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Schwarzes Meer vor Portugal - taz.de
Schwarzes Meer vor Portugal Ölteppiche der „Prestige“ verseuchen immer neue Strände. Frankreich gibt Ölalarm für die Biskaya. Vorwürfe gegen spanische Regierungen. Deutsche Helfer ziehen vorzeitig wieder ab MADRID taz ■ Das Öl aus dem untergegangenen Tanker „Prestige“ breitet sich aus. Gestern gelangten erste Ölteppiche an die Küste Portugals. Das portugiesische Hydrografische Institut erwartet insgesamt 670 Tonnen Schweröl. Doch das könnte nur der Anfang sein. Denn in den nächsten Tagen wird der größte Ölteppich, der mittlerweile doppelt so groß ist wie Berlin, an die Küste geschwemmt. Die Behörden versuchen, die Mündung des Minho, des Grenzflusses zu Galicien, zu schützen. In Frankreich lösten die Behörden Katastrophenalarm zum Schutz des Meeres aus. Erste Reste des „Prestige“-Unglücks sind nur noch 250 Kilometer von Biarritz entfernt. Von dort zieht sich Europas größter Sandstrand mehrere hundert Kilometer nach Norden. Die Meeres-Präfektur fürchtet, in 10 Tagen sei eine „weit gestreute, aber nicht massive Verschmutzung“ zu erwarten. Die Behörden wollen das Öl mit Schleppnetzen abschöpfen. In Galicien selbst ist mittlerweile die gesamte Küste von der Ölpest betroffen. Gestern gelangte die schwarze Flut erstmals in die fisch- und meeresfrüchtereichen Buchten Rías Baixas’ und verschlammte das Vogelparadies der Atlantischen Inseln. In den östlichen Nachbarregionen Asturien und Cantabrien treiben Ölteppiche direkt vor der Küste. Die spanische Regierung versucht weiterhin, das Ausmaß der Katastrophe herunterzuspielen. Vor Ort sind die Helfer empört über die mangelnde Hilfe der Regierungen in Madrid und der Regionalhauptstadt Santiago de Compostela. Die deutschen Helfer von Technischem Hilfswerk (THW) und Feuerwehr, die unter anderem Schulungen für den Kampf gegen das Öl machen wollten, reisten vorzeitig ab. Die Zusammenarbeit mit den spanischen Behörden sei weitgehend fruchtlos gewesen, meldete die Nachrichtenagentur dpa gestern. REINER WANDLER umwelt SEITE 8
REINER WANDLER
Ölteppiche der „Prestige“ verseuchen immer neue Strände. Frankreich gibt Ölalarm für die Biskaya. Vorwürfe gegen spanische Regierungen. Deutsche Helfer ziehen vorzeitig wieder ab
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Minimalismus in der digitalen Kunst: Der Zufall spielt mit - taz.de
Minimalismus in der digitalen Kunst: Der Zufall spielt mit Ein schönes Spektakel im Dialog mit der Kunstgeschichte: Das Folkwang in Essen stellt den NFT-Künstler Rafaël Rozendaal in einer Soloschau aus. Eine über­raschend intime Installation, „81 Horizons“ von Rafaël Rozendaal im Folkwang Museum Foto: Gert Jan van Rooij Das Smartphone streikt: Mit oder ohne Blitz erkennt die Kamera im zentralen Raum der Ausstellung „Rafaël Rozendaal. Color, Code, Communication“ nur milchig-weiße Screens in nachtschwarzer Dunkelheit. Wie kann es sein, dass das Auge 17 Farben in 81 verschiedenen Kombinationen in der immer gleichen Anordnung eines schmalen Streifens unten und eines breiteren oben sieht, die Kamera auf den Monitoren, die in dem großen Raum auf Stelen zu schweben scheinen, aber kaum etwas erkennt? Die imposante und doch überraschend intime Installation „81 Horizons“ ist das Herz der ersten monografischen Ausstellung des niederländisch-brasilianischen Künstlers Rafaël Rozendaal in einem europäischen Museum. Die Variationen der monochromen Farbstreifen erinnern an den kunstgeschichtlichen Topos des Horizonts, an altmeisterlich-niederländische Landschaftsmalerei, aber auch an monochrome Farbfeld-Bilder der Moderne. Eine stille und bemerkenswerte unaufgeregte Installation. Er habe gar kein Atelier oder Büro, gibt Rozendaal zu, denn er operiere ja nur mit minimalen Daten. Man stelle sich das vor: Die Datenmenge der gesamten Ausstellung summiert sich insgesamt auf gerade einmal 400 KB! Und es gab für die Schau keinerlei Transporte, in Sachen Nachhaltigkeit ist sie also kaum zu toppen. Der in New York lebende Rozendaal gilt als Pionier der digitalen Kunst, bereits Anfang der 2000er Jahre experimentierte er mit Unikaten in der Form von Webseiten. Seit drei Jahren setzt er auch auf NFTs, „Non Fungible Token“, die digitale Kunst in einer Blockchain als Unikat verifizieren. Die Ausstellung„Color, Code, Communi­cation“: Rafaël Rozendaal. Museum Folkwang, Essen.Bis 20. August. Vor zwei Jahren erlebte der NFT-Hype seinen Höhepunkt, als der Künstler Beeple bei Christie’s über 69 Millionen Dollar für eine einzige Datei kassierte, ein Rekordpreis für digitale Kunst für eine Collage aus 5.000 winzigen Bildchen. Inzwischen ist die Welle dramatisch abgeflacht, viel Geld wurde verbrannt, manche sprechen schon vom Ende des Booms, aber NFT und Blockchain bleiben Reizworte des Kunstbetriebs, aufgeladen mit polarisierenden Ressentiments. Auf Differenzierung kommt es an Peter Gorschlüter, Direktor des Folkwang Museums, greift beim Pressegespräch die kontroverse Diskussion auf, um sie entschieden zu erden. Für alle Vorurteile gegenüber NFTs vom Kitsch über Betrügerei bis zur Klimaschädlichkeit gelte die Formel: „Ja, auch!“ Erst einmal aber sei die Technologie schlicht eine Möglichkeit, ein digitales Original zu adressieren. Natürlich sei längst nicht alles Kunst, was da produziert würde. Gorschlüter hat nicht nur mit Rozendaal einen wichtigen Protagonisten der digitalen Kunst eingeladen, er veranstaltet auch einen mehrtägigen Kongress, man will wissenschaftliche Lücken schließen, heißt es. Tatsächlich gilt es, zu differenzieren. Während nicht weit weg im Düsseldorfer Kunstpalast der ebenfalls schwer angesagte Refik Anadol digitale Kunst präsentiert, die mit gigantischen Datenmengen protzt und ihre an- und abschwellenden Farbkonvulsionen mit psychedelisch-wabernder Chillout-Musik tapeziert, herrscht in Essen Minimalismus, gewürzt mit Selbstironie. An den Außenwänden des zentralen Raums prangen Haikus auf pastellfarbenen Farbflächen, die die fluide Lebenssituation des Künstlers lakonisch reflektieren, wie „Never working – never not working“. In der „Filmbox“ hat Rozen­daal seinen NFT-Generator „Polychrome Music“ installiert, bei dem drei Tonspuren nach dem Zufallsprinzip mit Farbanimationen auf einem wandfüllenden Screen korrespondieren. Die Musik folgt hier nicht dem Bild, sondern entsteht gleichzeitig, es klingt ein bisschen wie Kraftwerk reloaded. Homage an Josef Albers „Ich habe digitale Kunst immer als Rohmaterial gesehen, als etwas Flexibles, das in vielen Formen erlebt werden kann“, sagt Rozendaal. Fast alle seine Arbeiten beschäftigten sich mit dem Phänomen Farbe. Wie etwa die „Homage“-Serie, bei der auf einer quadratischen LED-Wand täglich ein neues NFT in direkten Dialog mit einer der ikonischen Farbfeld-Malereien von Josef Albers tritt. Das Internet sei der Wasserfall, „aber das Museum ist das Aquarium“, sagt Rozendaal Rozendaals Bezug zur Kunstgeschichte gilt auch für seine Arbeitsweise, denn er geht ganz analog vor, mit Skizzen auf Papier. Wie die alten Meister lässt er sich inspirieren von Landschaften, Reisen und Museumsbesuchen. „Am Anfang ist ein schwarzer Stift“, sagt er. Die Grundfrage, die ihn umtreibt, lautet: Wie lassen sich die digitalen Künste wieder zurück in den Raum verwandeln? Es gehe ihm um ein Bewusstsein für Texturen, sagt Roozendaal, das Internet sei der Wasserfall, „aber das Museum ist das Aquarium“. So lässt die erhellende Ausstellung neu nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Kunst und auch über die Fragen nach Autorschaft und der Aura des „Originals“.
Regine Müller
Ein schönes Spektakel im Dialog mit der Kunstgeschichte: Das Folkwang in Essen stellt den NFT-Künstler Rafaël Rozendaal in einer Soloschau aus.
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Krieg der Glandelinians - taz.de
Krieg der Glandelinians Henry Darger lebte in einer obsessiven Fantasiewelt, er schrieb und illustrierte den umfangreichsten Roman der Welt. Die Berliner Kunst-Werke zeigen eine Auswahl seiner apokalyptischen Bilder von gepeinigten Prinzessinnen und bösen Armeen von OLIVER KOERNER VON GUSTORF Henry Darger verbrachte beinahe sechzig Jahre seines Lebens als Hilfsarbeiter in Krankenhäusern, wo er Latrinen reinigte, Bandagen wickelte und Reparaturen ausführte. 1892 geboren, früh verwaist, in katholischen Heimen und Einrichtungen für geistesschwache Kinder aufgewachsen, führte Darger ein unauffälliges und zurückgezogenes Leben am Rande der Armut. Erst nach seinem Tod im Jahre 1973 sollte bekannt werden, dass der verschrobene, einsiedlerische Mann in dem winzigen, vollgestopften Raum eines Chicagoer Apartments während zwanzig Jahren neben hunderten von Kunstwerken das bis dato umfangreichste zusammenhängende schriftstellerische Werk der Welt geschaffen hatte. Sein Vermieter, der Bauhaus-Künstler Nathan Lerner, entdeckte völlig unerwartet das in mehreren Bänden gebundene Manuskript von 15.145 maschinengeschriebenen Seiten, dessen Titel ebenso episch ist wie die Legende, die der Autor hinterlassen hat: „The Story of the Vivian Girls in What is known as the Realms of the Unreal or the Glandelinian War Storm or the Glandico-Abbiennian Wars, as Caused by the Child Slave Rebellion“. Der Roman entwickelt die fantastische Chronik der Kriege zwischen mehreren Nationen auf einem gigantischen, namenlosen Planeten, den die Erde als Mond umkreist. Der Konflikt wird durch die Glandelinians ausgelöst, einem kriegerischen Volk von Schlächtern, die die Versklavung von Kindern betreiben. Nach hunderten von blutrünstigen Schlachten zwingt die christliche Nation der Abbienna die gottlosen Gegner zur Aufgabe ihrer barbarischen Praktiken. Die Heldinnen von Dargers Sage sind die sieben kindlichen Vivian-Schwestern, Prinzessinen von Abbienna. Sie werden von einem Panoptikum von Schurken und Helden begleitet, die oft als Dargers Alter Ego oder als Abbild der realen Peiniger seiner Kindheit auftreten. Der Verlauf der Schlachten wird von abenteuerlichen Gefangennahmen, Explosionen, Hinrichtungen und den Erscheinungen von Dämonen und hilfreichen Drachen, den Blengins, bestimmt. Auch wenn Darger es im Dunkeln beließ, auf welche Weise man in die „Königreiche des Wirklichen“ gelangt, lesen sich die Passagen der utopischen Geschichte als Spiegelung seiner eigenen leidvollen Autobiografie. Der Schlüssel zum Verständnis seines Werkes liegt im Martyrium kleiner Kinder, in ihrer sadistischen Unterwerfung, Folterung und Verstümmelung, die sie stellvertretend für alle Geschöpfe erleiden müssen, damit Gnade und Barmherzigkeit endgültig obsiegen können. Eine Ausstellung in den Berliner Kunst-Werken zeigt nun erstmals in Europa einen begrenzten Teil der von Darger angefertigten Bebilderung zu seinem Epos. Er hinterließ etwa dreihundert aquarellierte und collagierte Zeichnungen, die sich in ihrer Grausamkeit und Schönheit jeder Kategorisierung entziehen. Sie verinnerlichen seine Visionen mit einer Präzision und Wucht, die keine niedergeschriebene Erzählung vermitteln kann. Die von Darger teils zu überdimensionalen Formaten zusammengenähten und beidseitig bemalten Bilderbögen sind mit ausführlichen Erklärungen und Anmerkungen versehen, die den Eindruck erwecken, der Künstler wolle historische Ereignisse möglichst genau festhalten. Eine Auswahl der in Berlin präsentierten Aquarelle wurde letztes Jahr zusammen mit den „Schrecken des Krieges“ von Francisco Goya und dem Werkzyklus „Hell“ von Dinos und Jake Chapman im New Yorker PS1 gezeigt. Ganz bewusst verzichtet die von Klaus Biesenbach organisierte Show auf die vielen paradiesischen Darstellungen Dargers, die seine aus Bilderbüchern, Magazinen und Comic-Heften der Zwanziger- und Dreißigerjahre entnommenen Figuren in wahnhaft schönen Landschaften zeigen: Häufig mit winzigen Penissen, Flügeln und Hörnern versehen, sind sie Kopien von mädchenhaften Wesen, die an Shirley Temple oder das Cartoongirl „Little Orphan Annie“ erinnern – kulleräugige puppengleiche Nymphen, die sich nackt oder in kurzen Kleidchen zwischen Pilzbäumen, Drachen und exotischer Vegetation die Zeit vertreiben, gigantische Schmetterlinge fangen, baden oder im Sand spielen. Das sich auf den dunkel gestrichenen Wänden der Ausstellungsräume entfaltende apokalyptische Szenario hingegen gleicht einem Fegefeuer: Die kindlichen Hermaphroditen werden hier stranguliert, von Bränden und Stürmen hinweggefegt, gekreuzigt, zu Tode geschleift, lebendig begraben, erschlagen, in Stücke gerissen. Die durchweg männlichen und erwachsenen Glandelinians, die in die Idylle eindringen und die Kinder massakrieren, sind zumeist in die Uniformen des amerikanischen Bürgerkriegs und des Ersten Weltkriegs gekleidet. Da Darger nicht auf seine eigenen Fähigkeiten, den menschlichen Körper zu zeichnen, vertraute, pauste er ihre Umrisse von Vorlagen durch. Zeit seines Lebens war Darger obsessiver Sammler von Magazin- und Zeitungsausrissen, die sich in seiner Wohnung bis unter die Decke stapelten. So reflektieren die schrecklichen Visionen nicht nur die inneren Welten des Künstlers, sondern liefern auch einen Eindruck der Tagespresse seiner Zeit: Werbung, Kriegsbilder, Filmbilder und Mordfälle – wie den der vierjährigen Elsie Paroubeck, die 1911 gekidnappt und umgebracht wurde. Darger, der bis zu sechsmal täglich die katholische Messe besuchte, verlor eines Tages ihr aus den Chicago Daily News entnommenes Foto und inszenierte diesen Verlust der Vorlage als grundlegende Handlung in den „Realms of Reality“. Aus Elsie wurde die fiktive Rebellin und Kindermärtyrerin Annie Aronburg, die in Dargers Geschichte vor ihrer Hinschlachtung dem Autor eigenhändig ihr Porträt überreicht. Das „Aronburg-Mysterium“ bezeichnet die endgültige Verschmelzung Dargers mit seiner Fantasiewelt. In religiöser Verehrung erbaute er in der Scheune seines einzigen Jugendfreundes Whilliam Schloeder einen Altar für Annie, nahm aus Hingabe zeitweilig sogar ihren Namen an und betete um die Wiedererlangung des Fotos. Schließlich stellte er Gott vor ein Ultimatum: Für den Fall, dass das Bild bis zum März 1912 nicht zu ihm zurückkehren werde, würde er auch um den Preis ewiger Verdammnis den Besuch der Messe verweigern und in seinen imaginären Reichen die Bluttaten der Peiniger noch erbarmungsloser über ihre Opfer hereinbrechen lassen als je zuvor. Henry Dargers pathologische Fixierung auf den kindlichen Körper und seine umfassende Beschreibung sadistischer Praktiken lassen die Vermutung berechtigt erscheinen, bei seiner künstlerischen Produktion handele es sich ausschließlich um die Manifestationen geistesgestörter Pädophilie. So befand der Journalist und Art-Brut-Experte John Mc Gregor, der Künstler habe „das Potenzial eines Massenmörders“. Man könnte jedoch das einmalige Phänomen, das Henry Darger in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts darstellt, auch genau anders herum, aus der Perspektive der von ihm abgebildeten Opfer, bewerten. Tatsächlich stellt Darger mit der persönlichen Herausforderung des alttestamentarischen Gotteszorns wie auch mit seinem verstörendem Werk die eindringliche Frage nach der Rechtfertigung des Bösen, so wie sie auch von den infantilen Helden vieler Märchen und Klassikern der „Kinderliteratur“ gestellt wird: „Wie kann eine absolut gütige und allmächtige Gottheit die Existenz von Leid, Schmerz und Tod zulassen?“ Selbst wenn Darger als Geheimtipp der internationalen Kunstszene gilt und der ungewöhnliche Einsatz seiner Motive und seine eigenwilligen Reproduktionstechniken Arbeiten der zeitgenössischen Kunstproduktion wie die von Damien Hirst, Anna Gaskell oder der Chapman-Brüder vorwegzunehmen scheinen – alle Versuche, seine Kunst als Outsider Art, Art Brut oder Proto-pop einzuordnen, wirken verfehlt. Das mag daran liegen, dass er kindliche Unschuld auf eine Weise idealisiert, die ebenso wie seine barock anmutenden Darstellungen des Bösen dem aufgeklärten Geist seines Jahrhunderts fremd ist. Die beeindruckende Farbigkeit von Dargers Aquarellen wurde von Kritikern mit Giottos Fresken der Frührenaissance oder japanischer Papiermalerei assoziiert. Sie könnte jedoch ebenfalls mit den illuminierten Büchern William Blakes in Verbindung gebracht werden, der mit seinen 1789 erschienenen „Songs of Innocence and Songs of Experience“ in einer Synthese aus Text und Bildern ein Thema aufgreift, das auch Dragers Schaffen wie ein roter Faden durchzieht: die Dialektik von Unschuld und Erfahrung. Wie bei William Blake erscheinen Dargers kindliche Geschöpfe nicht als Verharmlosung des Erwachsenen, sondern als seine Vorwegnahme. Von Anfang an erfahren sie Lüge und Heuchelei und werden missbraucht. So wie Jesus sind ihnen die Prüfungen ihres Auftrages vorgezeichnet, sie müssen stellvertretend, also unschuldig leiden. In ihrer Schutzlosigkeit verkörpern sie den Gott der Barmherzigkeit und zugleich das Paradigma seiner Leiden. 1996 ließen Nathan Lerner und seine Frau Kiyoko, die auch das Erbe verwaltet, einen Stein auf der bis dahin schmucklosen Grabstätte Dargers errichten. Neben den Lebensdaten trägt er die Inschrift: „Henry Darger, Künstler, Beschützer der Kinder“. Selbst den Wunsch hegend, nie erwachsen zu werden, erscheint der „kranke alte Furz“, wie sich ein Nachbar an ihn erinnerte, posthum als zorniger und wankelmütiger Heiliger, der unermüdlich für die ihm von Gott anvertrauten Kreaturen arbeitete und litt. Das atemberaubende Kunstwerk, das er für sie erschuf, glich auf absonderliche Weise der Welt, vor der er sie bewahren wollte – einem Paradies und einem Schlachthaus. Bis 31. 3. 2002, Kunst-Werke, Berlin
OLIVER KOERNER VON GUSTORF
Henry Darger lebte in einer obsessiven Fantasiewelt, er schrieb und illustrierte den umfangreichsten Roman der Welt. Die Berliner Kunst-Werke zeigen eine Auswahl seiner apokalyptischen Bilder von gepeinigten Prinzessinnen und bösen Armeen
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Geisterhaus der Karibik - taz.de
Geisterhaus der Karibik Havannas Architektur zeugt von vergangenem Reichtum, aber die früheren Residenzen der Bourgeoisie sind verfallen. In der kubanischen Hauptstadt wächst die Tristesse  ■ Von Oliver Lubrich und Robert Buch „Die Perle der Karibik“, das einst so glanzvolle Havanna, bietet heute, im 36. Jahr der Revolution, ein trostloses Bild: das einer Geisterstadt, einer Stadt im Zerfall. Über Kubas Hauptstadt scheint ein Ausnahmezustand verhängt zu sein. Die Prachtstraßen und Alleen der Metropole, ihre Parks und Museen wirken verwaist. Wegen der einschneidenden Benzinknappheit bewegen sich nur wenige der rostzerfressenen und von zahllosen Reparaturen gezeichneten Fords und Chevrolets schwerfällig über die breiten Boulevards. Wie so vieles in Kuba sind sie Relikte einer der ausschweifendsten und zugleich schrecklichsten Epochen in der Geschichte des Landes: der Zeit des Batista-Regimes, das die Insel zum „Bordell der Vereinigten Staaten“ degradierte und dessen Oligarchie dabei eine hektische kulturelle Aktivität entfachte. Heute bestimmen klapprige Fahrräder chinesischen Fabrikats das Straßenbild. Ihr Klingeln mischt sich mit dem übertriebenen Hupen der Autos, das trotzig die Tatsache ignoriert, daß Kubas Verkehr kurz vor dem Versiegen steht. Die meisten Tankstellen haben ihren Betrieb eingestellt. Lediglich einige Radfahrer fahren an den Zapfsäulen vor und lassen sich ihre Reifen wiederaufpumpen, elektrisch. Bei Stromausfall bilden sich lange Schlangen. Handluftpumpen gibt es so gut wie keine. Havannas Architektur zeugt von vergangenem Reichtum. Die früheren Residenzen der Bourgeoisie sind verfallen. Jugendstil und Empire, Klassizismus und Barock verbinden sich zu einer nur noch surrealen Kulisse, zu einer steinernen Allegorie des kolonialen Europa. Die überbordende Ornamentalik scheint des gegenwärtigen Elends, zu dessen bizarrem Schauplatz sie geworden ist, zu spotten: Wäscheleinen, Vogelkäfige und Kaninchenställe auf ausladenden Balkons, zerschlissene Maschinen und Schuttberge in stuckverzierten Sälen, bettelnde Kinder vor herrschaftlichen Portalen. Armselige Werkstätten haben sich in verkommenen orientalischen Patios eingerichtet. Arbeitslose Handwerker reparieren hier Einwegfeuerzeuge. Die buntgekachelten Trottoirs am Malecón sind zerkratzt, die marmornen Verkleidungen der Treppenhäuser am Prado aufgeplatzt und die kunstvoll geschwungenen Fenstergitter im Vedado vom Seewind angegriffen. „Die rosaroten, grauen, gelben Säulen des einst aristokratischen Viertels waren zerfressen wie Klippen“, stellte schon Graham Greene fest. Seit Jahrzehnten hat man die ausgeblichenen Pastelltöne der zerbröckelnden Fassaden nicht mehr übertüncht. Havanna ist in der Tat „die Stadt der Säulen“, wie der kubanische Romancier Alejo Carpentier schrieb. Die großen Alleen der Stadt sind von schier endlosen Arkadengängen gesäumt – ursprünglich Ausdruck einer antikisierenden Ästhetik, deren verwitterte Monumente heute nur noch verlorenes Zitat sind. Zerfallene Villen, Häuserskelette, sinnlos stehengebliebene Torbögen, einzeln emporragende oder umgestürzte Säulen rufen bisweilen den Eindruck einer römischen Ruinenlandschaft hervor. Teile der Stadt sehen aus, als hätten sie jahrelang unter Wasser gestanden. Andere lassen unwillkürlich den Eindruuck enstehen, Havanna befinde sich im Kriegszustand oder werde seit geraumer Zeit belagert. Alles erinnert hier an ein Gestern, das nie wiederkehren wird, und wartet auf ein Morgen, dessen Hoffnungsschimmer sich gerade erst anzudeuten beginnt. Über Havanna liegt ein Geruch von Fäulnis: Abfallhaufen verrotten im Rinnstein. Halbgeöffnete Müllcontainer brüten in der Hitze. Scharfer Uringestank steigt aus modrigen Kellerlöchern. Aber auch immer wieder der schwere, süßliche Duft tropischer Vegetation, warme Schwaden, die aus Backstuben dringen, das würzige Aroma von Tabakpflanzen aus den Hallen der Drehereien und Zigarrenfabriken. Das gleißende Sonnenlicht taucht die Stadt tagsüber in eine flimmernde Hitze, die jegliche überflüssige Bewegung, jede übereilte Geschwindigkeit außerhalb des Schattens der Kolonnaden verbietet. Die meisten Geschäfte in der Hauptstadt des Karibikstaates sind mit massiven, rostigen Jalousien verrammelt. Im Dunkel der wenigen geöffneten Läden herrscht indes eine angenehme Kühle. Hier warten vor meist gänzlich leeren Regalen die Verkäufer. Sie warten, apathisch, auf verlorenem Posten. Wenn es Abend wird in Havanna, treffen sich kubanische Jugendliche auf dem Gelände stillgelegter Tankstellen. Liebespaare flüchten aus ihren beengten Wohnungen ins Freie. Viele Kubaner sitzen dann auf dem Kai an der Küstenstraße, ohne Kassettenrecorder, mit einer Flasche Rum. Währenddessen wird in den letzten Hotelbars, Restaurants und Nachtclubs Normalität simuliert. Sie verwandeln sich in Inseln einer falschen Nostalgie, in denen mit absurder Verzweiflung versucht wird, die Erinnerung an ein längst erloschenes Nachtleben zu bewahren. Diese Enklaven des bescheidenen Luxus sind Touristen vorbehalten und Kubanern, die über US-Dollar verfügen. Seit den Ausschreitungen auf Havannas Uferpromenade am 5. August und der Verschärfung des Embargos durch die USA sind sie wie leergefegt. Aber noch ist nicht das gesamte Kulturleben der Zweieinhalbmillionenstadt so zusammengebrochen wie die Mauern des José- Marti-Theaters: Weiterhin gibt es Dichterlesungen, Diskussionsveranstaltungen und Konzerte. Trotz der häufigen Stromsperren bieten die Kinos ein umfangreiches Programm auch einheimischer Neuproduktionen. Die vielen ganz in Weiß gekleideten Menschen auf den Straßen bezeugen die wachsende Popularität des afrokubanischen Santeria-Kultes. Im Hotel „Habana Libre“ blickt Ché Guevara gleichmütig vom Poster auf ein von planwirtschaftlichem Schönheitssinn erdachtes Ambiente. Anderswo stehen gelangweilte Kellner trübsinnig am Tresen, um beim Erscheinen eines der selten gewordenen Reisenden aus ihrer Apathie zu erwachen und in mechanische Geschäftigkeit zu verfallen. Die Mädchen klatschen freudig in die Hände, und im selben Augenblick beginnt eine lustlose Kapelle, „Guantanamera“ zu spielen – getragen und melancholisch und beinahe ohne Publikum. Im durch Klimaanlagen unterkühlten Lokal „Floridita“ verrichtet eine Überzahl rotuniformierter Kellner mit verfehlt distanzierter Förmlichkeit ihren Dienst am einsamen Gast. Der berühmte Daiquiri wird mit viel Wasser und fast ohne Limonensaft serviert. Und so bleibt, was Ernest Hemingway hierhergetrieben haben mag, ein Rätsel. Draußen ist es stockfinster. Nicht nur gibt es in Havanna häufig kein fließendes Wasser, auch die Elektrizität wird, mit wechselnder Folge, in jeweils ganzen Stadtteilen abgestellt. Nur der schwache Schein einer Kerze ist dann in manchen Fenstern zu sehen. Tagsüber sind an den ergrauten Wänden die Parolen der Revolution zu studieren: „Venceremos, cubanos, la victoria está en nosotros. Barrio por barrio – Revolución!“ „Die Revolution“ ist zu einem inflationär gebrauchten Begriff verkommen, dessen genaue Bedeutung niemand mehr zu erklären vermag. Mal scheint er sich auf ein lange zurückliegendes Ereignis zu beziehen, aus dem die Gegenwart wie aus einem Ursprungsmythos ihre globale Rechtfertigung erhält. Dann wieder bezeichnet das Wort einen nunmehr 36 Jahre andauernden Zustand, dessen Zukunft weiterhin ungewiß ist. Surrende Fahrräder unterbrechen die unheimliche Stille der schlafenden Stadt. Ohne Beleuchtung rasen sie über die zerborstenen Fahrwege. Eine leise tuckernde Limousine gleitet vorbei. Ihr Licht erhellt schlagartig die Säulengänge und wirft gespenstische Schatten auf die langsam abblätternden Parolen an den Hauswänden.
O. Lubrich / R. Buch
Havannas Architektur zeugt von vergangenem Reichtum, aber die früheren Residenzen der Bourgeoisie sind verfallen. In der kubanischen Hauptstadt wächst die Tristesse  ■ Von Oliver Lubrich und Robert Buch
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Lesung von Debbie Harry in Hamburg: Monster, Gurken, Maulfaulheit - taz.de
Lesung von Debbie Harry in Hamburg: Monster, Gurken, Maulfaulheit Eine Lesung in die Hamburger „Fabrik“: US-Popstar Debbie Harry kommt zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ihrer Autobiografie „Face It“. Debbie Harry stellt ihre Autobiografie vor Foto: Daniel Bockwoldt/dpa Vielleicht lag es an Markus Lanz. Eine Aufzeichnung für dessen bunte ZDF-Talkrunde hatte Deb­bie Harry am Nachmittag über sich ergehen lassen müssen, das wurde bei ihrer einzigen Lesung in Deutschland kolportiert. Fast eine Stunde musste sie also in einem TV-Studio Gesprächen auf Deutsch zuhören, bis sich Lanz schließlich dazu herabließ, sie gewohnt lanzig nach ihren Drogen­erfahrungen zu befragen; und danach, wie es war, als Kind adoptiert worden zu sein. Bis dahin war Debbie Harry noch einigermaßen auskunftsfreudig, wie man bei der Ausstrahlung feststellen konnte. Am Dienstagabend, bei der ausverkauften Lesung aus ihrer Autobiografie „Face It“ in der Hamburger Fabrik, ist jedoch die Luft raus. Harry, mit 74 genauso großartig aussehend wie früher – stolzes Puppengesicht unter strohblonder Mähne, „Stop fucking the planet“-Stola, Plateau­sneakers –, sitzt auf der Bühne zwischen Moderator Thorsten Groß und Mieze, Sängerin der Berliner Popband Mia, und ist maulfaul. Ob sie sich langweilt, weil die Lesung mit einer von Mieze auf Deutsch vorgetragenen Passage beginnt? Ob sie Freund und Ex-Bandkollege Chris Stein vermisst, der die Promotour vorzeitig abgebrochen hatte? Oder ob sie einfach keine Lust hat, mit einem Mann über den Sexappeal und Feminismus von Blondie zu sprechen – man weiß es nicht. Nicht nur hübsche Deko Groß kriegt kaum etwas heraus aus ihr, dabei hat Harry in ihrem mit persönlichen Fotos und Porträts ausgestatteten Buch abendfüllend ihr Leben abgehandelt: Von der Mutter und Adoptivmutter schreibt sie, vom Aufbruch nach New York, den Begegnungen mit den Kunsthelden der 1970er, dem Lower-East-Side-Leben zwischen Nachtschichten als Kellnerin und dem Wunsch, selbst auf der Bühne zu stehen, nicht nur hübsche Deko zu sein. Vom Erfolg. Debbie Harry sieht fabelhaft aus. Angesichts der Fragen hat sie bald die Faxen dicke Jene Diskrepanz, die Blondie stets innewohnte – auf der einen Seite weibliches Empo­wer­ment mit sexpositiver Punk-Attitude, „sogar als Pin-up war ich Punk“, schreibt sie; auf der anderen Seite ebenjene Pin-up-Außenwahrnehmung, jene auf sie projizierte (männliche) Lust –, ist Teil ihres Glow. Am Dienstagabend schnurrt das Thema jedoch zusammen zu einem wiederum von der Gastleserin auf Deutsch vorgetragenen Kapitel, in dem Harry von David Bowies Schwanz redet. Diese am meisten in den Rezensionen und Interviews zitierte Episode lässt einen noch ratloser zurück: Dass Iggy Pop und Bowie bei Debbie Harry Koks schnorrten und zum Konsumieren mit ihr in einen Backstageraum gingen. Dort habe Bowie seine Gurke herausgeholt, „as if I were the official cock checker“. Sie konstatiert: „Es war ein Prachtexemplar.“ Und schreibt weiter, dass sie Iggys Gurke eigentlich auch gern gesehen hätte. Oder doch Amüsement? Es ist ein Ausschnitt, über den man einige Diskurse führen könnte: Fing es als Belästigung an und endete in Amüsiertheit? Oder wollte sie Bowies Gurke eh sehen, so wie alle Bowie-Fans? Berechtigt diese Annahme einen Popstar, die Gurke buchstäblich nach Lust und Laune herauszuholen und hinzuhalten? Das Sujet ist komplex. Und eventuell nicht das Richtige für ein Gespräch mit Thorsten Groß auf einer Bühne. Ein kurzes Kapitel liest sie schließlich selbst – es beschreibt eine Begegnung mit Miles Davis, der im Restaurant Max’s Kansas City, in dem sie kellnerte, schweigend in der Ecke saß. Aber dennoch einen tiefen Eindruck hinterließ. Harrys Ausführungen, so scheint es, bestehen vor allem aus Erinnerungen, und weniger aus Gedanken. Sie schreibt, was sie sah und erlebte, nicht, was sie fühlte und welche Schlüsse sie zog. Ein eigenes Gedicht liest sie vor, mit dem Titel „The bitten boy“, es ist schön, leidenschaftlich und poetisch, es geht um verlorene Gedanken und Fieberfantasien, um das Monster, das den Gebissenen von innen auffrisst. Das wohlgesonnene Publikum, das ihren Missmut nicht versteht, klatscht begeistert. Doch danach hat die Frau, die Pop und Punk cooler kreuzen konnte als je jemand vor und nach ihr, die Künstlerin, die Warhol porträtiert, die Frau mit dem Glasherz und dem Lippenstift definitiv die Faxen dicke, eilt von der Bühne, wird vom Moderator zurückgeholt – es gab ein Missverständnis über die Länge der Veranstaltung. So sitzt sie noch weitere 15 Minuten da, mit spitzem Mund, bleibt aber reserviert. Debbie Harry muss oft husten. Vielleicht ist sie einfach nur erkältet.
Jenni Zylka
Eine Lesung in die Hamburger „Fabrik“: US-Popstar Debbie Harry kommt zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ihrer Autobiografie „Face It“.
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Staatsmännische Haltung - taz.de
Staatsmännische Haltung ■ Designerteil deutscher Trauerarbeit: Beate Passow und Andreas von Weizsäcker mit dem Projekt "Wunden der Erinnerung" im Deutschen Historischen Museum In Berlin ist das Deutsche Historische Museum gefordert, weil offenkundig zuständig: 50 Jahre Kriegsende. Es liegt nahe zu sagen, daß es gegenwärtig mit zwei Foto- Ausstellungen Flagge zeigt (dem Anlaß, aber nicht der Aufgabe entsprechend, die weiße). Die eine Ausstellung präsentiert berühmte Bilder berühmter Kriegsfotografen; gewissermaßen die Bild-Logos des Jahres 1945 für ein geschicktes Geschichts-Marketing. In der anderen Ausstellung dokumentiert der Düsseldorfer Becher-Schüler Laurenz Berges fotografisch die „Wunden der Erinnerung“, die Beate Passow und Andreas von Weizsäcker mit einem an sich simplen künstlerischen Eingriff in verschiedenen europäischen Städten kenntlich machten. Sie suchten die kleinen Verletzungen des Zweiten Weltkriegs, die, eingeschrieben oder besser eingeschossen in alltägliches Material, bis heute überdauert haben. Über den wieder wahrgenommenen Einschußlöchern von Granaten und Bombensplittern brachten sie quadratische Sicherheitsglasscheiben an, auf denen die Worte „Wunden der Erinnerung“ in der jeweiligen Landessprache zu lesen sind. Typisch Weizsäcker, verführt der ebenso prüde wie salbungsvolle Titel zu sagen. Aber okay, das ist eine unfaire Verwechslung von Vater und Sohn, von Altbundespräsident und Künstler. Doch es handelt sich immerhin um „ein europäisches Projekt“, und dahinter lugt die staatsmännische Haltung der Sorte „Verantwortung vor der Geschichte“ dann doch hervor. Der auffälligste Punkt ihrer Arbeit entgeht interessanterweise Passows und Weizsäckers Aufmerksamkeit: daß der Kriegstourismus deutscher Soldaten von ihnen zwangsläufig wiederholt werden muß. Im Prager Stadtarchiv klebten sie – metaphorisch gesprochen – das durchsichtige Erinnerungspflaster „ZEJÍCÍ RÁNY VZPOMÍNEK“ über die Wunde der Vitrine mit den durchschossenen Büchern. In Warschau glaubten das örtliche Denkmalamt und andere angesprochene Stellen nicht, daß überhaupt noch irgendwo ein Gebäude mit Kriegsschäden überdauert haben könnte, so restlos zerstört sei die Stadt gewesen. Der Schriftsteller Andrzey Szczypiorski gab den Künstlern den Hinweis auf die Ruine der ehemaligen Nationalbank mit ihren Einschüssen. Die Stadt Diekirch in Luxemburg wurde am 18. Januar 1945 von Einheiten der 5. US-Infanteriedivision eingenommen. Hier ist es der Wald, der noch immer die Schußwunden trägt, und daher lehnt das Glasquadrat „D'WONNE VUN DER ERENNERONG“ im Sägewerk der Familie Gaasch gegen einen aufgeschnittenen Baumstamm. In Rotterdam war es der stark bombardierte Hafen, der die Künstler interessierte. Und in Berlin fanden sie gegenüber dem Bendler-Block, in dem die Widerstandskämpfer des 20. Juli 44 hingerichtet wurden, die Paray-Villa in der Sigismundstraße. Nein, es geriet nicht nur eine anonyme Kriegsmaschinerie in Bewegung, sondern individuelle Menschen. Sie waren es, die im derben Graffiti-Gestus Datum und ihre Namen im eroberten Land hinterließen – neben den Schußspuren. Natürlich sind diese Zeichen heute nicht ohne weiteres der einen oder anderen Seite zuzuschreiben. Aber auch wenn der historisch exakte Kontext der Kriegsspuren nicht klar ist, muß ästhetische Abstraktheit nicht notwendige Antwort sein, wie das Andreas von Weizsäcker meint. „Weniger ist mehr“, lautet eine berühmte Ästhetik-Regel, die auch eine Ästhetisierungs-Regel ist. Weniger kann da leicht zu viel des edlen Verzichts werden, zum Beispiel auf Geschichte. Da liegt das Problem der Passow/Weizsäckerschen Arbeit. Beate Passow ist als politische Künstlerin bekannt. Mit einem „goldenen Hochsitz“ polemisierte sie einstmals gegen den Jäger Franz Josef Strauß. Im letzten Monat zeigte sie ihre Einzelausstellung „Verzweigte Zeit“ im Dortmunder Museum am Ostwall, die ebenfalls dem Erinnern in Deutschland galt. Beate Passow will nicht plakativ anprangern. Doch so kaum merklich, geradezu behutsam die Glasscheibe auch einen Ort als erinnerungswürdig markieren mag, ihn heraushebt aus seiner Umgebung, bespricht und schließlich schützt und vor Veränderung bewahrt, so seltsam kostbar wird die Stelle. Die Künstler treten völlig hinter das kleine Glas zurück, das ohne Datum, ohne Namen, wie vom Himmel gefallen an ausgesuchten Stellen prangt, sich selbst ein Denkmal. Bei ihren ersten Tafeln in München standen noch ihre Namen deutlich sichtbar auf dem Glas. Die hätten sie beibehalten und um das Datum ergänzen sollen. In der künstlichen, der künstlerischen Wiederholung des Soldaten-Graffiti hätten sie einen kritischen Moment erwischt. So bleibt es ein schickes Designerteil deutscher Trauerarbeit. Brigitte Werneburg Zeughaus, Unter den Linden 2, Mitte, Do.–Di. 10–18 Uhr, bis 27.6.
Brigitte Werneburg
■ Designerteil deutscher Trauerarbeit: Beate Passow und Andreas von Weizsäcker mit dem Projekt "Wunden der Erinnerung" im Deutschen Historischen Museum
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Es lebe der goldene Handschlag - taz.de
Es lebe der goldene Handschlag NRW ist nicht filzfreier geworden. Denn so lange kaum eine Verflechtung an die Öffentlichkeit gelangt, helfen auch neue Gesetze wenig ANALYSE VONWERNER RÜGEMER Manches hat die Regierungskoalition in den vergangenen Jahren unternommen, um dem NRW-Filz zu Leibe zu rücken. Doch handelt es sich bisher um Pflichtübungen ohne wirklichen Erfolg. Nach der von der Europäischen Union erzwungenen Entflechtung der Westdeutschen Landesbank wurden das Land NRW und die beiden Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe Eigentümer der neuen NRW.Bank. Zugleich wurden sie auch Eigentümer der neuen WestLB AG, während die beiden Sparkassen- und Giroverbände Rheinland und Westfalen bei der NRW.Bank ausschieden und nun Miteigentümer der WestLB AG sind. Einziges Resultat: Der Filz und die Zahl der neu geschaffenen Pöstchen für denselben Personenkreis hat sich verdoppelt. Die Hoffnungen in das seit Ende 2001 geltende NRW-Informationsfreiheitsgesetz haben sich nicht erfüllt. „Kaum ein Bürger kennt das Gesetz“, stellt Peter von Blomberg, NRW-Regionalverantwortlicher von Transparency International (TI), fest. Das heißt: Kaum ein Bürger hat bisher mit Berufung auf das Gesetz Informationen bei den Behörden eingefordert. Dazu trägt auch bei, dass die Gebühren hoch und die Ausnahmen zahlreich sind: Bei Fragen der Sicherheit und vor allem bei Betriebsgeheimnissen ist die Freiheit der Information aufgehoben. Ähnlich bescheiden droht der Erfolg des neuen Korruptionsbekämpfungs-Gesetzes auszufallen. Die Bürger wissen kaum davon. Die äußerst schleppende Aufarbeitung der landesweiten Müllkorruption ist kein gutes Vorzeichen: Außer in Köln wurde noch kein einziges Gerichtsverfahren durchgezogen. Im neuen Gesetz ist die „Herstellung von Transparenz“ großgeschrieben. Freilich stehen die Daten nur Behörden, nicht aber Bürgern offen. Für die Nebentätigkeiten von Ministern wurde die kleinste denkbare Regelung in das Gesetz aufgenommen: Mitglieder der Landesregierung sollen Beraterverträge lediglich dem Ministerpräsidenten anzeigen. Gänzlich unbeachtet bei der Entfilzung blieben bisher die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE). Dieser traditionelle Filzmeister des Landes konnte in aller Stille seinen Einfluss in den Kommunen weiter ausdehnen. So kaufte sich die für Strom, Gas und Wasser zuständige Tochtergesellschaft RWE Energy in die Kölner Stadtwerke ein. Der bisher größte Coup gelang mit dem Kauf der Rheinischen Wasserwerke (RWW). Die Städte Mülheim, Bottrop und Oberhausen verkauften die RWW, um ihre Haushalte zu sanieren. Freilich geriet der Preis zu niedrig, weil die Privatisierungsberaterin der federführenden Stadt Mülheim gleichzeitig Beraterin der RWE war. Als der Deal aufflog, musste der mit der Beraterin auch außerehelich verbundene Oberbürgermeister von Mülheim, Jens Baganz (CDU), zurücktreten. Aber die Privatisierungsbefürworter aus CDU, SPD, FDP und Grünen weigerten sich, den Kaufpreis neu zu verhandeln. Die von der oppositionellen Ratsfraktion Mülheimer Bürgerinitiativen (MBI) eingeschaltete Kommunalaufsicht blieb ebenso untätig wie die Staatsanwaltschaft. Das Ergebnis: Die Städte sind immer noch überschuldet, die Preise für das Wasser sind kräftig angestiegen. Im Januar 2005 deckten die MBI auf, dass die neue Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld (SPD) in den RWE- Aufsichtsrat berufen wurde und 99.000 Euro jährliche Tantiemen erhält. Wie in Mülheim praktizieren die beiden großen Parteien vor allem bei Privatisierungen in der Regel eine große Koalition. Diese verteidigt den Filz mit den RWE selbst dann, wenn er erkennbar zu Lasten der Bürger geht. Auch von den Parteien im Landtag kein kritisches Wort zu hören. Der wesentliche Hoffnungsschimmer besteht im langsamen Anwachsen der kleinen Parteien: In Mülheim vervielfachten die MBI bei der letzten Kommunalwahl ihre Stimmen. Und mit „Wir aus Mülheim“ zog eine weitere kleine Fraktion ins Rathaus ein.
WERNER RÜGEMER
NRW ist nicht filzfreier geworden. Denn so lange kaum eine Verflechtung an die Öffentlichkeit gelangt, helfen auch neue Gesetze wenig
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Gespräch mit dem türkisch-jüdischen Historiker Rifat Bali: "Faruk Sens Vergleich war populistisch" - taz.de
Gespräch mit dem türkisch-jüdischen Historiker Rifat Bali: "Faruk Sens Vergleich war populistisch" Das türkisch-jüdische Verhältnis ist weitaus komplizierter, als man es in türkischen Schulbüchern lernt, erklärt der Historiker und Publizist Rifat Bali. Die Türken als neue Juden zu bezeichnen, sei "übertrieben, populistisch und effekthascherisch" meint Rifat Bali. Bild: ap taz: Herr Bali, der Wissenschaftler Faruk Sen aus Essen hat in einer türkischen Zeitung die türkischen Einwanderer in Europa als "neue Juden" bezeichnet und dafür in Deutschland viel Kritik geerntet. Was halten Sie von seiner Gleichsetzung? Rifat Bali: Soweit ich das von außen beurteilen kann, haben die Türken in Europa unter verschiedenen Formen der Ausgrenzung zu leiden. Sie deshalb "neue Juden" zu nennen, erscheint mir aber übertrieben, populistisch und effekthascherisch. Faruk Sen hat in seinem Beitrag auch daran erinnert, dass die Türkei zwischen 1933 und 1945 verfolgte Juden aus Deutschland aufgenommen habe, und sie dafür gelobt. Sie haben diese Ära hingegen kürzlich als "die schweren zwölf Jahre" für die türkischen Juden bezeichnet. Warum? Wenn man Faruk Sen und andere reden hört, könnte man glatt glauben, die Türkei hätte tausenden von verfolgten Menschen die Tore geöffnet. In Wirklichkeit nahm man nur eine sehr begrenzte Zahl deutsch-jüdischer Wissenschaftler auf, weil man sich erhoffte, sie könnten beim Aufbau eines modernen Universitätswesens nutzen. Ansonsten war die Türkei sehr um Neutralität bemüht. Eine größere Zahl jüdischer Flüchtlinge aufzunehmen, hätte dies gefährdet. Und weshalb war das für die türkischen Juden dann eine schwierige Zeit? Die junge Republik forderte von Juden wie von allen anderen Minderheiten, sich zu assimilieren. Das hätte kein großes Problem sein müssen, hätte die Republik im Gegenzug ihr Versprechen erfüllt, diese Assimilierung mit Gleichberechtigung zu vergüten. Stattdessen wuchsen die Ressentiments, die 1934 in den antijüdischen Pogromen in Ostthrakien und 1942 in der Einführung einer "Kopfsteuer" für Nichtmuslime gipfelten. Faruk Sen weiß das nicht? Das dürfen Sie mich nicht fragen. Aber als Wissenschaftler müsste er das wissen - auch wenn diese Dinge nicht an türkischen Schulen unterrichtet werden. Wie wird die deutsche Debatte um Faruk Sen in der Türkei wahrgenommen? Sofern darüber geschrieben wird, lautet der Tenor: Wir haben ja schon immer gesagt, dass die Türken in Deutschland zu leiden haben - Faruk Sen hat das nur ausgesprochen. Faruk Sen schrieb seinen Artikel, um dem türkisch-jüdischen Geschäftsmann Ishak Alaton in dessen Kampf gegen Antisemitismus unterstützen. Was war der Hintergrund? Alaton hatte sich in einem offenen Brief darüber beklagt, dass einem israelischen Geschäftsmann namens Sami Ofer verweigert worden war, in der Türkei Investitionen zu tätigen. Er hatte dahinter antisemitische Motive vermutet. In einem Interview wiederholte er seinen Vorwurf und kritisierte, dass in der Türkei Xenophobie und Antisemitismus verbreitet seien - zwar nicht in der Bevölkerung, wohl aber im Staat. Eine zutreffende Analyse? Was den Fall Sami Ofer anbetrifft, bin ich mir da nicht so sicher. In der Türkei sind bei solchen Geschäften Beziehungen und Bestechungsgelder wichtiger - ich vermute, dass Ofer in erster Linie an solchen Dingen gescheitert ist. Dass er Jude ist, dürfte allenfalls eine nachrangige Rolle gespielt haben. Und was den Antisemitismus anbetrifft? Den Antisemitismus allein im Staat und nicht in der Gesellschaft zu verorten, entspricht einer "linken" Sicht der Dinge, die nicht viel mit der Realität zu tun hat. Der Antisemitismus ist in der Türkei in bestimmten Medien und Gesellschaftskreisen verbreitet. Wollte man den Staat in diesem Zusammenhang kritisieren, dann dafür, dass er diesem Antisemitismus tatenlos zusieht. Wie äußert sich dieser Antisemitismus? Im islamistischen Antisemitismus finden sich Motive, die aus dem christlichen und dem nazistischen Antisemitismus stammen - etwa, indem man sich auf die "Protokolle der Weisen von Zion" beruft. Als türkische Besonderheit kommt die Paranoia vor angeblich "heimlichen", zum Islam konvertierten Juden dazu, denen man nachsagt, das Land zu beherrschen. Im Zuge des Irakkriegs ist der Antisemitismus aber auch in Teilen des säkularen Establishments gewachsen. Man glaubt, hinter der Entstehung eines quasi eigenständigen kurdischen Staates im Nordirak einen israelischen Plan zur Schwächung der Türkei und der ganzen Region zu erkennen. Der Antisemitismus unter einem Teil der Linken wiederum verweist stärker auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Wenn Sie von Antisemitismus islamistischer Kreise sprechen - meinen Sie damit auch die Regierungspartei von Ministerpräsident Erdogan? Nein, denn nach dem Bruch mit der Milli-Görüs-Bewegung hat sich dessen AKP niemals antisemitischer Propaganda bedient. Das gilt auch für die meisten Medien, die sie unterstützen. Es gibt aber ein islamistisches Spektrum, das der AKP nahe steht und nach wie vor einen militanten Antisemitismus propagiert. Es wird etwa von der Tageszeitung Vakit repräsentiert, die nicht nur antisemitisch, sondern auch extrem homophob und faschistoid ist. Vakit muss nicht fürchten, wegen Volksverhetzung belangt zu werden, sondern wird vom Ministerpräsidenten wie vom Präsidenten hofiert. Der AKP droht ein Verbot, weil sie dem säkularen Establishment ein Dorn im Auge ist. Auf welcher Seite stehen die nichtmuslimischen Minderheiten in diesem Konflikt? Das kann ich nur aus meiner persönlichen Beobachtung beantworten. Die Griechen sind völlig dezimiert und haben keine wahrnehmbare Stimme. Die Armenier unterstützen eher die AKP, weil sie sie für liberaler, europafreundlicher und toleranter halten. Unter den türkischen Juden ist diese Auffassung ebenfalls zu treffen, aber die meisten von ihnen tendieren eher zu den Kemalisten. Dass die Juden skeptischer sind, hat den einfachen Grund, dass die AKP aus der antisemitischen Milli Görüs hervorgegangen ist und diese Tendenzen in ihrer Basis zumindest duldet. Sind unter der AKP die Ressentiments gegen die Minderheiten gewachsen? Sicher. Aber der wachsende Nationalismus entspringt eher der kemalistischen und nationalistischen Opposition gegen die AKP und gegen einen EU-Beitritt. Ihre säkularen Gegner in der Türkei unterstellen der regierenden AKP, sie wolle das Land islamisieren. Das ist nicht ganz falsch. Nicht in dem Sinne, dass die AKP hier ein klares, heimliches Programm verfolgen würde, wie ihr vorgeworfen wird. Aber ihr Ziel ist tatsächlich, das Land islamischer und konservativer zu machen. Das sieht man allein an dem Lebensstil, den die Protagonisten der AKP pflegen. Und niemand kann ernsthaft behaupten, dass die AKP-Leute ihren Lebensstil verändert hätten. Die meisten liberalen und linken Intellektuellen halten die AKP dennoch für das kleinere Übel. Weil sie die säkularen Kemalisten und Nationalisten für anachronistisch und rückständig halten, die AKP dagegen für liberal und demokratisch. Ich halte das für Schönfärberei. Die AKP ist nicht liberal - sie ist konservativ, islamisch und auf ihre Weise nationalistisch. Wird man sie verbieten? Ich glaube: ja. Aber an ihre Stelle wird eine neue Partei treten - und der Konflikt wird fortdauern
Deniz Yücel
Das türkisch-jüdische Verhältnis ist weitaus komplizierter, als man es in türkischen Schulbüchern lernt, erklärt der Historiker und Publizist Rifat Bali.
