nordnorwegischen Filmcenters. Überhaupt zeigen die Frauen hier durchaus entschiedenes Selbstbewusstsein, was in der traditionellen Männergesellschaft der Rentierzüchter sicherlich nicht immer ganz einfach sein mag. Freitagnachmittag. Riesiges Gedränge vor dem Kinosaal des Kulturzentrums. Die Premiere von „Lesbisk in Kautokeino“ – das erstmalige Coming-out einer Saami-Lesbe – ist fürs Publikum gesperrt, und nur geladene Gäste werden nach sorgfältiger Prüfung der Badges eingelassen. Einer der im Film interviewten Männer hat mit einer Klage gedroht, und nun muss die Festivalleitung erst einmal einen Rechtsanwalt zur Lage befragen. Im Film erzählt eine Frau namens Marit von den Schwierigkeiten und Anpöbeleien, die sie schließlich veranlassten, aus dem Ort wegzuziehen. Für die Vorführung ist Marit zum ersten Mal seit Jahren wieder nach Kautokeino zurückgekommen, fast als Heldin. Für die kleine blonde Berit dagegen, die mit ihren vier Brüdern gemeinsam eine riesige Rentierzucht betreibt, besteht das Hauptproblem vor allem darin, eine Partnerin zu finden. Erschwerend mag sicher hinzukommen, dass Berits Traumfrau „möglichst auch mit Rentieren vertraut sein sollte“. Nach der Vorführung gibt es natürlich rückhaltlose Sympathiebekundungen, das ortsansässige Publikum, das den Film am nächsten Tag dann doch zu sehen bekommt, verleiht dem Film am Schluss sogar den Publikumspreis. Während sich das Saami-Filmprogramm regen Zulaufs erfreut, sowohl von Jugendlichen in modischen Skaterschuhen als auch mit traditionellen Fellstiefeln und in Saamitracht, herrscht bei den skandinavischen Spielfilmen häufig gähnende Leere. Außer natürlich bei „Pathfinder“, den sicherlich jeder Zuschauer mindestens einmal gesehen hat. Schließlich ist Nils Gaup, der hier in Kautokeino geboren ist, wohl der international berühmteste Saami, der mit diesem damals für Norwegen spektakulär aufwendigen Film 1987 sogar die erste Oscar-Nominierung seines Landes eingeheimst hatte und seither von Hollywood mit mehr oder weniger Glück umworben wird. So wurde ihm gerade kürzlich von Universal ein Remake von „Pathfinders“ angetragen. Gaup, der ganz stilecht auf seinem Snowscooter und mit wehender Fellmütze vor dem Festivalcenter aufkreuzt, bereitet gerade das Casting für sein neues Spielfilmprojekt vor. „Kautokeino Revolt“ wird die legendäre Geschichte vom blutigen Aufstand im Winter 1855 gegen die dänischen und norwegischen Autoritäten erzählen. Damals wurden zwei der Saami-Rebellen geköpft und eine ganze Reihe anderer Aufständischer zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Gaup will natürlich wie immer einen richtig großen Film drehen, „teurer als Hollywood“, wie er zu sehr später Stunde während der Closing Party in der Hotelbar erzählt. Allerdings kann man ihn kaum verstehen, da im Nebenraum die Inga Juuso Band mit einer Mischung von traditioneller Joikmusik und Rock die Stimmung anheizt. Leider wurde dann später nichts mehr aus der geplanten nächtlichen Scooterfahrt bei Vollmond und Nordlichtern, da Gaup schon locker die erlaubte Promillegrenze überschritten hatte. Und die Polizei, die hier oben in Guodudageaidnu am Wochenende den rasanten Snowscooter-Piloten auf dem zugefrorenen Flussbett auflauert, kennt angeblich keine Gnade.
BARBARA LOREY DE LACHARRIÈRE
Beim 13. Nordischen Filmfestival im Norden Norwegens kam die ethnische Minderheit der Samen ganz groß raus: Zum Beispiel mit dem ersten samischen Sciencefiction und der ersten Coming-out-Geschichte einer Saami-Lesbe. Eindrücke aus Kautokeino
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Indiens Korridor nach Tibet - taz.de
Indiens Korridor nach Tibet Sikkim ist immer noch militärisch bewachte Grenzregion. Das Land mit dem dritthöchsten Berg der Welt, dem Kanchenjunga, bietet uralte tibetische Kultur und atemberaubende Landschaften. Ein Reiseziel für Abenteurer ohne Höhenangst Von Martin Benninghoff Bevor der Panzer zu sehen ist, hört man schon sein Getöse. Als das Ungetüm dann um die Ecke biegt, tut es das schnell. So schnell, dass zwei Straßenarbeiterinnen sich nur durch einen gewagten Sprung in Richtung Bergwand in Sicherheit bringen können. Auf ihrem Rücken trägt jede einen Säugling, der – mit Tüchern fest umwickelt – beim Springen mitwippt. Empört gucken beide dem Monstrum hinterher: wieder neue Löcher in der Straße, die sie mit Händen und Spaten flicken müssen. Es ist die einzige Straße hier oben im Norden von Sikkim. Der kleinste Bundesstaat Indiens ist etwa doppelt so groß wie Luxemburg, aber mit einer halben Million Einwohnern dünn besiedelt. Würde man die Soldaten mitrechnen, wäre die Zahl größer, denn alle paar Kilometer liegen Militärcamps ober- und unterhalb der matschigen Straße. Wellblechbaracken, die sich mit ihren braungrünen Anstrichen in die Landschaft einfügen. So auch in Thangu, das 4.000 Meter hoch liegt und nur wenige Kilometer von der Grenze nach Tibet entfernt. „Nicht fotografieren!“ und „Unsere Soldaten geben ihr Leben für uns. Lasst uns ihr Blut rächen!“ steht auf den Schildern, welche die indische Regierung hier in den felsigen Boden gerammt hat. Selbst in den Sommermonaten ist es tagsüber in dieser kargen und kalten Gegend kurz unterhalb der Himalaja-Gletscher knapp über null Grad. Wenn der Schnee im November kommt, sinkt die Temperatur meist tief in die Minusgrade. Sikkim, das bis vor wenigen Jahren für Ausländer tabu war, öffnet sich dem Tourismus. Es hat viel zu bieten: Trotz der Öffnung benötigen Touristen immer noch das „Sikkim-Permit“, eine Reisegenehmigung, die nunmehr problemlos zu bekommen ist. Wer allerdings ins Hinterland nahe der tibetischen Grenze will – etwa zu den grimmigen Soldaten von Thangu –, braucht eine weitere Genehmigung, die nur der Gruppenreisende bekommt. Kein Eintritt für Individualreisende. Die Unberührtheit hat vor allem mit der Grenzlage zu tun, die Sikkim zu einem Frontstaat im regionalen Kalten Krieg macht: China erkennt Sikkim nicht so recht als Teil Indiens an, und Indien erkennt Tibet nicht als Teil Chinas an. Dabei nähern sich die beiden früher so unversöhnlichen Großmachtkonkurrenten langsam an: Der von Thangu nicht weit entfernte Grenzübergang am Nathula-Pass ist erstmals seit 1962 wieder geöffnet. Die Straße an der ehemals hoch frequentierten Seidenhandelsroute ins tibetische Lhasa war nach dem indisch-chinesischen Grenzkrieg geschlossen worden. Anfang Juli dieses Jahres brummten nun die ersten Lkws seit über vierzig Jahren wieder über die Piste, die mit 4.600 Metern Höhe zu den höchsten Passstraßen der Welt gehört. Ausgangspunkt für Jeep- oder Trekkingtouren in entlegene Gebiete ist die Hauptstadt Gangtok auf knapp 1.900 Metern Seehöhe. Gut 50.000 Menschen leben in dieser Stadt, die ihren Charme eingebüßt hat. Betonklötze und andere Bausünden kleben an den Hängen, stellen die Klöster und den alten Königspalast buchstäblich in ihre Schatten. Am oberen Ende der Stadt, die so unindisch wirkt, weil sie außerordentlich überschaubar und sauber ist, thront ein Funkturm, der seine Fühler bis nach Tibet ausstreckt. Auf der Flaniermeile im Ort reihen sich Modegeschäfte an Fast-Food-Läden, die Donuts und europäischen Filterkaffee verkaufen. Den traditionellen Sari tragen nur noch wenige Frauen, Jeans und T-Shirts sind hier genauso normal wie Rauchen auf offener Straße.Tomba, das traditionelle Bier aus fermentierter Hirse, wird nur noch auf Anfrage serviert: Der moderne Sikkimer trinkt King Fisher, ein indisches Bier, das in England gebraut wird. Die zahlreichen Agenturen in der Stadt besorgen die Papiere für entlegene Gebiete und bieten Jeep-Touren und Trekkingwochen an – beides für 20 bis 30 Euro am Tag, inklusive Verpflegung, Auto, Führer und Unterkunft. Was professionell klingt, ist oft äußerst einfach und originell: Fahrer, die nur wenig Englisch sprechen, und Führer, die sich nur per Handzeichen verständigen können, gehören dazu. Vishnu arbeitet als Führerin in der Trekkingagentur ihres Mannes. Die 26-Jährige spricht nur die Landessprache der Sikkimer und dazu ein paar Worte Englisch. Gerade ist sie mit einer kleinen Reisegruppe von Europäern in Thangu unterwegs. Nur wenn ihr Mann nicht in der Nähe ist, ergreift die junge Frau das Wort: „German good, British good, American good … Kalkutta not good“, sagt sie und schimpft in ihrer Sprache weiter auf die westbengalischen Touristen aus der Oberschicht Kalkuttas. Nachts um drei wollten die heißes Wasser haben. Dann stehe sie auf, empört sich Vishnu, und setze den Kessel aufs Feuer. Auf ein „Dankeschön“ aber warte sie meist vergeblich, das indische Kastensystem sei eben unerbittlich. Die Nacht verbringt die Gruppe mit ihrer Führerin unweit des Militärcamps. Die Straße vor der Herberge im skandinavischen Holzbaustil ist voller Blutegel, den Kühen, die im Schlamm stehen, haben sie sich tief ins Fleisch gebohrt. Von Thangu sind es nur wenige hundert Meter bis zu einem fruchtbaren Hochtal auf 4.200 Metern Höhe. Hier oben wohnt der tibetische Flüchtling Zigmee mit seiner Frau in einer Holzhütte. Ein Feuer, einige Scheite Holz, ein Wasserkessel – mehr passt außer den beiden in die windschiefe Hütte nicht hinein. Zigmee hat rote Wangen und verfilztes Haar, seine Kleidung ist von der Arbeit draußen auf den Weiden schmutzig, seine Haut vom Wetter gegerbt. Er gießt heißen Tee in eine Tasse, Tee mit etwas ranziger Yakbutter. Stark gesalzen und eine Herausforderung für den europäischen Gaumen. Nur wenige Monate im Jahr kann er hier oben wohnen. Wenn im November der Schnee kommt, wird es bitterkalt, und er zieht ins tiefere Tal, wo seine Eltern leben. Das Verhältnis zwischen Militär und den wenigen Yak-Hirten hier oben sei „medium“, sagt er und lächelt etwas gequält. „Aber wenn das Militär nicht wäre, hätten wir die Chinesen hier.“ Er erinnert sich nur zu gut an den Horror, den die Horden Mao Tse-tungs im Nachbarstaat Tibet seinerzeit verbreitet haben. China annektierte Tibet 1951, acht Jahre später kam es zu einem Volksaufstand, den Maos Truppen dazu nutzten, mordend und plündernd durchs Land zu ziehen – auch viele Mönche kamen um und Klöster wurden zerstört. Zigmee verehrt den Dalai Lama, im Gegensatz zu den Menschen in Tibet darf er das in Sikkim auch laut tun. Noch mehr als 200 alte tibetische Klöster gibt es in Sikkim. Der kleine Mönch Dzongten lebt seit einem Jahr in dem von Phodong, hoch über der matschigen Straße von Gangtok nach Thangu. Das Kloster besteht aus einem schlichten quadratischen Haupttempel in der Mitte des Platzes, darum herum stehen die Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Mönche. In der Schule, deren eine Seite zum Tempelplatz hin offen ist, rezitieren Dzongten und seine kleinen, kahl geschorenen Mitmönche sieben, acht Stunden am Tag buddhistische Verse. Dabei beugen sie ihre in rote Gewänder gehüllten Oberkörper vor und zurück, vor und zurück und vor und zurück. Wann immer der Lehrer den Blick von ihnen abwendet, machen sie Quatsch wie alle Schüler auf der Welt: Papierschnipsel werfen und den Nebenmann zwicken. Dzongten erklärt, dass er in diesen zwei Klosterjahren kein weltliches Fach lernt, keine Fremdsprache, keine Geschichte und keine Mathematik. Das müsse so sein, ergänzt sein Lehrer, um Sikkims Traditionen gegen die Einflüsse von außen zu schützen, die auch von den Touristen ins Land getragen werden. Touristen dürfen sich bis zum Kloster Phodong in Eigenregie bewegen, also ohne zusätzliche Genehmigung. Am Rande des Tempelplatzes steht seit kurzem sogar ein Gästehaus, in dem sie unterkommen können (im Tourist Office in Gangtok fragen). Wer Abgeschiedenheit sucht, ist hier richtig: Nur wenige Kilometer hinter Dzongtens Schule und der klösterlichen Stille beginnt die militärisch-frostige Ruhe eines eingefrorenen Grenzkonflikts, der langsam auftaut.
Martin Benninghoff
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TV-Rechte in Griechenland und der Türkei: Das Fernsehmonopoly hat begonnen - taz.de
TV-Rechte in Griechenland und der Türkei: Das Fernsehmonopoly hat begonnen Ein türkischer Medienmogul möchte griechische TV-Lizenzen erwerben. Im Gegenzug drängt ein Grieche auf den türkischen Markt. Beliebt: TV-Lizenzen in der Türkei und Griechenland Foto: imago/Joker ATHEN taz | Ali Acun Ilicali, 46, Bubi-Gesicht, sportlich schlank, ist in der Türkei landesweit bekannt. Im benachbarten Griechenland war er hingegen bis zuletzt kaum jemandem ein Begriff. Das hat sich inzwischen schlagartig geändert. Der Grund: Der türkische Medienmogul offenbarte kürzlich, er wolle in Hellas alsbald eine landesweite TV-Lizenz erwerben. Der Aufschrei in Griechenland ist seither groß. Für die Irritationen zu Füßen der Akropolis sorgte auch Athens linker Premierminister Alexis Tsipras. Er habe „prinzipiell nichts dagegen“, heißt es aus seinem Amtssitz „Villa Maximos“. Ilicali könne sich wie jeder an der bevorstehenden internationalen Ausschreibung um die Vergabe einer begrenzten Zahl von landesweiten Fernsehlizenzen in Griechenland beteiligen. Die Nationalität spiele dabei „keine Rolle“. Mit Argwohn publizieren Athener Gazetten in diesen Tagen Fotos von Tsipras mit Ilicali. Sie hatten sich im November in den Katakomben eines Istanbuler Fußballstadions am Rande des Freundschaftsspiels zwischen Gastgeber Türkei und Griechenland getroffen. Medien mutmaßten daraufhin, der Deal zum Einstieg Ilicalis in den griechischen Fernsehmarkt sei bereits beschlossene Sache. Der darbende hellenische Fernsehmarkt steht in der Ära Tsipras vor einem radikalen Umbruch. Seit 1989 ist er liberalisiert. Gegenwärtig existieren neben dem Staatssender ERT sechs landesweit ausstrahlende private Fernsehsender. Sie sind chronisch defizitär und zugleich hochverschuldet, dafür aber ausschließlich in griechischer Hand. Bisher. Erdogan weist Ilicali zurück Tsipras und Co. wollen den Fernsehmarkt neu ordnen. Athens Regierung peilt Informationen zufolge an, fortan nur vier landesweite TV-Lizenzen zu vergeben. Damit wäre sicher, dass mindestens zwei der bestehenden Akteure aus dem griechischen TV-Markt verschwinden müssen, neue Fernsehbetreiber noch gar nicht berücksichtigt. Wettbewerber Ilicali, ein smarter Selfmademan, höchst populärer Sportreporter und Moderator einer Reisesendung, kennt sich im TV-Geschäft gut aus. Seine 2004 gegründete Produktionsfirma Acun Medya hat in der Türkei die Exklusivrechte erfolgreiche Reality- und Talentshows wie „Survivor“ oder „The Voice“. 2014 erwarb Acun Medya 70 Prozent der Anteile an dem Istanbuler Fernsehsender TV 8, für kolpotierte 70 Millionen US-Dollar. Böse Zungen behaupten, Ilicali habe die Kaufsumme mit der Hilfe des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan aufbringen können. Eine direkte Finanzierung seiner Fernsehaktivitäten durch das Umfeld von Erdogan weist Ilicali kategorisch zurück. Der Umstand, dass der Medienmogul seine Fühler nun nach Griechenland ausstreckt, hat auch eine griechische Mediengruppe auf den Plan gerufen. Die Real-Media-Gruppe habe beschlossen, in den nächsten Tagen „entweder den Erwerb einer TV-Lizenz oder die Übernahme eines bestehenden TV-Senders in der Türkei zu prüfen“. Ihr Gründer, Nikos Chatzinikolaou, gab bekannt, er habe bereits Kontakte ins Nachbarland geknüpft. Der Konter der Griechen trägt den Namen „Real TV in der Türkei“. Finanzierung unklar „Wenn ein türkischer TV-Eigner das Recht hat, in Griechenland einen Fernsehsender zu erwerben, können wir das genauso in der Türkei tun“, sagt der griechische Gegenspieler Ilicalis. Wie Real Media den anvisierten Einstieg auf dem heftig umkämpften türkischen TV-Markt finanzieren will, ist indessen unklar. Fest steht: Die verkaufte Auflage von Real News, Sonntagszeitung und Flaggschiff der Mediengruppe, brach 2015 massiv ein. Der Jahresumsatz der Real Media betrug im Jahr 2013 laut letzten verfügbaren Daten 24,11 Millionen Euro. Zugleich drücken das Medienhaus 25,61 Millionen Euro Verbindlichkeiten. Dennoch: Die vollmundige Ankündigung ist im Raum und könnte auch der Regierung Tsipras gelten. Dem Vernehmen nach wollen Chatzinikolaou und Co. bei dem bevorstehenden Wettbewerb eine TV-Lizenz in ihrer Heimat Griechenland erwerben. Das griechisch-osmanische Fernsehmonopoly hat gerade erst begonnen.
Ferry Batzoglou
Ein türkischer Medienmogul möchte griechische TV-Lizenzen erwerben. Im Gegenzug drängt ein Grieche auf den türkischen Markt.
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Brennwert boomt in Berlin - taz.de
Brennwert boomt in Berlin Neue Heizkesseltechnik nutzt bis zu 20 Prozent mehr Energie / Kosten und Abgase werden erheblich gesenkt / Das Abwasser neutralisiert sich selbst  ■ Von Lars Klaaßen Energie und Ökologie – wer sich darüber Gedanken macht, hat oft Solarzellen und Windräder im Sinn. Doch bis diese alternativen Energien umfassend genutzt werden, kann es noch dauern. Solange steht die Frage im Raum, wie auch fossile Energiequellen effektiv genutzt werden können, ohne die Umwelt allzu stark zu belasten. Die Antwort lautet: Brennwertkessel. Mit diesem Gerät werden Energieverbrauch und Abgase reduziert. Der Markt boomt daher. Mit Brennwertkesseln kann geheizt und Wasser erwärmt werden. Die Geräte gelten als modernste Heizkesseltechnologie zum Verbrennen von Erdöl und Erdgas. Eines der wesentlichen Merkmale ist die niedrige Umlauftemperatur des Heizsystems. Während konventionelle Kessel mindestens 60 Grad benötigen, kann sie bei Brennwertkesseln auf etwa 30 Grad heruntergedrückt werden. Das sind sogar noch fünf Grad weniger, als mit herkömmlicher Niedertemperaturtechnik bisher erreicht wurde. Gerade dieser Temperaturunterschied ist entscheidend: Die Abgase können kondensiert werden. Die dadurch freigesetzte Energie wird in das Heizungssystem zurückgeleitet. Gas bringt doppelt soviel Energiegewinn wie Öl „Diese Kondensationswärme beträgt bei Gas elf Prozent der gesamten Wärmemenge, die bei der Verbrennung entsteht“, weiß Christian Matiack vom BUND Berlin. „Bei Öl hingegen liegt dieser Anteil nur bei sechs Prozent.“ Ein weiteres Problem beim Einsatz dieses Rohstoffes: Das Kondensat ist so aggressiv, daß der Schornstein darunter leiden kann. Deshalb wird Erdgas in der Brennwerttechnik favorisiert. Es ist nahezu schwefelfrei, was die Entsorgung vereinfacht. „Auch das Abwasser der Gasheizungen ist sauer, kann bei kleineren Anlagen aber trotzdem ohne weiteres abgelassen werden“, versichert Herbert Schmitz. Der Beratungsingenieur der Gesellschaft für rationelle Energieverwendung erklärt auch, warum das so unproblematisch ist: „Haushaltsabwässer sind mit Wasch- und Reinigungsmitteln versetzt, sie sind also alkalisch und neutralisieren daher das Kondensat.“ So stellt sich das Problem der Aufbereitung nur bei größeren Anlagen. Die Energieausnutzung von Brennwertkesseln liegt knapp 10 beziehungsweise fast 20 Prozent über der von Niedertemperaturanlagen und konventionellen Geräten. Das macht die Brennwertkessel auch für viele private Hausbesitzer interessant. Was in Frankreich und den Niederlanden schon seit den 70ern verbreitet ist, kommt nun auch in Berlin groß raus: „Die Auftragslage für diese Geräte war in den letzten drei Jahren so gut, daß wir teilweise mit den Lieferungen nicht mehr hinterherkamen“, freut sich Stefan Zeich, der für die Firma Viessmann im Außendienst tätig ist. Selbst nachdem die Förderung des Landes Berlin 1991 ausgelaufen sei und auch Bonn ein Jahr später die Subventionierung der Brennwertkessel einstellte, habe sich der jährliche Zuwachs in Sachen Brennwert bei rund 25 Prozent eingependelt, frohlockt Zeich. Doch Schmitz warnt: „Ein Neubau ist zwar unproblematisch, Schwierigkeiten kann es aber bei der Umrüstung alter Heizsysteme geben.“ Da die Umlauftemperatur der Heizung sehr niedrig sein muß, um die optimale Energieausnutzung zu erreichen, ist die Größe der Heizkörper sehr wichtig. Sind sie zu groß, tritt trotz des Brennwertkessels nicht die gewünschte Ersparnis ein. Billig ist eine Brennwertanlage ohnehin nicht. „Mit dem Einbau einer Heizung ist es oft nicht getan“, so Torsten Mezger. Der Ingenieur von der gemeinnützigen Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Atlantis hat Erfahrung mit der Installierung von Brennwertanlagen: „Bei zwei Gebäuden in Kreuzberg, mit einer Nutzfläche von 6.200 Quadratmetern, entstanden Kosten von einer Million Mark.“ Ein Drittel davon wurde für neue Fenster ausgegeben. Brennwertkessel einzubauen, ohne sich auch um den Rest zu kümmern, sei sinnlos, betont der Atlantis-Ingenieur. Raumwärme schluckt 74 Prozent der Energie Viele Westberliner können noch gar nicht auf Brennwerttechnik umsteigen – ob sie wollen oder nicht. Zur Zeit ist die Umstellung vom künstlich erzeugten Stadtgas auf Erdgas im westlichen Stadtteil noch voll im Gange. „Bis April 1996 werden wir das gesamte Netz auf Erdgas umgestellt haben“, versichert Herbert Schulte von der Gasag. Der Betrieb von Brennwertkesseln mit Stadtgas ist zwar technisch durchaus möglich. Weil 1996 damit aber sowieso Schluß ist, gibt es mittlerweile keine Anbieter mehr, die entsprechende Geräte herstellen. „Für die dezentrale Nutzung, wie in Einfamilienhäusern, gibt es zur Zeit keine bessere Alternative als Brennwertkessel“, räumt Dag Schulze von Greenpeace Berlin ein. Doch ihm schweben weitergehende Konzepte vor: „Bei einer Siedlung mit rund 100 Wohneinheiten wäre ein Nahwärmenetz ökologisch sinnvoller.“ Solange jedoch nicht in größeren Dimensionen geplant werde, bleibe die Brennwerttechnik für den einzelnen der einzige Lichtblick. Immerhin könne auch dieses System mit Solarenergie gekoppelt werden. Auch German Lewizki, Greenpeacler und Mitorganisator der Ausstellung „Klimakiller Bau“ (Haus der Kulturen der Welt) hält den Brennwertkessel für den besten unter den schlechten: „74 Prozent des Energieverbrauchs in den Berliner Haushalten werden für Raumwärme verbraucht. Da kann kurzfristig nur Brennwerttechnik etwas verbessern.“ Darüber hinaus müsse die Lösung bei den alternativen Energien gesucht werden. Beratungen zum Brennwertkessel bei der Gesellschaft für rationelle Energieverwendung, Telefon 301 60 90, und der Verbraucherzentrale, Telefon 21 90 70.
Lars Klaaßen
Neue Heizkesseltechnik nutzt bis zu 20 Prozent mehr Energie / Kosten und Abgase werden erheblich gesenkt / Das Abwasser neutralisiert sich selbst  ■ Von Lars Klaaßen
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RAW-Gelände: Ein bunter Haufen mit großen Sorgen - taz.de
RAW-Gelände: Ein bunter Haufen mit großen Sorgen Weiter ist unklar, was der neue Investor mit dem Friedrichshainer Kulturareal will. Das bereitet den dort Tätigen Bauchweh. Das Vertrauen in Partner hat gelitten. Künstler auf dem RAW-Gelände - hier Schauplatz einer open-air-Kino-Aufführung - sorgen sich angesichts des neuen Investors um die Zukunft des Geländes. Bild: dpa Die Zukunft der Kulturschaffenden auf dem RAW-Gelände blickt starr aus schwarzen Augenhöhlen. Dazu trägt sie ein weißes Gewand mit Kapuze und einen Rettungsring um den Hals. Diese Zukunft ist der Tod. Das jedenfalls ist die düstere Dystopie, die die Freunde des Cafés „Küste“ an einem Sonntag im März auf dem RAW-Gelände präsentieren. Aufgrund laufender Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Konzessionsinhaber ist die „Küste“ seit Anfang Februar geschlossen. Lange blieben die Betroffenen ruhig. Jetzt jedoch, da mit der Kurth-Gruppe ein neuer Eigentümer für das Gelände auf den Plan getreten ist, fürchten die Protestierenden das Ende ihres Lieblingsortes und veranstalten eine Protestprozession. Andreas, einer von ihnen, führt sie an, als Tod verkleidet und geschminkt. Die wenigsten Passanten scheinen zu verstehen, was der bunte Haufen eigentlich will. Kein Wunder: Das RAW-Gelände bevölkern Touristen, Hipster, Dealer, Clubbesitzer, Künstler und Weltverbesserer. Manche wollen hier einfach Spaß haben. Manche wollen mit Konzerten, Bars oder Sportangeboten Geld verdienen. Und andere wie die Mitglieder des Vereins RAW-Tempel, der 1999 mit der Zwischennutzung des ehemaligen Reichsbahnaufbesserungswerks begann, sehen den RAW-Tempel bei allen Differenzen eher als gallisches Dorf, das „Kultur von unten“ durchsetzen und sich gegen Verdrängung und Profitinteressen schützen muss. So auch Christoph Casper vom Verein. Er engagiert sich für den Erhalt des Kulturensembles auf dem Gelände. Einmal wollten er und seine Mitstreiter alle ansässigen Parteien an einen Tisch bringen, um eine gemeinsame Perspektive für das RAW-Gelände zu entwickeln. Aber nicht nur die Angst vor repressiven Maßnahmen der Eigentümer ließ die Gespräche nach anfänglichem Interesse bald verebben: „Wir waren denen mit unserer Basisdemokratie vielleicht etwas zu hippiemäßig“, bringt Casper die Heterogenität derer auf den Punkt, die doch das eine wollen: die Musiker, die hier proben, den Kinderzirkus, der hier trainiert, all die Leute, die hier töpfern, malen, filmen und für die Raumnutzung oft nur wenige Euro pro Quadratmeter bezahlen. Diese Heterogenität ist die Stärke, aber auch die Schwäche der Kreativen und sozial Engagierten rund um den Verein, dessen Führung gern mal von der Basis überstimmt wird. Denn so sympathisch sie sind, so eigenwillig, zuweilen unberechenbar sind sie auch. So fällt es zum einen schwer, die gemeinsamen Sorgen auf den Punkt zu bringen und nach außen zu tragen. Zum anderen macht es den Verein nicht gerade zum Traumpartner für Geschäftemacher. Das hat viele Mitstreiter in den vergangenen Jahren mürbe gemacht. Ob sich das mit dem neuen Investor ändert, ist unklar. Im März trafen sich die Kurth-Gruppe und der Verein Clof (Creative Lobby of Future), der die drei denkmalgeschützten Gebäude für den RAW-Tempel betreibt und die Verhandlungen im Auftrag des Vereins führt, zum ersten Mal. Der Investor will außer einem vagen Bekenntnis zur Kulturnutzung auf dem RAW-Gelände noch nichts sagen. Konkrete Angaben zum Verlauf der Gespräche will auch Clof nicht machen. Ein verhaltener Optimismus klingt dort zwar durch, aber, so heißt es, man habe ja schon viele Eigentümer tolle Dinge versprechen hören. Ein Satz, den man auch bei den Kulturschaffenden auf dem Gelände zu hören bekommt. Eigentümer kamen und gingen. Vivico Real Estate, RED Development, BNRE. Wohnungsneubauten drohten, doch die Kulturnutzung blieb bis heute erhalten. Und doch: Das Vertrauen in Geschäftspartner hat gelitten. Fragen bleiben offen Das spürt man auch beim Verein RAW-Tempel. Wichtige Fragen sind noch immer unbeantwortet. Bei zwei der drei Häuser, die der Verein noch unter sich hat, ist gar nicht klar, ob überhaupt noch ein Mietvertrag besteht. Wie geht es mit ihnen weiter? Wie ist ihr rechtlicher Status? Und will die Kurth-Gruppe sie selbst entwickeln? Wenn ja, wer kann sich die Mieten dann noch leisten? Denn auch wenn die soziokulturelle Nutzung auf dem Gelände bestehen bleibt – wer garantiert, dass auch die Menschen bleiben können? Die kolportierte Summe von 20 Millionen Euro, die Kurth für den Großteil des Geländes hinterlegt haben soll (taz berichtete), macht den Kulturschaffenden Sorgen. „Der Verwertungsdruck auf die Kulturnutzung wird immer größer“, sagt Kristine Schütt aus dem Vorstand des Vereins. Die Mieten könnten steigen. Einigen könnte das zu viel sein. Existenzgrundlagen stehen auf dem Spiel. Der Verein RAW-Tempel ist bereits insolvent. Dass er einige Maßnahmen an den Gebäuden selbst zu bezahlen hatte und dabei von den damaligen Eigentümern im Stich gelassen wurde, hat seinen Teil dazu beigetragen. „Wir werden uns in Zukunft ökonomischer aufstellen müssen, um dem finanziellen Druck standzuhalten“, sagt Schütt. Auch die einzelnen Häuser werden sich mittelfristig noch effizienter verwalten müssen. Das Beamtenwohnhaus etwa, in dem vor allem bildende Künste untergebracht sind, klärt seine Angelegenheiten jetzt durch den neu gegründeten RAW//CC e. V. Auch hier wünscht man sich nichts sehnlicher als Kontinuität. „Wir hätten gern einmal Ruhe und Planungssicherheit“, sagt Verena Völkel vom RAW//CC. „Wir fangen immer wieder bei null an.“ Diese Ruhe wird es für die Künstler vielleicht nie geben. Zu wertvoll ist ihr Raum über die Jahre geworden. Leider, so Schütt. Man sitze eben auf einer städtebaulichen Sahneschnitte.
Matthias Bolsinger
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Kampf um soziale Gerechtigkeit in Chile: Demos zum 2. Jahrestag der Proteste - taz.de
Kampf um soziale Gerechtigkeit in Chile: Demos zum 2. Jahrestag der Proteste Die vor zwei Jahren geforderte Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist gestartet. Die Proteste gegen Piñera dauern an. Anti-Regierungsperformance einer Gruppe von DemonstrantInnen mit Masken in Santiago de Chile Foto: Matias Basualdo/ZUMA Press Wire/dpa BUENOS AIRES taz | In Chile haben am Montag landesweit zehntausende Menschen mit zahlreichen Kundgebungen und Protestversammlungen an den Beginn der sozialen Revolte vor zwei Jahren erinnert. In der Hauptstadt Santiago waren die Menschen auf der Plaza Italia zusammengekommen, dem traditionellen Versammlungsort für politische und soziale Proteste. In Sprechchören forderten sie unter anderem die Absetzung von Präsident Sebastián Piñera, der für die damaligen brutalen Übergriffe der uniformierten Einsatzkräfte mitverantwortlich gemacht wird. Mehrfach kam es auch diesmal wieder zu Rangeleien zwischen Protestierenden und uniformierten Einsatzkräften. Einige Geschäfte wurden geplündert, vereinzelt Barrikaden errichtet. Die befürchteten großen Auseinandersetzungen blieben jedoch aus. Auslöser der Proteste am 18. Oktober 2019 war eine Anhebung der Preise für U-Bahn-Tickets, die sich rasch zu einer Revolte gegen die soziale Ungleichheit entwickelten. Zugleich wurde die Forderung nach einer neuen Verfassung immer lauter. Präsident Piñera reagierte mit brutaler Härte: Er verhängte den Ausnahmezustand und schickte Polizei und Militär auf die Straßen. Mindestens 34 Menschen kamen ums Leben. Die Zahl der Verletzten geht in die Tausende. Viele erlitten schwere Kopf- und Augenverletzungen, da die Uniformierten mit Gummigeschossen gezielt in die Gesichter der Protestierenden schossen. Entsprechend groß war auch jetzt die Furcht vor neuen Übergriffen, zumal am Montag 5.000 Uniformierte allein in der Hauptstadt im Einsatz waren. Vorsorglich war im weiten Umkreis der Plaza Italia alles entfernt worden, was potentiell zum Barrikadenbau hätte verwendet werden können. Geschäftsleute wurden aufgefordert, spätestens am Nachmittag ihre Läden zu schließen. „Schützen wir das Zusammenleben in unserer Stadt, unsere Nachbarschaften, unsere öffentlichen Räume und den lokalen Handel, der vielen Familien Arbeit und Brot bietet“, appellierte die kommunistische Bürgermeisterin Irací Hassler, die dem Hauptstadtbezirk seit Juni vorsteht. Während in Chile nach wie vor eine tiefe soziale Ungleichheit herrscht, wurde die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung erfüllt. Die hatte sich Anfang Juli konstituiert und just am Montag mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung begonnen. „An diesem 18. Oktober beginnt die Debatte über die neue Verfassung. An diesem Tag werden die Kommissionen eingesetzt, die den Verfassungstext schreiben werden“, sagte tags zuvor die Präsidentin des Verfassungskonvents, die Mapuche Elisa Loncon. Sie würdigte die Versammlung als einen immensen Erfolg der sozialen Mobilisierung. Noch immer gilt in Chile die Verfassung der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) aus dem Jahr 1980. Sie schreibt de facto den Neoliberalismus als alleinige Wirtschaftsdoktrin fest. Deshalb sind auch knapp über 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur noch immer nahezu alle öffentlichen Dienstleistungen in privater Hand, darunter die Bereiche Bildung, Gesundheit, Rentenversicherung und Wasserversorgung.
Jürgen Vogt
Die vor zwei Jahren geforderte Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist gestartet. Die Proteste gegen Piñera dauern an.
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Uh!: Here Come the Sons - taz.de
Uh!: Foto: Federico Gambarini/dpa Here Come the Sons England ist selbst schuld. Die Niederlage gegen Island mag zwar die „demütigendste“ der englischen Fußballgeschichte in 959 Länderspielen sein, wie die Times schrieb, „gegen ein Land von 330.000 Einwohnern, trainiert von einem Zahnarzt“. Verdient war sie trotzdem. Ursache für diese Niederlage war nicht, dass England so schwach war. Nein, Island war so gut. Kein rumpeliger Außenseiter-Fußball bescherte Island den 2:1-Sieg gegen die Briten, sondern ein Konzept, gepaart mit leidenschaftlichem Willen der Fußballnation der Stunde. Es ist eine Sensation mit Ansage. Ein gutes Beispiel ist der Ausgleich in der sechsten Minute. Der fiel infolge eines langes Einwurfs. Eine taktisch absolut unterbewertete Standardsituation, wie die Isländer die Fußballwelt belehrten. Das Prinzip ist so einfach wie erfolgreich: Aron Einar Gunnarsson schmeißt einen kopfgenauen Einwurf an die Strafraumgrenze, wo der Innenverteidiger-Wandschrank Kari Arnason den Ball auf einen Stürmer verlängert, der einen Cut in die Defensive läuft. Fertig ist die Torchance. Gegen die überrumpelte englische Abwehr musste der einlaufende Ragnar Sigurdsson nur noch den Fuß hinhalten. Dass Standardsituationen ein gutes Mittel von Außenseitern sind, ist keine große Neuigkeit. Nur blöd, dass Englands Trainer Roy Hodgson sich zur Vorbereitung aufs Achtelfinale nicht die Partie von Island gegen Österreich anschaute, sondern Portugal gegen Ungarn. Er vermutete den nächsten englischen Gegner in der falschen Partie. Sonst hätte der inzwischen zurückgetretene Hodgson gewusst, dass schon gegen Österreich die Blaupause dieses Einwurfs zum Führungstor der Isländer geführt hat. Auch dort lautete die Kombination: Gunnarsson, Arnason plus X. Gegen Österreich traf Jon Dadi Bödvarsson. Es ist ein Puzzleteil des isländischen Gesamtkonzepts, und wer sich mit seinem Achtelfinalgegner vorher beschäftigt, hätte nicht den 1,78-Terrier Wayne Rooney ins Kopfballduell gegen die 1,90-Kante Arnason geschickt. Andere wichtige Teile der isländischen Strategie sind der unbändige Wille in Kombination mit Laufbereitschaft, getragen von den Anfeuerungsrufen des isländischen Anhangs, die selbst englische Fans bei Weitem übertönten. Und, ganz wichtig, kluger Kombinationsfußball. Teilzeit-Tiki-Taka Den konnte man bei Islands zweitem Tor beobachten. Das war perfekt herausgespielt: Gudmundsson passte auf Sigurdsson, der spielte direkt auf Bödvarsson, der wiederum legte auf Sigthorsson quer, Schuss, Tor. Die aufgezählten Stationen waren nur die letzten vier von insgesamt handverlesenen zehn. Es war die erste längere Passkombination Islands. Quasi Teilzeit-Tiki-Taka mit Überraschungsmoment. Genau das unterscheidet Island als Underdog vom Hasenhüttel’schen Außenseiter Ingolstädter Prägung. Island will nicht das Spiel zerstören, sondern aus einer guten Defensive im richtigen Moment den Gegner mit schnellen Kombinationen überrumpeln. Das klappte übrigens nicht nur beim Siegtor, sondern auch später noch das ein oder andere Mal. Etwa in der 78. Minute, als der Ball bei den Isländern in 35 Sekunden über zwölf Stationen lief und nach einem exzellenten Flankenwechsel bei Birkir Mar Saevarsson landete, der beinahe noch das 3:1 machte. Es war erneut eine Kombination zum Niederknien. Genau das ist das Konzept Islands und der Grund für den Sieg gegen England. Aber bitte nicht Frankreich verraten. Gareth Joswig
Gareth Joswig
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Nach dem Anschlag auf Moskauer Flughafen: Leichtes Spiel für Terroristen - taz.de
Nach dem Anschlag auf Moskauer Flughafen: Leichtes Spiel für Terroristen Kremlchef Dmitri Medwedjew wirft Innenministerium und Geheimdienst indirekt Versagen vor und will härter durchgreifen. Terrorerfahnder sind skeptisch. Blumen am Ort des blutigen Anschlags auf den Moskauer Airport Domodjedowo. Bild: dapd MOSKAU taz | Lena Andronowa stellt sich vor als "Terrorbegleiterin", als sie an der Station Sportiwnaja der Metro entsteigt. Die Frau ist am Morgen nach dem Blutbad auf dem Flughafen Domodjedowo wie jeden Tag mit der Metro fast durch die ganze Stadt zur Arbeit gefahren. "Terrorbegleiterin" nennt sie sich mit einem gequälten Lächeln, weil sie schon zweimal Anschlägen in der Untergrundbahn um Haaresbreite entkam. Das letzte Mal im März vergangenen Jahres, als sich zwei Selbstmordattentäterinnen im Untergrund in die Luft sprengten. Eine davon unter dem Gebäude des russischen Geheimdienstes FSB. Besondere Sicherheitskontrollen, wie sie Präsident Dmitri Medwedjew unmittelbar nach dem Terrorakt am Montagabend angeordnet hatte, will Andronowa auf der Fahrt durch die Stadt nicht bemerkt haben. "Mehr Miliz als üblich war heute auch nicht unterwegs", sagt sie. Es sei wie jeden Tag gewesen. Das hätte auch etwas Gutes, meint sie: Kaukasier, dunkelhäutige Gastarbeiter und Russen standen friedlich nebeneinander. Das hätte auch anders sein können. Denn die ersten Ermittlungen gehen davon aus, dass das Attentat von Terroristen aus dem Nordkaukasus verübt wurde. "Natürlich haben die Menschen Angst und erwarten, dass die Behörden für Sicherheit sorgen", sagt sie. Es ist eine Hoffnung, an die aber niemand ernsthaft glaube. Staat und Volk führen in Russland ein Eigenleben. Der Terror und das Entsetzen führen beide für einen Moment zusammen. "In ein, zwei Wochen ist der Schrecken vergessen und niemand erinnert sich mehr daran", sagt sie. Auch die erhöhte Alarmbereitschaft werde wieder erschlaffen, sagt sie schulterzuckend. Viele Moskauer würden ihr beipflichten. Wie immer nach solchen Anschlägen geben sich die Behörden betriebsam. Der Kreml verspricht Aufklärung, "totale Kontrolle" und harte Strafen. Vor allem wird nach den Schuldigen gesucht, die den Terrorakt zugelassen haben. Ins Fadenkreuz des Kremlchefs geriet zunächst die Sicherheitsabteilung des Flughafens. In der Tat hatten die Terroristen leichtes Spiel. Die Eingänge in die Wartehalle, wo der Anschlag stattfand, wurden nicht kontrolliert, Metalldetektoren funktionierten nicht oder waren nicht installiert. Der Flughafen wies unterdessen darauf hin, dass die Kontrolle dem russischen Innenministerium obliegt, das seiner Aufgabe nicht nachgekommen ist. In demokratischen Staaten hätte dieses Versäumnis zur Folge, dass Innenminister, Polizeichef und Geheimdienstboss entlassen würden. In der politischen Ordnung der russischen Machtvertikale ist dies nicht der Fall. Denn nicht die Sicherheit der Bürger steht im Mittelpunkt der Ordnungsbehörden, sondern die Sicherung der Macht der Bürokratie und der politischen Elite. Das, so meinen viele russische Kommentatoren, sei auch der Grund, warum die Verhinderung des Terrors durch russische Geheimdienste so ineffektiv sei. Indirekt stimmte dem auch Kremlchef Medwedjew zu: Dem Innenministerium und Geheimdienst warf er in der eilig einberufenen Notsitzung vor, dass die terroristische Bedrohung in Russland größer sei als in den USA. Die Terrorbekämpfung sollte die wichtigste Aufgabe des Geheimdienstes sein, sagte Medwedjew. Ähnliches hatte er bereits nach dem letzten Anschlag auf die Metro gefordert. Kurz vorher im Herbst 2009 hatte er in seiner Rede an die Nation den Nordkaukasus gar zur schwierigsten Problemregion erklärt und das Konfliktgebiet als eins der drängendsten innenpolitischen Probleme bezeichnet. Die Sicherheitsorgane zogen daraus keine Konsequenzen. Das politische System bewegt sich im Leerlauf, die Steuerbarkeit ist kaum noch gewährleistet. Im Nordkaukasus zeigt sich dies am deutlichsten, die Region unterliegt nur noch formal der russischen Gesetzgebung, das Leben strukturieren Tradition und die islamischen Gesetze der Scharia. Die Identität des Attentäters von Domodjedowo steht noch nicht fest. Auffällig ist indes, dass sich russische Sicherheitsbeamte zum Stand der Ermittlungen nur anonym äußern. Bislang kursieren zwei Versionen. In einer soll es sich um eine Frau gehandelt haben, die andere geht von einem Mann kaukasischen Aussehens aus. Auf jeden Fall sollen beide nicht allein gehandelt haben. Auf Videoaufnahmen sind drei Helfershelfer zu erkennen. Sie sollen dem Geheimdienst nicht nur bekannt, sondern seit längerem auch zur Fahndung ausgeschrieben sein. Außerdem verdichten sich die Hinweise, dass der Geheimdienst früh über einen geplanten Anschlag auf einen der Moskauer Flughäfen informiert worden sei. Silvester sprengte sich in Moskau versehentlich beim Hantieren mit einer Bombe eine Frau aus dem Kaukasus in die Luft. Ihre tschetschenische Komplizin konnte später mit einer Sprengladung festgenommen werden. Die Spur führte zu wahhabitischen Emiren in Dagestan, die die "schwarzen Witwen" mit tödlichem Auftrag in der Neujahrsnacht nach Moskau geschickt hatten. Um zu wissen, dass der Untergrund nach einer fehlgeschlagenen Operation nicht einfach aufgibt, muss man kein Terrorexperte sein. Für Mittwoch ordnete Präsident Medwedjew in Moskau und Umgebung Staatstrauer an.
Klaus-Helge Donath
Kremlchef Dmitri Medwedjew wirft Innenministerium und Geheimdienst indirekt Versagen vor und will härter durchgreifen. Terrorerfahnder sind skeptisch.
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Von allem, was gut ist, reichlich - taz.de
Von allem, was gut ist, reichlich WUCHTBRUMME Ein Stollen enthält viel Butter und Mehl, dazu kommen getrocknete und kandierte Früchte, Zucker und Gewürze. Wer ihn isst, verleibt sich eine bald 700-jährige Geschichte ein Richtung Dresden■ Selbst backen – das Rezept: http://goo.gl/uR6Dl8■ Backen lassen – Bezugsquellen für original Dresdner Stollen: http://goo.gl/Ti9nng (sm) VON SIBYLLE MÜHLKE Stollen – auch Stolle, Striezel, Christbrot oder Klöben – ist die kulinarische Gegenthese zum zierlichen Adventskeks. Während man locker einen langen Nachmittag damit verbringen kann, zwei Handvoll feiner Plätzchen herzustellen und zu dekorieren, hat man nach einer ordentlichen Stollen-Session gleich mehrere Kilo des butter-, zucker- und rosinenlastigen Hefekuchens. Nach dem Backen brechen allerdings erst mal schwere Zeiten an: Der Appetit muss gezügelt werden, bis das Festtagsgebäck durchgezogen ist. Denn backfrisch schmeckt Stollen einfach nur fettig, süß und belanglos. Das besondere Aroma entwickelt sich erst mit der Zeit, nach einigen Wochen der Lagerung. Wenn er kühl liegt – optimal sind Temperaturen zwischen 3 und 10 Grad –, hält sich Stollen ewig. Er eignet sich also für verschiedene Genusstypen: gargantuanische Gierschlunde können angesichts der prachtvollen Größe eines Stollens ordentlich reinhauen; wer sich Genusserlebnissen sicherheitshalber nur in geringer Intensität aussetzt, kann sich jeden Tag ein millimeterdünnes Scheibchen absäbeln – und das theoretisch so lange, bis die Märzenbecher wieder blühen. Noch viel länger als die Haltbarkeit des schweren Hefegebäcks ist seine Tradition. Der Begriff Stollen geht auf das Althochdeutsche Wort stollo zurück, was so viel heißt wie Pfosten oder Stütze. Vorläufer unseres heutigen Festtagskuchens – damals ein schlichtes Weizengebäck, aber schon mit der charakteristischen Langform – gab es bereits im 14. Jahrhundert. Darüber, ob der Urstollen Fasten- oder Festtagsspeise war, ist man sich nicht ganz einig. Einerseits war so ein helles Weizenbrot damals ein ziemlicher Luxus, andererseits wurden diese Protostollen vor allem zum Adventsfasten gebacken und verzehrt. Den Sachsen jedenfalls war das Gebäck bald zu frugal. Ende des 15. Jahrhunderts erwirkten Kurfürst Ernst von Sachsen und sein Bruder Albrecht bei Papst Innozenz VIII. persönlich eine Befreiung von dem bis dahin geltenden strengen Butterverbot. Die wurde auch gewährt, allerdings mit einem kleinen Haken: Der geschäftstüchtige Papst gestattete zwar den sächsischen Bäckern, statt Rüböl gute Butter an den Teig zu tun – diese mussten dafür aber auch ein bisschen Geld für den Kirchenbau spenden. In den folgenden Jahrhunderten taucht der Stollen in der ein oder anderen Form immer mal wieder in historischen Dokumenten auf. Seinen nächsten richtig großen Auftritt hat er dann aber 1730 beim Zeithainer Lustlager. Das Event mit dem suggestiven Namen war eine von August dem Starken in der Nähe von Riesa veranstaltete Truppenschau mit wenig militärischer Strenge und viel barocker Pracht, die schon damals europaweit Furore machte und als Jahrhundertspektakel gilt. Dort wurde ein meterlanger, knapp zwei Tonnen schwerer Stollen aufgetragen, der 24.000 Gäste satt gemacht haben soll. Mehl, Eier, Milch und Hefe sind als Zutaten des historischen Zeithainer Stollenmonsters überliefert. Wann Mandeln, Rosinen, kandierte Früchte und Gewürze in die Rezeptur geraten sind, ist nicht ganz klar. In jedem Fall gehören sie heute zum Rezept des Dresdner Stollens, dem gehaltvollsten und – berücksichtigt man die vielen sächsischen Komponenten in der Striezelhistorie – sicherlich auch klassischsten Stollen von allen. Was genau in den Dresdner reindarf, ist längst gesetzlich geregelt. Dresdner Stollen ist patentiert, die Herkunftsangabe ist geschützt – damit hat das rosinige Hefegebäck denselben Status wie etwa Lübecker Marzipan, Bamberger Hörnle oder das schwäbisch-hällische Landschwein. Angeblich war die Anerkennung der Bezeichnung „Dresdner Christstollen“ sogar Gegenstand der deutsch-deutschen Einigungsgespräche. Identitätsstiftend ist der Stollen nicht nur für Regionen und Staaten, sondern auch für Individuen. Die einen essen ihn am liebsten lastwagenweise, können sich Weihnachten ohne nicht vorstellen und würden lieber auf Tanne und Lametta verzichten als auf ihren Stollen. Die anderen verabscheuen das schwere Gebäck wegen der Rosinen oder der gutbürgerlichen Konnotationen. Doch eins ist klar: Ganz gleich, ob man ihn mag oder verschmäht, der Stollen ist eine weihnachtliche Konstante. Und das bleibt er hoffentlich auch noch ein paar hundert Jahre.
SIBYLLE MÜHLKE
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■ MediaBazaar: Marcel Ophuls kämpft um Final Cut - taz.de
■ MediaBazaar: Marcel Ophuls kämpft um Final Cut Berlin (taz) – Mit einem wütendem Brief hat Marcel Ophuls auf das Ansinnen des Bayerischen Rundfunks reagiert, seinen Film „The Memory of Justice“ in einer auf weniger als die Hälfte gekürzten Fassung auszustrahlen. „Die zuständigen Redakteure“, schreibt Ophuls, „können mir von jetzt ab den Buckel runterrutschen.“ Ophuls' Film über die Nürnberger Prozesse dauert in vollständiger Fassung knapp 280 Minuten, der Bayerische Rundfunk will ihn für einen arte-Themenabend im Herbst, den er betreut, auf 120 bis 140 Minuten kürzen und dabei die Teile über den Vietnamkrieg ausklammern. Gegenüber der taz klagte Ophuls, daß Fernsehredakteure bei Dokumentarfilmen besonders ignorant seien. „Sie sind neidisch, weil ich den Final Cut habe, anders als sie selbst, wenn sie fürs Fernsehen drehen. Es geht mir gar nicht darum, ob mein Film Kunst ist, sondern um die ,Signatur‘. Mein Name steht unter dem Film, also möchte ich entscheiden, wie er aussieht.“
taz. die tageszeitung
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Bedrohliche Stimmung vor Jahrestag: Präsident Mursi spaltet Ägypten - taz.de
Bedrohliche Stimmung vor Jahrestag: Präsident Mursi spaltet Ägypten Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Muhammad Mursi bereitet sich das Land auf ein politisches Kräftemessen vor. Millionen unterschrieben für Neuwahlen. Klare Ansage einer Demonstrantin: Herr Mursi, bitte gehen Sie jetzt. Bild: dpa KAIRO taz | Es ist ein wenig so, als ob ein ganzes Land einfach zusieht, wie sich auf einer eingleisigen Strecke zwei Züge entgegenkommen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in Ägypten dieses Wochenende zum Aufprall kommt. Seit Tagen herrscht im Nilland eine angespannte Atmosphäre. In den Supermärkten kommt es zu Hamsterkäufen. Die Menschen holen sich noch ausreichend Bargeld vom Automaten. Um die bedrohliche Stimmung noch zu verstärken, ist die Armee an den strategisch wichtigen Punkten Kairos mit Panzern aufgefahren. In der Nacht zu Samstag starben bei Protesten bereits drei Menschen. Mitarbeiter und Familienangehörige der US-Botschaft verließen nach Angaben aus Sicherheitskreisen per Flugzeug das Land. Spätestens am Sonntag wird die Konfrontation zwischen dem islamisch-konservativen und dem liberalen Lager einen neuen Höhepunkt erreichen. Es ist die Tamarud, die sogenannte Rebellenbewegung, die den 30. Juni, den Jahrestags des Amtsantritts des von den Muslimbrüdern stammenden Präsidenten Muhammad Mursi, auf den Terminkalender aller Ägypter gesetzt hat. Wo sind bloß unsere Intellektuellen? Die Titelgeschichte „Auf der Suche nach Adorno“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. Juni 2013. Darin außerdem: „Die verneinte Idylle": Eine Fotoreportage über sterbende Dörfer. Und der Streit der Woche zur Frage: „Stuttgart, Rio, Istanbul: Schafft Wohlstand Protest?" Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Die Kampagne behauptet, über 18 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben, um Mursi das Vertrauen zu entziehen und vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu fordern. Mursi war 2012 mit 13,2 Millionen Stimmen gewählt worden. „Wir wollen unsere Revolution fortsetzen und die Rechte zurückerobern, die uns von Mursi und den Muslimbrüdern weggenommen wurde. Wir wollen unsere ägyptische Identität verteidigen“, erklärt Muhanad Ramadan, einer der Koordinatoren der Kampagne. Er erwartet, dass die Ägypter am 30. Juni in Massen auf die Straße gehen, um Mursi die Rote Karte zu zeigen. Aber auch die Muslimbrüder mobilisieren für Freitag noch einmal ihre Anhänger zu einer Großdemonstration in Kairo. „Die machtlose Opposition versucht nun in einer Allianz mit Vertretern des alten Regimes, das Land illegitim in eine Spirale des Chaos, der Verwirrung und der Zerstörung zu schicken“, heißt es in einer Erklärung der Freiheit- und Gerechtigkeitspartei FJP, die von den Muslimbrüdern gegründet wurde. Kampf bis zum Letzten „Der Aufruf für den 30. Juni ist ein Aufruf zur Gewalt, zu einem Blutbad und zu Vandalismus“, erklärt deren Generalsekretär Hussein Ibrahim. Und besonders unter den Verbündeten der Muslimbrüder, einem Teil der Salafisten, herrscht Endkampfstimmung. „Wir werden alles opfern, um die Legitimität zu schützen“, erklärt Assem Abdel Maged, jener Mann, der den Tod des in Deutschland lebenden Islamkritikers Hamed Abdel Samad gefordert hatte. Der Ton hat sich auf beiden Seiten in den letzten Wochen extrem verschärft. Die Gegner der Muslimbrüder bezeichnen diese nur noch als Schafe. Die Islamisten marschierten letzte Woche auf ihrem Millionenmarsch unter dem Motto „Nein zur Gewalt, ja zur Legitimität“ mit Plakaten, auf denen sie ihren politischen Gegnern eine Schlinge um den Hals gelegt haben. Das mag auch an den zweifelhaften Bündnispartnern beider Lager liegen. Die Muslimbrüder paktieren inzwischen mit dem radikalsten Teil der Salafisten, die sich in Kampf gegen die Ungläubigen sehen. Die Opposition bekommt Unterstützung von Vertretern des diskreditieren alten Regimes. Ihr einziges Ziel es ist, das neue Ägypten zu sabotieren, um zu beweisen, dass das alte unter Mubarak besser war. Zwei Welten Dabei sind zwei Parallelwelten entstanden. Die Muslimbrüder argumentieren, dass sie die demokratische Legitimität besitzen und dass die Opposition durch ihre Proteste wirtschaftliche Fortschritte zerstört und dass Vertreter des alten Regimes im Staatsapparat alle Initiativen des Präsidenten sabotieren. Die Opposition und die Rebellenkampagne erklären dagegen, dass die Ägypter dem Präsidenten das Vertrauen entzogen hätten. Der habe ursprünglich versprochen, der Präsident aller Ägypter zu sein, habe seitdem aber nur seine eigenen Anhänger in den Schaltstellen des Staates platziert. Eine Politik, die „Muslimbruderisierung“ genannt wird. Die Gegner Mursis weisen auf die sich verschlechternden Lebensverhältnisse hin, Stromausfälle, Preissteigerungen und eine hohe Kriminalitätsrate. Sie verweigern den Dialog mit Mursi. Dieser hatte in seiner Rede am Mittwoch vorgeschlagen, ein Versöhnungskomitee zu schaffen. Ein Angebot, dass die Opposition ablehnen werden wird. Die Gegner Mursis spüren Aufwind. In einer aktuellen Umfrage haben drei von fünf Ägyptern angegeben, Tamarud zu kennen. Noch letzten November, bei einer anderen Umfrage, war nur einem Drittel der Befragten das wichtigste Oppositionsbündnis, die „Nationale Rettungsfront“, ein Begriff. Euphorie und Trotz Tatsächlich hat sich in den letzten Wochen etwas qualitativ verschoben. Das erste Mal haben die Liberalen durch Tamarud auch in den Armenvierteln, Kleinstädten und Dörfern mobilisiert und so ein Potenzial geschaffen, das bei den nächsten Wahlen entscheidend sein könnte. Die Gegner Mursis befinden sich in einem euphorischen Gemütszustand, als sei die Absetzung des Präsidenten nur noch reine Formsache. Bei den Muslimbrüdern herrscht dagegen eine trotzige Stimmung, wie bei Belagerten in einer Festung. Und über alldem steht die Frage: Wie wird sich die Armee verhalten, sollte es am Wochenende zu einer Konfrontation zwischen beiden Seiten kommen? Armeechef und Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi hatte noch vor wenigen Tagen erklärt, dass sich die Armee aus der Politik heraushalten werde, die Streitkräfte aber bereit seien, zu intervenieren, um das Land davor zu bewahren, in einen „dunklen Tunnel“ zu geraten. Welche Form eine solche Intervention annehmen könnte, bleibt offen.
Karim Gawhary
Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Muhammad Mursi bereitet sich das Land auf ein politisches Kräftemessen vor. Millionen unterschrieben für Neuwahlen.
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Brandanschläge gegen Schulen in Eswatini: Erst Unruhen, dann Zerstörung - taz.de
Brandanschläge gegen Schulen in Eswatini: Erst Unruhen, dann Zerstörung In Eswatini folgen auf Gewalt des Staates Brandanschläge gegen Schulen. Dies beeinträtchtigt den Start ins neue Schuljahr. Im Juni schon kam es bei Protesten zu Bränden, wie hier in Manzini an einem Supermarkt Foto: afp MBABANE taz | Nach den schwersten Unruhen in der Geschichte des unabhängigen Eswatini (früher Swaziland), steht nun zu Beginn des neuen Schuljahres nach den Winterferien die Zukunft Tausender Kinder auf der Kippe. In dem Land, das eines der sozial ungleichsten der Welt ist, sind in den vergangenen Wochen zahlreiche Schulen angezündet worden – sie waren als Symbole des Staates angegriffen worden. In Eswatini hatten Polizei und Armee Ende Juni Proteste gegen die absolute Herrschaft des seit 1986 regierenden Königs Mswati III. gewaltsam niedergeschlagen. Nach Schätzungen waren dabei über 100 Menschen zu Tode gekommen. Polizei und Militär hätten exzessive Gewalt gegen die prodemokratischen Forderungen eingesetzt und damit einen Frontalangriff auf die Menschenrechte begonnen, erklärte nach den Unruhen die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Schon damals kam es in der Folge zu Plünderungen und Beschädigungen von Schulen. Das Klima bleibt angespannt. Das Bildungswesen in Eswatini ist ohnehin durch die langen Corona-Lockdowns seit Frühjahr 2020 schwer angegriffen. Nun kommen die Zerstörungen hinzu. Mindestens ein Dutzend Schulen ist in der jüngsten Ziel von Brandanschlägen geworden, zumeist im Monat August. Diejenigen Schulen, die bereits während der Proteste im Juni angegriffen wurden, sind dabei nicht mitgerechnet. In der Velebantfu High School der Stadt Hlatikulu im Süden des Landes etwa wurde dabei ein Labor zerstört, an der Mhubhe High School am Rand von Eswatinis größter Stadt Manzini ging das Rektorat samt Einrichtung in Flammen auf. Auch Grundschulen sind zerstört worden, so in der Stadt Shiselweni. In der Jerusalem Primary School warf ein Unbekannter eines Morgens gar eine Brandbombe in das Klassenzimmer der Erstklässler. Zum Glück waren sie noch nicht da. Protestierende verlangten Schulboykott Das Bildungsministerium des Landes äußerte sich schockiert und fragte, wieso die Bürger erst mit ihren Steuern Schulen bauen und sie dann zerstören wollten: „Die meisten angezündeten Schulen wurden mit dem Schweiß und der harten Arbeit der Gemeinschaften errichtet“, sagte Bildungsstaatssekretär Bertram Stewart. „Das Anzünden von Schulen ist nicht nur ein Rückschlag für die Entwicklung, sondern verhindert auch gute Bildung.“ Bei einer Reise nach Shiselweni, das mit acht angegriffenen Schulen Zentrum der Anschläge war, verurteilte Bildungsministerin Lady Howard Mabuza die „schändlichen Gewaltakte“. Dort hatten die Anschläge auf Schulen während der Demokratieproteste im Juni begonnen. Eine Einrichtung in Hosea wurde angezündet, woraufhin Protestierende vier andere Schulen besetzten und drohten, sie niederzubrennen. Sie verlangten einen Schulboykott, um ihrer Forderung nach Freilassung inhaftierter Demokratieaktivisten Nachdruck zu verleihen. Premier Cleopas Dlamini warnte, dass Kriminelle und Brandstifter sich unter dem Banner des politischen Aktivismus verbergen. „Die Polizei wird ihre Ermittlungen intensiveren, um die Kriminellen zur Rechenschaft zu ziehen, die Schulen, Unternehmen und Infrastruktur anzünden, sowie all jene, die auf sozialen Medien Gewalt, Hass und Terrorismus verbreiten“, sagte er.
Sambulo Dlamini
In Eswatini folgen auf Gewalt des Staates Brandanschläge gegen Schulen. Dies beeinträtchtigt den Start ins neue Schuljahr.
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Kein sicherer Hafen - taz.de
Kein sicherer Hafen Aktivist*innen des Bündnisses „Together we are Bremen“ protestieren gegen die geplante Abschiebung eines jungen Senegalesen nach Italien. Seit einer Woche sitzt er in Haft Von Moritz Warnecke Am Donnerstag haben Aktivist*innen am Polizeipräsidium in der Vahr gegen die geplante Abschiebung des Senegalesen Momodou Ba nach Italien demonstriert. Seit einer Woche befindet Ba sich in Abschiebehaft. Die Aktivist*innen kritisieren, dass die Erklärung Bremens zum „sicheren Hafen“ nur ein Lippenbekenntnis sei. Etwa 50 Demonstrant*innen versammelten sich auf der Rückseite des Präsidiums, in Ruf- und Sichtweite von Bas Zelle. Durch den Spalt seines auf Kipp gestellten Zellenfensters winkte Ba den rufenden AktivistInnen mit einer Pappe zu. Dass so viele Menschen gegen eine einzelne Abschiebung protestieren, ist nicht selbstverständlich. Aber: Ba kennt viele der Anwesenden, ist selbst Mitglied im Solidaritätsbündnis „Together we are Bremen“, das sich gegen Abschiebung und für einen besseren Umgang mit Geflüchteten ausspricht. Im vergangenen Jahr hatte das Bündnis, bestehend aus Migrant*innen und deutschen Staatsbürger*innen, unter dem Namen „Shut down Gottlieb-Daimler-Straße“ erfolgreich gegen das Erstaufnahmelager für geflüchtete Minderjährige in der Gottlieb-Daimler-Straße protestiert. Mit dabei war auch Momodou Ba. Wie viele andere ist Ba als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland gekommen. Seine Flucht führte ihn durch die Wüste und über das Mittelmeer – eine lebensbedrohliche Route. In Italien wurde Ba registriert. Dorthin will man ihn nun abschieben – die Dublin-Verordnung macht das möglich. Dabei sind Mittelmeerstaaten wie Italien mit der großen Zahl an geflüchteten Menschen längst überfordert. Die Erstaufnahmelager sind überfüllt, in den Unterkünften herrschen menschenunwürdige Zustände. Die Asylantragsverfahren verlaufen sehr schleppend. „Für viele Bremer*innen mag Italien ein schönes Reiseziel sein – für Momodou bedeutet es eine Abschiebung in die Obdach- und Perspektivlosigkeit,“ sagt Simone Behrends von „Together we are Bremen“. Für die Aktivistin Rosa, die ihren echten Namen nicht nennen möchte, ist es nicht akzeptabel, „dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft eine solche Ungerechtigkeit erfahren müssen“. Deshalb sei bei ihr die Hoffnung groß gewesen, als der Bremer Senat 2018 Bremen zum „sicheren Hafen“ erklärte. Seitdem habe sich nichts verändert. „Auf dem Papier sind wir vielleicht ein sicherer Hafen, in der Praxis wird aber weiter abgeschoben“, sagt Rosa. Auf Anfrage der taz teilt die Innenbehörde mit: „Die gemeinsame Erklärung ‚Stadtstaaten bleiben sichere Häfen‘ der Bürgermeister von Berlin, Bremen und Hamburg bezieht sich nicht auf die Personen, die sich nach Feststellung der Zuständigkeit in Bremen aufhalten.“ Für die Bedingungen in den nach der Dublin-Verordnung zuständigen Mitgliedstaaten sei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig. „Für uns ist jede Person wichtig“, sagt Rosa. „Wir werden nicht aufhören zu protestieren, bis Momodou frei kommt.“
Moritz Warnecke
Aktivist*innen des Bündnisses „Together we are Bremen“ protestieren gegen die geplante Abschiebung eines jungen Senegalesen nach Italien. Seit einer Woche sitzt er in Haft
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Die Skepsis der Polen - taz.de
Die Skepsis der Polen Polen bereitet sich auf den EU-Beitritt vor. Mit der verrückten Währungsunion aber wollen die meisten Leute nichts zu tun haben  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser „Die spinnen, die Deutschen“, ist der Taxifahrer überzeugt und lenkt seinen Mercedes durch die Warschauer Innenstadt, „werfen ihre gute Deutsche Mark weg für irgend so 'nen Euro oder so. Wenn es der Dollar wäre, das würde ich ja noch verstehen, aber Euro? Andererseits: Die Deutsche denken sich alle 50 Jahre irgendeine Katastrophe aus, erst Marx, dann Hitler, jetzt Euro. Na, ich hab' meine Mark alle schon in Dollar getauscht. Wenn es diesmal kracht, verliere ich wenigstens nicht mein ganzes Geld.“ In Polen werden die Wechselkurse von Mark und Dollar sehr genau verfolgt. In den großen Städten wie Danzig, Posen, Lodsch oder Warschau kennt fast jeder den aktuellen Tageskurs. Der Zloty eignet sich bei einer Inflationsrate von rund 13 Prozent nicht zum Sparen. Also wird das Geld in hochverzinslichen Staatsobligationen oder Fremdwährungen angelegt. Da der Dollar im letzten Jahr gegenüber dem Zloty 20 Prozent zugelegt hat, die Mark aber nur sieben, werden inzwischen fast alle größeren Transaktionen in Dollar abgewickelt. Selbst Mietverträge auf D-Mark-Basis wurden abgeändert. Die schlechte Entwicklung der D-Mark ist für die meisten Polen ein Zeichen, daß es mit der Wirtschaft Deutschlands bergab geht. Doch die Flucht in den Euro werde alles nur noch schlimmer machen und möglicherweise auch noch die Nachbarn mitreißen. Im „Informationszentrum für die Integration Europas“ stapeln sich die Broschüren und Briefsendungen. „Pro Monat gehen hier 400, manchmal 500 und noch mehr Anfragen ein“, erläutert Anita Slotwinska vom Informationszentrum. „Wir beantworten alle individuell, verschicken Dokumente wie den Maastrichter Vertrag oder das EU-Weißbuch der Regierung. Der absolute Renner der letzten Wochen ist die Broschüre über den Euro.“ Das rosarote Heft informiert auf 24 Seiten über die Geschichte des Europäischen Währungssystems, den Zeitplan für die Einführung des Euro und die möglichen Konsequenzen für Polen. Auf dem Titelbild prangt ein 500-Euro-Schein. Er wirkt allerdings, als habe der Erfinder dieser Kunstwährung ein bißchen tief ins Glas geguckt und den Büroturm als derangierte Schwangere gesehen. Die beiden Nullen eiern haltlos ins Leere. Und die Fünf rutscht schwer und kopfüber hinterher. Anita Slotwinska hebt abwehrend die Hände: „Das hat nichts mit Euro-Skeptizismus zu tun! Ein Druckfehler, ein Maleur, nichts weiter.“ Zwei Stockwerke höher aber stellt Agata Chróśeicka, die Pressesprecherin des Komitees, unverblümt fest: „Manchmal hat es Vorteile, noch nicht Mitglied der Europäischen Union zu sein. Wenn das Experiment mit dem Euro schief geht, haben wir wenigstens keine Milliarden Zloty in den Sand gesetzt. Und wenn es klappt, können wir bei unserem Einstieg alle Anfangsfehler vermeiden.“ Sie verweist auf Dänemark, Schweden und Großbritannien, die explizit erklärt haben, bei der ersten Runde noch nicht dabeisein zu wollen. „Das sind reiche Länder, die die Konvergenzkriterien für die Währungsunion erfüllen. Und trotzdem wollen sie noch nicht mitmachen. Sie warten lieber ab, wie sich das Experiment entwickelt. Das Risiko, daß das Abenteuer Euro eine Riesenpleite wird, ist immerhin nicht ganz ausgeschlossen.“ Dennoch bereitet sich Polen nicht nur intensiv auf den Beitritt zur Europäischen Union vor, sondern versucht auch, die Stabilitätskriterien für den Euro so schnell wie möglich zu erreichen. Beim Haushaltsdefizit und der Staatsverschuldung würde Polen die Beitrittskriterien bereits heute erfüllen. Zum ersten Mal seit ein paar Jahren konnte Polen in diesem Januar sogar einen Haushaltsüberschuß verzeichnen. Das Problem ist die Inflationsrate von zur Zeit 13 Prozent. Erlaubt sind laut Maastricht nur 1,5 bis zwei Prozent. Auch Diskont- und Lombardsatz liegen mit 24,5 und 27 Prozent noch sehr hoch. Doch die Angst vor einer Überhitzung des Marktes – immerhin wächst das Bruttosozialprodukt seit einigen Jahren um fünf bis sechs Prozent jährlich – läßt es ratsam erscheinen, die Zinssätze nicht abzusenken. Wenn die Kredite nämlich billiger würden, könnte die Inflationsrate wieder steigen. Sollte alles gut gehen und der Euro sich tatsächlich bewähren, will Polen im Jahre 2006 für die Währungsunion fit sein.
Gabriele Lesser
Polen bereitet sich auf den EU-Beitritt vor. Mit der verrückten Währungsunion aber wollen die meisten Leute nichts zu tun haben  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
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Revolution in Ägypten: "Wir gehen nicht, er geht!" - taz.de
Revolution in Ägypten: "Wir gehen nicht, er geht!" Panzer rollen auf den Tahrir-Platz zu, aber die Demonstranten halten sie auf. Im Tiefflug donnern Kampfjets über Kairo. Männer fegen die Straße, die jetzt ihnen gehört. Am Tahrir-Platz in Kairo. Bild: dapd KAIRO taz | Langsam rollt die Panzerkolonne am Ägyptischen Museum im Zentrum Kairos entlang. "Das Militär und wir sind ein und dasselbe", rufen die Menschen, klatschen und jubeln dem Militär zu. Soldaten winken zurück. An der Atmosphäre zwischen Armee und Demonstranten hat sich bislang nichts geändert, obwohl das ägyptische Staatsfernehen seit den Morgenstunden ein für die Demonstranten demoralisierendes Bild im Viertelstundentakt wiederholt: Mubarak sitzt im Krisenstab der Armee inmitten der versammelten Militärführung. Doch die Demonstranten hoffen weiterhin, dass sich die Armee auf der Straße auf ihre Seite schlagen wird. Auch wenn manche nun etwas vorsichtig geworden sind. Denn als die Panzerkolonne in Richtung des Tahrir-Platzes, des Platzes der Befreiung, rollt, der in den letzten Tagen zum Symbol für den Widerstand gegen das ägyptische Regime geworden ist, ändert sich die Atmosphäre. Auch an diesem Mittag hatten sich zehntausende Demonstranten dort versammelt, als plötzlich jemand laut rief, dass die Panzer im Auftrag Mubaraks den Platz besetzen wollten. Binnen weniger Minuten verbreitete sich die Warnung in dutzendfachen Echos. Und es dauert nur wenige Minuten, da hat sich die Menge vor den Führungspanzer gestellt. Jemand ruft: "Wir gehen nicht, er geht!" Sofort hallt der Ruf über den Platz. Ein Mann steigt auf den Panzer und fordert die Demonstranten auf, sich den Befreiungsplatz nicht nehmen zu lassen, auch nicht von der Armee, und macht ein Zeichen, sich vor die Panzer zu setzen. Hunderte folgen seinem Aufruf. Zwei Militärpolizisten bitten den Mann höflich, abzusteigen. Ein Offizier verkündet mit einem Megafon, dass die Panzer auf dem Weg zum Innenministerium seien, zur verhassten Zentrale des Polizei- und Staatssicherheitsapparats. Die Demonstranten beginnen untereinander zu diskutieren. Das ist eine der faszinierenden Beobachtungen: Sie haben keinerlei politische Führung, aber sie besprechen von Minute zu Minute, wie es weitergehen soll. Es ist, als würde das Wort "Volksaufstand" an den Ufern des Nils neu erfunden, der ägyptische Aufstand hat nicht einen, sondern viele Köpfe. "Die wollen uns reinlegen", rufen einige. "Die wollen in Wirklichkeit unseren Platz besetzen. "Wenn ihr zum Innenministerium wollt, könnt ihr auch diese Seitengasse nehmen", ruft einer. Das wird schnell zum Konsens. Sie öffnen den Weg und bilden ein Spalier, damit die Panzer dorthin abbiegen können. Doch schon nach zwei Panzern schließt sich das Menschenmeer wieder. Und das Ganze wird wieder zu einem Kräftespiel zwischen der Armee und den Demonstranten. Mit der großen offenen Frage, wem die Loyalität der Soldaten gehört. In immer tieferen Flügen donnern Kampfjets über die Stadt. Die Demonstranten machen Siegeszeichen zum Himmel. "Jede Bewegung ist ein Segen, es kann alles nur besser werden", spricht sich einer der Demonstranten Mut zu. Völlig bizarr wirkt die Gruppe von Männern, die in dem Trubel die Straße fegen. "Wir machen das, weil das unser Platz und unsere Straße ist", sagt einer. Auf die Frage, warum er nicht schon letzten Monat auf die Idee gekommen ist, das zu machen, antwortet er: "Weil da die Straße noch Mubarak und seinem Sicherheitsapparat gehörte." Wenn er nicht die Straße kehrt, ist er Apotheker, erzählt er noch, um hektisch weiterzuarbeiten, so als ob er das Regime mit dem Besen hinwegfegen könnte. Zu diesem Zeitpunkt ist die Menge bereits auf hunderttausend Leute angeschwollen - genau zu dem Zeitpunkt, als die offizielle Ausgangssperre der Armee beginnt. Die Kampfjets hatten mit ihrem Dröhnen Kairo darauf aufmerksam gemacht, dass etwas Besonderes geschieht. Als die Menschen ihre Fernseher einschalten und die Bilder vom Befreiungsplatz sahen, haben sich viele auf den Weg gemacht. Einen halben Kilometer weiter spielt sich eine andere Szene ab. Eine Gruppe Soldaten hat drei mutmaßliche Plünderer gefasst. Ihre Augen sind verbunden, ihre Arme gefesselt. Die Soldaten schlagen auf sie ein. Immer wieder versuchen Passanten, sich auf die Männer zu stürzen. Sie rufen: "Bringt ihnen bei, was wirkliche Moral ist", bevor sie die Soldaten am Ende wegführen. Wer sind die Plünderer? Die Wut ist groß. Viele glauben, dass ein Plan hinter den Plünderungen steckt. Das sind ehemalige Offiziere der Staatssicherheit", ruft einer der Passanten. "Wer hat die Gefängnisse denn aufgemacht und die Kriminellen rausgelassen?", fragt ein anderer. Keiner weiß genau, was wirklich bei den Plünderungen vor sich geht. Aber die Vermutung, dass das Chaos ein Teil der Taktik von Präsident Mubarak ist, damit die Menschen wieder nach ihm und seinem Sicherheitsapparat rufen, macht die Runde. Tausende Häftlinge machen die Straßen unsicher, die die chaotische Lage zu ihrer Flucht genutzt haben. Aus Kreisen der Sicherheitskräfte verlautete, mindestens vier Haftanstalten seien betroffen. Mehrere Häftlinge sollen getötet worden sein. Angesichts der Massenproteste hatte Mubarak am Samstag seine Nachfolge geregelt: Erstmals seit seinem Amtsantritt 1981 ernannte er einen Stellvertreter. Vizepräsident soll der Geheimdienstchef Omar Suleiman werden. Die Personalentscheidung wurde als Kehrtwende von seinem dynastischen Kurs gesehen, bei dem sein Sohn Gamal als favorisiert galt. Als Nachfolger von Ministerpräsident Ahmed Nasif benannte Mubarak den Luftfahrtminister Ahmed Schafik. Unterdessen berichtete das Staatsfernsehen, die Hauptstadtbüros von Al-Dschasira seien geschlossen worden. Es ist wie so vieles in Kairo: Keiner weiß genau, warum etwas geschieht, aber jeder weiß, dass Ägypten nie wieder so sein wird wie zuvor.
Karim Gawhary
Panzer rollen auf den Tahrir-Platz zu, aber die Demonstranten halten sie auf. Im Tiefflug donnern Kampfjets über Kairo. Männer fegen die Straße, die jetzt ihnen gehört.
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Der Oberst mit dem Mahagoni - taz.de
Der Oberst mit dem Mahagoni In Uganda führt die Ausplünderung des Kongo durch ugandische Militärs erstmals zu einem politischen Skandal. Belasteter Umweltminister lässt Waldschützer verhaften BERLIN taz ■ Oberst Otafiire fackelte nicht lange. Ein Dutzend bewaffnete Polizisten in Zivil umstellten die Residenz von Ugandas oberstem Waldschützer Fred James Okello und schossen um sich. Okello versteckte sich drei Stunden lang im Dach eines Nachbarhauses, bevor die Polizei ihn in der Nacht zu gestern festnahm und dann sein Haus auf den Kopf stellte. Die Beamten handelten auf Weisung von Umweltminister Otafiire, der kurz zuvor Okello als Chefermittler von Ugandas Waldschutzbehörde entlassen und durch seinem eigenen Neffen ersetzt hatte. So endete vorerst der bisher mutigste Versuch, in Uganda hohe Militärs zur Rechenschaft zu ziehen, die die Reichtümer der benachbarten Demokratischen Republik Kongo zur privaten Bereicherung nutzen. Okello hatte im August auf einer Landstraße im Westen Ugandas fünf Lastwagen mit 320 kongolesischen Mahagoni-Baumstämmen beschlagnahmen lassen, die Oberst Otafiire gehörten. Otafiire, zu Zeiten von Ugandas Militärintervention im Kongo 1998–2003 hochrangiger Truppenkommandant und Kongo-Sonderberater des ugandischen Präsidenten, hatte seinen neuen Posten als Umweltminister offenbar falsch verstanden und sich in Großgeschäfte mit Tropenholz gestürzt. Die Mahagonistämme hatte er von einem befreundeten kongolesischen Geschäftsmann gekauft und darauf keinerlei Steuern oder Zölle bezahlt, so Okellos Beschuldigung. Mit einem der mächtigsten Männer Ugandas legt sich aber ein einfacher Beamter nicht so leicht an. Okello wurde zwar erst im Mai von Staatschef Yoweri Museveni beauftragt, dem grassierenden Tropenholzeinschlag in Uganda Einhalt zu gebieten. Aber auf kongolesischen Wald erstreckt sich seine Kompetenz offenbar nicht. Otafiire, seit vielen Jahren eine der mächtigsten Figuren in Ugandas Regierung, wird in Untersuchungen der UN-Sonderkommission zur illegalen Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Kongo als ein führendes Mitglied des ugandischen „Elitenetzwerks“ genannt, das seine Stellung als Schutzmacht kongolesischer Rebellenführer zum privaten Vorteil nutze. Otafiire, so die UN-Ermittler in ihrem vorläufigen Abschlussbericht von Oktober 2002, soll sich per Steuerbefreiung den Benzinhandel in der Region um die ostkongolesischen Städte Beni und Butembo unter den Nagel gerissen haben. Als Umweltminister war Otafiire danach für Ugandas Waldbehörde zuständig. So reagierte er auf Okellos Beschlagnahmung seiner Baumstämme mit der Entlassung des Ermittlers und erklärte: „Ich habe noch nie mit Holz gehandelt.“ Gestern enthüllte Ugandas staatliche Tageszeitung New Vision allerdings, Otafiire und 28 andere Größen der ugandischen Regierung würden nun wegen Holzschmuggel vom mächtigen Generalinspektorat der Regierung untersucht. Wie es weiter hieß, verfüge die Waldbehörde über belastendes Material gegen sechs Minister, darunter ein stellvertretender Premier. Außerdem habe sie Tropenholz von 19 hochrangigen Militärs beschlagnahmt. Der Feldzug gegen illegalen Holzhandel dürfte Ugandas Präsident Museveni gerade recht kommen, der sich nach dem Abzug seiner Armee aus dem Kongo als Saubermann profilieren will, während die UN-Kommission über die Ausplünderung des Kongo soeben ihre Arbeit wiederaufgenommen hat. Bereits vor zwei Jahren ermittelte eine Untersuchungskommission in Uganda, dass Mahagoni aus dem Kongo den ugandischen Markt überflute und die Wälder Nordostkongos in „alarmierendem“ Tempo schrumpften. Mit den Baumstämmen seien auch Mineralien geschmuggelt worden. Bis heute sind die nordostkongolesischen Grenzposten Kasindi und Aru, über die dieser Handel läuft, unter Kontrolle von Freunden ugandischer Generäle. DOMINIC JOHNSON
DOMINIC JOHNSON
In Uganda führt die Ausplünderung des Kongo durch ugandische Militärs erstmals zu einem politischen Skandal. Belasteter Umweltminister lässt Waldschützer verhaften
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die gute nachricht: In immer mehr Ländern wird queerer Sex entkriminalisiert - taz.de
die gute nachricht: In immer mehr Ländern wird queerer Sex entkriminalisiert Grafik: Anna Eschenbacher, Johanna Hartmann, Francesca Morini. / Quelle: Ilga World Database. / Fotos: Unsplash Obwohl es weltweit immer wieder Rückschläge für LGBTIQ+ gibt, so gibt es auch sie noch: die Fortschritte, die hoffen lassen. Weltweit wird immer häufiger queerer Sex entkriminalisiert. Das fand der Internationale Verband der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans und Intersexuellen (ILGA) heraus. Letztes Jahr waren es Antigua und Barbuda, Barbados und Saint Kitts and Nevis, die entsprechende Gesetze abschafften – und zuletzt kam Singapur dazu. Der Paragraf 337A, der 1938 von britischen Kolonialherren eingeführt wurde, sah für queeren Sex zwei Jahre Gefängnis vor. Er war schon von der singapurischen Regierung aktualisiert worden, nun wurde er ganz abgeschafft. Gleichzeitig jedoch wurde die Ehe in Singapur festgeschrieben zwischen einer Konstellation von Frau und Mann. Gesetze anderswo werden strikter: Ein Gesetz aus Uganda, ebenfalls aus der Kolonialzeit, wurde kürzlich verschärft – queeren Menschen droht damit die Todesstrafe. Queere Menschen leben also nicht zwangsweise sicherer, sie müssen sich ihre Rechte weiterhin erkämpfen. Nicole Opitz
Nicole Opitz
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Kommentar EU und Griechenland: Mehr war nicht drin - taz.de
Kommentar EU und Griechenland: Mehr war nicht drin Ein neues EU-Kreditpaket für Griechenland wird es erstmal nicht geben. Das ist zugleich der perfekte Einstieg in den Europa-Wahlkampf von Samaras. Geht es auch für ihn aufwärts? Regierungschef Antonis Samaras. Bild: dpa Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem stellte Athen am Dienstag zwar weitere Finanzhilfen gegen EU-Reformauflagen in Aussicht; auf eine Debatte über ein neues Rettungspaket oder gar eine Umschuldung für das krisengeplagte Land wollte er sich aber nicht einlassen. Aber auch nach Ablauf des Rettungspakets Ende 2014 wird die EU Griechenland weiterhin unter die Arme greifen müssen – oder dafür sorgen, dass die griechische Wirtschaft chinesische Wachstumsraten aufweist, wodurch das Schuldenproblem auch gelöst wäre. Aussprechen darf man diese Wahrheiten vor der Europawahl noch nicht. Man kann aber andeuten, dass die Eurogruppe noch auf offizielle Eurostat-Daten wartet. So könnte die EU-Statistikbehörde bereits Ende April den neu erwirtschafteten „Primärüberschuss“ im griechischen Haushalt bestätigen. Demnach nimmt Griechenland erstmals seit elf Jahren mehr Geld ein, als es ausgibt, wenn man die Zinsen nicht mitrechnet. Aus Sicht von Samaras wäre das der Anfang vom Ende der Schuldenkrise. Und der perfekte Einstieg in den Europa-Wahlkampf. Nach aktuellen Umfragen liefern sich seine konservative Regierungspartei und die linksoppositionelle Syriza unter Alexis Tsipras ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die EU-Partner haben ein Interesse daran, der Samaras-Koalition zum Sieg zu verhelfen. Tsipras weiß das, setzt aber weiterhin auf Konfrontation und will ein „Ende des Memorandums“ mit der aus EU, IWF und EZB bestehenden Troika. Läuft alles gut, wird diese ohnehin bald das Ende des Memorandums verkünden. Möglichst noch in diesem Jahr. Die Linksopposition hingegen braucht dringend ein Konzept für den „Tag danach“, das die EU einbindet und die eigene Regierungsfähigkeit unter Beweis stellt. Mehrheitsfähig ist diese Einsicht allerdings noch nicht.