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Kommentar „Panama-Papers“: Die neue Weltöffentlichkeit - taz.de
Kommentar „Panama-Papers“: Die neue Weltöffentlichkeit Seit Jahren hecheln Staaten den Eliten hinterher, die ihre Reichtümer weltweit verstecken. Nun hat die Weltpresse koordiniert zurückgeschlagen. Oh wie schön ist Steuervermeidung in Panama Foto: dpa Seit Jahrzehnten hecheln Nationalstaaten asozialen, globalen Eliten hinterher, die ihre Reichtümer in Finanzoasen verschieben, als würde ihnen die Libido abhandenkommen, wenn sie sich an nationale Steuersätze halten. Sie sind die Pestbeulen unseres Wirtschaftssystems. Jetzt schlägt die weltweite Presse zurück. Zumindest ein bisschen. Ein internationales Netzwerk von Journalisten hat rund 11 Millionen Seiten der sogenannten Panama Papers aus vertraulichen Unterlagen des panamaischen Offshore-Dienstleisters Mossack Fonseca ausgewertet. Und aufgedeckt, wie eine einzige Firma in einem Geflecht mit Banken, Vermögensverwaltern Milliardären, Staatsoberhäuptern, Sportlern, Diktatoren, Mafiabossen und ihren Günstlingen half, Geld zu verstecken. Das sei alles legal gewesen, sagt Mossack Fonseca. Gut, das Problem ist nur: Wer das Wort „legal“ im Kontext weltweiter Finanzströme benutzt, will eigentlich sagen: Moralisch gesehen müsste man uns vierteilen und rädern, de jure sind wir aber nicht zu belangen. Das könnte sich bald ändern. Die aktuelle Enthüllung ist nicht die erste des Netzwerks, aber die wahrscheinlich komplexeste, die je von investigativem Journalismus geleistet wurde. Einzelne Redaktionen könnten einen solch gewaltigen Datensatz in seinem globalen Kontext niemals entschlüsseln. Seit einigen Jahren finden Journalisten erfreulicherweise Antworten darauf, wie sie zur vierten Gewalt in einer Weltgemeinschaft aufsteigen können. Zumal die drei anderen Gewalten kaum vorhanden sind. Einen Weltstaat gibt es nicht und da, wo er simuliert wird, auf UN-Ebene oder G-20-Ebene, wird man der weltweiten Steuerflucht nicht Herr. Wir haben uns wahrscheinlich an das Problem gewöhnt wie die Römer an den Anblick von Sklaven: Die Hälfte der Menschheit lebt in Armut, die Einkommen konzentrieren sich bei immer weniger Menschen, Staaten kürzen bei Bildung und sozialer Sicherung, um Zinsen zu zahlen. Statt Steuern einzutreiben, leihen sich Regierungen das Geld bei denen, die vorher keine Steuern bezahlt haben. Allerdings nicht direkt, sondern auf den Finanzmärkten, wohin das illegale Vermögen zuvor verschwand. Das Resultat ist eine marktkonforme Demokratie, die so heißt, weil sie sich von Märkten abhängig gemacht hat, deren Auf und Ab mehr Einfluss hat als jede Wahl. Reichtum global umverteilen Vor diesem Hintergrund sind die Panama Papers ein sehr kleiner Teil eines weltweiten Problems. Solange es nicht ansatzweise globale Steuergerechtigkeit gibt, ist das Gerede von grünem Kapitalismus, Klimaschutz und weltweiter Armutsbekämpfung nur selbstgerechtes Schulterklopfen nach Feierabend. Nötig ist ein knallhartes, ein globales System, das Reichtum umverteilt. Nicht im Sinne einer Weltfinanzbehörde oder Weltregierung, deren Macht unkontrollierbar wäre. Konsequentes Besteuern von Unternehmen an der Quelle und ein Verbot von aller Art von Rechtskonstrukten, die sich „Firma“ nennen und keinerlei Auskunftsrechten oder Regulierung unterliegen, wäre ein Anfang. Für diese Diskussion ist die jetzige Enthüllung enorm wichtig. Wenigstens für einige Tage wird das Problem der Steueroasen global auf der Tagesordnung stehen. Ein Moment, in dem sich eine allzu oft simulierte Weltöffentlichkeit kurz emanzipiert, also selbst Probleme anprangert und Konsequenzen fordert. Normalerweise sind globale Themen entweder von Kriegen, Gewalt oder Naturkatastrophen dominiert oder von Unterhaltungfabriken – der neue „Star Wars“-Film, die Fußball-WM – vorgestanzt. Wenigstens für einige Tage wird das Problem der Steueroasen global auf der Tagesordnung stehen, die Öffentlichkeit sich emanzipieren Allerdings hat die Enthüllung auch ihre Schattenseiten: Was ändert sich? Was hat sich durch Edward Snowdens Mut geändert? Was dadurch, dass wir wissen, dass Apple oder Starbucks kaum Steuern zahlen? Hier hilft nur ein Appell: Nur nicht in Lethargie verfallen, nur nicht denken, dass sich durch Öffentlichkeit eh nichts ändert. Die Wege, wie derartige Enthüllungen über Parlamente, Staatsanwaltschaften oder Proteste Veränderungen bewirken, sind genauso verschlungen wie die Netzwerke der Steuermafia. Ein zweites Problem ist, dass nicht bekannt ist, wer hinter derartigen Enthüllungen steckt. Wer spielt mit welchem Interesse Daten an die Öffentlichkeit? Fragen, die zu bedenken sind, aber auch nicht verdecken sollten, dass es anders keine Möglichkeit gäbe, der weltweiten Steuertrickserei auf die Schliche zu kommen. Zumindest nicht, solange Geschäftsgeheimnisse höher gehandelt werden als globale Gerechtigkeit.
Ingo Arzt
Seit Jahren hecheln Staaten den Eliten hinterher, die ihre Reichtümer weltweit verstecken. Nun hat die Weltpresse koordiniert zurückgeschlagen.
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Hausarbeit als Erlebnis - taz.de
Hausarbeit als Erlebnis Stress durch Achtsamkeit bewältigen? Klingt etwas abgehoben, hat sich aber bei Schmerzpatienten bewährt. „Mindfulness-based stress reduction“ setzt auf Meditation und Yoga. Auch banale Tätigkeiten sollen so zu lebendigen Erfahrungen werden MBSR rückt dieablenkenden Gedanken in das Zentrum der Aufmerksamkeit VON PETER HERMANNS Das Geschäft mit dem Stress boomt. Neben fragwürdigen Offerten cleverer Wellness-Agenten und selbst ernannter spiritueller Meister rückt nun eine Methode in den Blickpunkt, deren Wirksamkeit wissenschaftlich vielfach belegt worden ist: „Mindfulness-based stress reduction“ (MBSR), frei übersetzt: Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Als Jon Kabat-Zinn vor fast 30 Jahren seine Tätigkeit an der Universität in Worcester/Massachusetts aufnahm, berichteten ihm Ärztekollegen von den Grenzen schulmedizinischer Schmerzbehandlung. Der Anatomieprofessor suchte deshalb nach einem Komplementärangebot. Fündig wurde er bei Buddha: Die „Achtsamkeitsmeditation“, mit der er bereits Erfahrungen gesammelt hatte, schien ihm die passende Grundlage für ein Programm zu sein, das inzwischen weltweit Beachtung findet und vom Deutschen Ärzteblatt als „bedeutende therapeutische Neukonzeption“ gefeiert wurde. Achtsam sein bedeutet, lehrt Buddha in seinem „achtfachen Pfad zum Heil“, sich ganz auf den Augenblick konzentrieren, ohne das Wahrgenommene zu bewerten, und die Realität so anzunehmen, wie sie ist. Das erfordert Disziplin. Vor allem chronisch kranken Menschen fällt es schwer, Schmerzen oder Spannungen mit der gleichen nicht wertenden Haltung zu betrachten wie Wohlgefühle. Doch empirisch nachgewiesene Erfolge von MBSR nähren Hoffnung: Zwar kann die Methode keine Schmerzen beseitigen, aber oft gelingt es, dass Patienten Qualitätsunterschiede im Schmerzempfinden wahrnehmen, sich quälende gedankliche Verstrickungen auflösen, die mit dem physischen Leiden einhergehen, oder die Empfänglichkeit für freudvolle Momente steigt. In der Praxis sieht das so aus: Acht Wochen lang kommen Interessierte für zweieinhalb Stunden pro Woche sowie an einem „Achtsamkeitstag“ zusammen. Die Gruppe ist bunt gemischt: gestresste Anwälte, Lehrer mit Burn-out-Syndrom, Menschen mit chronischen Schmerzen, Depressionen oder anderen psychosomatischen Erkrankungen. „Manchmal“, erzählt die Berliner MBSR-Trainerin Christina Kempe, „kommen auch Leute vorbei, die nur irgendetwas gehört haben und die Methode einfach ausprobieren wollen.“ Grundlage des Trainings ist der so genannte Bodyscan, bei dem der Körper im Liegen systematisch und aufmerksam abgetastet wird. Hinzu kommen sanft ausgeführte Yogaübungen sowie verschiedene Formen der Achtsamkeitsmeditation im Ruhezustand und in Bewegung. Anders als bei transzendentalen Meditationen werden ablenkende Gedanken, Empfindungen oder physische Beschwerden nicht minimalisiert, sondern ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Übende erkennen mit zunehmender Routine, dass achtsame und urteilsfreie Wahrnehmung all dessen den Blick für die eigene Situation schärft und damit die Voraussetzung dafür schafft, Veränderungen bewusst und aktiv einzuleiten. „Die Saat eines MSBR-Trainings geht erst auf, wenn die ‚Laborsituation‘ in der Gruppe in den komplexen Alltag jedes Einzelnen übertragen worden ist“, sagt Angelika Töllner von der Berliner „Praxis für Stressbewältigung und Körpertherapie“. Um diesen Transfer zu leisten, stehen regelmäßige Hausaufgaben auf dem Programm. Täglich sollen die Teilnehmer 45 Minuten aufbringen, um mithilfe einer Übungs-CD zu meditieren und ein Tagebuch zu führen. Darin werden mal besonders angenehme, mal besonders unangenehme Ereignisse erfasst – einschließlich der damit verbundenen Empfindungen, gedanklichen Reaktionen und nachfolgenden Handlungen. Die Aufzeichnungen werden bei den Gruppentreffen zusammengetragen und gemeinsam reflektiert. Zum Erkenntnisgewinn tragen auch kurze theoretische Inputs über Stressforschung, kognitive Psychologie oder Kommunikationswissenschaft bei. Am Ende der acht Wochen sollen auch profane Tätigkeiten wie Schuhebinden oder Hemdenbügeln achtsam durchgeführt und damit zu einer lebendigen Erfahrung werden. Dass MBSR in westlichen Gesellschaften eine so starke Verbreitung finden konnte, ist nicht zuletzt dem Entwickler der Methode zu verdanken. Jon Kabat-Zinn befreite die Achtsamkeitstheorie weitgehend von der Terminologie seiner Wurzeln und machte sie so auch Menschen zugänglich, die der buddhistischen Philosophie desinteressiert gegenüberstehen. Sprachliche Sensibilität hätte man ihm auch an anderer Stelle gewünscht: Der in der Wellness-Szene gängig verwendete Technik-Begriff „Bodyscan“ will so gar nicht als Überschrift zu einer Entspannungsübung passen und hat auch mit der gleichnamigen Software zur Hautkrebsdiagnose nichts gemein. Der Anerkennung von MBSR in der Fachöffentlichkeit und bei Teilnehmern hat die zweifelhafte Formulierung aber nicht geschadet. Jon Kabat-Zinn ist am 14. März in der Apostel-Paulus-Kirche, Berlin-Schöneberg. Beginn 19 Uhr, Eintritt: 10 €
PETER HERMANNS
Stress durch Achtsamkeit bewältigen? Klingt etwas abgehoben, hat sich aber bei Schmerzpatienten bewährt. „Mindfulness-based stress reduction“ setzt auf Meditation und Yoga. Auch banale Tätigkeiten sollen so zu lebendigen Erfahrungen werden
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Landeshaushalt für Brandenburg gebilligt - taz.de
Landeshaushalt für Brandenburg gebilligt ■ Mehr als die Hälfte kommt vom Bund und den Ländern Potsdam. Das Potsdamer Kabinett hat das Haushaltsgesetz 1991 gebilligt. Es sieht einen Gesamtetat von rund 16,6 Milliarden Mark bei einer Nettokreditaufnahme von 4,3 Milliarden Mark vor. Damit kann das Land 1,6 Milliarden Mark mehr als ursprünglich geplant ausgeben, sagte Finanzminister Kühbacher (SPD) gestern. Gleichzeitig sei die Kreditaufnahme um 1,5 Milliarden Mark gestiegen. Das Gesetz soll den im Dezember vergangenen Jahres vom Landesparlament verabschiedeten Vorschalthaushalt ersetzen, mit dem die Haushaltsführung im ersten Halbjahr sichergestellt wurde. Wie der Finanzminister weiter mitteilte, gehen auf der Einnahmeseite allein 9 Milliarden Mark auf das Konto von Zuschüssen von Bund und Ländern. An Steuereinnahmen verbucht der Etat 2,7 Milliarden Mark. Kühbacher sagte dazu, daß allerdings erst die nächste Sitzung des Bund-Länder-Arbeitskreises »Steuerschätzung« Mitte Mai zeigen werde, ob die Steuereinnahmen weiter nach unten korrigiert werden müssen. Er rechne damit, daß das reale Steueraufkommen um 700 bis 800 Millionen Mark geringer als erwartet ausfallen werde. Die gegenüber dem Vorschalthaushalt höheren Einnahmen ergeben sich nach Angaben des Finanzministers durch einen nach der Vereinbarung von Bund und Ländern für Brandenburg 770 Millionen Mark größeren Anteil an der Umsatzsteuer sowie auf 843 Millionen Mark erhöhte Zahlungen aus dem Fonds »Deutsche Einheit« und weitere 1,3 Milliarden Mark aus dem »Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost«. Die Zahl der Stellen im öffentlichen Dienst des Landes schreibt der Haushaltsentwurf für 1991 auf rund 68.000 fest, von denen 3.300 Stellen als »künftig wegfallend« eingestuft sind. Gegenwärtig besoldet das Land noch 76.500 Mitarbeiter, davon befänden sich 8.300 Stellen in Abwicklung. Im Vorschalthaushalt waren noch 110.000 Stellen enthalten, davon 25.000 in Abwicklung. Der Haushaltsgesetzentwurf soll am 15.Mai im Landtag eingebracht werden. dpa
taz. die tageszeitung
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Vorwürfe gegen Berliner Polizisten: Widersprüchliche Aussagen - taz.de
Vorwürfe gegen Berliner Polizisten: Widersprüchliche Aussagen Polizeipräsidentin nimmt zur Durchsuchung einer betreuten Flüchtlingswohngruppe Stellung. Der Träger hatte schwere Vorwürfe gegen Polizisten erhoben. Polizeipräsidentin Slowik und Innensenator Geisel (SPD) im April 2018 Foto: dpa Die Polizei hat von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte eingeleitet, die bei der Durchsuchung einer Jugendwohngruppe mehrere Bewohner verletzt haben sollen. Das bestätigte Polizeipräsidentin Barbara Slowik am Montag im Innenaussschuss des Abgeordnetenhauses. ­Inhaltlich bewertete sie diesen Vorgang nicht. Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte nach der Sitzung zur taz, es gelte den Ausgang des Verfahrens abzuwarten. „Insgesamt stellt sich der Sachverhalt aber anders dar als zunächst behauptet.“ Damit trat Geisel Darstellungen des Kinder- und Jugendhilfe Verbundes Berlin-Brandenburgs (KJHV) entgegen. Die Polizeiaktion in der Jugendwohngruppe für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge hatte in den Morgenstunden des 9. Mai stattgefunden. Der KJHV, Träger der Einrichtung, hatte vergangene Woche wie berichtet schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben: Durchsucht worden seien Räume, für die die Polizei keinen Durchsuchungsbeschluss gehabt habe. Dabei seien zwei unbeteiligte Jugendliche schwer misshandelt worden. Einer der beiden sei in einen Schrank mit einer Glastür geschleudert worden und habe im Krankenhaus zweimal operiert werden müssen. Ein dritter Jugendlicher – der Einzige, dem der Durchsuchungsbeschluss gegolten habe – sei mit auf dem Rücken gefesselten Händen in ein Nachbarzimmer geschleift worden. Dabei habe er Schürfwunden am Kopf erlitten. Und das, obwohl sich der Jugendliche kooperativ verhalten und keinen Widerstand geleistet habe. „Der Durchsuchungsbeschluss umfasste die ganze Wohnung“, trat Polizeipräsidentin Slowik am Montag der Darstellung des KJHV entgegen. Ihren Angaben zufolge handelte es sich um eine 6-Zimmer-Wohnung im 11. Stock eines Hochhauses in Lichtenberg. Zweck der Durchsuchung sei das Auffinden von Beweismitteln nach einem Straßenraub mit Waffen gewesen. Der 18-jährige Tatverdächtige, dem die Aktion gegolten hat, sei für die Polizei „kein unbeschriebenes Blatt“. Der junge Mann sei bereits wegen etlicher Gewalttaten und Angriffen auf die Polizei aufgefallen. In 140 Fällen lägen Eintragungen gegen ihn vor. Der Mann habe auch diverse falsche Identitäten genutzt. 13 Polizeibeamte beteiligt Zur Sicherung der Beweismittel und zur Eigensicherung sei die Polizei schnell und gewaltsam in die Wohnung eingedrungen, so Slowik. Weder sei klar gewesen, wie viele Personen in der Wohnung waren, noch in welchem Raum sich diese befanden. Vorgefunden habe man vier Männer im Alter von 18 und 22 Jahren. Neben dem 18-Jährigen sei eine weitere in der Wohnung angetroffene Person zur Fahndung ausgeschrieben gewesen. Aufgefunden worden sei bei der Durchsuchung ein als Taschenlampe getarnter Elektroschocker. Andreas Geisel, SPD, Innensenator„Die Polizei bricht nicht einfach in eine betreute Wohnung ein“ Beteiligt an dem Einsatz waren insgesamt 13 Polizeibeamte. Sowohl der Vormund des 18-Jährigen als auch das Jugendamt seien im Vorfeld von dem Ermittlungsverfahren und dem Durchsuchungsbeschluss unterrichtet worden, erklärte Slowik. „Die Polizei bricht nicht einfach in eine betreute Wohnung ein“, betonte Geisel gegenüber der taz. Der KJHV hatte in seiner Presseerklärung von letzter Woche darauf hingewiesen, dass der Durchsuchungsbeschluss bereits am 20. Dezember 2017 ausgestellt worden sei. Die Polizei habe am 19. April Kontakt zur Betreuerin des Jugendlichen und zu seinem Vormund aufgenommen und beide von der bevorstehenden Durchsuchung informiert. Umso fassungsloser sei man, dass die Polizei Wochen später unvermittelt und mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung in den Schutzraum der Jugendhilfe-Einrichtung eingedrungen sei. Nach Auffassung des KJHV sollten nur das Zimmer des dritten Jugendlichen und die Gemeinschaftsräume durchsucht werden. Weder sei es darum gegangen, einen Tatverdächtigen aufzugreifen, noch darum, den beschuldigten Bewohner festzunehmen, schrieb der Träger in seiner Stellungnahme. Die Grünen-Abgeordnete June Tomiak forderte eine bessere Abstimmung zwischen der Senatsverwaltung für Jugend und der Polizei, um bei Einsätzen in Jugendhilfeeinrichtungen Schäden für Unbeteiligte zu vermeiden. „Ich erwarte von den beteiligten Behörden, dass hier Gespräche aufgenommen werden“, schrieb Tomiak in einer Presseerklärung. Auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes sei noch zu klären. Die Ermittlungen dazu liefen allerdings noch.
Plutonia Plarre
Polizeipräsidentin nimmt zur Durchsuchung einer betreuten Flüchtlingswohngruppe Stellung. Der Träger hatte schwere Vorwürfe gegen Polizisten erhoben.
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Halber Mut zur Ironie - taz.de
Halber Mut zur Ironie Kapitalismuskritik mit Knuddelbauch und Wohlfühlfaktor: In der Regie von Rafael Sanchez wurde „Augusta“, Richard Dressers Komödie aus dem Putzkolonnenleben, in der Schaubühne uraufgeführt VON CHRISTINE WAHL Nirgends ist das soziale Elend so hübsch anzusehen wie in der Schaubühne. Beim Festival osteuropäischer Dramatik rollten die Geschichten von Zwangsprostitution, Messerstechereien und Arbeitslosigkeit unlängst in einem liebevoll nachgestellten „Orient Express“ mit charmanter Kunstbusenzugbegleiterin und herzigem Keksteller vorbei. Sehr wohl fühlt man sich jetzt auch wieder in der Kapitalismuskritik-Komödie „Augusta“: Die Bühnenbildner Magda Willi und Jan Pappelbaum haben einen Laufsteg gebaut, auf dem allerlei Unterhaltsames vorüber defiliert, und es gibt viel zu lachen. Zum Beispiel über die Karaokeeinlage der Putzpraktikantin Claire. Oder über den halbseidenen Chef mit reichem Neurosenrepertoire, der in jeder Szene mit neuem verunglücktem Outfit aufwartet. Bruno Cathomas ist großartig als antiheldische Führungskraft der untersten Charge, die ihre Klemmigkeit mit einem beneidenswerten Hang zum Größenwahn verbindet. Richard Dressers US-amerikanisches Unterschichtenstück guckt sich, mit anderen Worten, richtig gut weg. Wie öffentlich-rechtliche Sozialkritik zur Prime Time. Nicht direkt blöd, aber auch nicht so, dass sie den besser verdienenden Zuschauer nachher um seinen Nachtschlaf bringt. Besser Verdienender ist hier – Praktikantenrepublik hin oder her – wahrscheinlich jeder im Parkett. Auf der Bühne trägt die Putzpraktikantin ihrerseits weniger als den Mindestlohn nach Hause. Und ihre Kollegin Molly könnte, wenn sie nicht gerade zur Teamleiterin befördert worden wäre, ihre Miete nicht mehr bezahlen und stünde mitsamt ihrem Rollstuhlgatten auf der Straße. Schnell haben wir verstanden: Ganze drei Angestellte und eine Putzkonzernfiliale, die nur eine Kundin hat, symbolisieren die kapitalistische Struktur im Kleinstformat – Konkurrenzkampf auf niedrigster Ebene. Mit zugehörigem Bilderbuchpersonal: In Steffi Kühnerts Molly haben wir die ältliche Unterschichtlerin mit Mutterwitz, nach außen immer ein bisschen mürrisch, aber innen mit einem echt fairen Kumpelinnenkern. Die Praktikantin bedient die Schiene „jugendlich-sexy“, was sich bei Daniela Holtz vor allem in fröhlichem Bewegungsdrang niederschlägt: Man sieht sie gern tanzend am schweren Leben sich erfreuen und dabei ihren knuddeligen Bauch entblößen. Natürlich gefällt der fröhliche Knuddelbauch auch dem Neurosenchef Jimmy, also macht er Claire kurzerhand zur neuen Teamleiterin und lockt sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – nämlich angeblicher Einstiegskontakte ins Management – zum Putzkonzern-Jahresmeeting nach Augusta. Und weil die gemeine Prime-Time-Heldin ungeachtet der Tatsache, dass das sabbernde Patriarchat ihr schon beim Einstellungsgespräch auf den Hintern klatscht, gern an den Chef mit dem Herzen auf dem rechten Fleck glaubt, gibt es in Augusta ein böses Erwachen: Jimmy hat für Claire zwar einen Platz in seinem Hotelbett, aber leider keinen auf der Tagung gebucht. Dabei hatte auch Claire zuvor ein bisschen unfair gekämpft gegen Molly. Sie verriet Jimmy, dass Molly wegen eines Rückenleidens keine Böden putzen kann. Es sei ihr versehentlich „rausgerutscht“, sagt sie. Kann sein, kann auch nicht sein – Dresser lässt das offen. Und aus dieser Ambivalenz, die das Dilemma des Konkurrenzdrucks tatsächlich mal auf den Punkt bringt, ließe sich wirklich was machen – wenn Regisseur Rafael Sanchez Doppelbödigkeit nicht mit inszenatorischer Unentschiedenheit verwechseln würde. So aber ist der Gestus seiner Uraufführung einfach: halbironisch. Ganz schön schlimm, kommt unterm Strich heraus, ist es ja schon, wenn man so wenig Geld verdient, dass man aus der Wohnung fliegt. Aber irgendwie lustig ist das Putzfrauenleben auch. Wie schreibt doch Mrs. Townsend, deren Anwesen Claire und Molly wienern, aus den komplexen Anstrengungen ihres Upperclass-Daseins heraus ins Tagebuch: „Heute habe ich von meinem Fenster aus die zwei Mädchen beobachtet … Und ich habe mich dabei ertappt, dass ich sie um ihr einfaches, unkompliziertes Leben beneide. Sie lachten, hatten ihre ehrliche Arbeit getan, und vor ihnen erstreckte sich der perfekte Sommertag so voller Verheißung.“ Immerhin, so viel Sozialromantik ist selbst der Prime-Time-Molly zu viel: Mrs. Townsend muss dafür teuer bezahlen; nämlich mit ihrem Tafelsilber. Mit dem Besteckkasten nimmt Molly – Verschwisterung statt Konkurrenz – das Leben der Arbeiterinnenklasse endlich selbst in die beherzten Putzlappenhände. Am Ende sind sie und Claire gute Freundinnen geworden; Jimmy wird versetzt, und der alte, faire Chef Tommy – gleichzeitig Mollys Geliebter – kehrt zurück. Super Emanzipation, Mädels! Bloß gut, dass der globalisierte Raubtierkapitalismus ab und an einen lieben Tommy vorbeischickt! Natürlich halbironisch, versteht sich.
CHRISTINE WAHL
Kapitalismuskritik mit Knuddelbauch und Wohlfühlfaktor: In der Regie von Rafael Sanchez wurde „Augusta“, Richard Dressers Komödie aus dem Putzkolonnenleben, in der Schaubühne uraufgeführt
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Party mit Botschaft - taz.de
Party mit Botschaft ■ Stefan Pucher macht Theater mit DJs, Splatterfilmen und Triphop. Jetzt wurde sein Stück "Zombies" in Frankfurt am Main als Theater der "Generation X" prämiert Das Theater würde sich um einen ordentlichen Spaß bringen, wenn es sich nicht ebenso und eben da bediente, wo das Herz der kreativen Konsumenten eigentlich schlägt: beim Rock 'n' Roll, Zombiefilmen, Fernsehen, Jim Morrison und House-Musik. Mit diesen Ingredienzien gewann Stefan Pucher in Frankfurt am Main jüngst einen Wettbewerb um das hierzulande fast unbekannte Theater der „Generation X“ – ein Theater der Popkultur, das seine Zutaten aus dem Umfeld der Medien bezieht. Solch ein Theater versteht sich kaum mehr als dramatisches Spektakel, sondern als „Party mit Botschaft“. Auf der Bühne werden Popsongs gespielt, dazu Texte von Rolf-Dieter Brinkmann, verschnitten von Interviews mit David Bowie. Aus Sprechtheater wird (Un-)Easy Listening, musikalische Zutaten werden im Scratching-Verfahren hinzuaddiert. Während sich die meisten regieführenden 30jährigen mit Goethe, Hauptmann, Heiner Müller herumschlagen, um aus dem reinen Literaturtheater den einen oder anderen aktuellen Witz zu schlagen, verbindet Stefan Pucher das Theater mit dem klassisch gewordenen Pop seiner Elterngeneration. Statt dramatischer Texte werden die Zombies zitiert (eine unterschätzte britische Beatcombo, die 1964 mit „She's not there“ einen Nummer-eins-Hit landete). Jim Morrison wird hier ähnlich verehrt wie andernorts Hamlet. Und Pucher glaubt denn auch: „Die Grenze ist dünn geworden zwischen der Feier eines Klassikers und eines im Revival erfolgreichen Pop.“ Jim Morrison und Hamlet – Kultfiguren sind beide. Und beide, so Pucher, seien auch „Zombies“ – Figuren, die nicht sterben können. Das ständige Revival von Jugendkulturen ähnelt aus seiner Sicht der Erinnerungslosigkeit von Untoten. Im Evergreen des Pop sieht er die Geburt immer neuer Klassiker aus dem Geist der Popmoderne. Ebenso im Theater: Jede Neuinszenierung von Shakespeares Dramen könnte dem Sampling von Moden in der Popkultur entsprechen. Das Remix alter Schlager mit neuen Stilmitteln setzt Stefan Pucher unmittelbar gleich mit dem Verfahren, ein altes Theaterstück „modern“ zu interpretieren. Theater, hofft er nun, soll endlich auch Popgeschichte schreiben. Zusammen mit dem Schauspieler Frank Riede gab Pucher Deutschlands erstes Theater-Fanzine heraus: In Fake befand er Wrestling für ebenso theatralisch wie die Augsburger Puppenkiste. Er interviewte alle Heiner Müllers, die er im Telefonbuch finden konnte, weil es in einer Massenkultur nie nur einen Heiner Müller geben kann. Sein erstes inszeniertes Stück war Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“. Es entstand in der Technohochburg Frankfurt – als erstes Technotheater mit Videobeam, Diaprojektoren, Monitoren, Mikrofonen, dazu Schubert-Lieder auf Technomusik, Eichendorff-Lyrik zu Horrorfilmen. Pucher erhob vergleichsweise früh den DJ zum wahren Musikdramaturgen von heute und kürte Wilhelm Hauff kurzerhand zum Vater der Popmoderne. Heute spielt Markus Denker in Stefan Puchers jüngstem Stück „Zombies“ auf der Probebühne des Frankfurter TAT auf einer ebensolchen Vox- Orgel, wie sie die Doors hatten, leiert darauf deren Song „Take it Easy“ im Dreivierteltakt herunter, jenen Oma-Takt, mit dem in englischen Bingo-Hallen die alten Ladies beruhigt werden, ein Sound voll gefühliger Erinnerung an die eigene Vergangenheit – abzüglich der taktreichen Auflehnung, die in dieser Musik mal gesteckt hat. Stefan Pucher bedauert, daß durch Studiotricks aus Punktiteln ohrwurmige Tageshits werden, aus Rock 'n' Roll die Muzak der Supermärkte. Doch macht er es ebenso. Hamlet heute, sagt er, ist auch nichts anderes als der Versuch, einem alten Politthriller um die Hinrichtung des Grafen von Essex anno 1601 immer wieder neues Leben einzuhauchen. Seine These: „Der Popkultur wird, wie der Dramenkultur am Stadttheater, das Leben von Untoten eingehaucht.“ Bei Wein und Gekicher schaut das Publikum Daniel Haaksmann zu, DJ im bundesweit bekannten Frankfurter „Lissania Essay“: In Puchers „Zombies“-Stück verscratcht, backspint, cuttet er seine Vinylplatten, das Publikum beklatscht das musikalische Zitat, die Parodie von Popereignissen à la Woodstock und die Totenreden auf die als „Pop-Zombies“ unsterblich gewordenen Kurt Cobain und Jim Morrison. Das Publikum versteht die modernen Mythen der Musik eben besser als die in der Antike populär verarbeiteten Mythen eines Euripides oder Sophokles. Und während Jürgen Kruse oder Leander Haußmann, die noch nie eine Inszenierung ohne Verwendung des eigenen Plattenschranks hinbekommen haben, dem Prinzip folgen, mit Pop das Publikum nur so weit zu versöhnen, um es dann mit echten Klassikern verführen zu können, geht Stefan Pucher diesen einen Schritt nur weiter und verleiht seiner inszenierten Popkultur selbst den Adel des Klassischen. Bei ihm zu Hause stehen nebst Büchern von Rolf-Dieter Brinkmann und Jörg Fauser an die 2.500 Videokassetten mit unzensierten Splatter-, Horror- und Zombiefilmen. Nicht wenig davon stammt aus dem liberalen Holland. Zombies sind, was die Kino-Genealogie anbelangt, Geschöpfe von George A. Romero und dessen „Night of the living Dead“ von 1968. Pucher glaubt, daß diese Filme Allegorien nach Form griechischer Tragödien sind. Ihr Strickmuster stehe den Urdramen in nichts nach. Genauso grausam, genauso hintergründig. Bei Romero heißt es: „Pop will eat itself.“ Puchers Botschaft: „Wir leben in einer Zombie-Kultur.“ In diesem Sinne versteht er auch „TripHop“, den neuen Sound aus Bristol, den Bands wie Tricky, Massive Attack und Portishead zum Markenzeichen gemacht haben – Samples, die von schleppenden Rhythmen mit sich geführt werden wie Geröll in einer Endmoräne. Aus Pop, meint Pucher, entstehe quasi Zombie-Pop, der sich weder an das vergangene Leben erinnere noch seine jetzige Daseinsform verstehen könne. Auf der Bühne wirkt das trotzdem heiterer und verspielter, ein Theater-Sampling, das die Herkunft der Unmengen von gezeigten Verweisen, Quellen und Anspielungen kaum mehr entschlüsseln läßt. Als ob Fußnoten das Regiment über die Botschaften von einst übernehmen, trommeln Textpartikel auf die Bühne ein, verschwinden unter Klangwolken aus Verstärkern und werden beschossen mit Bildern aus Super-8- und Videoprojektoren. Die Akteure steigen in die Projektionen, halten sich das Mikro an den Kehlkopf, imitieren Filmszenen und switchen mit allen Kanten und Ecken durch die Partitur der Gefühlslagen zwischen Witz und Kitsch, Schnulze und Hardbeat. Sie erscheinen in der Tat wie Bühnen-Zombies, die nach ihrer eigenen im Pop verlorenen Geschichte suchen. Kultur begreifen sie als einen Kult um die nicht sterben wollende Verehrung der Moden. Theater sei Pop, glaubt Pucher: „Nichts als das Theater ist geeigneter, Popgeschichte zu schreiben, nichts ist so zombiehaft wie das Theater, und nirgendwo gibt es mehr Revivals.“ Arnd Wesemann
Arnd Wesemann
■ Stefan Pucher macht Theater mit DJs, Splatterfilmen und Triphop. Jetzt wurde sein Stück "Zombies" in Frankfurt am Main als Theater der "Generation X" prämiert
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Wasserschutz marsch! - taz.de
Wasserschutz marsch! Der BUND fordert angesichts der Dürre eine Ausweisung von Trinkwasserschutzgebieten im Bremer Norden. Die Behörde will das zwar umsetzen – braucht aber mehr Zeit als ursprünglich geplant Der BUND Bremen fordert, dass die Stadtgemeinde ihre eigenen Wasserquellen durch die Ausweisung von Trinkwasserschutzgebieten schützt. Außerdem dürften nach Ansicht des Umweltverbandes im geplanten Trinkwasserschutzgebiet in Vegesack keine Bauvorhaben genehmigt und realisiert werden. Nötiger denn je brauche Bremen eine nachhaltige Trinkwasserstrategie, so der BUND. „Bremen ist zum Großteil auf Wasserimporte aus dem niedersächsischen Umland angewiesen“, sagt Martin Rode, Geschäftsführer des BUND Bremen. Im Stadtgebiet selbst würden lediglich 15 Prozent des Trinkwasserbedarfes gefördert. Bremen verfüge zwar über große Grundwasservorkommen, lediglich in Blumenthal und Vegesack im Bremer Norden seien diese jedoch zur Trinkwassergewinnung geeignet. Der Hauptanteil des heute geförderten Trinkwassers im Bremer Norden kommt laut Behörde aus Blumenthal (4,9 Millionen Kubikmeter Trinkwasser), etwa 0,5 Millionen Kubikmeter werden zusätzlich in Vegesack gefördert und in Blumenthal nur aufbereitet. Dieser Anteil könnte auf eine Tonne steigen – dafür aber müsste ein größeres Gebiet in Vegesack zum Grundwasserschutzgebiet werden. Genau das fordert der BUND. „Viele Bezugsquellen zu haben ist sinnvoll, um die Risiken zu minimieren, die mit zunehmender Grundwasserbelastung durch Nitrat und Pestizidrückstände verbunden sind und um Förderkapazitäten einzelner Standorte nicht zu überreizen“, meint BUND-Sprecher Rode. Tatsächlich zeigt sich die zuständige Umweltbehörde willig. „Genau das ist geplant“, so Sprecher Jens Tittmann. Allerdings ist der Prozess nicht so weit, wie er sein sollte: Eigentlich hätte die Öffentlichkeitsbeteiligung schon dieses Frühjahr beginnen sollen, wegen der Pandemie wurde sie aber auf Ende 2020 verschoben. Ein weiterer Grund dafür, dass das Schutzgebiet später kommt: „Das Grundwasser endet nicht an der Grenze“, so Tittmann. Bremen müsse sich mit dem Landkreis Osterholz abstimmen. „Das ist nicht immer unkompliziert.“ Insgesamt neun Monate verzögert sich die Einrichtung eines Grundwasserschutzgebietes, 2021 soll es aber so weit sein. (taz)
taz. die tageszeitung
Der BUND fordert angesichts der Dürre eine Ausweisung von Trinkwasserschutzgebieten im Bremer Norden. Die Behörde will das zwar umsetzen – braucht aber mehr Zeit als ursprünglich geplant
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Die Wahrheit: Endzeitstimmung auf der Endmoräne - taz.de
Die Wahrheit: Endzeitstimmung auf der Endmoräne Das Dorf im flachen Bauerwartungsland am Niederrhein muss nicht nur dem Klimawandel trotzen, es verliert auch noch seine letzte Kneipe. Ja, ich komme vom Land, meine Eltern wohnen auf dem Dorf. Allerdings nicht in irgendeinem Dorf, sondern in einem mit Sonderstatus – es gehörte ein paar Jahre lang zu den Niederlanden, ehe es wegen erledigter Reparationszahlungen der BRD zurückgegeben wurde. Und es liegt wahrlich weltabgewandt am Ende der Republik, ein Dorf wie für Schneewittchen gemacht, ein Dorf, das hinter dem einzigen Berg in der weithin meerflachen Landschaft des Niederrheins liegt. Endmoräne, so nennen das die Geologen. Ein Dorf an der Grenze, vom Rhein und der Welt abgewandt, abgewandter geht es nicht. Nun ist aber Klimawandel, und im angrenzenden Holland wird man langsam nervös. Nicht so im Dorf selbst. Hier betreibt man weiter Landerschließung, wandelt bestellbare Felder zu Bauerwartungsland um und erschafft die deutsch-niederländische Version einer amerikanischen Vorstadt, schön mit Geländewagen auf der Garagenzufahrt mit Basketballkorb. Dass das Dorf einst nur ein ärmliches Bauerndorf gewesen ist, kann man noch hie und da erkennen oder sich beim Diavortrag oder Facebookgruppen-Bildbetrachtungsabend im Gemeindehaus anschauen. Was durchaus interessant ist: Die Menschen auf den alten Bildern zwischen 1910 und 1950 sehen fast ausnahmslos ästhetisch gefordert aus und halten vor wackeligen Bauernhäusern ihre schlechten Zähne ins Bild. Die guten, alten Zeiten! Inzwischen hat das Dorf nach über 40 Jahren wieder einen Bahnanschluss, interessanter ist es allerdings noch nicht geworden. Zynisch könnte man sagen, dass es erst wieder interessant wird, wenn das Meer kommt. Endmoräne! Der Pool des Bauunternehmers, der unten am Hang wohnt, wird dran glauben müssen; die etwas weiter oben werden sich den Platz mit den Geflüchteten aus Amsterdam teilen müssen. Das wird lustig! In der nahe gelegenen Kleinstadt hat unterdessen die letzte Jugendkneipe, vielleicht die letz­te Kneipe überhaupt zugemacht. Ich erinnere mich an den Wirt, der Mike Thijssen hieß und das Namensgedächtnis eines Elefanten hatte, er erinnerte sich an den Namen jeder Nase, selbst wenn diese erst nach Jahren ein zweites Mal in der Kneipe aufgetaucht war. Jetzt liegt er unter der Erde, die Lebenserwartung von Wirten ist gering. Die von Kneipen in NRW aber wohl auch. Ich frage mich, ob meine Jugend tatsächlich in die goldenen Zeiten dieser Gegend fiel, oder ob das bloß Romantisierung im Nachhinein ist; und ich frage mich, was die übrig gebliebene Jugend heutzutage macht, wo geht sie hin, wo probiert sie sich aus, wo lernt sie sich kennen? Die guten, alten Zeiten! Immerhin gibt es neuerdings ein Unternehmen für Sicherheitsschuhe, das wie das Dorf heißt und fleißig Fernsehwerbung macht. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Dorf nicht viel mehr ist als ein Sicherheitsschuh. Den gebliebenen Menschen scheint er noch zu passen. Mal sehen, wie wasserfest er ist. Die Wahrheit auf taz.de
René Hamann
Das Dorf im flachen Bauerwartungsland am Niederrhein muss nicht nur dem Klimawandel trotzen, es verliert auch noch seine letzte Kneipe.
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Eine Reise ohne Landkarte - taz.de
Eine Reise ohne Landkarte „Man schreibt über das, was man beim Blick durchs Fenster sieht.“ Der katalanische Schriftsteller Eduardo Mendoza über den aktuellen Wandel Barcelonas und die heftigen Sprünge von der Industriestadt zur angesagten Touristenhochburg INTERVIEW GÜNTER HERKEL taz: Herr Mendoza, letztes Jahr erschien die deutsche Übersetzung Ihres Buchs „Barcelona modernista“, das Sie bereits in den 80er-Jahren gemeinsam mit Ihrer Schwester schrieben. Wie kommt es, dass ausgerechnet Barcelona Ende des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkt einer so einflussreichen Bewegung wie des Modernismo werden konnte? Eduardo Mendoza: Diesen Stil gab es natürlich auch anderswo, vor allem in Paris. Aber für Barcelona und Budapest, Städte, die jeweils die zweite Stadt einer großen Nation gewesen sind und die einen gewissen historischen Protagonismus anstrebten, war diese Entwicklung ein Glücksfall. Dieser Stil erlaubte es ihnen, eine imaginäre Stadt zu konstruieren: Kirchen, Kathedralen, Paläste, Burgen, Mythen. Es war ein sehr praktischer, aber gleichzeitig auch ein sehr literarischer Stil. Damals triumphierten in Barcelona zwei große Bewegungen: der Modernismo und der Anarchismus, zwei etwas exzentrische Erscheinungen. Das half der Stadt, sich in eine moderne Metropole zu verwandeln. In Ihrem Roman „Die Stadt der Wunder“ beschreiben Sie den Aufstieg Barcelonas zwischen den beiden Weltausstellungen von 1888 und 1929. In jüngerer Zeit hat vor allem die Olympiade 1992 der Stadt ihren Stempel gegeben. Was ist da geschehen? Barcelona wächst mit großen, heftigen Sprüngen. Die Stadt braucht immer einen Vorwand, um den Kurs zu wechseln. Bei der Weltausstellung von 1888 verwandelte sie sich in der Folge des Modernismo in eine geschäftige Industriestadt, mit großen Industriellenfamilien. Die Olympischen Spiele nutzte Barcelona zur Konstruktion größerer Bauten. Dadurch verwandelte es sich in eine Stadt, die sich der Industrie weitgehend entledigt hat und jetzt eher durch andere Dinge geprägt wird: Tourismus, Zerstreuungskultur – das, was man heute eine „Dienstleistungsstadt“ nennt. Auf dem Forum der Kulturen 2004 in Barcelona forderte der Schriftsteller Juan Goytisolo mit Blick auf die Immigration neue Formen des Zusammenlebens in den Metropolen. Wie denken Sie darüber? Es gibt zwei parallele Entwicklungen: Einerseits kommen die Touristen, die Geld ausgeben, die Hotels füllen und lange Schlangen vor Museen produziert. Und andrerseits die Immigranten, vor allem Maghrebiner, Afrikaner. Für diesen Prozess gibt es anders als für den Tourismus keine Vorstellung, wie man Barcelona in eine Stadt der Integration verwandelt. Die Modernisierung von Barcelona hat einen hohen Preis. Bei Sanierungsprogrammen wie im Raval, im Barrio Chino, gewinnt man den Eindruck, es handle sich um einen Rausch von Sozialhygienikern. Da ist was dran. Was das Raval angeht, bin ich kein Nostalgiker. Es war für manche recht unterhaltsam, durch ein paar dunkle Gassen voll Schmutz und Nutten zu streifen. Aber hinterher kehrte man doch gern in sein sauberes Viertel zurück, voll Kindern, die zur Schule gehen. Die Sanierung ist schon notwendig, man muss sie nur richtig machen. Natürlich wurden Fehler begangen. Aber ich glaube nicht, dass im Fall des Raval die Spekulation, die man wittert, eine große Rolle gespielt hat. In Ihren letzten Romanen, zum Beispiel in „Mauricios Wahl“, nähern Sie sich stark der Aktualität an. Manche fordern schon das ultimative Meisterwerk über das nacholympische Barcelona des neuen Jahrtausends. Ist es dafür noch zu früh? Ich nehme mir nicht vor, ein Meisterwerk oder ein Werk über ein Jahrhundert abzuliefern. Mit „Mauricio“ und den Folgewerken bin ich stärker in der Aktualität angekommen. Man schreibt über das, was man beim Blick durchs Fenster sieht. Jeder Roman ist eine Reise ohne eine Landkarte. Wie sehen Sie den Konflikt über die Identität der katalanischen Kultur, den es vor der Buchmesse gegeben hat? Ich glaube, die Vorbereitung war nicht gelungen. Man hätte eindeutiger sagen sollen, dass man die Vertreter der katalanischen Sprache einladen wolle. Das wäre gut gewesen, denn das Katalanische ist eine Sprache mit literarischer Tradition und lebender, aktiver Gegenwart. Das hätte das Problem gelöst. Aber die „katalanische Kultur“? Das sprengt dann doch ein wenig den Rahmen der Buchmesse. Jetzt tritt als Gast die katalanischsprachige Literatur auf. Und das ist auch gut so.
GÜNTER HERKEL
„Man schreibt über das, was man beim Blick durchs Fenster sieht.“ Der katalanische Schriftsteller Eduardo Mendoza über den aktuellen Wandel Barcelonas und die heftigen Sprünge von der Industriestadt zur angesagten Touristenhochburg
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Coach mit Charakter - taz.de
Coach mit Charakter Rainer Speer hat den Aufstieg des ostdeutschen SPD-Hoffnungsträgers Matthias Platzeck organisiert – und sich damit nicht nur Freunde gemacht Das Erfolgsduo werden die Fotografen nicht ablichten können. Wenn Matthias Platzeck heute zum Landeschef der Brandenburger SPD gewählt wird, sucht Rainer Speer in seinem Kanadaurlaub nach Eisbären. Der Mann hat seine Arbeit längst gemacht. Als im Frühjahr zwei Spitzengenossen um den Parteivorsitz stritten, entschied Speer das Duell, indem er Platzeck als dritten Kandidaten präsentierte. Speer ist seit langem Platzecks Coach auf dem Weg nach oben. Vor fünf Jahren gewann er den parteilosen Umweltminister für die SPD, später überredete er ihn, Potsdamer Oberbürgermeister zu werden. Die Allianz geht nun in die nächste Runde. Mit Platzeck als Parteichef bleibt Rainer Speer Spiritus Rector der Brandenburger SPD. Dabei sitzt er nicht mal im Landesvorstand. Er hat jedoch die Partei in Potsdam 1989 mitgegründet, kennt alle Akteure und Wendungen. Meinungen zum Machtmensch Speer leisten sich nur wenige Brandenburger Sozialdemokraten. „Er ist ein begnadeter Stratege“, lobt Ex-Jusochef Harald Senff. Die „ständigen Hinterzimmermauscheleien“ beklagt hingegen Führungsmitglied Katja Wolle. Sein Freund Matthias Platzeck findet: „Er ist ein brillanter Denker, hat einen schönen Humor und kann gut kochen.“ Mit Dreitagebart, Nickelbrille und Sportuhr kommt Rainer Speer als Charakterdarsteller daher. Er guckt gern spöttisch und mag öffentliche Auftritte nicht. Der 40-Jährige weiß, dass er nicht zum Volkstribun taugt, und bewundert Platzeck für diese Begabung sehr. Speer hat sich bisher nur einmal gründlich geirrt. Als es 1990 um die Spitzenkandidaten für die Landtagswahl ging, setzte er nicht auf Manfred Stolpe, sondern auf einen kirchenfernen Wendepolitiker. Stolpe war nicht nachtragend: Seit letztem Herbst ist Speer Chef der Staatskanzlei: „Stolpe schätzt meine Offenheit, ich bin kein Jasager“, so Speer selbstbewusst. An Tagen ohne offizielle Termine sitzt Rainer Speer in Freizeithemd, Jeans und Turnschuhen in seinem Büro. Die Medien erklären ihn zwar gern zur „grauen Eminenz“, doch das Bild geht nicht auf: „Ich will bunt und erkennbar sein.“ Als Meister der Selbstinszenierung gibt er ab und an den Edelproleten – mit Schirmmütze, Hosenträger, Zigarre und Fahrrad. Die CDU nennt ihn „ein Original“, die PDS würdigt ihn als „fair und korrekt“. Obwohl Speer seinerzeit die große Koaltion mit der CDU wollte, die Matthias Platzeck im Landesvorstand dann durchsetzte. Die nächste Station für das unschlagbare Doppel ist nun der Stolpe-Wechsel. MANUELA THIEME
MANUELA THIEME
Rainer Speer hat den Aufstieg des ostdeutschen SPD-Hoffnungsträgers Matthias Platzeck organisiert – und sich damit nicht nur Freunde gemacht
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Bilanz über Junckers Rolle in der EU: Der Mann, der Europa liebte - taz.de
Bilanz über Junckers Rolle in der EU: Der Mann, der Europa liebte … und sich selbst erst recht: An Jean-Claude Juncker, dem scheidenden EU-Kommissionspräsidenten, gibt es einiges zu kritisieren. Juncker gönnt sich eine „solide Erfolgsbilanz“ Foto: ap Fünf Jahre lang fühlte er sich unverstanden und ungeliebt. Nun will er noch einmal versuchen, sich den Bürgern zu nähern: Jean-Claude Juncker, bei der Europawahl 2014 der erste erfolgreiche „Spitzenkandidat“, zieht Bilanz. Investitionen, Wachstum und Beschäftigung seien wieder auf Vorkrisen-Niveau, außerdem wurde Griechenland im Euro gehalten. „Darauf bin ich besonders stolz“, betont der 64-jährige Luxemburger. Fast klingt es, als habe er, der letzte wahre Europäer, die Einheit der EU und des Euro gerettet. In Wahrheit waren es Frankreich und Italien, die sich gegen Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel aufgelehnt und einen „Grexit“ verhindert haben. Doch das ficht Juncker nicht an. Eine „solide Erfolgsbilanz“ schreibt er sich selbst zu. Damit niemand sagen kann, er habe nicht gut gearbeitet, lässt er eine Hochglanzbroschüre verteilen. Die „20 wichtigsten Errungenschaften“ sollen auch den letzten Skeptiker überzeugen. Trotz des Eigenlobs ist Juncker nicht ganz mit sich im Reinen. Zwei Entscheidungen bedauere er, räumt er auf Nachfragen ein. Eine Entscheidung betrifft die LuxLeaks – also den Luxemburger Steuerskandal, in dem auch Junckers Name zitiert wurde und der seinen Start vergiftete. Da hätte er sofort reagieren müssen, räumt der Ex-Premier des konzernfreundlichen Großherzogtums ein. Warum er zögerte und was eine schnelle Antwort geändert hätte, sagt er nicht. Der zweite Seufzer gilt dem Brexit. „Ich habe zu sehr auf (den ehemaligen britischen Premier) David Cameron gehört und mich nicht eingemischt“, so Juncker. „Das war ein Fehler. Wenn wir reagiert hätten, wären wir die Einzigen gewesen, die die Lügen (der Brexiters) widerlegt hätten.“ Nach diesem „Mea Culpa“ gibt Juncker auch noch eine Empfehlung für die Europawahl ab. „Bitte fragen Sie sich, was passieren würde, wenn alle so abstimmen wie Sie. Wie würde Europa aussehen, wenn alle rechtsextrem wählen?“ Es ist eine rhetorische Frage, man muss sie nicht beantworten. Was aus Brüssel kommt, ist gut Eine eigene Verantwortung für das Erstarken der EU-Gegner sieht Juncker aber nicht. Auf die Frage, warum Nationalisten und Populisten in Ländern wie Italien, Österreich oder Ungarn an der Regierung sind, erklärt er, dies sei nicht seine Schuld, sondern liege vor allem an nationalen Problemen. BildergalerieDer Mann, der Europa liebte7 Bilder Damit dreht der alte Europäer den Spieß einfach um: Was aus Brüssel kommt, ist gut. Doch was die Mitgliedstaaten machen, ist im Zweifel schlecht. Dabei liebt er sie doch alle – die 500 Millionen EU-Bürger, aber auch die Staats- und RegierungschefInnen, denen er mal freundlich auf die Schulter klopft, mal aufdringlich den Kopf küsst. Nur auf einen ist er gar nicht gut zu sprechen: Emmanuel Macron. Auf die Frage, ob er es nicht bedauere, dass die vielen Reformvorschläge des französischen Staatschefs im Sande verlaufen sind, tut Juncker nicht einmal so, als würde er eine diplomatische Antwort suchen. „Hat in Frankreich irgendjemand auf meine letzte Rede reagiert?“, gibt er schnippisch zurück. Fast klingt es so, als könne er es nicht verwinden, dass Macron als Erneuerer Europas gilt – und er, Juncker, als Mann der Vergangenheit.
Eric Bonse
… und sich selbst erst recht: An Jean-Claude Juncker, dem scheidenden EU-Kommissionspräsidenten, gibt es einiges zu kritisieren.