Jannis Papadimitrou
Ein neues EU-Kreditpaket für Griechenland wird es erstmal nicht geben. Das ist zugleich der perfekte Einstieg in den Europa-Wahlkampf von Samaras.
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Rechtsextreme AfD-Strömung: Verwirrung um Flügel-Auflösung - taz.de
Rechtsextreme AfD-Strömung: Verwirrung um Flügel-Auflösung Die AfD-Spitze will, dass die rechtsextreme Strömung sich auflöst. Höcke gibt dazu ein Interview mit Interpretationsspielraum. Kalbitz dementiert. Glück fürs Gemeinwohl: Auch AfDler müssen wegen Corona zu Hause bleiben Foto: dpa BERLIN taz | Der Bundesvorstand der AfD hat am Freitag beschlossen, dass sich der „Flügel“ bei einem Treffen am heutigen Samstag auflösen soll. Das Treffen aber fand nicht statt – es wurde, so hieß es, wegen Corona abgesagt. Stattdessen ging am Abend ein Interview von Björn Höcke, einem der Anführer des „Flügels“, online. Der „Flügel“ sei wichtig gewesen, sagt Höcke darin. Aber: „Nun brauchen wir einen Impuls, der über den Flügel hinausweist und die Einheit der Partei betont.“ Von einer Auflösung ist nicht die Rede – und doch geisterte genau diese Nachricht schnell durch die Medien und die sozialen Netzwerke. Andreas Kalbitz, der gemeinsam mit Höcke an der Spitze des „Flügels“ steht, dementierte dies gegenüber der taz: „Ein formaler Beschluss oder eine Entscheidung zur Auflösung des ‚Flügels‘ zum jetzigen Zeitpunkt ist mir nicht bekannt“, sagte Kalbitz. Wie so oft, lassen Höckes Formulierungen einen gewissen Interpretationsspielraum zu. In dem Interview, das ausgerechnet der neurechte Verleger Götz Kubitschek mit Höcke geführt und auf der Seite seiner Zeitschrift „Sezession“ online gestellt hat, sagt der „Flügel“-Mann: „Der Bundesvorstand ist das höchste Exekutivorgan der Partei. Als Konservativer pflege ich die Institutionen, auch wenn ich weiß, welche irrationalen Dynamiken in mehrstündigen Sitzungen solcher Gremien ablaufen können.“ Und gibt damit dem „höchsten Exekutivorgan“ seiner Partei gleich einen mit. Keinen Zweifel lässt Höcke daran, dass er in der AfD weiter machen will: „Unsere Arbeit weist über den Flügel hinaus, Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen „Flügler“ werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen“, so Höcke. „Diejenigen aber, die den ‚Flügel‘ missverstanden haben und ihn verfilzen wollten, werden nicht mithalten können – genausowenig wie diejenigen in der Partei und im Bundesvorstand, die auf Kosten ihrer Parteifreunde allzu gute Kontakte zum Establishment suchen.“ Das dürfen diese wohl durchaus als Drohung verstehen. Angst vor Hochstufung zum „Verdachtsfall“ Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte in der vergangenen Woche den „Flügel“ als rechtsextrem eingestuft und erklärt, dieser sei eine „erwiesen extremistische Bestrebung“, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte. In der AfD hat seitdem die Sorge, die Partei als Ganzes könne „zum Verdachtsfall“ hochgestuft werden, stark zugenommen. Insbesondere aus den westdeutschen Landesverbänden wurde gefordert, Konsequenzen zu ziehen und Sanktionen gegen den „Flügel“, aber auch gegen Björn Höcke und Andreas Kalbitz, die beiden „Flügel“-Anführer, persönlich einzuleiten. Letzteres blieb am Freitag aus. Aus Sicht von Wolfgang Schröder, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, macht der Beschluss des Bundesvorstands die AfD weder weniger gefährlich noch weniger rechtsextrem. „Die Gefahr des Rechtsextremismus innerhalb der AfD ist ja nicht nur durch den ‚Flügel‘ in dieser festen Struktur gegeben. Sondern die Vertreter einer solchen Haltung sind weit über den ‚Flügel‘ hinaus in der AfD präsent“, sagte Schröder der taz. „Die, die das gestern beschlossen haben, sind ja eng verbandelt mit dem Flügel. Sie leben mit ihm, sie leben von ihm“, so der Politikwissenschaftler, der jüngst ein Buch zur AfD herausgegeben hat. „Das, was wir gerade erleben, ist möglicherweise eine riesige Inszenierung, wo das Sichtbare unsichtbar gemacht wird.“ Denn personelle Konsequenzen habe der Beschluss nicht. Höcke, Kalbitz und Co. blieben nach wie vor in der Partei und könnten weiterhin den Ton angeben. Die Gefahr könne sogar noch größer werden: „Das ist eine gefährliche Kombination aus Unsichtbarmachung und Selbstverharmlosung.“ Schröder hält es durchaus für denkbar, dass der Flügel sich „im Sinne einer Überlebensstrategie“ in Bälde formal auflöst. „Aber nicht, um sich inhaltlich neu auszurichten, sondern ihre bisherige Arbeit auf anderen Wegen fortzusetzen.“
Sabine am Orde
Die AfD-Spitze will, dass die rechtsextreme Strömung sich auflöst. Höcke gibt dazu ein Interview mit Interpretationsspielraum. Kalbitz dementiert.
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Neue EU-Taskforce: Infokrieg gegen Russenpropaganda - taz.de
Neue EU-Taskforce: Infokrieg gegen Russenpropaganda Mit einer publizistischen Sondertruppe will Brüssel russischen Falschmeldungen begegnen. Doch die Wirkung ist fragwürdig. Wladimir Putin und die Chefredakteurin von Russia Today (RT), Margarita Simonyan. Foto: ap BRÜSSEL taz | Seit dem 2. November 2015 wird zurückgeschossen. Nicht mit Waffen, aber mit Worten. An diesem denkwürdigen Montag begann die europäische „Taskforce Stratcom East“ in Brüssel, Falschmeldungen aus Moskau zu dokumentieren und richtigzustellen. „IS-Kämpfer fliehen in die Ukraine, um dort zu kämpfen“, hieß so eine Ente, die Moskau am 23. Oktober in die Welt setzte. „Nationalisten aus der Ukraine und die IS-Terroristen werden von ein und derselben Zentrale gesteuert“, meldeten russische Medien am 25. Oktober. Fein säuberlich haben dies die neun Experten der neuen EU-Taskforce aufgeschrieben, die streng abgeschirmt von der Außenwelt im Prachtbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes im Brüsseler Europaviertel arbeiten. Unter Leitung des Briten Giles Portman – eines Türkei-Experten – bringen sie jede Woche eine detaillierte „Disinformation Review“ heraus. Die strotzt vor Lügen und Propaganda – allein im ersten Rundbrief wurden 46 russische Falschmeldungen aufgelistet. Ihnen will die EU nun wahre Fakten und gute Nachrichten entgegensetzen, um im „Informationskrieg“ gegen Russland, der mit dem Umsturz in der Ukraine voll entbrannt ist, nicht den Kürzeren zu ziehen. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn den Brüsseler „Infokriegern“, die auf Wunsch Großbritanniens und der baltischen Staaten engagiert wurden, stehen nur bescheidene Mittel zur Verfügung. Während Russland mit der geballten Kraft seiner staatlichen Medien auf ganz Europa zielt – allein in Deutschland soll „Russia Today“ fünf Millionen Menschen erreichen –, steht der neuen Brüsseler Taskforce nicht einmal ein eigener Sender zur Verfügung. Besuch und Nachfrage unerwünscht Portman und sein Team aus russischsprachigen Journalisten und PR-Experten müssen sich vor allem auf Twitter und andere soziale Medien verlassen, um ihre Korrekturen zu verbreiten. Sie haben auch kein eigenes Budget, sondern werden aus dem Haushalt der EU für „strategische Kommunikation“ mitfinanziert. Bei der Abwehr russischer „Trolls“ und ihrer Kampagnen im Internet ist die Taskforce zudem auf fremde Hilfe angewiesen. 450 auf Osteuropa spezialisierte Journalisten, Blogger und Experten melden fehlerhafte und falsche russische Berichte nach Brüssel, wo sie dann in den wöchentlichen Newsletter eingehen. Doch die Richtigstellungen erreichen bisher nicht einmal die mehr als 1.000 akkreditierten EU-Korrespondenten in Brüssel. Das liegt auch daran, dass Stratcom East die Öffentlichkeit scheut. Ihre Chefin, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, lässt keine Besuche von Journalisten in der neuen Stabsstelle zu. Auch kritische Nachfragen werden abgewehrt. Das hat paradoxe Folgen: Während die europäischen Wahrheiten zum Konflikt in der Ukraine nur tröpfchenweise nach außen dringen, ist in Brüssel eine heftige Debatte über die Frage entbrannt, ob sich die EU überhaupt in die Arbeit der Medien einmischen darf. „Die EU versucht, eine Mauer des Misstrauens zwischen unseren Völkern zu errichten“, kritisiert der russische EU-Botschafter Wladimir Tschischow. Das „ideologische Kommando“ erschwere die Zusammenarbeit etwa im Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Offensive mit Gegenpropaganda Entschieden anderer Meinung ist Rebecca Harms, Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament. Es sei doch der Kreml, der die Medien zur gezielten Desinformation nutze. „Ich habe wirklich Angst vor der russischen Propaganda, denn der Kreml finanziert Marine Le Pen und den rechtsextremen Front National in Frankreich und versucht gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, in der Ukraine seien Faschisten am Werk.“ Die Stratcom-Initiative sei eine gute Sache, findet Harms. Vielen geht die europäische Antwort auf die russische Propagandaoffensive nicht weit genug. Der Kreml richte seine Botschaften gezielt auf die russischsprachige Minderheit in Europa, so ein litauischer Diplomat. Die EU müsse dagegenhalten. „Wenn wir stark wären, könnten wir einen eigenen TV-Sender auf Russisch aufmachen. Aber das kann Generationen dauern.“ Zu wenig, zu langsam – diese Kritik richtet sich nicht nur an die EU in Brüssel, die nach der Annektierung der Krim lange Zeit sprachlos war. Sie richtet sich auch an die Bundesregierung in Berlin, die hochfliegende Pläne für neue europäische Sender nicht mittragen wollte. Euronews und die Deutsche Welle müssten reichen, so die deutsche Haltung. Es gehe nicht darum, die russische Propaganda mit Gegenpropaganda zu kontern, sondern vielfältige Medien aufzubauen und professionellen Journalismus zu fördern, betont Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Diese Haltung vertritt auch Mogherini. Ihr geht es nicht um den Aufbau einer PR-Agentur, sondern um Politik. Der Auftrag von Stratcom Ost sei das „Vorantreiben der politischen EU-Ziele in der östlichen Nachbarschaft“, heißt es klipp und klar im Aktionsplan der EU-Außenbeauftragten. Im Fokus stehen nicht nur Russland und die Ukraine, sondern auch Georgien, Moldau, Weißrussland, Armenien und Aserbaidschan. Transparenz auf Twitter Diese Klarstellung hat allerdings für neue Unruhe gesorgt. Es handle sich um den „Versuch, Russland auch an der Medienfront zu destabilisieren“, kritisiert der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko von der Linken. Die EU werde dabei von den USA und der Nato unterstützt, sogar die OSZE lasse sich in den neuen kalten Infokrieg einspannen. Die Infokrieger schweigen zu ihren Kooperationspartnern. Sie legen auch nicht alle Quellen offen. Nur auf Twitter lassen sie sich in die Karten schauen. Neuerdings geht es dabei nicht mehr nur um Osteuropa, sondern auch um Libyen und die Türkei. Sogar ein Vorfall in der Ägäis schaffte es in den Propaganda-Report. Ein russischer Zerstörer hatte Schüsse auf ein türkisches Fischerboot abgegeben – angeblich, um eine Kollision zu vermeiden. Dabei hätten die Fischer nicht einmal geahnt, dass sie sich einem Kriegsschiff nähern, meldet Stratcom Ost. Woher man das im fernen Brüssel so genau weiß, bleibt allerdings im Dunkeln. Die Experten beziehen sich auf das Portal Yahoo, eine EU-Quelle wird nicht genannt. Klar ist nur, dass sich die Kampfzone ausweitet.
Eric Bonse
Mit einer publizistischen Sondertruppe will Brüssel russischen Falschmeldungen begegnen. Doch die Wirkung ist fragwürdig.
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Energie-Volksentscheid in Berlin: „Ein ’Ja‘ ist gut für die Sache“ - taz.de
Energie-Volksentscheid in Berlin: „Ein ’Ja‘ ist gut für die Sache“ Selbst die Konkurrenz empfiehlt, für ein Stadtwerk zu stimmen: So werde die Energiewende vorangetrieben, sagt Oliver Hummel von der Naturstrom AG. Die Initiative Energietisch wirbt für ein "Ja". Bild: dpa taz: Herr Hummel, am Sonntag können die Berliner beim Volksentscheid für ein Stadtwerk stimmen, das ausschließlich Ökostrom erzeugt und verkauft. Sollten sie das tun? Oliver Hummel: Ja, das sollten sie. Wir als Naturstrom AG stehen der Idee der Rekommunalisierung und dem Engagement der Bürger sehr positiv gegenüber. Berlin wäre auch nicht die erste große Stadt in Deutschland, die diesen Weg gehen würde. Vorbild ist da Hamburg. Ein „Ja“ bei der Abstimmung wäre also gut für die Sache? Genau. Für uns steht immer im Vordergrund, dass die Bürger Einflussmöglichkeiten in Sachen Energie haben – gerade wenn es um die Frage geht, wie die Energie erzeugt und genutzt wird. Dies ist ja eines der Ziele der Initiative in Berlin. Somit sehen wir darin eine gute Alternative zu den großen Energiekonzernen, die ganz weit weg von ihren Kunden sind. Naturstrom ist eine Aktiengesellschaft, sie arbeiten gewinnorientiert, in Berlin haben sie gut 25.000 Kunden. Eigentlich müssten Sie sich gegen einen weiteren Wettbewerber aussprechen. Ach Gott. Es gibt so viele Leute und Firmen, die sich auf dem Markt in Deutschland tummeln. Es existieren etwa tausend kommunale und auch nicht kommunale Stadtwerke, die Bürger haben überall die Auswahl zwischen mindestens 100 Anbietern. Und trotzdem sind wir in den vergangenen Jahren immer gewachsen. Unsere Kundenzahlen steigen auch in Hamburg, obwohl der städtische Energieversorger Hamburg Energie, der ebenfalls Ökostrom liefert, sich gleichfalls gut entwickelt. Über einen weiteren Konkurrenten mache ich mir da keine großen Gedanken. Uns geht es nicht nur um unseren eigenen wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch um die richtige Entwicklung auf dem Strommarkt insgesamt – hin zur Energiewende. im Interview:42, ist Vorstand der Naturstrom AG. Sie wurde 1998 von 16 Menschen aus dem Bereich der Umweltverbände wie dem BUND und dem Nabu gegründet und hat bundesweit über 230.000 Kunden. Ein Großteil der Bürger scheint gar nicht wechseln zu wollen: In Berlin etwa dominiert der schwedische Energiekonzern Vattenfall, der Strom vor allem aus Braunkohle und Gas herstellt, immer noch mit einem Anteil von rund 80 Prozent. Glauben Sie, der Volksentscheid bringt Menschen dazu, ihren Stromanbieter auszutauschen? Der EntscheidDamit der Volksentscheid am 3. November Erfolg hat, müssen nicht nur mehr Berliner mit "Ja" als mit "Nein" stimmen. Es muss auch mindestens 625.000 Ja-Stimmen geben. Dann müsste das Land Berlin eine Betreibergesellschaft gründen, die das Stromnetz übernehmen soll, falls das Land die derzeit laufende Ausschreibung gewinnt. Außerdem müsste das Land dann Stadtwerke gründen. Beide Unternehmen müssten genau nach dem Konzept des Energietischs aufgebaut werden: In den Aufsichtsgremien würden direkt gewählte Bürger sitzen. Auch die Mitarbeiter der Unternehmen wären dort stark vertreten, der Senat dagegen nur schwach. Das Unternehmen hätte zudem das Ziel, den Haushalten und Unternehmen beim Energiesparen zu helfen. Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) kritisiert, die BerlinerInnen würden mit der Gründung eines Stadtwerkes falsche Erwartungen verbinden. Außerdem habe der Betrieb des Stromnetzes keinen Einfluss auf den Strommix. Die Mobilisierung läuft gut: Mehr als 200.000 Menschen haben bereits Briefwahlunterlagen beantragt. Zum Teil wird das sicherlich so sein. Aber natürlich wird es auch jene geben, die ohne ein solches regionales Stadtwerk zu uns oder einem anderen Anbieter gewechselt hätten. Das zur Abstimmung stehende Stadtwerk soll selbst demokratisch organisiert sein, es beinhaltet Strukturen zu Mitbestimmung. Naturstrom ist eine AG, sie bietet diese Möglichkeiten nicht. Ist das ein Nachteil? Erst einmal sagt die Rechtsform der AG ja nichts über den Umgang mit Anteilseignern und Bürgern aus. Der Dialog mit unseren fast 1.000 Aktionären war uns schon immer wichtig. Und Bürgernähe ist bei uns ein zentrales Thema: Wir sind bei unseren Erzeugungsanlagen vor Ort für die Bürger erlebbar. Dafür gibt es sogar einen eigenen Geschäftsbereich, der Bürgergenossenschaften berät und mit ihnen zusammenarbeitet. Dabei geht es oft auch um die Frage, wie sich die Bürger an der Energiewende beteiligen können. Manchmal realisieren wir Projekte auch gemeinsam mit Bürgern und den Stadtwerken vor Ort. Im laufenden Abstimmungskampf ist der Energiekonzern Vattenfall ein Feindbild, der böse Bube. Zu Recht? Die Energiekonzerne haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einiges dafür getan, dass sie so ein schlechtes Image haben, als nicht bürgernah gelten und eben nicht als Garanten der Energiewende angesehen werden. Sie haben sich im Bereich erneuerbarer Energien einfach nicht sonderlich engagiert – sondern vielmehr zehn Jahre lang versucht, die Energiewende zu bremsen. Und das machen sie in großen Teilen auch heute noch.
Bert Schulz
Selbst die Konkurrenz empfiehlt, für ein Stadtwerk zu stimmen: So werde die Energiewende vorangetrieben, sagt Oliver Hummel von der Naturstrom AG.
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Ein Auto für Viele: Erfolg durch teilen - taz.de
Ein Auto für Viele: Erfolg durch teilen Laut einer Studie ersetzen die 344 in Bremen stationierten Carsharing-Wagen mehr als 5.000 Privatautos. Das Wachstumspotenzial bleibt groß Um leidige Wartungen müssen sich Autoteiler nicht selbst kümmern Foto: Patrick Pleul (dpa) BREMEN taz| Carsharing ist in Bremen noch effektiver als gedacht, das ist das Ergebnis einer am Montag vorgestellten Studie. Derzufolge haben 2.352 Cambio-, Flinkster und Move-About-Kund*innen mit erstem Wohnsitz in Bremen ihr Privat-Auto abgeschafft, kurz bevor oder kurz nachdem sie zu Wagenteiler*innen wurden. Auf die Neuanschaffung eines PKW verzichtet sollen sogar 2.741 von ihnen haben. Weil Bremens Car-Sharing-Unternehmen derzeit eine Flotte von 344 Autos vorhalten, ergibt sich nach Hochrechnung von Untersuchungsleiter Hannes Schreier, dass jedes Car-Sharing-Fahrzeug hier 16 Privatwagen ersetzt. „Das ist eine deutlich höhere Parkraum-Entlastung, als wir sie zum Beispiel in München feststellen konnten“, so Schreier. Durchgeführt hatte die Untersuchung im vergangenen Sommer das Berliner Mobilitätsforschungsbüro „Team red“ im Auftrag des Umwelt- und Verkehrssenators. Ihre Methodik betont die Effizienz von Carsharing: Zum einen wurden die Bremer Kund*innen-Daten per online-Erhebung gesammelt. Etwas länger als 20 Minuten hat es im Schnitt gedauert, den Fragebogen auszufüllen. Die Folge ist ein Rücklauf, der mit 14 Prozent „im geringen, aber akzeptablen Bereich“ gelegen habe – und im Wesentlichen von besonders motivierten Autoteiler*innen stammen dürfte. Zum anderen wird jemand, der sein altes Auto abschafft und auf die Anschaffung eines Neuwagens verzichtet, hier doppelt gewertet, als hätte er zwei Wagen stillgelegt. Allerdings ist es laut Schreier „internationaler Standard, diese Werte zu addieren“ – und Vergleichbarkeit ist wichtig, gerade wenn sich Bremen einmal als Vorbild fühlen darf. Städte und Gemeinden könnten laut Willi Loose, dem Chef des Bundesverbands Carsharing „die Studie als Anlass nehmen, um Carsharing zu fördern“. Schließlich hat Bremen in diesem Bereich schon jetzt eine ungewohnt gute Ausstrahlung: So soll am Mittwoch im norwegischen Bergen der erste Mobilpunkt nach Bremer Modell eingeweiht werden. Und Nürnberg hat sich zusichern lassen, dass es seine Carsharing-Stationen auch Mobilpunkt nennen darf – mit Hinweis auf die freundliche Genehmigung der Freien Hansestadt. „Wir haben die Namensrechte am Begriff Mobilpunkt“, erläutert Michael Glotz-Richter, der bereits unter Reinhard Loske (Grüne) beim Verkehrssenator als Referent für nachhaltige Mobilität den Bremer Carsharing-Aktionsplan konzipiert hatte. Dessen Ziel, bis 2020 – nach der skizzierten Rechenweise – die Stadt um 6.000 PKW zu entlasten und mindestens 20.000 Nutzer*innen zu erreichen, bleibt ehrgeizig: Aktuell liegt die Zahl bei 14.800. Aber illusorisch scheint sie nicht: „Wir hatten im vergangenen Jahr ein Wachstum von 14 Prozent“, sagt Kerstin Homrighausen, Geschäftsführerin beim Platzhirsch Cambio. „Wenn wir das Tempo halten, sind wir im Mai 2020 bei 20.000.“ Und der Markt sei keineswegs gesättigt, sondern höchstens dadurch begrenzt, „dass wir noch nicht wissen, wie wir die wirklich Auto-affinen Leute ansprechen“. Als eine andere Wachstumsbremse könnte sich erweisen, dass „die jungen Menschen am Ende gar keinen Führerschein mehr machen“, so Homrighausen. „Wir bei Cambio wären aber die letzten, die sich über so eine Entwicklung beklagen würden.“ Als „nicht ganz so dynamisch“ bezeichnet der Leiter der Move-About-Kundenbetreuung, Markus Funke, das Wachstum seiner Firma: Möglich, dass manche noch mit Elektro-Autos fremdeln, auf die sich das Unternehmen spezialisiert habe. Vor allem ist der vor zehn Jahren gegründete zweite Bremer Anbieter noch weitgehend unbekannt: Nur acht Prozent der Bremer*innen kennen ihn, bei Cambio sind es 85 Prozent. Dass aber laut Studie 39 Prozent der KfZ-Besitzer*innen mit dem Gedanken spielen, ins Autoteilen einzusteigen, stimmt ihn optimistisch: „Das ist doch ein großes Potenzial.“
Benno Schirrmeister
Laut einer Studie ersetzen die 344 in Bremen stationierten Carsharing-Wagen mehr als 5.000 Privatautos. Das Wachstumspotenzial bleibt groß
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Prozess um Selbstmordpillen - taz.de
Prozess um Selbstmordpillen WUPPERTAL taz ■ Heute beginnt vor dem Wuppertaler Landgericht der Prozess gegen einen mutmaßlichen Internet-Händler von Medikamenten-Cocktails für Selbstmörder. 19 Lebensmüden soll der 23-jährige Angeklagte Pillen verkauft haben, sechs starben, sieben fielen bis zu einer Woche ins Koma. Zur Vermarktung seiner Produkte klinkte sich der Wuppertaler in Internetforen ein. Sein Verteidiger argumentiert, dass indirekte Sterbehilfe nicht strafbar sein kann: „Wogegen verstößt jemand, der einen Strick verkauft, auch wenn er weiß, dass sich der Abnehmer aufhängen will?“ MIB
MIB
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■ Für die taz beim Spiel: Not good, not bad, but rather ugly - taz.de
■ Für die taz beim Spiel: Not good, not bad, but rather ugly In dieser Saison berichten Gast-Reporter aus dem Weser-Stadion. Heute ist Holger Bruns-Kösters dran, der Ex-taz-Redakteur und jetzige Sprecher der Sozial-, Umweltundsoweiter-Senatorin Tine Wischer. Wenn es am 11.11. gegen Eintracht Frankfurt geht, dann wird der Gast in der Sport-Kombüse vom taz-Kulturdeck kommen: Der Wahl-Frankfurter und Kulturredakteur Thomas A. Wolff. Auch ein millionenschwerer Balltreter hat, wie sollte es anders sein, so seine Träume: Einmal so richtig böse sein, wenigstens als Filmstar unbarmherzig in der Gegend herumballern und wie Django ohne Rücksicht alle Feinde erledigen. Doch spätestens seit der 29. Minute des Spiels SV Werder Bremen gegen den FC St. Pauli ist klar: Die erträumte Identität hat mit dem wahren Charakter in der Regel überhaupt nichts zu tun. Da trat Werders Möchtegern-Westernheld und Aushilfskapitän Mario Basler aus elf Metern zum Shootdown gegen St. Pauli-Rambo Klaus Thomforde an. Das Ergebnis rechtfertigt bestenfalls eine Nebenrolle in der Sendung mit der Maus. Gemächlich kullert der Ball in die Arme des Torwarts. Die 29.966 auf den Rängen sind seit Baslers „Ihr habt alle 'ne Meise-Aktion“ so diszipliniert, daß kaum einer den Mund zu spitzen wagt. Die neue Bravheit ist ausgebrochen im Bremer Weserstadion. Der Trainer ist nett, die Spieler sind bemüht, und das Publikum äußert die Unzufriedenheit mit Werder '95 allenfalls im Zwiegespräch auf dem Nachhauseweg. Wieder nur ein Unentschieden gegen eine Mannschaft, die in der Tabelle unter Werder steht, wieder allenfalls passabel gespielt, wieder nach eine Führung das Spiel aus der Hand gegeben, und das, obwohl der Trainer wieder einmal seine Taktik lobt. „Einen Mann mehr im Mittelfeld“, hatte Aad de Mos während der 90 Minuten gesehen, doch was hilft's, solange der Cardoso heißt und so spielt, wie er das im Moment leider tut. „Hoffentlich lassen sie ihn in Bremen auch mal einen Freistoß schießen“, hatte sein früherer Trainer Volker Finke geunkt. In den ersten Spielen für Werder machte Cardoso noch den Eindruck, als teile er diese Hoffnung. Inzwischen hält er von jedem ruhenden Ball einen gehörigen Abstand. Allenfalls mal ein gelungenes Dribbling, die Pässe oft beim Gegner, die Lücke zwischen der Viererkette und dem Angriff müssen Werders Dauerläufer Bode, Wiedener und Votava schließen. Fleißig sind die allemal, der Schuß Genialität war aber noch nie die Sache der Bremer Arbeitsbienen. Den sollte neben Cardoso vor allem Neuverpflichtung Nummer zwei ins Spiel bringen, der Brasilianer Junior Baiano. Und schon wieder ein Mißverständis. Genial an Baiano ist vor allem, wie wunderschön ästhetisch er beim Kopfball die Unterschenkel hochklappt, ansonsten: Nach vorne bringt er ähnlich viel Impulse wie Uliii Borowka. Und dort wartet dann Neuverpflichtung Nummer drei, der brave Angelo Vier, von dem positiv einstweilen nur zu sagen ist: Falsch macht er eigentlich nichts, nur Tore schießt er auch nicht. Hier ein Tor und da ein Tor, hier ein verschossener Elfmeter und da einer, hier ein guter Thomforde und da ein guter Rost: Mehr war eigentlich nicht im Bremer Weserstadion. Zufrieden sind im Stadion nur die 5.000 Dauersänger aus Hamburg, aber so richtig unzufrieden sind auch die inzwischen eher introvertiereten Werder-Fans nicht. Nach elf Spielen scheinen sich die Bremer ganz still damit abgefunden zu haben, daß Werder '95 genau das ist, was die Tabelle ausweist: Mittelmaß, mit zwölf Punkten Abstand zu Bayern München und sechs Punkten Vorsprung zur Abstiegszone. Bleibt einstweilen nur ein Trost. Nachdem die St-Pauli-Kurve eine Halbzeit lang gezeigt hatte, welch wundervolle Akustik das Weser-Stadion doch hat, ging vom Stadionsprcher die Aufforderung an die Fans: „Zeigt den St-Pauli-Fans, was eine Bremer Kehle ist. Da geht nicht nur viel 'rein, da kommt auch viel 'raus.“ So eklig war's am Samstag denn doch nicht. Holger Bruns-Kösters
Holger Bruns-Kösters
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Politische Krise in Ägypten: Rätselraten um ElBaradei - taz.de
Politische Krise in Ägypten: Rätselraten um ElBaradei Mohammed ElBaradei sollte am Samstagabend als Übergangsregierungschef von Ägypten vereidigt werden. Doch daraus wurde erstmal nichts. Hoffnungsträger? Mohamed ElBaradei im April 2013. Bild: dpa KAIRO dpa | Ägypten sucht nach dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi weiter einen Chef für die Übergangsregierung. Die Ernennung von Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei zum Ministerpräsidenten wurde Stunden später von einem Präsidentensprecher dementiert. Offensichtlich gab es erheblichen Widerstand gegen ElBaradei. Der Sprecher von Übergangspräsident Adli Mansur betonte, es liefen Verhandlungen über die Besetzung des Postens. ElBaradei führe weiter Gespräche mit Mansur. Es gebe aber auch andere Kandidaten. In Ägypten gingen unterdessen die Demonstrationen weiter. Nach TV-Berichten versammelten sich erneut Anhänger und Gegner Mursis in Kairo. Auch für den heutigen Sonntag sind wieder Versammlungen beider Lager geplant, schrieb die Zeitung Al-Ahram online. Bei Ausschreitungen nach Massenprotesten gegen Mursis Absetzung waren am Freitag und in der Nacht zum Samstag nach Angaben des staatlichen Ambulanzdienstes mindestens 36 Menschen ums Leben gekommen, davon 16 durch Schüsse. Mehr als 1.100 weitere hatten Verletzungen erlitten. „Wir werden für ihn unsere Seelen opfern“ Der offene Machtkampf zwischen den neuen Machthabern und den islamistischen Unterstützern Mursis war am Vortag eskaliert. Der von den Religiösen ausgerufene „Freitag der Ablehnung“ gipfelte in landesweiten Massendemonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmern. Der Protesttag gegen den Militärputsch hatte ein chaotisches Nachspiel: In der Nähe des zentralen Tahrir-Platzes in Kairo prallten in den Abendstunden Mursis Anhänger und Gegner aufeinander, um sich heftige Straßenschlachten zu liefern. Sie bewarfen sich mit Pflastersteinen und gingen mit Stöcken, Brandsätzen und Feuerwerkskörpern aufeinander los. Die Sicherheitsleute griffen nicht ein. Zu Zusammenstößen kam es auch in Alexandria, Suez und in Al-Arisch auf dem Sinai. Im Norden des Sinai entglitt den Behörden die Kontrolle: Hunderte Islamisten stürmten in der Nacht zum Samstag den Sitz des Gouverneurs in Al-Arisch. Dutzende von ihnen hielten das Gebäude auch am Tag danach noch besetzt. Bewaffnete Extremisten erschossen in der Stadt einen koptisch-orthodoxen Priester. In der Nähe der oberägyptischen Stadt Luxor starben bei religiös motivierten Zusammenstößen vier Christen und ein Muslim. Die Muslimbrüder, aus deren Reihen Mursi stammt, riefen die Menge am Freitagabend bei ihrer Hauptkundgebung in Kairo auf, so lange auf der Straße zu bleiben, bis dieser wieder an der Macht sei. „Wir werden ihn (Mursi) auf unseren Schultern tragend (ins Amt) zurückbringen“, rief ihr Führer Mohammed Badia Zehntausenden zu. „Wir werden für ihn unsere Seelen opfern.“ Westerwelle gegen Gewalt Sowohl Mansur wie auch ElBaradei hatten in den letzten Tagen mehrfach betont, die Islamisten an der Regierung beteiligen zu wollen. Dies schlossen die religiösen Kräfte jedoch kategorisch aus. Mursi selbst bezeichnete seine Entmachtung als „klaren Militärputsch“. US-Präsident Barack Obama verurteilte die andauernde Gewalt in Ägypten und zeigte sich besorgt über die politische Polarisierung im Land. Wie das Weiße Haus am Samstag mitteilte, analysierte Obama in einer Telefonkonferenz mit dem Nationalen Sicherheitsrat die Lage in Ägypten. Der Präsident unterstrich erneut, dass die USA nicht mit einer bestimmten politischen Partei oder Gruppe in Ägypten verbunden seien oder sie unterstützten. Der künftige Weg des Landes könne nur von den Ägyptern selbst bestimmt werden. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief indes die ägyptischen Sicherheitsleute auf, die Demonstranten zu schützen. Polizei und Militär müssten alle gewaltsamen Zusammenstöße vermeiden, erklärte Ban am Samstag in New York. Zugleich rief er das ägyptische Volk auf, „sein Recht auf Demonstrationen ausschließlich friedlich auszuüben“. Bundespräsident Joachim Gauck forderte, zu einer Regierung zurückzukehren, die demokratischen Standards entspreche. Am Rande seines Besuchs in Finnland äußerte er zugleich Verständnis dafür, dass „in einer Situation, in der ein Bürgerkrieg droht, außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden“. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) rief zu einem Ende der Gewalt in Ägypten auf. Westerwelle sagte Bild am Sonntag: „Ich appelliere an alle Verantwortlichen, in dieser angespannten Lage nicht auf Gewalt zu setzen. Jetzt müssen zügig Schritte der Rückkehr zum demokratischen Transformationsprozess eingeleitet werden.“ Die Menschen hätten sich mit ihrer Revolution das Demonstrationsrecht, die Meinungsfreiheit und den Schutz vor staatlicher Willkür und politischer Verfolgung erkämpft. Das dürfe jetzt nicht preisgegeben werden.
taz. die tageszeitung
Mohammed ElBaradei sollte am Samstagabend als Übergangsregierungschef von Ägypten vereidigt werden. Doch daraus wurde erstmal nichts.
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Ende der royalen Schwangerschaft: Wölbt sich da wieder was? - taz.de
Ende der royalen Schwangerschaft: Wölbt sich da wieder was? Im Westen gibt es wenige Frauen, deren primäre Pflicht das Gebären ist. Unverhohlen beobachtet der Boulevard deshalb Kate. Diese Kate bleibt gertenschlank: Wachsfigur in Tokio. Bild: reuters WIESBADEN taz | Hat sie also doch noch geworfen? Schön. War ja auch höchste englische Eisenbahn. Zwar hat „Kate“ etwas geleistet, was Milliarden andere ebenso zuwege bringen. Dennoch wollen wir sie loben und preisen, weil jetzt endlich aufhört, was sich seit Monaten in geifernden Sätzen äußert wie: „Zwar ist sie immer noch gertenschlank, doch die Miniwölbung am Bauch war nicht zu übersehen“ oder „Unter Kates engem Sommerkleid zeichnen sich die Rundungen deutlich ab.“ Sex, Geburt, Trennung und Tod sind die vier metaphysischen Pfeiler des Boulevards. Aber nur bei der spekulativen Bauchbeobachtung ist er ganz bei sich. Wölbt sich was? Da wölbt sich doch was! Uiiii, wie süüüüß. Und da es in der westlichen Welt nicht mehr allzu viele Frauen gibt, deren primäre Pflicht das Gebären eines Stammhalters wäre, richtet sich alle Aufmerksamkeit umso unverhohlener auf die Herzogin: „Wann immer sie sich im Profil zeigte, hielt sie ihren Arm oder einen mächtigen Strauß Blumen vor den Unterleib“, schöpfte Cosmopolitan schon früh Verdacht: „Bisher verwehrten immerzu Mäntel den Blick auf Kates Rundungen.“ Ähnlich die Stuttgarter Zeitung: „War das royale Bäuchlein bisher kaum aufgefallen, sieht man der 31-Jährigen jetzt endlich auch an, dass sie im siebten Monat schwanger ist. Bei einem Besuch der britischen Pfadfinder im Schloss Windsor trug die Frau von Prinz William Lindgrün – und eine stolze Kugel vor sich her.“ „Braun gebrannt und gut erholt“ Sogar der MDR, debil wie immer, berichtete: „Braun gebrannt und gut erholt zeigte sie bei einem Termin in London öffentlich mit einem sichtbaren Bauch den Kameras (…) Gelegentlich schützend die Hand auf den Bauch legend war sie gut gelaunt und strahlte.“ Und die Bunte fasste zusammen: „Hatte sie ihre süße Babykugel sonst stets gut verhüllt, präsentiert Kate ihr Schwangerschaftsbäuchlein nun in voller Pracht.“ Was soll das? Woher diese schmierige Fixierung auf viszerale Vorgänge? Woher diese seltsam sublimierte Lust am Taxieren des weiblichen Körpers, seinen Schwellungen, seinen Rundungen, seiner „Pracht“. Es ist der gleiche Blick, der seit dem Pleistozän in allen Kulturen auf die junge Frau in ihrer Mitte gerichtet gewesen sein mag: Liefert sie endlich ein Kind? Es ist falsche Freude darüber, dass mit diesem Körper etwas geschieht, was er nicht verbergen kann. Schwangerschaft – also Brut, nicht Sex – legitimiert jeden Voyeurismus, solange er sich in den Mantel geheuchelter Anteilnahme hüllt. Wobei die Frau gar nicht anders kann, als ihrer angeblichen biologischen Bestimmung entgegenzuhecheln und diese damit noch zu affirmieren. Freilich bleibt die Mutter unter der Beobachtung des Pöbels. Schon bald wird sie dafür gelobt werden, dass keine Wölbungen mehr zu sehen sind. Oder wölbt sich da wieder was?