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Italienische Schauspiellegende: Gina Lollobrigida ist tot - taz.de
Italienische Schauspiellegende: Gina Lollobrigida ist tot Sie war eine der Ikonen aus Hollywoods goldenem Zeitalter. Nun ist die italienische Schauspielerin Gina Lollobrigida im Alter von 95 Jahren gestorben. Schauspielerin Gina Lollobrigida 2013 in ihrem Haus in Rom Foto: Alessandro Di Meo/ANSA/epa/dpa ROM dpa | Auf der Leinwand verdrehte sie den Hollywood-Stars reihum den Kopf, auf den roten Teppichen setzte sich Gina Lollobrigida immer gern als große Diva in Szene. In ausgefallenen Abendroben, grell geschminkt und mit schriller Haarpracht war die Vollblut-Italienerin mit dem umständlichen Nachnamen ein Unikum. Auf ein Metier ließ sie sich nie festlegen. Sie war Kino-Ikone, Sexsymbol, Fotojournalistin, Bildhauerin und UN-Botschafterin – und in allem stets selbstständig. Umso schmerzhafter war es für ein ganzes Land, wie „Lollo“ nach einem Familienstreit entmündigt wurde und in den letzten Jahren nur noch um ihre Würde flehte. Nun ist Gina Lollobrigida im Alter von 95 Jahren gestorben – Italien verliert einen seiner großen Stars. 1927 in dem Örtchen Subiaco östlich von Rom geboren, wird Gina schon als Dreijährige in einem Wettbewerb zum schönsten Kleinkind gekürt. Nach dem Zweiten Weltkrieg geht sie in die Hauptstadt, will Malerei und Bildhauerei studieren und schlägt sich mit Statistenrollen und Kohlezeichnungen von Gästen in den Lokalen durch. Zum Film kommt sie zufällig: 1946 wird sie auf der Straße entdeckt und 1947 vom Produzenten Mario Costa für den Film „Opernrausch“ engagiert. Nur ihr Name erscheint anfangs selbst den Regisseuren zu schwer – sie wollen den vielversprechenden Jungstar „Diana Lori“ nennen. Lollobrigida sträubt sich: „Mein Onkel ist trotz unseres langen Namens ein bekannter Maler geworden.“ Sie fotografierte Castro, Pelé, Reagan, Newman, Dalí Lange gilt die brünette Darstellerin in Anlehnung an einen ihrer Filmtitel als „die schönste Frau der Welt“. In den 50er und 60er Jahren macht sie als umgarnter Männerschwarm Furore. Doch hat Gina – eine Koseform des Namens Luigina – stets mehr zu bieten: In mehr als 60 Filmen wirkt sie mit und macht später noch mit der Fotokamera und dem Bildhauerspachtel eine zweite und dritte Karriere. Bereits Anfang der 70er Jahre entscheidet sich „Gina nazionale“ zu dem Rollenwechsel vom Film zur Fotografie – mit gutem Grund: „Ich habe es abgelehnt, mich auszuziehen“, erklärt sie später. Daraufhin hätten die Filmproduzenten sie links liegen lassen. Kein Problem für die selbstbewusste Italienerin, die sich kurzerhand auf ihre andere Passion konzentriert. Sie lichtet Prominente wie Fidel Castro, das brasilianische Fußballidol Pelé, Ronald Reagan, Paul Newman und Salvador Dalí ab. Selbst die deutsche Fußballnationalmannschaft posiert vor ihrer Linse. Lollobrigida im März 1960 Foto: dpa In den 1990er Jahren folgt die dritte Karriere. Lollobrigida kehrt quasi zu ihren Anfängen zurück und nimmt Unterricht bei dem bekannten Bildhauer Giacomo Manzù. Später arbeitet sie häufig in ihrem Atelier in Pietrasanta in der Toskana, stellt Skulpturen in Moskau und Sevilla aus. Nebenbei engagiert sie sich für eine bessere Welt, wird zur Unicef- und FAO-Botschafterin. Zu Gina Lollobrigidas Welterfolgen zählen Filme wie „Fanfan, der Husar“ und „Die Schönen der Nacht“ sowie „Der Glöckner von Notre Dame“, wo sie an der Seite von „Quasimodo“ Anthony Quinn die umschwärmte Esmeralda spielt. Sie dreht an der Seite von Humphrey Bogart, Marcello Mastroianni, Sean Connery, Alec Guinness, Burt Lancaster und Rock Hudson und arbeitet mit Regisseuren wie Howard Hughes und René Clair zusammen. Einen Oscar, den ihre Landsfrauen Sophia Loren und Anna Magnani bekamen, erhält Lollobrigida jedoch nie. Dafür wird sie in Washington von Präsident Eisenhower empfangen und erhält 1985 aus der Hand des französischen Kulturministers das „Offizierskreuz für Kunst und Wissenschaft“. „Ich habe das Recht, in Frieden zu sterben“ „Weniger Glück als andere“ hat sie nach eigenen Angaben „in Herzensangelegenheiten“. 1949 heiratet sie den jugoslawischen Arzt Milko Skofic. Aus der Ehe, die 1971 geschieden wird, geht Sohn Milko Jr. hervor. Anschließend sagt man „Lollo“ zahlreiche Affären etwa mit Milliardär Howard Hughes und dem Politiker Henry Kissinger nach. 2006, mit 79 Jahren, macht sie noch einmal Schlagzeilen, als sie den 34 Jahre jüngeren Javier Rigau heiraten will. Doch dazu kommt es nicht – der Spanier stellt sich als Heiratsschwindler heraus. In ihren letzten Jahren steht erneut ein junger Mann im Fokus, „mein großes Glück“, wie Lollobrigida sagt. Offiziell ist er ihr Assistent und wohnt mit seiner Familie bei der Schauspielerin. Sohn Milko behauptet, der Mann habe die Seniorin manipuliert. Deswegen und als Folge des Eklats um den spanischen Betrüger erwirkt der Sohn, dass seiner Mutter ein Finanzvormund vorgesetzt wurde. Lollobrigida und ihr Anwalt meinen, Milko gehe es nur um das Vermögen der Mutter. „Ich habe das Recht, in Frieden zu leben, aber auch in Frieden zu sterben“, sagt Lollobrigida 2021 in einem TV-Interview. „In meinem Alter sollte ich eigentlich ein bisschen Frieden haben. Aber den habe ich nicht. Ich bin müde. Man sollte mich in Frieden sterben lassen.“
taz. die tageszeitung
Sie war eine der Ikonen aus Hollywoods goldenem Zeitalter. Nun ist die italienische Schauspielerin Gina Lollobrigida im Alter von 95 Jahren gestorben.
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Klage gegen Abstandsregel für Windräder: Gegenwind für Söder - taz.de
Klage gegen Abstandsregel für Windräder: Gegenwind für Söder Zwei SPD-Politikerinnen klagen in Karlsruhe gegen Bayerns 10H-Abstandsregel für Windräder. Ihr Argument: Sie hemme die Energiewende. Für die SPD-Politikerinnen bremse die Söder-Regierung die Windkraft „auf Kosten unserer Kinder“ Foto: Falk Heller/argum/imago MÜNCHEN taz | Wird Markus Söder auf das Thema Windkraft und die umstrittene bayerische 10H-Regel angesprochen, antwortet er gern, der Freistaat sei nun mal für Windkraft nicht so geeignet und dafür sei man doch an anderer Stelle in Sachen erneuerbare Energien ganz vorne mit dabei. Die beiden bayerischen Bundestagskandidatinnen Seija Knorr-Köning und Carolin Wagner von der SPD sehen das etwas anders als der Ministerpräsident und legten deshalb jetzt Verfassungsbeschwerde gegen die Regel ein, wonach Windräder in Bayern zur nächsten Wohnbebauung einen Mindestabstand vom Zehnfachen ihrer Höhe halten müssen. Die Regel war 2014 eingeführt worden. Grundlage für den Gang nach Karlsruhe ist offensichtlich vor allem ein Gutachten, das der Leipziger Umweltrechtsexperte Kurt Faßbender vergangene Woche bei einer Klausurtagung der bayerischen SPD-Landtagsfraktion vorgestellt hat. Darin kommt der Gutachter nach Angaben der Fraktion zu dem Schluss, dass 10H zum einen die Flächenpotenziale für Windkraft um bis zu 97 Prozent einschränke, zum anderen aber auch das Repowering meist verhindere. Repowering bezeichnet den Austausch alter Windkraftanlagen durch neuere, leistungsfähigere. Dies sei nur noch an bis zu einem Prozent der Standorte möglich. Somit sei die 10H-Regel verfassungswidrig, weil sie entgegen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März die Reduktion der Treibhausgasemissionen verhindere. Für die beiden Bundestagskandidatinnen aus München und Regensburg steht fest, dass mit 10H die Energiewende nicht zu schaffen sei. Die Söder-Regierung bremse die Windkraft „auf Kosten unserer Kinder“. Angesichts der angestrebten Klimaneutralität und der Verantwortung für Natur und Umwelt sei die bayerische Regel verfassungswidrig. Im Bayerischen Landtag will die SPD indes einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung der 10H-Regel einbringen. Sollte die Koalition aus Söders CSU und den Freien Wählern, wie zu erwarten ist, den Entwurf ablehnen, prüfe man eine neue Klage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof. Dort war die Regel 2016 bestätigt worden.
Dominik Baur
Zwei SPD-Politikerinnen klagen in Karlsruhe gegen Bayerns 10H-Abstandsregel für Windräder. Ihr Argument: Sie hemme die Energiewende.
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BUSH IN AFGHANISTAN: GUANTÁNAMO LÄSST GRÜSSEN: Ein Blitzbesuch und eine halbe Lüge - taz.de
BUSH IN AFGHANISTAN: GUANTÁNAMO LÄSST GRÜSSEN: Ein Blitzbesuch und eine halbe Lüge Erstmals seit dem Sieg über die Taliban und der US-Invasion vor fünf Jahren besucht George W. Bush Afghanistan. Der US-Präsident verkauft das Land am Hindukusch gern als Modell: im Kampf gegen Terror sowie für eine mögliche Demokratisierung im Orient. Das ist zwar keine glatte Lüge, aber zumindest eine halbe. Denn die eine Hälfte des Demokratie-Modells macht die US-Regierung womöglich gerade selbst vor Ort zunichte. Bush landete auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram, auf dem rund 500 Gefangene rechtlos inhaftiert sind. Die Bedingungen dort sollen sogar schlimmer sein als in Guantánamo. Die USA betreiben ein gefährliches Doppelspiel: Einerseits sind sie der Weltpolizist, unter dessen Führung am Hindukusch der Wiederaufbau stattfindet. Andererseits sind sie in den Augen der Bevölkerung zusehends unpopulär und teilweise verhasst – geschuldet ist das den Gefängnissen wie in Bagram sowie den zahlreichen Übergriffen der US-Truppen bei militärischen Operationen. Berichte aus Guantánamo und dem Irak tun ein Übriges. Die US-Politik gebiert so einen Teil des Widerstands, dem sie durch Verhöre in den Gefängnissen angeblich ein Ende bereiten will. Angesichts der offiziellen US-Interpretation von Freiheit und Recht ist selbst für wohlmeinende Afghanen schwer erkennbar, warum diese Siegermacht ihnen eine Zukunft mit besserer Moral beschert. Bushs Besuch hätte auch dem neuen UN-Sonderbotschafter, den Deutschen Tom Koenigs, die Möglichkeit geboten, ein Zeichen zu setzen. Wenn sich schon die deutsche Kanzlerin gegen das Weiterbestehen von Guantánamo wendet, dann müsste Ähnliches auch für den UN-Repräsentanten in Kabul möglich sein. Daran hängt an Tagen wie dem des Bush-Besuches mehr als nur ein Stück Glaubwürdigkeit des Westens. Bush besucht Afghanistan: Entschuldigt hat er sich – erwartungsgemäß – bei der Bevölkerung nicht. Für die übrigen westlichen Verantwortlichen in Afghanistan gibt es aber so etwas wie eine Pflicht, angesichts der Verfehlungen der US-Regierung nicht weiter zu schweigen. MARTIN GERNER
MARTIN GERNER
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Klimakiller Narkosegas in Krankenhäusern: Schädlich wie sieben Autostunden - taz.de
Klimakiller Narkosegas in Krankenhäusern: Schädlich wie sieben Autostunden Narkosegase schädigen das Klima mehr als reines Kohlendioxid. In Baden-Württemberg werden sie jetzt aus der Abluft von Krankenhäusern gefiltert. Da kommt das Klimagas: Ein Anästhesist gibt einer Patientin eine Vollnarkose vor der Operation Foto: Robert Kneschke/Zoonar/picture alliance KARLSRUHE taz | Was Patienten die Schmerzen nehmen soll, ist fürs Klima ex­trem schädlich. Desfluran, Isofluran und Lachgas versetzen den Patienten in Schlaf und werden danach über die Belüftung ungefiltert in die Atmosphäre geblasen – oft über ein dünnes Rohr auf dem Klinikdach. Dabei sind Narkosegase für bis zu 35 Prozent der Emissionen an einem Krankenhaus verantwortlich. Zu diesen Ergebnissen kommt das Klimaprojekt im Gesundheitswesen „KliK-Green“, das von 2019 bis 2022 Potenziale zum Klimaschutz im Gesundheitswesen identifizieren sollte. Ein zentrales Ergebnis: Bei den Narkosegasen ist das Einsparungspotenzial von Kohlendioxidäquivalenten (CO2) besonders groß. 17 Millionen Narkosen werden im Jahr in Deutschland durchgeführt, viele davon immer noch mit Narkosegasen, die längst nicht immer aufgefangen werden. Denn Narkosegase werden zum größten Teil vom Patienten wieder ausgeatmet, abgesaugt und dann in die Luft abgegeben. So entspricht eine siebenstündige Operation mit dem klimaschädlichsten Narkotikum Desfluran dem CO2-Ausstoß einer siebenstündigen Autofahrt. Um diese Emissionen künftig zu vermeiden, wurden in Kliniken wie in Heidelberg-Salem oder der Charité Berlin Maßnahmen erprobt, die den Ausstoß minimieren. So sollten Anästhesisten, wo immer es medizinisch möglich ist, auf Narkosegase verzichten und sie durch die sogenannte Minimal-Flow-Narkose reduzieren oder intravenöse oder Spinalanästhesie nutzen. BUND fordert Filterpflicht Das Narkosegas Desfluran, das 2.540-mal klimaschädlicher wirkt als CO2, kann heute fast immer ersetzt werden. Entweichendes Gas sollte in Filtern aufgefangen und recycelt werden, empfiehlt KliK. „Wie bei anderem Klinikmüll gilt auch für Narkosegase das Prinzip der primären Vermeidung oder Reduzierung, der Wiederverwendung sowie des Recyclings“, sagt Annegret Dickhoff, Projektleiterin Klimaschutz im Gesundheitswesen. In den praktischen Versuchen konnten damit in den Kliniken große Klimaeffekte erzielt werden. Das erste Bundesland, das aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen zieht, ist Baden-Württemberg. Wissenschaftsministerin Theresia Bauer hat die fünf Unikliniken in Landeshand dazu aufgefordert, Maßnahmen zum Ersatz der klimaschädlichen Narkotika oder zum Filtern und Recyceln zu treffen. „Die Maßnahmen ermöglichen es, sehr kurzfristig und ohne hohe Kosten einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz zu leisten“, sagt die Grünen-Politikerin. Filtergeräte sind günstig. Zusammen mit einer separaten Füllstandsanzeige kosten sie knapp 400 Euro. Baden-Württemberg rechnet für die Umrüstung aller der über 200 Kliniken im Land mit Kosten von etwa 500.000 Euro. „Am Geld soll es nicht scheitern“, sagt die Ministerin. Außerdem will sich Bauer auf Bundesebene dafür stark machen, dass die Erkenntnisse der Studie auch in anderen Bundesländern schnell umgesetzt werden. Ziel soll ein bundesweites Verbot der klimaschädlichen Narkosegase sein, ohne dass Filter zum Einsatz kommen. In Berlin führt der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) gerade mit Robert Habecks Klimaschutzministerium Gespräche, wie die Kliniken bundesweit Narkose-Emissionen einsparen können. „Unser Ziel ist, dass Filter und Vermeidung gesetzlich vorgeschrieben werden“, sagt Annegret Dickhoff vom BUND Berlin. Im ersten Schritt könnte der Filtereinbau zunächst finanziell gefördert und später die Filter in Krankenhäusern mit Operationssaal zur Pflicht werden.
Benno Stieber
Narkosegase schädigen das Klima mehr als reines Kohlendioxid. In Baden-Württemberg werden sie jetzt aus der Abluft von Krankenhäusern gefiltert.
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Niedergang der Niederlande? - taz.de
Niedergang der Niederlande? „In Europa abgehakt“: Hollands Fußballklubs durchleben im internationalen Geschäft eine Zeit der Erfolglosigkeit ROTTERDAM taz ■ Die Reihen haben sich gelichtet: Während noch sieben Bundesliga-Klubs im Uefa-Cup vertreten sind, müssen die so hochgelobten Nachbarn mit zwei Plätzen vorlieb nehmen. Das große Ajax scheiterte an Lausanne, Vitesse Arnheim mit Trainer Ronald Koeman an Inter Mailand, und Rode Kerkrade blieb schon in der ersten Runde auf der Strecke. In der Champions League hatte der SC Heerenveen als Vizemeister keine Chance, und Feyenoord Rotterdam scheiterte ebenso wie der PSV Eindhoven. Beiden blieb nur der Weg in den Uefa-Cup, wo Feyenoord heute auf den VfB Stuttgart trifft, das mit Krassimir Balakow, 34, zu kämpfen hat. Der Mittelfeldspieler erhielt eine Abmahnung und eine Geldstrafe in Höhe von 5.000 Mark, nachdem der Bulgare sich im letzten Bundesligaspiel zu Hause gegen Schalke 04 gegen eine Auswechslung gesträubt hatte. Er gehört heute auch nicht zum Kader des VfB. Das Versagen der holländischen Fußball-Filialen im Ausland – Barcelona, Glasgow Rangers und Juventus Turin – sowie das 0:3-Debakel der Nationalmannschaft gegen Portugal lässt manchen vom Niedergang des niederländischen Fußballs sprechen. Kees Jansma, der Ernst Huberty des niederländischen Fernsehens, unkte schon vor dem Ausscheiden der Oranje-Klubs im Europapokal: „Holland ist in Europa abgehakt.“ Aad de Mos, einst kurzzeitig bei Werder Bremen unter Vertrag, jetzt im belgischen Mechelen tätig, sagt: „Es gibt keine Topspieler bei Feyenoord, keine bei Vitesse und in diesem Augenblick auch nicht bei Ajax und bei PSV Eindhoven.“ Feyenoord hat Kalou und Leonardo, Eindhoven den Dänen Rommedahl (zweifacher Torschütze gegen Deutschland), Ajax den Rumänen Cristian Chivu – allesamt Ausländer. Johan Derksen, Chef des mit einer Auflage von 250.000 mächtigen Fachblatts Voetbal International, mäkelt: „Es wird in den Niederlanden betrüblich schlecht Fußball gespielt. Spieler mit individuellen Dribbelmöglichkeiten sind an den Fingern einer Hand abzuzählen.“ Auch der niederländische Fußball produziert nicht Jahr für Jahr außergewöhnlich begabte Außenstürmer und torhungrige Talente. Selbst der größte Systemfanatiker des holländischen Fußballs, Bondscoach Louis van Gaal, musste zuletzt wegen der Verletzungen von Overmars und Zenden auf die Besetzung der Außenpositionen verzichten. Die Fußballanalytiker des Landes (Johan Cruyff, Wim van Hanegem und Wim Kieft) sehen am ehesten in der Spielweise von Feyenoord Rotterdam, heute im Uefa-Cup Gegner des VfB Stuttgart, die holländische Spielkultur bewahrt. Aad de Mos bringt die Essentials im Rotterdamer Spiel auf den Punkt: „Feyenoord hat mit Bert van Marwijk einen neuen Trainer, der zu einer guten Philosophie überging: dem 4/4/2-System. Er musste für diesen neuen Stil aber Kompromisse hinsichtlich der Außen eingehen.“ Allerdings – so Aad de Mos weiter: „Feyenoord trifft unendlich selten.“ Eine Einschätzung, die Stuttgarts geplagter Coach Ralf Rangnick mit einer gewissen Wonne hören dürfte. EGON BOESTEN
EGON BOESTEN
„In Europa abgehakt“: Hollands Fußballklubs durchleben im internationalen Geschäft eine Zeit der Erfolglosigkeit
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Der Zappelkönig von Bremerhaven - taz.de
Der Zappelkönig von Bremerhaven TANZ-LEGENDE Horst Beer war fast 30 Jahre lang Tanzsporttrainer der TSG Bremerhaven. Seine Mannschaft galt als eine der besten Latein-Formationen der Welt, Aushängeschild der Stadt. Seit 2008 müssen die TänzerInnen nun ohne ihren Meister auskommen Von einem der weltbesten Tanzteams, puppenartigen Mädchen, durchtrainierten Jungs und ihren Preisen, fiel Glitzer auf die Stadt VON GESA KOCH-WESER Es riecht nach einer Mischung aus Puder, Deo und Schuhcreme. Warmes Licht fällt in Streifen und Kästchen auf das helle Parkett der Halle der TSG Bremerhaven. An der Wand hängen große Spiegel. „Samba Samba Hey“ trommelt und dröhnt es aus den Lautsprechern. Rund 20 Schüler und Schülerinnen kreiseln, gleiten, hüpfen über den Boden. Breite Kreuze die Jungs, lange Beine die Mädchen. Ein Minirock kürzer als der andere. Horst Beer zappelt. Fast immer. In der Halle zappelt er ausgeglichen, sympathisch, ruhig. Trifft man ihn jedoch auf der in rot und lila gehaltenen Sitzecke seiner Tanzschule, fliegen seine Hände, die Füße wippen, er spricht schnell. Dann zappelt er distanziert, angespannt, wie ein Schuljunge kurz vor der Pause. Dank Horst Beer durfte die Stadt Bremerhaven einst an derSpitze stehen, Ruhm schnuppern, zur Weltklasse gehören. Er machte die Tanzsportgemeinschaft Bremerhaven zu einer der weltbesten auf dem Gebiet der lateinamerikanischen Tänze. Mittlerweile stehen andere Trainer an seinem Platz – dieses Jahr beginnt die erste Bundesliga-Saison ohne Horst Beer. Fast 30 Jahre lang war Beer Cheftrainer der Latein-Formationen der TSG Bremerhaven – mit seinem Team holte er einen Titel nach dem anderen. Die Truppe wird von 1981 bis 2007 unter seiner Führung sechzehn Mal Deutscher Meister, neun Mal Europa- und elf Mal Weltmeister. Seine Choreographien sind in der Szene bekannt, geliebt, gefürchtet. „Horst ist mit Genialität gesegnet“, sagt sein Schüler Alexander. Er habe ständig neue, kreative Ideen. Beer selbst gibt sich bescheiden: „Ich weiß auch nicht, bei mir kam alles immer ganz einfach aus dem Bauch heraus.“ Horst Beer wird 1958 in Bremerhaven geboren, seine Eltern führen eine Tanzschule. Klar, dass der Sprössling da auch selbst Pirouetten dreht – und nicht nur zum Zeitvertreib: Nach Abitur und Bundeswehr wird er Tanzsporttrainer und Tänzer. Mit seiner Tanzpartnerin und späteren Ehefrau Andrea tanzt er auf Wettbewerben, deutschen Meisterschaften, Weltmeisterschaften. Ganz in schwarz, blond und mit Zahnpastagrinsen sitzt er nach dem Sieg bei der Latein-WM 1985 auf den Schultern zweier Männer, hält freudestrahlend den Pokal in den Händen. Mit 23 Jahren beginnt Beer die Latein-Formationen der TSG zu trainieren und führt den Verein an die Weltspitze. Ein neues Aushängeschild für Bremerhaven. „Die Stadt hat wirklich von unserem Tanzsport und den vielen Fernsehauftritten profitiert. Bremerhaven war damals in aller Munde“, sagt Beer. Von einem der weltbesten Tanzteams, puppenartigen Mädchen, durchtrainierten Jungs und Preisen ohne Ende, rieselte ein wenig Glitzer auf die Industriestadt und ihre Betonklötze, Kräne und Steinhaufen. Nabel der Welt, statt Tor zur Welt. Talente aus ganz Deutschland seien in die TSG gekommen, um mit einem echten Beer zu tanzen, trainieren, triumphieren. Sein Erfolg war ein Magnet, „es war der Traum von vielen, unter mir zu tanzen“, sagt er heute. Horst Beer war immer stolz auf die große Anzahl an „Eigengewächsen“. Die meisten der TänzerInnen kamen aus Bremerhaven und Umgebung – „in einer Stadt, in der es nicht so ein großes Freizeitangebot wie in Berlin, Hamburg oder München gibt, haben die Jugendlichen eben eher Interesse an Sportvereinen“, glaubt Beer. Zudem habe die Stadt den Tanzverein stark unterstützt. Schließlich ist Fußball in Bremerhaven keine große Sache – Trainings- oder Reisekostenzuschüsse gab es also auch für die weniger populären Sportarten. Im Jahr 2008 gibt Beer seinen Rücktritt als Trainer der erfolgreichen A-Formation bekannt. Der Grund dafür könnte simpler nicht sein: „Ich hatte einfach keine Lust mehr“, sagt er und erzählt von ständigem Training, einer Meisterschaft nach der anderen, Druck. „Nach ein paar Jahren hat man von der TSG Bremerhaven immer erwartet, Weltmeister zu werden“, sagt Beer. „Wenn die Mannschaft dann auf einem zweiten oder dritten Platz landete, sprach man gleich von einer großen Niederlage.“ Beer wünscht sich mehr Freizeit, neue Herausforderungen, Abwechslung – und geht. „Die Schüler haben geheult, waren völlig fertig“, sagt er. Die Mannschaft löst sich auf – zu viele waren hauptsächlich da, um von der Tanzgröße Beer trainiert zu werden. Aber der ist jetzt Wertungsrichter, berät Formationen anderer Vereine, ist Landestrainer in Berlin und gibt in der TSG Bremerhaven Einzel- und Gruppentraining für Paare. „Eins, zwei, drei, vier‘n eins, zwei, drei...“ – Beer zählt den Takt. Die ersten vier Knöpfe seines blauschwarzen Hemdes sind offen, eine Silberkette blitzt auf der braunen Brust. Vier Wochen Urlaub hat er gerade hinter sich – im eigenen Ferienhaus in Florida. Auch Beers Tochter Vanessa ist unter seinen Schülerinnen. Sie ist erst 13, tanzt aber schon in der höchsten Jugendklasse. Sohn Moritz hat sich auf Hip-Hop-Tanz spezialisiert. Damit er was macht, wovon Papa keine Ahnung hat. „Eins, zwei, drei, vier ‘n eins, zwei, drei...“ Hoch auf die Spitze. Aufrecht stehen. Kopf nach oben. Dann jeweils ein bis zwei Minuten Samba, Cha-Cha-Cha, Rumba, Paso Doble und Jive. Dazwischen 30 Sekunden Pause. „Ein Tanz ist ungefähr so anstrengend, wie ein 400-Meter-Lauf“, sagt Beer. Auf den letzten Jive hat eigentlich keiner mehr Lust, doch natürlich wird er durchgezogen. Seine SchülerInnen beschreiben Beer als streng, respektvoll und diszipliniert. „Er versucht, uns durch Negatives zu verbessern“, sagt ein Tänzer, dem der Jive-Schweiß von der Nase tropft. Lob gebe es nur in Verbindung mit Kritik. Für Spaß sei Horst aber natürlich auch zu haben. Und: Er kenne alle seine SchülerInnen gut und sieht Dinge, Fehler, die andere Trainer nicht sähen. „Horst ist eine große Respektperson für mich“, sagt der 22-jährige Tänzer Vadim. „Auf Mama höre ich weniger, als auf ihn.“ Unter Michael Albers und Martina Ramrath, den neuen Trainern der TSG Bremerhaven A-Formation sollte sich das Team eigentlich erst einmal vom Druck der letzten Jahre erholen. Doch jetzt rückte die Mannschaft in die erste Bundesliga nach. Die kommende Saison wird stressig – auch ohne Horst Beer.
GESA KOCH-WESER
TANZ-LEGENDE Horst Beer war fast 30 Jahre lang Tanzsporttrainer der TSG Bremerhaven. Seine Mannschaft galt als eine der besten Latein-Formationen der Welt, Aushängeschild der Stadt. Seit 2008 müssen die TänzerInnen nun ohne ihren Meister auskommen
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Arbeiten mit einer Corona-Infektion: Kann man machen, muss man nicht - taz.de
Arbeiten mit einer Corona-Infektion: Kann man machen, muss man nicht Gesundheitsminister Lauterbach hat Corona mit leichten Symptomen. Er leitet sein Ministerium aus dem Homeoffice. Was heißt das für andere Arbeitende? Sollte man mit leichten Symptomen, wie sie Lauterbach nach eigenen Aussagen hat, arbeiten? Foto: dpa Karl Lauterbach hat Corona. Diese Nachricht entlockt sicher manchen ein Schmunzeln, einige seiner Kri­ti­ke­r:in­nen dürften sogar schadenfroh sein: Jetzt hat es die „SPD-Alarmsirene“ auch erwischt – trotz Vierfachimpfung und Vorsichtsmaßnahmen. Was soll dann noch diese ganze Nerverei mit Spritzen, Masken, Isolation und Homeoffice? Hilft ja doch alles nichts, irgendwann werden es alle haben. So jedenfalls lautet seit Monaten der Tenor insbesondere in den sozialen Netzwerken. Die Frage nach der „Durchseuchung“ ist durchaus berechtigt, Omikron ist – das wissen wir dank der „Spaßbremse Lauterbach“ ganz genau – sehr viel ansteckender als die Vorgängervarianten. Dass sich bei aller Vorsicht auch der Gesundheitsminister infiziert, war daher eine Frage der Zeit. Schließlich hat er Kontakte und Treffen, die schon mal länger dauern. Die Zahl derer, die bislang coronafrei geblieben sind, schrumpft von Tag zu Tag. Alle anderen Äußerungen und Ereiferungen zu überzogener Vorsicht jedoch bleiben zynisch angesichts dieser Krankheit, die vermutlich nie komplett beherrschbar sein wird. Und ja, Lauterbach hat Recht, wenn er immer und immer wieder dieses eine Mantra singt: Wie gut, dass es Impfungen gibt, die schützen in den meisten Fällen vor schweren Verläufen und Tod. Aber sollte man mit leichten Symptomen, wie sie Lauterbach nach eigenen Aussagen hat, arbeiten? Es ist nur wenige Wochen her, da lieferten sich diesbezüglich der Gesundheitsminister und der Kassenärztechef Andreas Gassen einen interessanten Schlagabtausch. Gassen plädierte, Infizierte mit leichten oder gar keinen Symptomen sollten ins Büro, ins Pflegeheim, auf die Krankenstation, in die Fabrik gehen. „Dadurch würde die Personalnot vielerorts gelindert“, argumentierte Gassen: „So halten wir es mit anderen Infektionskrankheiten wie der Grippe auch.“ Lauterbach hielt dagegen: „Infizierte müssen zu Hause bleiben.“ Um andere nicht anzustecken und die Pandemie zu strecken. Wer krank ist, muss nicht arbeiten Was auf den ersten Blick anmutet wie ein Widerspruch, in den sich Lauterbach nun begibt – infiziert, aber ohne Krankschreibung -, ist bei genauer Betrachtung keiner. Sondern schlicht die gelebte Konsequenz seiner Mahnungen und Forderungen: Er ist infiziert und isoliert sich. Er hat leichte Symptome und arbeitet weiter – aber eben vom Homeoffice aus und nicht im Ministerium, wo er seine Kol­le­g:in­nen anstecken könnte. Was aber heißt das für andere Arbeitnehmer:innen? Müssen die jetzt auch von zu Hause aus Mails schreiben, telefonieren, an Zoom-Konferenzen teilnehmen, Konzepte schreiben? Nein, müssen sie nicht! Das schreibt das Gesetz vor: Wer krank ist, wer sich krank fühlt, muss nicht arbeiten. Arbeitgeber:innen, die von ihren Mitarbeitenden anderes verlangen, haben schlechte Karten, sollten solche Fälle juristisch verhandelt werden. Etwas anderes ist es, wenn Führungskräfte entscheiden, trotz seichter Symptome zu arbeiten – wohl gemerkt so, dass sie andere nicht gefährden, also isoliert, wo auch immer. Durch die Pandemie, in der digitales Arbeiten in vielen Branchen schon fast zum Normalfall mutierte, ist das in der Regel ohne größeren Verlust an Informationen und Kommunikation möglich. So hält es auch Lauterbach. Was aber, wenn der Chef durch seine Anwesenheit indirekt Druck auf die Mit­ar­bei­te­r:in­nen ausübt? Oder gar ganz klar und deutlich: Wenn ich hier hocke, dann habt Ihr gefälligst auch anzutanzen. Wer seinen Kopf nicht unterm Arm trägt, kann auch arbeiten. So geht es natürlich nicht. Arbeitgeber:innen, die so verfahren, dürften aufgrund des Fachkräftemangels bald keine Leute mehr haben. Diese suchen sich nämlich einen sozialeren Arbeitgeber. Gesundheitsminister Lauterbach ist nicht der Erste und nicht der Einzige in einer Leitungsposition, der sich trotz positivem Testergebnisses weiter seinen Aufgaben widmet. Das ist kein schlechtes Vorbild, sondern zeugt von Verantwortungsbewusstsein und Gewissenhaftigkeit. Es geht um die Sache und nicht um persönliche Befindlichkeiten. Wer sollte da etwas dagegen haben?
Simone Schmollack
Gesundheitsminister Lauterbach hat Corona mit leichten Symptomen. Er leitet sein Ministerium aus dem Homeoffice. Was heißt das für andere Arbeitende?
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Israel will Anlanden verhindern: Gaza-Schiffe liegen in Athen fest - taz.de
Israel will Anlanden verhindern: Gaza-Schiffe liegen in Athen fest Israel hat beschlossen, dass eine Schiffsgruppe mit Ziel Gazastreifen diesen nicht anlaufen darf, die Armee bereitet sich vor. Die Aktivisten wollen dennoch "noch diese Woche losfahren". Eine offensichtlich hochmotivierte Aktivistin. Bild: reuters JERUSALEM dpa/afp | Aktuell ist, wie schon im vergangenen Frühsommer, wieder eine internationale Flotille mit Ziel Gazastreifen unterwegs. Den darf sie aber nicht anlaufen. Das beschloss der nationale Sicherheitsrat Israels bei einer nächtlichen Sitzung, wie die Jerusalem Post auf ihrer Website am Dienstagmorgen berichtete. Israel sei entschlossen, "die Ankunft der Flotille im Gazastreifen zu verhindern, mit so wenig Reibung wie nur möglich mit den Passagieren dieser Schiffe", zitierte das Blatt aus einer Mitteilung aus dem Büro von Regierungschef Benjamin Netanjahu. Die acht bis zehn Schiffe der Flotille lagen unterdessen noch in Athen fest, da sie nach Darstellung der Aktivisten besonders genau kontrolliert wurden. "Wir hoffen, dass dies nur mit dem Wunsch der Behörden zusammenhängt, die Vorschriften einzuhalten", sagte am Montag Vangelis Pissias, griechisches Mitglied des Organisationskomitees. Schiffsschraube und Antriebswelle beschädigt Zudem ist eines der Schiffe im Hafen von Athen schwer beschädigt worden. Unbekannte hätten die Schiffsschraube und die Antriebswelle des griechisch-schwedischen Passagierschiffs am Montagabend abgeschlagen, sagte einer der griechischen Organisatoren der Flotte, Dimitris Plionis und sprach von "Sabotage". Die Aktivisten wollen demnach aber versuchen, das Schiff zu reparieren und wie geplant noch in dieser Woche in See zu stechen. Die Organisatoren riefen internationale Organisationen dazu auf, ihre Schiffe zu kontrollieren, damit klar werde, dass sie nur Hilfsgüter und Medikamente transportierten. An Bord gehen wollen auch Parlamentsabgeordnete aus Frankreich, Norwegen, Schweden und Spanien. Israels Verteidigungsminister forderte die Organisatoren auf, ihre Pläne aufzugeben. Zugleich teilte Barak mit, die Armee mache sich schon bereit, die Flotille am Anlanden zu hindern. "Wir werden sie zunächst warnen, wir werden erklären, wir werden Reibungen möglichst vermeiden, aber letzten Endes kann die Flotille nicht nach Gaza." Israel sagt, Aktivisten hätten Chemikalien dabei Nach israelischen Medienberichten, basierend auf Angaben aus Regierungskreisen, wurden in diesem Jahr einige der Aktivisten mit Chemikalien ausgerüstet, mit denen israelische Soldaten am Entern der Schiffe gehindert werden sollten. Die US-Regierung rief unterdessen alle Seiten zu "Zurückhaltung" auf, um eine Wiederholung der tragischen Vorfälle von 2010 zu vermeiden. Israel habe zwar das Recht, sich gegen Waffenschmuggel zur Wehr zu setzen, sagte Außenamtssprecherin Victoria Nuland am Montag in Washington. Die US-Regierung hoffe aber darauf, "dass es nicht zu der gleichen Situation wie im letzten Jahr kommt". Die Aktion sei "gefährlich" und "provokant". Am 31. Mai des vergangenen Jahres war ein Gaza-Hilfsschiff beim Durchbrechen der israelischen Seeblockade von Soldaten gestürmt worden. Bei der Aktion waren neun türkische Aktivisten getötet worden.
taz. die tageszeitung
Israel hat beschlossen, dass eine Schiffsgruppe mit Ziel Gazastreifen diesen nicht anlaufen darf, die Armee bereitet sich vor. Die Aktivisten wollen dennoch "noch diese Woche losfahren".
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Die Wahrheit: Liebe Satanistenjäger … - taz.de
Die Wahrheit: Liebe Satanistenjäger … Wegen Anschläge auf die Museumsinsel und Wutkoch: Offener Brief an die Attentäter auf den angeblichen „Thron des Satans“ in Berlin. Jäger des verlorenen Satans Foto: Reuters … mit großem Bedauern haben wir erfahrenen Satanbeobachter in der Wahrheit-Redaktion euren Angriff auf antike Artefakte in Berliner Museen zur Kenntnis genommen. Offensichtlich hat euch ein Aufruf des Kochs Attila Hildmann dazu motiviert. Der Veganist glaubt zu wissen, dass der Eingang zur Hölle sich auf der Berliner Museumsinsel befindet – genau gegenüber der Privatwohnung der Bundeskanzlerin und, so Hildmann, „Stasi-Satanistin“ Angela Merkel. Dabei bezieht sich der Glaubensmann auf die Bibel, in der ein gewisser Johannes eine Offenbarung hat: „Ich weiß, wo du wohnst, nämlich da, wo der Thron des Satans ist.“ Dieser Herrscherstuhl soll der weltberühmte Pergamonaltar sein. Verehrte Satanistenjäger, ihr seid arglistig getäuscht und irregeleitet worden. Mag sein, dass der Geisterfreund Attila Hildmann sich an „John Sinclair“-Heftchen geschult hat, ein großer Textanalytiker wird er nie werden. Denn der „Thron des Satans“ und sein wahrer Standort sind längst identifiziert. Er ist zwar tatsächlich in Berlin, aber nicht auf der Museumsinsel. Ihr, hochgelehrte Satanistenjäger, werdet wahrscheinlich die der Aufklärung zutiefst verpflichtete Wahrheit-Seite noch nie gelesen haben. Aber der Autor dieser Zeilen hat hier schon öfter berichtet, wo genau der Eingang zur Hölle einst angesiedelt war und wo er sich heute befindet. Anfang der achtziger Jahre nämlich zog eben jener Autor in eine Wohngemeinschaft ein im Berliner Bezirk Schöneberg, Belziger Straße 1. Ein Haus mit zwei Bordellen und einer „Erosbar“ im Erdgeschoss. Oben unterm Dach aber hatte sich eine mehrköpfige bohemienartige Gemeinschaft aus Germanistik-, Kunst- und Theaterwissenschafts-Studierenden zusammengefunden, die neben allerlei körperlichen Interaktionen auch ein Dechiffrier-Kollektiv bildete und ihre ausgeklügelten Textinterpretationen auf alle praktischen Umstände des Lebens übertrug. WG des Grauens Da die Wohngemeinschaft nur eine Toilette hatte, entwickelte sich ein elaborierter Code zum Verständnis der natürlichen Vorgänge. Hatte jemand seine Notdurft verrichtet, hinterließ er nach dem ikonischen Titel des Romans von H. P. Lovecraft „Berge des Wahnsinns“. Der Lokus selbst aber wurde von den erstaunlich bibelgeschulten jungen Lesekräften mit Bezug auf die Johannes-Offenbarung als „Thron des Satans“ bezeichnet. Beides ergab sich aus den olfaktorischen Sinneseindrücken, die in ihrer ätzenden Ausformung direkt auf den Fürsten der Finsternis und seinen schon bei Goethe faustdick dampfenden Auftritt verwiesen. Deshalb, werte Satanistenjäger unserer Tage, unterlasst bitte alle Angriffe auf das Pergamonmuseum wie auch auf ähnliche Kunststätten. Und versucht es auch nicht in der Belziger Straße in Berlin-Schöneberg. Der Eingang zur Hölle dort ist längst geschlossen. Der wahre „Thron des Satans“ befindet sich nämlich an einer ganz anderen Stelle: im Oberstübchen von Attila Hildmann. Da müsste dringend mal gelüftet werden. Die Wahrheit auf taz.de
Michael Ringel
Wegen Anschläge auf die Museumsinsel und Wutkoch: Offener Brief an die Attentäter auf den angeblichen „Thron des Satans“ in Berlin.
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Indientrip zum Ortstarif - taz.de
Indientrip zum Ortstarif Via Internet gerät eine Reise nach Agra realistischer als im Luxuszug mit ausgesuchtem Besichtigungsprogramm. Vorteil: Man muß keine Mitreisenden kennenlernen. Das Tadsch Mahal scheint auch vor Ort so virtuell, daß man nicht hinzufahren braucht  ■ Von Niklaus Habluetzel Jeden Mittwoch um 19.30 Uhr Ortszeit fährt in den Monaten Oktober bis April am Bahnhof von Delhi-Cantonement ein Zug ab, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Jeder seiner 14 Waggons trägt den Namen eines indischen Fürsten. Die Türschlösser glänzen golden. Nur wenige Reisende steigen ein. Er ist eine touristische Attraktion, „ein Palast auf Rädern“, wie die Reiseveranstalter nicht nur im gedruckten Prospekt sagen, sondern ebenso im Internet auf der Website unter der Adresse www.destination-asien.de/ palace/index.htp. „Majestätisch setzt er sich in Bewegung“, heißt es dort. Es ist ein moderner Zug, seine Wagen sind klimatisiert, nur ihre Innenausstattung ist britisch-kolonial. Sie enthalten jeweils vier Abteile mit zwei Betten, einer Toilette und einer Dusche mit warmem und kaltem Wasser. Mahagoni, Elfenbein und Goldgelb herrschen vor, zumindest was die Farbtöne betrifft, ein Kammerdiener gehört ebenfalls dazu – wenn auch nicht für jedes Abteil, so doch wenigstens für jeden Waggon. Zuwenig zwar für die Maharadschas, von denen der Veranstalter in seiner Werbung spricht, ein Luxus für gehobene Angestellte aber schon. Acht Tage lang rollen sie kreuz und quer durch den Bundesstaat Radschasthan und wieder zurück nach Agra zum Tadsch Mahal. Zwischen 3.359 und 5.995 Mark pro Person kostet sie dieser Ausflug. Im Internet kostet er gar nichts, von den Telefongebühren abgesehen, allerdings bewegt sich der Palast dann nicht auf Rädern fort, sondern mit Hilfe von Querverweisen von einem digitalen Dokument zum anderen. Für jede Station und jeden Tag haben die Reiseveranstalter eine Seite reserviert. Sie kann mit einem Mausklick geöffnet werden und enthält Bilder und Beschreibungen der Landschaft und der historischen Sehenswürdigkeiten. Sie sind das Drehbuch einer Traumreise, und der Zug selbst ist ein Prototyp dieses neuen, digitalisierten Tourismus. „Seine gemächliche Reisegeschwindigkeit gewährt Ihnen den vollen Genuß der wechselnden Landschaftsbilder“, heißt es auf der Website. So reisen die Flaneure der Informationsgesellschaft am liebsten. Sie lassen sich Zeit, und sie haben auch sehr viel mehr Zeit, als etwa Paul Virilio meint, der davon überzeugt ist, daß wir uns in modernen Gesellschaften immer schneller bewegen müssen. Er hat nur recht, wenn er an die Geschäftsleute denkt, an Börsendaten oder auch an Flugzeuge wie die Concorde oder an Eisenbahnzüge wie den TGV und den ICE. Das Internet jedoch ist ein Bummelzug. Gerade die Geschäftsleute klagen darüber, daß auch sie geduldig vor dem Computerbildschirm sitzen und warten müssen, bis ein Bild aufgebaut oder ein Text geladen ist. Nicht die Geschwindigkeit, sondern zwei ganz andere Metaphern haben sich deswegen eingebürgert, wenn vom Internet die Rede ist: die Metapher des Cyberspace und die Metapher des Surfens. Der Ritt auf den Wellen, eine etwas unernste Sportart, paßt viel besser zu dem virtuellen Raum, der entsteht, wenn ein paar Millionen Computer miteinander verbunden sind. Surfen ist kein Kampf um Rekorde, sondern eine Art Reisen, das auf der Stelle tritt. Allein von Wind und Wellen getrieben, lassen sich Ziele nur ungenau ansteuern und bloß vorübergehend erreichen. Surfer kommen nie an, es sei denn am eigenen Strand. Nun ist der Cyberspace zwar nur durch die Zahl seiner Computerknoten begrenzt, daher größer als ein Sandstreifen am Wasser. Aber auch er kennt keine festen Ankunftsziele. Jeder Surftrip beginnt und endet am eigenen Computer. Unterwegs jedoch kann er sehr wohl eine Reise werden in eben jenem Sinne des Wortes, in dem noch Goethe nach Italien reiste. Sein Ziel war das Land, in dem die Zitronen blühen, wie er später ein bißchen säuerlich dichten wird. Als er sie antrat, war seine Reise eine Bewußtseinserweiterung. Sie hat ihn nicht nur nach Rom, sondern zuerst zu einer idealen Erhöhung der eigenen Person geführt: „Auch ich nach Arkadien“. Sie war ein Surftrip. Kein Arkadien diesmal, sondern Jaipur. „Die rosarote Stadt gehört sicherlich zu den schönsten Städten Indiens“, belehrt die Website des zweiten Reisetages. „Nach dem Frühstück“ besichtige ich den „Stadtpalast mit einer eindrucksvollen Sammlung von Möbeln, Schmuck, Gewändern und Waffen aus der Glanzzeit der Rajputenherrscher“. Dann „verblüfft mich noch heute durch die Präzision seiner Anlagen“ das Jantar Mantar, „ein Sternenobservatorium aus dem 18. Jahrhundert“. Kaum habe ich mich davon erholt, kommt „das Schmuckstück Jaipurs“ vorbei, „der Palast der Winde, Hawa Mahal, ein verspielter, fünfstöckiger Phantasiebau“. Ich speise im Palast des Maharadschas und reite nachmittags auf einem Elefanten durch die Festung Amber, „12 Kilometer entfernt“. Kaum vorstellbar, das alles in wenigen Stunden durchstehen zu müssen. Ich beginne diesen Zug zu hassen. Kein Maharadscha hätte sich das jemals gefallen lassen. Nichts ist echt daran, alles ist nur die Simulation einer touristisch verklärten Vergangenheit. Aber im Computernetz wird sie ein zweites Mal gespiegelt. Das macht sie erträglicher. Dieser Zug ist ein Geschäft mit Kunden, die gerne betrogen werden wollen. Er fährt sie in ein imaginäres Indien, auf seiner eigenen Website wird er jetzt zur Strafe selber irreal. Schon am ersten Abend sollte ich meine Mitreisenden kennenlernen, drohte mir der Reiseveranstalter in seinem Online-Text. Nur das nicht. Ich stelle mir einen Buchhalter, einen Abteilungsleiter mit Gattin, eine Chefsekretärin und Hercule Poirot vor, der bitte den Massenmord aufklären soll, den ich begehe. Weg mit ihnen. Ich reise alleine. Die Nacht bricht herein, die Dampflock schnaubt durch Radschasthan, das Reich der Wüstenkönige. Ein stolzes Geschlecht, lese ich, dessen Frauen sich lieber selber verbrannten, als sich den mogulischen Eroberern hinzugeben. Ich klicke auf die Übersichtskarte des Bundesstaates und dann auf einen Reisebericht, den mir die Webmaster zum Einschlafen hingelegt haben. Erstaunlich, daß der Mann alles ganz genau so gesehen hat, wie es im Prospekt beschrieben ist. „Schrecklicher Verdacht“, notiere ich im Tagebuch, „niemand reist mehr wirklich.“ Unsinn, das erst ist Tourismus in Vollendung. „Am frühen Morgen“ des dritten Tages erreiche ich Chittaurgarh, „berühmt durch sein imposantes Wüstenfort“, das ich „nach dem Frühstück besichtigen werde“: „Die Stadtgeschichte ist geprägt durch die Kämpfe zwischen Rajputenfürsten und den Mogul-Herrschern.“ Danach soll es mit dem Bus (warum das?) nach Udaipur gehen, der „Stadt der aufgehenden Sonne, dem Venedig des Ostens“ und insgesamt einem der „romantischsten Flecken Erde in ganz Indien“. Wieder ein Frühstück, dann ein Mittagessen im Palast des Maharadschas von Udai- Sing, eine Bootsfahrt und dann die Sahelion-Ki-Bari Gärten, in denen Fritz Lang seinen „Tiger von Eschnapur“ gedreht hat. Es war nicht sein bester Film, und wieder frage ich mich, in welch barbarischen Zeiten Reisende durch einen solchen Wust von Geschichte gejagt werden, die sie niemals verstehen können, so müde und überfressen, wie sie sind. Das Internet ist eine Oase, ich klicke den ganzen Palast auf Rädern weg und beginne in aller Ruhe Indien zu suchen. Die Reiseleitung selbst hat einige brauchbare Links zusammengestellt, noch reichhaltiger erweist sich die Adresse www.123india. com, eine Übersichtsseite für Online-Informationen aus Indien aller Art. Der Zug kann warten, das Surfen im freien Raum beginnt, das eben, was die digitalen Touristen den analogen voraus haben, die auf wunden Füßen und durch Baudenkmäler und Nationalparks laufen. Ich lese zuerst über „historische Aspekte des indischen Handwerks“. Ich mache es mir bequem. „Auch wenn in Indien lange Zeit die höfische Kultur der Mogulen vorherrschte, unterhielt der Subkontinent doch stets rege Beziehungen zur Außenwelt...“ Surfer probieren aus, wie weit sie eine Welle trägt. Diese hier hält eine ganze Weile vor, ich lese über Textilien, über Juweliere, über Eisen- und Goldschmiede. Dann erst wird mir bewußt, daß ich mitten in eine ganz andere Reise geraten bin, nämlich in das Projekt der „South Asian History“. Das ist kein Buch für die Bibliothek. Es ist ein Buch der neuen Zeit. Es existiert nur im Internet. Deshalb kommt es nur sehr langsam voran, erst vier Kapitel sind fertig geworden, außer dem Handwerk noch die Kolonialzeit, die ostindischen Handelsgesellschaften und der Aufstand von 1857. Fast nichts weiß ich selbst von diesen wenigen Teilen einer Riesengeschichte. Ich notiere die Adresse: members.tripod.com/INDIA_RESOURCE. Das nun ist keine Strandwelle mehr, das ist ein Sturzbach. Außer der South Asian History bietet sich die „South Asian Voice“ zum kritischen Studium der Gegenwart an, auch der touristischen, dazu weitere Übersichtsseiten mit vielen Hunderten von neuen Adressen. Ein Kontinent zeichnet sich ab, bewohnt von Gelehrten, von Gläubigen, von Künstlern, Intellektuellen, Politikern und Geschäftsleuten. Sie beschreiben ein Indien, daß mir schwindlig wird. Am vierten Tag erreiche ich nach einem „zeitigen Frühstück“ Ranthambor, ein Eisenbahnknotenpunkt mit Wildpark, am fünften Jaisalmar an der pakistanischen Grenze, am sechsten Jodhpur mit künstlichen Seen in der Wüste. Angeklickt, angeschaut, abgehakt, wie jeder andere Tourist habe ich gelernt, das offizielle Reiseprogramm zu rationalisieren. Plötzlich ist viel Zeit übrig für die anderen Seiten des digitalen Indien. Ein Schock ist die Musik. Eine amerikanischer Universitätsserver enthält eine Sammlung klassischer Ragas. Sie sind in Reihen von Zahlen und Buchstaben notiert, die unmittelbar in einen Computercode übersetzbar scheinen. Kann es sein, daß meine moderne Reisemaschine so tief in einer großen Tradition verwurzelt ist? Mystische Zahlen hier wie dort, der Luxuszug beginnt sich aufzulösen. Sein Reiseweg ist nur ein vorläufiges Gerüst für weitere Reisen, die an jedem seiner Haltepunkte beginnen. Die Fülle der Quellen und Informationen kann auch anders geordnet werden, vielleicht im Sinne der Ragas, vielleicht als Tanz des Shiva, über den eine andere amerikanischen Universität gerade eine Sonderausstellung organisiert. Endlich, am späten Abend des siebten Tages, erreicht der Zug Agra. Das übliche Bild des Tadsch Mahal zeigt ein Gebäude von solcher Schönheit, daß die Wirklichkeit kaum noch vermißt werden kann, die ihm hier fehlt, weil es nur ein Bild im Computer ist. Die Fahrt im Palast auf Rädern führt ja sogar die Reisenden, die in der Wirklichkeit dafür bezahlen, nicht in die Wirklichkeit Indiens, die weit eher im digitalen Netz erkennbar wird. Warum also muß ausgerechnet das Tadsch Mahal wirklicher sein als sein Abbild? Man hat ihn eine „Elegie“ genannt, und tatsächlich scheint er über dem Wasser zu schweben. Aus dem Internet betrachtet, ist er ein rein virtuelles Gebäude, und vielleicht haben die indischen Mathematiker und Baumeister ihn von Anfang an als virtuelles Gebäude entworfen, als steinerne Illusion. Wenn das wahr ist, hat die digitale Reise nach Agra ihr Ziel besser erreicht als jede andere.