Arno Frank
Im Westen gibt es wenige Frauen, deren primäre Pflicht das Gebären ist. Unverhohlen beobachtet der Boulevard deshalb Kate.
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Dresdner Neonazis vor Gericht: Nach der Jagd auf Flüchtlinge - taz.de
Dresdner Neonazis vor Gericht: Nach der Jagd auf Flüchtlinge Den Angeklagten der „Freien Kameradschaft Dresden“ wird vorgeworfen, auf einem Stadtfest 2016 als Bürgerwehr Jagd auf Flüchtlinge gemacht zu haben. Polizisten führen einen Mann nach einer Razzia gegen die „Freie Kameradschaft Dresden“ zum Amtsgericht (Archiv 2016) Foto: dpa DRESDEN/LEIPZIG epd | Weil sie Jagd auf Flüchtlinge gemacht haben sollen, hat die sächsische Generalstaatsanwaltschaft einem Medienbericht zufolge drei mutmaßliche Mitglieder der Neonazi-Gruppe „Freie Kameradschaft Dresden“ (FKD) angeklagt. Einem 19 und einem 26 Jahre alten Mann werde Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen, berichtet die in Dresden erscheinende Sächsische Zeitung. Ein weiterer, 30-jähriger Angeklagter müsse bereits diesen Donnerstag wegen ähnlicher Vorwürfe vor Gericht. Den Männern wird demnach unter anderem vorgeworfen, auf dem Dresdner Stadtfest im August 2016 als Bürgerwehr Jagd auf Flüchtlinge gemacht zu haben. Dabei wurden mehrere Menschen teilweise schwer verletzt. Ende November 2016 durchsuchte die Polizei Wohnungen von Verdächtigen in Dresden, Freital und Heidenau. Sechs Männer wurden festgenommen. Inzwischen sitzen laut „Sächsischer Zeitung“ acht Männer in Untersuchungshaft. Insgesamt werde gegen 15 Verdächtige aus den drei Städten ermittelt. Dem Bericht zufolge sollen noch diesen Monat sechs weitere mutmaßliche „FKD“-Mitglieder angeklagt werden. Die Verdächtigen sollen dem Bericht zufolge auch mehrfach mit der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung „Gruppe Freital“ kooperiert haben, etwa bei Angriffen auf Asylbewerberheime oder auf das alternative Dresdner Hausprojekt „Mangelwirtschaft“ im Oktober 2015. Dem 26-jährigen Angeklagten wird laut Zeitung außerdem vorgeworfen, an den Krawallen im Leipziger Stadtteil Connewitz Anfang 2016 beteiligt gewesen zu sein. Dort hatten rund 200 Rechtsextreme randaliert und mehr als 100.000 Euro Sachschaden verursacht.
taz. die tageszeitung
Den Angeklagten der „Freien Kameradschaft Dresden“ wird vorgeworfen, auf einem Stadtfest 2016 als Bürgerwehr Jagd auf Flüchtlinge gemacht zu haben.
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Griechen retten Europas Banken - taz.de
Griechen retten Europas Banken EUROKRISE Griechischer Staatsbankrott vorerst verhindert. Neue Hilfsgelder sollen auf Sperrkonto fließen, um Schuldenrückzahlung zu garantieren. Gläubiger atmen auf BERLIN/BRÜSSEL taz/dpa/dapd Das zweite große Rettungspaket zur Abwendung eines griechischen Staatspleite ist geschnürt. Es umfasst 130 Milliarden Euro Hilfsgelder und einen Schuldenverzicht privater Gläubiger von 107 Milliarden. Auf diese Lösung einigten sich die Euro-Finanzminister am Dienstagmorgen. Griechenland muss mehr Kontrollen akzeptieren und einen Teil seiner Budgethoheit abgeben. Dazu gehört ein von Deutschland gefordertes Sperrkonto, von dem die Schulden zurückgezahlt werden sollen. Im Rahmen dieser Vereinbarungen erklärte sich der Privatsektor bereit, Athen einen Teil seiner Forderungen zu erlassen. Die Banken sollen auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen an Griechenland verzichten. Das bedeutet für Athen eine Entlastung um 107 Milliarden Euro. „Die Verluste werden beachtlich sein, aber sie sind begrenzt“, sagte der Chef des Internationalen Bankenverbandes (IIF), Charles Dallara. Der größte Vorteil für Athen und für die Investoren sei, „dass wir es geschafft haben, eine ungeordnete Pleite abzuwenden“. Der griechische Ministerpräsident Lucas Papademos bezeichnete die Einigung als „historisch“. Auch die öffentlichen Geldgeber legten drauf: Für die bilateralen Kredite des ersten Hilfspakets in Höhe von 110 Milliarden Euro, die im Mai 2010 Griechenland gewährt worden waren, halbieren sie die vereinbarten Zinsen. Der Finanzdruck in Athen ist immens: Am 20. März muss Griechenland 14,5 Milliarden Euro Schulden tilgen. Unklar bleibt, ob sich auch wieder der Internationale Währungsfonds (IWF) als Geldgeber einbringen wird. Am ersten Paket hatte sich der IWF zu einem Drittel beteiligt. IWF-Chefin Christine Lagarde machte einen bedeutsamen Beitrag des IWF von einer Aufstockung des neuen Eurokrisenfonds ESM abhängig. FLEE, LKW ➤ Schwerpunkt SEITE 4 ➤ Gesellschaft + Kultur SEITE 13
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EUROKRISE Griechischer Staatsbankrott vorerst verhindert. Neue Hilfsgelder sollen auf Sperrkonto fließen, um Schuldenrückzahlung zu garantieren. Gläubiger atmen auf
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■ In den deutsch-tschechischen Beziehungen kriselt es weiter: Kohls Salamitaktik - taz.de
■ In den deutsch-tschechischen Beziehungen kriselt es weiter: Kohls Salamitaktik Seit 1989 setzt die sudetendeutsche Landsmannschaft alle Hebel in Bewegung, um eine Normalisierung zwischen Tschechen und Deutschen zu hintertreiben. So ist es auch heute keine Übertreibung, von einer sudetendeutschen Lobby zu sprechen. Daß es sie gibt – vor allem in der CSU, aber keineswegs dort allein –, mag sogar positiv gedeutet werden: als Hinweis auf die geglückte Integration der Sudetendeutschen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Doch Verschwörungstheoretiker können vermuten, daß die deutsche Außenpolitik im Münchner „Sudetendeutschen Haus“ bestimmt wird. Die fleißigen Lobbyisten dort sind keineswegs das eigentliche Hindernis. Eher schon die Bereitschaft Helmut Kohls, das „sudetendeutsche“ Argument als Trumpfkarte in der Hinterhand zu halten. Ein erbärmliches Spiel mit dem Namen „Wer benutzt wen?“, das in Deutschland interessieren sollte. Wenn heute in Teilen des demokratischen tschechischen Spektrums der Geduldsfaden zu reißen scheint, so spiegeln sich darin weniger innenpolitische Probleme. Die Bereitschaft der tschechischen Öffentlichkeit, sich mit der Vertreibung der Deutschböhmen auseinanderzusetzen, war in den letzten Jahren groß. Sie ist es noch immer. Mit den Debatten über dieses Thema – oft kontrovers geführt, aber von einer erstaunlichen Selbstkritik getragen – haben die Tschechen es sich nicht leichtgemacht. Andererseits sinkt dort die Neigung, einen Pseudodialog mit Deutschland mit dem Rücken zur Wand zu führen. Die Kohlsche Salamitaktik von immer neuen „Nachbesserungs“-Vorschlägen für die vielbesprochene deutsch-tschechische Deklaration kollidiert mit dem gestiegenen Bedürfnis der Tschechen, als normaler europäischer Staat behandelt zu werden. Die recht erfolgreiche tschechische Transformation der letzten sieben Jahre läßt zwar die Bäume in Böhmen nicht in den Himmel wachsen, sie hat jedoch für Selbstbewußtsein gesorgt. Mit einem Politiker vom Schlage eines Václav Klaus ist Kohls etwas zu schlaue Absicht scheinbar nicht zu realisieren: nämlich am tschechischen Beispiel der Welt einen Paradigmenwechsel bezüglich der historischen Rolle Deutschlands vorzugaukeln – vom Verursacher des Zweiten Weltkrieges zu seinem Opfer. Richard Szklorz
Richard Szklorz
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Schafft zwei, drei, viele Wolfsburgs - taz.de
Schafft zwei, drei, viele Wolfsburgs Motivationstour in Sachen Hartz: In der Autostadt Wolfsburg sollen 2.365 Profis der Nation demonstrieren, wie man die Arbeitslosigkeit halbiert. Doch sogar der Bundeskanzler muss dort erkennen: Ohne VW ist das Modell nur halb so schön aus Wolfsburg HEIDE OESTREICH Es geht nicht allzu bequem zu in der Welt nach Willen und Vorstellung des Peter Hartz. Eine halbe Stunde müssen die geladenen „Profis der Nation“ im kalten Wind vor dem gläsernen Großfoyer der Autostadt warten – Sicherheits-Check. Ob man so mit echten VIPs verführe? Egal. Brav stehen die 2.365 Wolfsburger „Very Important Professionals“ im Anschluss also zwei Stunden lang bei Käsestangen und einer Runde Freigetränke und lassen sich als Vorbilder feiern. Vorbilder, weil sie, Unternehmer, Sozialarbeiter, Lehrer, Pfarrer oder Journalisten, angeblich den Plan des VW-Arbeitsdirektors Peter Hartz zur Halbierung der Arbeitslosigkeit in ihrer Stadt verwirklicht haben, von 17,2 auf 8,5 Prozent in fünf Jahren. Wer sind diese wunderbaren Menschen? Eine willkürliche Stichprobe: Herr K. fährt für die Lebenshilfe behinderte Schüler. Was er zum Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen hat, weiß er nicht so genau. Na ja. Es ist irgendwie beruhigend, dass nicht das ganz große Programm gefahren wird an diesem Abend. Kein Budenzauber auf Global-Player-Niveau, sondern drei Reden, ein paar lebende Vorbilder und ein Filmchen über arbeitslose Jugendliche, das erst beim dritten Anlauf funktioniert. Dennoch hat nie jemand aus dem Thema Arbeitslosigkeit so viel herausgeholt an Emotion wie er: Peter Hartz arbeitet klüger als komische Unternehmenskommunikations-Strategen. Ist das nur ein Auto?, fragt VW. Ist das nur ein Arbeitsloser?, könnte Peter Hartz fragen. Nein, das ist ein Potenzialträger. Ist das nur ein Pfarrer, Lehrer, Sozialarbeiter, Journalist, Gewerkschafter, Unternehmer? Nein, das sind die Profis der Nation. Wenn Profis und der Potenzialträger aufeinander treffen, dann wird es Arbeitsplätze hageln. Logisch. Woran erinnert das nur alles? Ach ja, Motivationstraining. Jürgen Höller, hieß er nicht so, dieser Einpeitscher auf großer Bühne: „Alles ist möglich, du musst es nur wollen.“ Ist Peter Hartz vielleicht der Jürgen Höller des Arbeitsmarktes? Sind tatsächlich „Gleichgültigkeit, Ohnmachtsgefühl und Rücksichtslosigkeit“ die Grundübel, die die Arbeitslosigkeit so böse machen, wie Hartz meint? Und können „wir“, wenn wir „alle mitmachen“, diese „aus unserem Land vertreiben“? Oder geht es vielleicht doch auch um Konjunktur, Weltwirtschaft und Globalisierung? Wie bei all diesen Mitmachveranstaltungen gibt es auch hier eine praktische Kurzfassung des Konzepts: Die Pfarrer sollen „sensibilisieren“ für das Schaffen von Arbeitsplätzen und den Arbeitslosen Beistand leisten. Vereine sollen eine Patenschaft für einen Arbeitslosen übernehmen: betreuen und am besten einen Job besorgen. LehrerInnen sollen als „Coaches“ für den Berufseinstieg fungieren. Und JournalistInnen, aufgepasst!, sollen „proaktiv“ berichten, die „Bundesliga für Beschäftigung motivieren“ und sogar den „Unternehmer der Woche“ küren. Kanzler Schröder tritt auf und verteidigt Tarifverträge für Zeitarbeit: Schließlich habe sogar die Wolfsburg AG, das Vorbild, Tarifverträge abgeschlossen. Schröder ist es auch, der einräumt, dass man zwar viele Wolfsburgs schaffen wolle, dies aber andernorts ohne VW etwas schleppender vonstatten gehen könnte. Das Geheimnis von Wolfsburgs Arbeitslosenhalbierung, muss man nämlich wissen, liegt zu einem guten Teil darin, dass VW 80 Zulieferbetriebe nach Wolfsburg verlagerte und selbst Hauptkunde der Wolfsburger Personal Service Agentur für Leiharbeit ist. Egal, man will ja den Geist von Wolfsburg übertragen, die Motivation. Dreizehn Profis präsentieren sich, vom Geschäftsführer des VfL Wolfsburg über Jugendrichter, Abgeordnete und Unternehmer bis zur Künstlerin. Was die tun können? Praktikumsplätze bietet der Fußballmann mutig, die anderen bleiben eher im Allgemeinen. Man müsse die Einzelschicksale sehen. Man dürfe die Arbeitslosen nicht allein lassen. Und die Jungpolitikerin bringt es auf den Punkt. „Ich persönlich kann nicht viel tun. Aber wir sind jetzt eine Gruppe mit einem Ziel. Es ist keiner mehr alleine. Und ich trage meinen Teil bei.“ Botschaft angekommen. Stichprobe II: Die Nebenstehende ist Kosmetikern. „Ich bin wohl mehr als Füllmasse eingeladen“, mutmaßt sie. Sie selber würde bestimmt niemanden einstellen, sie arbeite lieber allein. Hm, bedenklich unproaktiv. Aber die Stimmung, die habe Peter Hartz in Wolfsburg schon verändert: „Hier passiert immer viel: pausenlos Aktivitäten. Das schafft Gemeinschaft. Man empfindet etwas für die Stadt.“ Von den Neugründungen seien allerdings viele wieder pleite. Da brauche man ab und zu Abende wie diesen, „neue Motivation“. So wie einst bei Jürgen Höller? Was macht eigentlich Höller? Ach, Insolvenz? Tatsächlich?
HEIDE OESTREICH
Motivationstour in Sachen Hartz: In der Autostadt Wolfsburg sollen 2.365 Profis der Nation demonstrieren, wie man die Arbeitslosigkeit halbiert. Doch sogar der Bundeskanzler muss dort erkennen: Ohne VW ist das Modell nur halb so schön
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G20-Musical in der Neuköllner Oper: Schmerzen am Herzen und der Welt - taz.de
G20-Musical in der Neuköllner Oper: Schmerzen am Herzen und der Welt In Berlin arbeitet die UdK den Gipfel mit Musiktheater auf. Das ist unterhaltsam, aber oft zu schablonenartig und klischeebeladen. Szenenbild aus „Welcome to Hell“ Foto: Matthias Heyde Barrikaden brennen. Das SEK steht bereit. In Sichtweite der Straßenkämpfe am Schulterblatt kaufen ein paar Jugendliche Döner. Jemand schreit „Anticapitalista!“. Das Musical „Welcome to Hell“, eine Koproduktion der Neuköllner Oper und des Studiengangs „Musical“ der Berliner Universität der Künste, versucht, die Tage des G20-Gipfels in Hamburg aufzuarbeiten. Das Gipfelhappening dient dabei als Projektionsfläche für persönliche Zerrissenheit und zwischenmenschliche Konflikte, aber auch als zugespitztes Bild des gesellschaftlichen Status Quo. Drei Charaktere verkörpern diesen Zustand am offensivsten: Ein verängstigter Polizist, ein Autonomer und ein französischer Teilnehmer des offiziellen Gipfels. Alle drei verlassen ihre vorurteilsbeladenen Charakterhüllen kaum. Vor allem der überzeichnete Autonome Andi ist Prisma der Klischees des Musicals. Andi stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Seine Eltern überweisen ihm monatlich 2000 Euro, er klaut trotzdem Sixpacks im Getränkemarkt – des Punkseins wegen. Er beherrscht linksradikales Basisvokabular und könnte ob der Ungerechtigkeiten der Gesellschaft die ganze Zeit nur um sich schlagen. So wie er für selbstreferenzielle, letztlich also sinnlose Militanz steht, repräsentieren die anderen ganz unmissverständlich Polizeigewalt und globale Ungerechtigkeit. Angenehme Ambivalenz Es sind die Charaktere dazwischen, die interessanter, da authentischer und realistischer erscheinen. Figuren, an deren Erleben man die Tage des G20-Gipfels oder eben jeden Tag der Vereinzelung in der spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft nachempfinden kann. Eine junge Frau namens Sabine, die es wegen einer Angststörung nicht schafft, ihre Einzimmerwohnung zu verlassen. Eine verschwörungstheorieaffine Bloggerin, die das Weltgeschehen ausschließlich online verfolgt und per Vlog kommentiert. Oder die gelangweilte Teenagerin Mina aus dem Schleswig-Holsteinischen Husum, die ihre Mutter anlügt, um zum Gipfel fahren zu können, „weil gerade alle in Hamburg sind“. Das Musical„Welcome to Hell“ (ein Musical von Peter Michael von der Nahmer und Peter Lund): 15. März bis 29. April in der Neuköllner Oper. (Termine: www.neukoellneroper.de/play/welcome-to-hell/) Die Supermarktkassiererin Krissy muss eigentlich in der Schule sitzen, während sie im Supermarkt Bierflaschen scannt. Sie ist schwanger, möchte das Kind aber nicht, weil ihr Freund sie schlägt. Sie will endlich ihr Abitur schaffen, bangt aber um ihren prekären Job. Am Ende schließt sie sich denen auf der Straße an. Die Wege aller Figuren kreuzen sich an den Tagen des Gipfels, in der Sternschanze, auf St. Pauli, in der Davidwache. Sie schreien sich an. Verstehen sich nicht. Dann helfen sie einander. Zwischen Freundschaft und Feindschaft, Empathie und Hass geht es immer wieder um eine Frage: Was an meiner Misere ist gesellschaftlich bedingt? Was habe ich einfach selbst verbockt? „Sex sells“ gilt auch für G20 Schwer nachvollziehbar sind die zahlreichen und irgendwann unüberschaubaren sexuellen Begegnungen. Klar, Liebe gehört zum Musical. Sex wohl auch. Und man kann nicht den Kapitalismus und das Patriarchat kritisieren, ohne über Begehren zu sprechen. Wenn am Ende aber alle mit allen geschlafen haben, wird das zur beliebigen Schablone. Als der Gipfel endlich endet, singen die Charaktere zusammen: „Welcome to Hell! Welcome to Hell! Wir alle sind die Hölle!“ Ein Musical, wie GZSZ. Nur eben auf politisch. Ein bisschen Herzschmerz, ein bisschen Weltschmerz, ein bisschen Gesang und Tanz.
Volkan Ağar
In Berlin arbeitet die UdK den Gipfel mit Musiktheater auf. Das ist unterhaltsam, aber oft zu schablonenartig und klischeebeladen.
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Debatte um BER: Weniger Fluggäste? Und wenn schon! - taz.de
Debatte um BER: Weniger Fluggäste? Und wenn schon! Immer wieder wird gesagt, der BER sei für die steigenden Passagierzahlen viel zu klein. Dabei wäre es nur vernünftig, den Flugverkehr zu begrenzen. Warum muss ein Flughafen immer weiter wachsen? Ein Naturgesetz ist das nicht Foto: dpa Jedes Mal, wenn Sebastian Czaja für den Flughafen Tegel in die Bütt steigt, präsentiert er ein Diagramm mit vielen bunten Balken, die von links nach rechts immer höher werden. Mit einer Mischung aus Stolz und Sorge erklärt der FDP-Fraktionschef dann, dass diese Balken das Wachstum der Passagierzahlen auf den Berliner Flughäfen abbilden – das der vergangenen Jahre und das künftige. Bedenklich, ja desaströs, so Czaja, sei nun der Umstand, dass der Flughafen BER, wenn er denn einmal an den Start gehe, schon zu klein ausfalle für den stetig wachsenden Zustrom. Da helfe auch das Versprechen der Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg (FBB) nichts, das alte Schönefelder Terminal mitzunutzen und rasch Ergänzungsbauten hochzuziehen: Den prognostizierten 60 Millionen Fluggästen im Jahr 2030 sei nur mit dem Weiterbetrieb von Tegel beizukommen. Punkt. Prognose reichlich windig Klingt irgendwie rational – mal abgesehen davon, dass die 60-Millionen-Prognose reichlich windig ist: Im laufenden Jahr werden sich die Passagierzahlen in Tegel und Schönefeld zusammen laut FBB auf rund 34 Millionen belaufen. Da eben mal 26 Millionen in 13 Jahren draufzuschlagen ist das Wunschdenken von Wachstumsjunkies. Andererseits liegt auch die offizielle Prognose, die die FBB von einem seriösen Institut hat erstellen lassen, bei 47 Millionen im Jahr 2030 sowie 55 Millionen im Jahr 2040, Air-Berlin-Pleite hin oder her. Erst am Montag hat Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup einen „Masterplan“ für den Ausbau des BER vorgestellt, damit der Flughafen diese Masse an Menschen auch bewältigt. Wenn das mit dem Weiterbauen am BER nun aber wie gewohnt nicht klappen sollte? Wäre es dann nicht ein Gebot der Vernunft, anderweitig – sagen wir: in Tegel – für Abfertigungskapazitäten zu sorgen? Nein, ist es nicht. Zuallererst sollte man dem Alarmismus von Czaja & Co. nicht auf den Leim gehen. Denn mal angenommen, deren waghalsige Prognosen stimmten – würden die ganzen Extramil­lionen an Fluggästen dann über der Stadt abgeworfen? Würden Sie zweimal quer übers BER-Rollfeld Schlange stehen? Nein, sie würden nicht kommen, nicht in diesen Mengen. Schließlich muss jeder Airport regelmäßig die sogenannten Flughafenslots, Start-und-Lande-Zeitfenster für die Fluggesellschaften, beantragen. Fehlen Terminals in ausreichender Größe, kann die Slotzahl nicht unbegrenzt weitersteigen. BER noch später fertigDer neue Hauptstadtflughafen kann frühestens 2019 in Betrieb gehen. Das ergibt sich aus einem neuen Terminplan für die Bauarbeiten. Sie sollen in einem Jahr abgeschlossen werden, wie die Flughafengesellschaft am Donnerstag mitteilte. Dann folgen umfangreiche Prüfungen und ein Probebetrieb. Als wahrscheinlich gilt daher ein Start im Herbst 2019 – acht Jahre später als geplant. Damit zeichnet sich ab, dass die Eröffnung zum sechsten Mal verschoben wird. Geschäftsführer Engelbert Lütke Daldrup will einen Termin noch in diesem Jahr nennen. Zuletzt hatten die Verantwortlichen einen Start 2018 angepeilt. (dpa) Bei dieser Erkenntnis muss man nicht stehen bleiben. Ist das stetig hohe Wachstum der Fluggastzahlen eine Konstante? Gar gottgegeben? Natürlich nicht. Es ist politisch gewollt und wird mit diversen Instrumenten gefördert. Und es muss in diesem Tempo nicht weitergehen. Bloß trauen sich das nur wenige zu sagen, ja überhaupt zu denken. Der Fetisch Wachstum sitzt viel zu fest in den Köpfen. Einmal, Anfang dieses Jahres, haben sich ein paar linke Sozis getraut, das Undenkbare auszusprechen: Wenn man die Risiken des Klimawandels und Berlins selbstgewählte Klimaziele ernst nehme, müsse man das Wachstum im Luftverkehr zumindest auf den aktuellen Stand begrenzen, formulierten die SPD-Landesfachausschüsse für Umweltschutz und Mobilität in einem Parteitagsantrag. Was hatten sie konkret vorgeschlagen? Beispielsweise den Abbau der „verkehrsfördernden Maßnahmen“, mit denen die Flughafengesellschaft einer Airline umso höhere Rabatte bei Start-und-Lande-Entgelten einräumt, je mehr Passagiere sie in Berlin umschlägt. Weitere massive Preisnachlässe gibt es für neue Destinationen. Und überhaupt ist „Berlin der absolute Billigheimer“, wie der Finanzwissenschaftler Friedrich Thießen sagt, der vor ein paar Jahren im Auftrag der Berliner und Brandenburger Grünen eine Studie zur Wirtschaftlichkeit der Berliner Flughäfen vorgelegt hat. Die Einnahmen aus dem Flugbetrieb pro Passagier lägen in Tegel und Schönefeld weit unter denen von Frankfurt, München, Düsseldorf oder Hamburg. Um eine nur halbwegs ausgeglichene Bilanz zu erreichen, so Thießens Studie, müsste die Flughafengesellschaft ihre Erträge pro Passagier um 50 Prozent steigern. Heiliger Kapitalismus Warum sollte das nicht möglich sein? Ja, es gibt Wettbewerb zwischen den Flughäfen, und die Airlines mit ihrer Marktmacht drücken erfolgreich die Preise. Aber ist Berlin nicht ein Touristenmagnet? Na also: Eine Preisanpassung würde nicht in der Katastrophe enden. Es kämen ein paar Leute weniger. So what? Die ketzerischen Sozis hatten sogar noch Schlimmeres vorgeschlagen: Man könne doch auch das Nachtflugverbot ausweiten oder CO2-abhängige Sonderabgaben prüfen – so wie es jetzt Lärmabgaben gibt. Bei den Grünen war so etwas vor zehn – oder sagen wir: zwanzig – Jahren noch Common Sense. Heute nicht mehr. Die vermeintliche Öko-Partei hat eine Heidenangst davor, einen kapitalistischen Grundsatz wie das Wachstumsprinzip anzukratzen. Auch in der Linken gibt es keinen Rückhalt für solche vermeintlich radikalen Ansätze, die in politischen Graswurzel-Zusammenhängen inzwischen unter dem Label „Degrowth“ laufen. Stattdessen heißt es in den offiziellen Stellungnahmen des rot-rot-grünen Senats zum Tegel-Volksentscheid, die Berliner Flughäfen verzeichneten seit Jahren ein „erfreulich hohes Passagierwachstum“. Im Klartext: „Erfreulich“ ist, wenn dank Lohndrückerei und staatlicher Beihilfe mehr und mehr und mehr Kilotonnen CO2 in die Atmosphäre geblasen werden. Vom Lärm ganz zu schweigen. Wir könnten auch ein noch größeres Fass aufmachen und die Frage stellen, wie viel Tourismus Berlin denn auf Dauer verträgt. Ob es rational ist, anzunehmen, dass ein ungebremstes Wachstum der Besucherzahlen mit der dazugehörigen Blase aus Beherbungsbetrieben und Immobilienpreisen gut gehen kann. Ewig zeigt keine Kurve nach oben, auch keine eines Sebastian Czaja. Wenn es aber einmal abwärts geht, wäre eine sanfte Landung fraglos besser.
Claudius Prößer
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Uranexport: Prozess eingestellt - taz.de
Uranexport: Prozess eingestellt BERLIN taz ■ Die Oberstaatsanwaltschaft Münster muss sich noch einmal mit den Klagen russischer UmweltschützerInnen gegen die Urenco Deutschland GmbH wegen illegaler Urantransporte von der UAA Gronau nach Russland beschäftigen. Eine Anwohnerin des Atomkombinats Angarsk bei Irkutsch legte Dienstaufsichtsbeschwerde bei der Justiz in Münster ein, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. AktivistInnen der russischen Umweltorganisationen Ecodefense und Baikal-Welle hatten 2006 Strafanzeige gestellt. Während die Urenco das abgereicherte Uran als Wertstoff bezeichnet, klassifizieren es die Kläger als Atommüll, für deren Transport die Firma keine Genehmigung habe. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Treffen mit russischen Atomexperten abgelehnt und die Ermittlungen eingestellt. NOW
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Fette Bassmusik von Schlachthofbronx: Riesenviecher mit Rhythmusgefühl - taz.de
Fette Bassmusik von Schlachthofbronx: Riesenviecher mit Rhythmusgefühl Aufreizend gemächlich: Das Münchner Elektronikduo Schlachthofbronx drosselt auf seinem soliden neuen Album „Haul & Pull Up“ das Tempo. Woop, woop: Bene und Jakob von Schlachthofbronx Foto: Sebastian Kempff Wenn man wissen will, was in den acht Jahren, die es Schlachthofbronx gibt, geschehen ist, muss man auf die Feature-Liste ihres neuen Albums schauen: Wurden zum Debütalbum 2009 noch die Münchner Lokalhelden Ron Foto, G. Rag und die Landlergeschwister zum „Munich Bass“-Frühschoppen eingeladen, finden sich auf dem neuen Werk „Haul & Pull Up“ der kalifornische Sonderling Gonjasufi, die britische Rapperin Warrior Queen und Miami-Bass-Legende Otto von Schirach zur Afterhour ein. Das DJ-Duo ist dem Schlachthofviertel, ihrer Münchner Basis, längst entwachsen, inzwischen bereisen die beiden Künstler Bene und Jakob alle Kontinente im Namen der Bassmusik. „Haul & Pull Up“ ist das vierte Album des Duos. Dass es nun veröffentlicht wird, ist wohl eher der Aufmerksamkeitsökonomie des Musikbetriebs geschuldet, als dass es bevorzugte Ausdrucksform von Schlachthofbronx wäre. Es fasst kurzerhand drei kürzlich unter gleichem Titel erschienene EPs zusammen. Diese entsprechen viel eher dem Produktionsprinzip der beiden Musiker: Hin und wieder hauen die Münchner zwingend gute Tracks raus, die unbedingt veröffentlicht werden müssen, damit sie andere DJs auflegen können. Für den größeren Zusammenhang der Langstrecke sind die Tracks von Schlachthofbronx nicht unbedingt gemacht. Trotzdem gibt „Haul & Pull Up“ für alle Nicht-DJs einen guten Überblick über den state of the art, was die beiden eben gerade interessiert: Musikalisch geht etwas gemächlicher zu als auf den früheren Alben. Lediglich die Vorliebe für komplexe Rhythmen und Bassmusik entlang der Genres Grime, Dancehall, Dub und Techno ist geblieben. Hybride Clubsounds Dass hybride Clubsounds in den späten nuller Jahren, als Schlachthofbronx anfingen, aufregender und crisper klangen, geschenkt. Das Interesse an tropischen und afrikanischen Rhythmen begann in diesen Breitengraden damals gerade erst über Szenegrenzen hinaus populärer zu werden. Schlachthofbronx waren, neben dem Berliner Übervater-DJ Daniel Haaksman, die Ersten, die hierzulande mit Global-Dancefloor-Genres experimentiert haben. Inzwischen gelten Künstler dieses Felds wie Major Lazer und M.I.A. als Weltstars, Bassmusik ist Allgemeingut geworden. Schlachthofbronx dürfte das egal sein. So lange sie das tun dürfen, was sie tun, geht es weiter. Bei aller hektischer Betriebsamkeit haben sie eine angenehm ironische Distanz zu ihrem Schaffen. Man erkennt das schon am Cover des Albums: Die Musiker sind als Elefant und Giraffe abgebildet. Die beiden Riesenviecher verstärken so auch den gemütlichen Eindruck, den das gemächliche Tempo der Musik vorgibt. Überdrehte Hochgeschwindigkeits-Tracks wie „Pump Drop Wine“ und „Double Dub“ gibt es dennoch, grundsätzlich regiert auf „Haul & Pull Up“ eine aufreizende Relaxtheit. Den Ton der von Gonjasufi gesungene Blues „Goodbye“, der mit dräuenden und sägenden Synthiewänden hinterlegt ist: Als würde der Weltuntergang unmittelbar bevorstehen. Distanz zum Schnell-Schnell Die Distanz zum Schnell-Schnell zeigt sich auch auf andere Weise: Während im jamaikanischen Dancehall die Geschlechterverhältnisse in der Regel traditionell ausgelegt sind, – Männer sagen, wo es langgeht, Frauen wackeln mit den Ärschen – , werden auf „Haul & Pull Up“ Tierärsche auf dem Cover abgebildet. Und die britische Rapperin Warrior Queen liefert gleich für zwei Tracks die Vocals. In ihnen besteht kein Zweifel, wer das Sagen hat: sie und kein anderer. SchlachthofbronxSchlachthofbronx: „Haul & Pull Up“ (Rave & Romance/Disko B/Indigo)Live: 3. 6., Blitz Club, München; 22. 6., Southside Festival, Neuhausen Auch US-Produzent Otto von Schirach setzt sich in ironisch überzeichneter Form über Genrestandards hinweg. Als schmieriger Zuhälter-Imitator rappt er „Bitch Betta Have My Money“ von AMG, wirkt dabei aber mehr, als verballhornte er das Original, und weniger als dessen Affirmation. Durch Schirachs eigenwilligen Flow treten die sexuellen Metaphern des Originals und dessen Stumpfheit absurd übersteigert und umso deutlicher hervor. Schirach verweist in einer Art Anmoderation des Tracks übrigens auf etwas, was Schlachthofbronx trotz aller internationaler Anbindung bis heute nicht erreicht haben: Außerhalb des deutschsprachigen Raums spricht kaum jemand ihren ­Namen korrekt aus. Bei Schirach klingt er wie Schlatzhopfbronx.
Elias Kreuzmair
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Antifaschismus im Advent: Aktivismus und Privilegien - taz.de
Antifaschismus im Advent: Aktivismus und Privilegien Der Dezember ist eine gute Zeit, nicht nur die eigene Umwelt, sondern auch sich selbst kritisch zu betrachten – und Antifaschismus aktiv zu leben. Eigentlich 365 Tage im Jahr notwendig: antifaschistisches Engagement Foto: Tony Webster Die Adventszeit 2020 hat begonnen. Es geht auf Weihnachten zu. Egal ob gläubig oder nicht, für viele ist dies die Zeit des Rückzugs und der Einkehr. Alleine schon wegen der Dunkelheit. Aber die Wochen sind auch bei vielen Menschen eine Zeit der Nächstenliebe und des geschärften Blicks auf diejenigen, die Hilfe brauchen und denen es nicht so gut geht. Also Augen auf, am besten jedoch 365 Tage im Jahr, und kritisch bleiben mit der eigenen Umwelt – aber auch stets mit sich selbst. Wir haben ein immer größer werdendes Problem mit Rassismus und Rechten. Auf der anderen (linken) Seite stellt sich aber auch Frage, wie weiß Aktivismus von Privilegierten ist und was man wie besser machen kann. Rechte greifen die Erinnerungskultur an und deuten „unsere“ Vergangenheit zum Zwecke der Verklärung um. Die Frage, was linke Geschichtsschreibung dagegensetzen kann und ob es antifaschistische und linke Geschichtsschreibung geben kann – ganz ohne eigene Hel­d:in­nen­my­then – wird bei Wider den Strich aufgeworfen. Online diskutieren werden Anke Hoffstadt (Hochschule Düsseldorf), Patrice Poutrus (Universität Erfurt) und Fabian Virchow (Hochschule Düsseldorf). Anika Taschke (Historisches Zentrum RLS) übernimmt die Moderation. Eine Anmeldung ist erforderlich unter www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/9GVOF (Donnerstag, 3.12., Link wird nach Anmeldung zugeschickt, 19.30 Uhr). Lernen, besser zu werden tazplanDer taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz. Innerhalb der kritischen Reflexionsreihe “Solidarity is not enough“ zur Situation auf dem Mittelmeer gibt es die Veranstaltung White Saviorism in Sea Rescue Activism, denn gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Es geht immer und besonders aktuell in Zeiten der anhaltenden Flüchtlingskrise darum, dass jene, die privilegiert sind, lernen besser zu werden: In dem, wie Solidarität gelebt und wie geholfen wird. Und alles ganz ohne koloniales Narrativ und weißem Aktivismus. Die Veranstaltung findet auf Englisch statt (Donnerstag, 3.12., Lenaustr. 3-4, 20 Uhr). Wer Antifaschismus aktiv lebt, ist ganz bestimmt irgendwann auch mal über ihren Namen gestolpert. Katharina König-Preuss ist Thüringer Antifaschistin und spricht in ihrem Vortrag über ihre Erfahrungen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss sowie über militante Nazistrukturen und rechten Terror in Deutschland. Sie erlebt dies aus nächster Nähe und stellt sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen. König-Preuss erzählt auch über ihre Erfahrungen in ihrer Antifaarbeit in Thüringen. Der Vortrag und das Gespräch finden online über die Konferenzplattform BigBlueButton statt. Der Zugangslink wird um 19 Uhr auf der Seite vom UJZ Karlshorst veröffentlicht (Freitag, 4.12., BigBlueButton, 19:45 Uhr Login/ Start 20 Uhr).
Desiree Fischbach
Der Dezember ist eine gute Zeit, nicht nur die eigene Umwelt, sondern auch sich selbst kritisch zu betrachten – und Antifaschismus aktiv zu leben.
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NSU-Prozess in München: Enrico T. erinnert sich nicht - taz.de
NSU-Prozess in München: Enrico T. erinnert sich nicht Der mutmaßliche Beschaffer der Tatwaffe der NSU-Terroristen, Enrico T., fühlt sich zu Unrecht verdächtigt. Enrico T. auf dem Weg in den Gerichtssaal. Bild: dpa MÜNCHEN dpa | Die Vernehmung des mutmaßlichen Waffenbeschaffers des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) – Enrico T. – vor dem Oberlandesgericht München ist am Montag nur stockend vorangekommen. Der Zeuge beantwortete Fragen des Vorsitzenden Richters meist nur ausweichend. Der Mann hat nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft die Mordwaffe vom Typ Ceska von einem Schweizer in Empfang genommen, nach Deutschland gebracht und dort an einen weiteren Zwischenhändler weitergereicht. An Einzelheiten konnte sich Enrico T. nach eigenen Angaben nicht erinnern. Den Schweizer kenne er zwar und besuche ihn ein- bis zweimal jährlich. Er könne sich aber nicht erklären, warum er als Waffenbeschaffer verdächtigt werde. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, mich mit ihm über Waffen unterhalten zu haben“, sagte er. Er habe sich gewundert, als die Polizei nach dem Auffliegen des NSU-Trios seine Wohnung durchsuchte. Er habe dann erfahren, dass der Schweizer vorübergehend festgenommen worden sei und dass es dabei „um dieselbe Sache ging“, nämlich die „Dönermorde“. Den mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt habe er aus seiner Schulzeit gekannt. Er habe mit ihm aber nicht länger als vielleicht ein halbes Jahr zu tun gehabt, sagte der Zeuge. Laut Prozessakten sollen Enrico T. und Uwe Böhnhardt Anfang der neunziger Jahre derselben Jugendbande in Jena angehört haben.
taz. die tageszeitung
Der mutmaßliche Beschaffer der Tatwaffe der NSU-Terroristen, Enrico T., fühlt sich zu Unrecht verdächtigt.
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Nabu-Chef zur Autofabrik von Tesla: „Das ist immer noch eine Black Box“ - taz.de
Nabu-Chef zur Autofabrik von Tesla: „Das ist immer noch eine Black Box“ Der Brandburger Nabu-Vorsitzende Friedhelm Schmitz-Jersch über Teslas ambitionierte Zeitpläne und die Naturschutz-Aspekte der Genehmigung. Hunderttausende Kiefern werden in Grünheide den Tesla-Fließbändern weichen müssen Foto: imago images / Jürgen Ritter taz: Herr Schmitz-Jersch, als Elon Musk mit Grünheide den geplanten Standort seiner vierten Autofabrik bekanntgab, waren Sie beim Nabu da überrascht oder hatten Sie irgendetwas geahnt? Friedhelm Schmitz-Jersch: Nein, wie alle anderen wussten wir davon im Vorfeld überhaupt nichts. Tatsächlich ist das alles noch eine Black Box für uns – wir wissen zwar, um welche Fläche es sich handelt, viel mehr aber auch nicht. Aber die Landesregierung hat ja versprochen, dem schnell abhelfen. Tesla soll schon im ersten Quartal 2020 mit dem Bau der Fabrik beginnen, heißt es. Zu dieser gewagten Zielvorgabe ist das Unternehmen nach den geheimen Vorgesprächen mit der Landesregierung gekommen. Ist so ein knapper Zeitplan realistisch? Das wird man nun alles sehen müssen. Entscheidend wird unter anderem sein, welche Voruntersuchungen es schon für das Gelände gibt. Ein Bebauungsplan wurde ja bereits 2001 aufgestellt. Bis jetzt ist aber weder uns noch anderen Verbänden bekannt, in welcher Intensität bereits natur- und artenschutzrechtliche Untersuchungen stattgefunden haben. Die können eine wichtige Grundlage für die weiteren Genehmigungsverfahren sein. Diese Untersuchungen muss ja der Investor selbst durchführen. Richtig, für die gesetzlich vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung ist der sogenannte Vorhabenträger verantwortlich, in diesem Fall also das Unternehmen Tesla. im Interview:Friedhelm Schmitz-Jersch72, ist seit sieben Jahren ehrenamtlicher Vorsitzender des Brandenburger Landesverbands des Naturschutzbunds (Nabu). Sobald Tesla den Bericht vorgelegt hat, kann die Öffentlichkeit Stellung dazu nehmen. Auch der Nabu und andere Naturschutzorganisationen dürfen Einwendungen erheben. Wie ausgiebig wollen Sie dieses Instrument nutzen? Man muss sehen, wie weit sich auf alle aufeinander zu bewegen können. Klar ist: Betroffenheiten von Natur und Arten müssen wir so weit wie möglich ausschließen oder zumindest minimieren. Dann kommt es auch auf den Ausgleich an, also ob wir an anderer Stelle zu einer substanziellen Aufwertung von Natur und Landschaft kommen. Sprich: Aufforstung. Es geht nicht einfach nur um Aufforstung, man kann das nicht bloß quantitativ betrachten. Sie müssen ja erst einmal geeignete Flächen finden – und auch solche, die heute landwirtschaftlich genutzt werden, können erheblichen Naturwert haben. Auf keinen Fall dürfen Flächen in Anspruch genommen werden, die naturschutzfachlich betrachtet hohen Wert besitzen, Magerrasen etwa. Vorrangig sollten also beim Waldausgleich qualitative Aufwertungsmaßnahmen erfolgen, mit denen bestehender Wald naturgemäßer gemacht wird. Tesla in GrünheideWie Mitte November überraschend bekannt wurde, will der US-Elektroauto-Hersteller Tesla bis zu 4 Milliarden Euro in eine "Gigafactory" in Grünheide (Kreis Oder-Spree) investieren. In einer ersten Stufe sollen nach Angaben der Brandenburger Landesregierung über 3.000 Arbeitsplätze entstehen, nach einem Ausbau bis zu 8.000. Der Start der Bauarbeiten nahe der A 10 ist für das erste Quartal 2020 geplant.Rund 240 Hektar Wald könnte Tesla für den Bau abholzen, laut Brandenburger Regierung will das Unternehmen die dreifache Menge aufforsten lassen. Laut Bild am Sonntag kann das Unternehmen von Elon Musk mit EU-Zuschüssen von rund 300 Millionen Euro rechnen. Die Fabrik soll voraussichtlich Ende 2021 in Betrieb gehen und den künftigen Kompakt-SUV "Model Y" sowie Batterien bauen. Kiefernmonokulturen zu Mischwald? Das wäre das klassische Beispiel. Dabei stellt sich allerdings das Problem, dass Kiefern normalerweise erst gefällt werden, wenn der Forst erntereif, also rund 80 Jahre alt ist, anderenfalls bedeutet es einen wirtschaftlichen Verlust. Wenn der Waldumbau hier beschleunigt wird, kostet das dann eben auch mehr. Eine andere Möglichkeit wäre, Auwälder an Flüssen auszubauen. Grundsätzlich muss man sehen, wie groß der Kreis für Ausgleichsmaßnahmen gezogen wird: Ziel ist immer, dort zu bleiben, wo der Naturverlust entsteht, aber bei so einer großen Fläche und dem entsprechenden Ausgleichsbedarf kann es sein, dass man im Nahbereich gar keine ausreichenden Möglichkeiten findet. Es war schon die Rede von geschützten Arten, die auf dem Gelände leben, was wissen Sie darüber? Das kann ich weder bestätigen noch ausschließen. Selbst unsere Nabu-Freunde vor Ort haben im Moment noch keine näheren Kenntnise von diesem konkreten Gebiet. Diese Wissensdefizite sollten jetzt auch mit Unterstützung der Verwaltung möglichst schnell aufgearbeitet werden. Macht es für Sie als Naturschutzorganisation eigentlich einen Unterschied, dass Wald hier für die Entwicklung von Elektromobilität geopfert wird? Weil das mehr oder weniger im Sinne des Klimaschutzes ist? Natürlich spielt das eine gewisse Rolle. Wir sind ja auch Brandenburger und sehen, dass die Menschen hier ganz große Hoffnungen mit dieser Investition verbinden. Wir sind guten Willens, an dem Verfahren konstruktiv mitzuwirken und erwarten diesen guten Willen natürlich auch von den Landesbehörden und dem Investor. Aber noch mal zum Anfang zurück: Ärgert es Sie nicht doch ein bisschen, dass das Projekt so plötzlich aus der Kiste gezaubert wurde und jetzt auch noch alles ganz schnell gehen soll? Man muss auch die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Anders war es wohl nicht möglich, die Investition nach Brandenburg zu ziehen, deswegen wollen wir diese Vorgehensweise nicht grundsätzlich kritisieren. Vor allem dann nicht, wenn jetzt ganz schnell dafür gesorgt wird, dass es zu einem vernünftigen Genehmigungsverfahren kommt und alle an einem Tisch über die Modalitäten sprechen.
Claudius Prößer
Der Brandburger Nabu-Vorsitzende Friedhelm Schmitz-Jersch über Teslas ambitionierte Zeitpläne und die Naturschutz-Aspekte der Genehmigung.
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Israels Präsident droht eine Anklage - taz.de
Israels Präsident droht eine Anklage Die Polizei verdächtigt Moshe Katzav unter anderem der mehrfachen Vergewaltigung. Jetzt muss der Oberstaatsanwalt über die Aufnahme eines Verfahrens gegen ihn entscheiden. Die Rücktrittsforderungen werden unterdessen immer lauter AUS JERUSALEMSUSANNE KNAUL Israels Staatspräsident Moshe Katzav steckt in Schwierigkeiten. Nicht genug, dass ihm sexuelle Nötigung vorgeworfen wurde, nun rät die Polizei gar zu einem Verfahren wegen Vergewaltigung in mehreren Fällen und Korruption. Bis gestern Morgen hatte Katzav fest geplant, bei der Eröffnungszeremonie für die Wintersitzungsperiode des israelischen Parlaments, der Knesset, zu erscheinen. Dann sagte er wenige Stunden vorher seine Teilnahme ab, „zutiefst erstaunt“ über die polizeilichen Empfehlungen, wie es in einer offiziellen Stellungnahme heißt. Der polizeiliche Untersuchungsbericht hätte schärfer kaum ausfallen können. Es seien „ausreichende Beweise vorhanden“, heißt es, „um davon auszugehen, dass der Präsident mehrere Vergewaltigungsakte unternommen hat“. Die Untersuchungsergebnisse der Polizei deuten ferner auf „sexuelle Belästigung und Nötigung“ hin sowie auf Veruntreuung staatlicher Gelder, mit denen Katzav private Geschenke erstanden haben soll, und illegale Abhörmanöver. Der Präsident streitet alle Vorwürfe ab. „Wir hegen keinen Zweifel an seiner Unschuld“, beteuert sein Bruder Lior Katzav seit Tagen bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Medien gegenüber. Der Präsident sei „Opfer einer Intrige politischer Gegner“. Kein einziger der ihm angelasteten Vergehen sei begründet. Schweigen bewahrt die Familie vorläufig über konkrete Namen potenzieller Intriganten. Andeutungsweise klingt heraus, dass sie in den Reihen des Likud vermutet werden, der politischen Heimat Katzavs. Die Affäre kam Mitte Juli an die Öffentlichkeit. Gerade hatte der israelische Libanon-Feldzug begonnen. Ausgangspunkt für die Untersuchungsbeamten, die Dokumente und Computer beschlagnahmten, war die Zeugenaussage zunächst einer Mitarbeiterin im Präsidentenbüro, die anschließend, wie sie erklärte, Bedrohungs- und Bestechungsversuchen der Familie Katzav ausgesetzt gewesen sei. In den Folgewochen meldeten sich insgesamt zehn Frauen mit ähnlichen Geschichten, wobei sich die Polizei bei ihrer Empfehlung, ein Verfahren zu eröffnen, nur auf fünf Fälle stützt. Katzav verweigerte sich den dringlichen Aufrufen von Politikern, die sich zunehmend von ihm distanzierten, zumindest eine befristete Beurlaubung zu beantragen. Stattdessen sprach er von einem „öffentlichen Standgericht ohne jede Grundlage“. Um ihn zum Rücktritt zu zwingen, wäre eine Dreiviertelmehrheit der Abgeordneten notwendig. Katzav hatte im Sommer 2000 überraschend die Wahl gegen den früheren Premierminister Schimon Peres gewonnen und war vom Parlament für eine Präsidentschaftsperiode von sieben Jahren gewählt worden. Die Funktion des israelischen Präsidenten ist vor allem repräsentativer Art. Im Anschluss an Parlamentswahlen beauftragt der Präsident den Chef der stärksten Partei mit der Bildung der Regierung. Er hat zudem die Befugnis, Begnadigungen zu gewähren. Oberstaatsanwalt Menachem Masus ist nun aufgerufen, über ein eventuelles Verfahren gegen den Präsidenten zu entscheiden, was vermutlich innerhalb der kommenden drei bis vier Wochen passiert. In Polizeireihen wird fest damit gerechnet, dass Masus einem Prozess zustimmen wird. Nach Aussagen sei- nes Anwalts will der Präsident von seinem Amt zurücktreten, sobald ein Verfahren gegen ihn angestrebt wird. Damit würde eine Aufhebung seiner Immunität durch die Abgeordneten überflüssig. Überführten Vergewaltigungstätern droht eine Freiheitsstrafe von bis zu 16 Jahren.
SUSANNE KNAUL
Die Polizei verdächtigt Moshe Katzav unter anderem der mehrfachen Vergewaltigung. Jetzt muss der Oberstaatsanwalt über die Aufnahme eines Verfahrens gegen ihn entscheiden. Die Rücktrittsforderungen werden unterdessen immer lauter
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Aktivistin kandidiert in Neonazi-Dorf: Kampf ohne Ende - taz.de
Aktivistin kandidiert in Neonazi-Dorf: Kampf ohne Ende Birgit Lohmeyer kämpft in Jamel gegen Neonazis. Damit will sie für die SPD im Gemeinderat weitermachen. Aber: Die Rechten treten auch an. Rund 40 Einwohner hat das kleine Dorf. Elf Häuser – und in fast allen wohnen Neonazis Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz JAMEL taz | Birgit Lohmeyer steht in ihrem Garten, unter den Linden, im Löwenzahn, die Vögel singen, und gerade war der Postbote da. Lohmeyer reißt einen Brief auf. „Puh, super.“ Der Pachtvertrag für eine Wiese steht, auf der im Sommer ein Teil von Lohmeyers Demokratiefestival stattfinden soll. Der Pächter stellte sich quer, nun lenkt er ein. „Eine Sorge weniger.“ Und Sorgen hat Birgit Lohmeyer wahrlich genug. In ihrem Dorf, Jamel, redet kein Nachbar mehr mit ihr und ihrem Mann Horst. Das hat damit zu tun, dass vor dem Nachbarhaus ein Wohnwagen mit „See you in Walhalla“-Aufschrift steht, beim Haus gegenüber eine riesige schwarz-weiß-rote Fahne auf dem Dach weht. In der Dorfmitte ein Wandbild eine arische Familie zeigt, geborgen von einem Adler, und ein Wegweiser daneben auch Braunau ausweist, den Geburtsort Hitlers. An der Haustür von Birgit Lohmeyer aber kleben Aufkleber, auf denen steht: „Kein Ort für Nazis“. Rund 40 Einwohner hat das kleine Jamel in Mecklenburg-Vorpommern, nahe Wismar, zwischen Feldern, am Ende einer Sackgasse. Elf Häuser – und in fast allen wohnen Neonazis. Aber auch ein Paar, das sich seit Jahren allein gegen die Rechten stemmt: Birgit Lohmeyer und ihr Mann Horst. Seit 2004 währt dieser Kampf, seit die Lohmeyers von Hamburg nach Jamel zogen. Inzwischen ist es eine Lebensaufgabe, eine mit enormem Preis. Die Neonazis zerstachen Autoreifen der Lohmeyers, kippten ihnen Mist auf die Einfahrt, legten eine tote Ratte in den Briefkasten. Ein Neonazi fragte, ob sie ihr Grundstück nicht verkaufen wollten, „solange Sie noch können“. Und dann brannte 2015 die Scheune der Lohmeyers nieder. Die „Wählergemeinschaft Heimat“ Aber die Lohmeyers sind noch da. Und nun will Birgit Lohmeyer den Kampf auf einem weiteren Wege fortführen: dem parlamentarischen. Im vergangenen September trat sie in die SPD ein und kandidiert nun am 26. Mai für die Wahl zum kleinen Gemeindeparlament in Gägelow, das auch Jamel umfasst, und für den Kreistag. Aber: Auch die Neonazis von Jamel treten zur Wahl an. Einige Wochen nach Lohmeyers SPD-Eintritt präsentierten sie ihre „Wählergemeinschaft Heimat“. Es ist ein erneuter Entscheidungskampf. Diesmal nicht nur um die Hoheit im Dorfalltag – sondern auch über die politischen Entscheidungen. Behält in Jamel die Demokratie die Oberhand? Birgit Lohmeyer ist eine fröhliche Frau, trotz allem, die sagt, sie könne nichts so leicht erschüttern. Vor gut einer Woche sitzt die 60-Jährige in ihrem Wohnzimmer, der Ofen bollert, eine der sechs Katzen schläft eingerollt auf dem Tisch. Lohmeyer trinkt Kaffee, lacht viel. Immer wieder fällt ihr Blick auf einen kleinen Bildschirm: die Aufnahmen der Überwachungskamera von ihrer Auffahrt. Als die Lohmeyers – sie freie Autorin, er Musiker – vor 15 Jahren nach Jamel zogen, war es eine Stadtflucht. Der alte Forsthof in Jamel, wie verwunschen, von Bäumen und Wiesen umwuchert, schien perfekt. Damals gab es nur einen einzigen Neonazi in Jamel: Sven Krüger. Dann aber folgten immer mehr – und verdrängten frühere Dorfbewohner. Die Lohmeyers blieben. Fast wie ein Kulissendorf „Wir lassen uns nicht vertreiben“, sagt Birgit Lohmeyer. „Dann hätten die Nazis ja gewonnen.“ Mehr noch: Das Paar hält dagegen. Seit 2007 organisieren die Lohmeyers jeden Sommer ein Musikfestival für Demokratie, das „Jamel rockt den Förster“. 1.500 Leute reisten dazu zuletzt an – und Musikgrößen wie Herbert Grönemeyer oder Bela B. von den Ärzten. Die Überreste der verkohlten Scheune stapelte das Paar als Skulptur in ihrem Vorgarten auf. Als Mahnmal. Aber die Neonazis machen weiter wie bisher. Erst vor zwei Monaten trat jemand den Gartenzaun der Lohmeyers ein. Mitten im Ort steht ein Schaukasten, momentan werden dort ein Rechtsrockfestival der NPD und „germanische“ Bräuche beworben. Ganz am Ende der Straße steht das Haus von Sven Krüger. „Frei, sozial, national“ kündet hier ein Schild. Im Garten weht eine große Fahne mit „Widerstand“-Aufdruck. Und gegenüber steht ein Traktor mit dem Emblem von Krügers Abrissfirma: Ein Mann, der etwas zerschlägt, das wie ein Davidstern aussieht. Das Ganze wirkt wie eine Karikatur, fast wie ein Kulissendorf. Zuletzt machten aber nicht mehr nur die Neonazis Ärger, sondern auch die Ämter. Für Lohmeyers Festival verlangte die Gemeinde plötzlich eine Kaution, um gemeindeeigene Wiesen zu nutzen, alles muss nun haarklein vertraglich fixiert werden. Dreimal habe die Gemeinde zuletzt Flächen ausgerechnet an Rechte verkauft oder verpachtet, berichtet Lohmeyer. Zuletzt war es die zentrale Dorfwiese. Alles soll schön harmlos klingen „Da ist mir schlicht und ergreifend die Hutschnur geplatzt.“ Offenbar sei einigen nicht klar, wie fatal ein „Kuschelkurs“ mit den Nazis sei. „Die Mehrheitsverhältnisse in der Gemeindevertretung müssen sich ändern.“ Lohmeyer will nun mit dafür sorgen. Warum die SPD? „Die SPD hat uns von Anfang an unterstützt“, sagt Lohmeyer. Schon früh wurde die SPD-Landtagspräsidentin die Schirmherrin für ihr Festival. Später folgte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, zum Festival im letzten Jahr reiste die Sozialdemokratin im Anti-Nazi-Shirt an. Jetzt aber macht auch Sven Krüger mobil, zusammen mit zwei Nachbarn, beide ebenfalls seit Jahren in der rechtsextremen Szene aktiv. Der 44-Jährige ist ein stämmiger Mann mit langem, geflochtenem Bart, der sich nach außen gern unbedarft gibt. Auf einem Werbebild für seine „Wählergemeinschaft Heimat“ steht Krüger nun lächelnd im Karohemd auf einem Feld. Er wolle etwas tun, damit es auf dem Land wieder mehr Kinder gebe, schreibt er dazu. Er setze sich ein für den Erhalt der Dörfer, günstiges Bauland und Freizeitangebote „für Jung und Alt“. Alles soll schön harmlos klingen. Krüger war zu einem Treffen bereit Aber es ist nicht harmlos. Schon Krügers Vater lebte in Jamel und war als Rechter bekannt. Der Sohn wurde rechtsextremer Skinhead, sammelte Vorstrafen, trieb sich im militanten Netzwerk der Hammerskins rum, saß für die NPD im Landesvorstand und 2009 schon mal im Kreistag. taz am wochenende Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Dann aber wanderte Krüger 2011 in den Knast, weil er illegal ein Maschinengewehr besaß und geklaute Bausachen verhökerte. Auch Sven Krüger war erst zu einem Treffen bereit. Dann, nach Rücksprache mit seinen Leuten, sagte er ab. Was solle bei einem taz-Artikel schon rauskommen, hieß es nun. Zuletzt marschierte Krüger am 8. Mai auf einem NPD-Aufmarsch in Demmin mit. In Grevesmühlen, gleich neben Jamel, betreibt er sein „Thinghaus“, einen Neonazitreff mit Konzerten und Kampfsport. Nach Jamel lud Krüger Ende April 80 Gleichgesinnte zu sich aufs Grundstück, zum „Mai-Tanz“. Und Krügers Wählergemeinschaft säuberte zuletzt die Zufahrtsstraße nach Jamel. Auf einem Foto wirft einer der Neonazis lächelnd einen gefundenen Becher von Lohmeyers Demokratiefestival in einen Müllsack. „Die Strecke gehörte uns“, heißt es dazu. Dazu hängte Krüger Plakate seiner Wählergemeinschaft in Jamel auf. Ein Plakat hängten sie direkt vor die Einfahrt der Lohmeyers. Was, wenn sie verliert? Birgit Lohmeyer zuckt darüber nur noch mit den Schultern. Eine Provokation, mal wieder, nun ja. Warum im Dorf keine SPD-Plakate hängen? „Wen sollen wir hier für die SPD gewinnen?“ Birgit Lohmeyer ist dafür in den umliegenden Gemeinden unterwegs, verteilt dort Flyer, stellt sich hinter Infotische. Und sie hat prominente Unterstützung – ihr Widerstand ist längst bundesweit bekannt. Vergangene Woche reisten SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und SPD-Bundesvize Ralf Stegner an, um Lohmeyers SPD-Ortsverband zu helfen. Und Ministerpräsidentin Schwesig erklärt: „Es freut mich, dass Birgit Lohmeyer für die SPD antritt.“ Doch die örtliche SPD zögerte, als Birgit Lohmeyer auf sie zukam. Vielen in der Region gelten die Lohmeyers auch als Unruhefaktor, das Naziproblem in Jamel wollen sie nicht so hochgehängt sehen. Der SPD-Ortsverband wählte Lohmeyer schließlich auf Listenplatz 4. Aber es bleibt ein Risikospiel: Denn am Ende der Wahl wird es Verlierer und Gewinner geben. Und es ist möglich, dass Birgit Lohmeyer nicht gewählt wird – Sven Krüger aber schon. Birgit Lohmeyer hat dieses Szenario durchaus mitbedacht. „Aber soll ich deshalb gar nicht erst antreten?“ Klappe es tatsächlich nicht, will sich Lohmeyer eben so ins Gemeindeparlament setzen, als interessierte Bürgerin. „Dann werde ich andere Wege finden, die Entscheidungen im Blick zu behalten.“ Gägelows Bürgermeister Uwe Wandel war lange Jahre SPD-Mann und ist mittlerweile Parteiloser. Er sagt über Birgit Lohmeyer: „Ist doch gut, wenn sie sich für die Gemeinde engagiert. Das hat sie ja bisher all die Jahre nicht gemacht.“ Aber das Festival? Gut, das schon, sagt Wandel. Wie lange ist es auszuhalten? Aber sonst, bei den Sitzungen der Gemeindevertretung, da habe er die Lohmeyers nie gesehen. Sven Krüger und seine Leute hingegen schon. Dabei hält Wandel auch von Krüger nichts. Der habe sich nun „einen kleinen Schafspelz übergehängt“, aber jeder wisse ja, wer Krüger und seine Leute wirklich seien: „stramme NPD-Genossen“. Birgit Lohmeyer„Meine Einstellung ist: Keine Geschäfte mit Nazis machen, fertig, aus“ Seit 2006 ist Uwe Wandel Bürgermeister. Vor Jahren noch kritisierte er, dass die Polizei den Neonazis in Jamel zu viel Freiraum lasse. Inzwischen ist der Autohändler leiser geworden. Auch wenn man wolle, man bekomme die Rechten nicht weg aus Jamel, sagt Wandel. „Letztendlich müssen wir mit diesen Menschen leben.“ Und die Verpachtung der Wiese an einen Rechten? Der Mann sei kein Parteimitglied, sei nicht vorbestraft, wehrt sich Wandel. „Soll ich bei jedem eine Gesinnungsprüfung machen?“ Es sind solche Aussagen, bei denen Birgit Lohmeyer ins Kopfschütteln verfällt. Der Wiesenpächter hänge mit Sven Krüger ab, an seinem Auto klebe das Dorfwappen der Neonazis. „Wie deutlich soll es noch werden?“, fragt Lohmeyer. „Meine Einstellung ist: Keine Geschäfte mit Nazis machen, fertig, aus.“ In Jamel direkt ins Gespräch zu kommen, ist schwierig: Das Dorf wirkt an diesem Tag verlassen, fast überall springt ein bellender Hund an den Zaun. Nur ein kahlgeschorener Mann im schwarzen „Abriss Krüger“-Pullover schlendert über die Straße. Und der ist bereits im Bilde, dass hier die taz unterwegs ist. Krüger sei nicht da, ruft er. Ob er denn verraten wolle, wie er zu Birgit Lohmeyer stehe? Würde er sie wählen? „Warum sollte ich?“ Wisse er denn, wer die Scheune der Lohmeyers anzündete? „Woher denn?“ Ein Gespräch ist nicht möglich, der Mann verzieht sich hinter seinen Gartenzaun. Wie lange ist all das auszuhalten? Irgendwann könne sie sich schon ein ruhiges Leben vorstellen, am Meer, ohne den ganzen Ärger, sagt Lohmeyer. So wie Horst und sie es sich anfangs für Jamel dachten. „Aber dann müsste das hier mit dem Haus erst geklärt sein.“ Das Haus an Rechte verkaufen würden sie nicht. Wer aber sonst will nach Jamel? Vielleicht wäre eine demokratische Tagungsstätte eine Lösung, sagt Lohmeyer. „Dann könnten wir eventuell gehen. Aber momentan steht das überhaupt nicht an.“ Erst kürzlich, am 1. Mai, stand Birgit Lohmeyer wieder auf der Straße, diesmal in Wismar. Eigentlich ein Erfolg, 1.000 Demonstranten standen 300 Rechtsextremen gegenüber. Doch den Lohmeyers schwante an diesem Tag auch, dass es noch ein langer Kampf werden könnte. Ein junger Neonazi-Demonstrant war der Sohn von Sven Krüger.
Konrad Litschko
Birgit Lohmeyer kämpft in Jamel gegen Neonazis. Damit will sie für die SPD im Gemeinderat weitermachen. Aber: Die Rechten treten auch an.
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Scharping mahnt Schröder - taz.de
Scharping mahnt Schröder Energieforum der SPD-Bundestagsfraktion vor den Konsensgesprächen mit der Regierungskoalition / Der SPD-Vorsitzende Scharping sieht keine Einigung auf neue AKW-Pläne  ■ Aus Bonn Niklaus Hablützel Gerhard Schröder behielt sich auch gestern das Schlußwort vor. Für Niedersachsens Ministerpräsident sind die Bonner Energie- Konsensgespräche, die heute fortgesetzt werden, noch nicht gescheitert. Er will der Regierungskoalition vorschlagen, Arbeitsgruppen zu erneuerbaren Energien und zur Kernkraft einzurichten. Berührungsängste sind ihm völlig fremd: Selbstverständlich könne in diesem Rahmen auch über die sogenannte Option gesprochen werden, einen neuen Reaktor zu genehmigen, sogar ohne einen Standort zu benennen. Dieses weitgehende Angebot an die Regierung und die Atomindustrie löst seit Wochen Identitätsängste der Sozialdemokraten aus. Der Nürnberger Parteitagsbeschluß zum Ausstieg aus der Atomenergie steht auf dem Spiel. Gestern hatte die Bundestagsfraktion ins Bonner Wasserwerk geladen. Partei- unf Fraktionschef Scharping wollte öffentlich klarstellen, daß auch die Energiepolitik Chefsache ist. Der Konflikt mit Schröder ist ungelöst. Scharping setzt auf eine Effizienzrevolution mit Spartechniken, Solar- und Windenergie, die zugleich die Arbeitsplätze in den Kohlerevieren sichern soll. Skeptisch merkte IGBE-Chef Berger an, daß mit solchen Versprechungen wohl keine Mehrheiten zu gewinnen seien. Darum ging es Scharping nicht. Er versuchte, seinen Rivalen aus Hannover auf seine eigene Definition des Begriffs „Konsens“ festzulegen. Konsens sei schon jetzt mit den anderen Parteien und in der Bevölkerung erreicht in der Frage der alternativen Energien. Über ihre Förderung, wie auch über die Zukunft der deutschen Braun- und Steinkohle, könne deshalb in den Bonner Parteiengesprächen sehr wohl eine Einigung erzielt werden. In der Frage der Atomenergie allerdings seien die Positionen endgültig unvereinbar. Lediglich „denkbar“ sei es, warnte Scharping, daß in Arbeitsgruppen über das Problem der radioaktiven Abfälle und über Endlagerstandorte geredet werde — unabhängig davon, ob für die alten Atomkraftwerke bestimmte Fristen gesetzt oder gar der Bau neuer Reaktoren zugelassen werde. Mehr ist nicht drin, am Ausstiegswillen der SPD dürfe kein Zweifel aufkommen. Allerdings solle sich die SPD- Energiepolitik, die zugleich eine Klimapolitik sei, nicht in „kleinkarierten, ideologischen Positionen verhaken“. Auch Hubert Weinzierl, Vorsitzender des BUND, riet den Sozialdemokraten zum Marsch an der Atomfrage vorbei. Die „große gesellschaftliche Debatte“ sei in Bonn zu einem Gefeilsche um Atom und Kohle verkommen. 50 Milliarden Mark sollten in den nächsten 15 Jahren ausgegeben werden, um Spartechniken, Sonnen- und Windenergie zu fördern. Die Investitionen müßten ja nicht an den Ausstieg aus der Atomenergie gebunden werden.
Niklaus Hablützel
Energieforum der SPD-Bundestagsfraktion vor den Konsensgesprächen mit der Regierungskoalition / Der SPD-Vorsitzende Scharping sieht keine Einigung auf neue AKW-Pläne  ■ Aus Bonn Niklaus Hablützel
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Präsidentschaftswahl in Togo: Kein Machtwechsel in Sicht - taz.de
Präsidentschaftswahl in Togo: Kein Machtwechsel in Sicht Faure Gnassingbé bleibt Präsident. Er kann die Langzeitherrschaft seiner Familie fortführen. Die Opposition hat Zweifel an den Ergebnissen. Anhängerin auf einer Wahlveranstaltung von Faure Gnassingbé Foto: Sunday Alamba/ap LOMÉ taz | Zumindest eine Überraschung hat es in Togo bei der Präsidentschaftswahl am Samstag gegeben. Nach Angaben der unabhängigen Wahlkommission lag die Wahlbeteiligung bei 76,63 Prozent – 15,7 Prozent höher als bei der letzten Wahl vor fünf Jahren. Dabei war die Bürgerrechtsbewegung Togo Debout in der vergangenen Woche noch von rund 35 Prozent ausgegangen. Überraschend ist das Ergebnis selbst indes nicht: Amtsinhaber Faure Gnassingbé, der seit 2005 an der Macht ist, hat die Wahl mit 72,36 Prozent gewonnen und konnte einen Stimmenzuwachs von 14 Prozent verzeichnen. Seine Familie herrscht in Togo schon seit 53 Jahren. Zweiter wurde Oppositionsführer Agbéyomé Kodjo mit 18,37 Prozent. Jean-Pierre Fabre erhielt 4,35 Prozent der Stimmen und ist der große Verlierer – 2015 hatte er noch gut 35 Prozent geholt. Das Ergebnis wurde ungewöhnlich schnell am frühen Montagmorgen bekannt gegeben, obwohl man erst gegen Abend mit Zahlen gerechnet hatte. Allerdings hatte der Präsident der unabhängigen Wahlkommission, Tchambakou Ayassor, bereits am Sonntagnachmittag angekündigt, man wolle sich beeilen: Je länger es dauert, desto größer seien die Spekulationen. Im Vorfeld der Wahl hatten in der Hauptstadt Lomé viele Menschen – angesprochen auf die Wahlen – abgewunken. Das Ergebnis würde doch schon längst feststehen, sagten sie. Allerdings werden Wahlen in der ganzen Region auf dem Land gewonnen, die Beteiligung in den Städten ist ansonsten eher gering. Kodjo will auch Sieger sein Dort und vor allem im Norden hat Wahlgewinner Faure Gnassingbé seine Anhängerschaft, die den Sieg schon lange vor der nächtlichen Pressekonferenz der Wahlkommission bekanntgegeben hatte. In der Hauptstadt hat auch Mawaba Tagba für ihn gestimmt. „Natürlich gibt es noch Herausforderungen“, sagt er über die Politik von Gnassingbé und dessen Partei für die Republik (UNIR). Im sozialen und wirtschaftlichen Bereich sei aber schon viel erreicht worden. Der Präsident habe viele Arbeitsplätze geschaffen, die Bedingungen für internationale Organisationen seien gut. Im Land lebt mehr als die Hälfte der 7,9 Millionen Einwohner*innen weiterhin unterhalb der Armutsgrenze und hat weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Nach der Bekanntgabe der Ergebnisse blieb es auf den Straßen von Lomé ruhig, nur an einigen Straßenecken war mehr Militär als üblich zu sehen. Oppositionskandidat Kodjo will das nicht hinnehmen. Schon am Sonntagabend präsentierte er sich als der rechtmäßiger Sieger der Präsidentschaftswahl. Die Ergebnisse würden nicht den Willen des Volkes spiegeln. Ob er und seine Anhänger*innen zu Protesten mobilisieren können, ist jedoch unklar. Kodjo, der unter Gnassingbés Vater Eyadéma Gnassingbé von 2000 bis 2002 Premierminister war, gilt nicht als jemand, der dem Land einen wahren Machtwechsel bringt und als niemand, der die restliche Opposition und die Zivilgesellschaft hinter sich vereinen kann.
Katrin Gänsler
Faure Gnassingbé bleibt Präsident. Er kann die Langzeitherrschaft seiner Familie fortführen. Die Opposition hat Zweifel an den Ergebnissen.
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Wirtschaftswachstum in Deutschland: So stark wie vor der Krise - taz.de
Wirtschaftswachstum in Deutschland: So stark wie vor der Krise Deutschlands BIP wächst schneller als das der anderen großen EU-Länder: 5,2 Prozent. Die Prognosen für Griechenland und Portugal wurden nach unten korrigiert. Verkauft ins Ausland: Beladenes Containerschiff im Hamburger Hafen. Bild: dpa Die Finanzkrise ist vorbei, zumindest ökonomisch: Die deutsche Wirtschaftsleistung hat wieder das Niveau von Anfang 2008 erreicht, wie das statistische Bundesamt am Freitag mitteilte. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im ersten Quartal dieses Jahres um 1,5 Prozent gewachsen - im Vergleich zum ersten Quartal 2010 waren es sogar 5,2 Prozent. Das ist ein Rekord in der bundesdeutschen Geschichte seit der Wiedervereinigung. Doch nicht nur Deutschlands Wirtschaft wächst, auch die meisten Nachbarländer steigerten ihre Wirtschaftsleistung. Das BIP der Gesamt-EU und der Eurozone legte im Vergleich zum ersten Quartal 2010 um jeweils 2,5 Prozent zu, wie die europäische Statistikbehörde Eurostat am Freitag mitteilte. Damit wuchs die EU-Wirtschaft stärker als die der USA, die im Vergleich zum Vorjahresquartal 2010 nur auf ein Plus von 2,3 Prozent kam. Neben Deutschland wuchsen vor allem Litauen (6,8 Prozent), Finnland (5,2 Prozent) und Österreich (4 Prozent). Griechenland hingegen musste ein Minus von 4,8 Prozent verkraften. Die EU-Kommission korrigierte daher ihre Prognose für Griechenland nach unten: Sie rechnet 2011 nun mit einer Gesamtverschuldung von 157 Prozent des BIPs. Im kommenden Jahr sollen es sogar 166,1 Prozent sein. Damit sitzt Griechenland in der Schuldenfalle: Die bisherigen Sparanstrengungen haben die Rezession sogar noch verschärft, sodass die bisherigen Kredithilfen von 110 Milliarden Euro nicht ausreichen werden. Auch für Portugal sind die Aussichten nicht günstig, das ein Hilfspaket von knapp 80 Milliarden Euro bekommen soll. Die EU-Kommission rechnet damit, dass die portugiesische Wirtschaft in diesem Jahr um 2,2 Prozent schrumpfen wird. Nächstes Jahr soll das Minus dann 1,8 Prozent betragen. Die Schulden werden im Jahr 2011 auf 107,4 Prozent des BIP steigen. Das sind 15 Prozentpunkte mehr, als noch vor sechs Monaten prognostiziert. Nur das angeschlagene Irland wächst ein bisschen: Für 2011 prognostizieren die EU-Experten ein Plus von 0,6 Prozent. Die Staatsschulden werden aber trotzdem auf 112 Prozent des BIP steigen. Der Aufschwung in vielen Ländern Europas zeigt sich auch in der Atmosphäre: Die deutschen Kohlendioxidemissionen haben 2010 wieder deutlich zugenommen, erklärte am Freitag das Umweltbundesamt (UBA). Die Treibhausgasemissionen aus Industrie und Kraftwerken lagen 2010 um sechs Prozent über den Werten von 2009. In diesem Krisenjahr waren Produktion und Energieverbrauch eingebrochen. Die Emissionen von 2010 überstiegen mit 454 Millionen Tonnen CO2 knapp die jährlich erlaubte Obergrenze von 452 Millionen Tonnen, was durch den Zukauf von Emissionszertifikaten ausgeglichen wurde. Eine Belastung ist der Emissionshandel für die Industrie allerdings kaum, betonte das UBA. Nur die Energiewirtschaft habe Zertifikate zukaufen müssen - fast alle anderen Branchen waren dagegen so großzügig mit Verschmutzerlizenzen ausgestattet worden, dass sie diese sogar verkaufen konnten. Allein zwischen 2008 und 2010 habe die Menge der nicht gebrauchten Zertifikate "einen aktuellen Marktwert von etwa 1,1 Milliarden Euro", hieß es.
U. Herrmann
Deutschlands BIP wächst schneller als das der anderen großen EU-Länder: 5,2 Prozent. Die Prognosen für Griechenland und Portugal wurden nach unten korrigiert.
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Der Hausbesuch: Deutsch-amerikanische Freundschaft - taz.de
Der Hausbesuch: Deutsch-amerikanische Freundschaft Michael Bauer und Amy Padula versuchen ihr Bestes, um sich zwei Länder, Deutschland und die USA, anzueignen – und machen dabei auch noch Karriere. Noch wohnen Amy Padula und Michael D. Bauer in Hamburg – nächtes Jahr geht es in die USA Foto: Miguel Ferraz Araujo Er ist Deutscher, sie US-Amerikanerin. Idealerweise wären sie Riesen, damit sie mit je einem Bein in beiden Ländern stehen könnten. Draußen: Es ist wuselig in der Osterstraße, der Hauptschlagader des Hamburger Stadtteils Eimsbüttel. Die Leute flanieren die Straße entlang, sitzen in Restaurants, vor Cafés. Den meisten Menschen, die hier leben, geht es gut, zumindest finanziell. Bei der letzten Bundestagswahl erhielten die Grünen 29,8 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt von der SPD. Drinnen: Mit ihren kleinen Kindern Lucas und Lina leben Amy Padula, 44, und Michael Bauer, 43, im zweiten Stock eines schicken Neubaus. Familienfotos säumen die Wände. Vor zweieinhalb Jahren sind sie nach Hamburg gezogen. „Das hier war die erste Wohnung, die wir uns angeschaut haben und wir haben uns sofort wohlgefühlt.“ Auf dem Tisch steht Kaffee, die Kinder naschen aus bunten Tüten vom letzten Kindergeburtstag. Lina berichtet aufgeregt von ihrem Schwimmkurs. Tugenden: Michael Bauer wächst in Ahrensburg auf, einer Kleinstadt vor den Toren Hamburgs. Sein Vater ist ein Kaufmann, die Mutter, eine Französin, leitet das Büro einer Schülerhilfe bis heute. „Mein Vater stand für norddeutsche, bürgerliche Tugenden. Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Fleiß. Meine Mutter sorgte für Wärme und Verständigung.“ Aus der ersten Ehe seines Vaters gibt es zwei Halbbrüder, einer von ihnen war Bauers Trauzeuge. „Er ist immer noch mein bester Freund. Als ich Kind war, war mein Vater viel auf Reisen. Da hat mein großer Bruder diese Rolle ein bisschen übernommen.“ Subkultur und Ehrgeiz: Als Teenager spielt Hiphop für ihn eine große Rolle, und Sport. Sich verausgaben. „Ich habe Basketball gespielt, war viel auf Partys, Scratchen, Deejayen. Das war die Zeit damals.“ Aber da ist noch eine andere Seite: Er verdient sich sein Geld mit Nachhilfe, macht ein sehr gutes Abitur. „Dieses Jonglieren zwischen Subkultur und Ehrgeiz war bei mir immer ein bisschen ambivalent.“ Während der Schulzeit verbringt er ein halbes Jahr in Seattle; von da an steht für ihn fest, dass er mehr von den USA sehen will. Der amerikanische Traum: Amy Padulas Vorfahren sind aus Italien in die USA gekommen, verwirklichen den American Dream. „Meine Urgroßeltern waren noch Feldarbeiter, mein Vater dann first generation college und seine drei Kinder waren schon wie selbstverständlich auf der Uni.“ Ihr Vater ist Chirurg, auch ihre Mutter ist Ärztin, ihre beiden älteren Brüder ebenfalls. Ihre Heimatstadt Philadelphia erinnere sie ein bisschen an Hamburg, sagt Amy Padula, die zwischen Englisch und Deutsch wechselt – „a cool, underrated city“. Als sie acht ist, fährt sie zur Hochzeit ihrer Patin nach Kalifornien, von da an hat auch sie einen Traum: „Ich wollte unbedingt dort leben.“ Drinnen: Im Bücherregel steht das Buch eines Kollegen im Vordergrund Foto: Miguel Ferraz-Araujo Karriere: Michael Bauer geht nach dem Abitur zum Bund. „Dort hat mich beeindruckt, Jungs mit ganz verschiedenen Hintergründen, Mentalitäten, Reifegraden kennenzulernen. Das war eine Vielfalt, Diversität, die ich so aus dem homogenen Pulk der Ahrensburger Gymnasiasten nicht kannte.“ Nach dem Bund war die Marschroute klar. Er studiert Wirtschaft an der Universität St. Gallen, einer staatlichen Kaderschmiede in der Schweiz. Einen Großteil des Studiums finanziert er selbst. Kalifornien: Amy Padula studiert Anthropologie in Pennsylvania. In ihrer Mediziner:innen-Familie wird sie dafür belächelt. Sie hält das aus, liebt Sport, Schwimmen, Squash, Klettern. Im Jahr 2000 macht sie ihren Master und endlich ist es soweit: Sie fährt mit dem Auto 3.000 Meilen von der Ostküste zur Westküste. An der University of California fängt sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an, fünf Jahre macht sie den Job, bis sie doch noch das Medizin-Virus packt: Sie beginnt eine Doktorarbeit in Epidemiologie an der Eliteuniversität Berkeley, wird Postdoktorandin in Stanford. „Ich fand meine Arbeit an der Uni interessant, aber ich wollte nicht, dass alte, weiße Männer über meine Arbeit entscheiden. Deshalb brauchte ich den Doktortitel.“ wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. San Diego: Nach seinem Masterabschluss in VWL heuert Michael Bauer bei einer Schweizer Privatbank an, aber da ist auch noch der Traum von der Promotion in den USA. Er wird für ein Programm in San Diego angenommen, 2005 packt er seine Koffer. Es sei noch besser gewesen, als er es sich je erträumt hatte, sagt er. „Auf dem Campus vibriert das Leben.“ Den Studienstress gleicht er mit Surfen aus, man lebe in San Diego mehr oder weniger am Strand, erzählt Bauer. „Auch intellektuell war die Zeit sehr anregend, da wurde Top-Ökonomie gemacht, Forschung auf höchstem Level.“ Möglich war das alles nur, weil seine Mutter eine Hypothek auf ihr Haus aufgenommen hat, für die Studiengebühren und ein gebrauchtes Auto. „Das rechne ich ihr immer noch sehr hoch an.“ San Francisco: 2010 macht Bauer seinen Doktor und findet einen Job in San Francisco bei der Fed, der US-Notenbank Federal Reserve. Bauer forscht zu Geldpolitik und ist wieder begeistert: „San Francisco ist eine Weltmetropole der Toleranz, religiös, sexuell, gesellschaftspolitisch. Dagegen war San Diego provinziell.“ Amy Padula nickt, erzählt von den Partys, den vielen Möglichkeiten, der Sonne, der Landschaft. Auf einer Russian Theme Party lernen sie sich schließlich kennen. Er ist als Gangster verkleidet, sie als Diva. Verbindung: Er hat den schwarzen Gürtel in Karate, fragt sie, ob sie ihn mal zum Training begleiten will. Von da an ist sie dabei. Es ist der Sport, der sie verbindet, zusammen laufen sie unter anderem einen Halbmarathon auf Hawaii. Ihre Vorstellungen davon, wie ein Leben zu leben ist, verbinden sie ebenfalls „Wir wollen uns beide beruflich verwirklichen und Karriere machen“, sagt sie. In Kalifornien habe er seinen Traumjob und seine Traumfrau gefunden, sagt er. Rückkehr: Als Bauer eine Professur an der Uni Hamburg angeboten wird, ziehen sie nach Deutschland. Lina und Lucas wachsen zweisprachig auf, sollen die Heimat des Vaters kennenlernen. Es war „trial and error“, sagt Amy, aber die richtige Entscheidung. Inzwischen ist sie Professorin für Epidemiologie an der University of California, kann aber remote, also aus der Entfernung, arbeiten. „Es war ein großes Glück, dass wir die Coronazeit nicht in Amerika verbracht haben. Es war eine Katastrophe dort.“ Draußen: Blick auf die Nachbarhäuser vom Balkon auf der Rückseite des Hauses Foto: Miguel Ferraz-Araujo Germany: Amy Padula gefällt an Deutschland, dass die Menschen sich füreinander verantwortlich fühlen. „Neulich hat mich jemand darauf aufmerksam gemacht, dass mein Schnürsenkel offen ist, das würde in den USA nicht passieren.“ Es gebe Regeln, an die man sich halte, für die Gemeinschaft. „Bei uns steht das Individuum im Vordergrund, jeder kämpft für sich.“ Auch die staatlichen Leistungen seien hier besser. „In Amerika kannst du ein gutes Leben haben, wenn du es dir leisten kannst.“ Und jetzt das: „Wir gehen zurück.“ Heute in einem Jahr sind sie wieder in San Francisco. „Ich werde bestimmt weinen“, sagt Michael Bauer. In erster Linie sei es eine Karriereentscheidung. „Meine wissenschaftliche Karriere ist in den USA“, sagt sie. Die Videokonferenzen und die Zeitverschiebung zehren an ihr. Wenn sie das mit der Gleichberechtigung hundertprozentig durchziehen wollen, dann geht das nur in Amerika. „Dort ist die Spitzenforschung in meinem Bereich.“ Er kann zurück in seinen alten Job, wird bei der Fed weiterforschen. Mit Wenn und Aber: Die aktuellen Entwicklungen in den USA machen beiden Angst. „Das wäre ein Grund, hier zu bleiben.“ Amy Padula forscht zu Geburtshilfe, Gynäkologie und Reproduktionswissenschaften, die Rückschritte für Frauen, etwa beim Abtreibungsrecht, erfüllen sie mit Sorge. „Da kommt ein politisches Desaster auf uns zu.“ Trotzdem ist da auch Sehnsucht. Amerika sei so viel mehr, sagt er. „Toleranz, Warmherzigkeit. Kreativität, Kultur, Natur, Freunde. Auf all das freuen wir uns.“ Trotz allem sei es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Und die Kinder? „Die verstehen es noch nicht so richtig.“
Lea Schulze
Michael Bauer und Amy Padula versuchen ihr Bestes, um sich zwei Länder, Deutschland und die USA, anzueignen – und machen dabei auch noch Karriere.