Niklaus Hablützel
Via Internet gerät eine Reise nach Agra realistischer als im Luxuszug mit ausgesuchtem Besichtigungsprogramm. Vorteil: Man muß keine Mitreisenden kennenlernen. Das Tadsch Mahal scheint auch vor Ort so virtuell, daß man nicht hinzufahren braucht  ■ Von Niklaus Habluetzel
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„Das war eine Schule der Demokratie“ - taz.de
„Das war eine Schule der Demokratie“ AUFSTANDSFORSCHUNG Seit langem verfolgt der Soziologe Amir Sheikhzadegan den politischen Diskurs im Iran. Ein Gespräch über die „grüne“ Protestbewegung, die Rolle der Frauen und den Kampf um den Begriff der Nation Amir Sheikhzadegan■ gebürtiger Teheraner, studierte Soziologie und Ethnologie an der Universität Teheran, bevor er 1986 in die Schweiz ging. In Zürich promovierte er mit einer vergleichenden Arbeit über die Machtergreifung des politischen Islam in Iran und Algerien. Heute lehrt er dort am Soziologischen Institut der Universität und verfolgt in einer Langzeitanalyse den sozialen Wandel und politischen Diskurs im Iran. Sheikhzadegan ist es gelungen, sich durch institutionelle Kontakte und regelmäßige Feldforschung einen teilnehmenden Beobachtungszugang zur gesellschaftlichen Realität seiner Heimat zu bewahren. INTERVIEW ALESSANDRO TOPA taz: Wie haben Sie die letzten Wochen erlebt, Herr Sheikhzadegan?Amir Sheikhzadegan: Ich bin sehr unruhig. Es war eine Mischung aus Hoffnung, Freude, Trauer und Angst. Nun hat die Phase der Geständnisse begonnen: Inhaftierte Journalisten, Politiker und Demonstranten werden gezwungen, auszusagen, im Auftrag des Auslands auf eine samtene Revolution hingewirkt zu haben. So externalisiert man das Problem. Das unschuldige Volk wurde vom Feind in die Irre geführt, lautet die Botschaft. In Europa war man überrascht über die Stärke der Proteste. Wie kam es zu diesem demokratischen Bewusstsein und Willen, der sich hier Ausdruck verschafft? Wichtig ist die historische Entkopplung von Antiimperialismus und Kampf für die Demokratie. In der Ideologie der Revolutionäre waren das zwei untrennbare Anliegen. Selbst unter Mossadegh, dem wohl liberalsten iranischen Führer des 20. Jahrhunderts, gab es einen starken antiimperialistischen Impetus. Mit der politischen Öffnung unter Chatami konnte man jedoch sehen, dass die Bevölkerung kein Interesse mehr am Antiimperialismus hatte. Weshalb? Weil der Iran nicht mehr abhängig von den USA oder irgendeiner anderen Großmacht war. Inzwischen hat sich die Demokratiebewegung vollständig vom Antiimperialismus emanzipiert. Welche weiteren Formen des Wandels sind grundlegend, um die aktuelle Entwicklung besser zu verstehen? Vor und nach der Revolution wurde die Demokratiebewegung von nationalliberalen Politikern, Intellektuellen und Geistlichen wie Mehdi Bazargan, Ali Shariati und Ajatollah Taleghani angeführt. Auch Chatami ist als Führer ein typischer Intellektueller gewesen. Was wir jetzt sehen, ist hingegen eine dezentrale Graswurzelbewegung. Die beginnt nicht mit Kant und Voltaire, sondern mit dem Alltag. Man sagt: Es wäre ein Schritt zur Demokratie, wenn meine Stimme zählte. Es wäre ein wichtiger Schritt, wenn ich mich äußern könnte, ohne Repressionen zu erleiden. Früher hat man philosophische Debatten über die Verfassung, die Gewaltenteilung oder die Rolle des Parlaments geführt, was für viele Menschen in Iran letztlich abstrakte Dinge sind. Das hatte die Frauenbewegung mit ihrer 1-Millionen-Unterschriften-Kampagne bereits vorgemacht, oder? Die Demokratiebewegung war bislang ein urbanes Phänomen, getragen von der oberen Mittelschicht und Intellektuellen, einschließlich mancher Basaris. Heute jedoch diskutiert man über Bürgerrechte auch in den Dörfern. Ich höre immer wieder Kollegen, die im Süden oder Osten des Landes studieren oder lehren. Alle klagen sie über die mangelnden Bürgerrechte. Wie sehr haben die Erfahrungen der Reformbewegung, die 1997 um Chatami entstand, die aktuelle Protestbewegung beeinflußt? Unter Chatami entstand eine dynamische Pressevielfalt. Diese diente als Plattform für eine breite Diskussion zivilgesellschaftlicher Fragen: von der Kritik juristischer Willkür über die Rezeption anspruchsvoller Theorien der Demokratie bis hin zu Reflexionen über die gesellschaftliche Rolle der Kunst. Dies hat das politische Bewusstsein der Iraner sensibilisiert. Und man begann aufmerksam zu beobachten, wie das Regime mit der politischen Öffnung umgeht. Man hat Unterdrückungsmaßnahmen aufgedeckt und studiert. Das Volk hat etwa anlässlich der „Kettenmorde“ an Intellektuellen oder bei dem Schauprozess gegen den Teheraner Bürgermeister Karbastschi hinter die religiöse Fassade des Systems geblickt. Das hat die politische Umsicht der Bevölkerung geprägt, es war wie eine Schule der Demokratisierung! Für die heutige Protestbewegung, meinen Sie? Ja. Das Vorgehen der Bewegung um Mussawi und Karrubi zieht die Lehren aus den Erfahrungen der ersten Reformbewegung: Da ist die Friedlichkeit der Demonstrationen, die Betonung islamischer Überzeugungen, etwa mit den „Allahu akbar“-Rufen. Sie stellen realistische, geradezu bescheidene Forderungen, die sich im Einklang mit dem Gesetz befinden. Zudem hat man aus der Geschichte der irakischen und afghanischen Nation gelernt. Man hat gesehen, wie gefährlich Machtvakuen und Regimeumstürze sind. Sie sehen also eine starke Kontinuität von alter zu neuer Bewegung? Das ist dieselbe Bewegung, bloß realistischer und versierter. Es sind keine neuen Themen hinzugekommen, aber man formuliert sie klarer und verständlicher. Welche weiteren Aspekte sind für sie aktuell bemerkenswert? Die Rolle der Frauen! Die Islamisten haben die Iranerinnen ausgenützt, um zur Macht zu gelangen. Diese kämpfen seit dreißig Jahren unermüdlich um ihre Besserstellung, die sie sich ursprünglich von der Revolution erhofften. Heute haben wir gemäß der Zensuszahlen von 2007 immerhin 52 Prozent weibliche Studierende; Frauen sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen aktiv, sogar im Parlament und in führenden Positionen der Wirtschaft. Das ist langfristig ein hochsignifikanter Trend, zumal ja auch innerhalb religiöser Kreise ein „islamischer Feminismus“ entstanden ist. Bei den Schweigemärschen in Teheran konnte man auch verschleierte Frauen sehen. Menschen aus allen Schichten und Altersklassen nahmen teil. Wie beurteilen sie das? Das war ein nationaler Aufstand. Ich glaube auch nicht, dass die unteren Schichten und die Leute auf dem Land vorwiegend für Ahmadinedschad sind. Ich stamme aus dem Süden Teherans und weiß, dass es in allen Schichten Anhänger Mussawis gibt. Man möchte einen Wandel hin zu größerer politischer Partizipation – das ist ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Was ist nun zu erwarten? Etwa ein Comeback des kritischen und oppositionellen Klerus um die Ajatollahs Montazeri oder Sanei? Es gibt zu viele Variablen, um vorauszusagen, was geschehen wird. Aber ich glaube nicht, dass wir ein Comeback des Klerus sehen werden. Das schiitische Taqlid-System, gemäß dem jeder Gläubige in seinem Handeln einem Großajatollah als „Quelle der Nachahmung“ folgt, spielt nicht mehr die Rolle wie einst. Die Geistlichen entwickeln sich im Iran heute von spirituellen Führern hin zu Islamwissenschaftlern. Der Klerus hat allerdings genug Einfluss, um der zunehmenden Militarisierung der politischen Strukturen entgegenzuwirken. Um die Machtkonstellation in Iran zu modellieren, hört man oft vom Kampf zweier ökonomischer Systeme. Da seien zum einen die Revolutionswächter, die große Teile der Importe kontrollieren, mit Konzernen wie Khatam al-Anbia Wirtschaftsimperien errichten und deren Gesicht Ahmadinedschad ist. Und zum anderen sei da die alte Verbindung zwischen Klerus und Basar-Ökonomie, deren Gallionsfigur der Pistazien-Milliardär und Vorsitzende des Expertenrats Haschemi Rafsandschani ist. Glauben Sie, dass im Iran ein interner Wirtschaftskrieg tobt? Das wäre viel zu pauschal geurteilt. Ahmadinedschad hat auch im Basar wichtige Akteure auf seiner Seite, wo er von der Hejat-e Mo’taleffe, einer Nachfolgeorganisation der radikalislamischen Fedajan-e Eslam, unterstützt wird. Diese Gruppe kontrolliert den Import von Eisen, Tee und vielen strategischen Gütern. Wie beurteilen Sie den immer lauter werdenden Nationalismus Ahmadinedschads? Nach der Wahl sagte er, man könne den Begriff der Zivilisation nicht definieren, ohne das Wort Iran zu verwenden. Der Nationalismus ist eine der Gemeinsamkeiten zwischen Reformern und Fundamentalisten. Aber der Nationalismus der Fundamentalisten ist ein Mittel zum Zweck, während er bei den Reformern einem Ziel dient. Der Nationalismus der Reformer meint primär die Wahrung der Interessen der Bevölkerung und Selbstbestimmung. Für die Fundamentalisten hingegen sind Nation und Staat fast identisch und Nationalismus bloß ein Mittel, um Machtstrukturen zu verankern. Eine ganz ähnliche Rolle spielte die Ideologie der islamischen Internationalen zu Beginn der Revolution. Heute ist man wohl der Auffassung, dass man die Menschen besser mithilfe ihres Nationalstolzes an das System binden kann.
ALESSANDRO TOPA
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Tee für alle Fälle - taz.de
Tee für alle Fälle GROSSHANDEL Ein „Tea-Taster“ bei Dethlefsen & Balk muss nicht nur Qualitäten und Aromen erkennen können, sondern auch den Geschmack seiner Kunden treffen. Die Sensibilisierung verfolgt manche bis in den Alltag. Im Geschäft blieb die 1836 gegründete Firma, weil sie auch Zubehör anbietet Zehn Tassen mit Teeproben aus derselben Ernteperiode werden hintereinander im Spurt weggeschlürft – so fallen Unterschiede sofort auf die Zunge VON E. F. KAEDING Tee sei wie Musik, sagt Jens Meier, Geschäftsführer von Dethlefsen & Balk. Für jede Gemütslage gebe es eine Geschmacksmischung. Eine Aussage die augenscheinlich Sinn ergibt, wirft man einen Blick in den Katalog des Unternehmens. Dort finden sich über 450 Teesorten. Im Tresor der Firma lagern Tausende unterschiedliche Rezepturen. Man kann sich vorstellen, dass diese Vielfalt aus dem Jahrhunderte alten Aufgussgetränk einen Retter in allen Lebenslagen macht. „Göttlich!“, ließe sich aufseufzen. Oder einfach „T`sa!“ respektive „Cha!“ – göttlich, so nämlich heißt in China, dem Ursprungsland des Getränks, der Tee. Und so weht auch dessen süßliches Aroma gottgleich bereits Hunderte Meter entfernt durch die Straßen des Gewerbestandortes im südlichen Hamburg, dem Sitz von Dethlefsen & Balk. Betritt man die Zentrale des Großhändlers, ist das Aroma der Gegenwart jedoch verschwunden. Der Geschichte wird zunächst Vorfahrt gewährt. Das D & B-Foyer besticht mit Kolonialpatina. Eingetopfte Palmen flankieren eine edle Ledergarnitur. An der dunklen Holzwand dahinter thront eine schwarz-weiße Bildergalerie. Die Gründer alle. Das heutige Treiben in der Firma betrachten die Urväter mit stoischer Ruhe. Dethlefsen & Balk ist, was man gemeinhin als Traditionsunternehmen bezeichnet. Eine dieser alten und langsam gewachsenen Firmen aus der Handelsvergangenheit der Hansestadt. 1836 gründet Gustav Balck, damals noch mit „ck“ geschrieben, in der Altstadt einen Importhandel für „Allerlei Gewürze und Thee“. Sein Sohn verschlankt das Geschäft. Er gibt das Gewürzgeschäft auf, nimmt den Kaufmann Amandus Dethlefsen an Bord und konzentriert die Firma fortan ausschließlich auf den Import von chinesischem Tee. Um die Jahrhundertwende übernehmen Gesellschafter das Unternehmen, die 1970 eine wesentliche Veränderung einleiten. Die Firma nimmt Teezubehör ins Sortiment auf: Keramikkannen, Porzellantassen, Becher und Samoware. Vollsortimentierer Ein zu der Zeit ungewöhnlicher Schritt, erklärt Meier, weil die damaligen typischen kleinen Branchen-Läden außer Tee tatsächlich weiter nichts anboten. Tee galt als Nischen- und Puristenprodukt. Für Dethlefsen & Balk hat sich die gewagte Erneuerung zum sogenannten „Vollsortimentierer“ ausgezahlt. Heute sind sie im Zubehörbereich europäischer Marktführer. Ohne diese Expansion der Produktpalette wäre es deutlich schwerer gewesen, das Unternehmen erfolgreich ins 21. Jahrhundert zu führen. 2004 nahm Dethlefsen & Balk deshalb zusätzlich Premium-Kaffee und Süßwaren in sein Sortiment auf. Die Firma zählt nunmehr mehr als 4.000 Kunden weltweit. Sie hat ihre Tradition durch ständige Veränderung bewahren können. Doch jede Veränderung wäre zwecklos gewesen ohne die Arbeit der „Zungen“ im Kerngeschäft des Unternehmens. Im Herz der Teeproduktion Thomas Dienemann ist eine dieser „Zungen“ und seit mehr als zwanzig Jahren bei Dethlefsen & Balk tätig. Als Tea-Taster schmeckt und riecht sich der 57-Jährige durch literweise schwarzen und grünen Tee in der Abteilung für „orthodoxe“ Produkte. Seine Kollegen einen Raum weiter prüfen aromatisierte Sorten wie Kräuter- und Früchtetee. Für den Tea-Taster Dienemann gelten zwei Kriterien: Qualität und Geschmack. Er befährt auf Teetouren die Anbauländer China, Japan, Indien und Kenia. Wieder zurück prüft er die Proben in einem mit Tageslicht beleuchteten Labor auf ihre Qualitätsmerkmale: zunächst das trockenen Blatt – die Farbe, Struktur, Elastizität und den Geruch. Dann geht es an die „Infusion“, wenn also das Blatt aufgegossen wird. Das Aroma muss charakteristisch für die Herkunft sein und soll keinen Fremdgeruch durch die Lagerung oder den Transport aufweisen. Erst danach geht es an das Verkosten. Immer dabei das „Geschirr“ des Tasters: Über den silbernen Löffel den aufgebrühten Tee mit „möglichst hoher Geschwindigkeit einziehen und gegen den Gaumen schlagen lassen“, erklärt Dienemann. Nur so schmecke man die ganzen Nuancen heraus. Denn ähnlich wie bei der Weinprobe wird durch diese Vorgehensweise die Flüssigkeit mit Luft angereichert und der Tee verteilt sich weitreichend im Mund. „Aber nichts in die Seitentaschen reinlaufen lassen!“, warnt er. Da gibt es nämlich nichts zu schmecken. Fischig und fleischig Zehn Tassen mit Teeproben aus derselben Ernteperiode werden hintereinander im Spurt weggeschlürft – so fallen Unterschiede sofort auf die Zunge. Geprüft werden neben dem Geschmack ebenso der Duft und der Glanz der Blätter. Der Novize behilft sich bei der Beschreibung des Aromas mit Adjektiven wie mild, herb oder süffig, mitunter sogar malzig. Oder schlicht „nach Pferdestall“ schmeckend. Dienemann korrigiert: „Rauchig! Der Tee wurde über Pinienholz geräuchert.“ Sein Fachvokabular ähnelt dem eines Sommeliers: blumig, grasig, harsch, spinatig, fleischig. Oder algig, weil der Grüne Sencha Fuji einen hohen Anteil Aminosäuren aufweist und so einen etwas „fischigen“ Geschmack anbietet. Bei „Clonal“-Charakter ist man im Premiumbereich angelangt, sowohl geschmacklich als auch bei der Kunst der Beschreibung. Clonal gilt als eine besonders hochwertige Zuchtsorte, bei der exklusiv die Spitzen des Teebuschs gepflückt werden. Die Gattung soll eine leicht „metallische Zitrusnote“ Note erkennen lassen. Geschmackskonstante Ein weiteres Kriterium für Dienemann ist der Kunde. Der erwartet ein gleich bleibendes Aroma seiner Assam-Lieblingssorte oder des halb fermentierten Oolong Tees, und zwar über Jahre hinweg. Für Dethlefsen & Balk ist das eine besondere Herausforderung, denn die Witterungsverhältnisse in den Anbaugebieten können den Geschmack und die Qualität der Ernte stark beeinflussen. Zu wenig Sonne, Monsunregen, Dezimierung einer ganzen Ernte durch plötzlichen Nachtfrost, alles schon da gewesen. Hut ab, sagt Meier, wie seine Leute die Sorten dennoch immer wieder richtig zusammenmischen und den Qualitätsstandard erreichen. „Das ist hohe Kunst.“ „Learning by doing“, nennt es Dienemann nüchtern. „90 Prozent der Arbeit ist Routine.“ Einzig nach der mehrmonatigen Vegetationspause der Teebüsche bräuchten seine Geschmacks- und Geruchsrezeptoren zunächst einen Anlauf, bevor es wieder losgehen könne. Aber auch das gehe überraschend schnell, sagt er, meistens innerhalb von zehn Minuten oder zwei Verkostungsrunden. Wichtige Aroma-Entscheidungen aber sollte man lieber vor dem Mittagessen treffen. Sollte. Denn in den alten Tagen, wird erzählt, habe es Koryphäen in den Labors gegeben, die den Tee auch noch zwischen zwei Zigarrenlängen punktgenau abschmecken konnten. Tütensuppen und Äpfel Dienemann stellt bei sich selbst keine „deformation professionelle“ fest. Tea-Taster sei ein großartiger Beruf, aber es führe nicht soweit, dass ihn seine Geschmacks-Sensibilisierung bis in den Alltag verfolge. Einem jungen Auszubildenden geht das anders. Er schnuppere neuerdings im Supermarkt in der Obstauslage an Äpfeln, gesteht Philipp Röttgen. „Früher bin ich daran vorbeigegangen. Jetzt prüfe ich die Äpfel auf ihre Frische.“ So glimpflich geht es nicht immer aus. Geschäftsführer Meier erinnert sich an einen ehemaligen Tea-Taster, der in der Mittagspause plötzlich begann, seine Suppentüte zu schlürfen. Der Mann hatte es drauf angelegt, jede Nuance des Industrieproduktes herauszuschmecken. Meier: „Das war irgendwann nicht mehr ganz so witzig.“ Eine Frage des Geschmacks, wie der im Foyer des Konzerns gereichte Dethlefsen & Balk-Früchtetee für die Gäste von der Zeitung. Während der Fotograf es vorzog, sich dem Getränk lediglich auf professionelle Weise zu nähern, attestierte der Berichterstatter der Frucht-Kreation eine Note „Punica“ und trank die Kanne alleine leer.
E. F. KAEDING
GROSSHANDEL Ein „Tea-Taster“ bei Dethlefsen & Balk muss nicht nur Qualitäten und Aromen erkennen können, sondern auch den Geschmack seiner Kunden treffen. Die Sensibilisierung verfolgt manche bis in den Alltag. Im Geschäft blieb die 1836 gegründete Firma, weil sie auch Zubehör anbietet
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Sportdirektor im Skiverband: Sinistrer Forderer - taz.de
Sportdirektor im Skiverband: Sinistrer Forderer Thomas Pfüller verlangt von seinen Sportlern Medaillen. Schließlich sei „Druck ganz natürlich“. Über seine Zeit als DDR-Funktionsträger redet er nicht so gerne. Einsamer Langläufer im Val di Fiemme. Deutsche Konkurrenz braucht er nicht zu fürchten. Bild: dpa STEINBACH-HALLENBERG taz | Seit der Wiedervereinigung haben sich etliche Funktionäre und Trainer des DDR-Leistungssports in nahezu allen deutschen Sportverbänden gut eingerichtet. Ihr herausragender Vertreter ist der 63-jährige Thomas Pfüller. Der einstige stellvertretende Generalsekretär des DDR-Skiläuferverbandes wurde 2002 Nachfolger des Bayern Helmut Weinbuch als Sportdirektor des Deutschen Skiverbandes. Im wichtigsten Wintersportverband besitzt der einstige SED-Apparatschik seit über einem Jahrzehnt schon eine schier unbegrenzte Machtfülle. Besonders gerne macht der Sachse seinen Athleten Druck, indem er vor großen Meisterschaften Medaillen-Vorgaben postuliert. „Wir sind an der Zielvorgabe von sechs bis sieben Medaillen etwas vorbeigeschlittert“, sagte Pfüller zum Abschluss der nordischen Ski-WM in Val di Fiemme. Solche Vorgaben würden von den Athleten als Last empfunden, kritisierte indes Hermann Weinbuch, Bundestrainer der Nordischen Kombinierten während der WM. Doch für den pausbäckigen Pfüller „ist Druck ganz natürlich“. Auch vor der Biathlon-WM in Tschechien hatte Pfüller fünf bis sechs Medaillen als Ziel angesetzt. Neben Bronze in der Männer-Staffel hatte nur Andrea Henkel noch eine Silbermedaille gewonnen. Pfüller, der auch Vizepräsident der Internationalen Biathlon-Union ist, moserte über seine Skijäger, die dem DSV viel TV-Übertragungsgelder einbringen: „Die Frauen haben in der Staffel eine Medaille weggeschmissen, bei den Männern wäre es fast schon wieder passiert. Das ist eigentlich nicht zu akzeptieren.“ Ohnehin ist Pfüllers Integrität und Glaubwürdigkeit, was seine eigene Funktionärs- und Trainertätigkeit in der DDR anbelangt, zweifelhaft. Der einstige Biathlet von Dynamo Zinnwald hatte es in der DDR als SED-Kader schon mit 29 Jahren zum stellvertretenden Generalsekretär des Deutschen Skiläuferverbandes (DSLV) gebracht, zuständig für Nachwuchsleistungssport. Zudem wirkte der Diplomsportlehrer als Nationalmannschafts-Trainer im Biathlon und Langlauf. Mitmacher im Dopingsystem Obwohl Akten eine andere Sprache sprechen, bestreitet Pfüller bis heute, zur damaligen Zeit vom Doping in der DDR Konkretes gewusst zu haben. In einer protokollierten Anhörung im Jahre 1992 vor der Richthofen-Doping-Untersuchungskommission wurde er gefragt, ob zu DDR-Zeiten unter den Trainern über Doping geredet wurde. Pfüller antwortete mit „Ja“. Konfrontiert mit seiner Aussage gegenüber einem DDR-Trainer („Da bist du chancenlos, wenn du nicht mitmachst“), erwiderte Pfüller laut Protokoll: „Ich habe sicher niemanden überzeugt mitzumachen, aber auch nicht dagegen geredet.“ Die Kommission stellte 1992 abschließend fest, Erkenntnisse aus der Systematik des DDR-Sports auch im Biathlon sprächen dafür, dass „auch Pfüller mit der Organisation von Doping im Sport in Berührung gekommen sein muss“. Im Ermittlungsverfahren zum DDR-Staatsdoping wegen Körperverletzung zum Nachteil der Sportler wurde Pfüller als Beschuldigter vernommen. Es lagen konkrete und ihn belastende Aussagen von Sportlern vor. Die Vernehmung durch Kriminalbeamte dauerte vier Stunden. Um frühere Athleten, die aus politischen Gründen um ihre Karriere betrogen wurden, oder um Doping-Geschädigte hat sich der DSV-Spitzenfunktionär bis heute kaum gekümmert. Nur dem Biathleten Andreas Heß, einem anerkannten Doping- und Stasiopfer, zahlte der DSV eine Hilfeleistung in Höhe von 15.000 Euro. Viele DDR-Skilangläuferinnen erlitten schwere Gesundheitsschäden, es gab Tot- und Fehlgeburten, einige haben behinderte Kinder. Darauf angesprochen, fiel dem führenden deutschen Wintersport-Funktionär nicht mehr ein als die Floskel: „Das war schon schlimm damals.“ Wie alte Seilschaften wirken, zeigte Pfüller auch 2006 mit der Verpflichtung des dopingbelasteten DDR-Biathlon-Verbandstrainers Wilfried Bock, der 1992 wegen seiner 15-jährigen Stasispitzeltätigkeit beim DSV nicht weiterbeschäftigt worden war. Pfüller und Bock waren einst Trainerkollegen bei Dynamo Zinnwald. Als die Rückholaktion von Bock 2009 publik wurde, musste Pfüller den Vertrag mit seinem Altlast-Spezi Bock aufkündigen.
Thomas Purschke
Thomas Pfüller verlangt von seinen Sportlern Medaillen. Schließlich sei „Druck ganz natürlich“. Über seine Zeit als DDR-Funktionsträger redet er nicht so gerne.
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Kolumne Hier spricht Brasilien: Der Fußball, der Hahn und ich - taz.de
Kolumne Hier spricht Brasilien: Der Fußball, der Hahn und ich Brasilien gewinnt auf jeden Fall die WM! Und wenn nicht, dann werden wir trauern. Doch es geht auf jeden Fall auch ohne Sieg weiter. „Wir leben im Erfolg, wir lieben das“, sagt Maria de Lourdes Pereira da Silva. Bild: Martin Kaul Ach, erzähl mir doch heute nichts von Protesten, Probleme haben doch alle und überall. Jetzt ist WM, den Rest klären wir später. Ich heiße Maria de Lourdes Pereira da Silva, aber hier kennen sie mich als „Vovó Tricolor“, die dreifarbige Oma. Mein Zweitname ist Party. Und das hier im Arm ist kein Huhn, sondern ein Hahn. Und was für einer. Er heißt Paquito Fred Pereira da Silva, ist 11 Jahre alt und ich bin 72 und zusammen feiern wir gerade unsere dritte Weltmeisterschaft. Ist das nicht herrlich? Dieser Hahn ist ein Geschenk Gottes und ein Glücksbringer für mein Land. Er hat unserer Mannschaft immer schon Glück gebracht und wenn sie mal Pech hatte, dann war es nicht seine Schuld. Mit einem Glücksbringer muss man gut umgehen. Ich habe ihm keinen Käfig, ich habe ihm eine Suite gebaut in meiner Wohnung im dritten Stock unseres Hauses. Das steht in Rios Stadtviertel Bonsucesso und das Viertel heißt so, weil wir dort alle immer nur Erfolg haben. Wir leben im Erfolg, wir lieben das. An den Wochenenden flanieren Paquito und ich gemeinsam die Copacabana entlang, da gibt es eine tolle Aussicht, ich zeige den Leuten dort diesen wundervollen Hahn, diesen wichtigen Glücksbringer und er kann ein wenig im Sand picken, das ist für uns alle gut und auch schön. Jedes Brasilien-Spiel schauen wir hier an diesem Ort, im Alzirão. Wenn Brasilien spielt, wenn der Ball rollt, dann gibt es für mich keinen schöneren Ort auf der Welt als diese Straße. Die Tausenden von Menschen, die Leidenschaft, das Fest. Ich möchte am liebsten für immer weiterfeiern und wenn ich etwas weiß, dann dass Brasilien diese Weltmeisterschaft gewinnt, und wenn nicht, dann wird eine große Trauer über das Land fallen, eine Trauer von unendlicher Tiefe. Aber dann werden wir aufstehen und weitergehen und uns wieder um unsere Probleme kümmern, denn davon haben wir ja genug. Die Autorin ist 72 und schaut sich mit ihrem Hahn Paquito Fred Pereira da Silva, 11, jedes Brasilien-Spiel auf Rio de Janeiros Fanmeile Alzirão an.
Maria De Lourdes Pereira da Silva
Brasilien gewinnt auf jeden Fall die WM! Und wenn nicht, dann werden wir trauern. Doch es geht auf jeden Fall auch ohne Sieg weiter.
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Bauarbeiter mit optimistisch gerecktem Daumen - taz.de
Bauarbeiter mit optimistisch gerecktem Daumen Arbeitsvermeidung Wenn man heute in der Rykestraße in Prenzlauer Berg über die Stühle der Straßencafés stolpert, kann man sich kaum vorstellen, dass dies vor zwölf Jahren die verranzteste Meile Ostberlins war. Ein Fleischer, ein Konsum, und das war’s. Auf dem Hinterhof eines der verfallenden Gebäude hatte ich dort zu Wendezeiten in einer Filiale des DDR-Außenhandelsgiganten Technocommerz meinen ersten Bürojob. Als Finanzkontrolleur hatte ich nicht viel mehr zu tun, als die bereits von anderen vier Mal geprüften Belege abzustempeln und die Zahlen in den Computer einzugeben, der in einem Kämmerchen stand. Die Software des Robotron-Rechners war natürlich geklaut und als Ostprodukt getarnt. In dieses Kämmerchen verzog ich mich aber auch, wenn es nichts zu tun gab oder ein Nickerchen anstand. Im ersten Arbeiterstaat auf deutschem Boden mussten wir 8,75 Stunden netto arbeiten im Gegensatz zur sozialdemokratisch verwalteten BRD, in der der Kommunistentraum vom 8-Stunden-Tag verwirklicht worden war. Das generelle DDR-Arbeiter-und-Angestellten-Problem bestand ja meist darin, diesen 8,75-Stunden-Tag über die Runden zu bringen, wenn sich die Arbeit auch in drei Stunden erledigen ließ. Und da man sich beim Zeitschinden nicht erwischen lassen durfte, war das Sich-vor-der-Arbeit-Drücken anstrengender als die eigentliche Arbeit. Doch Arbeit hatte einen schlechten Ruf im Osten, weshalb die Partei überall Plakate aufhängte, auf denen Bauarbeitermodels mit optimistisch gerecktem Daumen zu sehen waren. Dennoch handelte sich derjenige, dem es nicht gelang, sich vor der Arbeit zu drücken oder sie auf Lehrlinge und Hilfsarbeiter abzuwälzen, schnell den Ruf ein, nicht „blickig“ zu sein. So wie ich. Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen, die während ihrer Arbeitszeit ungeniert einen Pullover nach dem anderen strickten. Ich hingegen wurde schon nervös, wenn ich mal heimlich einen Joghurt aß. In solchen Situationen oder wenn die Gespräche der Kolleginnen sich um Fragen der Kinderaufzucht drehten, verzog ich mich ins Computerkämmerchen, um zu programmieren. In Wirklichkeit tippte ich die Texte der Pogues-Platten-Cover ab, die mir ein Freund geliehen hatte. Manchmal versuchte ich auch, den Kopf in die Hände gestützt, zu schlafen. Falls der Chef den Raum betrat, sollte es so aussehen, als ob ich konzentriert auf den Bildschirm starrte. Aber meistens wachte ich schnell wieder durch das Piepen auf, das der Computer von sich gab, wenn der Cursor das Ende der Zeile erreicht hatte, weil mein Kopf auf der Tastatur gelandet war. Zum Spaß schrieb ich schließlich Computerprogramme, welche die knappe Arbeit meiner Kolleginnen noch mehr reduzierte. Sie waren mir dennoch dankbar. Ahnten sie, dass die Tage der DDR gezählt waren? Pünktlich zur Währungsunion trudelte die erste von insgesamt 750 Entlassungen beim Außenhandelsbetrieb Technocommerz ein. 1999 rackerten sich noch ganze fünf Mitarbeiter damit ab, die ausstehenden Schulden der Russen und Nicaraguaner einzutreiben. Als dann der letzte Dollar bezahlt war, schlossen sie die Tür ab, und Technocommerz war nicht mehr. Der Name steht also wieder zur Verfügung, vielleicht hat Dr. Motte Interesse. Ich war meiner Entlassung zuvorgekommen und hatte zu studieren begonnen. Es dauerte dann fast zehn Jahre, bis ich wieder einen Büroschreibtisch von vorn zu sehen bekam. Diesmal in einem Anti-Drogen-Verein, wodurch ich mir bei Freunden den Ruf einhandelte, Exjunkie zu sein. Und kaum saß ich am Computer, setzte der alte Arbeitsverweigerungsreflex ein. Dabei machte die Arbeit sogar Spaß, es gab nur nicht genug, um die Zeit totzuschlagen. Diesmal wurde der Müßiggang von der katholischen Kirche subventioniert. Als wir dann einen Internetzugang bekamen, gab es kein Halten mehr. Ich kannte mich mit Spam noch nicht so gut aus. Deshalb leistete ich der Aufforderung eines unbekannten Absenders bedenkenlos Folge, die Seite http://983274981.htm zu öffnen, woraufhin sich natürlich diverse Fensterchen mit unbekleideten Damen entblätterten. Die meisten hatten Penisse im Mund. Und die Domain bestand nicht mehr aus Zahlen, sondern trug den eindeutigeren Titel www.tittenkeller.de. Ich geriet in Panik. Um nicht als Pornosurfer geoutet zu werden, entfernte ich sämtliche Dateien mir unbekannten Formats, die auf meinem Computer an jenem Tag zu dieser Zeit gespeichert worden waren, darunter dummerweise auch die Systemdatei. Für die Reparatur verlangte der Computerexperte 800 Mark. Meinen letzten Job hatte ich in einem Institut, welches Osteuropäerinnen in Sachen Feminismus auf die Sprünge helfen sollte. Ich hätte mir darüber im Klaren sein müssen, dass, wenn man aus Neugierde prüft, ob die britische Mädchenzeitschrift 19 eine Webseite hat, sich unter www.19.com durchaus auch „wollüstige Teenies aus deiner Umgebung“ auf dem Bildschirm tummeln können, was für Kolleginnen eines feministisch inspirierten Instituts befremdend wirken könnte. Ich kam meiner Entlassung zuvor und lebe jetzt von Licht und Luft. DAN RICHTER
DAN RICHTER
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Olympische Spiele in Tokio 2020: Kleinlaut zurück auf null - taz.de
Olympische Spiele in Tokio 2020: Kleinlaut zurück auf null Außer dem IOC mochte kaum jemand das Design des geplanten Olympiastadions in Tokio. Jetzt wird der Bau gestoppt. So hätte es aussehen sollen. Wird es aber nicht Foto: ap TOKIO taz | Normalerweise segelt Japans größte Zeitung Yomiuri Shimbun mit einer Morgenauflage von fast 10 Millionen Stück auf stramm konservativem Kurs. Sie lässt auch mal störende Fakten weg, um Premierminister Shinzo Abe ins rechte Licht zu rücken. Umso mehr überraschte ihr äußerst negativer Kommentar zum geplanten Stadion für Olympia 2020 in Tokio. Den Bauauftrag zu vergeben, ohne die Finanzierung zu kennen, sei „lächerlich“ und „unverantwortlich“, hieß es. Tatsächlich war nur ein Viertel der Kosten gedeckt. Der Hauptgrund: Seit der Vergabe von Olympia 2020 vor knapp einem Jahr nach Japan hatte sich der veranschlagte Baupreis auf 1,9 Milliarden Euro nahezu verdoppelt. Das wäre viermal so teuer wie das Olympiastadion in Peking 2008 und dreimal so teuer wie das von London 2012 gewesen. Niemand in Japan konnte sich die Kostenexplosion so richtig erklären, zumal das ursprüngliche Design bereits um ein Viertel geschrumpft und auf das verschließbare Dach verzichtet wurde. Der Hinweis, das Baumaterial habe sich stark verteuert, überzeugte nicht. Die Zeitung Yomiuri machte das Design der Architektin Zaha Hadid mit zwei 70 Meter hohen Riesenbögen für die exorbitanten Kosten verantwortlich. „Warum wurde diese Basisstruktur nicht infrage gestellt?“, ärgerte sich der Kommentator.Damit machte sich die Zeitung zur Speerspitze der Unzufriedenheit mit dem neofuturistischen Design. Stadiondesign als Toilettensitz verhöhnt Der prominente Architekt Arata Isozaki beschrieb es als „Schildkröte, die darauf wartet, dass Japan untergeht, damit sie wegschwimmen kann“. Kreative Twitter-User verhöhnten das Design mit Photoshop-Montagen wahlweise als Fahrradhelm, Faxgerät, Badewanne und Toilettensitz. Der Hadid-Entwurf beißt sich auch mit dem nahe gelegenen Meiji-Kaiserschrein in klassisch-japanischer Holzbauweise und ignoriert die 15-Meter-Grenze für die Fassadenhöhe. Dagegen hatte eine Gruppe von bekannten Architekten bereits früh protestiert. Dann geschah, womit niemand gerechnet hatte. Regierungschef Shinzo Abe persönlich sprach ein Machtwort. „Wir gehen zurück auf null“, erklärte Abe vor einer Woche und kündigte einen neuen Architekturwettbewerb an. Das Stadion solle so „billig wie möglich werden“, schob sein Sprecher nach. Der Baubeginn wird auf das Frühjahr 2016 verschoben. Der Chef des Organisationskomitees, Yoshiro Mori, gab sich kleinlaut: „Das Design ist immer unbeliebter geworden.“ Er habe den Entwurf sowieso nie gemocht, weil er ihn an eine Auster erinnere, so Mori. Das Design war wichtig, um den Zuschlag zu erhalten Abes Entscheidung ist politisch motiviert. Mit der Verabschiedung der Sicherheitsgesetze hat der konservative Premier viel Porzellan zerschlagen, weil die pazifistisch orientierte Bevölkerung mehrheitlich dagegen ist. Ein zweites Großprojekt gegen den Willen der Japaner durchzusetzen, wollte Abe nicht riskieren. Allerdings muss Japan noch das Internationale Olympische Komitee von seinem Kurswechsel überzeugen: Der futuristische Entwurf hatte eine bedeutende Rolle bei der Vergabe der Spiele nach Tokio gespielt, weil das IOC solche Bauten liebt. Doch die Bevölkerung ist anderer Meinung. Japan ist längst so verschuldet, dass man sich überdimensionierte und später kaum nutzbare Infrastruktur nicht mehr leisten kann. Architekten und Bürgergruppen hatten daher früh für einen Umbau des alten Olympiastadions von 1964 plädiert. Doch die „Modernisierer“ in der Bürokratie durchkreuzten diesen Plan. Bevor überhaupt über den Neubau entschieden war, ließen sie das alte Stadion abreißen. Dort ist seit einigen Wochen nur noch braune Erde zu sehen.
Martin Fritz
Außer dem IOC mochte kaum jemand das Design des geplanten Olympiastadions in Tokio. Jetzt wird der Bau gestoppt.
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Die Wahrheit: Eine Spinne namens Mary Jane - taz.de
Die Wahrheit: Eine Spinne namens Mary Jane Neulich auf der Nebenbank belauscht: Was sagen eigentlich die Konsumenten zur Cannabisfreigabe? Und was ist ihnen dabei besonders wichtig? Grün dampft der Hanf, bis die Bäume wackeln und die Lichter am Himmel illuster strahlen Foto: Reuters Zwei junge Kiffer sitzen auf einer Bank im Park und rauchen eine Tüte, die immer wieder zwischen den beiden hin- und herwandert. „Haste schon gehört? Cannabis soll jetzt legal sein.“ „Echt? Seit wann? „Hat Lauterbach neulich irgendwann im Fernsehen gesagt.“ „Lauterbach?“ „Der Gesundheitsminister.“ „Und ab wann?“ „Ich glaub, ab jetzt sofort.“ „Kann ich mir nicht vorstellen. Da müsste doch viel mehr Bürokratie- und Papierkrams dranhängen.“ „Ja, klar, aber vielleicht haben die das ja schon hinter sich, ohne dass wir was davon mitgekriegt haben? So charmant hinter den Kulissen?“ „Quatsch! Die machen doch nicht irgendwas charmant hinter den Kulissen! Wenn die was machen, dann wollen die auch, dass das gesehen wird. Also, ich kann mir das nicht vorstellen.“ „50 Gramm pro Person und Monat sind jetzt erlaubt.“ „50 Gramm? Wie soll man das denn in einem Monat wegkiffen? Das geht doch gar nicht! Die spinnen ja wohl!“ „Vielleicht kann man das ja auch ansparen, so wie Urlaubstage.“ „Toll, und was machste dann im Urlaub damit?“ „In eine neue Nachbarschaft ziehen und eine Reitspinne im Garten halten! Und jeden Morgen um Punkt 7.48 Uhr mit Reithose, Reitstiefeln, Reiterhut und Gerte laut ‚Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch den grünen Wald‘ singen, während man achtbeinig durch den Garten trippelt.“ „Haha, das ist ’ne tolle Idee, wäre mir aber total zu anstrengend.“ „Hab ich dir schon erzählt, wie Jürgen sich mal in Möwenkacke gesetzt hat?“ „Welcher Jürgen?“ „Kennste glaub ich nicht, die Geschichte ist auch nicht so interessant.“ „Kannste mir dann ja mal wann anders erzählen. Kacken Spinnen eigentlich auch?“ „Weiß ich nicht, wieso?“ „Na, weil ich mir überlege, was die so fressen. Darüber muss man ja auch nachdenken, bevor man sich eine anschafft.“ „Ich glaub, die fressen gar nichts. Ich könnte die jedenfalls nicht essen. Wenn man die einmal ins Herz geschlossen hat, kann man die, glaub ich, gar nicht mehr so richtig als Nahrung sehen.“ „Die Politiker machen ja auch echt nur Fehler. Wenn die das legalisieren, dann feiern doch die Dealer eine fette Party nach der anderen!“ „Wieso?“ „Na, weil die dann von ihren 50 Gramm maximal im Monat 10 selbst verkiffen und ihre anderen 30 können sie dann für teuer Geld an Minderjährige verticken!“ „Aber die Dealer werden trotzdem keine Partys feiern, den gehen dabei doch voll die Preise kaputt!“ „Dann müssen die ihre Preise halt in eine Preiswerkstatt bringen.“ „Haha, ja, mit so Zwölfkantinenschraubern!“ „Haha, ja, und dann auf so einer Rollpfanne unter den Preisen liegen, völlig mit Teer beschmiert und laut fluchen!“ „Meinst du, man kann Spinnen auch einzeln halten?“ „Kommt drauf an, was du damit vorhast.“ „Keine Ahnung. Vielleicht zähmen und dann drauf reiten.“ „Ich glaub, das geht.“ „Und welchen Namen würdest du deiner Spinne geben, wenn du eine als Haustier hättest?“ „Öh, Mary Jane natürlich.“ „Spitzenname!“ „Spitzenkraut!“ „Hast du heute eigentlich noch was vor?“ „Ich müsste mal wieder den Goldpreis checken.“ „Ja, ich auch. Kann ich aber auch morgen machen.“ „Cool, dann können wir ja noch ’ne Weile hier sitzen bleiben.“ „Cool.“ Die Wahrheit auf taz.de
Corinna Stegemann
Neulich auf der Nebenbank belauscht: Was sagen eigentlich die Konsumenten zur Cannabisfreigabe? Und was ist ihnen dabei besonders wichtig?
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fakten - taz.de
fakten Dürre, Hunger und Hilfe – Äthiopien hat Afrikas höchste Unterernährung und liegt weltweit an dritter Stelle nach Bangladesch und Indien – 7,8 Millionen Menschen, ein Siebtel der Bevölkerung, sind heute in Äthiopien von Dürre betroffen – Die Regionen Gode und Afder im Südosten des Landes haben seit drei Jahren zu wenig geregnet erhalten; 57.000 Menschen haben Gode auf der Suche nach Nahrung und Wasser verlassen, 90 Prozent des Viehs drohen zu verenden – Im Januar legte Äthiopiens Regierung in ihrer jährlichen Hilfsforderung den Nothilfebedarf für das Jahr 2000 auf 836.000 Tonnen fest. Das sind 21 Prozent mehr als 1999 – Am 25. Februar beschloss das UN-Welternährungsprogramm WFP eine Hilfsoperation im Wert von 141,6 Millionen Dollar, bei der 2,3 Millionen besonders bedürftige Menschen von April bis Dezember in Koordination mit der äthiopischen Regierung 253.500 Tonnen Lebensmittel erhalten sollen – Zum 4. April waren national und international etwa 438.000 Tonnen Lebensmittel zugesagt, von denen knapp 10.000 verteilt worden waren – Der Monatsbedarf an Lebensmittelhilfe in Äthiopien wird im Juni mit 127.000 Tonnen seinen Höhepunkt erreichen Quellen: UN-Welternährungsprogramm (WFP), Internationale Föderation der Rotkreuzgesellschaften (IFRC)
taz. die tageszeitung
Dürre, Hunger und Hilfe
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Skandal um die Mails eines Toten - taz.de
Skandal um die Mails eines Toten In Italien sorgen mehrere Schreiben des ermordeten Arbeitsrechtlers Biagi für politische Furore. Wurde zunächst ein renitenter Gewerkschaftschef attackiert, so rückt jetzt der Innenminister in das Zentrum der politischen Auseinandersetzung aus Rom MICHAEL BRAUN Mehrere jetzt aufgetauchte Schreiben des im März von den Roten Brigaden ermordeten Arbeitsrechtlers Marco Biagi provozieren heftige politische Auseinandersetzungen in Italien. Die im Zeitraum Juni–September 2001 geschriebenen Briefe und E-Mails wurden von anonymer Hand der in Bologna erscheinenden No-Global-Zeitschrift Zero in Condotta und der Tageszeitung La Repubblica zugespielt. Gerichtet waren die Schreiben des Universitätsprofessors, der die Regierung in Fragen der Arbeitsmarktreform beriet, an den Arbeitsminister, an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, an Staatssekretäre und hohe Beamte, und sie drehen sich alle um ein Thema: Biagi äußerte wachsende Furcht, zum Opfer eines Terroranschlags zu werden, und beschwerte sich in bitteren Tönen darüber, dass ihm Zug um Zug an seinen verschiedenen Tätigkeitsorten Rom, Mailand, Modena und Bologna der Polizeischutz entzogen wurde. Brisanz erhielten Biagis Zeilen aber nicht zuletzt deshalb, weil der Professor zugleich heftige Anschuldigungen gegen Sergio Cofferati erhob. Cofferati führt als Vorsitzender des größten italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL die heftigen Proteste gegen die von der Regierung Berlusconi angeschobene Reform des Kündigungsschutzes an. Biagi äußerte in zwei E-Mails, Cofferati habe Drohungen gegen ihn lanciert, ja ihn „kriminalisiert“, und stellt so einen direkten Zusammenhang zu der terroristischen Bedrohung her, der er sich ausgesetzt sah. Genau dies war auch die Sprachregelung, die die Regierung unmittelbar nach dem Mord am 19. März – und vor der Mega-Demonstration der CGIL vom 23. März – ausgegeben hatte: Gewerkschaftlicher Protest sei der Nährboden der Terroristen. Insofern überrascht der Zeitpunkt der Veröffentlichung von Biagis Schreiben nicht: Die Regierung Berlusconi steht kurz davor, mit den beiden anderen Gewerkschaftsbünden CISL und UIL eine Einigung zu erzielen; die CGIL wiederum reagiert mit einer neuen Streikwelle und hat für den September einen Generalstreik angekündigt. Mehr als mysteriös ist aber, weshalb Biagi vor einem Jahr von Drohungen Cofferatis geschrieben haben soll. Damals hatte die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Gewerkschaften noch gar nicht eingesetzt, damals auch lag das von Biagi mitverfasste Weißbuch zur Arbeitsmarktreform – das tatsächlich von Cofferati heftige Kritik erfuhr – noch gar nicht vor. Eine der beiden Mails liegt denn auch den Justizbehörden in einer Version vor, in denen der Name Cofferatis gar nicht auftaucht, und in der anderen Mail sprach Biagi zwar von Drohungen, ergänzte aber, sie seien ihm von dritter, „absolut glaubwürdiger Seite“ zugetragen worden. Deshalb drängt sich der Verdacht auf, dass entweder schon im Sommer letzten Jahres oder spätestens jetzt mit der Lancierung der Briefe Geheimdienstkreise am Werk waren und noch sind, die das in Italien seit Jahrzehnten bekannte Spiel spielen, den Terrorismus für die politische Auseinandersetzung zu instrumentalisieren oder gar selbst zu steuern. Drei Fragen werden die Ermittler zu klären haben: Von wem wurden die Schreiben an die Presse lanciert? Wurden die Briefe manipuliert? Und wer ist die „absolut glaubwürdige“ Person, die schon im Sommer 2001 den Konflikt des Herbstes gleichsam vorhersah – inklusive der angeblichen Cofferati-Drohungen gegen Biagi? Zugleich aber ist Innenminister Claudio Scajola offenbar im Visier der unbekannten Fädenzieher: Sein Haus hatte Biagi den Schutz verweigert, und das spätere Mordopfer schrieb in düsterer Vorahnung, wenigstens solle die Nachwelt von seinen „erfolglosen Bitten um Schutz“ wissen. Scajola reagierte seinerseits auf die jetzt erfolgten Enthüllungen mit einer unglaublichen Entgleisung. Biagi sei „eine Nervensäge“ gewesen, dem es bloß „um eine Verlängerung seines Beratervertrags ging“, entfuhr es dem Minister. Nicht nur die Opposition, sondern auch diverse Politiker des Regierungslagers forderten daraufhin Scajolas Rücktritt. Noch am Sonntag bot der denn auch seine Demission an; Berlusconi jedoch sprach seinem Minister das Vertrauen aus. Doch jetzt rückt die Rolle des Innenministers ins Zentrum der Auseinandersetzung.
MICHAEL BRAUN
In Italien sorgen mehrere Schreiben des ermordeten Arbeitsrechtlers Biagi für politische Furore. Wurde zunächst ein renitenter Gewerkschaftschef attackiert, so rückt jetzt der Innenminister in das Zentrum der politischen Auseinandersetzung
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Polizei reagierte nur langsam: Neonazis verprügeln jüdischen Jungen - taz.de
Polizei reagierte nur langsam: Neonazis verprügeln jüdischen Jungen Ein CDU-Politiker protestiert: Sein jüdischer Sohn wurde auf einer Geburtstagsfeier von Neonazis zusammengeschlagen - die Polizei nahm den Fall nicht ernst. Der Freund und Helfer: in Gummersbach viel zu spät und "unsensibel". Bild: dpa Für den 17jährigen Rafael David Reinecke fing der Samstagabend vor rund zwei Wochen fröhlich an: Auf einem Sportplatz in Gummersbach, einer 50.000-Einwohner Stadt im Oberbergischen Kreis, feierte er vor zusammen mit anderen Gästen den Geburtstag seiner besten Freundin. Auf der Feier kam er mit einem Mädchen ins Gespräch, fragte sie nach ihrem ungewöhnlichen Namen. Sie sprachen über ihre Herkunft. "Ich habe natürlich nicht darüber nachgedacht, dass es ein Problem sein könnte, dass ich jüdisch bin", sagt der 17jährige heute. Ein Problem war es offensichtlich für die drei jungen Männer, die sich wenig später zu Rafael setzten. Einer von ihnen hatte ein eisernes Kreuz auf dem Unterarm tätowiert, und auf seinen Bauch den Schriftzug "Blut und Ehre". Warum er hier so provozieren würde, fragten sie ihn. "Ich habe nicht mit ihnen gesprochen, sie nicht einmal abfällig angeguckt", sagt Rafael. Er wollte keine Konfrontation. Zu der kam es später dann doch, als die Täter ihn alleine im Garten erwischten. "Dreckige Judensau" beschimpften sie ihn, sie schlugen und traten den Jungen, schließlich schubsten sie ihn einen Abhang hinunter. Die restlichen Geburtstagsgäste bekamen davon nichts mit: Während er verprügelt wurde, hat der 17jährige sich nicht gewehrt und nicht geschrien. Rafaels Vater, Peter Reinecke, sitzt seit 1999 für die CDU im Kreistag sitzt, fragt immer noch fassungslos: "Muss man heute, 70 Jahre nach der Reichskristallnacht, in Oberberg wieder Angst haben, jüdischer Herkunft zu sein?" Aber nicht nur der offene Ausbruch von Antisemitismus schockierte Reinecke - sondern auch das Verhalten der Polizei. Gegen die erhebt Reinecke schwere Vorwürfe: Seine von seinem Sohn zur Hilfe gerufenen Töchter hätten mehrfach bei der Polizei anrufen müssen, erst nach fast einer Stunde sei ein Streifenwagen gekommen. Der Beamte am Telefon sei zudem nicht nur unwirsch gewesen, er hätte zudem auch einfach aufgelegt, als seine Tochter den Weg zum Tatort nicht gut beschreiben konnte. Reinecke schrieb eine wütende Dienstaufsichtsbeschwerde an den Leiter der Kreispolizeibehörde. "Wenn das der Schutz und die Umgangsformen der oberbergischen Polizei sind, frage ich mich - auch in meiner Funktion als Abgeordneter des Oberbergischen Kreises - wie weit wir gekommen sind?", heißt es darin. "Die Beamten haben zum Teilen sehr unsensibel gehandelt", sagt jetzt auch der Polizeidirektor Thomas Sanders. Dass der erste Streifenwagen erst über 30 Minuten nach dem Anruf am Tatort angekommen ist, sei eindeutig zu spät. Er bestätigte auch, dass insgesamt drei Anrufe eingegangen seien - die ersten beiden wurden von den Beamten als nicht dringlich angesehen. Rafaels Schwestern waren mit ihrem Bruder zunächst ins Krankenhaus gefahren, dann zur Party zurückgekehrt, um die Namen der Täter herauszufinden. "Die waren alle noch da und immer noch extrem gereizt", erinnert sich Rafael. Einer von ihnen wollte auch seine Schwester angreifen. Erst nachdem sie dem Polizeibeamten alarmiert hatte "das kann hier jederzeit wieder losgehen", schickte die Polizei einen Streifenwagen. In ersten Medienberichten hatte der Polizeisprecher noch verlautbaren lassen, der rechtsradikale Hintergrund des Überfalles sei erst mit der Dienstaufsichtsbeschwerde Reineckes aus der Presse bekannt geworden. Sanders dagegen bestätigte jetzt dagegen die Version des Opfers: Bereits am Telefon sei von rechtsradikalen Motiven die Rede gewesen, gab der Polizeidirektor zu, später auf der Party hätten Zeugen das auch bestätigt. "Noch eine blöde Sache" sei laut Sanders das Telefongespräch zwischen der Schwester des Opfers und des Beamten in der Zentrale gewesen. Wegen der unklaren Wegbeschreibung zu dem ehemaligen Sportplatz, der im Computersystem nicht mehr verzeichnet ist, habe es "minutenlange Differenzen" gegeben. Als Entschuldigung will Sanders das allerdings nicht gelten lassen. Er werde den Vorfall an das Innenministerium weiterleiten. Was die Dienstaufsichtsbeschwerde angeht, wolle er zunächst noch einmal mit Peter Reinecke sprechen, bevor er Angaben über mögliche Konsequenzen macht. "Aber was die Sensibilität im polizeilichen Innenbereich angeht, da muss man noch mal darüber nachdenken." Gegen die drei Täter ermittelt unterdessen der Staatsschutz Köln wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und Verwendung nationalsozialistischer Symbole. Es handle sich offensichtlich um ein antisemitisches Tatmotiv, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Rainer Wolf: "Wir haben die Zeugenvernehmung abgeschlossen. Die Zeugen haben die Perspektive der Opfer bestätigt." Als nächstes müssen die Täter vernommen werden, die man innerhalb dieser Woche noch für eine Anhörung anschreiben werde.
Lana Stille
Ein CDU-Politiker protestiert: Sein jüdischer Sohn wurde auf einer Geburtstagsfeier von Neonazis zusammengeschlagen - die Polizei nahm den Fall nicht ernst.
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■ Spitzelspiel: LKA hört BND ab - taz.de
■ Spitzelspiel: LKA hört BND ab München (AFP) – Das bayerische Landeskriminalamt (LKA) hat nach Informationen von Focus den Bundesnachrichtendienst (BND) über drei Monate abgehört. Grund der bislang einzigartigen Überwachungsaktion seien vermeintliche undichte Stellen beim BND, der die Bundesregierung mit Auslandsinformationen versorgt und dazu ein eigenes Agentennetz unterhält.
taz. die tageszeitung
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Grüne und transatlantische Beziehungen: Böll für die Bombe - taz.de
Grüne und transatlantische Beziehungen: Böll für die Bombe Die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt einen Aufruf für Aufrüstung und Atombomben. Bei den Grünen finden das nicht alle gut. Namensgeber Heinrich Böll protestiert 1983 gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Deutschland Foto: Harry Melchert/dpa BERLIN taz | Eine Frage ist für eine mögliche schwarz-grüne Bundesregierung nach der Wahl im September besonders interessant: Wie hält sie es mit dem Militär in der Außenpolitik? Eine pazifistische Partei sind die Grünen zwar spätestens seit rot-grünen Regierungszeiten nicht mehr. Leicht machen sie es sich in den Detailfragen – welche Auslandseinsätze, welche Kompromisse bei Kampfdrohnen, wie weiter mit der Atombombe? – aber noch immer nicht. Bemerkenswert ist da ein Vorstoß aus den Reihen der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung, die als Denkfabrik intellektuelle Vorlagen für grüne Politik liefert. Zur Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden hat die Böll-Vorsitzende Ellen Ueberschär einen Aufruf „für eine neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika“ verfasst – gemeinsam mit Ver­tre­te­r*in­nen von transatlantischen Thinktanks und Lobbyorganisationen wie der Atlantik-Brücke, dem German Marshall Fund und dem Aspen Institute. Am Mittwochnachmittag wird das Papier auf einer von der Böll-Stiftung organisierten Veranstaltung vorgestellt. Manches in dem Aufruf mit dem Titel „Trans­atlan­tisch? Traut Euch!“ dürfte in grünen Kreisen zwar unumstritten sein. „Effektiver Klimaschutz gehört ins Zentrum einer modernen transatlantischen Agenda“, heißt es zum Beispiel. Neue antirassistische und antisexistische Bewegungen seien geeignet, die transatlantische Partnerschaft auf Ebene der Zivilgesellschaften fortzuführen. Und in der Chinapolitik sollten Europa und die USA einen gemeinsamen Schwerpunkt auf Menschenrechte setzen. Deutlich streitbarer ist, was Ueberschär und ihre Mit­strei­te­r*in­nen in der Sicherheitspolitik fordern: Im Rahmen einer „ambitionierten neuen Übereinkunft“ müsse die Bundeswehr deutlich aufgerüstet werden. Die europäischen Nato-Staaten „mit Deutschland an erster Stelle“ sollen „ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung“ erheblich erhöhen. „Dadurch entlasten sie die USA in Europa und erleichtern es ihnen, sich auf den Indo-Pazifik zu konzentrieren.“ Atombomben sollen bleiben Vor allem aber: „Der nukleare Schutzschirm der USA ist für alle nicht-nuklearen NATO-Staaten in Europa unverzichtbar. Es sollte ihn geben, solange es Nuklearwaffen gibt und die Bedrohung anhält.“ Deutschland müsse an der „Nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen“. Sprich: US-Atomwaffen sollen weiterhin und unbefristet in Deutschland lagern. Die Bundeswehr soll als Nachfolger für die altersschwachen Tornado-Jets neue Kampfflugzeuge beschaffen, die ebenfalls atomwaffentauglich sind und die Atombomben im Ernstfall über feindlichem Gebiet abwerfen könnten. Die Grünen selbst haben in ihrem neuen Grundsatzprogramm gerade erst eine andere Stoßrichtung festgeschrieben. Darin fordern sie ein „Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der Nuklearen Teilhabe“. Auf welchem Weg und wie schnell sich dieses Ziel umsetzen lässt, ist in der Partei zwar umstritten. Die Parteispitze will sich in öffentlichen Äußerungen noch nicht auf einen konkreten Abzugsplan festlegen. Ein unbefristetes Bekenntnis zur Nuklearen Teilhabe ist in grünen Kreisen aber doch sehr ungewöhnlich. „Ganz alte Lieder“ Entsprechend verärgert ist man vor allem im linken Parteiflügel, der seine Positionen in der außenpolitischen Arbeit der Böll-Stiftung schon länger nicht ausreichend widergespiegelt sieht. Der Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin sagt: „Wer von einer Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses redet, sollte mehr liefern, als Rezepte der 80er Jahre. Wer das anachronistische 2 Prozent Ziel, Aufrüstung und nukleare Abschreckung zum Kern eines neuen Bündnisses liberaler Demokratien machen will, singt ganz alte Lieder.“ Er sei „verwundert, dass die Vorsitzende einer grünennahen Stiftung nicht nur derartige Papiere unterschreibt, in der das Wort ‚Abrüstung‘ nicht einmal vorkommt – sondern das ganze auch noch im Rahmen einer Stiftungsveranstaltung präsentiert wird“, sagt Trittin. Schleierhaft sei ihm, was „an diesem neokonservativen Aufschlag grünennah sein soll“. Am Freitag tritt übrigens der UN-Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Über 50 Staaten haben ihn schon ratifiziert und die Grünen fordern in ihrem Grundsatzprogramm, dass auch Deutschland beitritt. Den Vertrag vorangetrieben hat federführend das internationale Anti-Atomwaffen-Bündnis ICAN. Die Böll-Stiftung, die laut ihrem Leitbild „für Gewaltfreiheit und eine aktive Friedenspolitik eintritt“, unterstützt ICAN seit Jahren. Zum Inkrafttreten des Verbotsvertrags, der mit einem internationalen Aktionstag am Freitag gefeiert wird, hat sie aber keine eigene Veranstaltung angekündigt.
Tobias Schulze
Die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt einen Aufruf für Aufrüstung und Atombomben. Bei den Grünen finden das nicht alle gut.
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Ein Strick mit vielen Enden - taz.de
Ein Strick mit vielen Enden Die Berliner Lesbenwoche steht für Vielfalt und Kleinkrieg. Und das seit zehn Jahren. Viele Lesben kommen einmal und nie wieder.  ■ Von Sonja Schock Das Eröffnungsplenum dauert noch keine zehn Minuten, da knallt es schon. Eine Immigrantin im Publikum steht auf, beschimpft Antje aus der Organisationsgruppe. Sie habe keine Lust mehr, sich so ein Gequatsche von einer weißen Frau anzuhören. Es folgt ein Redeschwall. Der Schwarz-weiß-Antagonismus erweist sich erst einmal als wirksames Totschlagargument. Dann aber springt Antjes afrodeutsche Mitstreiterin Katharina auf und bietet der Angreiferin die Stirn. Ihre ruhige Sachlichkeit färbt jedoch nicht auf diese ab – im Gegenteil! Andere Frauen mischen sich ein, die überwiegende Mehrheit des Publikums verfolgt fassungs- und ahnungslos die haßerfüllten Attacken gegen das Organisationsteam. Die Gebärdendolmetscherin in der Mitte des Raumes, die für eine Gruppe gehörloser Frauen übersetzt hat, läßt resigniert die Hände sinken. Die Situation eskaliert, wilde Flüche werden geschrien, Fäuste geschwungen, die ersten Tränen fließen. Polternd verläßt die Gruppe der Kritikerinnen den Saal. Die zehnte Berliner Lesbenwoche ist eröffnet. Ein Einzelfall? Keineswegs. Derartige Eklats gehören zur Tradition der Lesbenwoche. Kaum ein Plenum, auf dem nicht die Fetzen geflogen wären. Bereits auf der ersten Lesbenwoche 1985 endete das Abschlußplenum im Streit, weil sich die Frauen des jüdisch-lesbischen Schabbeskreises an den unreflektierten Formulierungen einiger Lesbenland-Vertreterinnen stießen. Diese hatten, in der festen Überzeugung, daß Lesben die besseren Menschen sind, ihre Utopie von eigenen männerfreien Landkommunen vorgestellt und dabei mit Begriffen wie „lesbisches Volk“ und „Inbesitznahme von Land“ operiert. Bei den darauffolgenden Lesbenwochen blockierten mal behinderte und schwarze Lesben den Weg in den Veranstaltungsraum, um ihren Protest gegen Ausgrenzungstendenzen zum Ausdruck zu bringen, mal wurden Journalistinnen des Alternativsenders Radio 100 beschimpft, weil sie auch Themen wie Pädophilie und Sadomasochismus ins Programm geholt hatten, mal endete die Veranstaltung damit, daß sich Vertreterinnen von Wildwasser und der Pädophilengruppe „Kanalratten“ gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen. Eine Autorin parodierte diesen Eklat treffend in der Dokumentationsschrift: „Ich hätt's echt ein Stück weit total wichtig gefunden oder so, wenn Radio 100 das hätte mitschneiden dürfen, aber das Plenum hatte sich anfangs gegen einen Mitschnitt entschieden, damit wir der Öffentlichkeit erspart bleiben.“ Zu einem inhaltlich-sachlichen Gedankenaustausch kam es auf den Plena höchst selten. Ein rein deutsches Phänomen scheint das nicht zu sein: „Ich bin seit 17 Jahren in der Frauenbewegung“, sagte eine Besucherin auf der diesjährigen Eröffnungsveranstaltung am Sonntag, „und ich habe noch kein Plenum erlebt, wo nicht mindestens eine Frau in Tränen ausgebrochen ist.“ Diese Ausdauer hat längst nicht jede Frau. Viele kommen einmal und nie wieder. Dementsprechend durchläuft auch die Berliner Lesbenwoche einen permanenten Verjüngungsprozeß. Kaum eine der Teilnehmerinnen ist älter als Mitte 20. Nicht alle sind primär an der inhaltlichen Seite der Veranstaltungswoche interessiert. Viele machen sich hier auf die Suche nach der großen Liebe, holen sich Mut für das Coming-out oder genießen es, anders als in ihrer Heimatregion, mal mehr als fünf Lesben auf einem Haufen zu sehen. Diese Aspekte sind zeitweilig dann auch in den Vordergrund gerückt. Nachdem noch die dritte Lesbenwoche 1987 unter dem Motto „Wir müssen politischer werden!“ stand, glitten die späteren immer mehr ins Beliebige ab. Die Auswahlkriterien folgten dem gleichen Prinzip wie einst die Freie Kunstausstellung in Berlin: Alle durften mitmachen. Heraus kamen ein buntes Potpourri von oft zweifelhafter Qualität und eine ganze Reihe an Kuriositäten. Da fordert einmal eine Gruppe Solidarität mit den „arabischen Völkern“ – mit der Begründung, daß diese jahrelange Freiheitskämpfe hinter sich hätten und deshalb eine enge Verbindung zu ihnen bestehe. Ein Jahr später wird ein „Menstruationsraum“ mit Altar eingerichtet. Für viele Grund genug, schreiend davonzulaufen. Vor allem wissenschaftlich und parteipolitisch aktive Frauen kehrten der Lesbenwoche den Rücken. Eine fatale Entwicklung, die die Verbindung zwischen think tanks, Politik und Basis zerschnitt und gegenseitige Inspiration unmöglich machte. Diese Trennung ist besonders schmerzlich angesichts der Tatsache, daß sich Lesbenforschung, anders als in den USA, in Deutschland an den Universitäten nicht etablieren konnte. Zwar wird zum Beispiel der Forschungskomplex rund um die Geschlechtsidentität auch von deutschen Wissenschaftlerinnen aufgegriffen – von denen viele mehr oder wenig offen lesbisch sind –, der universitäre Kontext heißt hier jedoch nicht queer studies, sondern Frauenforschung. Daß diese einige Mühe hat, die neuen Ansätze zu integrieren, liegt nicht zuletzt daran, daß die meisten heterosexuellen Frauenforscherinnen dringlichere Sorgen haben als die Infragestellung der eigenen Heterosexualität oder Geschlechtszugehörigkeit. Um die Theorien in die von Judith Butler und anderen geforderte subversive Praxis der Persiflage und Maskierung umzusetzen, fehlt hierzulande die lesbische Basis. Eine Ausnahme ist die Kaiserin von Tuntland, nach eigenen Angaben „eine Tunte, geboren im Körper einer lesbischen Frau“. Simulation der Simulation der Simulation: Die Lesbe imitiert den Mann, der die Frau imitiert, die das kulturelle Bild der Frau imitiert. Ihr Auftritt im Eröffnungsplenum löste nervöses Kichern aus. Ein Kegelclub aus Castrop-Rauxel hätte kaum irritierter auf die Diva reagieren können. Auch hier ist offenbar erst einmal Aufklärungsarbeit in den eigenen Reihen vonnöten. Auf den Binnenaustausch als ersten notwendigen Schritt setzt auch Katharina. Erschöpft läßt sie sich nach der Redeschlacht auf eine Bank fallen. Ob sie nicht langsam genug von den rüden Umgangsformen hat? Die 35jährige Historikerin lacht. „Nein“, sagt sie entschieden, „die Frauen müssen halt lernen, miteinander umzugehen, und irgend jemand muß ja den Rahmen dafür schaffen.“ Katharina kann auf einige Bewegungserfahrung zurückblicken. Bereits während der zweiten Lesbenwoche hat sie langwierige Rassismusdebatten geführt. Jetzt hat sie gemeinsam mit anderen weißen und schwarzen Frauen die Lesbenwoche ein zweites Mal unter der Überschrift Rassismus organisiert. „Die Reaktionen auf die letzte Lesbenwoche haben uns ermutigt“, erklärt sie, „zu mir sind einige schwarze Frauen gekommen und haben gesagt, daß sie sich zum ersten Mal hier wohl gefühlt haben.“ Sie will gerade denen Mut machen, sich zu starken Persönlichkeiten zu entwickeln, die von der Gesellschaft am meisten in Frage gestellt und in ihrer Entwicklung behindert werden. Ihr Vorbild war die afroamerikanische Autorin Audre Lorde, die unter anderem in Berlin afrodeutsche Frauen ermutigt hatte, sich zusammenzuschließen und gegen die alltägliche Diskriminierung anzukämpfen. Ein Ergebnis dieses Engagements ist die Anthologie „Farbe bekennen“, die im Orlanda-Verlag erschienen ist. „Audre hat mir geholfen, stark zu werden“, erklärt Katharina, „jetzt bin ich in dem Alter, um anderen vorzuleben, daß schwarze Frauen starke Persönlichkeiten sein können, die Verantwortung übernehmen, statt sich als Opfer zu betrachten.“ Katharina träumt davon, daß sich aus der Selbstverständigung nach innen eine politische Kraft entwickelt, die Allianzen mit anderen progressiven Bewegungen eingeht und gesellschaftsverändernd tätig wird. Als Potential bringt die deutsche Lesbenbewegung immerhin eine langjährige Erfahrung an offen geführten Auseinandersetzungen und Verständigungsversuchen zwischen sehr unterschiedlichen Frauen mit. Eine Chance könnte sein, das „Wir“ nicht als statische Größe, sondern als immer nur temporäres, an gemeinsamen Interessen und Zielen orientiertes Konstrukt zu begreifen.
sonja schock
Die Berliner Lesbenwoche steht für Vielfalt und Kleinkrieg. Und das seit zehn Jahren. Viele Lesben kommen einmal und nie wieder.  ■ Von Sonja Schock
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Debatte Chinaberichterstattung: Schlechter Umgangston - taz.de
Debatte Chinaberichterstattung: Schlechter Umgangston Über das chinesische Programm der Deutschen Welle tobt dieser Tage ein heftiger Streit. Er ist symptomatisch für das Verhältnis vieler deutscher Medien zur Volksrepublik. Wenn die Bundeskanzlerin in dieser Woche nach Peking reist, um am asiatisch-europäischen Gipfel (Asem) teilzunehmen, wird sie versuchen, das deutsch-chinesische Verhältnis wieder aufzubessern. Dieser Gipfel ist eine windelweiche Veranstaltung, auf der nicht mit konkreten Ergebnissen zu rechnen ist; seine Beschlüsse sind unverbindlich. Doch seit dem Treffen der Kanzlerin mit dem Dalai Lama vor einem Jahr hat sich das Verhältnis zwischen Berlin und Peking abgekühlt. Aber nicht nur zwischen den Regierungen kriselt es. Viele Deutsche blicken mit Skepsis auf den wirtschaftlichen Aufstieg des autoritären China und fürchten dabei auch um den eigenen Wohlstand. Viele Chinesen wiederum sehen die Berichterstattung deutscher Medien über China zunehmend kritisch. Fragte man in Deutschland lebende Chinesen nach ihrer Meinung, so vergriffen sich früher nur einzelne deutsche Medien gelegentlich im Ton - etwa der Spiegel, der mit seiner Titelgeschichte über "Die gelben Spione" alle Chinesen hierzulande unter Generalverdacht stellte oder gar einen "Weltkrieg um Wohlstand" mit dem "Angreiferstaat" China heraufbeschwor und so Ressentiments schürte. Doch als im März gleich mehrere deutsche Medien ihre Berichte über die Unruhen in Tibet fälschlicherweise mit Bildern von Demonstrationen in Nepal illustrierten, sahen viele Chinesen darin eine antichinesische Kampagne am Werk - und wurden darin von ihrer Regierung unterstützt. Mehrere tausend von ihnen demonstrierten daraufhin in Berlin gegen das, was sie als "Manipulation" hiesiger Medien empfanden. Diese Medienschelte war insofern einseitig, als sie Chinas Führung von der Kritik aussparte und nicht nach den Ursachen der Unruhen fragte. So erweckten die Demonstranten den Eindruck, von Peking gesteuert worden zu sein. Doch so einfach verhält es sich nicht. Denn Chinas kontrollierte Medien besitzen für viele Chinesen nur geringe Glaubwürdigkeit. Gerade deshalb aber ist es für Peking so wichtig, westliche Medien als unglaubwürdig zu diskreditieren. Auf diesem Umweg hoffen sie die Wirkung der eigenen Propaganda zu erhöhen. Mitten ins Kreuzfeuer dieser Kontroverse ist nun das chinesischsprachige Programm der Deutschen Welle geraten. Die chinesische Website des deutschen Auslandssenders war in den letzten Jahren in der Volksrepublik meist gesperrt, weil sie dem Regime im Peking ein Dorn im Auge war. Trotzdem geriet die stellvertretende Leiterin des chinesischen Programms, Zhang Danhong, jüngst hierzulande in die Kritik, weil sie sich im Vorfeld der Olympischen Spiele in mehreren öffentlichen Debatten ungeschickt und missverständlich zu den Themen Tibet und Menschenrechte geäußert und dabei den Eindruck erweckt hatte, mit Peking auf einer Linie zu sein. Die langjährige DW-Mitarbeiterin, sonst nicht als Propagandistin Pekings bekannt, hatte die Internetzensur in China mit dem deutschen Vorgehen gegen Kinderpornografie im Netz verglichen - so ähnlich, wie es übrigens auch der Sportfunktionär Michael Vesper getan hat. Zhang hatte sich noch nicht einmal im Programm des Senders geäußert. Doch als scharfe Kritik an ihr laut wurde, stellte sich die Senderleitung nur halbherzig hinter sie; später beugte sie sich dem Druck und entband Zhang von ihrer Leitungsfunktion. Für die Propagandaabteilung der chinesischen Regierung war das ein gefundenes Fressen, konnte sie die Abstrafung einer Journalistin, die sich dem geltenden Konsens der Negativberichterstattung über China verweigerte, doch als Beispiel für westliche Doppelmoral im Umgang mit Meinungsfreiheit geißeln. Die Nachrichtenagentur Xinhua sprach sogar von einem wiederkehrenden "Nazi-Geist". Das wiederum rief die Eiferer auf der anderen Seite auf den Plan. Einige Exilchinesen, darunter prominente Falun-Gong-Aktivisten, sahen die Deutsche Welle bereits von Chinas KP unterwandert und empfanden die Sanktionen gegen deren vormals leitende Journalistin als viel zu halbherzig. Zu einem Politikum wurde diese Debatte, die mehr einer persönlichen Fehde unter Exildissidenten ähnelte, als sich ein "Autorenkreis der Bundesrepublik" auf die Seite der Kritiker schlug. Auch wenn die meisten der Unterzeichner bis dato kaum etwas von dem Programm gehört haben und auch des Chinesischen kaum mächtig sein dürften, fordern sie doch sogleich eine "ausführliche Überprüfung der Berichterstattung der China-Redaktion" sowie aller Mitarbeiter des Senders. Auch solle dort zur Kontrolle der rechten Gesinnung ein "diktaturimmuner Beobachter" installiert werden, so die zentrale Forderung. Diese Forderung ist weltfremd und gefährlich. Denn statt einer unabhängigen und pluralistischen Berichterstattung über China, die auch unbequeme Meinungen erduldet und diskutiert und damit Pressefreiheit nach innen vorlebt, wäre ein einseitiger Gesinnungsjournalismus die Folge. Statt kritisches Debattenforum und "Brücke der Völkerverständigung" zu sein, würde die Deutsche Welle damit zu einem Propagandaorgan für die "richtige" Meinung degradiert. Von viel Vertrauen in die Kraft der eigenen Argumente und Werte kündet das nicht. Natürlich verdienen Chinas Dissidenten unseren Schutz, wenn sie verfolgt werden, und unsere Solidarität, wenn es um ihre Meinungsfreiheit geht. Doch wenn sie fordern, dass nur noch ihre Meinung zählen darf, dann werden sie ihren Verfolgern immer ähnlicher. Dem darf nicht nachgegeben werden, denn auch zu chinesischen Dissidenten müssen deutsche Medien professionelle Distanz halten. Niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet. Die Kritiker der Deutschen Welle stilisieren den Konflikt zu einem Kampf zwischen Meinungsfreiheit und Diktatur. Dabei merken sie nicht, dass sie selbst dabei sind, die Meinungsfreiheit zu gefährden, die sie zu verteidigen vorgeben. Chinawissenschaftler und bekannte Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt, die nicht ins allgemeine China-Bashing einstimmen, werden angefeindet. Zu Recht wehren sich so gut wie alle namhaften Sinologen gegen dieses Vorgehen. Chinas Entwicklung ist zweifellos widersprüchlich. So werden in der Volksrepublik jedes Jahr mehr Menschen hingerichtet als im gesamten Rest der Welt. Zugleich wurden in China in den letzten 30 Jahren auch bis zu 400 Millionen Menschen aus der Armut geholt. Natürlich lässt sich das nicht gegeneinander aufwiegen. Aber im Umgang mit China greift ein simples Schwarz-Weiß-Denken zu kurz - dafür gibt es zu viele Grautöne, die der Einordnung bedürfen. Guter Journalismus sollte diese Realität in all ihren Facetten und Widersprüchen ausleuchten, denn Chinas Bedeutung in der Welt nimmt zu. Manche Medien und Politiker aber stilisieren das Land lieber zum neuen Feind, den sie für alle möglichen Probleme verantwortlich machen können.
Sven Hansen
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Der Seeblogger - taz.de
Der Seeblogger Als Funker ist der gebürtige Allgäuer Eduard Henn mehr als 30 Jahre lang zur See gefahren. Heute plagt ihn Rheuma und die Angst vor dem Fernweh. In einem Weblog schreibt er aus St. Pauli über seine Reisen und das Leben auf dem Kiez Thailand, Australien, Afrika: Opa Edi ist in seinem Leben selten längere Zeit an einem Ort geblieben VON SILKE BIGALKE „Stört es dich, wenn ich rauche?“ Eduard Karl Henn beugt sich nach vorne und greift zur roten Zigarettenschachtel, einer Billigmarke. „Das ist meine letzte Packung. Ich höre auf.“ Der 66-Jährige, der sich selbst Opa Edi nennt, rollt in seinem schwarzen Bürostuhl weg von dem niedrigen Glastisch. In seiner kleinen Anderthalbzimmerwohnung im 14. Stock über der Reeperbahn beißt sich der dunkelblaue Teppich mit dem grünen Überwurf auf dem alten Bettsofa. Doch wenn er aufsteht, kann Opa Edi durchs Fenster über die Balkonbrüstung hinweg den Hafen sehen. Mit seiner vorvorletzten Zigarette zwischen den schmalen Lippen schaut er in den rosa gefärbten Abendhimmel. „Nein, hier gehe ich nicht mehr weg“, sagt er. Seine Mundwinkel zucken Richtung Ohrläppchen. Henn ist in seinem Leben selten längere Zeit an einem Ort geblieben. Als Funker fuhr er 36 Jahre lang zur See. Neben der Wohnzimmertür hängen Fotos von seinen Fahrten: Sidney, die bergige Küste Thailands, Afrika. Gegenüber umrahmen Porträtfotos von jungen Leuten den Computer auf dem Ecktisch. „Das sind meine Lieblinge aus dem Netz“, erklärt Opa Edi. Er schreibt das Weblog „Der Club der halbtoten Dichter“. Den Namen hat er von einem Punk aus seiner Algäuer Heimat. Ihm hat er früher seine Geschichten vorgelesen. Jetzt erzählt Edi im Internet aus seinem Leben. Mit 17 Jahren meldete sich der gebürtige Kemptener Henn in Wilhelmshaven zur Marine. Er wollte weg vom untreuen Vater und der Familie, die er als Maurerlehrling mit 90 Mark Lehrgeld im Monat ernährte. „Meine Bildung war auf Grundschulniveau“, sagt er. „Aber ich wollte die Welt sehen.“ Mit 18 Jahren wurde der groß gewachsene Mann zum jüngsten Unteroffizier der deutschen Marine. Er lernte Englisch, Französisch und Spanisch. Edi atmet tief ein. Man hört dieses leise Quietschen, dann hustet der Raucher los. Sein ganzer Körper drückt sich in den Stuhl, die Füße heben vom Boden ab. Wegen des Hustens sei jetzt Schluss mit den Zigaretten, keucht er. Ihm stehen die Tränen in den Augen. „In einem Taifun sind die größten Schiffe hilflos“, sagt er. „Zwischen riesigen Wänden aus Wasser ist es aus mit dem Heldentum.“ Edi hat einen solchen Taifun ein Mal gestreift. Bei starkem Unwetter gab es an Bord tagelang nichts zu essen, weil die Töpfe in der Kombüse durcheinander flogen. „Wenn alles rausgekotzt ist und nur noch Galle kommt, wollen viele gar nicht mehr leben.“ Bei der Marine hat der junge Offizier seine seekranken Kumpels am Mast festgebunden, damit sie nicht vor Verzweiflung über Bord gingen. „Übel wird dem Opa, wenn er an die Käsespätzle der Schwaben denkt“, sagt er. Käsespätzle seien schließlich eine Spezialität aus dem Allgäu. Im Internet streitet sich der 66-Jährige darüber mit einem Stuttgarter namens „Poodle“. „Da geht’s richtig zur Sache“, sagt Edi und stellt seine Stimme auf ernst. Richtige Spätzle gebe es nur bei ihm, im „Café Sperrmüll“. So nennt Edi seine Wohnung. Eintrittskarte ist ein Polaroidfoto an der Eingangstür. Wer hier hängt, darf jederzeit auf ein Astra vorbei kommen. Opa Edi fotografiert nur seine Lieblingsgäste. Viele junge Leute, hauptsächlich Studenten, wollen ihn besuchen, nachdem sie sein Blog gelesen haben. Einige kennt Edi noch aus seiner Zeit als Kurierfahrer. Als er mal keinen Job auf See hatte, fuhr er die Jugendlichen mit dem Dienstwagen abends von der Disco nach Hause. Edi will nirgendwo anders wohnen als auf dem Kiez. „Hier kommen meine Freunde oft vorbei und sehen, ob es schon nach Verwesung riecht.“ Wer in St. Pauli zu lange feiert, schläft einfach auf Opas Bettsofa. Neben der Tür zur Küche hängt ein Bild von Edis Frau Emma. Mit 21 Jahren hat er sie geheiratet. Da hatte sie schon einen zweijährigen Sohn. „Nach zwei Legislaturperioden habe ich mich geschieden,“ erzählt der Seemann trocken. „Nach acht Jahren.“ Bei der Marine hielt Edi es zwölf Jahre aus, dann wechselte er zur christlichen Seefahrt. „Ich bin kein Soldat.“ Wenn Seeleute in einen Hafen kommen, müssen sie Druck ablassen, sagt der Funker. „In Brasilien oder Mexiko ist das mit den Prostituierten eine ganz andere Sache als hier.“ Edi redet jetzt schneller. Hier in Hamburg müsse man vorher alles aushandeln, sagt er und wippt auf seinem Stuhl. „Ohne BH kostet auf dem Kiez zehn Euro extra.“ In Lateinamerika hingegen lerne man die Mädchen ganz ungezwungen beim Tanzen kennen. Verliebt hat sich Edi in die Mexikanerin Linda aus Veracruz. In ihrer Blechhütte am Stadtrand teilten sie eine Matratze und hörte den ganzen Tag „Hotel California“. Das scharfe Chili von Lindas Vater ließ dem Seefahrer Tränen in die Augen steigen. In seinem Blog schreibt er: „Nie wieder werde ich so unbeschwert sein können wie in den Tagen von Veracruz.“ Bevor er ablegte, gab er Linda alles Geld, das er bei sich trug. „I’m coming back, I promise“, sagte er zum Abschied. „Das war die größte Lüge meines Lebens.“ Einen Moment lang sitzt der alte Seefahrer ganz ruhig. Ein tiefes, lang gezogenes Tuten ertönt. Edis Mund zieht sich zu einem Grinsen. „Das ist ein Großer“, ruft er im Aufstehen. „Große Schiffe machen tiefe Geräusche, lange Sinuswellen. Die hört man weit.“ Durch sein Fernglas schaut Edi vom Balkon aus zum Hafen. Ein Kreuzfahrtschiff schiebt sich an den orangen Kränen vorbei. Edi dreht den Kopf mit. Als das Schiff weiter weg ist, stellt er das Fernglas weg und stützt sich auf die Brüstung. Seit 13 Jahren plagt ihn das Rheuma. Noch mehr plagt ihn die Angst vor dem Fernweh. Das Internet lenkt den Funker von Reisereportagen im Fernsehen ab. Den Blog der halbtoten Dichter schreibt Edi seit mehr als einem Jahr. An besonders gute Gastautoren verteilt er gefälschte Äquatortaufscheine. Die bekommt ein Seefahrer sonst nur, wenn er das erste Mal den Äquator überquert. Über den Blog hat Edi seinen alten Kumpel, den Bootsmann Klaus, wiedergefunden. Klaus hatte seinen eigenen Namen gegoogelt und war auf Edis Lebensgeschichte gestoßen. Die erzählt der Rentner online in 41 Kapiteln. Jeder darf seine Karriere kommentieren, bis auf das letzte Kapitel. Es handelt von Edis jüngerem Sohn Hardy, der vor zwei Jahren an Krebs gestorben ist. Bevor er starb, habe Hardy vor Schmerzen geschrien. Den Enkel musste Edi damals zu sich nehmen. „Wenn ich Krebs habe, dann mache ich keine Chemo“, sagt er. „Ich bin jetzt für niemanden mehr verantwortlich.“ Er dreht den Stuhl vom Fenster weg zur Wand. Neben dem Schreibtisch liegen auf einem Stapel die Ergebnisse seiner Vorsorgeuntersuchung. Aber er hat noch nicht reingeguckt. „Will ich gar nicht wissen“, murmelt der Opa. Er will seinen Enkel in Süddeutschland besuchen fahren, doch derzeit fehlt dafür das Geld. Wenn er sich nach einem Besuch dort unten verabschiede, dann habe er immer das Schlucken im Hals, sagt der 66-Jährige. Aber Umziehen? „Hier habe ich alles, was ich brauche“, sagt Edi und greift zur vorletzten Zigarette. http://neobazi.net/
SILKE BIGALKE
Als Funker ist der gebürtige Allgäuer Eduard Henn mehr als 30 Jahre lang zur See gefahren. Heute plagt ihn Rheuma und die Angst vor dem Fernweh. In einem Weblog schreibt er aus St. Pauli über seine Reisen und das Leben auf dem Kiez
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Monsterboxen und Mutationen - taz.de
Monsterboxen und Mutationen LATIN BASS Kolumbiens musikalischer Exportschlager, die Cumbia, wird gerade durch den Fleischwolf gedreht und als urbaner Dancefloor-Stil neu erfunden VON ZONYA DENGI Kolumbien wird in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht bis heute von weißen Eliten beherrscht. In der Musik dagegen sind die afrikanischen Einflüsse unüberhörbar: etwa in der Cumbia, die auf Rhythmen aus der Sklavenzeit gründet, die durch indigene Einflüsse und europäische Instrumente wie Gitarre und Akkordeon angereichert wurden. Sie ist der größte musikalische Exportschlager Kolumbiens und erlebt gerade ihren zweiten oder dritten Frühling. Eine junge Generation von Beatbastlern, DJs und Band-Kollektiven ist in den letzten Jahren mit Erfolg dabei, das Genre aus seiner ursprünglichen Umgebung der Dorffeste und Armenviertel herauszulösen, mit moderner Elektronik durch den Fleischwolf zu drehen und in den Pop-Circuit einzuspeisen. Bands wie Systema Solar, Choc Quip Town und La 33 verbinden die Cumbia mit urbanen Lyrics und Sounds zum tropischen Barrio-Underground. Mit Witz und Ironie sprechen sie dabei auch Themen wie die Kluft zwischen Arm und Reich, den Machismo, Armut und Gewalt an. Die „Pico“ ist die kolumbianische Variante der Sound Systems jamaikanischer Art: mobile und bunt bemalte Boxentürme, die Partyzentrale, Treffpunkt und Nachbarschaftsradio zugleich sind. Die siebenköpfige Band Systema Solar von der kolumbianischen Karibikküste beamt die Pico-Kultur ins digitale Zeitalter. Mit spacigen Astronautenanzügen und visuellen Effekten werfen sie bei ihren Auftritten alle Vorstellungen von „authentischer Latino-Kultur“ über den Haufen. In ihrem Hit „Ya Verás“ gleitet eine melodische Old-School-Cumbia elegant in einen Raggamuffin-Part über, im pumpenden Track „Bienvenidos“ verkünden sie eine sarkastische Willkommensbotschaft: Du bekommst kein Visum für ein anderes Land, keine Bank gibt dir noch Kredit, du bist pleite? Dann bleib doch hier in Kolumbien! Gerne in Kolumbien ist auch der Wahlberliner Steen Thorsson. Zusammen mit seinem Kumpel Lukasz Tomaszewski gründete er vor fünf Jahren das DJ-Kollektiv La Chusma, mit dem sie regelmäßige Latin-Partys beschallten. Jüngst gründeten sie eine eigene Plattenfirma, mit der sie nun auch ein Album von Systema Solar vertreiben. Für das Münchner Trikont-Label hat Thorsson jetzt den Sampler „Afritanga“ zusammengestellt, der zum Streifzug durch die diversen Regionen dieses südafrikanischen Riesenstaats einlädt, der an die Karibik und den Pazifik grenzt und sich bis zum Amazonasbecken erstreckt. Cumbia, Son und Salsa, aber auch lokale Genres wie Vallenato, Porro oder Champeta vermengen sich dabei mit HipHop, House und Techno, Reggaeton oder psychedelischem Funkrock zur unwiderstehlichen Geräuschkulisse. Dazwischen geben sich auf „Afritanga“ aber auch altgediente Veteranen der kolumbianischen Folklore wie Alfonso Córdoba die Ehre. Der Cumbia-Kult treibt jedoch längst in ganz Lateinamerika Blüten. Im Norden des Kontinents schnipseln mexikanische Produzenten wie Toy Selectah aus Monterrey mal Texmex, mal HipHop mit Polizeisirenen und Industrial-Beats unter mutierte Cumbia-Rhythmen, die mit der gleichnamigen Volksmusik nur noch wenig zu tun haben. Ganz im Süden hat sich eine Spielart namens Cumbia Digital herausgebildet: die Rhythmen der kolumbianischen Folklore bilden nur noch das Gerüst für pulsierende Elektro-Tracks, die sich irgendwo zwischen Baile Funk, Italo-Disco und anderen Dancefloor-Stilen einreihen. Das Gravitationszentrum dieser Bewegung bildet das argentinische Underground-Label ZZK Records mit Sitz in Buenos Aires. Zu dessen Galionsfiguren zählen die Frikstailers: zwei DJs und Produzenten, die sich hinter neonfarbenen, grellbunten Perücken, überdimensionierten Brillen und wechselnden Pseudonymen verstecken und ihre Cumbia-Collagen mit tropischem Techno, hypnotischem Minimal Dub, Mickymaus-Stimmen und hektischen Videoclip-Effekten aufmischen. Ob man das Ergebnis nun Cumbia Electrónico, Tecno Cumbia oder Nu Cumbia nennt, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass diese Bewegung inzwischen, über Internet und digitales File-Sharing, längst auch in die USA und bis nach Europa und Australien ausstrahlt. ■ Systema Solar (Chusma Records). Compilations: Cumbia Bestial (Chusma Records). Afritanga: The Sound of Afrokolombia (Trikont)
ZONYA DENGI
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Kommentar Tracking und IP-Adressen: Verfolgung im Dunkeln - taz.de
Kommentar Tracking und IP-Adressen: Verfolgung im Dunkeln Auch wenn das Urteil zu IP-Adressen positiv zu bewerten ist, gibt es viele Arten des Trackens. Die User erfahren davon nichts – das muss sich ändern. Kann man sich überhaupt noch verstecken? Foto: imago/ZUMA Press Dass der Europäische Gerichtshof IP-Adressen nun eindeutig als personenbezogene Daten eingestuft hat und damit das Verwenden für die digitale Verfolgung zumindest erschwert, ist erst einmal gut. Doch IP-Adressen sind längst nicht der einzige Weg, Nutzer im Netz zu erfassen. Von Cookies und Super-Cookies über die Social-Media-Buttons, etwa von Facebook oder Twitter, bis hin zum Browser-Fingerprinting, bei dem User anhand von Merkmalen ihres Webbrowsers identifiziert werden – die Zahl der Methoden ist riesig, und in der Regel beschränken sich gerade die großen Anbieter nicht auf eine. Längst ist es möglich, Nutzer auch geräteübergreifend zu verfolgen. Allein – die Betroffenen erfahren davon praktisch nichts. Und das muss sich ändern. Klar, die eine oder der andere wird stutzig, wenn, einmal Wanderschuhe gesucht, in den kommenden Wochen ständig Werbung für Outdoorkleidung auftaucht. Manche rüsten dann digital auf. Cookies ablehnen, Datenschutzeinstellungen im Browser optimieren, Add-ons gegen die digitale Verfolgung installieren. Doch Hand aufs Herz – wer macht das schon? Es wird also Zeit, dass die Betreiber von Websites zu mehr Transparenz verpflichtet werden. Und zwar nicht versteckt in Punkt 37 und 52 der Datenschutzerklärung. Sondern mittels eines schicken Kastens direkt auf der Startseite. Dicke Werbung geht an dieser Stelle schließlich auch. Wer eine Website besucht, würde dann auf einen Blick etwa sehen, welche Werbenetzwerke und Analysetools der Betreiber eingebunden hat, welche Daten an wen fließen, wie lange sie gespeichert und wofür sie verwendet werden. Bei Nichtgefallen sollte sich das per Klick sofort unterbinden lassen. Wetten, die meisten Anbieter wären darüber nicht amüsiert? Und würden alsbald schauen, dass sie ihre Masse von Trackingmethoden etwas schlanker gestalten? Und das wäre doch nicht das Schlechteste.
Svenja Bergt
Auch wenn das Urteil zu IP-Adressen positiv zu bewerten ist, gibt es viele Arten des Trackens. Die User erfahren davon nichts – das muss sich ändern.
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Thüringens neuer Ministerpräsident: Fassungslosigkeit in Berlin - taz.de
Thüringens neuer Ministerpräsident: Fassungslosigkeit in Berlin Der Dammbruch in Thüringen wird zur Belastung für die Groko. Vizekanzler Olaf Scholz hat „ernste Fragen“ an die Spitze der CDU. Kevin Kühnert inmitten einer kleinen Demonstration vor der CDU-Zentrale in Berlin Foto: Michael Kappeler/dpa BERLIN taz | Die Schwüre in Berlin, in Thüringen niemals mit der AfD zu kooperieren, sie hallen noch in den Ohren. „Die Debatte über Gespräche mit der AfD ist irre“, sagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak im November 2019. Die CDU habe dazu auf dem Parteitag 2018 einen Beschluss gefasst. „Und die Meinung der CDU hat sich nicht geändert. Punkt, aus. Ende der Durchsage.“ FDP-Chef Christian Lindner legte sich ebenfalls fest. „Für die FDP ist eine Zusammenarbeit mit Linker und AfD ausgeschlossen“, sagte er im Oktober. Sein Argument: Beide Parteien wollten die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland verändern. Tja. Und nun? Die entschiedenen Sprüche sind perdu, ignoriert und kalt ad absurdum geführt von den Thüringer Landesparteien. Die Wahl des FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD schickt am Mittwoch Schockwellen durch die Republik. Christdemokraten und Liberale heben einen der ihren mithilfe der Rechtsradikalen ins Amt, um den Linken Bodo Ramelow zu verhindern. „Dammbruch“, „Ruchlosigkeit“, „historischer Tiefpunkt“, lauten fassungslose Kommentare bei SPD, Grünen und Linken. Das Foto, auf dem AfD-Rechtsaußen Björn Höcke Kemmerich per Handschlag gratuliert und sich dabei leicht verneigt, wird in die Geschichtsbücher eingehen. Mit Rechtsradikalen regieren geht dann doch? Von Christian Lindner stammt der legendäre Satz: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Er sagte ihn, als er 2017 die Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis beendete. Aber mit Rechtsradikalen regieren, das geht dann doch? Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)„Sich von jemandemwie Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel“ Am Nachmittag gibt der FDP-Vorsitzende ein Statement ab. Er sagt, dass die Landtagsfraktion in eigener Verantwortung handle, dass Freiheit und Weltoffenheit jenseits von AfD und Linken der Wählerauftrag der FDP seien. „Wer in geheimer Wahl unseren Kandidaten unterstützt, das liegt nicht in unserer Macht.“ Und, das vor allem, er bringt Neuwahlen ins Spiel. „Sollten sich Union, SPD und Grüne einer Kooperation mit der neuen Regierung fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig.“ Andere in der FDP formulieren schärfer. Sie verstehe Kemmerichs Wunsch, Ministerpräsident zu werden, schreibt Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Abgeordnete und Mitglied des Bundesvorstands, auf Twitter. „Sich aber von jemandem wie Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel und unerträglich.“ Es sei ein schlechter Tag für sie als Liberale. Kein Mucks aus dem Konrad-Adenauer-Haus Und die CDU? Bei der Bundespartei herrscht erst einmal Schockstarre. Nach dem Fiasko von Erfurt dringt eine verdammt lange Weile kein Mucks aus dem Konrad-Adenauer-Haus; dort ist man fassungslos über die taktische Kaltblütigkeit des Thüringer Landesverbands. Dessen Landesvorsitzender Mike Mohring hatte noch in der Schlussphase des Wahlkampfs auf einer taz-Veranstaltung vollmundig AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke als Nazi bezeichnet. „Mit denen werden wir nicht zusammenarbeiten.“ Ein Versprechen an die WählerInnen, das nun gebrochen wurde. Ganz kurz vor dem Tag der Erfurter Ministerpräsidentenwahl sollen sich die Thüringer CDU-Fraktionsmitglieder darauf verständigt haben, im dritten Wahlgang für den FDP-Kandidaten zu stimmen. Auch um den Preis, Bodo Ramelow von Höckes Gnaden zu verhindern. Ein deutlicher Hinweis auf Mohrings Führungsschwäche; der Landesvorsitzende verfügt ganz offensichtlich über keine Richtlinienkompetenz unter seinen Leuten. Der Außenpolitiker und frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz ist erschüttert. Gegenüber der taz sagte er: „Es muss klar sein, dass die CDU nicht in eine FDP-geführte Minderheitsregierung eintritt, die von der AfD toleriert wird.“ Das Ergebnis müsse ja unter Beteiligung der völkisch nationalistischen AfD zustande gekommen sein. Derlei Kooperationen verbietet die CDU. Polenz fordert Konsequenzen: „Die CDU sollte Ministerpräsident Kemmerich auffordern, so schnell wie möglich Neuwahlen herbeizuführen.“ Am Abend tritt dann doch noch Paul Ziemiak vor die Presse. Der CDU-Generalsekretär findet deutliche Worte. Die FDP habe „mit dem Feuer gespielt und heute Thüringen und unser ganzes Land in Brand gesetzt“. Den CDU-Landesverband greift er frontal an. Die dortigen Abgeordneten hätten billigend in Kauf genommen, dass „ein neuer Ministerpräsident auch mit den Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke“ gewählt werden konnte. „Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen. Fortbestand der Großen Koalition gefährdet Angesichts der Forderung von SPD-Chefin Saskia Esken nach einem Koalitionsgipfel könnte er da recht behalten: Die Vorgänge von Erfurt gefährden den Fortbestand der Großen Koalition. „Das hat Auswirkungen weit über Thüringen hinaus“, stellt auch Vizekanzler Olaf Scholz fest. „Es stellen sich für uns sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU, auf die wir schnelle Antworten verlangen.“ Was in Erfurt passiert sei, sei kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache. Scholz dürften Fragen wie diese vorschweben: Was wird die Bundes-CDU tun? Muss sie nicht ihre Parteifreunde in Thüringen davon abhalten, in die Regierung einzutreten, um glaubwürdig zu bleiben? Muss sie nicht mit Ausschlussverfahren drohen? SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil spricht von einem Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte, „nicht nur für Thüringen, sondern für ganz Deutschland“. Die Antworten aus CDU und CSU kamen prompt. Annegret Kramp-Karrenbauer, derzeit in Strasbourg, sagte unmissverständlich: „Das Verhalten der CDU im dritten Wahlgang geschah ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei. Am Abend empfiehlt das CDU-Präsidium einstimmig Neuwahlen in Thüringen. CSU-Chef Markus Söder spricht von einem „inakzeptablen Dammbruch“. Die CDU erleide durch die Parteifreunde in Thüringen einen Glaubwürdigkeitsverlust. Ebenso die Liberalen: „Die FDP hat sich bei Jamaika verweigert, aber bei dieser Aktion jetzt mitgemacht“, sagte ein sichtlich empörter Söder. „Dass am Ende jemand mit fünf Prozent zum Ministerpräsidenten wird, zeigt, dass auf dieser ganzen Aktion kein Segen liegen wird.“ Keine Zusammenarbeit mit der AfD Die Grünen fordern Kemmerich auf, sein Amt „unverzüglich“ niederzulegen. „Das ist ein Pakt mit Rechtsextremen“, heißt es in einer Erklärung, die die Partei- und Fraktionsvorsitzenden Annalena Baerbock, Robert Habeck, Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter gemeinsam veröffentlichen. Bundes-CDU und Bundes-FDP hätten beschlossen und x-mal behauptet, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. Lege Kemmerich das Amt nicht nieder, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen. „Sonst sind ihre Worte und Unvereinbarkeitsbeschlüsse keinen Pfifferling mehr wert.“ Parteichef Robert Habeck kritisierte die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen als „Kulturbruch“ und forderte ihn zum sofortigen Amtsverzicht auf. CDU und FDP in Thüringen hätten bewusst einen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD gewählt, erklärten die Spitzen von Partei und Fraktion am Mittwoch in Berlin. „Wir sind entsetzt von der Ruchlosigkeit und Verantwortungslosigkeit von CDU und FDP in Thüringen.“
Anja Maier
Der Dammbruch in Thüringen wird zur Belastung für die Groko. Vizekanzler Olaf Scholz hat „ernste Fragen“ an die Spitze der CDU.