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Teure Raketen für Amerika - taz.de
Teure Raketen für Amerika Das neueste Rüstungsprojekt der Bundeswehr ist von zweifelhaftem Nutzen.Es passt allerdings in die Militärstrategie der Vereinigten Staaten unter George Bush BERLIN taz ■ Die Rüstungspläne der Luftwaffe stoßen bei Experten auf scharfe Kritik. Auch innerhalb der rot-grünen Regierungskoalition ist das Raketenprojekt „Medium Extended Air Defense System“ (MEADS) umstritten. Gemeinsam mit den USA und Italien will die Luftwaffe ein neues Raketenabwehrsystem entwickeln, das ab 2012 einsatzbereit sein soll. Im Parlament gibt es bisher nur wenig Widerstand. Der Haushaltsausschuss muss im Januar über die Beteiligung entscheiden. Der Rüstungsexperte Bernd Kubbig kritisiert das Projekt scharf: „Ich sehe für das System wenig Bedarf“, sagte der Wissenschaftler gestern in Berlin. In einem Gutachten der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung argumentiert Kubbig, die Beschlussvorlagen von Bundestag und Verteidigungsministerium seien „inkonsistent und widersprüchlich“. Bei dem Projekt geht es um die Weiterentwicklung des Patriot-Abwehrsystems, das in Israel während des zweiten Golfkriegs eingesetzt wurde, um irakische Raketen abzufangen. Die kleinen MEADS-Raketen sollen Flugzeuge und Marschflugkörper im Umkreis vom 1.000 Kilometern in der Luft abfangen können. Der Verteidigungsausschuss des Bundestags hat einen Bericht zu dem Projekt bereits am 10. November durchgewunken. Im Januar muss der Haushaltsausschuss entscheiden, ob die Raketen ihr Geld wert sind. Der Bundesrechnungshof hat daran ernsthafte Zweifel. Die Rechnungsprüfer hatten den Abgeordneten geraten, zunächst die gesamten Kosten für die neuen Raketen abzuschätzen. Bisher steht in der Vorlage des Parlaments nur der deutsche Anteil an den Entwicklungskosten, der 995 Millionen Euro betragen soll. Was dagegen in der Kalkulation fehlt, sind die Kosten für die Anschaffung der Raketen und Abschussrampen in acht Jahren. Kubbig rechnet damit, dass dann 10 bis 12 Milliarden Euro fällig sein werden, für 12 bis 24 der neuen Abwehrsysteme. „Als Vorsorge gegen ein schmales Risikospektrum ist das System ausnehmend teuer“, sagt auch Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Er hält das Projekt auch militärisch für zweifelhaft. Laut Vorlage des Verteidigungsministeriums sollen die neuen Raketen zur Landesverteidigung, zum Schutz von Bundeswehrsoldaten bei Auslandseinsätzen und zur Terrorabwehr eingesetzt werden. Für all diese Aufgaben sei das System aber wenig geeignet, sagt Kubbig. Denn innerhalb der Reichweite der Abwehrraketen ist Deutschland von stabilen befreundeten Staaten umgeben; um Soldaten zu schützen seien die bis zu 4,5 Millionen Euro teuren Geschosse zu teuer und auch die Kreativität von Terroristen würden die Militärs mit ihren Plänen unterschätzen. „Offenbar hat das Vorhaben vor allem transatlantische und industriepolitische Gründe“, sagt Nachtwei. Die Abfangraketen seinen als Teil des Raketenschirms zu verstehen, den die US-Regierung über Nordamerika und Europa errichten will. Am Firmenkonsortium, von dem das System entwickelt wird, ist auch der europäische Rüstungskonzern EADS beteiligt. „Die Abgeordneten der Union verhalten sich als Lobbyisten des Projekts“, kritisiert Nachtwei seine Ausschusskollegen. Dabei könnten industriepolitische Hoffnungen enttäuscht werden: Das Know-how würden die Amerikaner für sich behalten, schreibt Militärexperte Kubbig. Das sei im Vertrag zwischen Deutschland, Italien und den USA so vorgesehen. DANIEL ZWICK
DANIEL ZWICK
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Expertin über geflüchtete Erzieher_innen: „Seit Jahren brennt es schon“ - taz.de
Expertin über geflüchtete Erzieher_innen: „Seit Jahren brennt es schon“ Familienministerin Paus will geflüchtete Erzieher_innen besser fördern. Delal Atmaca von DaMigra fordert eine bessere Ansprache im Jobcenter. Die Schule München-Odessa bietet Deutschunterrricht für Geflüchtete aus der Ukraine Foto: Florian Peljak/picture alliance taz: Frau Atmaca, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus will geflüchtete Erzieherin_innen besser in den Arbeitsmarkt bringen. Wie schätzen Sie diese Nachricht ein? Delal Atmaca: Es ist tatsächlich positiv, was die Anerkennung von Berufen angeht. Aber die selektive Anerkennung von ausländischen Berufsausschlüssen ist schade. Und die Fachverbände fragen sich natürlich: Warum erst jetzt? Es wird seit Jahren gefordert, seit Jahren brennt es schon. Dazu kam die Studie der Bertelsmann Stiftung letztes Jahr. Sie meinen die Studie, die berechnet hat, dass bundesweit etwa 384.000 Kitaplätze und etwa 100.000 Erzieher_innen fehlen. Genau. Fachkräftemangel in Erziehungseinrichtungen besteht auch, weil diese Berufe nicht attraktiv sind. Mitarbeitende sind überarbeitet, werden schlecht bezahlt, Ressourcen fehlen. Das ist oft so in Berufen, die feminisiert sind. Viele Geflüchtete, die bereits als Erzieher_innen gearbeitet haben, würden natürlich gerne arbeiten. Aber es hat einen bitteren Beigeschmack, wenn unter dem Deckmantel von Integration und Systemrelevanz Zugänge geschaffen werden, die weiterhin stereotype Geschlechterrollen zementieren, und Betroffene immer noch an Hürden scheitern. im Interview:Delal AtmacaFoto: DaMigraist Geschäftsführerin und Mitbegründerin des Dachverbandes der Migrantinnenorganisationen (DaMigra e.V.). Sie studierte Rechtswissenschaften und Kooperationsökonomik und promovierte in Volkswirtschaftslehre. Haben Sie ein Beispiel? Das fängt dabei an, dass man immer einen Arbeitsnachweis braucht. Wenn ich aus der Ukraine fliehe, nehme ich vielleicht meinen Personalausweis mit, aber doch nicht meinen Berufsnachweis. Oder mein Diplom oder mein Abiturzeugnis. Das ist eine Hürde von vielen. Oder dass neu zugewanderte oder geflüchtete Frauen ihre Rechte oft nicht kennen, heißt, Arbeitsagenturen müssen Informationen mehrsprachig und zugänglich zur Verfügung stellen. Gibt es da geschlechtsspezifische Unterschiede? Klar. Geflüchtete Frauen haben oft keinen Zugang zu Sprachkursen, aber verlangt werden Sprachkenntnisse. Sie finden keine Kitaplätze. Auch bei ihnen ist das Patriarchat nicht abgebaut, die stereotype Rollenverteilung ist auch nicht anders als in Deutschland: Es wird verlangt, dass die Frau sich um die Kinder kümmert. Aber wenn sie in einen Sprachkurs gehen würden, hätten sie auch mehr Möglichkeiten. Quasi ein Teufelskreis. Auf welchem Niveau sollten Erzieher_innen Ihrer Meinung nach denn Deutsch sprechen – ginge es im Zweifel auch ohne Sprachkenntnisse? Es ist sehr wichtig, dass sie Deutsch können, für das gemeinsame Miteinander und die Verständigung. Aber es kommt auch immer darauf an: Gibt es schon fünf Erzieher_innen in der Kita, deren Muttersprache Deutsch ist? Dann können sie es auffangen, dass zwei geflüchtete Erzieher_innen noch nicht gut Deutsch können. Sie lernen dann im Alltag. Und es kommt auch darauf an, was das für eine Kita ist. Inwiefern? Wenn es eine Sprachkita ist, in der die Kinder türkisch-deutsch erzogen werden, macht es vielleicht weniger aus als anderswo. Aber alles ist Kontext. Zum Beispiel fehlen prozentual gesehen die meisten Erzieher_innen in Mecklenburg-Vorpommern. Da stellt sich die Frage: Wollen Geflüchtete in ländliche Regionen, in denen normalisierte rassistische Anfeindungen sie vielleicht mehr treffen? Man muss es ganzheitlich sehen. Die Familienministerin spricht vor allem mit der Arbeitsagentur dazu. Was sollte Ihrer Meinung nach dort verbessert werden? Behördenmitarbeitende sprechen die Frauen zu wenig an oder sagen zum Beispiel: Ach, du hast im Bereich Erziehung Erfahrung – schlagen dann aber nur einen Praktikumsplatz vor. Da fehlt Wertschätzung für Erfahrung und Leistung. Und zeitgleich gibt es Frauen, denen jahrelange Praxiserfahrung fehlt, die total gerne in der Kita oder der Schule ein Praktikum machen würden, um das Praktische zu erleben. Sie müssen gezielter angesprochen werden. An welcher Stelle sollte das eingebracht werden? Das kann beim Asylantrag schon gefragt werden, wenn es zum Beispiel um die Erfahrung geht. Aber auch bei der Beratung im Jobcenter könnte das besser angesprochen werden. Und gesamtgesellschaftlich natürlich auch: Die Menschen, die hierher nach Deutschland gekommen sind, verfügen über wertvolles Wissen und Fähigkeiten. Das muss Wertschätzung erfahren und gefördert werden. Also braucht es vor allem Schulungen beim Personal, wenn ich es richtig verstehe? Genau. Und wir müssen aufpassen, dass wir geflüchtete Frauen, die andere Erfahrungen mitbringen, nicht zu Quereinsteiger_innen machen. Oft wird übersehen, dass Frauen, zum Beispiel aus dem Iran, Irak oder afrikanischen Ländern, beispielsweise Ingenieurinnen sind. Wenn wir sie zu Erzieherinnen umschulen oder in Care-Berufe im Gesundheitswesen stecken, ist das keine Gleichstellung. Der Zugang zu Weiterbildung oder zum Arbeitsmarkt ist mit Schwierigkeiten verbunden und Barrieren müssen abgebaut werden. Die Politik sollte Veränderung vorantreiben und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteur_innen vertiefen. Nur so wird die Theorie der Praxis gerecht.
Nicole Opitz
Familienministerin Paus will geflüchtete Erzieher_innen besser fördern. Delal Atmaca von DaMigra fordert eine bessere Ansprache im Jobcenter.
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Hin zum Regenbogen - taz.de
Hin zum Regenbogen Das südafrikanische Team wird Rugby-Weltmeister und trägt zur politischen Versöhnung bei  ■ Aus Durban Kordula Doerfler Bei „Joe Kools“, einer der schicken Bars am kilometerlangen Strand von Durban, herrscht drangvolle Enge. Hunderte von braungebrannten Beach boys und girls haben ihrer liebsten Beschäftigung, dem Wellenreiten, abgeschworen, um sich vor den in jeder Ecke aufgebauten Fernsehschirmen zu versammeln. Nicht gerade das typische weiße Rugby-Publikum, aber Südafrika kennt an diesem Samstagnachmittag keine Rassen mehr, sondern nur noch Rugby-Fans. In allen Teilen des Landes verfolgen Hunderttausende in Kneipen und eigens aufgebauten Zelten das Endspiel der Weltmeisterschaft. Wider Erwarten hat es die südafrikanische Nationalmannschaft bis ins Finale geschafft. Jetzt muß sie antreten gegen den großen Favoriten Neuseeland. Das Land am Kap stand in den vergangenen Wochen unter Hochspannung. Zum ersten Mal ist es Veranstalter eines internationalen Großereignisses, zu dem immerhin 20.000 Besucher aus allen Teilen der Welt eingeflogen sind. Nach der jahrzehntelangen Isolation während der Apartheid-Zeit ist das Labsal für die Seelen vor allem der weißen Südafrikaner. Daß es die „Springboks“ ganz nebenbei auch noch geschafft haben, sich an die Weltspitze zu spielen, macht das Glücksgefühl perfekt – und führt zu einer Art von nationaler Versöhnung, die den in der Vergangenheit rein weißen Sport zum symbolischen Ereignis macht. Dem trägt auch Präsident Nelson Mandela Rechnung, als das Spiel im ausverkauften Ellis-Park- Stadion in Johannesburg eröffnet wird. Nach einer perfekten Show mit viel afrikanischer Folklore betritt der Präsident den Rasen: mit der grünen „Springbok“-Mütze auf dem Kopf, die er schon in den vergangenen Wochen bei politischen Veranstaltungen trug, und einem Trikot. Jedem einzelnen Spieler der Springboks schüttelt er die Hand und wünscht „unseren Jungs“ viel Glück; anschließend auch den „All Blacks“ genannten neuseeländischen Spielern. Und dann geschieht das Unerwartete. Nur in den ersten Minuten beherrschen die Neuseeländer das Spiel. Offenbar haben sie den Rat ihres Präsidenten befolgt: Mandela gab ihnen mit auf den Weg, sich nicht allzusehr auf Jonah Lomu, den momentan weltbesten Rugbyspieler, zu konzentrieren, sondern die ganze neuseeländische Mannschaft im Auge zu behalten. Die Südafrikaner sind zwar taktisch unterlegen, aber greifen immer munter an und bringen so die „All Blacks“ aus dem Konzept. Nach Abpfiff der regulären Spielzeit steht es 9:9. Der Star des Spiel ist nicht etwa Lomu, sondern der Südafrikaner Joel Stransky, der mit seinen erfolgreichen Tritten durch die gegnerischen Stangen Südafrika schließlich in der Verlängerung zum 15:12-Sieg verhilft. Das Ellis-Park-Stadion in Johannesburg verwandelt sich in ein Meer aus den neuen südafrikanischen Flaggen, draußen auf den Straßen tanzen und singen die Menschen, Schwarze und Weiße. Autokorsos fahren hupend durch die Straßen. Erneut betritt Mandela den Rasen und überreicht strahlend dem tränenüberströmten Kapitän der Südafrikaner, François Pienaar, den begehrten Pokal. Während seines ersten Interviews bedankt sich Pienaar zutiefst gerührt nicht nur bei den 60.000 Zuschauern im Stadion: „Wir hatten in den vergangenen Wochen 40 Millionen Fans.“ Und damit hat er recht. Ausgerechnet die Rugby-WM hat Südafrika der Vision des Erzbischofs von Kapstadt, Desmond Tutu, der „Regenbogen-Nation“, ein Stück näher gebracht. Die südafrikanische Rugby-Mannschaft, mit einer Ausnahme immer noch blütenweiß glänzend, hat eine bislang unbekannte Popularität in den Townships erlangt. Und jenseits der perfekten Vermarktung durch die Sponsoren wurde ein Wir-Gefühl ohne schalen Beigeschmack erzeugt. Das „neue Südafrika“ hat zudem unter Beweis gestellt, daß es durchaus in der Lage ist, friedlich eine internationale Sportveranstaltung zu organisieren, wenn die Besucherzahlen und die Logistik auch bei weitem nicht mit denen von Olympischen Spielen oder Fußball-Weltmeisterschaften zu vergleichen sind. Für die Bewerbung Südafrikas auf die Olympiade im Jahr 2004 auf jeden Fall ein Pluspunkt, den auch Mandela mit seiner Versöhnungsstrategie zu nutzen verstand. Bekäme Südafrika tatsächlich den Zuschlag, wäre es das erste Mal, daß Olympische Spiele auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden.
Kordula Doerfler
Das südafrikanische Team wird Rugby-Weltmeister und trägt zur politischen Versöhnung bei  ■ Aus Durban Kordula Doerfler
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Nach Großspende an die CDU: Kritik reißt nicht ab - taz.de
Nach Großspende an die CDU: Kritik reißt nicht ab Der Geldregen für die CDU durch die BMW-Hauptaktionäre sorgt weiter für Kritik. Die Forderung nach neuen Regeln für Parteispenden wird lauter. Alles nicht so wild. Die Bundeskanzlerin bei der Kabinettssitzung. Bild: dpa BERLIN dpa | Nach Bekanntwerden einer Großspende von Hauptaktionären des Autobauers BMW an die CDU wird der Ruf nach neuen Regeln für die Parteienfinanzierung lauter. Die Antikorruptions-Organisation Transparency International Deutschland forderte Bundespräsident Joachim Gauck auf, die Initiative zu ergreifen. Er könne nach dem geltenden Recht eine Kommission einberufen, wenn er den Eindruck habe, dass bei der Parteienfinanzierung etwas schieflaufe, sagte die Verbandsvorsitzende Edda Müller gegenüber Zeit Online. Sie plädierte auch dafür, die Höhe der Parteispenden zu begrenzen. „Ein Konzern sollte pro Jahr maximal 50.000 Euro an eine Partei spenden dürfen“, sagte sie der Mitteldeutschen Zeitung. Das erschwere „den besonders finanzkräftigen Lobbyinteressen“ ein wenig die Einflussmöglichkeit. Zuvor hatte bereits die Organisation LobbyControl eine Obergrenze für Parteispenden von 50.000 Euro je Person und Jahr gefordert. Auch die Grünen sehen bei solchen Spenden Handlungsbedarf. „Wir wollen sie deckeln pro Person und Jahr auf 100.000 Euro“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck der Frankfurter Rundschau. „Und wir wollen Unternehmensspenden abschaffen, um den Einfluss durch solche Großspenden, die man als Parteiführung ja gar nicht mehr aus dem Kopf kriegt, etwas abzumildern.“ SPD-Vize-Fraktionschef Ulrich Kelber forderte die CDU in der Welt auf, die Großspende nicht anzunehmen. Auch er plädierte für eine Grenze für Einzelspenden von 100.000 Euro pro Person und Jahr. Großspende der Familie Quandt Bei der CDU gingen am 9. Oktober – also zwei Wochen nach der Bundestagswahl – 690.000 Euro von der Unternehmerin Johanna Quandt und ihren Kindern Stefan Quandt und Susanne Klatten ein, wie auf der Internetseite des Bundestags ausgewiesen wird. SPD, Linke und Grüne verwiesen auf einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Eintreten der Bundesregierung gegen strengere CO2-Vorgaben für Autos in der EU. Die CDU und die Familie Quandt wiesen die Vorwürfe zurück. Die drei Familienmitglieder sind zusammen mit 46,7 Prozent an BMW beteiligt. Linke-Parteichef Bernd Riexinger sieht die Staatsanwaltschaft am Zug. „Der Zeitpunkt der Spende zeigt, hier wurde nicht einfach eine Partei gekauft, sondern ein Gesetz. Der Verdacht der Bestechung steht im Raum, die Staatsanwaltschaft muss Ermittlungen aufnehmen“, sagte er der Passauer Neuen Presse.
taz. die tageszeitung
Der Geldregen für die CDU durch die BMW-Hauptaktionäre sorgt weiter für Kritik. Die Forderung nach neuen Regeln für Parteispenden wird lauter.
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Terror in Israel: Sieben Verletzte bei Anschlag in Tel Aviv - taz.de
Terror in Israel: Sieben Verletzte bei Anschlag in Tel Aviv Elf Tage nach der Serie blutiger Anschläge im Süden Israels mit acht Toten und 31 Verletzten stach nun in Tel Aviv ein Palästinenser auf Polizisten und Passanten ein. Der Palästinenser stahl dieses Taxi und raste in eine Straßensperre. Bild: reuters JERUSALEM taz | Während sich die israelischen Sicherheitskräfte an der südlichen Grenze in höchster Alarmbereitschaft befinden, hat ein Palästinenser in der Nacht zum Montag mehrere Israelis in Tel Aviv angegriffen. Der 20-jährige Attentäter aus Nablus im Westjordanland überfuhr mit einem gestohlenen Taxi einen Polizisten und stach anschließend in der Nähe einer Discothek mehrere Menschen nieder. Drei Israelis erlitten mittlere bis schwere Verletzungen. Vier weitere Verwundete konnten das Krankenhaus wieder verlassen. Der Täter agierte erklärtermaßen auf eigene Initiative. Laut Aussage eines Wachpostens des Tanzclubs muss der Mann von der Party, mit der rund 2.000 Jugendliche das Ende der Sommerferien begingen, von der Veranstaltung gewusst haben. Nach Auskunft des Taxifahrers war der Mann nur wenige Minuten Autofahrt von dem Tanzlokal entfernt eingestiegen und forderte den Chauffeur, der zunächst von einem Raubüberfall ausging, unter Androhung mit einem Messer auf, das Fahrzeug zu verlassen. Mit dem Taxi sei er anschließend in eine Sperre gerast, um dann unter "Gott ist groß"-Rufen auf Passanten und Polizisten einzustechen. Beamte des inländischen Geheimdienstes Schin Beth untersuchen den Fall. Der Anschlag steht, ähnlich wie die Terrorakte in der vorvergangenen Woche im Süden Israels, vermutlich in Verbindung mit dem für Mitte September geplanten PLO-Antrag auf Anerkennung Palästinas vor den Vereinten Nationen. Obschon sich eine Mehrheit der UN-Generalversammlung für den Antrag abzeichnet, wird sich für die Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen unmittelbar nichts verändern. Die Frustration der Bevölkerung könnte sich in Form von neuer Gewalt Luft machen. Die israelischen Sicherheitsdienste rechnen mit Massendemonstrationen an den Grenzübergängen, wollen aber auch ein Wiederaufleben der Gewalt nicht ausschließen. Von vereinzelten palästinensischen Übergriffen vor allem gegen jüdische Siedler im Westjordanland und einem kleineren Bombenanschlag in Jerusalem abgesehen, blieb es über Jahre vergleichsweise ruhig in Israel. Hauptgrund dafür ist die gelungene Zusammenarbeit der palästinensischen und israelischen Sicherheitsdienste. Potenzielle islamistische Attentäter werden zumeist noch auf palästinensischer Seite der Trennanlagen abgefangen. Dazu kommt, dass die blutige Al-Aqsa-Intifada ab September 2000 die Palästinenser ihrem Ziel der Selbstbestimmung und dem Ende der Besatzung nicht nähergebracht hat. Die palästinensische Führung im Westjordanland hat ein Interesse daran, die friedliche Koexistenz aufrechtzuerhalten. Auch die Hamas versucht offenbar, erneute Eskalationen zu unterbinden. Die Attentäter vom 18. August stammen vermutlich aus den Reihen des Islamischen Dschihad. Nach Informationen der Sicherheitsdienste ist mit weiteren Anschlägen im Süden zu rechnen. Die ägyptische Grenzpolizei hat im Sinai 1.500 zusätzliche Männer im Einsatz.
taz. die tageszeitung
Elf Tage nach der Serie blutiger Anschläge im Süden Israels mit acht Toten und 31 Verletzten stach nun in Tel Aviv ein Palästinenser auf Polizisten und Passanten ein.
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Die Wahrheit: O du Wunderkind der Justiz! - taz.de
Die Wahrheit: O du Wunderkind der Justiz! Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (5): Eine Ode an ein ganz frisches Frankfurter Genie des Rechts mit einem erstaunlichen Werdegang. Neben einem gewaltigen Berg von Akten steht zierlich Justin Liebers große Liebe: Justitia Foto: dpa Auf den ersten Blick könnte man meinen, Justin Lieber sei ein ganz normaler Junge. Dann tobt der Neunjährige mit Freunden über den Bolzplatz, er liest in „Was ist was“-Büchern – besonders gern über Wale und Delfine – oder er spielt mit seinen geliebten Marvel-Actionfiguren. Dabei ist er selbst ein Superheld, ein Wunderkind, eines, das in einem Atemzug mit dem Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart oder dem Schachweltmeister Bobby Fischer genannt werden muss. Justin Lieber ist der Jungstar der Justiz, der leuchtende Stern des Wirtschaftsstrafrechts. Er war es, der jüngst dem früheren Audi-Chef Rupert Stadler im Betrugsprozess um manipulierte Abgaswerte zu einem Geständnis riet – und damit den Deal mit der Staatsanwaltschaft einfädelte. So hat er Stadler eine Bewährungsstrafe eingehandelt. „Jemanden wie Justin Lieber hat die Welt noch nicht gesehen, sein Rechtsverständnis ist herausragend“, lobt Stadler seinen Anwalt. „Am Klavier, am Schachbrett oder am Rechenschieber, ja, da hat es schon oft junge Genies gegeben. Aber im Gerichtssaal? Das ist absolut einzigartig, wirklich ein Wunder“, sagt Verfassungsrichter Peter Müller. Justin Lieber werde gar bereits als möglicher Karlsruhe-Kandidat gehandelt. Dabei ist Lieber in einfachen Verhältnissen in einem Frankfurter Brennpunkt aufgewachsen. Der Vater arbeitet nachts in einer Bäckerei, die Mutter ist Drogerieverkäuferin. „Seine Umgebung hat ihn wohl geprägt, der Justin hatte schon immer ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit“, sagt sein Vater. „Mit drei Jahren hat er sich das Strafgesetzbuch zum Geburtstag gewünscht, einfach so.“ Ein Kilo Paragrafen Seine Mutter lacht. „Das Ding wiegt über ein Kilo, das konnte er kaum selbst halten.“ Abends habe sie ihm immer daraus vorlesen müssen. „Dann hat er gerufen: ‚Noch mal! Noch mal Paragraf 283b!‘ Und wenn ich etwas falsch vorgelesen habe, hat er mich sofort verbessert: ‚Nein, Mama, das muss heißen: Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei – nicht drei – Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer Handelsbücher, zu deren Führung er gesetzlich verpflichtet ist, zu führen unterlässt oder so führt oder verändert, dass die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird‘!“ Der Vater lacht: „Ja, ja, so isser, unser Justin.“ Seine Karriere liest sich beeindruckend. Mit sechs Jahren schließt er das Jurastudium ab, absolviert binnen kürzester Zeit seine Referendariats-Ausbildung, arbeitet zudem als wissenschaftlicher Berater am Lehrstuhl für Wirtschaftsstrafrecht der Frankfurter Goethe-Universität. Seit 2021 ist er als Fach-anwalt qualifiziert. Der Neunjährige vertritt Betroffene in großen Verfahren, etwa in Cum-Ex-Prozessen oder im Frankfurter S+K-Betrugsprozess. Foto: Rattelschneck Vergangenes Jahr gründet er seine eigene Kanzlei, „Lieber, Besser & Partner“, in einer noblen Altbauvilla, mittlerweile arbeiten dort vier Angestellte. Er hat einen Lehrauftrag an der Humboldt-Universität in Berlin und hält Vorlesungen. „Mir gefällt die Diskussion mit den Studierenden“, sagt Lieber, „die sind noch so schön enthusiastisch.“ Auf die Frage, ob er nicht doch etwas jung für das alles sei, rückt er seine silber-blau gestreifte Krawatte zurecht und antwortet gelassen: „Wenn ein namhafter Angeklagter sich einen namhaften Anwalt nimmt, denkt man doch zwangsläufig: ‚Der hat Dreck am Stecken, wenn er so ein schweres Geschütz auffahren muss.‘ Da nimmt man jemanden wie mich, den man erst mal unterschätzt.“ Lieber fährt sich durch die akkurat geschnittenen blonden Haare und grinst: „Aber man sollte mich nicht unterschätzen.“ Und woher kommt seine Liebe zu Recht und Gesetz? „Das hat sicher mit unserem Viertel zu tun. Dort wohnen auch die ‚schweren Jungs‘, die sich nur einen Pflichtverteidiger leisten könnten. Die fanden mich cool. Ich hab sie vertreten, bei Raub, Totschlag, BTM. So habe ich wertvolle Erfahrungen in unzähligen Verteidigungen gemacht und ein gutes Gefühl für Mandanten in Krisensituationen entwickelt. Man ist aber in Wirtschaftsstrafsachen nur dann wirklich gut, wenn man mal das Stahlbad eines Schwurgerichtsprozesses durchgemacht hat.“ Verfilmung der Lebensgeschichte Allmählich werden auch andere auf Lieber aufmerksam. Der Erfolgsschriftsteller Ferdinand von Schirach will ihn als Co-Autor für sein neues Buch gewinnen, und Produzent Oliver Berben plant, Liebers Lebensgeschichte zu verfilmen. Laut Berben wird in der Hauptrolle bereits Florian David Fitz gehandelt, den könne man „gut auf jung schminken“. Aber das Wunderkindleben hat auch seine Schattenseiten, zum Toben auf dem Bolzplatz kommt Lieber immer seltener, und die Marvel-Figuren verstauben im Kinderzimmer. Fehlt es ihm nicht, das ganz normale Kleiner-Junge-Sein? Justin Lieber schüttelt energisch den kleinen Kopf. „Nein! Ein Leben ohne Paragrafen ist für mich absolut nicht vorstellbar, das ist meine Bestimmung.“ Und die Eltern sind stolz auf ihren Sohn. Sein Vater lächelt: „Außerdem ist es immer gut, jemanden in der Familie zu haben, der einem im Zweifel aus allem raushaut.“ Der nächste spektakuläre Prozess wartet schon auf Lieber, diesmal wird es sogar international. Popsängerin Shakira, angeklagt wegen millionenfacher Steuerhinterziehung, will ihn unbedingt als Anwalt. Für ein Wunderkind kein Problem: Nebenbei lernt er gerade Spanisch. Die Wahrheit auf taz.de
Tanja Kokoska
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (5): Eine Ode an ein ganz frisches Frankfurter Genie des Rechts mit einem erstaunlichen Werdegang.
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Gemeinsam gegen den Burn-Out - taz.de
Gemeinsam gegen den Burn-Out Neues Gesundheitshaus im Viertel will „präventive Gesundheitsförderung“ betreiben Bremen taz ■ Ganzheitliche Gesundheitsarbeit unter einem Dach statt Ärzte-Hopping – fünfzehn im Gesundheitsbereich praktizierenden Frauen haben jetzt versucht, dieses Konzept in die Realität umzusetzen. In der Hollerstraße im Viertel gründeten sie das „Hollerhaus“, eine Art Gesundheitszentrum. „Präventive Gesundheitsförderung“ nennen die Frauen ihr breit gefächertes Angebot, das von klassischer Psychoanalyse und Physiotherapie bis zu Shiatsu und hawaiianische Körperarbeit reicht. Unter dem Dach ist eine Kreativwerkstatt, im Keller ist ein „Hamam“, ein türkisches Bad, geplant. „Wie sind mehr als ein Ärztehaus“, wirbt Physiotherapeutin Monika Möhlenkamp. Ein Patient, der über Rückenschmerzen klage, erhalte im Hollerhaus nicht nur Massagen und Physiotherapie. Vielmehr könnten, etwa über Körperarbeit oder systemische Analyse, auch die Ursachen seiner Beschwerden ermittelt werden. Schon in der Planung von Behandlungen wollen die Betreiberinnen des neuen Gesundheitshauses unterschiedliche Ansätze integrieren. Etwa beim Anti-Burn-Out-Programm: Bei der Physiotherapeutin lerne die PatientIn Entspannungstechniken, bei einer Psychotherapeutin einen gesunden Umgang mit Konflikten am Arbeitsplatz, sagt Möhlenkamp: Gesundheitsförderung statt Kampf gegen Symptome. Einige der Therapeutinnen arbeiteten zuvor im Frauengesundheitszentrum in Walle. Als dessen Schließung drohte, entwickelten sie ein Konzept für ein von öffentlichen Fördergeldern unabhängiges Gesundheitshaus. „Wir wollten raus aus dieser Unsicherheit“, sagt Möhlenkamp. Nach zwei Jahren zogen sie nun in die ehemalige Kaffeerösterei im Viertel ein. ace
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Neues Gesundheitshaus im Viertel will „präventive Gesundheitsförderung“ betreiben
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Rechtspopulisten im Südwesten: Rechter wird Richter - taz.de
Rechtspopulisten im Südwesten: Rechter wird Richter In Baden-Württemberg ist ein AfD-Mann für den Verfassungsgerichtshof gewählt worden. Er erhielt nicht nur Stimmen aus der eigenen Fraktion. Landtag von Baden-Württemberg: Der AfD-Kandidat erhielt auch 20 Stimmen aus den anderen Fraktionen Foto: Bernd Weißbrod/dpa KARLSRUHE taz | Die AfD darf doch einen stellvertretenden Laienrichter an den Verfassungsgerichtshof von Baden-Württemberg schicken. Nach Schlappen in den ersten beiden Wahlgängen hat der Landtag jetzt den Kandidaten Bert Matthias Gärtner im dritten Anlauf in das Ehrenamt gewählt. Gärtner erhielt am Mittwoch im dritten Wahlgang 37 Jastimmen. 32 Abgeordnete stimmten mit Nein, 77 enthielten sich. Eine Stimme entfiel auf einen anderen Namen, ein Stimmzettel war ungültig. Damit ist Gärtner zum stellvertretenden Mitglied ohne Befähigung zum Richteramt gewählt. Im Landtag hat die AfD 17 Abgeordnete, es haben also mindestens 20 Abgeordnete anderer Fraktionen für Gärtner gestimmt. Anfang Juli war er noch in zwei Wahlgängen klar durchgefallen. Die AfD-Fraktion hat jedoch Anspruch darauf, diesen Posten beim Gericht zu besetzen, und hätte ihren Kandidaten bei jeder Landtagssitzung erneut zur Wahl stellen können. Politisch ist Gärtner ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Der 66-Jährige stammt, wie er in einem Brief an die Landtagsfraktionen schreibt, aus Dresden, war 18 Jahre Berufssoldat und hat als Berater in der Pharmabranche gearbeitet. 2019 war er Kandidat der AfD für den Kreistag in Heilbronn. Seit der neuen Legislatur arbeitet er im Parlamentsbüro der AfD-Hinterbänklerin Carola Wolle. Schon mal passiert Der baden-württembergische Landtag hatte bereits 2016 zum ersten Mal eine AfD-Kandidatin zur Laienrichterin gewählt: Rosa-Maria Reiter, die Ehefrau des AfD-Bundestagsabgeordneten Thomas Seitz, dem erst kürzlich wegen rassistischer Äußerungen der Beamtenstatus aberkannt wurde. Reiters Amtszeit endete 2018. Insgesamt musste der Landtag diesmal sechs Posten im Verfassungsgerichtshof neu besetzen. Die vier Kandidatinnen und Kandidaten der Grünen und der CDU-Bewerber waren bereits bestätigt worden, keiner hatte ein annähernd schlechtes Ergebnis wie Gärtner. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet über die Auslegung der Landesverfassung, über Anfechtungen von Wahlprüfungsentscheidungen und Volksabstimmungen und über Streitigkeiten bei Volksbegehren. Er besteht aus neun Richtern, davon drei Berufsrichtern, drei Richtern mit Befähigung zum Richteramt und drei Laien. Der Landtag wählt die Mitglieder und ihre jeweiligen Stellvertreter für neun Jahre. Die Stellvertreter sind bisher nur höchst selten an Entscheidungen des Gerichtshofs beteiligt gewesen.
Benno Stieber
In Baden-Württemberg ist ein AfD-Mann für den Verfassungsgerichtshof gewählt worden. Er erhielt nicht nur Stimmen aus der eigenen Fraktion.
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Grüne und Tesla: Freude am Obszönen - taz.de
Grüne und Tesla: Freude am Obszönen Warum frohlocken Berlins Grüne eigentlich so laut, wenn Tesla kommt? Das Unternehmen steht mit seinen Produkten wahrlich nicht für die Ökowende. Der Stromschleuder Tesla den Stecker ziehen? Um Himmels willen! Foto: dpa Ein bisschen albern ist sie ja schon, die kollektive Aufregung über Elon Musks „Gigafactory“ (frei übersetzt: „Superduperfabrik“), die innerhalb von zwei Jahren auf der grünen Heide vor den Toren Berlins entstehen und Tesla-Autos produzieren soll. Sicher hat das auch Glamour, und das Versprechen tausender neuer Arbeitsplätze, die das Unternehmen schaffen will, kann kaum jemanden kalt lassen. Aber schon bei der heiß diskutierten Frage, wieso Tausendsassa Musk den Landkreis Oder-Spree der deutschen Hauptstadt vorgezogen habe, wird es drollig: Von den USA aus betrachtet heißt der neue Standort natürlich Berlin. Etwas anderes ist dann schon fast peinlich: die ungezügelte Freude mancher grüner SpitzenpolitikerInnen über die am Dienstagabend bei einer Preisverleihung verkündeten Ansiedlungspläne, namentlich Wirtschaftssenatorin Ramona Pop und Fraktionschefin Antje Kapek. „Ich freue mich natürlich wahnsinnig über die Nachricht. Das Werben und die Gespräche haben sich gelohnt“, jauchzte Pop ins Twitterversum, und Kapek sekundierte: „Die ganze Welt reißt sich um Tesla … Berlin/Brandenburg wird es. Wirklich großartig!“ Dass der Regierende Bürgermeister der Presse verriet, er sei schon mal Tesla gefahren und das habe viel „Spaß“ gemacht – geschenkt. Aber die Grünen haben einen Ruf als Ökopartei zu verlieren, und mit ihrer unreflektierten Begeisterung für die Musk-Schmiede kommen sie damit wieder ein Stückchen voran. Denn selbst wenn die Tesla-Modelle selbst in der taz schon mal leichtfertig „Öko-Autos“ tituliert werden – das sind sie nicht. Spätestens ein Blick auf die Tesla-Website macht klar, dass hier einfach nur der Pkw als machtvolle Verlängerung des menschlichen Fortbewegungsapparats, als rollende Festung mit supersmartem Image neu erfunden werden soll. Das „Model Y“, das vielleicht mal in Grünheide montiert wird, weist zwar nicht die grotesken Spitzenwerte des Sportwagens „Roadster“ (über 400 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit) auf. Es handelt es sich aber eben doch um einen SUV, dessen Elektromotoren ihn laut Herstellerangaben in 3,7 Sekunden von 0 auf 100 katapultieren und der mit 240 Stundenkilometern Spitze natürlich im Land der unbegrenzten Geschwindigkeit auf Autobahnen genau richtig ist. (Im Inneren merkt man von solch mörderischen Kräften wenig: „Blickfang ist hier ein 15-Zoll Touchscreen, während das Klangfeld-Audiosystem wahre Konzertatmosphäre zaubert“, verspricht die Werbung.) Nur ein kleines bisschen „grüner“ Natürlich ist es ein kleines bisschen „grüner“, wenn der Saft, mit dem man durch Brandenburg oder Berlin-Mitte rast, von Windrädern erzeugt und nicht aus dem Wüstenboden gepumpt wird. Aber grundsätzlich gilt, was der Mobilitätsexperte Wolfgang Lohbeck unlängst in einem Interview mit der SZ sagte: „Was Tesla herstellt, ist die dümmste und obszönste Variante der Elektromobilität. Einen Drei-Tonnen-Wagen zu bewegen, noch dazu mit extremen Beschleunigungswerten, das kann nicht ökologisch sein und auch nicht sozial.“ Und: „Auch Ökostrom ist weder ,sauber' noch umsonst, er ist sogar besonders kostbar.“ Um die Fallhöhe der Grünen noch mal zu verdeutlichen: Es ist dieselbe Partei, die Greta Thunberg preist und – zu Recht – vor den imminenten Gefahren des Klimawandels warnt. Dass sie gleichzeitig ganz normale politische und gesellschaftliche Player sein wollen, denen dann Aufrufe zu Konsumverzicht und Plädoyers für ein Ende des Wachstums irgendwie peinlich sind, lässt sich schon lange an ihrer verschwiemelten Haltung zum boomenden Fluggeschäft ablesen: Da hofft Senatorin Pop dann eben, dass ganz, ganz bald ganz viel synthetisches Kerosin aus den Solarzellen zum BER fließt. Ein schöner Traum! Immerhin eine Grüne hat bislang konsequent geschwiegen: Das Wort „Tesla“ taucht im Twitter-Profil von Verkehrssenatorin Regine Günther nicht auf.
Claudius Prößer
Warum frohlocken Berlins Grüne eigentlich so laut, wenn Tesla kommt? Das Unternehmen steht mit seinen Produkten wahrlich nicht für die Ökowende.
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das wetter: Publikum - taz.de
das wetter: Publikum „Habe ich dir eigentlich“, fragte Didi Uwe, „schon die Geschichte erzählt, wie ich mit dem Auto hintenrum über den kleinen Berg fahren wollte, den großen Bogen, und dann war da auf einmal abgesperrt, sodass ich im noch größeren Bogen über den anderen Berg fahren musste, und oben auf dem Berg, wirklich aus dem Nichts, so ein Sturzregen niederging, so massiv, dass ich rechts ranfahren und abwarten musste, dass dieser wie irre Regen aufhört, aber der hörte nicht auf, und weil mir so langweilig wurde, habe ich dann im Auto sitzend angefangen, mir die Fußnägel zu schneiden, und wie ich da so konzentriert schneide, denke ich plötzlich, mich beobachtet einer, und dann gucke ich also aus dem Seitenfenster, und da steht tatsächlich ein Wisent und schaut mir interessiert zu?“ – „Nein, die hast du mir noch nicht erzählt.“ – „Na, dann pass mal auf! Also …“
taz. die tageszeitung
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Waffenexport gesunken - taz.de
Waffenexport gesunken Kriegswaffenexport um 13 Prozent verringert. Neuer Verdacht auf illegalen Waffenexport nach Indonesien BERLIN ap ■ Deutschland hat auch 2002 weniger Kriegswaffen exportiert. Dies geht aus dem Rüstungskontrollbericht 2002 hervor, der gestern vom Kabinett verabschiedet wurde. Danach ist die Ausfuhr von Kriegswaffen 2002 gegenüber dem Vorjahr um 13 Prozent gesunken. Im Zeitraum von 1997 bis 2002 ging der Export den Angaben nach sogar um 55 Prozent zurück. Insgesamt habe der Anteil der Kriegswaffen an der deutschen Gesamtausfuhr bei 0,6 Prozent gelegen, hieß es. Konstant geblieben sei der Export in Mitgliedstaaten der EU, der Nato oder in Nato-Mitgliedern gleichgestellte Länder – Schweiz, Australien, Japan und Neuseeland. Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul erklärte, besonders deutlich sei der Rückgang der Exporte in so genannte Drittstaaten – Länder, die weder der Nato noch der EU angehören. Die ärmsten Entwicklungsländer hätten gar keine Kriegswaffen erhalten. Grünen-Chefin Angelika Beer erklärte, auch die Genehmigungen von Kleinwaffen-Exporten in Drittstaatenländer seien deutlich zurückgegangen – das Ausfuhrvolumen sei von 7,43 auf 4,2 Millionen Euro gesunken. Laut einer Meldung des Tagesspiegels sind deutsche MP5-Maschinenpistolen in Indonesien aufgetaucht, für die es laut der Firma Heckler&Koch keine Ausfuhrgenehmigung gegeben hat. Nun ermitteln deutsche Behörden, wie die Waffen nach Indonesien gekommen sind. Auch wenn die Waffen in Lizenz im Ausland produziert wurden, muss die Bundesregierung eine Exportgenehmigung erteilen.
taz. die tageszeitung
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Österreichs Osterruhe-Lockdown: Handbremse statt Notbremsung - taz.de
Österreichs Osterruhe-Lockdown: Handbremse statt Notbremsung Im Osten Österreichs wird das öffentliche Leben vom 1. bis 6. April heruntergefahren. Dort liegt die 7-Tage-Inzidenz knapp unter 300. (Fast) alles dicht im Osten Österreichs – aber nur eine Woche lang Foto: Ronald Zak/ap/dpa WIEN taz | Statt Notbremsung ein Lockdown mit Handbremse: Gesundheitsminister Rudolf Anschober hat am Mittwochabend nach langen Verhandlungen mit den Landeschefs von Wien, Niederösterreich und dem Burgenland eine österreichische Variante der Osterruhe nach dem Prinzip Hoffnung verkündet. Von 1. bis 6. April wird das öffentliche Leben heruntergefahren und alle nicht versorgungsnotwendigen Geschäfte werden geschlossen. Im Osten Österreichs, namentlich in den Bundesländern Wien, Niederösterreich und Burgenland liegt die 7-Tage-Inzidenz knapp unter 300. Was noch schlimmer ist: Bei den Intensivbetten blinkt seit Tagen das rote Lämpchen. Wenn weitere Patienten eingeliefert werden, droht die Triage. Aus manchen Kliniken vernimmt man, dass bereits triagiert werde. Nicht lebensnotwendige Operationen werden jetzt schon aufgeschoben. Am Montag hatte Bundeskanzler Kurz noch in einer Pressekonferenz nach Gesprächen mit den Landeshauptleuten mit einer Leermeldung überrascht: Zu Ostern würde es weder Lockerungen des gegenwärtigen Lockdown light noch Verschärfungen geben. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) verbarg am Abend in den Spätnachrichten nicht seinen Ärger über die Länderchefs. Er fühle sich beim Drängen auf weitere Schutzmaßnahmen „allein auf weiter Flur“. Zwar dürfte er als Minister verbindliche Verordnungen erlassen und den Landeshauptleuten Weisungen erteilen, doch Österreichs Realverfassung lässt das nicht zu. Wenn ihnen eine Order aus Wien nicht passt, exekutieren die Landeskaiser sie einfach nicht. Die einzige Kaiserin, Johanna Mikl-Leitner in Niederösterreich, eingeschlossen. Deswegen würde er sich weiter bemühen, so Anschober, notwendige Maßnahmen „auf einen breiten Konsens“ aufzubauen. Gesundheitsminister ließ die Experten aufmarschieren Also bat Minister Anschober die Landeshauptleute von Wien (Bürgermeister Michael Ludwig, SPÖ), Niederösterreich (Johanna Mikl-Leitner, ÖVP) und dem Burgenland (Hans-Peter Doskozil, SPÖ) nochmals zu einem Termin ins Bundeskanzleramt und ließ die Experten aufmarschieren, die die Dramatik der epidemiologischen Situation mit Zahlen und Tabellen untermauerten. Man konferierte bis tief in die Nacht. Das Ergebnis ist nach Einschätzung des Politologen Thomas Hofer ein Minimalkompromiss und wurde erst Mittwochabend verkündet: Die Osterruhe beginnt am 1. April (Gründonnerstag) und endet am Dienstag nach Ostern (6. April). In dieser Zeit herrschen 24 Stunden lang Ausgangsbeschränkung. Ausnahmen sind Arztbesuch, Hilfeleistung, Einkauf und Sport oder Luftschnappen. Dienstleister und Geschäfte mit Ausnahme von Lebensmittelläden, Apotheken und anderen essentiellen Versorgern müssen schließen. Nach dem Lockdown muss die Kundschaft einen negativen Coronatest vorweisen. Schulen sollen wieder vom Schichtbetrieb auf Fernunterricht umschalten. Zudem wird die Maskenpflicht in Betrieben und an belebten Orten im Freien verschärft. Familienbesuche über die Feiertage kann man offenbar nicht verbieten. Gesundheitsminister Anschober rät aber davon ab. Ungeklärt ist auch, ob man Zweitwohnsitze aufsuchen darf, und für eine Regelung, die den Verkehr zwischen betroffenen und nicht betroffenen Bundesländern betrifft, fehlt den Verantwortlichen bisher die Fantasie. Anschober will in den nächsten Tagen auf der Homepage des Ministeriums aufklären. Für Epidemiologen ist der geplante Lockdown zu kurz Die Verhandler verfolgten die Rücknahme der deutschen Corona-Osterruhe durch Kanzlerin Angela Merkel äußerst genau, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus informierten Kreisen. Für Epidemiologen, aber auch für den Komplexitätsforscher Peter Klimek ist der geplante Lockdown deutlich zu kurz. Er werde bestenfalls reichen, „kurzfristig den Trend abzuflachen“, so Klimek am Mittwoch im ORF. Wiens Bürgermeister Ludwig hat bereits angedeutet, dass er sich eine Verlängerung vorstellen kann.
Ralf Leonhard
Im Osten Österreichs wird das öffentliche Leben vom 1. bis 6. April heruntergefahren. Dort liegt die 7-Tage-Inzidenz knapp unter 300.
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Sachbuch zu Spaltung in den USA: It’s the Gemeinwohl, stupid! - taz.de
Sachbuch zu Spaltung in den USA: It’s the Gemeinwohl, stupid! Der US-Philosoph Michael Sandel skizziert, warum der Rechtspopulismus in den USA so erfolgreich werden konnte – und zeigt, wie es anders gehen könnte. Die Würde wiederherstellen: Ein Arbeiter im Kapitol am Tag nach dem 6. Januar Foto: J. Scott Applewhite Der Schriftsteller Richard Ford, ein Seismograf verunsicherter US-Mittelschichtsmännlichkeit, malte nach dem Sturm auf das Kapitol ein finsteres Bild der USA. Dort regiere „ein wahnsinniger Präsident“ ein Land, das zur Hälfte glaube, „im Keller einer Pizzeria in Washington würden Babys gegessen“. Die USA versinken in Irrationalität und Paranoia. Joe Bidens nationale Versöhnungsrhetorik wird an dieser Mixtur abprallen. Die Rassisten und Verschwörungsgläubigen, die wohl die Hälfte der WählerInnen der Republikaner ausmachen, sind für Diskursangebote nicht empfänglich. Kann Biden die Politik der Feindschaft, die die USA zerreißt, beenden? Welche Politik kann den Sumpf des Rechtspopulismus austrocknen? Michael J. Sandel: „Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt“. Fischer Verlag, 2020, 448 Seiten, 25 Euro Übersetzung aus dem Englischen: Helmut Reuter Es gibt zwei gängige Erklärungsmuster, warum der Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien einen solchen Resonanzraum hat: ein kulturelles und eine ökonomisches. In der kulturellen Lesart erscheinen Salvini und Trump als hysterische Reaktion weißer Männer auf eine Welt, in der Gleichberechtigungsansprüche deren Privilegien bedrohen. Die Kerntruppen des Rechtspopulismus sind männlich. 58 Prozent der weißen Männer votierten 2020 für Trump. Es spricht viel dafür, den Rechtspopulismus als aggressiv nostalgische Antwort auf Feminismus, Diversitätskultur und Political Correctness zu verstehen. Allerdings erklärt das nicht, warum 2020, verglichen mit 2016, mehr Latinos und weiße Unterschichtsfrauen Trump gewählt haben. Moralische Selbsterhöhung Die kulturelle Lesart verführt zudem zu einer Art achselzuckender Selbstgefälligkeit. Die Linksliberalen verkörpern in diesem Bild Fortschritt und Aufklärung, die Rechtspopulisten eine moralisch minderwertige Verteidigung patriarchaler Privilegien. Diese moralische Selbsterhöhung ist aber eher Teil des Pro­blems als dessen Lösung. Zudem fragt man sich: Was folgt daraus? Die Emanzipation der Frauen oder sexueller Minderheiten zurückzudrehen, ist keine erwägenswerte Möglichkeit. So bleibt uns in diesem Deutungsmuster nicht viel mehr als Händeringen im festen Bewusstsein, zu den Guten zu gehören. Man kann den Rechtspopulismus auch als verzerrtes Echo wachsender Ungerechtigkeit deuten. Die Kluft zwischen Reich und Arm wächst in den OECD-Staaten beständig. Die Ex-Arbeiterparteien – von Labour über die französischen Sozialisten bis zu den US-Demokraten – haben sich den (neo)liberalen Eliten zugewandt und ihre alte Kernklientel vergessen. In Österreich und Frankreich sind die Rechtspopulisten zeitweise zu den neuen Arbeiterparteien geworden. Ein erfreulicher Aspekt ­dieses Gerechtigkeitsnarrativs ist, dass es, anders als die kulturelle Lesart, praktische Folgerungen nahelegt. Die Linke muss sich wieder auf ihre Kernkompetenz – sozialen Ausgleich – besinnen. Allerdings ist es ein Kinderglaube, dass die rechtspopulistischen Gespenster verschwänden, wenn Linke nur entschlossen auf deftige Umverteilung und Anti-Eliten-Sprüche setzten, wie das bei Sahra ­Wagenknecht oder Jean-Luc ­Mélenchon aufscheint. Affekte und Irrationalität Die Anhänger der Rechts­populisten sind eben keine ­Rational-choice-WählerInnen, die sich von ihren materiellen Interessen leiten ließen. Der Trumpismus speist sich aus Affekten und Irrationalem. Zudem war der Erfolg von Trump und Co nicht nur Ausdruck einer Revolte der Abgehängten. Bei den US-Wahlen 2020 wählten Ärmere, die weniger als 50.000 Dollar im Jahr verdienen, eher Biden (55 Prozent) als Trump (44 Prozent). Kurzum, beide Deutungen erklären einiges, haben aber unübersehbare Lücken. Der US-Moralphilosoph Michael Sandel fügt der mit viel Leidenschaft und überschaubarem Erkenntnisgewinn ausgetragenen Debatte zwischen den beiden Deutungsmustern eine andere hinzu. Die deprimierende Attraktivität des Rechtspopulismus sei nur zu verstehen, wenn man das (Verteilungs)gerechtigkeitsnarrativ um zwei Aspekte erweitere: Bildung und Würde. Sandel skizziert eine Art Zangenbewegung, die der Hintergrund für Trumps Politik der Ressentiments war und ist. In den USA ist der Glaube ungebrochen, es mit Bildung alleine nach oben schaffen zu können. Obama verwandte in seinen Reden 140-mal den Satz: „You can make it if you try.“ In Wirklichkeit aber hat sich in den USA eine Bildungsaristokratie eta­bliert, die sich für den Nachwuchs die Zugänge nach Harvard und Yale buchstäblich kauft. Bildung ist das Nadelöhr für Erfolg – und Privileg der Reichen. Im unteren Fünftel der Gesellschaft kann man eher auf einen Lottogewinn als auf ein Ivy- League-Studium hoffen. Marktfömige Diversitygerechtigkeit Vor allem Liberale wie Hillary Clinton haben einer marktförmigen Diversitygerechtigkeit das Wort geredet: Alle, egal welcher Hautfarbe, Klassenzugehörigkeit, Religion oder sexueller Vorliebe, könnten aufsteigen. In dieser Vision bekämen alle, was sie verdienen: Leistung und Gerechtigkeit fallen in eins. Für die alten Mittelklassen in der Provinz, die nie eine Universität von innen gesehen haben, klingt das eher wie Hohn. Denn in dieser scheinbar chancengerechten ­Leistungsutopie sind sie randständig. Im digitalen globalisierten Kapitalismus geht es für sie bergab – nicht nur ­monetär, sondern auch ­kulturell. Selbst wenn die US-Gesellschaft sozial durchlässig und nicht abgeriegelt wäre, hat die Idee, dass jeder und jede vollständig alleine schuld an seinem Erfolg oder Misserfolg sei, etwas Beklemmendes. Es demütigt (so Sandel auf den Spuren von Michael Youngs Meritokratie­kritik) jene, die unten sind, zusätzlich. Trump hat im Wahlkampf 2016 gesagt: „Ich liebe die Ungebildeten.“ Damit traf er instinktiv die verletzliche, widersprüchliche Stelle in der Erzählung der Demokraten. Die Ungleichheit zwischen Superreichen und Durchschnitts­bürgern, deren Reallöhne in den letzten 30 Jahren gesunken sind, ist obszön. Das ist mehr als Statistik. Laut einer Umfrage der US-Notenbank ist fast die Hälfte der US-BürgerInnen nicht in der Lage, in einem Notfall 400 Dollar aufzubringen. Wachsende Verzweiflung Sandel weist auf eine andere frappierende Entwicklung hin, die eine wachsende Verzweiflung in der Mitte der Gesellschaft anzeigt: Die Lebenserwartung, die in den USA jahrzehntelang stieg, sinkt seit drei Jahren – besonders krass die der Männer in der Provinz. Um dem Rechtspopulismus das Wasser abzugraben, ist ein neuer, fairer Deal zwischen den Gewinnern der globalisierungsaffinen urbanen Eliten und den Verlierern in den flyover states nötig. Dazu gehört, Macht und Einkommen der Wall Street mit Steuern zu beschränken und das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Arbeit von Nicht­akademikern mehr Wert ist als der Mindestlohn. Die verlorene Würde der Arbeit wiederherzustellen, die der Ethik der Effektivität geopfert wurde, erscheint hier als Ausgangspunkt eines „alternativen politischen Projektes“. Sandel setzt so Bill ­Clintons globalisierungs­euphorischem Wahlslogan aus den 90ern: „It’s the economy, stupid!“, das Lob des Gemeinwohls entgegen. Überzeugter Kommunitarist Politisch ist Sandel ein Mid­dle-of-the-road-Demokrat, philosophisch ist er ein überzeugter Kommunitarist. Er trat mit einer Kritik an John Rawls in Erscheinung, dessen „Theorie der Gerechtigkeit“ den Liberalismus als politische Theorie auf die Höhe der Zeit gebracht hatte. Der Kommunitarismus steht der Fokussierung auf die Freiheit des Individuum im Liberalismus ebenso fern wie dem Fortschrittsglauben der euro­päi­schen Linken. Er ist eine praktisch orientierte, antiutopische Denkrichtung, die das Regelwerk der bestehenden Gemeinschaft in den Mittelpunkt rückt. Der Grundimpuls ist eher konservativ. Umso bemerkenswerter ist, dass Sandel in vielem zu ähnlichen Schlüssen kommt wie Linke. Er schaut skeptisch auf die Verheißungen der Globalisierung, misstraut der gefräßigen Logik des Marktes und singt das Loblied der Chancengerechtigkeit, die die Gleichheit verdrängt hat, nicht mit. Biden will nun eine Art New Deal light. Er hat angekündigt das Arbeitslosengeld und den Mindestlohn zu erhöhen, in die marode öffentliche Infrastruktur zu investieren, das Gesundheitssystem zu stabilisieren und klimaverträgliche Jobs zu schaffen. Biden, ein Bildungsaufsteiger, ist der Wall Street längst nicht so nah wie die Clintons. Die nötige Konfrontation wird er aber kaum riskieren. Sandel hat eine brauchbare politische Kartografie entworfen, die die Bedingungen nachzeichnet, die Trump möglich machten. Man wird sehen, ob die Biden-Demokraten in der Lage sind, nötige Schlussfolgerungen zu ziehen: das Bündnis mit der Wallstreet aufzukündigen sowie den grenzenlosen Individualismus und die Marktgläubigkeit hinter sich zu lassen.
Stefan Reinecke
Der US-Philosoph Michael Sandel skizziert, warum der Rechtspopulismus in den USA so erfolgreich werden konnte – und zeigt, wie es anders gehen könnte.
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Umstrittener Rundfunkbeitrag: Köln zahlt nicht - taz.de
Umstrittener Rundfunkbeitrag: Köln zahlt nicht Die Verwaltung der Rheinmetropole „kann es sich nicht leisten, ungeprüft Geld zu verpfeffern“. Deshalb will sie bis auf Weiteres keinen Rundfunkbeitrag abführen. Will den Rundfunkbeitrag erst mal in Ruhe berechnen und ermitteln: die Stadt Köln. Bild: dpa Die Stadt Köln hat angekündigt, bis auf Weiteres den Rundfunkbeitrag nicht mehr abzuführen. Es sei zurzeit unklar, wie viel die viertgrößte Stadt Deutschlands mit ihren diversen Verwaltungsgebäuden und Fahrzeugen bezahlen müsse. „Wir müssen erst mal in Ruhe ermitteln und berechnen“, sagte Sprecherin Inge Schürmann der dpa. „Wir können es uns nicht leisten, ungeprüft Geld zu verpfeffern.“ „Ist der Friedhofsbagger relevant für die Abgabe? Was machen wir mit dem Container des Grünflächenamtes, ist das eine Betriebsstätte?“, gibt Schürmann konkrete Beispiele für die Unsicherheit der Stadt. Und Köln steht wohl nicht alleine da. Der Städtetag Nordrhein-Westfalen warnt vor „exorbitanten Steigerungen“. Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Bernd Jürgen Schneider, sagte: „Die im Januar eingeführte Regelung führt zu einer massiven Kostensteigerung und zu einem unnötigen bürokratischen Aufwand.“ Beispiel: Bergisch Gladbach müsse statt 2.000 zukünftig 20.000 Euro jährlich zahlen. ARD, ZDF und Deutschlandradio sehen sich seit der Einführung des neuen Rundfunkbeitrags am 1. Januar dieses Jahres heftiger Kritik ausgesetzt. Mitte Januar hatte die Drogeriemarktkette Rossmann beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eine Klage gegen den Beschluss zur Einführung des Beitrags eingereicht. Das Unternehmen rechnet laut eigenen Angaben damit, dass die jährliche Belastung durch den Rundfunkbeitrag von 39.500 Euro auf 200.000 Euro steigen werde. Seit 1. Januar müssen alle Haushalte in Deutschland – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den Rundfunkbeitrag (17,98 Euro) zahlen. Bei Unternehmen und Kommunen richtet sich die Höhe der Abgabe nach der Anzahl der Mitarbeiter, Betriebsstätten und Kraftfahrzeuge.
Jürn Kruse
Die Verwaltung der Rheinmetropole „kann es sich nicht leisten, ungeprüft Geld zu verpfeffern“. Deshalb will sie bis auf Weiteres keinen Rundfunkbeitrag abführen.
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Kurzsichtig - taz.de
Kurzsichtig ■ Zur Streikbrecherarbeit bei VW in Kassel Für die Zusicherung, daß der Schwerpunkt der Teilefertigung für Hilfsrahmen nicht wie geplant nach Mexiko verlagert wird, hat sich der Kasseler VW–Betriebsrat seine Zustimmung abkaufen lassen, den mexikanischen Kollegen durch Streikbrecherarbeit in den Rücken zu fallen. Ist dieser Kuhhandel nur als unsolidarisch oder aus der eigenen Interessenlage heraus letztlich als verständlich zu bewerten? Die Art, wie der VW–Betriebsrat meint, die Arbeitsplätze der Belegschaft für die Zukunft absichern zu können, kann nur als naiv bezeichnet werden. Es ist ja nicht mehr so sehr das Damokles–Schwert der Verlagerung ganzer Produktionen, das internationale Konzerne gegen aufmüpfige Beschäftigte schwingen. Sie gehen mittlerweile dazu über, die Produktionen nicht alternativ über den Globus zu verteilen, sondern die Produktionsprozesse parallel zu organisieren. Das erlaubt dem Konzernmanagement, je nach Arbeitsmarktlage und Konfliktsituation, mal Teil A im Land X und Teil B im Land Y fertigen zu lassen, oder eben umgekehrt. Daß VW auch in Mexiko eine Fertigung für Hilfsrahmen hochzieht, konnten die VW–Betriebsräte in Kassel schon in der Vergangenheit nicht verhindern. Beim nächsten Arbeitskampf in Wolfsburg oder Kassel können dann die Arbeiter in Mexiko genauso gnadenlos gegen ihre deutschen Kollegen ausgespielt werden, wie es jetzt umgekehrt gehandhabt wird. Die bundesdeutschen Gewerkschaften und mit ihnen die betroffenen Betriebsräte verheizen die Zukunft der von ihnen vertretenen Beschäftigten, wenn sie nur darauf schielen, was aus der augenblicklichen Situation herauszuschlagen ist. Einer international koordinierten Konzernstrategie, die weltweit verteilte Arbeitskraft im Preis zu drücken, können nur international organisierte Abwehrmaßnahmen entgegengesetzt werden, nicht auf der Basis von abstrakter Solidarität, sondern aus einem Begreifen der gemeinsamen Betroffenheit heraus. Imma Harms
Imma Harms
■ Zur Streikbrecherarbeit bei VW in Kassel
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Beziehung von Mensch und Pferd: „Wildpferde waren immer Jagdwild“ - taz.de
Beziehung von Mensch und Pferd: „Wildpferde waren immer Jagdwild“ Der Autor und Journalist Stefan Schomann über die Darstellung von Pferden, ausgestorbene Pferderassen und das Anschreiben gegen das Artensterben. Als die Pferde noch wild waren: Höhlenmalerei in Frankreich, über 17.000 Jahre alt Foto: Foto: agefotostock/imago Herr Schomann, Sie schreiben in Ihrem Buch, Pferde „führen uns zu uns selbst zurück“. Wohin? Stefan Schomann: Sie führen uns zurück zu unserer eigenen Natur. Auch wir waren einst Fernwanderwild und sind durch Savannen gestreift. Diese schweifende Lebensweise rufen Pferde in uns wach, deshalb ist es so beglückend, mit ihnen umherzuziehen. Sie erzählen von über 30.000 Jahre alten Pferdedarstellungen in Höhlen in Frankreich und Spanien, von dem Pferdchen aus Mammutknochen aus der Vogelherdhöhle in Baden-Württemberg. Was hat die Menschen damals an wilden Pferden fasziniert? Sie haben auch Hirsche, Wisente oder Auerochsen gezeichnet. Aber beispielsweise in Lascaux in Frankreich sind über 60 Prozent aller dargestellten Tiere Pferde. Dabei waren Pferde rares Wild, die 60 Prozent entsprechen nicht der Jagdquote. Sie waren viel schwerer zur Strecke zu bringen als Hirsche und Rentiere. Man spürt, dass die Maler oder Malerinnen ein obsessives und beinah erotisches Verhältnis zu Pferden hatten, dass sie sich mit ihnen mehr auseinandergesetzt haben als mit Nashörnern oder Mammuts … im Interview:Stefan SchomannJahrgang 1962, ist Journalist und Autor. Sein Buch „Auf der Suche nach den wilden Pferden“ ist im Herbst bei Galiani Berlin erschienen und hat 464 Seiten. … obwohl sie nicht auf ihnen geritten sind … … nein, das war lange vor der Domestikation. Aber schon damals bestand eine privilegierte Beziehung zum Pferd. Die Künstler haben sich systematisch mit der Natur beschäftigt. Das heißt aber auch, sie waren schon nicht mehr völlig Teil von ihr. Die Spaltung von Mensch und Natur fing damals an. Die Natur wird dem Menschen gegenüberstellt – das ist bis heute unser Thema. Verschwindet die Faszination für wilde Pferde mit dem Moment, in dem Menschen anfangen, sie vor Wagen zu spannen und zu reiten? Verschwunden ist sie nicht, aber sie hat sich verändert. Während die alten Felsbilder von Wildheit und Schönheit der Tiere erzählen, glorifizieren die Menschen später die überlegene Kraft und Schnelligkeit des Pferds. Vor allem in Europa wird das Pferd zum Macht- und Herrschaftssymbol. Das zeigen die vielen Reiterstatuen, etwa der Bamberger Reiter aus dem frühen Mittelalter. Die normale Bevölkerung ist zu Fuß gegangen. Es gab immer zu wenig Pferde. Bei den Steppenvölkern war das anders, Skythen, Hunnen oder Mongolen hatten Pferde ohne Ende. Das hat ihre militärische Überlegenheit gegenüber Europa und China begründet. Im Jahr 1967 oder 1968 hat der 13-jährige Nyamsurem Muchar an einer Wasserstelle am Nordrand der Wüste Gobi ein Wildpferd, ein Tachi, gesehen – wohl das Letzte seiner Art. Wer oder was hat die Wildpferde vernichtet? Letztlich die Konkurrenz zu den Hauspferden. Sie konkurrierten um Wasser und Futter, außerdem waren die Wildpferde übergriffig, sie haben die zahmen Stuten entführt und die Hengste angegriffen. In Steppenländern gibt es keine Zäune oder Ställe, die Nutztiere leben in derselben Landschaft wie die Wildtiere, sie begegnen sich. Außerdem waren Wildpferde Freiwild, sie wurden gejagt. Verschwunden sind sie schließlich von West nach Ost: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts starb der Tarpan aus, das osteuropäische Wildpferd. In der zweiten Hälfte die Wildpferde in Kasachstan, Turkmenistan und Russland. In der Mongolei und in China konnten sich die Tachi gerade noch halten, weil moderne Feuerwaffen dort erst später aufkamen. Auf der ersten und der letzten Seite Ihres Buches sind Listen ausgestorbener Tierarten abgedruckt, sie rahmen Ihr Buch ein. Was fehlt uns ohne Andentaucher, Schomburgk-Hirsch oder Falklandfuchs? Tja, das ist die Frage: Brauchen wir Artenvielfalt? Ja, unbedingt, und die Tachi veranschaulichen das sehr gut. Sie waren in Freiheit ja schon ausgestorben und sind eher durch glückliche Umstände zurückgekehrt. Um 1900 herum hat man ein paar Fohlen gefangen. Mit 13 fortpflanzungsfähigen Exemplaren konnte man die Art erhalten und schließlich 90 Jahre später wieder auswildern. In der Mongolei und China sind sie jetzt zurück. In Kasachstan ist das nicht gelungen. Dort spüren die Menschen die Leere, die bleibt, wenn eine so große, charismatische Art aus der Steppe verschwunden ist. Gegen diese Ödnis habe ich angeschrieben. Seit wann etwa empfinden Menschen Wildpferde als exotisch, als nicht mehr heimische Tierart? Wildpferde waren immer Jagdwild, und Jagd bildete ein Privileg des Adels. Darum waren es vor allem einzelne Adelige, die sich für ihren Schutz starkmachten, ähnlich wie beim Auerochsen oder beim Wisent. Der polnische Graf Zamoyski zum Beispiel unterhielt die letzte Tarpanherde. Sie fiel schließlich dem napoleonischen Feldzug nach Russland zum Opfer, die Pferde wurden an die verarmten örtlichen Bauern verteilt … … und dann waren sie weg und bald vergessen. Naturforscher wie Alexander von Humboldt oder Alfred Brehm reisten nach Mittelasien und fuhren dort quasi am Tachi vorbei. Warum sind gerade die Wissenschaftler am Wildpferd gescheitert? Häufig lagen die vermeintlichen Amateure richtig, die wussten oft mehr und haben genauer hingesehen als die angeblichen Koryphäen. Die Lehrmeinung Mitte des 19. Jahrhunderts war, es gebe keine wilden Pferde und Kamele mehr. Deshalb mussten alle Sichtungen und Gerüchte darüber falsch sein. Da war viel akademischer Dünkel im Spiel. Umso größer war die Überraschung, als der russische Oberst Nikolai Przewalski um 1880 ein wildes Pferd entdeckte. Und das zu einer Zeit, in der man dachte, schon alle großen Tiere zu kennen. Zur selben Zeit entstanden in Mittel- und Westeuropa Zoos, die auch Prze­walskipferde zeigten. Was waren sie für die Art – Retter oder eher Totengräber? Liest man Berichte darüber, wie die Zoos ihre Tiere beschafften, wie sie ganze Herden niedermetzeln ließen, um an die Jungtiere zu kommen, dann ist man empört. Damit haben sie die Vernichtung der Art beschleunigt. Es ging ihnen damals vor allem um das sensationelle Ausstellungsstück, nicht darum, die Art zu erhalten. Andererseits, wenn sie diese Fohlen nicht gefangen und gerettet hätten, wäre die Art sang- und klanglos verschwunden. Insofern muss man ihnen auch dankbar sein. Auch Natur- und Artenschutz haben eine eigene Evolutionsgeschichte, die versuche ich anhand dieses Beispiels zu erzählen. Ende des 20. Jahrhunderts haben dann eine Reihe von Privatpersonen die Rückkehr der Przewalskipferde in die Mongolei ermöglicht. Haben sich die mongolischen Nomaden über die neuen Nachbarn so sehr gefreut, wie, sagen wir mal, die Waldbauern im ­Sauerland über die Rückkehr des Wisents? Na ja, die Beziehung ist schon auch prekär, das wird nach außen hin immer heruntergespielt. Die Tachi werden nicht gejagt, aber es gibt Konflikte, etwa um Wasser und Futter. Die Viehzüchter haben Angst, dass die Wildtiere Nutztiere mit Viren und Krankheiten anstecken, obwohl das in der Praxis fast immer umgekehrt läuft. Aber die Bevölkerung sieht auch Vorteile, die Aufmerksamkeit, die ihre entlegene Region dadurch bekommt. Sie haben sich in Ihrem Buch „auf die Suche nach den wilden Pferden“ gemacht. Warum landet man dabei immer beim Menschen? Man kann sicher auch spannende Bücher über Nachtfalter oder Feuersalamander schreiben. Aber Pferde sind für Autoren vorzügliche Medien, haben sie die Menschen doch seit Anbeginn der Geschichte begleitet. Der gesamte Steppenraum Eurasiens, vom Burgenland hinter Wien bis zur koreanischen Grenze, das war alles mal Wildpferdeland. Da ist noch viel Platz für spannende Projekte.
Heike Holdinghausen
Der Autor und Journalist Stefan Schomann über die Darstellung von Pferden, ausgestorbene Pferderassen und das Anschreiben gegen das Artensterben.
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CHRISTIAN FÜLLER ÜBER DEN FETISCH ZENTRALABI: Bildung für das 21. Jahrhundert - taz.de
CHRISTIAN FÜLLER ÜBER DEN FETISCH ZENTRALABI: Bildung für das 21. Jahrhundert Wird mein Abi schlechter, nur weil Schulbeamte geschlampt haben? Ein zentral abgehaltenes Abitur strahlt von jeher große Faszination aus. Die Abiprüfung, das ist der größte Tag einer Schulkarriere. Es wäre ein bundesweites Bildungserlebnis, wenn alle AbiturientInnen sich zugleich über Goethes Gedichte, Tangentialrechnungen und Erörterungen politischer Fragestellungen beugten. Ein Feiertag der Erkenntnis. Ein Traum – leider auch ein Albtraum. Gerade die großen Bundesländer beweisen beinahe jedes Jahr, wie katastrophal sich eine einzige Panne im Zentralabitur erweisen kann. Eine geleakte Aufgabe oder eine falsch oder unverständlich gestellte Prüfungsfrage, wie kürzlich in Nordrhein-Westfalen geschehen, und schon stehen Tausende SchülerInnen vor der Krise ihres Lebens: Wird die zweite Prüfung so gut wie die erste? Wird mein Abi schlechter, weil Schulbeamte geschlampt haben? Es wird Zeit, den Traum vom zentralen Einheitsabitur endlich sein zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kultusbürokratie erst auf nationale Abituraufgaben und dann auf einheitliche Prüfungs- und Ferientermine einigt, liegt ohnehin bei nullkommanull. Schon jetzt haben die Kultusminister ein Jahrzehnt für die Vereinbarung gebraucht, sich auf ein gemeinsames Abi zu einigen. Das Zentralabitur ist Fetisch, seit das Abitur vor über 200 Jahren ersonnen wurde. Aber heute herrschen andere Bildungsideale als zu Zeiten Friedrich Wilhelms III. Es geht nicht darum, dass alle über dieselbe Hürde springen und an derselben Elle gemessen werden. Individualität, Kreativität und Kooperation sind die Währungen des 21. Jahrhunderts, nicht Kollektivität, Uniformität und Einzelkämpfertum. Es wird Zeit, dass die Kultusminister das der Nation sagen und an einem leistungsfähigen und fairen Bildungssystem für alle arbeiten – nicht nur für AbiturientInnen. Inland SEITE 7
CHRISTIAN FÜLLER
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Kino-Geschichte: Angst vorm „Missionarskino“ - taz.de
Kino-Geschichte: Angst vorm „Missionarskino“ Das Bremer Kommunalkino feiert in dieser Woche seinen 40. Geburtstag. Was heute etabliert ist, rief damals heftigen Widerstand der örtlichen Politik hervor. Weg von der Filmrolle: Die Digitalisierung hat inzwischen auch das Bremer Kommunalkino erreicht. Bild: Archiv BREMEN taz | Mit „Opas Kino“ waren in den politisch bewegten 70er-Jahren nicht nur die damals vorherrschenden kommerziellen Filme, sondern auch die Abspielstätten gemeint. In den neuen Kommunalkinos, so ihr Anspruch, sollten „andere Filme anders gezeigt werden“. Das brachte damals Presse wie Politiker auf die Palme, auch in Bremen – wo vor 40 Jahren eines der bundesweit ersten Kommunalkinos entstand. Gegen „ideologisches Missionarskino“, das nicht viel mehr als ein „Forum zur Selbstbefriedigung politisch Gleichgesinnter“ wäre, wetterte damals sogar die sozialdemokratische Bremer Bürgerzeitung. Im Jahr darauf befürchtete der Bremer CDU-Abgeordnete Wolfgang Maas, das Kino könne eine „Gesellschafts- und Systemveränderung in einem chaotisch-maoistischen Sinne“ auslösen. Tatsächlich hatten die Gründer damals einen streng progressiven Anspruch. In der ersten Vorstellung des „K.K. Bremen. e.V.“ lief am 8. Mai 1974 „Kuhle Wampe“ von Bert Brecht und Slatan Dudow. Im Viertelkino „Cinema“ dem „Atlantis“ und den „Mühlenberg-Lichtspielen“ in Lesum wurden in den ersten Programmen revolutionäre Werke aus Lateinamerika und Filme über die Arbeitswelt gezeigt. Viel provokanter war aber die Grundidee, dass die Filmkunst, genau wie Theater, Oper und die bildenden Künste öffentlich gefördert werden sollte. Diese Diskussion hält bis heute an, wenn die Betreiber Bremer Kinos klagen, dass das subventionierte City 46 ihnen Konkurrenz macht. In den ersten Jahrzehnten konnte davon noch keine Rede sein. Das Kommunalkino war zur Untermiete im Cinema eingezogen und konnte dort seine Programme nur zu ungünstigen Zeiten zeigen, weil die Kinobesitzer ab 20.30 Uhr natürlich selber Kasse machen wollten. Dies änderte sich erst 1993, als es im Medienzentrum Walle ein eigenes Kino bekam und, nach der Hausnummer, in „Kino 46“ umbenannt wurde. Mit dem Vollprogramm waren dann auch größere Veranstaltungen, Filmreihen und Kooperationen mit anderen Kulturinstitutionen möglich. So wird jährlich seit 1995 zusammen mit der Uni Bremen ein internationales Symposium veranstaltet. In diesem Jahr geht es um „Film und Geschichte“, das Symposium beginnt heute und dauert bis zum Wochenende. Seit 1999 wird zudem, alljährlich im Januar, der „Bremer Filmpreis“ verliehen – zu den Preisträgern zählten Bruno Ganz, Tilda Swinton oder Lars von Trier. In Walle etablierte sich das Kommunalkino, wurde auch regelmäßig für sein anspruchsvolles Programm ausgezeichnet, stieß jedoch durch seine dezentrale Lage auch an seine Grenzen. Durch den Umzug in das ehemalige City-Kino zwischen Bahnhof und Obernstraße hat sich die Situation des Kinos dann noch einmal grundlegend geändert. Statt früher 20.000 kommen jetzt etwa 30.000 BesucherInnen im Jahr. Ende des letzten Jahres wurde dann auch die inzwischen unverzichtbare Digitalisierung realisiert und bis 2016 wird der Verein mit 275.000 Euro im Jahr gefördert. Gezeigt werden heute weniger Werkreihen und Erstaufführungen – sie sind nicht mehr so gut besucht wie noch vor einigen Jahren. Stattdessen entstehen noch mehr Programme zusammen mit Kooperationspartnern wie etwa dem Netzwerk Attac und der Jazzmesse „Jazzahead“. Neu sind auch die filmpädagogischen Initiativen der beiden Programmgestalter Karl-Heinz Schmid und Alfred Tews. Zum einen wird in einem Seminarraum Filmwissen vermittelt, zum anderen wird die jährliche Schulkinowoche für das Bundesland vom Kommunalkino organisiert. Auszeichnungen bekommt das City 46 inzwischen für sein Kinderprogramm, das an den Wochenenden mit einer liebevoll selbst gebastelten Bühnenschau präsentiert wird.
Wilfried Hippen
Das Bremer Kommunalkino feiert in dieser Woche seinen 40. Geburtstag. Was heute etabliert ist, rief damals heftigen Widerstand der örtlichen Politik hervor.