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Blitze im Kopf - taz.de
Blitze im Kopf Migräne ist eine Krankheit, vor der viele Mediziner kapitulieren. Obwohl die Betroffenen Qualen leiden, wird ihr Zustand oft belächelt. Eine Kieler Klinik zeigt neue Wege in der Behandlung auf von Eva Weikert Andreas Schmidt* ist 26 Jahre alt. Zwischen seinem 16. und seinem 24. Lebensjahr hat er keinen Tag ohne Kopfschmerzen erlebt. Manchmal sei der Schmerz so angewachsen, „dass ich aus dem Fenster springen wollte“, sagt er. Schon morgens habe er fünf Tabletten auf einmal genommen – auch morphiumhaltige. Keinen Tag habe er im Job gefehlt, trotz der Hölle im Kopf stets funktioniert. Bis eines Tages „gar nichts mehr ging“: Schmidt konnte nicht mehr aufstehen, jede Bewegung eine Explosion im Kopf. Ein Notarzt kam, Schmidt wurde in eine Spezialklinik eingewiesen. Am zweiten Tag, erinnert er sich, war der Schmerz „wie ausgeschaltet. Ein Riesenerlebnis.“ Der Schalter ist noch umgelegt. Zwei Jahre liegt der Aufenthalt in der Schmerzklinik Kiel (www.schmerzklinik.de) zurück und Schmidt „geht es sehr gut“, wie er sagt. Höchstens zweimal pro Monat habe er „leichte Kopfschmerzen“. Verhalten ändern Ein Wundermittel hat ihm in Kiel niemand verabreicht. Geholfen hat ihm eine Kombination aus Tablettenentzug und Neumedikamentierung mit Psychotherapie und Entspannungsprogramm. Die Spezialklinik setzt bei schwerer Migräne und Dauerkopfschmerz auf ein neurologisch-verhaltensmedizinisches Behandlungskonzept. Chefarzt Hartmut Göbel erklärt: „Es geht darum, die richtigen Medikamente für einen Patienten zu finden und ihn zu bewegen, sein Verhalten zu ändern.“ Göbel behandelt Menschen, die ihren Alltag aufgrund massiver Kopfschmerzen – oft begleitet von Seh- und Sprachstörungen, Übelkeit und sogar Bewusstlosigkeit – nicht mehr bewältigen können und an zahlreichen Begleitproblemen wie Erschöpfung und Depression, aber auch Blutdruck- und Magenproblemen leiden. Göbel: „Migräne ist eine Krankheit und kein Symptom von irgendetwas anderem.“ Doch das wissen viele Betroffene nicht. Die 42-jährige Petra Fiedler*, die seit ihrem 13. Lebensjahr unter Migräneattacken leidet, hat einen Wunderheiler mit einer Rute durch ihr Haus geschickt, Möbel gerückt, eine Bodenprobe im Garten nehmen lassen, sich alles Amalgam aus den Zähnen entfernen lassen und neben der Schulmedizin Akupunktur und die Homöopathie ausprobiert – vergeblich. Erst die Kieler halfen ihr. Über einen Zeitraum von 15 Jahren hatte sie etwa alle zwei Tage Migräne bekommen, angekündigt durch die so genannte Aura: Zickzacklinien im Gesichtsfeld, Schwindel und Lärmempfindlichkeit. In Hochzeiten nahm die Hausfrau und Mutter bis zu 30 Schmerztabletten am Tag gegen das Hämmern im Kopf, das von Erbrechen begleitet war. Heute, zwei Jahre nach dem Klinikaufenthalt, kommen die Anfälle noch etwa einmal im Monat. Grundlage für die Attacken ist Mediziner Göbel zufolge eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems für plötzlich auftretende äußere und innere Reize. Die besonders intensive und schnelle Reizverarbeitung sei angeboren. „Dadurch wird bei starken Reizveränderungen eine übermäßige Freisetzung von Nervenübertragungsstoffen im Gehrin ausgelöst“, so Göbel: „Folge ist eine Entzündung an Blutgefäßen des Gehirns.“ Die bewirkt den Schmerz. Eigentlich könnten migräneanfällige Menschen stolz sein, denn ihr Gehirn arbeitet besonders aktiv. Migränepatienten seien oft sehr leistungsfähige Menschen, so Göbel, die die Belastung nicht wahrnehmen und ihre Grenzen nicht einhalten. Der Ulmer Andreas Schmidt leitete mit 19 Jahren einen Supermarkt: „Ich habe permanent funktioniert“, sagt er. Durch den Dauerschmerz sei er nach der Arbeit „völlig apathisch“ gewesen. Freizeitaktivitäten habe es keine gegeben. Irgendwann habe er Probleme mit seiner Freundin bekommen: „Ich beschäftigte mich nur mit dem Schmerz.“ Die Fachleute unterscheiden mehr als 251 Kopfschmerzformen. Die Kieler Spezialklinik wurde 1998 als Modellprojekt der AOK Schleswig-Holstein gegründet – um längerfristig Geld zu sparen. Denn chronische Schmerzkrankheiten verursachen hohe Kosten. Ein Gutachten der Gesellschaft für Systemberatung im Gesundheitswesen von 2002 bescheinigt den Kielern Effizienz. Das körperliche, psychische und soziale Befinden der erfassten Patienten habe sich wesentlich verbessert, und die Besserung habe über den Beobachtungszeitraum von zwei Jahren nach der Therapie angehalten. Wie ein Sonnenbrand Schmidt war vier Wochen in Kiel. Zuerst musste er eine „Kopfschmerzmittelpause“ machen: Durch die unkontrollierte Einnahme von Migränemitteln erhöht sich die Attackenfrequenz, es kommt zu einer Art Abhängigkeit. Der Entzug kann bis zu einer Woche dauern. Abgemildert wurde er bei Schmidt durch eine Infusion aus Cortison und Anti-Depressiva. Parallel dazu arbeiteten Therapeuten mit ihm an einem Verhaltensprogramm dazu, sich der bedrohlichen Reizüberflutung nicht mehr auszuliefern. Ergänzend wurde die progressive Muskelentspannung geübt. Physiotherapie sollte Bewegungsfehler beheben. Im Migräneseminar sprach ein Arzt über Auslösefaktoren und Strategien, ihnen auszuweichen. Auch Ernährungs- und Schlafgewohnheiten gehören dazu. In der Psychotherapie wurde nach subtileren Verhaltensmustern gesucht, die Migräneanfälle begünstigen. Göbel sagt: „Der Patient soll Experte für sein eigenes Wohlbefinden werden.“ Im Grunde sei Migräne wie Sonnenbrand: „Sie können ihn durch Wissen und Verhalten vermeiden.“ *Name geändert
Eva Weikert
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Ernährungsstrategie: Berlin isst künftig besser - taz.de
Ernährungsstrategie: Berlin isst künftig besser Verbraucherschutz-Senator Behrendt stellt die Berliner Ernährungsstrategie vor. Kritik gibt es an zu geringer Bürgerbeteiligung. Gesünder essen sollen viele Berliner*innen in Zukunft Foto: dpa Nach langer Vorbereitung hat der Senat jetzt die sogenannte Ernährungsstrategie beschlossen, die mehr gesunde Mahlzeiten auf Berliner Teller bringen will. Als Verbraucherschutz-Senator Dirk Behrendt am Mittwoch den „Ak­tionsplan“ für die Strategie vorstellte, konnte er sogar ein besonderes Finanz-Bonbon dazulegen. Für das Grundschulessen, das auf mehr biologisch angebaute Lebensmittel umgestellt werden soll, gibt es 2021 einen besonderen Schluck aus der Pulle: Der Senatszuschuss steigt dann von 3,8 auf 12,8 Millionen Euro, damit die Schul-Caterer den Bio-Anteil auf 50 Prozent steigern können. Einschränkung Behrendt: „Das Abgeordnetenhaus muss am Donnerstag erst noch seine Zustimmung geben.“ Insgesamt acht Handlungsfelder umfasst die Ernährungsstrategie. Sie reichen von der Gemeinschaftsverpflegung in den öffentlichen Kantinen, weniger Vergeudung von Lebensmitteln, Ernährungsbildung in der Schule bis hin zur wirtschaftlichen Wertschöpfung in der Region und Food-Kooperationen in den Kiezen. „Diese Strategie für mehr regionale, mehr saisonale und mehr biologische Lebensmittel bildet die Grundlage für eine nachhaltige und zukunftsfähige Ernährung aller Berlinerinnen und Berliner“, erklärte Behrendt. In seinem Etat stehen dafür jährlich 1,5 Millionen Euro zur Verfügung. Die Kosten für die Schulessen ressortieren bei Bildungssenatorin Scheeres. Bundesweite Spitze Weil diese starke Förderung im Benehmen mit dem Finanzsenator erst gezimmert werden musste, habe sich die Verabschiedung der Ernährungsstrategie in die Länge gezogen, erklärte Behrendt gestern vor Journalisten. Wenn die „Biologisierung“ des Grundschulessens von einem gegenwärtigen Anteil von 15 Prozent über 30 Prozent 2020 und ab dem Sommer 2021 auf 50 Prozent steigt, wäre schon ein gutes Stück des Weges zum Kopenhagen-Ziel von 90 Prozent nachhaltig produzierter Lebensmittel erreicht. Nach der Kostenfreiheit des Schul­essens würde sich Berlin mit der Essensqualität erneut an die bundesweite Spitze bewegen. Die Umgestaltung des öffentlichen Kantinenwesens nach dem Vorbild des Kopenhagener „House of Food“ hatte vor zwei Monaten mit dem Start des Projekts „Kantine Zukunft Berlin“ begonnen (taz berichtete). Dies wird absehbar in nächster Zeit die meisten Kapazitäten des Aktionsplanes binden. Überraschend schwach sind die Überlegungen zur wirtschaftlichen Ernährungswende ausgefallen. „Berlin ist ein attraktiver Absatzmarkt für ökologisch, nachhaltig und regional produzierte Produkte aus dem Umland“, heißt es in der Strategie. „Daher sollen die vorhandenen Marktbeziehungen mit dem Land Brandenburg ausgebaut werden.“ Nur wie konkret, und gerade jetzt, wo das Potsdamer Agrarministerium an seine Parteifreunde gegangen ist, das musste Grünen-Senator Behrendt offenlassen. Sein Brandenburger Kollege habe das Recht, sich zunächst in sein Amt einzufinden. Gespräche über eine grüne Agrar-Achse Berlin–Potsdam seien derzeit noch nicht geplant. Kritik vom Ernährungsrat Überraschend kritisch meldete sich der aus Vertretern der Zivilgesellschaft zusammengesetzte Ernährungsrat Berlin zum Senatskonzept zu Wort. „Wassersuppe statt Nährwert“ überschrieb das Gremium, das vor Jahren den Prozess der Berliner Ernährungspolitik ins Rollen gebracht hatte, seine Stellungnahme. „Wassersuppe statt Nährwert“ überschrieb das Gremium seine Stellungnahme Den Senatsplänen „fehlt der strategische Weitblick“. Kritisiert wird vor allem zweierlei: Das Strategiepapier (tatsächlich umfasst der Ak­tionsplan lediglich 15 Seiten) sei zu unpräzise. Es mangele an „Mut zu einer ambitio­nierten und konkreten Roadmap mit klarer ernährungspolitischer Zielstellung“ sowie „daran gekoppelten Meilensteinen und Ressourcen (Personal, Budget)“ – „Nur das verdient dann wirklich die Bezeichnung Ernährungsstrategie“, so der Ernährungsrat. Außerdem sei die Zivilgesellschaft in jüngerer Zeit zu wenig in die Abläufe eingebunden gewesen. Dies müsse sich künftig wieder ändern. Denn nach Überzeugung des Ernährungsrates kann die „klimagerechte Ernährungswende nur gelingen, wenn vielfältiges Wissen und unterschiedliche Fähigkeiten in einen dynamischen Prozess einfließen und es gelingt, die Berliner Bevölkerung aktiv zu beteiligen“. Dafür brauche es „unterstützende Strukturen“ mit Zielrichtung „Ernährungsdemokratie“, etwa in Form eines „Bürger*innenrats nach erprobtem Vorbild“.
Manfred Ronzheimer
Verbraucherschutz-Senator Behrendt stellt die Berliner Ernährungsstrategie vor. Kritik gibt es an zu geringer Bürgerbeteiligung.
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Loveparade ist nicht zu bremsen - taz.de
Loveparade ist nicht zu bremsen Verkehrsverbund Rhein-Ruhr bleibt im Preisstreit mit der Bahn hart: Für Großevents stehe Konkurrenz bereit DÜSSELDORF taz ■ Zur Loveparade, die Ende August in Essen stattfindet, sollen auf jeden Fall Sonderzüge fahren. Wenn sich die Bahn verweigere, werde der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr eben die Konkurrenz beauftragen, sagte VRR-Sprecherin Sabine Tkatzik der taz. „Wir haben Aussagen von Wettbewerbern, die gerne einspringen würden.“ Die Bahn hatte zuvor gedroht, jeden fünften Zug im VRR zu streichen und außerdem Sonderzüge etwa zu Fußballspielen oder zur Loveparade. Der Grund: Der VRR hält seit dieser Woche 21 Millionen Euro zurück. „Als die Verträge 2004 ausgehandelt wurden, hatte die Deutsche Bahn ein Monopol“, erklärte VRR-Sprecherin Tkatzik. Ein juristisches Gutachten habe ergeben, dass der VRR dieses Jahr – gemessen an heutigen Marktpreisen – 45 Millionen Euro zu viel bezahle. Das Geld werde jetzt einbehalten. „Wir erwarten, dass die Deutsche Bahn diesen Rechtsstreit nicht auf dem Rücken der Kunden austrägt“, sagte Tkatzik. Würde die Bahn Züge nicht fahren lassen, wäre das Vertragsbruch. „Das ist ein Streit, der vor Gericht gehört.“ Unterstützung bekommt der VRR von Fahrgastverbänden und Verkehrsverbünden. Die Bahnpreise seien zu hoch, sagte Jürgen Eichel, NRW-Landessprecher des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), der taz. Allein für 2006 habe die DB Regio einen Gewinn von 700 Millionen Euro ausgewiesen. „Wir sind auf der Seite des VRR.“ Auch andere NRW-Verkehrsverbünde verfolgen den Streit gespannt. „Wir unterstützen den VRR“, sagte Uli Beele vom Zweckverband Ruhr-Lippe. „Wir haben immer dafür plädiert, der Bahn nicht zu weit entgegen zu kommen.“ Dem Beispiel des VRR folgen wollen die anderen Verkehrsverbünde aber nicht: „Wir haben eine grundsätzlich andere Vertragssituation“, sagte etwa Isabella Stock, Sprecherin des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg. Auch der Zweckverband Ruhr-Lippe will dem Beispiel aus Ruhr nicht folgen. „Der Wettbewerb wurde in unseren Verträgen stärker berücksichtigt“, sagte Uli Beele. In den nächsten zwei Jahren würden außerdem alle alten Verträge auslaufen und könnten dann ausgeschrieben werden. NRW-Verkehrsminister Oliver Wittke (CDU) schweigt bislang zu dem Streit. VCD und Grüne forderten den Minister dagegen auf, die Kürzungen des Bundes beim Bahnverkehr mit Landesmitteln auszugleichen. Der Bund will bis 2019 nach Angaben der Grünen 519 Millionen Euro einsparen. Das sei die „eigentliche Ursache des Streits“ zwischen VRR und Bahn, sagte der verkehrspolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion, Horst Becker. VCD-Sprecher Eichel forderte, zusätzliche Einnahmen aus der Mehrwertsteuer für den Schienen-Nahverkehr zu verwenden. DIRK ECKERT
DIRK ECKERT
Verkehrsverbund Rhein-Ruhr bleibt im Preisstreit mit der Bahn hart: Für Großevents stehe Konkurrenz bereit
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Alte Knochen, gar nicht müde - taz.de
Alte Knochen, gar nicht müde ■ Ein Pop-Star eigenen Zuschnitts: Im Curio-Haus gastiert der 79jährige Kubaner Rubén González Eubie Blake. Der 1983 verstorbene Ragtime-Pionier ist der einzige Musiker, der mir einfällt, der noch im Alter von 90 Jahren über die Konzertbühnen der Welt tobte. Diese Tatsache allein sollte Gerontologen in Scharen nach Kuba treiben. Denn in den letzten Jahren taten sich immer wieder Musiker hervor, die, als das Jahrhundert noch jung war, auf der Karibikinsel geboren wurden. Nachdem zu Beginn der Neunziger Mario Bauza (geboren 1911) mit seiner Big Band zwei schöne Platten veröffentlichte und bei etlichen Auftritten in Europa gefeiert wurde, kann der vor kurzem Grammy-gekrönte Buena Vista Social Club trotz Mitwirkung des vergleichsweise jugendlichen US-Gitarristen Ry Cooder ein noch höheres Durchschnittsalter vorweisen. Dabei sind die Club-Mitglieder durchaus nicht gefeit gegen jene Gebrechen, die sich gegen Ende des Lebens vermehrt einzustellen pflegen. Der heute 79jährige Pianist Rubén González etwa hatte mit dem Klavierspielen schon abgeschlossen – nicht nur, weil ein Instrument in sein schmales Apartment in Havana nicht hineingepaßt hätte, sondern auch, weil ihn die Ar-thritis plagte. Die 1996 erfolgte Wunderheilung darf man Cooder anrechnen, der Gonzales nicht nur wieder einem Instrument zuführte, sondern ihn auch mit einigen alten Kollegen wiedervereinigte, darunter der 90jährige Sänger und Gitarrist Compay Segudo und der trotz seines vergleichsweise geringen Alters von 71 Jahren gesichtsälteste Beteiligte der Buena Vista Social Club-Platte, der Sänger Ibrahim Ferrer. Der sensationelle Verlauf der Aufnahmesession führte dann dazu, daß González direkt im Anschluß daran noch schnell ein eigenes Album einspielen durfte – übrigens sein erstes, als 77jähriger – möglicherweise ein Fall fürs Guiness-Buch. Mag dieses Album im Vergleich mit den anderen beiden jener Trilogie, Buena Vista Social Club und A toda Cuba le gusta von den Afro-Cuban All Stars (einer der Stars hieß wiederum Rubén Gonzáles), auch das unspektakulärste sein: Die Welt hatte endlich Kenntnis genommen von einem der wichtigsten Meister des Latin-Pianos, ohne den nicht nur ein Gonzalo Rubalcaba heute völlig anders klänge, sondern die halbe Jazz-Geschichte neu geschrieben werden müßte. Wie das Leben so spielt, ist González auf einmal fast sowas wie ein Pop-Star, und deswegen ist sein Konzert im Curio-Haus auch schon lange ausverkauft. Da zu seiner Tour-Band neben Ferrer mit dem Bassisten Orlando „Cachaito“Lopez eine weitere der tragenden Säulen des Buena Vista Social Clubs gehört, ist der Abend nicht nur ein Pflichttermin für Piano-Feinschmecker, sondern für jeden, der dem Reichtum der lateinamerikanischen Musik gegenüber aufgeschlossen ist. Wir Hanseaten könnten dabei mal wieder besonders Glück haben: Am selben Abend, an dem González, Ferrer und Cachaito im Curio-Haus auftreten, tut das nicht ganz zufällig auch Compay Segundo. Eine große Plattenfirma hat mit ihm kürzlich einen Vertrag abgeschlossen und veranstaltet deshalb ein „Show-Case“– ein Konzert, zu dem leider nur geladene Gäste Zutritt haben – zwei Stunden vor González' Konzert, ebenfalls im Curio-Haus. Wenn es die Kondition des alten Knaben zuläßt, ist es also denkbar, daß Segundo zu vorgerückter Stunde in González' Set ein paar Nummern als Gastsänger zum besten gibt. Detlef Diederichsen Mi, 1. April, 20 Uhr, Curio-Haus. Das Konzert ist ausverkauft.
Detlef Diederichsen
■ Ein Pop-Star eigenen Zuschnitts: Im Curio-Haus gastiert der 79jährige Kubaner Rubén González
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Reich und unbehelligt - taz.de
Reich und unbehelligt Die EU-Sanktionen gegen russische Vermögen scheitern in Berlin unter anderem am undurchsichtigen Immobilienmarkt. Linke und Grüne fordern transparentes Register Definitiv in russischem Besitz: die russische Botschaft unter den Linden Foto: Jens Jeske Von Gareth Joswig Sanktionen gegen russische Oligarchen wurden in Berlin wegen des intransparenten Immobilienmarktes bislang nicht durchgesetzt. Im Bereich Geldwäscheprävention würden regelmäßig aktuelle EU-Sanktionslisten durch Notare und Grundbuchämter abgeglichen, aber bis Mitte März wurde „keine Übereinstimmung mit sanktionierten Personen festgestellt“, schreibt der Senat in einer Antwort auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Katalin Gennburg. Gefragt nach Berliner Investitionen und Besitztümern von Personen und Unternehmen auf EU-Sanktionslisten heißt es, dass „die Beteiligungsstrukturen nicht immer vollständig nachvollziehbar sind“, etwa wenn „ausländische Kettenbeteiligungen vorliegen“. Auch mit internationalen Datenbanken lasse sich nicht immer der wirtschaftlich Berechtigte ermitteln. Wüsste der Staat, was genau russischen Oligarchen gehört, könnte er sofort einschreiten: Die geltenden EU-Sanktionen sind unmittelbar vom Wirtschaftsverkehr und von den Behörden umzusetzen. Laut Senat könnten selbst laufende Bauprojekte unter Beteiligung von sanktionierten Personen oder Unternehmen noch gestoppt werden. Passiert ist allerdings in Deutschland bisher so gut wie nichts: Während in Frankreich schon knapp 850 Millionen, in Italien mehrere Hundert Millionen und in Belgien sogar Vermögen im Wert von rund 10 Milliarden Euro eingefroren wurden, sind es hier bisher 95 Millionen Euro. Konrad Duffy von der Bürgerbewegung Finanzwende sagt der taz: „Uns fällt jetzt auf die Füße, dass wir kein richtiges Transparenz- und Immobilienregister haben.“ Projekte wie „Wem gehört die Stadt“ hätten für Berlin gezeigt, dass man bei etwa einem Viertel der untersuchten Immobilien nicht feststellen könne, wer der wirtschaftlich Berechtigte sei. Diese Problematik überlappe sich mit organisierter Kriminalität und Geldwäschebekämpfung, sagt Duffy: „Deutschland wird schon länger von italienischen Ermittlern gewarnt, dass die organisierte Kriminalität hier in großem Stil ihre Gelder wäscht.“ Ihm fehle eine zentrale Aufsichtsbehörde für den Nichtfinanzsektor, sagt Duffy: „Immobilienhändler, Notare, Autohändler, Juweliere müssen statistisch gesehen nur alle 200 Jahre mit einer Vor-Ort-Prüfung rechnen.“ Er ist sicher, dass viel zu holen wäre: „Da schlummert einiges. Es gibt enge Verbindungen zwischen Russland und Deutschland.“ Leider nur ein AprilscherzAm 1. April berichtete die taz Berlin, dass Finanzsenator Daniel Wesener (Grüne) bereits ein Papier „Russisches Kapital darf in Berlin nicht gewaschen werden“ in der Schublade hat, um Oligarchen in der Stadt zu enteignen.Das war leider frei erfunden: Weder gibt es eine Beweislastumkehr zuungunsten russischer Investoren, noch scheitert die Verbreitung der Sanktionslisten an Faxgeräten in Berlins Finanzämtern. Berlin bleibt ein Eldorado fürs Kapital. (taz) Auch Stadtentwicklungspolitikerin Gennburg sagt: „Wir wissen nicht, wer hinter den teils abstrakten Konstrukten steckt, die in unserer Stadt über Liegenschaften verfügen, wer hier baut und wer die tatsächlichen wirtschaftlich Berechtigten sind. Berlin kann so immer wieder zum Zielort für Geldflüsse aus autoritären Regimen und anderen dubiosen Quellen werden.“ Sie fordert schnell mehr Transparenz: „Das in Berlin geplante Miet- und Wohnkataster muss unbedingt Informationen zu wirtschaftlich Berechtigten enthalten.“ Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) müsse sofort handeln. Berlins Bundesratsinitiative für ein bundesweites transparenteres Immobilienregister war 2021 im Bundesrat gescheitert. Erfreut zeigte sich die Linke darüber, dass laufende Bauprojekte unter Beteiligung von Oligarchen gestoppt werden können: „Der Senat sollte aktuelle Bauprojekte akribisch auf Verstrickungen von sanktionierten Personen untersuchen“, forderte sie. Vor Kurzem war bekannt geworden, dass etwa ein Bauprojekt von Monarch am Alexanderplatz mit Sanktionen Probleme bekommen könnte. Gennburg verwies auch auf Verstrickungen des Oligarchen Oleg Deripaska mit dem österreichischen Bauunternehmen Strabag, das ebenfalls in Berlin baut, laut Gennburg auch für die öffentliche Hand. Deripaska steht aktuell allerdings nicht auf der Sanktionsliste, obwohl er Großaktionär eines russischen Rüstungskonzerns ist. Laut einer Anfrage der Grünen-Abgeordneten der Wohnungspolitikerin Katrin Schmidberger überblickt der Senat lediglich das Portfolio der Russischen Förderation: Russland gehören neben dem pompösen Botschaftsgebäude Unter den Linden drei Grundstücke mit Wohnhäusern in Steglitz-Zehlendorf, ein seit Mitte der 1990er Jahre leer stehendes Wohnhaus in Lichtenberg sowie mehrere „Gebäude für Wirtschaft oder Gewerbe“ und Wohnhäuser in Botschaftsnähe in Mitte. Auch Schmidberger fordert schon länger mehr Transparenz auf dem Wohnungsmarkt und schnell ein besseres Registerwesen.
Gareth Joswig
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Chinesische Geländewagen aus Bulgarien: Pickups für Europa - taz.de
Chinesische Geländewagen aus Bulgarien: Pickups für Europa Erstmals wird der größte chinesische Geländewagen-Hersteller Great Wall in Europa seine Modelle produzieren. 50.000 Autos sollen jährlich in Bulgarien vom Band laufen. Chinas Geländewagen-Hersteller Great Wall drängt auf den europäischen Markt. Bild: dpa SOFIA afp | Chinas größter Hersteller von Geländewagen, Great Wall, lässt seine für den europäischen Markt bestimmten Autos in Bulgarien zusammenbauen. "Die Einweihung des Werkes ist im Februar geplant", sagte ein Manager des bulgarischen Unternehmens Litex Motors, Kiril Georgijew, der bulgarischen Zeitung "168 tschassa". Litex habe bereits 2009 mit Great Wall ein Abkommen geschlossen und daraufhin in Lowetsch im Norden des Landes das Montagewerk gebaut. Jährlich sollen dort 50.000 Autos vom Band laufen, und zwar drei Modelle. Der bulgarischen Zeitung zufolge ist es der erste Versuch von Great Wall, seine Autos auch in Europa zu verkaufen. Der Hersteller sei das einzige chinesische Unternehmen, das die europäischen Qualitäts- und Sicherheitsauflagen für Pkw erfülle. Im Jahr 2005 war der chinesische Hersteller Landwind mit der Einführung eines Geländewagens in Deutschland gescheitert, weil das Auto den Crashtest nicht bestand. Bulgarien verfügt über keine nennenswerte Autoindustrie. Von 1967 bis 1988 wurden in dem Land Autos des russischen Herstellers Moskwitsch zusammengebaut, auch Renault und Fiat ließen Ende der 60er Jahre ein Modell in Bulgarien fertigen. Der britische Hersteller Rover versuchte 1995 sein Glück, verließ das Land aber wenige Monate später wieder wegen eigener Schwierigkeiten.
taz. die tageszeitung
Erstmals wird der größte chinesische Geländewagen-Hersteller Great Wall in Europa seine Modelle produzieren. 50.000 Autos sollen jährlich in Bulgarien vom Band laufen.
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Polizist angeschossen - taz.de
Polizist angeschossen ■ Bremerhaven: Einbrecher schoß scharf Ein Polizist ist in der Nacht zum Sonnabend in Bremerhaven-Geestemünde bei der Verfolgung unbekannter Einbrecher durch einen Schuß in den Oberkörper lebensgefährlich verletzt worden. Der Zustand des 31 Jahre alten Polizeimeisters war trotz einer Operation auch am Sonntag noch kritisch, teilte die Polizei mit. Der Magistrat der Stadt Bremerhaven, Staatsanwaltschaft Gewerkschaft der Polizei setzten zusammen eine Belohnung von 10.000 Mark aus. Der Polizist war mit einem Kollegen aus unterschiedlichen Richtungen zu einem Kiosk geeilt, in dem einem Hinweis zufolge Einbrecher am Werk waren. Ein Verdächtiger konnte fliehen. Der Kollege und eine inzwischen zu Hilfe gekommene zweite Funkstreife hörten mindestens einen Schuß fallen und fanden den 31jährigen etwa 300 Meter vom Kiosk entfernt verletzt neben einem Container liegen. Die Suche der aus 30 Beamten bestehenden Sonderkommission konzentriert sich auch auf die fehlende Dienstwaffe des Opfers, die sich bis zum Sonntag noch nicht angefunden hatte. dpa
taz. die tageszeitung
■ Bremerhaven: Einbrecher schoß scharf
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Der Hitlergoethefaustmephistokomplex - taz.de
Der Hitlergoethefaustmephistokomplex Projektionsfläche deutscher Selbstbilder und Erfüllungsinstanz von Bedürfnissen der Seelenhygiene: Willi Jasper untersucht in „Faust und die Deutschen“ die Wandelbarkeit einer emblematischen Figur, die der Wehrmacht ebenso diente wie der deutschen Einheit  ■ Von Lothar Baier Es goethet und faustelt landauf, landab in Erwartung des Goethejahrs 1999 samt Herrichtung Weimars zur nationalen Pilgerstätte, die dann besänftigend supranational das Etikett „Kulturhauptstadt Europas“ tragen darf. Der vollständigen Nationalisierung künftiger Goethe-Jubiläen wird nach Abschluß der europäischen Festlichkeiten nicht viel im Wege stehen, da der Kalenderzufall Goethes Geburtsjahr 1749 und das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 und dazu das Jahr des Mauerfalls 1989 in engsten Zusammenhang bringt. Faust als emblematische Figur deutscher Demokratie und deutscher Einheit – warum auch nicht, zumal man in Deutschland genügend Übung hat, mit Goethe und seinem Faust fast alles zu machen, was den jeweiligen seelenhygienischen Bedürfnissen entspricht. Im Oktober 1941 durfte Faust in der Berliner Inszenierung Gustav Gründgens' den Vormarsch der Wehrmacht Richtung Moskau absegnen; 1949 suchte das trostbedürftige deutsche Nachkriegspublikum Zuspruch bei der Düsseldorfer Faust-Inszenierung desselben Regisseurs. Nach dem Vereinigungsjahr 1990 ist Goethes Faust, nach längerer Abwesenheit, bedeutungsvoll wieder unter die Abiturthemen aufgerückt. Wenn Peter Stein in den Messehallen von Hannover seinen über sieben Theaterabende verteilten Zwanzig-Stunden-Faust herausbringt, werden nicht nur Kulturbetrieb und Germanistik einen gewaltigen Brocken zu verdauen haben, auch die endlose Beziehungsgeschichte „Faust und die Deutschen“ wird dann um eine weitere Episode reicher sein. Die Vergangenheit dieser Geschichte zu erhellen und zugleich in die versäumte grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe der deutschen Klassik einzutreten, hat sich ein Buch mit dem Titel „Faust und die Deutschen“ vorgenommen, das rechtzeitig erscheint, um vor Anbruch der großen Feier zu distanziertem Nachdenken anzuhalten. Der Autor Willi Jasper, Mitarbeiter des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums und Verfasser einer soliden Börne-Biographie, hat germanistischen Goethe-Experten voraus, daß er die bedrohlich angeschwollene Faust-Literatur auch politisch zu lesen vermag, das heißt als Ausdruck einer den jeweiligen Zeitumständen angepaßten, außerordentlich wirksamen ideologischen Modellierung deutscher Selbst- und Wunschbilder. Wie ist es zu erklären, lautet Jaspers heuristische Frage, daß sich Goethes aufs „Faustische“ reduzierte Weltbild zur Ideologie „deutscher Sonderart und deutschen Sonderschicksals entwickeln“ konnte? Bis die volkstümliche Faust-Legende sich Goethe als Stoff darbot, hatte sie bereits erhebliche Umbauten erfahren, war um eine Rebellengeschichte ärmer und um allerlei Teufelszeug reicher geworden. Harmlose Umstellungen jedoch im Vergleich mit der Serie von Eingriffen, denen Goethes Faust im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts durch Exegese, künstlerische Bearbeitung und politische Indienstnahme unterzogen wurde. Jaspers kenntnisreich erstellte, wenn auch gezwungenermaßen knapp ausgefallene Synopsis all dieser nachgoetheschen Faust- Modellierungen bringt die eigenartige Chemie der Verschmelzung bei gleichzeitiger Substanzentrennung zum Vorschein, die dabei ihr Werk tat. Verschmelzung von Faust und Goethe zuerst, dann von Faust und Mephisto, von Faust und Luther, von Faust und Parzifal, bis hin zu Faust und Hitler; Trennung von Faust und Goethe, von Faust und Mephisto, von Faust und Hitler, schließlich von Faust und dem „Faustischen“. Doch vollständig gelang die Trennung nie, immer blieb von den vorausgegangenen Amalgamierungen etwas erhalten. Auf diese Weise ließ sich Faust nacheinander konfessionalisieren und entkonfessionalisieren, germanisieren, nationalisieren und am Ende, in der DDR, auch noch marxifizieren, ohne daß sich nennenswerte Widerstände dagegen erhoben hätten. Nach 1933 konnte man mit dem seit einem Jahrhundert unablässig durchgewalkten Faust ebensogut für die Nazis sein wie mit Faust gegen die Nazis und für ein „anderes Deutschland“. Den Fall des SS- Germanisten Hans Ernst Schneider aufgreifend, der sich nach der Entmachtung seiner Auftraggeber die neue Haut eines Hans Schwerte überzog und sich später mit seiner Habilitationsschrift „Faust und das Faustische“ in der bundesdeutschen Germanistenwelt als zeitgemäß ideologiekritischer Liberaler eine komfortable Position verschaffte, zeigt Jasper am Text des wendigen Germanisten, wie die erprobte Faust-Chemie auch diesen Stellungswechsel zu bewältigen half. Aus Bruch wurde fließender Übergang, der Schneiders nationalsozialistische Lesarten in Schwertes Nachkriegs- Exegesen überdauern ließ. Thomas Mann etwa hatte dem in Himmlers Firma „Ahnenerbe“ beschäftigten Schneider auftragsgemäß als Kreatur „jüdelnder Teerunden“ gegolten; in den Augen des Nachkriegsgermanisten Schwerte verdiente der Verfasser des „Doktor Faustus“ unter anderem deshalb schweren Tadel, weil er dem Unterfangen, das dem Faust-Deuter Schwerte so sehr am Herzen lag, entgegenarbeitete: nämlich den Klassiker Goethe von jeglicher Verantwortung für die Fabrikation des „Faustischen“ und dessen ideologische Nutzanwendungen zu befreien. Mit seinem Roman „Verrat an Goethe“ begangen zu haben wurde Thomas Mann Ende der vierziger Jahre überhaupt von großen Teilen der Kritik vorgeworfen. Gemeint war damit eigentlich Verrat an Deutschland, begangen an jenem chamäleonartigen Deutschland, das Hitlers Reich überlebte und es zugleich einschloß. Jasper weist in diesem Zusammenhang auf kuriose Parallelentwicklungen im deutschen Westen und im deutschen Osten hin: Während Thomas Mann dafür Prügel bezog, daß er den tröstenden Faust wegnahm und in den deutschen Höllensturz mit hineinriß, mußten Brecht und Eisler in der DDR sich darüber belehren lassen, daß ihr entmythologisierendes Herumkratzen am fortschrittlichen Nationalhelden Faust unerwünscht ist, weil es nur der Beförderung „bürgerlicher Dekadenz“ diene. Gesamtdeutsches Abfeiern von Faust und Goethe ist demnach auf beiden Seiten von langer Hand vorbereitet worden. Karl Jaspers' 1947 bei der Entgegennahme des Goethe-Preises gestellte Frage, ob „Bildung durch Goethe nicht teilweise ein Verhängnis gewesen sei“, wirkt fünfzig Jahre später seltsam deplaziert. Bildung durch Goethe ist wieder „in“, die Klassik erfreut sich auch bei einstmaligen Verächtern steigender Wertschätzung, für Faust- Inszenierungen wird mit der Modevokabel „Mensch in der Sinnkrise“ geworben. Willi Jasper fragt am Ende seines solche Klassikerseligkeit durch genaue Erinnerung nützlich störenden Buchs „Faust und die Deutschen“ nach dem verborgenen Subtext der gegenwärtigen Renaissance epigonaler Bilder aus der deutschen Vergangenheit und kommt zu einem beunruhigten Fazit. Die Idee „faustischer Geistigkeit“, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts in den Köpfen festsetzte, war von Anfang an gegen die Aufklärung französischer Prägung gerichtet gewesen und diente später dazu, den kritischen Intellektuellen als undeutschen Eindringling zu vertreiben. In der gegenwärtig wiederauflebenden antiintellektuellen Stimmung verliert das Anpreisen faustischer Sinnkrisen seine bloß kulturbetriebliche Unschuld. Für Jasper gibt der wiederaufgetauchte Faust geradezu den Prototyp des „Gegenintellektuellen“ ab, der, etwa in der Gestalt des Dramatikers Botho Strauß, das Publikum mit mannhaften Bekenntnissen zu Staat, Nation und ewig deutschen Werten zu erbauen beliebt. „Die Grauzone zwischen gebildetem Konservativismus und gewöhnlichem Rechtsextremismus“, meint Jasper, breitet sich aus. Ist Thomas Mann auf dem Weg zurück von dem desillusionierten „Doktor Faustus“ zu den frühen deutschnationalen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, die Manns späteres Werk zu dementieren sich anstrengte? Willi Jaspers in dem lesenswerten, stoffreichen Buch „Faust und die Deutschen“ vorgetragene Warnungen verdienen es, ernstgenommen zu werden, gerade weil sie nicht in die vorherrschende Stimmung passen. Willi Jasper: „Faust und die Deutschen“. Rowohlt Berlin, Berlin 1998, 304 Seiten, 42 DM
Lothar Baier
Projektionsfläche deutscher Selbstbilder und Erfüllungsinstanz von Bedürfnissen der Seelenhygiene: Willi Jasper untersucht in „Faust und die Deutschen“ die Wandelbarkeit einer emblematischen Figur, die der Wehrmacht ebenso diente wie der deutschen Einheit  ■ Von Lothar Baier
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Nachruf auf Dorothea Buck: Den Schmerz verwandeln - taz.de
Nachruf auf Dorothea Buck: Den Schmerz verwandeln Dorothea Buck wurde unter den Nazis zwangssterilisiert. Ihre Erfahrungen ließen sie zur Mitbegründerin einer menschlicheren Psychiatrie werden. Das Gespräch als Lebensnotwendigkeit: Dorothea Buck 2014 Foto: Miguel Ferraz HAMBURG taz | Man ging beschwingt aus den Treffen mit Dorothea Buck, es war, als gäbe sie einem ein kleines Stück ihrer Heiterkeit mit, ihrer Neugier und ihrer erstaunlichen Energie. Da war sie bereits über 90 Jahre alt und die Ikone einer Bewegung für eine menschlichere Psychia­trie: eine, in der Betroffene und Behandelnde auf Augenhöhe sind. Sie selbst kam unter den Nationalsozialisten als junges Mädchen in die Psychiatrie, wo man sie zwangssterilisierte. Statt mit ihr zu sprechen, steckte man sie stundenlang in kalte Bäder. Diese Erfahrung, die für sie eine Demütigung war, hat sie nie vergessen. Sie hat sie zu einer leidenschaftlichen Kämpferin für eine Behandlung gemacht, in der erst einmal die Betroffenen die ExpertInnen sind. Sie sprechen – und die anderen hören zu. Dorothea Buck war 19 Jahre alt, als sie den ersten von insgesamt fünf schizophrenen Schüben erlebte. Es war beim Wäschewaschen auf der Insel Wange­rooge, wo sie als viertes von fünf Kindern einer Pastorenfamilie aufwuchs. Sie beschrieb das Erlebnis als eine dreifache Gewissheit: dass es Krieg geben werde, dass sie einmal etwas zu sagen haben würde und dass sie Braut Christi sei. Sie lachte, als sie es erzählte: „Braut Christi, das haben ja viele Betroffene, viele Verrückte haben religiöse Erfahrungen“. Und bei einem anderen Gespräch beschrieb sie ausführlich, wie sie sich danach aufs Bett legte und sich ausmalte, was das wohl konkret bedeuten könnte: sie, die ohnehin Kindergärtnerin werden wollte, würde sich um die Kinder kümmern und Jesus, dem sie eine gewisse Humorlosigkeit attestierte, um die Erwachsenen. Ein koboldhafter Charme Wenn Dorothea Buck erzählte, tat sie das mit einer erstaunlichen Gleichzeitigkeit von Heiterkeit und bodenständiger Sachlichkeit. In einer Sprache, die gleichermaßen anschaulich und formvollendet war. Sie hatte etwas von einem alterslosen Kind an sich, den Mut, sich nicht um das Erwartete zu scheren, den freien Blick und einen koboldhaften Charme. Nach dem ersten Schub bringen ihre Eltern Dorothea auf Anraten des Hausarztes in die von Bodelschwingh’schen Anstalten nach Bethel. Dass sie mit ihrer Tochter nicht über deren Erfahrung sprachen, zumindest nicht eingehend, ist nach dem Empfinden einer Freundin, der Filmemacherin Alexandra Pohlmeier, „das einzige, womit sie sich nicht hat aussöhnen können“. Und vielleicht eine der Antriebskräfte für Bucks unbedingten Willen zum Gespräch. Die Anstalten werden von einem Theologen geleitet; das gibt den Eltern Zutrauen. Tatsächlich sind den PatientInnen Gespräche untereinander verboten, es dauert ein Dreivierteljahr, bis die Ärzte mit Dorothea Buck sprechen. Von der Wahl, vor die ihre Eltern gestellt werden, eine Wahl, die den Namen nicht verdient, erfährt die Tochter nichts: Entweder soll sie sterilisiert werden oder bis zu ihrem 45. Lebensjahr in der Anstalt bleiben – danach gilt sie als nicht mehr gebärfähig. Der Vater bittet um Aufschub der Operation. Vergeblich. Bei dem Eingriff geben die Ärzte vor, dass es um eine Blinddarmbehandlung geht – dass sie sterilisiert wurde, erfährt Dorothea Buck später zufällig von einer Mitpatientin. Die Sterilisation macht alles, was sie sich zuvor erträumt hatte, zunichte: den Beruf als Kindergärtnerin, eine Ehe, eigene Kinder. Unter den Nationalsozialisten durften Zwangssterilisierte keine sozialen Berufe ausüben und es war ihnen verboten, Nicht­sterilisierte zu ­heiraten. Dorothea Buck ist es gelungen, das Grauenhafte, das ihr widerfuhr, in etwas Produktives zu verwandeln. Sie beschrieb es so: „Erst als mir der Gedanke des Selbstmords kam, konnte ich wieder Grund unter die Füße bekommen.“ In der Praxis sah es so aus, dass sie sich erst ein Jahr, dann zwei, dann fünf gibt, um ein neues Leben aufzubauen. Sie besucht eine private Kunstschule – und verschweigt dabei Psychiatrieaufenthalt und Sterilisierung – wird Bildhauerin und Lehrerin für Kunst und Werken an der Fachschule für Sozialpädagogik in Hamburg. Es ist schwierig, ihre Mutter-Kind-Skulpturen zu sehen, ohne an ihre eigene Geschichte zu denken. Eine solche Arbeit hat Dorothea Buck der Berliner Charité gestiftet. Im Begleitbrief schrieb sie, dass die Plastik die Beziehung zwischen zwei Menschen ausdrücke und dass eben jene Beziehung in der gegenwärtigen Psychiatrie fehle. Weil dort nicht genügend gesprochen werde. In den 80er-Jahren geht Dorothea Buck mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Sie besucht ein Seminar des Leiters der psychiatrischen Ambulanz der Uniklinik Hamburg, Thomas Bock. Der wird sie seine „ wichtigste Lehrerin“ nennen und erinnert sich daran, wie selbstbewusst sie dort auftrat, ungewöhnlich selbstbewusst für eine Psychiatrie, die Menschen mit Psychosen nahelegt, defizitär zu sein. Gemeinsam entwickeln sie das Konzept trialogischer Psychose-Seminare: einen gleichberechtigten Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und den professionell in der Psychiatrie Tätigen. Das Modell macht bundesweit Schule. Sich selbst, die eigene Erkrankung, begreift Dorothea Buck als Forschungsobjekt. Die Psychose erlebt sie früh als Möglichkeit, aus Impulsen heraus zu leben – und ist sich dabei bewusst, dass für andere Schizophrene der Kontrollverlust bedrohlich wirken kann. Sie beschreibt die Schübe als „verändertes Welterleben, man spürt überall Sinnzusammenhänge, ohne sie näher benennen zu können“. Aber erst nach dem letzten Schub Ende der 1950er-Jahre erkennt sie, dass er aus ihrem eigenen Unbewussten kommt. Psychosen deutet sie als Folge von Lebenskrisen, die gelöst werden wollen, es wäre für Buck fatal, sie mit Medikamenten zu unterdrücken. Biografie unter Pseudonym 1990 veröffentlicht sie ihre Biografie „Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung“, zunächst noch unter dem Pseudonym Sophie Zerchin, einem Anagramm des Wortes Schizophrenie. Das Buch erscheint im Verlag ihrer Schwester und vielleicht kann man das als nachgeholtes Gespräch in der Familie deuten. Es wird ein Erfolg, man lädt sie zu Vorträgen ein, schließlich erscheint es unter ihrem eigentlichen Namen. Die Psychiatrie der 90er-Jahre ist reif für eine Veränderung: 1992 begründet Buck den Bundesverband Psychatrieerfahrener mit, sie gründet eine eigene Stiftung, die Psychiatrieerfahrene zu GenesungsbegleiterInnen ausbildet. Es ist eine Zeit der Selbstermächtigung und Dorothea Buck, damals bereits über 70 Jahre alt, wird zu einer Ikone dieser Bewegung. Gespräche statt Medikamente Dorothea Buck sah die Fortschritte, sie warnte aber auch vor den PsychiaterInnen, die noch immer nur auf Medikamente setzen statt auf Gespräch. Und sie ließ nicht locker: Vor gut zwei Jahren, da war Dorothea Buck 99 Jahre alt, kam die Hamburger Gesundheitssenatorin zu ihr, um ihr die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes zu verleihen. Buck freute sich über die Medaille. Zugleich freute sie sich über die Möglichkeit, eine Klinik anzuprangern, in der die PatientInnen besonders lange fixiert wurden. Sie hat ihre letzten Jahre im Albertinen-Haus in Hamburg verbracht, wo sie früher einmal als grüne Dame die Kranken besucht hat. Sie wolle das Lesen „nachholen und ausruhen“, so hat sie ihr Leben dort beschrieben. Zu Ehren ihres 100-jährigen Geburtstags widmete man ihr ein Symposium mit 600 Gästen: „Auf der Spur des Morgensterns. Menschenwürde + Menschenrechte in der Psychiatrie“. Per Skype wurde sie selbst aus dem Albertinen-Haus dazugeschaltet. Aber die Menschen kamen auch zu ihr, sie kamen so zahlreich, dass eine Freundin den Besucherstrom abstimmen musste. In Dorothea Bucks Zimmer hingen Briefe von PsychatriepatientInnen, die ihr dankten. Ihre Heiterkeit blieb unangefochten von ihrer körperlichen Hinfälligkeit. Sie kannte die Namen aller Pflegenden, sie fragte sie nach ihrem Leben und sie merkte sich, was sie ihr erzählten. Als sie am 9. Oktober stirbt, „heulen die PflegerInnen Rotz und Wasser“, erzählt Alexandra Pohlmeier. Am 1. November wird Dorothea Bucks mit einer Trauerfeier in der Niendorfer Marktkirche gedacht. Anmerkung der Redaktion: Auf Wunsch eines Gesprächspartners wurde gegenüber einer früheren Fassung ein Zitat gelöscht. Außerdem wurde in der Passage „Dorothea Buck sah die Fortschritte, sie warnte aber auch vor den PsychiaterInnen, die noch immer nur auf Medikamente setzen statt auf Gespräch“ ein „nur“ ergänzt.
Friederike Gräff
Dorothea Buck wurde unter den Nazis zwangssterilisiert. Ihre Erfahrungen ließen sie zur Mitbegründerin einer menschlicheren Psychiatrie werden.
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Vor der Abstimmung zum Verbrenner-Aus: Weiter für E-Fuels - taz.de
Vor der Abstimmung zum Verbrenner-Aus: Weiter für E-Fuels Nach dem vorläufigen Stopp des Verbrenner-Aus in der EU schmiedet Bundesverkehrsminister Wissing nun Allianzen mit seinen europäischen Amtskollegen. Verkehrsminister Volker Wissing bei der Vorstellung seiner Verkehrsprognose Anfang März in Berlin Foto: Christian Mang/reuters BERLIN taz | „Der Einladung nach Straßburg folge ich gerne“, twitterte Bundesverkehrsminister Volker Wissing noch am Montagmorgen. Dann machte sich der FDP-Politiker zum Treffen mit seinen Amtskollegen aus Italien, Polen und weiteren osteuropäischen Staaten auf. Aus Sicht Wissings kann er dieses wohl als Erfolg verbuchen, denn auf EU-Ebene scheint sich nun eine Allianz gegen das Aus von Autos mit Verbrennermotor ab 2035 zu bilden. Initiiert hatte das Treffen am vergangenen Freitag der tschechische Verkehrsminister Martin Kupka, um in Straßburg – dem Sitz des EU-Parlaments – über das vorerst gestoppte Vorhaben mit einigen seiner Amtskollegen zu sprechen. Neue Blockade-Haltung verfestigt sich Die finale Abstimmung in Brüssel galt eigentlich nur noch als reine Formsache und war bereits für Anfang vergangener Woche angesetzt gewesen. Tschechien hatte im Vorfeld den Kompromiss sogar mit ausgehandelt. EU-Parlament, Kommission und Mitgliedsstaaten waren sich bereits im vergangenen Jahr darüber einig geworden, Verbrenner auf Straßen künftig verbieten zu wollen. Nach dem Treffen am Montagabend in Straßburg zeichnet sich ab, dass sich die neue Blockade-Haltung weiter verfestigt hat. „Nur ein Verbot des Verbrennungsmotors, wenn man ihn klimaneutral betreiben kann, halten wir für falsch“, betonte Wissing nach dem Treffen. „Daher ist die Sache für uns nicht zustimmungsreif.“ Was wenn Wissing weiter stur bleibt? Die Allianz aus Ländern wie Italien, Polen und Tschechien könnte den ursprünglich ausgehandelten Kompromiss in Brüssel am Ende doch noch aufhalten. Maßgeblich beteiligt an dieser verworrenen Situation ist Wissing und seine Partei, die FDP. Auf ihr Drängen hin wurde die nicht verbindliche Aufforderung an die EU-Kommission überhaupt mitaufgenommen, Möglichkeiten für den Einsatz von synthetischen Kraftstoffen bei Verbrennerautos – sogenannten E-Fuels – zu prüfen. Diese gelten zwar als klimaneutral, sind derzeit aber mit Abstand deutlich ineffizienter als E-Autos. Bleibt Bundesverkehrsminister Wissing daher stur, muss die Bundesregierung sich beim Beschluss, der eigentlich noch diese Woche fallen soll, enthalten, was einem Nein in der EU gleichkommt.
Nikola Endlich
Nach dem vorläufigen Stopp des Verbrenner-Aus in der EU schmiedet Bundesverkehrsminister Wissing nun Allianzen mit seinen europäischen Amtskollegen.
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■ Venezuela: Entlastung - taz.de
■ Venezuela: Entlastung Caracas (dpa) – Im Prozeß gegen den früheren Staatspräsidenten von Venezuela, Carlos Andres Perez, soll die nicaraguanische Präsidentin Chamorro den wegen Veruntreuung Angeklagten als Zeugin entlasten. Einen entsprechenden Antrag haben die Anwälte des Ex-Staatschefs beim Obersten Gerichtshof gestellt.
taz. die tageszeitung
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Das Membrum des Tigers - taz.de
Das Membrum des Tigers ■ Unverzichtbares zur Geschichte der Aphrodisiaka
nils minkmar
■ Unverzichtbares zur Geschichte der Aphrodisiaka
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Erinnerungspolitik in Hannover: Koloniales Unrecht anerkennen - taz.de
Erinnerungspolitik in Hannover: Koloniales Unrecht anerkennen SPD und Grüne in Hannover wollen die koloniale Geschichte der Stadt mithilfe eines Beirats aufarbeiten. Hamburgs Pendant wird kritisiert. Koloniale Ausbeutung fand nicht nur ökonomisch statt: Hier eine Ausstellung in Hannover Foto: Michael Matthey/dpa HAMBURG taz | Die rot-grüne Mehrheitskoalition im Rat der Stadt Hannover will einen Beirat zur „Erarbeitung eines gesamtstädtischen dekolonialisierenden Erinnerungskonzeptes“ berufen. Einen entsprechenden Antrag hat sie vergangene Woche eingereicht. Auch in Hamburg gibt es bereits Erfahrungen mit einem solchen Beirat. „Hannover hat aufgrund der langjährigen Personalunion mit Großbritannien eine doppelte Kolonialgeschichte“ heißt es in dem Antrag. Zwischen 1714 und 1837 war der König von Hannover aufgrund einer Thronfolgeregelung auch König von Großbritannien – das wie später das Deutsche Reich viele Kolonien hatte – gewesen. Die Rolle Hannovers und seine „historische Verantwortung im Zeitalter des deutschen, britischen und europäischen Kolonialismus und Imperialismus“ soll mit der Entwicklung eines Erinnerungskonzepts anerkannt werden. Dafür möchten SPD und Grüne einen Beirat einrichten. In Hannover gibt es bereits seit Jahren Auseinandersetzungen um die Umbenennung von Straßen und Plätzen, wie etwa zur Walderseestraße und zum 1988 zum „Mahnmal gegen den Kolonialismus“ umgestalteten Carl-Peters-Denkmal. Alfred von Waldersee war um 1900 von Hannover aus nach China entsandt worden, um die dortige Boxer­bewegung niederzuschlagen, die sich gegen den europäischen Imperialismus zur Wehr setzte. Carl Peters war ein Hannoveraner Kolonialist, der wegen seines brutalen Vorgehens gegenüber der lokalen Bevölkerung im heutigen Tansania bekannt wurde. Für Liam Harrold, der für die Grünen in der Ratsversammlung sitzt, soll sich der Beirat allerdings nicht nur um Straßenumbenennungen kümmern. Für ihn ist es wichtig, Ak­teu­r*in­nen aus der Stadtgesellschaft miteinzubeziehen, rassistische Strukturen abzubauen und einen Perspektivwechsel auszulösen: „Bisher ist das Thema viel von einer weißen Mehrheitsgesellschaft her thematisiert worden“, sagt Harrold. Laut dem Antrag soll der Beirat ein „dekolonialisierendes Erinnerungskonzept“ ausarbeiten und Handlungsempfehlungen für die Stadt benennen. Ratsfraktionen von SPD und Grünen„Hannover hat eine doppelte Kolonialgeschichte“ Daniel Kalifa, stellvertretender Vorsitzender des Vereins „Generation Postmigration“ fordert, dass der Beirat multiperspektivisch zusammengesetzt ist und „Expert*innen aus der afrodiasporischen Community dabei sind“, die auf konzeptioneller Ebene mitgestalten sollen. Der Verein setzt sich dafür ein, dass postmigrantische Perspektiven strukturell öffentlich präsent sind. Zudem ist Kalifa wichtig, dass der Beirat mit genug Ressourcen ausgestattet sei und „die Power“ habe, „Sachen umzusetzen“. In Hamburg gibt es einen vergleichbaren Beirat seit 2019. Dem vorausgegangen war ein runder Tisch, an dem sich sowohl Ak­ti­vis­t*in­nen als auch Wis­sen­schaft­ler*innen und Ver­tre­te­r*in­nen von Institutionen versammelt hatten. Ulrich Hentschel, ein Teilnehmer des runden Tisches, sieht den Hamburger Beirat skeptisch. Der pensionierte Pastor engagiert sich schon seit Jahren erinnerungspolitisch. Seiner Meinung nach hat der Beirat die Arbeit des runden Tisches und der zivilgesellschaftlich Engagierten ausgebremst. Zudem kritisiert er die Intransparenz des Beirats: „Der Beirat wurde durch den Kultursenator eingesetzt und hat sich verpflichten lassen, öffentlich nichts zu sagen.“ Es gebe keine Protokolle der Beiratssitzungen, die öffentlich einsehbar seien. Auch Jürgen Zimmerer, Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ sieht beim Beirat ein „Transparenzproblem“. Das liege laut Zimmerer vor allem daran, dass „nie genau geklärt wurde, was für ein Beirat das sein soll“. Wie der Beirat arbeitet, hätte seiner Meinung nach vom runden Tisch bestimmt werden müssen. Wenn der Beirat sich äußert, müsse das öffentlich werden und der Senator oder die Behörde müsse dazu öffentlich Stellung nehmen, findet Zimmerer. Debatte um Öffentlichkeit Für den Wissenschaftler ist es allerdings wichtig, dass es den Beirat gibt. „Dekolonialisierung muss zwei Pfeiler haben“, sagt er, „einerseits die wissenschaftliche Forschung und Aufarbeitung und andererseits die Perspektive der Betroffenen“. Für den Hannoveraner Beirat hat Zimmerer zwei Empfehlungen: Einerseits brauche der Beirat ein eigenes Budget, zum anderen müsse geklärt werden, welches Initiativrecht der Beirat haben soll. Enno Isermann, Sprecher der Hamburger Kulturbehörde, erklärt, dass sich der Beirat selbst eine ­Geschäftsordnung gegeben habe, „in der über die Beratungen selber Vertraulichkeit vereinbart wurde – auch damit dort eine offene Debatte möglich ist“. Darüber hinaus sei „selbstverständlich jeder und jede frei, sich zu äußern“. Die Sitzungen würden protokolliert. Und: „In den deutlich größeren Sitzungen des runden Tisches wird auch über die Arbeit berichtet“, sagt Isermann.
Franziska Betz
SPD und Grüne in Hannover wollen die koloniale Geschichte der Stadt mithilfe eines Beirats aufarbeiten. Hamburgs Pendant wird kritisiert.
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Handel unterstützt Amputationsverbot: Hühnerschnäbel bleiben dran - taz.de
Handel unterstützt Amputationsverbot: Hühnerschnäbel bleiben dran Ab dem Jahr 2017 kennzeichnet der Eier-Zertifizierer KAT in ganz Deutschland nur noch Eier von Legehennen mit intaktem Schnabel. Die Geflügelwirtschaft protestiert. Hartes Leben: Ende 2016 soll für die Legehennen immerhin die grausame Praxis des Schnäbel-Kürzens vorbei sein. Bild: dpa HAMBURG taz | In Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern dürfen die Schnäbel von Legehennen ab 2017 nicht mehr gekürzt werden. Auch Schleswig-Holstein plädiert für einen Ausstieg aller Legehennen-Betriebe aus dieser Praxis. Der niedersächsische Erlass hat bald Auswirkungen auf die Eierproduktion in ganz Deutschland und der EU, denn der europaweit agierende Eier-Zertifizierer KAT und der Einzelhandel unterstützen das Verbot. Bisher wird fast allen Legehennen in der Boden und Freilandhaltung als Küken der Schnabel um einige Millimeter gekürzt, um gegenseitiges Picken und Kannibalismus zu vermeiden. Tierschutzverbände kritisieren das Kürzen der Schnäbel mit einem Laser oder vereinzelt noch mit einem 800 Grad heißen Messer als äußerst schmerzhafte Verstümmelung und Tierquälerei – die Geflügelzüchter sehen jedoch keine Alternative. Die muss aber schleunigst gefunden werden, denn auch der Verein für kontrollierte alternative Tierhaltungsformen, kurz KAT, wird das Verbot ab 2017 unterstützen. Der Verein ist für den Kennzeichnungsstempel auf dem Ei verantwortlich. Den bekommen nur die Betriebe, die nach KAT-Standards produzieren. Diese Standards liegen teilweise sogar über den EU-Vermarktungsnormen und berücksichtigen Tierschutzaspekte. Die großen Lebensmittel-Einzelhändler vertreiben fast ausschließlich KAT-zertifizierte Eier. Die Entscheidung des Vereins, das Verbot mitzutragen, hat daher große Auswirkungen auf die Eier-Produktion in ganz Deutschland und sogar in anderen EU-Ländern. „Der jeweils strengste Standard ist Vorgabe für alle teilnehmenden Betriebe“, erläutert KAT-Sprecher Caspar von der Crone. Hühner im NordenInsgesamt wurden in Deutschland im Jahr 2013 rund 177 Millionen Hühner, Puten, Enten, Gänse, Tauben und andere Vögel gezüchtet.Die meisten Ställe befinden sich in Niedersachsen. Hier gab es 2013 rund 96,5 Millionen Nutz-Vögel.In Schleswig Holstein umfassten die Bestände im Jahr 2013 rund 3,2 Millionen Vögel.Fast allen Hennen in konventioneller Boden und Freilandhaltung wird der Schnabel gekürzt. Für Niedersachsens Landwirtschaftsminister Christian Meyer ist der KAT-Vorstoß die Bestätigung seiner Politik: „Diese Entscheidung ist ein gewaltiger Durchbruch für mehr Tierschutz.“ Zudem sei durch die Einigung mit Supermarktketten wie Rewe, Edeka, Lidl und Aldi sowie KAT ein „wettbewerbsneutraler Ausstieg aus dem Schnabelkürzen erreicht“, sagt Meyer. Alle wichtigen Akteure verzichten ab 2017 auf den Verkauf von Eiern, die Hennen mit gekürztem Schnabel gelegt haben. Kritik am Zeitpunkt des Verbots äußerte der Geflügelwirtschaftsverband Schleswig-Holstein und Hamburg. „Ein Zeitraum von drei bis vier Jahren für den Ausstieg wäre realistischer“, sagt der Vorsitzende des Landesverbands Hans Peter Goldnick. Wenn den Legehennen die Schnäbel nicht mehr gekürzt werden, müssen die Geflügelwirte die Haltungsbedingungen verändern, um Kannibalismus zu vermeiden. Bisher sei nicht einmal die genaue Ursache für das Federpicken bekannt, sagt Goldnick, der selbst rund 20.000 Hühner in Boden, Freiland und Biohaltung hält. „Es kann die Luft sein, die Temperatur, Wasser oder Calciummangel – das Problem tritt immer wieder auf, auch in der Biohaltung“, sagt der Landwirt. Einzig das Verdunkeln der Ställe könne kurzfristig Abhilfe schaffen. „Aber wir wollen nicht ein Tierschutzproblem durch das nächste ersetzen.“ Langfristig hofft Goldnick auf neue Züchtungen von Hühnern mit geringerem Hacktrieb oder einem kürzeren Oberschnabel. Ohne solche Fortschritte sei das Verbot verfrüht. „Den Tieren dient es nicht“, glaubt Goldnick. Und: „Ich halte es für gefährlich, die Experimentierphase in die Betriebe zu verlegen.“ Mahi Klosterhalfen von der „Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt“, die das Verbot unterstützt, kann verstehen, dass der Zeitplan die Halter unter Druck setzt. „Unmöglich ist es aber nicht, es ist schon viel Wissen vorhanden.“ Ein verbessertes Stallmanagement sei gefragt: „Man muss nicht nur die Schnäbel intakt lassen, sondern auch den Stress für die Tiere reduzieren.“ Sonst käme es zu schweren Verletzungen. Klosterhalfen schlägt vor, externe Berater hinzuzuziehen. „Die erkennen auch Kleinigkeiten in den Ställen, die Stress für die Hühner und damit das Federpicken auslösen.“
Andrea Scharpen
Ab dem Jahr 2017 kennzeichnet der Eier-Zertifizierer KAT in ganz Deutschland nur noch Eier von Legehennen mit intaktem Schnabel. Die Geflügelwirtschaft protestiert.
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■ Die Kosovo-Roma und der Balkan-Stabilitätspakt: Ohne Minderheiten kein Frieden - taz.de
■ Die Kosovo-Roma und der Balkan-Stabilitätspakt: Ohne Minderheiten kein Frieden Neben dem wirtschaftlichen Wiederaufbau ist die Förderung von Demokratie und Menschenrechten der bedeutendste Aspekt des Balkan-Stabilitätspaktes. Doch obwohl die Unterstützung der Region, über die die westlichen Mächtigen morgen in Sarajevo diskutieren, ausdrücklich allen Menschen dort zugute kommen soll, steht zu befürchten, daß eine große Bevölkerungsgruppe ignoriert wird: die Roma. Tatsächlich leben etwa im Kosovo nicht nur Albaner und Serben, wie von beiden Gruppen so gerne behauptet wird, sondern auch rund 100.000 Roma und „Ägypter“. Letztere sehen sich als eine eigenständige Ethnie, weil ihre Vorfahren einst aus Ägypten gekommen sein sollen; von Experten und vor allem den meisten anderen Bewohnern der Region werden sie jedoch als Roma angesehen. Seit Ende des Kosovo-Krieges ist es in vielen Städten zu Übergriffen gegen beide Gruppen gekommen. Unter den Augen der Nato-Schutztruppe KFOR werden Roma-Häuser niedergebrannt. Für die albanischen Täter genügt als Legitimation, daß „Zigeuner“ während des Krieges mit den Serben kollaboriert hätten. Wenn KFOR ihre Stillhaltepolitik nicht ändert, dann wird – unter der Führung der UÇK und stillschweigend toleriert von der Staatengemeinschaft – ein „ethnisch reines“ Kosovo entstehen. Die Serben haben zumindest theoretisch die Möglichkeit, nach Serbien zu flüchten. Die Roma und Ägypter wird Serbien dagegen weder aufnehmen können noch wollen – genausowenig wie Westeuropa. Die Reaktion Italiens ist da typisch: Weit über tausend Roma sind in den letzten Tagen aus dem Kosovo nach Süditalien geflohen. Die Regierung in Rom erklärte sie kurzerhand zu illegalen Einwanderern und bereitet nun ihre Abschiebung vor. Die EU könnte nun – im Rahmen des Stabilitätspaktes und der begleitenden Maßnahmen – ein Leben in Sicherheit für Roma vorantreiben. Das geeignetste Mittel wäre es, wirtschaftliche Unterstützung nur an Gemeinden zu vergeben, in die auch vertriebene Roma zurückkehren können, die auch die zerstörten Roma-Häuser wieder repariert und Roma in den neuen, lokalen Selbstverwaltungen beteiligt. Dies müßten OSZE, UN und natürlich auch KFOR und die internationale Polizeitruppe überwachen. Und auch westliche Regierungen und Hilfsorganisationen, die im Kosovo tätig sind, sollten endlich zur Kenntnis nehmen, daß in der Provinz nicht nur Albaner und Serben, sondern auch Roma wohn(t)en, und diese verstärkt in ihre Hilfsmaßnahmen einschließen. Diejenigen Roma, die berechtigte Furcht vor einer Verfolgung im Kosovo haben, müssen als Flüchtlinge aufgenommen werden. Das sind Maßnahmen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten – doch zeigt die Erfahrung in Bosnien-Herzegowina, daß sie es nicht sind. Dort wurden die Roma von der internationalen Staatengemeinschaft und den meisten Hilfsorganisationen einfach ignoriert. Die deutsche Regierung, die sich im Kosovo in den letzten Monaten als Verteidiger der Menschenrechte profilierte, hätte jetzt die Möglichkeit zu zeigen, daß ihr dieses Thema wirklich ernst ist. Immerhin wird Bonn bei der Umsetzung des Stabilitätspaktes federführend sein. Denn wie der tschechische Präsident Václav Havel einst sagte: Die Situation der Roma ist der Lackmustest für Demokratie und Menschenrechte einer jeden Gesellschaft. Solange sie nicht für Roma gelten, sind beide Begriffe nichts anderes als Phrasen oder Vorwand für andere politische Interessen. Stephan Müller Der Autor lebt als Politikwissenschaftler in Wien und ist Berater des European Roma Human Right Center in Budapest
Stephan Müller
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HAUPTSPONSOR IST ABGESPRUNGEN: Braunschweiger Basketballer in Nöten - taz.de
HAUPTSPONSOR IST ABGESPRUNGEN: Braunschweiger Basketballer in Nöten Auch nach mehreren Tagen ist der Schock noch zu spüren. Der Rückzug des Hauptsponsors, Namensgebers und Gesellschafters New Yorker hat die Braunschweiger Basketballer völlig unvorbereitet getroffen. „Keiner wusste etwas davon, das war nicht zu ahnen“, sagt Oliver Braun, Geschäftsführer und Sportdirektor bei den New Yorker Phantoms. Zum Ende der Saison soll Schluss sein. Eigentlich lief der Vertrag bis 2015, erklärt Braun. Neue Trikots für die kommende Saison waren schon bestellt. „Was das genau für Konsequenzen hat, müssen wir erst noch eruieren“, sagt er. Dem früheren Chaosclub der Basketball-Bundesliga drohen wieder turbulente Zeiten. Nach schwierigen Jahren am Rande des Existenzminimums hatte der Club mit dem häufig wechselnden Namen sich zuletzt konsolidiert. Erst mit dem Einstieg des Modeunternehmens New Yorker kam Ruhe in den Club.  (dpa)
taz. die tageszeitung
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Ramadan-Festival in Dortmund: Burger und Bubble Tea zum Iftar - taz.de
Ramadan-Festival in Dortmund: Burger und Bubble Tea zum Iftar Das Ramadan-Festival in Dortmund läuft. Die Veranstalter mussten lange dafür kämpfen, weil sich Behörden und Anwohner wehrten. Dieses Jahr mit strengen Auflagen: das Ramadan-Festival in Dortmund Foto: Volker Wiciok DORTMUND taz | Die auf die Zelte geschmierten Hakenkreuze beendeten den Protest gegen das Ramadan-Festival. Mit so etwas wollten die Nachbar*innen des Geländes nichts zu tun haben. Sie hatten doch nur Probleme mit dem Lärm. Seit 2012 findet das nach Angaben der Veranstalter größte Ramadan-Festival Europas in Dortmund statt. Rund 200.000 Besucher reisen aus ganz Deutschland an, aber auch aus den Niederlanden und Belgien. In diesem Jahr stand es fast vor dem Aus: Drei Wochen vor dem Beginn des muslimischen Fastenmonats am 5. Mai hatte man immer noch kein geeignetes Gelände gefunden. Die Gespräche zwischen Veranstalter, Oberbürgermeister und den Ämtern liefen ohne Unterlass. Eigentlich gehe es natürlich um etwas anderes, wird ein junger Festivalbesucher später sagen. Es geht um die Frage, die seit Jahren ständig gestellt wird: Gehört der Islam zu Deutschland? Der Fastenmonat testet die Toleranz der Mehrheitsgesellschaft. Am Remydamm, wo seit Anfang Mai das Dortmunder Ramadan-Festival stattfindet, ragen die weißen Zeltspitzen wie auf Cupcakes gespritzte Sahnehäubchen zwischen den Bäumen hervor. Schon auf dem angrenzenden Parkplatz hört man mehr von der B1 auf der einen, als vom Feiern auf der anderen Seite. An Wochentagen kostet der Eintritt zwei, am Wochenende vier Euro. Auf Schotter läuft man an Ständen vorbei, an 30 Buden gibt es Essen und Trinken, an 130 stellen Händler ihre Ware aus. Man kann Immobilienanteile für Häuser in der Türkei erwerben, seinen orientalischen Teppich reinigen oder sich zu einem anderen Strom- und Gasangebot überreden lassen. Aber es gibt auch mit Koranversen bestickte Kopfkissenbezüge zu kaufen, Bücher, frisches Obst und pinkfarbene Ballons mit Disney-Prinzessinnen darauf. Die meisten Aussteller kommen aus der Türkei, immer mehr aber auch aus arabischen Ländern. Mittendrin im ovalen Gelände stehen drei große Zelte, in denen auf Bierbänken das Fasten gebrochen wird, Mitte Mai beginnt das sogenannte Iftar gegen 21.20 Uhr. Ringen mit den Ämtern Der Veranstalter Fatih Ilhan kommt selbst aus Dortmund, sie wollen mit dem Fest die multikulturelle Identität der Stadt widerspiegeln, sagt seine Sprecherin, Ceren Kaya. Im europablauen Blazer läuft sie mit in die Taschen gedrückten Händen über das Gelände. „Wir haben in Dortmund den Bäcker neben dem Baklava-Laden, wir leben das Miteinander längst. Aber eine Plattform für Muslime und Nichtmuslime, auf der sie sich während des Ramadan begegnen konnten, die fehlte.“ Für ein paar Euro könne man ein Stück Kultur mit nach Hause nehmen, sich wie im Urlaub an der Strandpromenade fühlen oder wie auf einem türkischen Basar, sagt sie. Dass das Festival heute hier stattfinden kann, ist das Ergebnis eines langen Ringens mit den zuständigen Ämtern. Immer wieder musste das Festival auch in der Vergangenheit schon ausweichen, der Veranstalter sich nach neuen Plätzen umsehen. Fast überall entstanden mit der Zeit „Nutzungskonflikte“, so nennen es die Behörden. Die Argumente: Die Parkplätze reichten nicht aus, der An- und Abfahrtslärm könnte die Anwohner*innen stören, das Festival als solches, das erst um 18 Uhr beginnt und dann bis spät in die Nacht läuft, sei zu laut. Die Brandschutzauflagen wurden strenger, die Termine kollidierten mit anderen Veranstaltungen in Dortmund, nicht zuletzt mit den Heimspielen des BVB. Ceren Kaya, Sprecherin des Ramazan-Festivals„Eine Plattform für Muslime und Nicht­muslime, auf der sie sich während des Ramadan begegnen konnten, die fehlte“ Als „Trauma“ beschreiben manche Medien das Jahr 2013, als das Festival ebenfalls am Remydamm stattfand, einem Großparkplatz in der Nähe des Stadions: 30 Tage lang sei vor 3 Uhr nachts an Schlaf nicht zu denken gewesen, sie seien überhaupt nicht mehr zur Ruhe gekommen, beschwerten sich die Anwohner*innen. Der Ramadan verschiebt sich jedes Jahr um zwei Wochen nach hinten, je später die Sonne untergeht, desto weiter rückt auch Iftar, das Fastenbrechen, zurück. Entsprechend spät begannen die Menschen zu essen, sie saßen lange draußen, mitten in der Nacht reisten sie ab, weckten die Nachbarn. In den nächsten Jahren wichen die Veranstalter auf andere Flächen aus, die aus verschiedenen Gründen nun aber auch nicht mehr infrage kamen. Man überlegte, die Veranstaltung erneut am Remydamm stattfinden zu lassen. Dann aber lehnte die zuständige Bezirksvertretung den Antrag im Sommer 2018 vorerst ab. Der Veranstalter musste ein Konzept vorlegen, wie es am Remydamm funktionieren soll. Erst Ende April genehmigte die Stadt die Veranstaltung dann doch. Die Behörden waren einverstanden, manche Dortmunder*innen nicht. Keine Angst vor Neonazis Die Veranstalter gingen in die Offensive und luden Anwohner*innen zum gemeinsamen Fastenbrechen auf das Gelände ein, gaben ihnen für alle Fälle ihre Handynummer. Auch die Stadt hat ein Beschwerdetelefon installiert. Als Hakenkreuze und Kot noch während des Aufbaus an die Zeltwände geschmiert wurden, erstattete der Veranstalter Anzeige gegen unbekannt. Dass die Neonazis aus dem Stadtteil Dorstfeld dahinterstecken, liegt für viele jedoch auf der Hand. „Die machen uns keine Angst“, sagt Festival-Sprecherin Kaya. Eine Anwohnerin, die seit 1983 an der nahe gelegenen Joseph-Scherer-Straße lebt und möchte nicht, dass ihr Name in der Zeitung steht, besteht darauf, dass ihr Ärger sich nicht gegen das muslimische Fest an sich richte. „Wir haben dauernd Probleme, wenn in der Nähe Großveranstaltungen stattfinden, egal von wem. Ich habe mir schon angewöhnt, dann über die Wochenenden wegzufahren.“ Trotzdem hatte sie gehofft, dass der Bürgermeister sein Versprechen wahrmache und das Festival nicht mehr dort stattfinden lasse. 2013 habe nun einmal „ziemlichen Ärger“ mit sich gebracht: Weil die Parkplätze am Gelände damals noch kostenpflichtig waren, seien die Besucher*innen in ihre Straße gekommen, um umsonst zu parken. Sie hätten für lange Staus gesorgt. Außerdem, erzählt die Anwohnerin, habe sie täglich benutzte Windeln und Essensreste in ihrer Einfahrt gefunden. In diesem Jahr aber gehören strenge Auflagen zu dem Konzept für den Remydamm: So muss das Fest um Mitternacht beendet sein, die Parkplätze dürfen nichts kosten, und es darf keine Livemusik mehr gespielt werden. Ein Parkdienst regelt den An- und Abfahrtsverkehr, und in die Joseph-Scherer-Straße gelangt man nur noch mit Genehmigung. Die Anwohnerin sagt: Bisher sei ihr, außer etwas Grillgeruch, „nichts Negatives“ aufgefallen. Auch von anderen Anwohner*innen gab es dieses Jahr noch keine Beschwerden, weder bei der Stadt noch bei den Veranstaltern. Über den Schotter auf dem Festivalgelände weht mal dichter Rauch vom Grill, anderswo duftet es bäckersüß. „Es ist ein kulturelles Fest, kein religiöses“, sagt Sprecherin Ceren Kaya. Sie selbst ist Agnostikerin und findet besonders die Begegnung und das Zusammenkommen faszinierend. Volksfest ohne Alkohol und Bratwurst Das Publikum ist wild gemischt, Menschen mit und ohne erkennbaren Migrationshintergrund, große Gruppen von Freundinnen, Paare, Familien. Viele kommen nur wegen dieser einen Süßigkeit oder des einen Stoffes, den sie sonst im Jahr nirgendwo finden. Alkohol und Bratwurst werden nicht verkauft, abgesehen davon unterscheidet sich das Festi Ramazan kaum von anderen Volksfesten. Es gibt den „Best Burger in Town“, Bubble Tea, aus flüssigem Stickstoff gewonnenes Popcorn, Aktionen für Kinder und zwischendurch ein bisschen Folklore. Michael Taranczewski sitzt seit 2005 für die SPD im Integrationsrat der Stadt Dortmund. Die Diskussion um das Festival bringt ihn auf: „Ich bin es leid, dass wir unseren muslimischen Mitbürger*innen nicht die Anerkennung entgegenbringen, die sie verdienen“, sagt er am Telefon. Der 70-Jährige diskutierte mit seinem Parteigenossen, Oberbürgermeister Ullrich Sierau, der kurzerhand im Dezember 2018 das Ende des Festivals ausgerufen hatte. Er diskutierte auch mit seiner eigenen und den anderen Fraktionen und erreichte, dass die Zuständigkeit vom Bezirk auf den Stadtrat überging. Dieser entschied im Februar 2019, das Festi Ramazan in Dortmund erhalten zu wollen. „Der Weihnachtsmarkt läuft sechs Wochen, der stört niemanden, auch nicht die grölenden Fußballfans des BVB. Das muslimische Fastenbrechen ist dann plötzlich zu laut. Wir müssen unseren muslimischen Mitbürger*innen versichern: Ihr seid ein Teil von uns“, poltert Taranczewski ins Telefon. Mowafak Almahamid hat sich auf dem Festival zum Nachtisch eine Künefe geholt, ein türkisches Gebäck aus Teignudeln, Käse und Zuckersirup. Seit fünf Jahren wohnt er in Dortmund, geflohen ist er aus Syrien. Seine Familie lebt verstreut in der arabischen Welt, mittlerweile hat Almahamid viele deutsche Freunde. Den Ramadan kann er mit ihnen aber nicht verbringen, sagt er. Deswegen findet er das Ramandan-Festival gut. Aber er sagt auch: „Die letzten Jahre war es besser und kultureller. Jetzt geht es nur noch ums Geldmachen.“ Er würde lieber wieder mehr Bräuche sehen, Tanz und Vorführungen, die etwas über die islamische Kultur ausdrückten. Auch für Almahamid steckt hinter dem Streit um das Ramadan-Festival die Frage, ob der Islam wirklich zu Deutschland gehöre. Die Künefe zieht lange Fäden, Almahamids Augen folgen den Teigschlieren. Ende des Jahres will er Deutscher werden, „Wenn es klappt, bin ich Deutscher und Muslim. Also ist es klar, oder?“
Hanna Voß
Das Ramadan-Festival in Dortmund läuft. Die Veranstalter mussten lange dafür kämpfen, weil sich Behörden und Anwohner wehrten.
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Schauspieler Udo Kier: „Das ist kein Konzept. So bin ich.“ - taz.de
Schauspieler Udo Kier: „Das ist kein Konzept. So bin ich.“ Udo Kier wird gerne als Bösewicht besetzt. Ein Gespräch über das Spiel der Wahrheit, die Liebe zu Palmen, Respekt und Rainer Werner Fassbinder. „Ich trug die engsten Hosen und die spitzesten Schuhe“: Udo Kier über die 60er. Bild: imago/Raimund Müller sonntaz: Herr Kier, am 14. Oktober werden Sie 70 Jahre alt … Udo Kier: Ich fühle mich zeitlos! Der Kopf ist da, ich kann meine Texte lernen, ich kann auch springen. Manchmal lache ich innerlich über mich selbst, dass ich noch so rumspringe. Mir geht es gut. Ich suche mir die Filme jetzt im Alter einfach besser aus. Ich bin gesund, aber das kann sich ja auch ganz schnell ändern. In der Tat. Der Schauspieler Gert Voss ist im Alter von 72 Jahren überraschend verstorben. Sie ersetzen ihn jetzt in der österreichischen Fernsehserie „Altes Geld“. Der erste Drehtag, da hat sich dann schon einiges in meinem Kopf abgespielt. Aber ich hatte super Kollegen. Die einzigen Bedenken von mir waren am Anfang: Burgschauspieler – Filmschauspieler. Der König der Burg wird ersetzt durch einen Schauspieler, der auch Filme gemacht hat wie „Schamlos“, „Dracula“ und „Frankenstein“. Aber Sie drehen auch mit Schwergewichten wie Lars von Trier und haben viele Preise gewonnen. Die Preise stehen bei mir alle auf der Toilette. Dort müssen Gäste irgendwann mal hin. Und dann kommen sie zurück und sagen: „Wusst ich ja gar nicht!“ Die ersten zwei Wochen stelle ich sie für gewöhnlich auf einen Tisch, damit ich sie sehe. Und dann kommen sie weg. Sie haben eine beeindruckende Karriere hingelegt. Haben Sie noch Träume? Man muss ja Träume haben. Wenn sich alle erfüllen, gibt’s keine Träume mehr. Mein Lieblingsauto als junger Mann war der Mercedes W 109. Vor ein paar Jahren habe ich ihn mir in Amerika gekauft. In Havannabraun. Das Auto hab ich mir dann vors Haus gestellt. Wenn ich morgens Kaffee trinke, gucke ich auf meinen Traum. im Interview:Udo KierDer Mann: Udo Kierspe wurde am 14. Oktober 1944 in Köln-Mülheim geboren. In der Jugend Jobs bei Ford am Fließband und als Model. Lernte in Cannes den Industriellenerben Arndt von Bohlen und Halbach kennen und ließ sich von ihm ein Weilchen aushalten. Ging mit 19 Jahren nach London, lebt heute in den USA. Kaufte sich vor einigen Jahren ein ehemaliges Schulgebäude in der thüringischen Gemeinde Gehren. Das Werk: Wird sehr gerne als Bösewicht und Streuner in merkwürdigen Welten besetzt, unter anderem 1973 in Paul Morrisseys „Dracula“. Machte bei vielen Schlingensief-Filmen mit, „Das deutsche Kettensägenmassaker“ 1990 ebenso wie „Udo Kier – Tod eines Weltstars“ 1992. Hat keine Angst vor Trash und spielte 2008 für den Computerspielverfilmer Uwe Boll in der Umsetzung von „Far Cry“ mit. Den Weg nach Hollywood beschritt er 1991 mit der Rolle als Freier in dem Roadmovie „My Private Idaho“. Aufgewachsen sind Sie ja in einfachen Verhältnissen in Köln. Wir hatten überhaupt kein Geld. Ich wurde Ende des Krieges geboren. Ich bin gezwungener Vegetarier gewesen. Wir hatten kein Geld für Fleisch. Es gab nur Suppen: Gerstensuppe, Bohnensuppe, Linsensuppe. Sehr gesund. Dann bekam ich 50 Pfennig geschenkt von meiner Mutter, rannte ins Vorstadtkino und guckte mir Filme mit Piratenschiffen an, Errol Flynn. Mein Zimmer war ganz klein. Gebadet wurde ich einmal in der Woche, im Badewasser meiner Mutter. So embryomäßig in dieselbe Brühe rein. Meiner Mutter zuliebe habe ich auch eine kaufmännische Lehre gemacht, meine besten Jahre verschwendet. In der Mittagspause habe ich aus dem Büro Autogrammwünsche an Romy Schneider geschickt. Wer nicht viel hat, braucht Fantasie? Wir wohnten auf einer Etage mit drei Familien, und dann wurde der erste Plattenspieler gekauft, mit einer einzigen Platte, und die war von Caterina Valente. Als Besuch kam, habe ich meine kleinen Füßchen in die viel zu großen Schuhe meiner Mutter gesteckt, mir irgendwas umgehangen oder mir ein Hütchen aufgezogen und hab dazu gesungen. Playback als Sechsjähriger! Lange hat es Sie aber nicht in Deutschland gehalten. Mit 19 bin ich nach London gegangen. Dort habe ich Englisch gelernt und mich von Deutschen ferngehalten. Dann wurde ich entdeckt: Ich spielte einen Gigolo in einem vierzigminütigen Film, der hieß „Die Straße nach St. Tropez“. Und gleich danach titelten die Zeitungen: „Das neue Gesicht des Films!“ Und: „The most beautiful man in the world!“ Eine klassische Schauspielausbildung haben Sie nie absolviert? Bei Lee Strasberg habe ich mal zum Spaß einen Kurs mitgemacht in München, als ich mit Fassbinder zusammenlebte. Dann kam ich abends in eine Kneipe rein, und Fassbinder hat mich gefragt: Was musstest du denn machen? Und ich erzählte, dass ich ein Bär sein musste, der „Oh, Tannenbaum“ singt. Das war nichts. Wie sind Sie Rainer Werner Fassbinder begegnet? In Köln gab’s eine Kneipe, die hieß „Bei Leni“, am Neumarkt. Das war eine Arbeiterkneipe, da war alles drin. Die ersten Transvestiten, Lastkraftwagenfahrer waren dort. Jedes Wochenende gab es eine Schlägerei und jemand bekam ein Bier in die Fresse. Ich trug die engsten Hosen und die spitzesten Schuhe, die Haare mit Birkenöl zu einer Tolle frisiert. Dort lernte ich Fassbinder kennen. Er war der Rainer, ich war der Udo. Dort war auch der erste operierte Transsexuelle. Das wollten natürlich alle sehen. Da mussten wir auf die Toilette, um uns dieses Ding anzugucken. Den Regisseur Luchino Visconti haben Sie auch in einer Bar kennengelernt. In einem Londoner Nachtklub. Plötzlich kommt der Kellner und sagt mir, dass Herr Visconti und Herr Nurejew mich auf ein Glas Champagner einladen möchten. Ich habe geantwortet, dass die selber kommen sollen. Dann kam Luchino Visconti an meinen Tisch. Es gibt ein Foto davon: Da hängt an der einen Seite von mir der Visconti und an der anderen der Rudolf Nurejew. Nurejew hat von sich übrigens nur als „Beine“ gesprochen. Der sagte dann immer: My legs are tired! My legs want to go home! Ich als 21-Jähriger saß da rum und dachte mir nur, was sind das denn für Leute! Wie ging das dann weiter? Am nächsten Morgen fuhr ein Auto um meinen Block, immer und immer wieder. Ein Chauffeur stieg aus und fragte nach meinem Namen und überreichte mir ein Paket in Cartier-Papier. Darin war ein Lesezeichen mit vier blauen Perlen und Viscontis Adresse. In Rom hat er mich dann zu sich nach Hause eingeladen. Und dort wurde das Spiel der Wahrheit gespielt. Was ist das? Das gab’s auch bei Fassbinder. Während der Dreharbeiten zu „Bollwieser“ habe ich Rainer gesagt, dass mich ein anderer Schauspieler – Namen nenne ich nicht – nicht mag. Abends saßen wir dann am Tisch und Fassbinder wollte das Spiel der Wahrheit spielen und stellte die erste Frage an mich: „Udo, was hast du mir heute erzählt, wer dich nicht mag?“ Dann musste ich es sagen. Und so lernt man, die Wahrheit zu sagen. Die Zusammenarbeit mit Fassbinder war aber nicht immer einfach für Sie. Fassbinder und auch Lars von Trier, mit dem ich seit fünfundzwanzig Jahren arbeite, sind Regisseure, in denen wahnsinnig viel drin ist. Die sind wie ein zu voll gepumpter Autoreifen, und dann müssen sie eben immer mal wieder Luft ablassen. Bei Fassbinder kam aber irgendwann der Punkt, wo ich zu viel abbekommen habe. Die Luft kam raus und formte sich zu Worten: Du bist der schlechteste Schauspieler. Du bist der schlechteste Autofahrer. Er musste wen kränken, und ich war der Erste, den er morgens in der Küche gesehen hat. Ich hab dann meinen Koffer gepackt. Er hat ihn die Treppen runtergeworfen. Bei Helmut Berger, mit dem Sie auch zwei Filme gedreht haben, hat man das Gefühl, er ist aus dieser Zeit, aus diesen ausschweifenden sechziger und siebziger Jahren nie herausgekommen. Sie selbst waren da viel beweglicher. Ich habe so viel Glück gehabt in meinem Leben. Gus Van Sant habe ich zufällig in Berlin getroffen, Paul Morrissey saß im Flugzeug neben mir. Ich habe noch nie einen Brief an einen Regisseur geschrieben. Aber ich bin anpassungsfähig. Ich habe meinen Studenten immer gesagt: Das wichtigste Wort ist Respekt. Ich respektiere jeden. Im Taxi setze ich mich meistens vorne rein, weil ich nicht das Gefühl geben will, dass ich transportiert werde, dass mich jemand transportieren muss. Das ist auch kein Konzept. So bin ich. Studenten? Das heißt, es gab einen Professor Kier? Ich war Professor in Braunschweig, Theorie zur Schauspielkunst, und da habe ich auch gesagt, ich will nur sieben Studenten. Vier von denen sind jetzt selbst Professoren. Um den Job zu bekommen, musste ich einen Vortrag halten vor allen Studenten, und dann wurde entschieden, ob sie mich nehmen oder nicht. Da habe ich einen Vortrag gehalten über Fensterputzen und Kartoffelschälen. Das war offenbar sehr überzeugend. Man sieht ja den Charakter der Leute beim Kartoffelschälen. Der eine ist ganz genau und penibel, der andere macht ein Viereck daraus oder ist verschwenderisch. Ich nehme an, Sie bekommen viele Drehbücher. Was muss ein Projekt denn haben, dass Sie darin mitwirken wollen? Ich bekam zum Beispiel ein Angebot von der Cinemathek in Los Angeles. Ich sollte Guy Maddins „Brand Upon the Brain!“ sprechen. So was hatte ich noch nie gemacht. Rechts von mir ein Orchester, links von mir Geräuschmacher und vor mir ein Monitor mit dem Film und dem Text, den ich sprechen soll. Plötzlich stand da dann „3 Minuten Orgasmus“. Ich hab dann zwei Sekunden überlegt, mich fallen lassen auf dem Stuhl, und dann hatte ich einen Orgasmus. Geht das so schnell? Ich bin nicht zum Höhepunkt gekommen. Ich war schon mitten im Orgasmus drin! Das hätte sonst länger als drei Minuten gedauert. Ich bin ja kein Karnickel. Aber daraus entstand dann auch der Film „Keyhole“ von Guy Maddin. So entsteht bei mir alles. Sie leben in Amerika – seit wann eigentlich? In Los Angeles, ja. Mein erster amerikanischer Film war „My Own Private Idaho“ von Gus van Sant. Ich hatte bei einer Freundin gewohnt in Amerika, und sie meinte dann: Warum bleibst du eigentlich nicht hier? Dann habe ich mir einen knallroten Käfer gekauft für 900 Dollar, mir ein kleines Zimmer genommen und bin geblieben. Ich werde auch nicht mehr weggehen von dort. Des Berufs wegen? Wegen des Wetters! Ich lebe dort für die Sonne, wegen meiner Knochen. Und ich liebe Palmen! Palmen? Als ich klein war, war meine Tante die Einzige, die ein bisschen Geld hatte. Die fuhr dann auf Urlaub und schickte mir immer Postkarten mit Palmen drauf. Die habe ich immer an die Wand gepinnt. Und heute habe ich sie im Garten. Fünfzig, sechzig Palmen oder noch mehr: von der Postkarte zur Realität. Ich spreche auch mit meinen Bäumen. Im Kopf. Haben Sie auch Tiere? Ein Plastikpferd, lebensgroß. Das heißt Max von Sydow. Ich hatte Hunde, alles Straßenhunde. Ich finde es eine Schande, wenn Leute so teure Hunde kaufen und die anderen sterben im Tierheim. In Amerika ist das so, wenn ein Hund aufgelesen wird und keiner sich meldet, wird er nach zwei Wochen eingeschläfert. Wie leben Sie in Los Angeles? Ich lebe in einer ehemaligen Bücherei von einem berühmten Architekten aus der Schweiz, Albert Frey. Und ich sammle moderne Möbel. Ich habe ein Esszimmer von Paul Frankel, der war ja Österreicher. Dann sammle ich schon mein ganzes Leben lang moderne Kunst. Ich habe sogar Arnulf Rainer. An der einen Wand hängen Bilder von David Hockney und Robert Longo, und überall steht drauf: „Für Udo, with Love.“ Dort trinke ich meinen Kaffee und sehe, wie viele Menschen mich lieben. Ich habe auch eine Ranch, auf der das Plastikpferd steht. Aber es gibt dort auch ganz viele richtige Tiere. Ist das Häusliche wichtiger geworden für Sie mit dem Alter? Das ist die Umgebung, die ich für mich selber kreiert habe. Und dann muss das auch gepflegt werden. Für mich ist es wichtig. Und es ist auch besser für die Geschichtsbücher: Wenn da stehen würde, geboren in Köln, gestorben in Köln, denken doch die Leute, ich bin nie rausgekommen. Ist doch viel schöner, wenn es heißt: Er fuhr mit seinem havannabraunen Mercedes über die Klippen in Santa Monica. Im Hugo-Boss-Anzug aus dem Wasser gefischt. Ist doch toll.
Markus Keuschnigg
Udo Kier wird gerne als Bösewicht besetzt. Ein Gespräch über das Spiel der Wahrheit, die Liebe zu Palmen, Respekt und Rainer Werner Fassbinder.
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Landwirtschaft am Nil in Sudan: Die phantastische Insel - taz.de
Landwirtschaft am Nil in Sudan: Die phantastische Insel Zwischen dem Blauen und Weißen Nil liegt das heimliche Eldorado Sudans. Aber die Bauern dort fürchten um ihre Zukunft. Strand am Blauen Nil, der so heißt, obwohl er hier eher weiß scheint Foto: Mohamed Nureldin Abdallah/reuters GEZIRA taz | Eingeklemmt zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil in Sudan liegt eines der wichtigsten landwirtschaftlichen Gebiete des Landes: das Gezira-Projekt, etwa 12.000 Quadratkilometer Ackerland mit einem der größten Bewässerungsnetze der Welt. Gezira ist das arabische Wort für Insel. Und obwohl das Gezira-Projekt nicht auf einer richtigen Insel liegt, sieht es doch ein wenig danach aus, weil es auf zwei Seiten an zwei riesige Flüsse grenzt: den Blauen und den Weißen Nil. Erst etwa 170 Kilometer nördlich, in Khartum, verschmelzen die beiden. Das Geheimnis von Gezira: die beiden Hauptarme des Nils transportieren zu unterschiedlichen Jahreszeiten besonders viel Wasser. So kann mal der Weiße Nil, mal der Blaue Nil das Gebiet bewässern – allein durch die Schwerkraft, ohne dass weitere kostspielige Anlagen nötig sind. „Es soll immer in beiden Flüssen genügend Wasser geben“, sagt Gezira-Direktor Siddiq Abuashara in seinem bescheidenen Büro der Hauptstadt Khartum. „Daher ist es für Sudan, und sicherlich für Gezira, äußerst wichtig, dass schnell eine gute Einigung erzielt wird über den riesigen Damm, den Äthiopien am Blauen Nil baut.“ An den Wänden seines Büros hängen riesige Landkarten von Gezira, wie auch Bilder von Gewächsen aus dem Projekt. Für Besucher liegen auf dem Tisch Apfelsinen aus Gezira, es gibt Zitronenlimonade aus den dortigen Früchten. Wasserhahn ohne Wasser Als Äthiopien im Jahr 2020 begann, den Stausee des Grand Ethiopian Renaissance Damm (GERD) zu füllen, merkte das ein großer Teil der Bevölkerung in Sudan. Der Wasserstand des Blauen Nils sank auf einen Tiefpunkt, so dass nach Khartum kein Trinkwasser gepumpt werden konnte. Drei Tage lang kam kein Tropfen aus den Wasserhähnen. „Wir wussten nicht, was los war“, erzählt Mariam Mohamed, eine junge Hausfrau in Khartum. „Erst am nächsten Tag wurde es uns im Radio erklärt. Wir hatten dann schon einen hektischen Tag hinter uns, um Wasser zu finden und Kanister zu kaufen.“ Äthiopien hatte Ägypten und Sudan nicht im Voraus informiert. Dieses Jahr droht eine Wiederholung. taz folgt dem WasserDer Zugang zu sauberem Wasser ist auf der Welt höchst ungleich verteilt. Ein Rechercheprojekt auf verschiedenen Kontinenten über Trinkwasser, Dürre, Überschwemmungen und Geldströme in der Entwicklungszusammenarbeit unter taz.de/wasser Für Sudans Wirtschaft ist das schlecht. Das Potenzial von Gezira wurde bereits 1904 von den britischen Kolonialherren erkannt. Anfangs wurde dort hauptsächlich Baumwolle für den Export nach Großbritannien angebaut. Nach Sudans Unabhängigkeit 1956 kamen immer mehr andere Produkte dazu: Getreide, Sonnenblumen für Öl, Früchte für den lokalen Verbrauch und Export. Die Hoffnung für Sudans Kornkammer war sehr groß. Der Militärputsch von Omar al-Bashir im Jahr 1989 – er sollte dreißig Jahre lang an der Macht bleiben – machte die Hoffnungen zunichte. „In Gezira übernahmen seine Anhänger zunehmend Land von den ursprünglichen Bauern und schlachteten Gebäude und Maschinen aus, um sie als Schrott ins Ausland zu verkaufen. Die Bewässerungskanäle wurden vernachlässigt, wodurch sie verschlammten oder einstürzten“, erzählt Abuashara. Baumwolle aus dem Gezira-Projekt Foto: Robert Caputo/imago Nach Bashirs Sturz im Jahr 2019 durch einen Volksaufstand, den schließlich das Militär unterstützte, bekam Abuashara von der neuen Regierung den Auftrag, Gezira neues Leben einzuhauchen. Der Ökonometriker, der vor Bashirs Herrschaft geflohen war und 30 Jahre in den USA lebte, ist ein echter Gezira-Experte. Nicht nur weil er drei Bücher über das Bewässerungssystem von Gezira geschrieben hat, sondern auch, weil er dort auf dem Land seines Vaters aufwuchs. „Das waren gute Zeiten, Es gab reichlich zu essen und Erntenüberschüsse zum Verkauf. Wir machten uns keine Sorgen über die Regensaison, solange es in beiden Nils Wasser gab“, erinnert sich Abuashara. Jetzt funktionieren etwa 85 Prozent des Bewässerungssystems nicht mehr. Der Chef des Gezira-Projekts hat ausgerechnet, dass 700 Millionen Euro nötig sind, um es wieder in Gang zu bringen. „Wir können das niemals allein finanzieren und suchen nach Investoren im Ausland, weil Sudan wirtschaftlich und finanziell am Boden liegt.“ Ein Wunder vollbringen Um das Interesse von lokalen und internationalen Investoren zu wecken, sind nach seiner Meinung vor allem Gewissheit und Informationen über den äthiopischen Damm GERD nötig, der kurz hinter der äthiopischen Grenze liegt. „Das Gezira-Projekt ist aufgrund seiner Lage zwischen den beiden Flüssen einzigartig und sollte zusammen mit unserer Bewässerungskompetenz ein Wunder vollbringen können“, lautet Abuasharas Überzeugung. Das Gezira-Projekt ist zwar einzigartig, aber Sudan hat noch andere fruchtbare Gebiete am Nil. Während der Norden des Landes aus Wüste besteht, sind etwa 700.000 Quadratkilometer im Süden besonders nützlich für Landwirtschaft – ein Riesenpotential. Aber davon werden nur rund 20 Prozent benutzt. Die Führung von Bashir hatte kein Interesse daran, dass die eigene Bevölkerung das Land bebaut. Sie verpachtete lieber gigantische Flächen an arabische Länder, als Ackerland für den Export. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Die Übergangsregierung aus Zivilisten und Militär, die Sudan seit Bashirs Sturz regiert, hat ein Auge auf die Landwirtschaft geworfen, immerhin der drittgrößte Wirtschaftszweig des Landes. „Die Bauern, die noch in Gezira sind, und andere Interessierte haben Lust, Gezira wieder aufzubauen“, erklärt Abuashara. Aber sie bräuchten Sicherheit über die Zukunft des Nils. „Darum ist alles rund um den GERD so wichtig.“ Letzte Reste von Landwirtschaft mitten in Khartum: Ein Bauer auf der Tuti-Insel Foto: Zohra Bensemra/reuters Der Gezira-Chef arbeitet an einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen den Bauern, die Ackerland pachten, dem Staat, dem das Bewässerungssystem gehört, und der Gezira-Verwaltung. Er hat den Landwirten vorgeschlagen, in den Wintermonaten vor allem Weizen anzupflanzen. Es gibt seit Jahren einen Mangel an Weizen in Sudan – das führt zu einem Defizit an Brot, und steigende Brotpreise waren der Auslöser für die Proteste, die schließlich 2019 zum Umsturz führten. Heute geht es den Menschen noch nicht besser als damals. „Die Lage in Sudan ist momentan schwierig für die Bevölkerung. Wenn es genügend Brot gibt, sind die Sudanesen zufriedener“, analysiert Abuashara. Tuti ist kein Paradies mehr Wie prekär die Lage ist, zeigt sich in Khartum, wo der Blaue und Weiße Nil sich vereinen. Genau an dieser Stelle gibt es eine richtige Insel, ein Miniatur-Gezira, mit dem Namen Tuti. Es war früher ein acht Quadratkilometer großes Gartenparadies im Zentrum von Khartum, wo Gemüse angebaut wurde. Jeden Tag wurde es frisch per Fähre ans Festland gebracht. Aber vor zehn Jahren wurde eine Brücke gebaut. Die Äcker wurden immer kleiner, weil sie Platz machen mussten für Wohnhäuser. Und an den Wochenenden kommen hunderte Jugendliche und feiern auf dem kleinen Strand. Der NilDer 6.650 Kilometer lange Nil ist der längste Fluss der Welt – der breiteste ist der Amazonas in Südamerika. Beide Flüsse sind vom Weltall aus gut zu sehen.Die Herkunft des Namens „Blauer Nil“ ist verbunden mit der Jahreszeit. Am Anfang des Jahres, wenn der Fluss nach der stürmischen Regensaison ruhig ist und wenig Schlamm führt, ist sein Wasser klar. Es reflektiert den blauen Himmel der Trockenzeit und nimmt scheinbar seine Farbe an.Der Weiße Nil sollte eher Grauer Nil heißen. Nachdem er mit Wucht aus dem ostafrikanischen Victoriasee kommt, verliert er sich erst im sumpfigen Flachland von Südsudan, von wo aus er grauen Schlamm mitnimmt, wenn die Regenzeit ihm den Weg nach Norden bahnt. Im Sonnenschein sieht das beinah wie Weiß aus. An einem schmalen Sandweg auf Tuti liegt ein gepflügter Acker. Wie oft bei Äckern am Nil gibt es auch eine kleine Ziegelei. Eigentümer Ali Yahya sitzt im Schatten und wartet auf einen Freund, der ihm versprochen hat, ihn nach Hause auf das Festland zu fahren. „Der Nil, der so großzügig fruchtbaren Schlamm bringt, hat mir voriges Jahr mit den Überschwemmungen alles weggenommen. Wie ein wildes Tier hat der Fluss sich benommen“, erzählt der Bauer. „Aber dann auf einmal war das Wasser ganz niedrig, als die Äthiopier den GERD teilweise füllten. Zusammen mit dem Klimawandel wird Landwirtschaft zu einer rätselhaften Glückssache.“ Die noch übriggebliebenen Bauern auf der Tuti-Insel sind überwiegend vom Wasser des Nils abhängig. Schließlich hat Khartum nur an durchschnittlich 18 Tagen im Jahr Regen – kaum 16 Zentimeter. Nach der nächsten Ernte will der 63-jährige Yahya sein Land verkaufen. Er ist müde von dem Kampf mit dem Fluss und den Behörden, die den Bau von Wohnungen zugelassen haben. „Das Leben eines Bauern wird immer schwieriger und jetzt kommt noch die Ungewissheit über den äthiopischen Damm dazu. Es reicht mir.“
Ilona Eveleens
Zwischen dem Blauen und Weißen Nil liegt das heimliche Eldorado Sudans. Aber die Bauern dort fürchten um ihre Zukunft.
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US-Serie „Homeland“: Kriegsheld! Oder Hochverräter? - taz.de
US-Serie „Homeland“: Kriegsheld! Oder Hochverräter? Paranoid, hochpolitisch und grandios verunsichernd: Am Sonntag startet die US-Serie „Homeland“ auf Sat.1. Sie zeigt die Post-Bush-Ära. Getriebene zwischen Gegenspieler (r.) und Mentor. Bild: 20th Century Fox „Ich bin Amerikaner!“ Spezialkräfte finden einen vollbärtigen, verwahrlosten Mann in einem Loch irgendwo im afghanischen Korengal-Tal. Wie sich herausstellt, ist der Mann Marine-Sergeant und wurde angeblich acht Jahre lang von al-Qaida als Kriegsgefangener festgehalten. Trotz Folter hat er überlebt. Was für eine Heldengeschichte! So fängt „Homeland“ an, die spannendste und schlauste US-Fernsehserie der vergangenen Jahre. Doch schon bald bröckeln alle Gewissheiten. Sergeant Nicholas Brody hat ein finsteres Geheimnis aus dem Krieg mit in seinen Reihenhaus-Vorort gebracht. Steht er überhaupt noch auf der Seite Amerikas – oder wurde er in Gefangenschaft vom Feind umgedreht? Ist er ein Vorbild – oder ein Verräter? An diesem Wochenende kommt die hochgelobte US-Serie nun auch ins deutsche Fernsehen, nachdem sie längst auf der ganzen Welt läuft, von Afghanistan bis Vietnam. Wurde auch Zeit. „Homeland“ ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu „24“, jener kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gestarteten Erfolgsserie um den Anti-Terror-Agenten Jack Bauer (Kiefer Sutherland). „24“ war nicht weniger spannend und hat vieles vorweggenommen, was später Wirklichkeit wurde (ein schwarzer US-Präsident als Hoffnungsträger!) –, legitimierte aber gleichzeitig die „erweiterten Verhörmethoden“ der USA. „24“-Held Jack Bauer war immer der Gute, selbst wenn er aus einem Terrorverdächtigen die Scheiße herausfolterte. Es gibt kein Gut und Böse mehr „Homeland“ wiederum ist ein Spiegel der Vereinigten Staaten in der Post-Bush-Ära. In der Serie gibt es kein Schwarz und kein Weiß mehr, kein eindeutiges Gut oder Böse. „Homeland“ ist vielschichtiger, uneindeutiger, verunsichernder. In der Hauptrolle ist neben dem undurchschaubaren Sergeant Brody (Damian Lewis) die CIA-Agentin Carrie Mathison zu sehen. Gespielt wird sie von Claire Danes, die in den Neunzigern an der Seite von Leonardo DiCaprio in „Romeo und Julia“ zum Teeniestar wurde und in „Homeland“ nun beweist, was sie als Darstellerin kann: hart am Borderline-Syndrom entlang schauspielen. Die von Danes verkörperte Al-Qaida-Expertin ist eine Getriebene, die bis über die Grenzen ihrer geistigen Gesundheit geht. Nie wieder will sie einen solchen Fehler wie vor den Anschlägen von 9/11 machen. Carrie ist überzeugt davon, dass sie den nächsten großen Terror-Plot al-Qaidas aufhalten kann – in den sie den aus der Gefangenschaft befreiten Sergeant Brody verwickelt wähnt. Oder bildet sie sich das alles nur ein? Ist Carrie verrückt geworden? Ein Psychodrama entspinnt sich, eines mit großem Suchtpotenzial. „Homeland“ ist gleichzeitig aber hochpolitisch. Die Serie stellt Obamas wichtigstes Mittel im „Krieg gegen den Terrorismus“ in Frage: die Drohnenangriffe auf Al-Qaida-Verdächtige in Pakistan oder dem Jemen. In der Serie trifft eine ferngesteuerte Rakete unschuldige Kinder – und bringt so, anstatt Terroristen zu bekämpfen, neue hervor. Alle Perspektiven verrutschen In seinen verwirrendsten Momenten schafft es „Homeland“ sogar, dass beim Zuschauer alle Perspektiven verrutschen. Und bevor man sich versieht, fiebert man mit einem mutmaßlichen Attentäter mit und wünscht einem machtkorrupten Politiker den Tod an den Hals. Das ist perfide. Und mitreißend. Das auf der israelischen TV-Serien-Vorlage „Hatufim“ („Kriegsgefangener“) basierende „Homeland“ ist so gut, dass man sogar die ein oder andere wirre Wendung verzeiht, die der Plot spätestens in der zweiten Staffel nimmt. Warum aber Sat.1 die mit sechs Emmys und fünf Golden Globes dekorierte Fernsehserie von Howard Gordon und Alex Gansa am späten Sonntagabend versenkt, das bleibt das Geheimnis des Privatsenders. Hat die „beste Serie der Welt“ (Sat.1-Eigenwerbung) nicht auch den besten Sendeplatz verdient? „Homeland“ ab Sonntag auf Sat.1 (22.15 Uhr)
Wolf Schmidt
Paranoid, hochpolitisch und grandios verunsichernd: Am Sonntag startet die US-Serie „Homeland“ auf Sat.1. Sie zeigt die Post-Bush-Ära.