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Historikerin über Zeitzeugen-Interviews: „Wertvolle historische Quellen“ - taz.de
Historikerin über Zeitzeugen-Interviews: „Wertvolle historische Quellen“ Die „Werkstatt der Erinnerung“ wurde gegründet, um die Stimmen von NS-Verfolgten zu sammeln. Längst erforscht sie auch jüngere Migrationsbewegungen. Ganz normale Wirtschaftsmigration: Italiensche Arbeiter am Hamburger Hafen 1960 Foto: Gerd Henke/dpa taz: Frau Apel, was macht Hamburgs „Werkstatt der Erinnerung“ einzigartig? Linde Apel: Ihre Entstehungsgeschichte, die auf einer politischen Entscheidung der Stadt Hamburg basiert. Keine andere Stadt in Deutschland leistet sich seit 30 Jahren eine staatlich finanzierte Interview-Sammlung, die nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich ist. Dabei war der Gründungsimpuls zwar, die Stimmen der NS-Verfolgten zu sammeln. Aber es ging immer auch um Gegenwärtiges: um Gespräche mit Nachfahren von Überlebenden und andere Kontexte wie Migration, Alltag von Frauen, Bedingungen von Arbeit, die Entwicklung politischer und sozialer Bewegungen. Konkurrieren Sie da nicht mit den Geschichtswerkstätten, die Oral History schon seit den 1980ern betrieben? Ich finde, nein. Zum einen, weil die erste Leiterin der „Werkstatt der Erinnerung“ direkt aus der Geschichtswerkstätten-Bewegung kam. Zum anderen ist die „Werkstatt der Erinnerung“ als Abteilung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Teil eines wissenschaftlichen Instituts. Für die Geschichtswerkstätten sind wir also eher ein Ort, wo sie sich Expertise holen und ihre Interviews archivieren lassen können – wofür sie selbst oft weder die Technik noch das Geld haben. Auch den Gedenkstätten kommen Sie nicht ins Gehege? Im Gegenteil. Wir haben eine Reihe von Interviews mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gemeinsam geführt, die hier wie dort archiviert sind. Im aktuellen Kooperationsprojekt geht es um Menschen, die sich für die Entstehung der Gedenkstätte eingesetzt haben. Um Akteure der Erinnerungskultur. Führen Sie alle Interviews selbst? Inzwischen schaffen wir das nicht mehr. Anfangs war die „Werkstatt der Erinnerung“ gut ausgestattet, aber heute haben wir nur noch 1,5 Stellen. Deshalb begleiten wir Interviewprojekte, die an uns herangetragen werden, und archivieren die Ergebnisse. Vor Jahren haben wir zum Beispiel in Kooperation mit Psychoanalytikern und -therapeuten vom Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) Menschen interviewt, die die Bombenangriffe auf Hamburg 1943 – den „Feuersturm“ – erlebt hatten. Befragt wurden auch ihre Kinder und Enkel. Einige der Interviews sind heute in der Dauerausstellung des Mahnmals St. Nikolai, der Ruine einer im „Feuersturm“ zerstörten Kirche, zu hören. Und wie definieren Sie Ihre Rolle als Interviewerin: Psychologin, Beichtmutter, Forscherin? im Interview:Linde Apel56, Historikerin, ist seit 2002 Leiterin der Werkstatt der Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Alles das ist wichtig. In erster Linie verstehe ich mich aber als Wissenschaftlerin. Grundsätzlich muss man sich klarmachen, dass jedes Interview eine Kommunikationssituation ist. Das klingt banal, ist aber wichtig, denn kein Interview lässt sich wiederholen. Deshalb nutzen wir ein auch in der Soziologie verwandtes Konzept, das aus vier Phasen besteht: Zunächst bittet man den Interviewpartner, seine Lebensgeschichte zu erzählen. So kann er alles berichten, was ihm wichtig ist. Das ist für viele stressig, weil sie merken: Mir werden gar keine Fragen gestellt, ich soll ins Blaue erzählen. Als nächstes fragen wir zu dieser Eingangserzählung alles, was unklar blieb, nochmal ab. Mehr nicht? Doch. In Phase drei kommt unser spezifisches Erkenntnisinteresse zum Tragen und wir fragen nach Aspekten, die noch nicht angesprochen wurden. Die vierte und letzte Phase ist die sogenannte Streitphase. Ob man sie machen soll, ist umstritten. Denn es kann sein, dass der Interviewpartner Dinge erzählt, die man vollkommen absurd findet, die man nicht nachvollziehen kann, die man vielleicht moralisch oder politisch verwerflich findet. Ob man sich das einfach anhört oder ob man dem Interviewpartner sagt, was man davon hält, wird in der Oral History kritisch diskutiert. Wie gehen Sie damit um? Da es kein psychologisches Interview ist, höre ich es mir nur an und betrachte es als Teil der ganz persönlichen Verarbeitungsgeschichte dieses Menschen. Die „Werkstatt der Erinnerung“ befasst sich auch mit Migration. Wer wurde befragt? Einerseits natürlich jüdische Verfolgte, ehemalige Zwangsarbeiter und DPs, die unter Zwangsmigration litten. Zum Thema „Gastarbeiter“ bzw. der Anwerbung von Arbeitskräften in den 1960er-, 1970er-Jahren haben wir mit Menschen aus Italien und der Türkei gesprochen. Unsere aktuellsten Interviews über Migration sind diejenigen mit Russlanddeutschen aus den 2000ern. Wie steht es mit den Flüchtlingen von 2015? Sie möchte ich sehr gern befragen. Ich glaube aber, dafür ist es noch zu früh. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass man mit Menschen, die biographisch im Stress sind, schwer solche „zurückgelehnten“ Interviews führen kann. Und diese Geflüchteten haben – obwohl sie teilweise seit fünf Jahren hier sind – derzeit noch andere Probleme: Sie müssen ankommen, brauchen einen Job, grundlegende Lebenssicherheit, müssen ihre Zukunft bauen. Wie bewerten die bisher Befragten ihre Migration? Das ist sehr facettenreich, denn die Befragten reichen von der türkischen Arbeitsmi­grantin über den Handwerker auf der Walz, das Au-pair-Mädchen, den kommunistischen Spanien-Kämpfer bis zur Deutschen, die in Lateinamerika eine Kaffee-Finca betreibt. Generell versuchen wir, Migration als Mobilität zu begreifen und weniger den Opferaspekt als den der Selbstbestimmung hervorzuheben. Derzeit – und besonders seit 2015 – wird Migration vor allem als Problem dargestellt. Wir dagegen wollen zeigen, dass Migration eher der Normalfall ist. Dass sie vielschichtig und komplex auftritt und eine Grundbedingung menschlicher Existenz darstellt. Auch „Wirtschaftsmigration“ gab es zu allen Zeiten. Wirtschaftliche Gründe waren immer zentrales Movens für Migration. Schauen Sie sich die Geschichte der Deutschen an. Als sie 1845 in diversen Auswanderungswellen in die USA gingen, hatten sie fast nur ökonomische Gründe. Deshalb ärgert es mich, dass wirtschaftliche Gründe in der öffentlichen Debatte hierzulande einen so schlechten Leumund haben. Wir brauchen nur auf unsere eigene Geschichte und die unserer Nachbarn zu schauen. Interviews zum Thema kann sich hier jeder anhören. Apropos: Wer interessiert sich heute noch für Ihr Interview-Archiv? Neben Nachfahren von NS-Verfolgten, Schulklassen und Studenten haben sich in den letzten Jahren immer mehr Historiker mit unseren Interviews befasst. Dabei galten sie in der Geschichtswissenschaft lange als „Schmuddelkinder, die man zu unwissenschaftlich und subjektiv fand. Inzwischen ist anerkannt, dass Interviews wertvolle historische Quellen sind. Das hat dazu geführt, dass sich jetzt einige Projekte mit deren Sekundärauswertung befassen. Das heißt? Man schaut sich Interviews an, die in den 1980ern, 1990ern, 2000ern entstanden sind und fragt: Wofür sind sie heute relevant? Was wollten die Interviewer damals wissen, was nicht? Bei biographischen Interviews mit jüdischen Verfolgten aus den 1990er Jahren etwa fällt auf: Die Interviewer haben ausschließlich nach der Hamburger Zeit gefragt. Was die Interviewpartner danach erlebten – Deportation, Exil, eventuelle Rückkehr – spielte keine große Rolle. Das lag daran, dass die Forschung damals noch wenig wusste über die NS-Zeit in Hamburg und den Fokus also darauf legte. Auch die Interviewsituation selbst ist also schon zur historischen Quelle geworden.
Petra Schellen
Die „Werkstatt der Erinnerung“ wurde gegründet, um die Stimmen von NS-Verfolgten zu sammeln. Längst erforscht sie auch jüngere Migrationsbewegungen.
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Mikroplastik in der Brillenfertigung: Das Problem vor Augen - taz.de
Mikroplastik in der Brillenfertigung: Das Problem vor Augen Beim Bearbeiten von Linsen aus Kunststoff entstehen Schleifrückstände. Das Problem: Übers Schmutzwasser gelangt davon auch ein Teil in die Natur. Den Blick schärfen: Schleifrückstände gefährden die Umwelt Foto: Achim Duwentäster/imago Brillengläser aus Kunststoff bieten viele Vorteile: Sie sind unempfindlich gegen Bruch, leichter als Glas, gut zu verarbeiten und ohne Fassung verwendbar. Doch beim Schleifen entstehen Rückstände, die als Mikroplastik ins Abwasser gelangen können. Über das Ausmaß herrscht allerdings mangels Studien Unklarheit. Im Jahr 2019 wurden 40 Millionen Brillengläser verkauft – und der Marktanteil von Kunststoff liegt laut Zentralverband der Augenoptiker und Optometristen (ZVA) mittlerweile bei 96 Prozent. Mineralische Gläser fristen also nur noch ein Nischendasein. Unterschieden werden muss zwischen Brillenlinsenherstellern und niedergelassenen Op­ti­ker*innen. Denn während Erstere in der Regel gute Filtersysteme verwenden, ist dies bei niedergelassenen Op­ti­ke­r*in­nen, die die Rohlinge des Herstellers an das Brillengestell anpassen, nicht immer der Fall. Offizielle Zahlen dazu, wie viel Mikroplastik beim Einschleifen vor Ort entsteht und wie viel davon im Wasser landet, gibt es allerdings nicht. Die Firma Wardakant, die Filteranlagen herstellt und vertreibt, errechnete, dass bei diesem Prozess jährlich 200 Tonnen Mikroplastik entstehen. Geschäftsführer Niklas Warda führte dafür nach eigenen Angaben einen Versuch mit einem Rohglas aus Kunststoff mit 70 Millimetern Durchmesser und -0,50 Dioptrien durch – also mit einem Brillenglas für eine geringe Sehschwäche. Dieses sei dann auf eine eher große Brillenform geschliffen worden. Rund die Hälfte ist Schleifabfall Ergebnis des Versuchs: Das Rohglas habe knapp über 10 Gramm gewogen, das geschliffene Glas nur noch rund die Hälfte. „Somit waren etwa 5 Gramm Schleifabfall“, so Warda. Diese 5 Gramm multiplizierte er mit den jährlich 40 Millionen verkauften und somit bearbeiteten Gläsern. In der Summe fielen aber eher mehr Schleifrückstände ab, denn die Regel seien Stärken von 2 bis 3 Dioptrien. Je nach Art des Glases, der Dicke und der Fassung unterscheide sich die Abfallmenge daher erheblich. Für Jürgen Bertling vom Fraunhofer-Institut Umsicht, das unter anderem zu Mikroplastik forscht, klingen die Zahlen zunächst „realistisch“, sie stellten „zumindest eine Annäherung an das Problem dar“. Im Vergleich etwa zum Reifen­ab­rieb mit weit mehr als 100.000 Tonnen pro Jahr in Deutschland sei das zwar wenig, aber dennoch eine „relevante Menge“. „Es ist einfach gut zu wissen, wo Mikro­plastik überall entsteht. Wir müssen das Bewusstsein schärfen, dass es nicht nur in den mittlerweile bekannten Feldern – Reifenabrieb, Kosmetikprodukte – ein Problem darstellt“, findet Bertling. Denn viele würden immer noch denken, es beträfe sie nicht. Grundsätzlich gehe er davon aus, dass das abgeschliffene Mikroplastik, wenn es mit dem Schmutzwasser „entsorgt“ würde, in der Kläranlage zu über 95 Prozent abgeschieden wird. „Von der abgeschiedenen Menge könnten etwa 20 Prozent mit dem Klärschlamm in die landwirtschaftliche Verwertung gelangen. Der Rest ginge dann in die Klärschlammverbrennung“, erklärt Bertling. Wie viel der Schleifreste jedoch tatsächlich ins Wasser gelangen und nicht in den Haus- oder Sondermüll, ist nur schwer zu beziffern. Op­ti­ke­r*in­nen verwenden die unterschiedlichsten Schleifsysteme. Ausgestattet sein können sie mit Absetzbecken, Filtersocken oder auch ganzen Filtersystemen. Nur wenige Zahlen vorhanden Auch macht es einen Unterschied, ob die Schleifsysteme mit Frischwasser betrieben werden oder Umwälzanlagen vorhanden sind. Niklas Warda geht davon aus, dass gut 80 Prozent der 200 Tonnen nicht rausgefiltert würden. Also erst einmal ins Abwasser gelangen. Die Rechnung der Firma Wardakant ist holzschnittartig, aber es sind die einzigen Zahlen, die vorliegen. Sowohl die Optikerbranche selbst als auch die Behörden haben Mikroplastik von Brillengläsern nur sehr vereinzelt bis gar nicht auf dem Schirm. Weder dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft noch der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall liegen Informationen dazu vor. Das Umweltbundesamt (UBA) schreibt, dass selbst wenn die Zahlen stimmen sollten, die 200 Tonnen eine geringe Menge in Relation zu anderen Umwelteinträgen darstellten und Kläranlagen über 90 Prozent des Mikroplastik entfernten. „Unsere Fachleute halten die Umweltbelastung daher für vergleichsweise wenig gravierend, zumal der Nutzen für die Brillentragenden ja recht hoch ist“, so ein Sprecher des UBA. Ebenso hat auch der Optikerverband ZVA keinerlei Daten zu Schleifrückständen oder dazu, „wie groß der Anteil derer ist, die das Schleifwasser zusätzlich filtern“, und „wie viele Optiker mit einem geschlossenen System arbeiten und wie viele mit einem Frischwassersystem“. Uneinigkeit bei den Schätzungen Aufgrund von eingesetzten Absetzbecken und Reststoffbehältern, wo sich die Rückstände ablagern und anschließend im Müll entsorgt werden können, sowie Filtersocken gelangten aber „keineswegs die gesamten Rückstände ins Abwasser, sondern nur ein kleiner Teil, der im Schleifwasser enthalten ist“. Deshalb schätze der ZVA die Belastung des Abwassers eher als gering ein. Die Ansicht, dass manche Mengen vernachlässigbar seien, „hat uns zu dem Punkt gebracht, an dem wir uns mittlerweile befinden“, kritisiert Warda. „Feinste Mikroplastikpartikel sind von den höchsten Berggipfeln bis hin zu den tiefsten Stellen des Meeres zu finden und jeder von uns verzehrt pro Woche eine Kreditkarte an Plastik, einfach so nebenbei.“ Geschlossene Kreisläufe und Recycling Mit seiner Filteranlage TideKlar will er gegensteuern: Sie würde Mikroplastik beim Einschleifen in einem komplett geschlossenen Kreislauf herausfiltern. Außerdem werde das Mikroplastik wiederverwertet. Ein Recyclingdienstleister verarbeite die Schleifrückstände dann etwa zu Zaunpfählen. Viele Firmen gebe es im Bereich der Filteranlagen nicht, so Warda. „Wirkliche Filteranlagen für optische Schleifautomaten gibt es von zwei Anbietern auf dem Markt: Essilor und Nidek.“ Andere Kleinlösungen wie Filtersocken gebe es daneben auch nur wenige. Und Filteranlagen ließen sich unterein­an­der nur schwer vergleichen, da sie von Wirkungsgrad und eingesetzter Filtertechnik komplett unterschiedlich seien. „Wir hoffen, dass ein Umdenken in der Optikerbranche stattfindet und Filteranlagen zum Standard werden.“
Mareike Andert
Beim Bearbeiten von Linsen aus Kunststoff entstehen Schleifrückstände. Das Problem: Übers Schmutzwasser gelangt davon auch ein Teil in die Natur.
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Eine kleine Nachtmusik - taz.de
Eine kleine Nachtmusik AFTER-DEMO-PARTY Bei Volxküche und Live- musik erholen sich die streikenden Studierenden Vor dem besetzten Hörsaal 1A der Freien Universität (FU) herrscht entspannte Stimmung. Fünf Studierende stehen um einen Stahltopf, darin brodelt unter einem improvisierten Deckel aus zwei Mensatabletts ein Süppchen aus Rosenkohl, Äpfel und Bananen. „Wir versuchen, so ’ne Art Linsensuppe zu machen“, erklärt ein Student rührend. Die Studis erholen sich von einem harten Tag: Am Morgen dieses Dienstags haben sie zusammen mit rund 15.000 Menschen für eine bessere Bildungspolitik demonstriert, teilweise in strömenden Regen; auch jetzt nieselt es noch. Die Anwesenden sind zuversichtlich. Gerade kommen Neuigkeiten. „Leute, allein heute wurden 16 neue Unis besetzt“, ruft Milka Berndt den anderen zu. Die 22-jährige Ägyptologie-Studentin erntet Applaus und „Woo“-Rufe. „Diese ganze Solidarität ist so schön“, freut sie sich. An diesem Abend gibt es „Volxküche“ für die streikenden Studierenden, die Zutaten stammen aus einer Biobäckerei und einem Supermarkt in der Nähe. Sie sind gespendet, die Produkte hätten sonst wegen des abgelaufenen Verfallsdatums weggeschmissen werden müssen. Insgesamt 40 Studierende – viele von ihnen wohnen schon seit sechs Tagen in dem Hörsaal – warten auf die Suppe. Aufwärmen mit Pop Und nicht nur die Suppe wartet auf sie als Belohnung: Auch die Berliner Popsängerin Kitty Solaris solidarisiert sich mit den Studierenden. Sie gibt an diesem Abend zusammen mit ihrem Schlagzeuger, der Schelle und Rasseln spielt, ein Konzert im Hörsaal. Die beiden Musiker wirken dort etwas verloren, schließlich passen in den Saal rund 500 Leute. Jetzt drängen sie sich in den ersten Reihen, einige mit roten Bäckchen vom Streiktag, andere mit Bier in der Hand. „Wir brauchen jetzt alle eine kleine Erholung“, sagt Milka. „Nach der Demo war ich richtig durchgefroren. Ich bin erst mal nach Hause gefahren, um warme Sachen anzuziehen und meinen Schlafsack zu holen.“ Das schlechte Wetter während der Demo sei auch der Grund für das Zuhausebleiben vieler Studierenden. Trotzdem ist Milka zuversichtlich: „Wir haben noch Kraft! Ich kann noch eine Weile hierbleiben. Von mir aus bis Weihnachten.“ LISA GEIGER
LISA GEIGER
AFTER-DEMO-PARTY Bei Volxküche und Live- musik erholen sich die streikenden Studierenden
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Terror in Nigeria: Zahl der Toten steigt schnell - taz.de
Terror in Nigeria: Zahl der Toten steigt schnell Bis zu 500 Menschen sterben bei Angriffen der Boko Haram auf Dörfer nahe der Grenze zu Kamerun. Es gibt Berichte, das Militär habe nicht eingegriffen. Hilflos: Polizisten in Nigerias Hauptstadt Abuja. Bild: reuters BERLIN taz | Selbst nach den Maßstäben Boko Harams sind die neuesten Nachrichten aus Nigeria außergewöhnlich. Auf 400 bis 500 Tote schätzen lokale Dorfchefs die Zahl der Opfer einer Serie von Angriffen der islamistischen Untergrundkämpfer auf mehrere Dörfer im Nordosten des Landes diese Woche. „Hunderte von Leichen liegen herum, weil niemand sie beerdigen kann“, sagte der Chef des Dorfes Attagara. Der Parlamentarier Peter Biye sagte: „Niemand kann eine Bilanz ziehen, weil niemand in diese Region kann. Die Aufständischen haben über die gesamte Zone die Kontrolle übernommen.“ Die Tatorte sind die Kleinstadt Ngoshe sowie die nahen Dörfer Attagara, Agapalawa und Aganjar. Sie liegen im Distrikt Gwoza im nordostnigerianischen Bundesstaat Borno, am Fuße der Mandara-Berge an der Grenze zu Kamerun. Der Landstrich um Ngoshe, vom Rest des Distrikts durch einen Gebirgsausläufer getrennt, wird von der Glavda-sprachigen Minderheit bewohnt, die multireligiös ist: Die meisten Dörfer sind mehrheitlich christlich, aber zu gut einem Drittel muslimisch, und in vielen Familien gibt es sowohl Christen als auch Muslime und sowohl Nigerianer als auch Kameruner. Die Glavda kommen im Krieg gegen Boko Haram nun unter die Räder. Zum einen haben die Armeen Nigerias und Kameruns begonnen, die Grenze abzuriegeln. Zum anderen aber übernahm Boko Haram im Mai die Kontrolle über die Glavda-Grenzstadt Ashigashiya. Die neuen Massaker sind Endpunkt einer Gewaltspirale. Am Freitag vergangener Woche starb der Emir von Gwoza bei einem Attentat. Am Sonntag wurden im Dorf Attagara neun Christen getötet. Bei Racheangriffen starben vier Muslime im Dorf und insgesamt 37 im gesamten Landstrich. Daraufhin begannen den vorliegenden Berichten zufolge die Großangriffe Boko Harams - nach bewährtem Muster. „No-Go-Area“ für das Militär Hunderte Uniformierte auf Motorrädern oder in Militärfahrzeugen kamen nachts an, verkündeten, sie seien Armeeverstärkung zum Schutz vor Boko Haram und trommelten die jeweilige Dorfbevölkerung zusammen. Als alle auf dem Dorfplatz standen, riefen die Uniformierten „Allahu Akbar“ und eröffneten aus Maschinengewehren auf die Menge das Feuer. Ngoshe, der größte der vier Orte, wurde mit seiner Moschee und seinen 300 Häusern komplett zerstört. Alle Dörfer seien jetzt menschenleer, das Gebiet eine „No-Go-Area“ für das Militär. Ganz neu ist dieser Zustand für die Region nicht. Die Straße aus der 135 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Maiduguri in den Distrikt Gwoza gilt schon seit Monaten als äußerst gefährlich. Als Provinzgouverneur Kashim Shettima am vergangenen Samstag aus Maiduguri zur Beerdigung des ermordeten Emirs anreiste, musste er 150 Soldaten zu seinem Schutz mitbringen. Ein Reporter zählte auf der Fahrt 16 menschenleere Ortschaften. „Alle rennen von einem Dorf zum anderen, und wenn das angeblich sichere Dorf angegriffen wird, rennen sie ins nächste Dorf,“ sagte der lokale Chef des Ortes Askira, Mallam Dawa Pogu, gegenüber lokalen Journalisten. „Wir haben Sicherheitskräfte, aber sie können uns nicht helfen, denn es sind ja auch nur Menschen und sie haben Probleme.“ Er habe um Armeeschutz gebeten und zur Antwort bekommen, erst müssten die Soldatengehälter bezahlt werden. Auch bei den jüngsten Angriffen gibt es Berichte, das Militär habe nicht eingegriffen, obwohl es in der Nähe war. Und dass die Angreifer mit Militärfahrzeugen und Armeeuniformen kamen, verstärkt den Verdacht, Teile der Sicherheitskräfte steckten mit Boko Haram unter einer Decke.
Dominic Johnson
Bis zu 500 Menschen sterben bei Angriffen der Boko Haram auf Dörfer nahe der Grenze zu Kamerun. Es gibt Berichte, das Militär habe nicht eingegriffen.
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Sportpolitik in Russland: Für Staat und Sport - taz.de
Sportpolitik in Russland: Für Staat und Sport Oleg Matyzin ist neuer russischer Sportminister. Er soll sein Land auf die Bühne des Weltsports zurückbringen und beginnt wie sein Vorvorgänger. Oleg Matyzin (l.) wird von Dmitri Tschernyschenko als Sportminister eingeführt Foto: Sherbak/ imago Nach dem Rücktritt der russischen Regierung in der vergangenen Woche hat eine der Schlüsselfiguren des russischen Dopingsystems den Zugang zur Macht im Kreml verloren. Witali Mutko, der langjährige Sportminister, seit 2016 stellvertretender Ministerpräsident der Russischen Föderation, wird der neuen Regierung unter Michail Mischustin nicht mehr angehören. Sportminister ist nun der in der olympischen Welt gut vernetzte Sportpädagoge und Multifunktionär Oleg Matyzin. Der russische Sport stellt darüber hinaus auch wieder einen stellvertretenden Regierungschef. Dmitri Tschernyschenko, der Chef der multinationalen, in Russland verankerten Profi-Eishockey-Liga KHL, ist auch im olympischen Sport kein Unbekannter. Er war der in Russland gefeierte Organisationschef der Olympischen Winterspiele von Sotschi 2014. Die Aufgabe der beiden auf internationalem Sportparkett dürfte klar sein. Es wird darum gehen, gegen den Beschluss der Welt-Antidopingagentur Wada, Russland als Sportnation von den großen internationalen Wettbewerben auszuschließen, vorzugehen. Nachdem die Wada festgestellt hatte, dass die zur Aufklärung des russischen Staatsdopingskandals, der zur Zeit der Olympischen Spiele von Sotschi seinen Höhepunkt hatte, angeforderten Datensätze aus dem Dopinganalyselabor in Moskau manipuliert worden sind, möchte die Wada nur noch erwiesen saubere Einzelathleten aus Russland bei großen Wettkämpfen wie Weltmeisterschaften sehen. Die russische Fahne soll dabei nicht wehen. Außerdem sollen vier Jahre lang keine Großereignisse in Russland mehr stattfinden. Die Russen kämpfen gegen die Entscheidung unter anderen vor dem Internationalen Sportschiedsgericht in Lausanne. Olympisches Netzwerk Die Stadt im Schweizer Kanton Waadt ist dem neuen russischen Sportminister Oleg Matyzin nicht nur vertraut, weil sie neben dem CAS auch das Internationale Olympische Komitee beherbergt. Auch der Internationale Hochschulsportverband Fisu, dessen Präsident Matyzin ist, hat in der Stadt seinen Sitz. Als Fisu-Chef ist er ganz nah dran an der olympischen Bewegung. Matyzin ist zudem Mitglied der Olympic Education Commission, die sich mit so schönen Dingen befasst wie der Verbreitung der Werte des Sports in der Jugend der Welt. Matyzin denkt nicht daran, sein Amt als Präsident der Fisu niederzulegen Als Fisu-Chef ist der ehemalige Tischtennisspieler unmittelbar vom drohenden Sportbann Russlands betroffen. Die Sommeruniversiade 2023 soll eigentlich im russischen Jekaterinburg stattfinden. Nach dem Wada-Verdikt müsste sich das Event eine neue Ausrichterstadt suchen. Matyzin hat schon vor seiner Berufung ins Kabinett klargemacht, dass er es für „unmöglich“ hält, der Stadt am Ural das Event wieder wegzunehmen. Alle relevanten Verträge seien unterzeichnet, hatte Matyzin im November des Vorjahres gesagt. Auch zu einem weiteren Punkt der Wada-Empfehlungen hat er sich im November geäußert. Die Wada fordert nach den Vorkommnissen im russischen Sport, dass in den internationalen Sportverbänden keine Vertreter der Regierung der Russischen Föderation mehr sitzen sollten. Als Matyzin 2015 Fisu-Chef wurde, hatte er kein Staatsamt inne. Darauf hat er im November ausdrücklich hingewiesen. Das hat sich nun ja geändert. Doch seinen Posten als Präsident des Internationalen Hochschulsportverbands will er erst einmal behalten. „Ich will meine Arbeit fortsetzen“, wird er von der Nachrichten-Agentur Ria-Novosti zitiert. Witali Mutko, sein Vorvorgänger im Amt, hat das ebenso gehandhabt. Für ihn war es nie ein Problem, der Regierung anzugehören und gleichzeitig den Russischen Fußballverband zu führen. In Russland starten die sportlichen Kabinettsmitglieder erst einmal mit Vorschusslorbeeren ins Amt. Die Eishockey-Legende der 1980er und 1990er Jahre Wjatscheslaw Fetisow, dessen Karriere als Sportfunktionär von Mutko einst ausgebremst worden war, hofft darauf, dass die guten Beziehungen, die Matyzin zur olympischen Familie pflegt, dazu beitragen können, das Ansehen des russischen Sports in der Welt zu verbessern – eine Herkulesaufgabe.
Andreas Rüttenauer
Oleg Matyzin ist neuer russischer Sportminister. Er soll sein Land auf die Bühne des Weltsports zurückbringen und beginnt wie sein Vorvorgänger.
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Julian Schnabel über den Film "Mirwa: "Es ist ihre Wahrheit, nicht meine" - taz.de
Julian Schnabel über den Film "Mirwa: "Es ist ihre Wahrheit, nicht meine" Julian Schnabel hat die Geschichte seiner Lebensgefährtin verfilmt, der Palästinenserin Rula Jebreal. "Miral" nutzt die Mittel des Mainstreamkinos, um sich starkzumachen. Julian Schnabel (r.) and screenwriter Rula Jebrea. Bild: reuters taz: Herr Schnabel, wie würden Sie den Konflikt im Nahen Osten einem Marsmännchen erklären? Julian Schnabel: Da gäbe es natürlich sehr unterschiedliche Versionen. Eine würde vielleicht wie "Romeo und Julia" klingen. Zwei Völker, die zusammen in Frieden und Respekt leben wollen, es aber nicht können, weil ihre Tradition, ihr Glaube, ihre Geschichte, ihre Familien es nicht zulassen. Diese Version ist vielen bestimmt viel zu einfach. Was aber an ihr stimmt, ist der Umstand, dass nicht nur die Israelis und die Palästinenser an dem Konflikt schuld sind, sondern komplizierte äußere Umstände. Egal, welche Fassung man wählt, kein Experte der Welt könnte eine Antwort in mundgerechten Häppchen für einen Ahnungslosen aufbereiten. im Interview:Foto: dapdJulian Schnabel, geb 1951 in New York, Umzug der Familie nach Texas, als Schnabel 13 ist. In den Siebzigern hält er sich in New-York mit Fast-Food-Jobs über Wasser, wenige Jahre später ist er der berühmteste Vertreter des Neoexpressionismus. Ein Malerfürst und und Shootingstar, dessen Scherbenbilder astronomische Summen einbrigen. Ist "Miral" nicht selbst so ein Versuch, mit massenwirksamen, emotionalen Mitteln eine so komplexe Angelegenheit wie die Geschichte der Israelis und Palästinenser in einer sehr vereinfachten Erzählung unterzubringen? Bei "Miral" ging es mir vor allem um eines: der autobiografischen Stimme aus Rulas (Rula Jebreal, Journalistin und Schnabels Lebensgefährtin, bg) Buch Bilder zu geben, ihr im Film möglichst detailgenau und präzise zu folgen. Es ist ihre Wahrheit, nicht meine oder unsere. Und mit dieser Wahrheit wollte ich so akkurat und behutsam wie möglich umgehen. Das Verallgemeinern und Vereinfachen, um eine Geschichte zu erzählen, ist eine Sache. Die Freundlichkeit, die Geduld der Leute in Palästina, die mich in ihr Haus und in ihr Leben gelassen haben, ist eine andere. Eine, auf die ich gar nicht vorbereitet war, die mich zutiefst bewegt hat, die die Arbeit an "Miral" erst möglich gemacht und emotional sicher gefärbt hat. Ist Ihre Verfilmung in erster Linie ein Geschenk an Ihre Freundin Rula Jebreal, die Verfasserin des Buches, oder wollten Sie Ihr Publikum vor allem über Palästina aufklären? Ich wollte tatsächlich genau dies. Aufklären, Vorurteile und auch Ängste abbauen, zeigen, wie die Menschen dort leben. In "Miral" gibt es den Vater, der in die Moschee geht und trotzdem ein frei denkender Mann ist. Er ist ein friedliebender Mensch und alles andere als ein Fanatiker. Er gibt seine Tochter ins Dar-Al-Tifl-Institut, das 1948 von der Philanthropin Hind Husseini für palästinensische Waisenkinder in Ostjerusalem gegründet wurde. Miral soll eine weltliche und umfassende Bildung bekommt. Er versteckt seine Tochter nicht unter einem Schleier und zwingt ihr nicht das Leben einer devoten Muslimin auf. Dann gibt es den PLO-Kämpfer, der sich in der Zeit der Intifada in das wunderschöne Mädchen verliebt und sich in dem Moment für sein eigenes Leben und gegen die Ideologie entscheidet. Seine eigenen Leute lassen diesen Individualismus nicht zu und bringen ihn um. In all diesen Figuren werden verschiedenste Optionen und Facetten dessen sichtbar, was alles zur Realität in Palästina gehört. Die israelische Seite taucht entweder als gigantische Baggerschaufel auf, als unbelehrbare, wütende Siedlergruppe, als kaltherzige Militärs oder als Polizeistreife. So viele Facetten gibt es auf dieser Seite nicht. Ich folge den Erinnerung eines palästinensischen Mädchens. Doch bei aller Werktreue gab es allerdings eine Entscheidung, die ich treffen musste. Ich musste mir die Frage stellen, bleibe ich ganz bei der Heldin Miral oder zeige ich den Kontext, also das, was ihr Leben und ihre Entscheidungen beeinflusst hat. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Deswegen kommt all das vor von der Gründung Israels 1948 über den Sechstagekrieg 1967 bis hin zum Osloer Abkommen von 1993. Aber all die historische Zäsuren werden stets aus dem Blickwinkel machtloser palästinensischer Frauen erlebt … … aus Rulas Blickwinkel! Sie ist nun mal die Heldin. Ich wollte von ihrem Schmerz und ihrer Traurigkeit erzählen. Das war der Anfang von allem, und ich wusste von Beginn an, dass das nicht einfach werden würde bei so einem schwierigen, emotionsbeladenen Thema. Aber dahin wollte ich das Publikum mitnehmen. Und Sie wollten offenbar ein sehr großes Publikum dorthin mitnehmen und deswegen haben Sie sich von der Ästhetik bis zur Erzählweise für ein absolutes Mainstreamkino entschieden? Ganz genau, ich wollte dieses Mal wirklich viele, viele Menschen in der Welt erreichen. Deswegen ist auch die Filmsprache Englisch. Haben Sie sich aus demselben Grund auch für die Besetzung von Freida Pinto als Miral entschieden und damit für einen Hauch von Bollywood? Nein, wenn Sie erst Rula sehen und dann Freida, dann wissen Sie einfach, dass es keine andere Besetzung geben kann. Sie sind wie Schwestern. Wissen Sie, was seltsam ist? Als ich Rula das erste Mal sah, hielt ich sie interessanterweise für eine Inderin. Haben Sie sich nie erzählerisch oder künstlerisch eingeschränkt gefühlt bei der Verfilmung des Buches Ihrer Freundin? Nein, nie. Im Gegenteil, Rula hat vor Ort alles möglich gemacht. Sie war oft erste Regieassistenz und Übersetzerin in einem. Sie spricht nicht nur Englisch, Italienisch und Französisch, sondern auch Hebräisch und Arabisch. Sie hat die Leute angeleitet. Sie hat die Drehorte möglich gemacht. Ohne sie hätten wir keinen Fuß in die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem bekommen. Rula ist vielen Menschen dort sehr verbunden, ihnen gegenüber hat "Miral" eine große Verantwortung und ist zu einem respektvollen Umgang mit der Geschichte Palästinas verpflichtet. Sie selbst wuchsen in einer jüdischen Familie in Brooklyn auf. Wie wichtig war der jüdische Glaube für Sie? Ich bin nicht religiös. Ich hatte zwar eine Bar-Mizwa, das war es dann auch schon. Aber meine Mutter war sehr engagiert in der jüdischen Gemeinde. Sie sammelte Gelder für Krankenhäuser und Kinderheime und Pflanzungen in Israel. Wenn es in Israel einen Anschlag gab, war das ein Anschlag auf uns. Wenn es dort friedlich zuging, war das auch gut für uns. Jerusalem war nicht auf einem anderen Planeten. Ist "Miral" die Gelegenheit, einmal die Seite zu wechseln? Ich habe einfach gelernt, dass Palästinenser Menschen sind, die wir nicht zu fürchten oder zu bekämpfen brauchen. Die Konflikte zwischen den Völker dort sollten ganz normale Nachbarschaftsstreitigkeiten sein und nicht mehr. Es gibt mehr Vernünftige als Wahnsinnige dort. Man muss die Fanatiker auf beiden Seiten loswerden! Wenn Sie ein Thema intensiv beschäftigt, ab welchem Punkt wissen Sie, okay, das wird ein Bild, oder das wird ein Film? Im Fall von "Miral" kann es, glaube ich, kein Gemälde geben, das so einen Konflikt ausdrücken oder beinhalten könnte. 1987 war ich einmal in der Wüste mit Israelis und Arabern und wollte Beduinenzelte malen. Mit viel Beige und viel Braun und viel Schatten. Es gelang mir aber nichts Rechtes. Später fand ich einen leeren hölzernen Rahmen. Das war bezeichnenderweise das Bild auf meiner Netzhaut, mit dem ich aus dieser Region zurückkehrte. In meinem Gehirn gibt es zwei völlig voneinander getrennte Sektionen. Eine für den Film und eine für die Malerei. Wie koexistieren oder kooperieren die beiden Abteilungen? Die eine will Geschichten erzählen, sich an ein großes Publikum wenden, die andere sucht die Abschirmung im Rätsel. Beim Malen bin ich niemandem verpflichtet, nur meiner eigenen inneren Vorstellung, meinem eigenen Impuls. Beim Filmen muss ich andere überzeugen, muss die Idee den Weg vom Hirn zum Drehbuch und über die Realität am Set ins Filmbild schaffen. Aber es gibt auch Momente, in denen der Maler Schnabel dem Filmregisseur Schnabel den Weg weist. Was passiert dann? Das ist wie ein kleiner Blitz, ein plötzliches Bild. Welches Bild hatten Sie zuerst vor Augen, als Sie mit "Miral" begannen? Komischerweise das vom Beerdigungsauto. Ich dachte, das ist keine schwarze Limousine, das muss ein gelber Volvo sein. Ich weiß auch nicht, warum. Da muss wohl der Zufall seine Finger im Spiel gehabt haben.
Birgit Glombitza
Julian Schnabel hat die Geschichte seiner Lebensgefährtin verfilmt, der Palästinenserin Rula Jebreal. "Miral" nutzt die Mittel des Mainstreamkinos, um sich starkzumachen.
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Regisseur „Fritz Lang“ als Filmfigur: Auch er ein Getriebener - taz.de
Regisseur „Fritz Lang“ als Filmfigur: Auch er ein Getriebener Ein Regisseur auf der Suche nach Inspiration: Gordian Mauggs Spielfilm „Fritz Lang“ ist visuell geschickt – dramaturgisch eher nicht. Montage: Fritz Lang (Heino Ferch) mit Filmausschnitt aus „M“ Foto: W-Film „Wer weiß denn, wie es in mir aussieht? Wie es schreit und brüllt herinnen? Wie ich’s tun muss! Will nicht! Muss! Will nicht! Muss!“ Aus dem Mann spricht die tiefe Qual. Den von Peter Lorre als Kindermörder legendär gemachten Monolog kann man nie vergessen. Die akzentuierte, leicht wienerisch gefärbte Stimme Lorres war perfekt für Fritz Langs Soundpremiere: In „M“, der 1931 als einer der ersten deutschen Tonfilme herauskam, demonstrierte der für megalomanen Stummfilm-Kintopp wie „Metropolis“ bekannte Lang sein umfassendes Talent als Regisseur von psychologisch anspruchsvollen Dramen. Gemeinsam mit Ehefrau und Koautorin Thea von Harbou bewies er ein sicheres Gefühl für Dialoge – am liebsten zwischen Kaputten und Verzweifelten. Lang war selbst ein Getriebener, das behauptet Regisseur Gordian Maugg im Film „Fritz Lang“, einer, dessen Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg und als betrügender Ehemann mit Trauma-Erlebnis ihn beruflich und thematisch beeinflussten. Mauggs Protagonist, gespielt von Heino Ferch, stößt auf der Suche nach einem Sujet für den ersten „Talkie“, der seinen Ruf als Meisterregisseur zementieren soll, nach nächtlicher Drogen-und-Hurenroutine auf Zeitungsberichte über den Düsseldorfer Serienmörder Peter Kürten (Samuel Finzi). Lang reist in die Rheinstadt, um die Ermittlungen zu beobachten, und trifft dort den findigen Berliner Kriminalrat Gennat (Thomas Thieme), der ihn nah ans Geschehen lässt. Man kennt sich von früher: Maugg hat Gennat kurzerhand zu jenem Beamten gemacht, der Jahre vorher den nie ganz aufgeklärten Tod von Langs erster Ehefrau Lisa zu Protokoll nahm. "Fritz Lang"„Fritz Lang“. Regie: Gordian Maugg. Mit Heino Ferch, Samuel Finzi u. a. Deutschland 2015, 104 Min. Das ist nicht der einzige Kunstgriff: Maugg hat Originalausschnitte aus „M“ und bewegte Bilder aus historischen Filmen in die Geschichte collagiert. Die Kameramänner Lutz Reitemeier und Moritz Anton fanden mithilfe exzellenter Beleuchtung dafür einen homogenen, überzeugenden Look – im 4:3-Format mischen sich die alten mit den neuen Aufnahmen und sind allein durch die handelnden Personen unterscheidbar. So rund der Film visuell ist, so holperig ist er in Dramaturgie und Besetzung. Ferch spielt den Österreicher Lang stoisch und akzentfrei – überhaupt hat niemand, ob Berliner Bulle oder Düsseldorfer Droschkenkutscher, auch nur den Hauch einer mundartlichen Färbung, allein Thieme darf kurz berlinisch bollern – dabei ist die Sprache in dieser Geschichte des ersten Tonfilms so wichtig. Der gebürtige Bulgare Finzi erinnert mit seinem feinen Akzent und seiner Sprechweise zwar an Peter Lorre, aber eben nicht an einen aus Mülheim stammenden, bildungsfernen Arbeitersohn Kürten. Zudem klingen manche Zeilen mehr nach Fernsehkrimi als nach Milieu: „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ Die formal schicke Idee, dem Werk durch Originalmaterial Authentizität zu verleihen, funktioniert nur begrenzt. Wenn etwa Langs dramaturgisch völlig unerhebliche Reise von Berlin nach Düsseldorf durch Original-Zugszenen aus den 20ern ausgekleidet und damit viel zu bedeutend wird, verschwimmt die Absicht: Braucht man wirklich historische Bahnreisebilder, wenn Lang alias Ferch ja doch nicht in dem Zug sitzen kann? Vor allem aber schaffen es Maugg und Ferch nicht, sich Lang als Menschen zu nähern, tatsächlich zu erklären, was den arbeitswütigen Monokelträger mit der Schwäche für Kokain umtrieb: Das hat Maugg nicht geschrieben und Ferch nicht gespielt. Vater-Sohn-Konflikt, dann der Krieg mit seinen Schrecken, und die nie geklärte Frage nach der Schuld am Tod von Langs erster Frau. Doch diese Szenen bleiben Behauptungen. Sie tauchen wie zufällig auf, während die Stadt einen Mörder sucht – und Fritz Lang eine Inspiration.
Jenni Zylka
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