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Zum Feilschen in die Sperrzone - taz.de
Zum Feilschen in die Sperrzone Beim WTO-Gipfel in Katar wird erst seit gestern richtig verhandelt. Auch schärfste Sicherheitsvorkehrungen können Proteste nicht verhindern aus Doha ANDREAS ZUMACH Noch gestern Morgen war Robert Zoel- lick, Chefunterhändler der Bush-Administration, sichtlich genervt. Fast eine Stunde lang hatten WTO-kritische Demonstranten am Samstagabend mit einer Blockade die erste Pressekonferenz der US-Delegation verhindert. „Die Welt ist nicht zu verkaufen“ und „Wir wollen Demokratie und Transparenz“ skandierten die rund 30 Protestler. Die schwer bewaffneten US-Marines, die den Zugang zum Pressesaal bewachen und alle Journalisten gründlich durchsuchen, griffen nicht ein. Die Aktion blieb ebenso friedlich wie die vom Freitagabend, als während der Eröffnungssitzung der Ministerkonferenz rund 100 VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen (NGO) gegen eine neue Welthandelsrunde protestierten – zumindest solange die Wünsche der meisten Staaten des Südens nach Korrekturen an den Abkommen der letzten Runde nicht erfüllt sind. Anders als vor zwei Jahren in Seattle, wo rund 50.000 Menschen tagelang gegen die WTO demonstriert und den Delegationen durch Sitzblockaden zeitweise den Zugang zum Konferenzgebäude versperrt hatten, sind die Proteste in Doha klein. Und sie finden nur innerhalb des Konferenzzentrums statt, das mit drei scharf bewachten Sperrgürteln weiträumig abgeriegelt ist. An den Sperren stehen die Soldaten der Eliteeinheit von Katars Armee – die einzige Truppe, die dem Emir als verlässlich gilt. In die Sperrzone hinein dürfen nur ebenfalls scharf bewachte Sonderbusse, die die Delegierten, Journalisten und NGO-Vertreter in ihren Hotels abholen. Mitglieder der Delegation Malaysias, die sich am Samstag zu Fuß zum Kongress aufgemacht hatten, wurden von Soldaten mit einem Warnschuss gestoppt. Ob die Chance auf eine Einigung unter den 142 Regierungsdelegationen unter derartigen Sicherheitsvorkehrungen und ohne nennenswerte „Störungen“ durch die Zivilgesellschaft größer ist als bei der gescheiterten Konferenz von Seattle, war bis gestern noch nicht abzusehen. Zunächst einmal bekräftigten alle Minister und Delegationsleiter ihre bereits aus den Vorgesprächen in der Genfer WTO-Zentrale sattsam bekannten Positionen, unterstrichen die „Unverhandelbarkeit“ bestimmter „Essentials“ und warfen anderen Ländern „mangelnde Kompromissbereitschaft“ vor. Einige Delegationen legten sogar noch zu. So verschärfte etwa die Cairns-Gruppe der 17 größten Agrarexporteure ihre Forderungen an die EU nach Abbau von Exportsubventionen und internen Stützungsmaßnahmen. Doch dieses Vorgehen in den ersten Konferenztagen dient vor allem dazu, dem Publikum zu Hause zu signalisieren, dass man entschlossen für die Interessen des eigenen Landes kämpft. Richtig verhandelt wird erst seit gestern – in Arbeitsgruppen zu den sechs Haupstreitthemen (siehe Kasten). Jedes Land kann an den Arbeitsgruppen teilnehmen, in denen es seine Interessen berührt sieht. Eine erstes Zwischenergebnis sollte noch am Sonntag dem Plemum vorgelegt werden. WTO-Generaldirektor Mike Moore preist dieses „neue“ Verfahren immer wieder als „demokratischer, transpartenter und daher erfolgversprechender“ als die Vorgehensweise in Seattle. Damals – wie schon bei der Vereinbarung der Abkommen der Uruguay-Runde – hatten die vier großen Wirtschaftsmächte USA, EU, Japan und Kanada alle wesentlichen Fragen zunächst hinter verschlossenen Türen ausgekungelt und anschließend den übrigen WTO-Mitgliedern als vollendete Tatsache präsentiert. „Das wird auch diesmal trotz des neuen Verfahrens wieder genauso laufen.“ Diese Befürchtung ist im Konferenzzentrum von Doha von NGO-Vertretern und Delegationsmitgliedern aus afrikanischen und asiatischen Staaten immer wieder zu hören. Ob das Feilschen um die Abschlussdokumente tatsächlich wie bisher geplant bis morgen Mittag zu einer Einigung führt, ist völlig offen. Schon ist die Rede von einer Verlängerung bis Mittwoch. Die kommenden Nächte sind bereits fest verplant für Verhandlungen. Eine vielleicht letzte Gelegenheit für die 142 Deleagtionen, Einigkeit zu demonstrieren, boten am Wochenende die Zeremonien zur Aufnahme Chinas und Taiwans. Doch ist auch diese Einigkeit eher vordergründig. Für nicht wenige Länder des Südens ist China ein bedrohlicher Wirtschaftskonkurrent. Der Illusion, China werde sich der Anliegen der Entwicklungsländer annehmen und damit ihr Gewicht in der WTO stärken, gibt sich kaum eine Regierung in Asien, Afrika oder Lateinamerika hin. Es gibt bereits konkrete Anzeichen, dass China seine Politik in erster Linie mit den USA, der EU, Japan und Kanada abstimmen wird. Chinas Einfluss in der WTO war schon vor seiner offiziellen Aufnahme am Samstag erheblich. Peking setzte durch, dass die ursprünglich ebenfalls für diesen Tag vorgesehene Aufnahme Taiwans erst 24 Stunden später, am Sonntagabend, vollzogen wurde.
ANDREAS ZUMACH
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Internet-Steuer nach Brexit geplant: Internetkonzerne sollen zahlen - taz.de
Internet-Steuer nach Brexit geplant: Internetkonzerne sollen zahlen Großbritiannien will nach dem Brexit auf eigene Faust eine Digitalsteuer für Internetkonzerne einführen. Was bedeutet das für die Konzerne? Will das Köfferchen gerne füllen: Der britische Schatzmeister Philip Hammond Foto: ap DUBLIN taz | Großbritiannien will nach dem Brexit ab 2020 eine Digitalsteuer für große Internetkonzerne einführen. Betroffen wären nur Konzerne wie Google, Apple und Facebook, die weltweit über 500 Millionen Pfund Umsatz machen. Die großen Internetkonzerne sollen Steuern zahlen! Das hat der britische Schatzkanzler Philip Hammond am Montag bei der Debatte über den Haushaltsplan angekündigt. Allerdings müssen sie nicht sofort zahlen, sondern erst ab April 2020 – und dann auch nur 2 Prozent auf den mit britischen Nutzern erzielten Profit. Es wird lediglich Konzerne betreffen, die weltweit mindestens 500 Millionen Pfund Umsatz machen, damit die Internet-Start-up-Szene nicht belastet wird. Hammond hofft, damit mindestens 400 Millionen Pfund im Jahr einzunehmen. Mit der Steuer reagiert die britische Regierung auf den öffentlichen Unmut über die Steuervermeidung der Konzerne. Die investigative Initiative Tax Watch UK schätzt, dass die fünf größten Technologie-Unternehmen Facebook, Google, Apple, Microsoft und Cisco rund eine Milliarde Pfund im Jahr hinterziehen – legal, versteht sich. Facebook zum Beispiel hat voriges Jahr läppische 15,8 Millionen Pfund Körperschaftsteuer bezahlt, weil man bei einem Umsatz von 1,27 Milliarden Pfund angeblich nur 62 Millionen Gewinn gemacht habe. Das entspricht einer Gewinnmarge von 4,9 Prozent. Besonders dreist nutzt Amazon Schlupflöcher aus. Der Versandmulti zahlt in Großbritannien weniger Steuern, als er von der britischen Regierung an Zuschüssen kassiert, die eigentlich zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen vorgesehen sind. Amazon bewirkt genau das Gegenteil: Für jeden Job, den der Multi schafft, geht mehr als ein Job im Einzelhandel verloren. Labour-Vize-Parteichef Tom Watson bezeichnete die angekündigte Maßnahme als „Almosen“. Die Steuerzahlungen der fünf großen Internetfirmen seien unter den Tories seit 2013 auf die Hälfte gesunken. Miles Dean von der Kanzlei Milestone International Tax sagte dagegen: „In einer Zeit, in der Großbritannien in Anbetracht des Brexits alles unternehmen müsste, um ausländische Investoren anzulocken, ist es unglaublich, dass ein konservativer Schatzkanzler eine neue Steuer ins Auge fast, die Unternehmen betrifft, die viel in Großbritannien investiert und Tausende Jobs geschaffen haben und deren gesamter Steuerbeitrag oft übersehen wird.“ Google, Facebook, Amazon und Co. werden an der neuen Steuer nicht zugrunde gehen. Bisher bleibt unklar, wie diese Steuer in der Praxis eingetrieben werden soll. Und dann ist da ja auch noch der Brexit: Hammond betonte, dass seine Pläne auf der Annahme beruhten, dass sich Großbritannien und die EU auf einen „vernünftigen Ausstieg“ einigen. Scheitern die Gespräche jedoch, wäre der Budgetentwurf Makulatur. Unsicher ist auch, ob er am Donnerstag vom Parlament abgesegnet wird. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP), die Theresa Mays Tory-Minderheitsregierung stützt, hat damit gedroht, gegen den Haushaltsentwurf zu stimmen, falls Nordirlands Status im Vereinigten Königreich aufgeweicht werden sollte.
Ralf Sotscheck
Großbritiannien will nach dem Brexit auf eigene Faust eine Digitalsteuer für Internetkonzerne einführen. Was bedeutet das für die Konzerne?
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Verdacht der Vorteilsnahme: Wulff muss vor Gericht - taz.de
Verdacht der Vorteilsnahme: Wulff muss vor Gericht Nächster öffentlicher Auftritt im Gerichtssaal: Der frühere Bundespräsident Christian Wulff muss sich wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme verantworten. Ob ihm Denkerposen vor Gericht weiterhelfen? Christian Wulff. Bild: dpa HANNOVER dpa | Erstmals in Deutschland muss sich ein früherer Bundespräsident vor Gericht verantworten. Wie die Deutschen Presse-Agentur und Spiegel Online übereinstimmend berichten, hat das Landgericht Hannover am Dienstag entschieden, ein Verfahren wegen Vorteilsnahme gegen Christian Wulff zuzulassen. Das Gericht hatte seine Entscheidung den Anwälten in einer 14-seitigen Stellungnahme mitgeteilt. Auf Anfrage wollte sich es sich aber zunächst nicht öffentlich zu der Entscheidung äußern. Die Staatsanwaltschaft Hannover hatte Wulff zunächst im April wegen Bestechlichkeit angeklagt, den Filmproduzenten David Groenewold wegen Bestechung. Das Gericht stufte die Vorwürfe nun auf Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung herunter. Während Vorteilsnahme mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden kann, sieht das Strafgesetzbuch für Bestechung bis zu fünf Jahre Haft vor. Prozessbeginn ist voraussichtlich der 1. November. Dies hatte das Gericht den Verteidigern bereits vor einigen Wochen für den Fall einer Zulassung in Aussicht gestellt. Nach dpa-Informationen sind zunächst 16 Verhandlungstage angesetzt. Groenewold hatte 2008 einen Teil der Kosten für einen Oktoberfestbesuch des Ehepaares Wulff in München übernommen. Wulff, damals niedersächsischer Ministerpräsident, wusste davon nach eigenen Angaben nichts. Es geht um etwas mehr als 750 Euro. Wulffs Anwälte schweigen Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Groenewold Wulff motivieren wollte, für eines seiner Filmprojekte um Geld zu werben. Das tat Wulff einige Wochen später auch. Während die Anwälte Wulffs zunächst nicht für eine Stellungnahme zu erreichen waren, reagierten die Verteidiger Groenewolds enttäuscht. „Die Verteidigung bedauert, dass sich das Landgericht Hannover nur zu einer Herabstufung der Vorwürfe entscheiden konnte und nicht, wie beantragt, die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hat“, sagte Rechtsanwalt Bernd Schneider. Die Anklageerhebung ist der vorläufige Höhepunkt in der seit mehr als 19 Monaten andauernden Wulff-Affäre. Die Staatsanwaltschaft hatte am 16. Februar 2012 infolge von Medienberichten den Antrag auf Aufhebung der Immunität des damaligen Bundespräsidenten gestellt. Daraufhin war dieser einen Tag später vom Amt des Staatsoberhauptes zurückgetreten.
taz. die tageszeitung
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Verhältnis US-Republikaner und Trump: Politik auf Kleinkindniveau - taz.de
Verhältnis US-Republikaner und Trump: Politik auf Kleinkindniveau Mit seiner Unberechenbarkeit ruiniert Donald Trump das Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt. Warum halten die Republikaner an ihm fest? Schon wieder so eine Frage ohne Bilder und Grafiken – Gott ist das langweilig Foto: reuters Gut möglich, dass US-Präsident Donald Trump kein Gesetz gebrochen hat. Vielleicht sprechen die Untersuchungen am Ende sogar seinen ehemaligen Berater Michael Flynn von jedem Verdacht frei. Die Rechtslage ist nämlich komplizierter, als sich in kurzen Nachrichtensendungen vermitteln lässt. Qualitätsmedien in den USA veröffentlichen derzeit juristische Analysen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Fest steht: Die Ermittlungen werden lange dauern. Und fest steht auch, dass es um kriminelle Taten eigentlich längst nicht mehr – oder jedenfalls nicht in erster Linie – geht. Es geht um eine sehr viel dramatischere Frage: Ist der Präsident der Vereinigten Staaten körperlich und geistig überhaupt in der Lage, sein Amt auszuüben? Unabhängig voneinander sind mehrere Leitartikler zu dem Ergebnis gekommen, dass Donald Trump sich verhält wie ein Kleinkind. Sie haben sich in diesem Zusammenhang weder neurologische noch psychologische Kenntnisse angemaßt. Sondern lediglich Alltagsbeobachtungen für ihre Analyse herangezogen. Wie beispielsweise geringe Impulskontrolle, sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, dringendes Bedürfnis nach Anerkennung. Klingt vertraut? Ja, so kennen wir Fünfjährige. Und so kennen wir den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Nichts ist schlimmer als Unberechenbarkeit Ist es vorstellbar, dass Donald Trump sich im Oval Office hinwirft und mit den Fäusten auf den Boden trommelt, wenn ein ausländischer Staatsgast etwas sagt, was ihm missfällt? Ja, leider. Es ist nicht wahrscheinlich, aber möglich. Ein solches Verhalten wäre eine – weitere – Katastrophe für das Ansehen der USA in der Welt. Es gibt im Zusammenhang mit internationalen Beziehungen kaum etwas Schlimmeres als Unberechenbarkeit. Mitarbeiter von Donald Trump schütten derzeit gegenüber Medien ihr Herz aus. Anonym, versteht sich. Derlei Informationen lassen sich ignorieren, wenn jemand nicht wagt, öffentlich zu dem zu stehen, was er oder sie zu sagen hat. Aber bisher wurden alle anonymen Berichte durch weitere Quellen gestützt – gelegentlich hat sogar der US-Präsident selbst seine Mitarbeiter dementiert und fröhlich den Inhalt von Artikeln bestätigt, der von seinem Umfeld gerade erst bestritten worden war. Was das Weiße Haus derzeit durchsticht: Informationsblätter für Trump sollten Bilder und Grafiken enthalten, sonst liest er sie nicht. Je häufiger sein eigener Name auftaucht, desto größer ist die Chance, dass er Informationen zur Kenntnis nimmt. Memos, in denen er nicht vorkommt, langweilen ihn. taz.am wochenendeVon ihrem Frühjahrshoch ist die SPD unter Martin Schulz schnell wieder abgestürzt. Alles schien möglich. Und nun? Eine Vorwahlanalyse lesen Sie in der taz.am wochenende vom 20./21. Mai. Außerdem: Der FC Bayern München hat jetzt einen eigenen TV-Sender und schottet sich gegenüber Journalisten ab. Und: Inga Humpe, die Königin der Club-Kultur, im Gespräch über Nichtwähler und freie Liebe. Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Das Rechtssystem aller Staaten basiert auf der Annahme, dass jemand rational agiert. Vielleicht verbrecherisch, vielleicht reaktionär, vielleicht auch einfach blöd. Aber doch rational. Donald Trump agiert jedoch nicht wie ein Erwachsener, jedenfalls nicht nach all dem, was wir wissen. US-Republikaner sind nicht dümmer als andere Die ganze Welt hält den Atem an, wenn Trump sich zu Wort meldet. Nicht etwa deshalb, weil sich jemand davon Aufschluss auf künftiges Verhalten verspricht, sondern weil die ganze Welt sich vor dem fürchtet, was geschieht, wenn der Präsident spontan reagiert. US-Republikaner sind nicht dümmer als andere Leute. Warum wird Trump also noch immer von so vielen Leuten einer Partei unterstützt, die ihn ursprünglich in ihrer breiten Mehrheit nicht auf ihr Schild hatte heben wollen? Weil die Republikaner keine in sich geschlossene Partei sind, sondern aus Fraktionen bestehen, die einander bis aufs Letzte bekämpfen. Wenn ein Präsident sein Amt nicht mehr ausüben kann – der Gesetzgeber sah Fälle wie Koma voraus –, dann kann er dieses Amtes enthoben werden. Dafür bedürfte es allerdings einer breiten Mehrheit: des Kabinetts und des Kongresses. Bisher sieht es nicht danach aus, als ob eine hinreichend große Mehrheit dafür gefunden werden könnte. Offenbar deshalb, weil manche Republikaner ihr persönliches Interesse weiterhin über das der USA stellen.
Bettina Gaus
Mit seiner Unberechenbarkeit ruiniert Donald Trump das Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt. Warum halten die Republikaner an ihm fest?
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Synchrones Stöhnen - taz.de
Synchrones Stöhnen Fuck of Motherfucker: Gute Ratschläge für die Liebe erhielt, wer sich Macy Grays Stimme, zärtlich wie Schmirgelpapier, hingab. Selten hat man sich in der Columbiahalle so gut amüsiert wie beim einzigen Deutschlandkonzert der Sängerin aus Ohio von CHRISTIANE RÖSINGER Macy Gray spinnt. Sie ist ein bisschen verrückt, zumindest ein wenig plemplem, auf alle Fälle aber ein echtes Original. Nathalie McIntyre aus Ohio wollte eigentlich nie Sängerin werden, machte aber doch Aretha Franklin und Marvin Gaye zu ihren Vorbildern. Inspiration gaben ihr auch Led Zeppelin und die Funk-Musik der Siebzigerjahre. Sie nannte sich Macy Gray, und mit der Debüt-CD „On how life is“, einer Mischung aus Soul, songorientiertem Pop, HipHop und R&B kam 1999 der Durchbruch. Ihre merkwürdige knarzige Stimme wird gemeinhin mit einem Reibeisen verglichen, klingt aber eher nach einem Stück zärtlichem Schmirgelpapier. Im Gegensatz zu den R&B -Kolleginnen mit den geölten Schmachtstimmen und perfekt angegossenen Seidenhemdchen, schlurfte Macy Gray zu Beginn ihrer Karriere gerne in langen Second-Hand-Mänteln durchs Bild und galt folglich als Außenseiterin. Auf ihrer neuen Platte „The problem of being myself“ werden inhaltlich sämtliche Lebensaspekte abgedeckt. Es gibt Liebes- und Beziehungslieder (She ain’t right for you), es geht um Religion (Jesus for a day ), Drogen (Happiness) und Sex (Screaming). Trotzdem ist Macy Gray bei uns ein wenig in Vergessenheit geraten. Am Freitagabend, beim einzigen Deutschlandkonzert, ist die Columbiahalle nur halb voll. Das macht aber wenig, denn so entsteht in der sonst eher seelenlosen Halle eine fast intime Atmosphäre. Auf der Bühne tummeln sich sieben Musiker plus DJ, die Sängerin im karierten Anzug ist bester Laune, und unten wackelt alles mit. Auf der Bühne ist Macy ist ständig unterwegs, um etwa einen Hut aufzusetzen, den Schal zu wechseln, sich zu erfrischen oder was auch immer, und derweil jammen und daddeln die Musiker auf der Bühne minutenlang auf den Instrumenten herum. Die melancholische Trompete, die jaulende Gitarre und auch das verbotene Schlagzeugsolo kommen so zum Einsatz. Dann kehrt sie zurück und gibt großspurig und komödiantisch ihre Lebensweisheiten von sich: „Also, wenn eine Frau in einen Mann verliebt ist und der Motherfucker liebt sie nicht genug zurück, dann soll sie Fuck of Motherfucker! Fuck of! zu ihm sagen.“ Macy, deren Lieblingsthemen irgendwie schon Sex und der Unterkörper sind, ermuntert das Publikum immer wieder zum Arschwackeln und Kleider ablegen: Sexy People of Berlin, I wanna see your asses! Den Fans wird einiges abverlangt, nicht immer kapiert die wohlwollende Menge, worum es geht. Das nicht HipHop-sozialisierte Publikum braucht etwas länger, um die Regeln des Call-und-Response-Spiels zu verstehen. An welcher Stelle soll jetzt mitgesungen werden, und wie kriegt man das verlangte Stöhnen synchron zu den Basedrums, und soll man jetzt wirklich „the dick, the dick, the dick“ mit skandieren? Das ganze Konzert ist eine sehr groovige, lockere, durchgeknallte Glam-Show. Dabei spielen die Musiker beseelt und präzise zusammen, singen die Keyboarder so nebenbei, als wäre es nichts, schwierige Chorpassagen mit, konzentriert sich die Band bei aller Improvisation und HipHop-Angeberei in den Pausen wieder genau auf den Einsatz und auf Macy Gray. Die singt großartig, macht Grimassen, legt sich kurz flach, tanzt eine Runde, zieht sich ein Handtuch durch den Schritt und verschenkt es, klettert über die Absperrung, um Hände zu schütteln. Selten hat man sich in der Columbiahalle so gut amüsiert. Erst nach drei Stunden sagt Macy Gray tschüss: Lovely people of Germany! Lovely, sexy stupid, people of Berlin! Love yourself, Love God, Love Macy Gray!
CHRISTIANE RÖSINGER
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Die Vermessung der Weltmusik - taz.de
Die Vermessung der Weltmusik GLOSSE Was, wenn alle Musikarchive geplündert und die letzten Ecken der Erde erkundet wurden? Früher verstand man unter „globalem Pop“ so etwas wie Michael Jackson, Bob Marley oder den „Titanic“-Soundtrack – Musik, die weltweit, also rund um den Globus, gehört wurde. Doch solche wirklich globalen Weltstars gibt es immer weniger, die ehemaligen Supermächte des Pop, Großbritannien und die USA, haben kräftig an Einfluss eingebüßt. Heute, nach dem Ende der Konfrontation zwischen diesen beiden popästhetischen Blöcken, leben wir in einer multipolaren Welt, deren Zentren nicht länger nur London und New York sind, sondern auch Lagos, Istanbul, Rio, Manila und São Paolo heißen können. Auf dieser Landkarte können auch kleine Länder wie Mali, Angola oder die Kapverden zu musikalischen Großmächten aufsteigen, während wirtschaftliche Schwergewichte wie China bisher ein eher noch kleines Licht bilden. Doch irgendwann dürften auch die letzten Ecken der Welt ausgeleuchtet, dürfte der letzte Pygmäenchor aus dem Busch geholt worden sein. Die allgegenwärtige „Retromania“, die der Pop-Theoretiker Simon Reynolds in seinem gleichnamigen Buch diagnostiziert hat, macht deshalb inzwischen auch vor den entlegensten Ecken des Globus nicht mehr halt. Plattenlabels wie „Analog Africa“, „Sublime Frequencies“ und „Awesome Tapes from Africa“ durchforsten die Archive Afrikas, Lateinamerikas und Asiens nach bisher ungeborgenen Schätzen. Bei diesem allgemeinen Bergungseifer ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die letzten verschollenen Tonspuren ausgemacht, wiederentdeckt und digitalisiert worden sind – so wie man befürchten muss, dass bei dem anhaltenden Hunger nach Fisch irgendwann auch die Weltmeere von uns leer gefischt sein könnten. Was dann? Werden wir dann erkennen, das man Reissues nicht essen kann? Zum Glück ist Musik eine nachwachsende Ressource, und bei der bestehenden Vielfalt der Stile lassen sich fast unbegrenzt Arten kreuzen. So wurde aus traditioneller Musik aus den Townships mit elektronischen Mitteln Electro Shangaan, aus der traditionellen Cumbia die Cumbia Digital. Aber da geht noch was: Düstere Elektronik aus dem Londoner East End ließe sich mit indonesischem Gamelan-Geklingel zum Gamelan-Grime kombinieren oder Afrobeat mit bulgarischen Frauenchören zum Bulgafrobeat. Wie wäre es mit einer Mischung aus Rap, irischem Folk und kapverdischen Klängen? Als Genrebezeichnung würde sich Rap O’Verde anbieten. Und „Anarchy in den Anden“ wäre ein guter Albumtitel für eine Panflöten-Punkband. Eine andere Möglichkeit wäre, sich vom musikalischen Anspruch zu verabschieden und statt nach dem Wahren, Guten und Schönen lieber nach dem Falschen, Schlechten und Ekligen zu suchen. Für eine Compilation-Reihe unter dem Motto „Music you don’t want to hear from places you don’t want to see“ ließen sich viele Folgen denken. Traurige Trinklieder sibirischer Einsiedler? Die schönsten Parteihymnen aus Nordkorea? Die Lieblingslieder der Taliban? Überhaupt, Diktaturen. Gerade in den Giftschränken ehemaliger Gewaltherrscher dürften noch einige zu Recht vergessene Kunstwerke lagern. Hat Idi Amin nicht auch Violine gespielt? Gibt es von Gaddafi nicht unveröffentlichte Wüstenblues-Aufnahmen? Oder romantische Balladen eines Robert Mugabe? Und von Stalin Orgelkompositionen? Ein denkbarer Titel für eine solche CD-Reihe wäre: „Dictators’ Delight“. D. B.
D. B.
GLOSSE Was, wenn alle Musikarchive geplündert und die letzten Ecken der Erde erkundet wurden?
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Gewerkschafter stinksauer auf Siemens - taz.de
Gewerkschafter stinksauer auf Siemens UMBAU Arbeitnehmervertreter empört über Kahlschlagplan des neuen Chefs Joe Kaeser. 15.000 Jobs in Gefahr. Betriebsrat für Reformen, bei denen „der Mensch und nicht nur die Marge im Mittelpunkt steht“ MÜNCHEN taz/rtr | Börsianer finden die Pläne des neuen Siemens-Chefs Joe Kaeser natürlich gut: Ein Grund für den im Vergleich zu den Konkurrenten geringeren Gewinn pro Beschäftigten „ist, dass Siemens im Vergleich mit den Konkurrenten noch immer die wenigsten Mitarbeiter in Schwellenländern hat“, urteilte Hans-Joachim Heimbürger vom Akienanalysten Kepler. Gewerkschafter sind stinksauer, dass Kaeser plant, tausende Jobs beim Industriekonzern abzubauen. „Wir lehnen nach wie vor ein rein margengetriebenes Personalabbauprogramm ab“, erklärte Betriebsratschef Lothar Adler am Montag. Siemens brauche Reformen, bei denen „der Mensch und nicht nur die Marge im Mittelpunkt steht“. Kaeser hatte am Sonntag verkünden lassen, er wolle 15.000 Jobs streichen, um rund 6 Milliarden Euro einzusparen. In Deutschland seien 4.800 der weltweit 370.000 Stellen betroffen. Zuvor war die Belegschaft fast ein Jahr lang im Dunkeln über die genaue Zahl des Stellenabbaus geblieben. Siemens hatte in Deutschland in den vergangenen Jahren bereits 25.000 Jobs gestrichen. Seit Langem hatte der DAX-Konzern mit Problemen zu kämpfen. Im dritten Quartal 2013 fiel der Gewinn um 13 Prozent, der Umsatz sackte um 2 Prozent auf 19 Milliarden Euro ab. Selbst das China-Geschäft stockt. Probleme bereiten auch Geschäftsfelder wie die Industrieautomatisierung und die Antriebskomponenten. Siemens ist zudem mit der Lieferung von ICE-Zügen an die Deutsche Bahn in Verzug. Verluste fährt der Konzern auch durch die lansame Anbindung von Windparks in der Nordsee ein. Der Ausflug ins Solargeschäft mit der Übernahme des israelischen Unternehmens Solel endete im Desaster. Siemens musste die Sparte schließen, nachdem kein Käufer gefunden worden war. KSC
KSC
UMBAU Arbeitnehmervertreter empört über Kahlschlagplan des neuen Chefs Joe Kaeser. 15.000 Jobs in Gefahr. Betriebsrat für Reformen, bei denen „der Mensch und nicht nur die Marge im Mittelpunkt steht“
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Rügen im Zeichen der Corona-Krise: Insel auf Zwangsurlaub - taz.de
Foto: Axel Völcker Rügen im Zeichen der Corona-Krise:Insel auf Zwangsurlaub Normalerweise würde Roberto Brandt jetzt Hering fangen. Das Restaurant Diavolo wäre voll. Doch Touristen ist die Reise nach Rügen strikt untersagt. Ein Artikel von Julia Boek 8.4.2020, 14:56  Uhr Roberto Brandt setzt die Brille auf die Nase. Mit einer Netznadel, einer Art breite Stricknadel, fädelt er das Garn durch die hellgrünen Maschen an der Netzkante, führt es dann über die mit Blei gefüllte Leine und zurrt Netz und Bleileine fest zusammen. Masche für Masche, bei gleichem Abstand, immer entlang der Netzkante – noch ist das Knäuel auf dem Stuhl neben ihm groß. Was nach Si­sy­phus­ar­beit aussieht, soll später das Fischernetz auf dem Ostseeboden absenken und so Meeresforellen und Lachse fangen. „Normalerweise wäre ich jetzt mit meinen Jungs auf Hering“, der 64-Jährige hebt den Kopf, wach ist der Blick der klaren, blauen Augen. Seine Jungs, das sind Sohn Jan und ein Mitarbeiter, die früh am Morgen das blaue Fischerboot durch den feinen Strandsand des Ostseebades Baabe auf der Insel Rügen in die See schieben, die Stellnetze einholen, Heringe herauspulen und schließlich den Fisch zum Räuchern oder für seine kleine Gaststätte ausnehmen. 1,5 Tonnen Hering haben Roberto Brandt und seine Jungs in diesem Frühjahr schon gefangen. Bleiben bei strenger Quote („Ach, die Quote!“) noch zwei Tonnen übrig und ein paar Wochen, denn Ende April ist die Heringssaison schon wieder vorbei. Doch seit einer Woche liegt Robertos Boot auf dem Trockenen und kann so nicht einmal als beliebtes Fotomotiv herhalten. Denn die UrlauberInnen, die es so oft knipsen, fehlen, trotz strahlender Frühlingssonne sind die langen Strände auf Deutschlands größter Insel in diesen Tagen wie leergefegt. Pünktlich zum Saisonstart ist der Tourismus, der größte Wirtschaftszweig, der jährlich acht Milliarden Euro in die Kassen Mecklenburg-Vorpommerns spült, wegen des Coronavirus zum Erliegen gekommen. 5 Covid-19-Infizierte werden aktuell auf der 64.000 EinwohnerInnen starken Insel Rügen gezählt, im Landkreis Vorpommern-Rügen sind es 34 Erkrankte, im gesamten Bundesland 555 Fälle. Das Corona-Abstrichzentrum in der Inselhauptstadt Bergen hat bisher noch keinen einzigen negativen Fall getestet. Stefan Kerth, Landrat (SPD)„Noch haben wir den Überblick über alle Infektionsketten, und das muss so bleiben“ Ob nun Glück oder Strategie: „Es läuft alles im Ruder“, sagt Landrat Stefan Kerth (SPD) über die aktuelle Lage in seinem Landkreis. „Noch haben wir den Überblick über alle Infektionsketten und das muss so bleiben.“ Schließlich sei das Gesundheitssystem Mecklenburg-Vorpommerns nur auf die hier mit Hauptwohnsitz lebenden 1,6 Millionen EinwohnerInnen ausgelegt. Mit nur 14 Intensivbetten ist das örtliche Inselkrankenhaus ausgestattet, weitere stehen in den Kliniken der Hansestädte Stralsund und Greifswald zur Verfügung. Und dabei hätte es auch ganz anders ausgehen können hier oben an der Küste, nachdem am ersten schönen Frühlingswochenende vor dreieinhalb Wochen die Hotels und Restaurants, etwa im Ostseebad Binz, sehr gut ausgelastet und die Strände voller SpaziergängerInnen waren. Um gerade jetzt der Enge ihrer Städte zu entfliehen, zog es die Menschen zu Tausenden in den Norden. Und mit ihnen vielleicht auch ein paar blinde Passagiere. Die Frage, ob er das Infektionsrisiko zu diesem Zeitpunkt unterschätzt habe, wiegelt Stefan Kerth ab. Dass die BürgerInnen sich nicht immer an die Appelle der Regierung hielten und trotz der Empfehlung, zu Hause zu bleiben, ins Land und auf die Insel kamen, ja, das hätte ihn „schon ein bisschen überrascht“, sagt er. Trotzdem habe es seinerzeit keine Kenntnisse über Infektionen auf Rügen gegeben und unter den Fachleuchten vom Gesundheitsamt sei keine einzige Stimme zu vernehmen gewesen, die eine Sperrung der Insel gefordert hätte. Später hätte dann die Landesregierung nachgesteuert. 64.000 Einwohner, fünf Infizierte, ein Touristenbann Das kann man wohl sagen. Denn seit dem 18. März 2020 gelten in Land Mecklenburg-Vorpommern die strengsten Einreiseverbote der Bundesrepublik. Bereits am Montag, den 16. März, war Rügen für Touristen und Menschen, die keinen Erstwohnsitz vorweisen können, gesperrt worden, wurden Pkws mit nicht heimischen Kennzeichen am Rügendamm überprüft und mitunter zurückgewiesen. Wenige Tage später verschoben sich die Kontrollen dann von den Inseln an die Landesgrenzen. Bis zum 19. April 2020 dürfen Hoteliers und private VermieterInnen von Ferienwohnungen keine Gäste mehr beherbergen. Wer gegen das Verbot verstößt, kassiert heftige Geldstrafen von bis zu 5.000 Euro. Obwohl Landeschefin Manuela Schwesig (SPD) Ende März verlauten ließ, dass das grundsätzliche Einreiseverbot nach Mecklenburg-Vorpommern nicht für die Kernfamilie, also „Eltern, Kinder und Großeltern“ gelte, wurden die Regelungen zu Ostern noch einmal nachgeschärft. Von Karfreitag bis Ostermontag sind Tagesausflüge auf die Inseln, an die Küste und Seenplatte auch für die BewohnerInnen Mecklenburg-Vorpommerns tabu. Auf dem Trockenen: Der Fischer Roberto Brandt und sein Boot Foto: Axel Völcker Er halte es wie die Bundeskanzlerin, die das Land mehr mit Appellen denn Verboten durch die Pandemie navigiere, sagt Kerth über sein Krisenmanagement. „Wir dürfen nicht übersteuern.“ Vielmehr gehe es doch darum, besonnen zu handeln und eben nicht populistisch. Das kann getrost als eine Anspielung auf die Abschottungspolitik der Schwesterinsel Hiddensee gewertet werden. Deren Bürgermeister Thomas Gens hatte quasi im Alleingang angeordnet, Nicht-InsulanerInnen, also auch den EinwohnerInnen Mecklenburg-Vorpommerns, den Zutritt zu seiner Insel zu verbieten. Auf das kleine Eiland durfte ab dem 21. März zwischenzeitlich nur, wer seinen ersten Wohnsitz hier hat, dort arbeitet oder als Angehöriger ersten Grades seine Familie versorgt. Mittlerweile wurde der juristisch fragwürdige Erlass vom Landkreis wieder aufgehoben. Von möglichen Coronafällen auf der langgezogenen, knapp 1.000 EinwohnerInnen starken Insel hört man derzeit nichts. Auch auf Rügen, so der Landrat, würden einige BürgermeisterInnen fordern, die Brücke hochzuziehen. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in einem Überbietungswettbewerb landen.“ Natürlich sei er sich der öffentlichen Wirkung solcher Maßnahmen, „man ist der Held“, bewusst, sagt Stefan Kerth. Gleichzeitig aber bringe man die anderen Landräte, die ihre Inseln offenhalten, in Bedrängnis. Sorge vor einer Reisewelle Eine Sache aber bereite ihm gerade doch ziemliche Sorgen. Alle Bürgermeister seines Kreises rechnen mit einer Reisewelle zu Ostern. Der Landrat hofft, dass sie „bloß nicht den Überblick über die Infektionsketten zu verlieren“. Damit er alles im Blick behält, kam Fischer Brandt eine Idee. Mehr als 170 Jahre Erinnerungen an seine Baaber Fischerfamilie wollen schließlich verwaltet werden, 45 davon gehören jetzt schon ihm. Also schrieb Roberto Brandt mit einem wasserfesten Stift Nummern auf die gerahmten historischen Fotografien seiner Vorfahren, die an den Wänden seines kleinen Restaurants hängen, und auf der Rückseite eine Legende mit den Namen dazu. Nummerierte Vergangenheit, dazu passt, dass alle Welt gerade über Zahlen spricht. Zahlen waren es auch, die dem Fischer in den letzten Wochen viele schlaflose Nächte bereiteten, nachdem er zuerst den Gaststättenbetrieb herunterfahren musste und schließlich, als die Gäste ausblieben, völlig einstellte. Da inzwischen die Kühltruhen voll mit Fisch und die Hotelbetten leer sind, lohnt es sich nun auch nicht mehr, mit dem Boot rauszufahren. Was tun mit den zehn Festangestellten, die jetzt eigentlich an Bord, in der Küche und in der Räucherei arbeiten würden? Und dabei war es so gut gelaufen für ihn, hatte der Fischer dank eines cleveren Konzepts und Förderprogramms des Landes in schweres Küchengerät wie eine Fischverarbeitungsmaschine für Steinbutt für Räucherei und Gaststätte investiert. Wohlweislich, um in schwierigen Zeiten, falls noch strengere Quoten die Fischer weiter in die Knie zwingen würden, sein zweites Standbein auszubauen. Die nun wegbrechenden Einnahmen zum Ostergeschäft wären dringend nötig gewesen. Das Problem sei ja, dass niemand wisse, wie lange das jetzt gehe, sagt Roberto Brandt und gibt selbst einen Tipp ab: „Ich glaube, vor Mai wird dat nüscht werden.“ Jetzt heißt es Zusammenrücken Deshalb hat der Fischer Kurzarbeitergeld für seine Angestellten beantragt und die Differenz zum eigentlichen Gehalt oben draufgepackt. Auch für einen Kredit beim Landesförderinstitut MV hat er sich vormerken lassen und sich um Corona-Soforthilfe für die laufenden Kosten bemüht. Nun wartet er, schaut ab sieben Uhr morgens mehrmals täglich in sein E-Mail-Postfach. „Ich bräuchte mal ne Rückmeldung“, sagt Roberto Brandt. Aber, Moment mal, fast hätte er „etwas ganz Wichtiges“ vergessen, der Fischer greift zum Telefon. Der Getränkelieferant soll einen Kasten Bier vorbeibringen, „für Besuch“, sagt er. Dass die GastgeberInnen der Insel in der Coronakrise „dichter zusammenrücken“, hat auch Knut Schäfer, Vorstand des Tourismusverbandes Rügen, einem Lobbyverband von 230 Hoteliers und Gastronomen, beobachtet. So mancher Hotelier halte in diesen Tagen regen telefonischen Kontakt zu seinen Stammgästen, auch die vielen Bilder und Videos der Insel würden in den sozialen Medien oft geklickt. Im „Corona-Burnout“: Isabel und André Trost in ihrem leeren Restaurant Foto: Axel Völcker Knut Schäfer ist froh über diesen Umstand, denn zuletzt hatten schlechte Schlagzeilen die Runde gemacht, die von Stimmung der Einheimischen gegenüber Fremden, von Verfolgungsfahrten ortsfremder Autokennzeichen, Meldungen über brennendes Licht in Ferienwohnungen, berichteten. Neben selbst ernannten Hilfssheriffs würden sogar „verdeckte Ermittler“ kontrollieren, ob sich ja alle VermieterInnen und BesucherInnen an die Tourismusverbote hielten, hieß es aus den Ämtern einiger Badeorte. Verstöße würden strafrechtlich verfolgt. Selbstredend. Derlei „Einzelfälle“ bedauern sie beim Tourismusverband, sagt Knut Schäfer. Dass deshalb in Zukunft weniger UrlauberInnen auf die Insel Rügen kämen, könne er sich aber nicht vorstellen. Vergessen dürfe man nicht, dass die derzeitige Ausnahmesituation Angst und Druck erzeuge, sagt er: „Da schießt der eine oder andere eben übers Ziel hinaus.“ Außerdem sei da noch die Sache mit der „norddeutschen Freundlichkeit“, so der 43-Jährige. „Rauer Ton, wortkarg – aber eine lieb gemeinte Botschaft – diesen Dialekt verstehe eben nicht jeder.“ Über die Botschaft derlei Mistgabel-Gebaren lässt sich wahrlich streiten, doch nicht nur UrlauberInnen geht es auf Rügen wie im gesamten Land derzeit an den Kragen. Mehr als 900 kleine wie große Unternehmen sind vom darniederliegenden Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern betroffen. Auch wenn man den Schaden noch nicht richtig beziffern kann und das Bundesland einen Schutzfonds über 1,1 Milliarden Euro aufgelegt hat, gehen WirtschaftsexpertInnen davon aus, dass 40 bis 60 Prozent der Betriebe Mecklenburg-Vorpommerns die Pandemie nicht überstehen werden. Im vergangenen Jahr verbrachten 1.485.659 Gäste ihren Urlaub auf den Inseln Rügen und Hiddensee. Allein in Binz, dem größten Ostseebad der Insel, standen dazu 2019 17.260 Betten zur Verfügung. Isabel Trost, Betreiberin des Restaurants Diavolo im Ostseebad Binz„Wir hatten Bomben-Umsätze, aber ein unbehagliches Gefühl. Wir haben es alle nicht so richtig begreifen wollen“ Auf der Strandpromenade des Ferienortes haben sich eben ein paar Wolken vor die Sonne geschoben. Die Seebrücke ist menschenleer, eine Frau putzt ihrem Hund mit einem Taschentuch den Hintern. Nichts los im mondänen Ostseebad, in dem sich sonst die Reichen und Schönen in weißen fließenden Stoffen zuwinken. Nur wenige hundert Meter weiter gibt es etwas zu feiern. Heute vor neun Jahren eröffneten Isabel und André Trost ihr Restaurant Diavolo, das von fangfrischem Fisch bis Steak vom Lavasteingrill baltisch-mediterrane Küchen auf raffinierte Weise kombiniert. Der schwarz gehaltene, modern-rustikal eingerichtete Gastraum kann bis zu 80 Gäste beherbergen, hinzu kommen 50 Terrassenplätze. Gähnende Leere auf der Strandpromenade. Die Touristen sind ausgesperrt Foto: Axel Völcker Tatsächlich muss es hier mit dem Teufel zugehen, wenn man der Erfolgsgeschichte der Gastronomin und dem gelernten Koch, Eltern zweier Kinder, lauscht, die sich mit ihrem Abendrestaurant und 13 ganzjährig Angestellten in nur wenigen Jahren von der zweiten in die erste Reihe der Binzer Strandpromenade gekocht haben. Also, hoch die Gläser! Aber wie, wenn das Restaurant geschlossen und Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum verboten sind? Isabel Trost hatte die zündende Idee. Ihr Mann André wird Pizzen backen, die Isabel Trost ihren MitarbeiterInnen, Freunden und Familie später auf der Terrasse über eine rote Kordel reichen wird. Zum Mitnehmen, denn „niemand betritt den Laden“ – versteht sich, minutiös wie ein Raketenstart ist die Abholung geplant. Doch bevor es losgeht, führt die 42-Jährige schwungvoll durch die Küche, zeigt die jetzt leeren Arbeitsplätze des Sauciers, Entremetiers, das bis auf ein paar Weinflaschen leere Getränkelager und ein mit eingekochten Gemüsen und selbst gemachter Pasta vollgestopftes Kühllager. Im Büro nebenan sitzt Sohn Artur beim Homeschooling. Der Elfjährige mit wuscheligen blonden Haaren soll eine Geschichte über den Alltag einer Familie schreiben. Nur weiß er nicht, wie. „Erzähl doch von uns“, ruft Isabel Trost im Vorbeigehen. Schon am 18. März, also drei Tage vor dem Erlass der Landesregierung, hatten sie ihr Lokal zugemacht, „um das Risiko für unsere Angestellten, Gäste und für uns zu minimieren“. Eine echte Zitterpartie. Denn „knackevoll“ war das Geschäft in den Tagen zuvor gewesen, als sie jeden zweiten Tisch reservierten, um den Mindestabstand von zwei Metern einzuhalten, und Desinfektionsspender im Eingangsbereich montierten. „Wir hatten Bomben-Umsätze, aber ein unbehagliches Gefühl“, sagt Isabel Trost und streicht über ihre langen dunkelblonden Haare. Mit befreundeten GastronomInnen gründen sie die WhatsApp-Gruppe „Corona Extra“, treffen sich im Restaurant der Schwester, um gemeinsam und doch jeder für sich an einem extra Tisch, das Telefon mit dem Steuerberater in der Mitte, Antragsformulare für Kurzarbeitergeld auszufüllen. Isabel Trost hat „Coronapanik“ in diesen Tagen, innerlich zerrissen hätte sie die Frage, ob sie weiter Geld verdienen sollten, solange es noch ging. „Wir haben es alle nicht so richtig begreifen wollen“, sagt sie. Bis André Trost ein Machtwort spricht: Nach Mitternacht verschickt er eine lange Nachricht an „Corona Extra“, die die Gruppe wachrüttelt. Sie handelt von Respekt gegenüber Menschenleben, von Verzicht statt Profit. Somit ist die Entscheidung gefallen, das Diavolo schließt. Er habe sich vorgestellt, wie ein Stammgast, der seiner betagten Mutter regelmäßig einen Pastateller mit Garnelen mitnehme, durch ihren Kontakt infiziert würde, sagt der 40-Jährige über seinen Entschluss. „Das hätte ich mir nie verziehen.“ Markige Worte angesichts von saftigen Kreditraten für das Restaurant und monatlich hohen Personalkosten von über 30.000 Euro. In Isabel Trosts Leben beginnt nun das, was sie „Corona-Burn-out“ nennt. Der Teufel ist los. Sie trommelt ihre MitarbeiterInnen zusammen, spricht allen bei einem Gläschen Schnaps und mit Tränen in den Augen ihre vorübergehende Kündigung aus, um sie kurz darauf wieder zurückzunehmen. „Eine vorschnelle Fehlentscheidung“, sagt die Gastronomin. Zum Glück hätten ihre Angestellten mitgezogen – „einmal Teufel, immer Teufel“. Inzwischen ist etwas Ruhe eingekehrt, wohl auch weil die Strom- und Gasversorger sehr kulant sind, die Raten für das Auto-Leasing gestundet und die Beiträge zur Berufsgenossenschaft ausgesetzt wurden. Neben Kurzarbeitergeld haben sie auch Corona-Soforthilfe und einen zinsgünstigen KfW-Kredit beantragt. Hoffen auf den Juni Nun leben die Trosts von Tag zu Tag und hoffen, dass sie ihren Restaurantbetrieb spätestens Anfang Juni wieder starten können. „Wenn der finanzielle Druck nicht wäre, wäre das alles auszuhalten“, sagt Isabel Trost. Und die Krise habe auch etwas Gutes. Zum ersten Mal seit neun Jahren haben sie Ostersonntag frei. In diesem Jahr fällt der Tag auf den Geburtstag von Sohn Artur. Der hält seiner Mutter jetzt das linierte Heft mit der Familiengeschichte unter die Nase. „Die Blöden vier“, steht in Schreibschrift darüber. „Sollen wir das sein?“, Isabel Trost rollt mit den Augen – wenn man vom Teufel spricht. Am Abend auf dem südöstlichsten Zipfel der Insel Rügen verabschiedet sich der Tag mit einem gewohnt spektakulären Sonnenuntergang über dem Greifswalder Bodden. Zuerst gelb, dann orange und schließlich tiefrot färbt der große Sonnenball den Himmel und mit ihm die Hochwasserpfützen auf den Salzwasserwiesen hinterm Deich. Die Fensterscheiben der wenigen Häuser im Dorf wirken im glühenden Sonnenlicht so, als würden sie brennen. Einsam dreht der Busfahrer die letzte Runde des Tages, um diese Uhrzeit fährt niemand mit. In der Ferne kreischen und bellen die Möwen, pfeift der um diese Jahreszeit noch kalte Westwind durch die von ihm gebogenen Kronen der Strandkiefern. Es ist die dritte Woche, da Corona die Insel angehalten hat.
Julia Boek
Normalerweise würde Roberto Brandt jetzt Hering fangen. Das Restaurant Diavolo wäre voll. Doch Touristen ist die Reise nach Rügen strikt untersagt.
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Immanuel Kant und der Rassismus: Lasst das Denkmal stehen - taz.de
Immanuel Kant und der Rassismus: Lasst das Denkmal stehen Immanuel Kant hatte rassistische Vorurteile. Aber er war ein Gegner des Kolonialismus und glaubte keineswegs an „verschiedene Arten von Menschen“. Soll auf dem Sockel bleiben: Kant-Statue an seiner alten Wirkungsstätte in Kaliningrad Foto: Gabriele Theilmann/imageBROKER/imago Weltweit werden nach der Ermordung des Schwarzen George Floyd durch einen weißen Polizisten die Denkmäler gestürzt, und nun ist auch ein deutsches Denkmal, der Königsberger Philosoph der Aufklärung, wenn schon nicht gestürzt, so doch zumindest angeknackst worden: Immanuel Kant – der Philosoph der Aufklärung, der menschlichen Würde und Moral! So hat Floris Biskamp im Tagesspiegel eine „Kritik der weißen Vernunft“ angemahnt, während Frank Pergande in der FAS dem Philosophen vorhielt, „üble Rassentheorien“ gepflegt zu haben. Haben wir es also mit einem weiteren Fall der von Ador­no und Horkheimer schon 1947 festgestellten „Dialektik der Aufklärung“ zu tun? Vor dem Hintergrund der aktuellen postkolonialen Debatte ist zudem zu fragen, was der Königsberger von den Rassen­theorien seiner Zeit hielt, ob er am Ende gar die Sklaverei befürwortete oder für die europäische Landnahme im Süden der Welt eintrat, also ein Kolonialist war. Tatsächlich lesen wir in Kants 1775 gehaltener Vorlesung „Von den verschiedenen Racen der Menschen“: „[…] und kurz, es entspringt der N[…], der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist“. Mehr noch: 1775 ging Kant von einer weißen „Stammgattung“ („Weiße von brünetter Farbe“) aus, die sich in unterschiedlichen Klimazonen und durch „Vermischung“ in vier „Rassen: ausdifferenzierten, „1.:,Hochblonde' (Nordl. Eur.) […] von feuchter Kälte. 2.:,Kupferrote' (Amerik.) von trockner Kälte. 3.:,Schwarze' (Senegambia) von feuchter Hitze sowie 4.:,Olivengelbe' (Indianer) von trockner Hitze“. In der Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts erweist sich Kant damit als „Lamarckist“, als jemand, der davon ausgeht, dass die Eigenschaften von menschlichen Großgruppen nicht unveränderlich in deren Genen liegen, sondern durch die klimatischen Umstände geschaffen und weitervererbt werden können – heute gilt diese Sichtweise als „Epigenetik“. Die Würde des Menschen Auf jeden Fall: bisher galt Kant als Philosoph der Aufklärung, der autonomen Moral sowie der menschlichen Würde. Berühmt geworden ist seine Definition von Aufklärung: „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“. Er war auch der Philosoph einer universellen Moral, lautete doch der von ihm formulierte, allen Menschen aus Freiheit einsichtige kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Schließlich kann Immanuel Kant sogar als der geistige Vater des Grundgesetzes gelten, in dessen Artikel 1 es heißt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Es war Kant, der die Bedeutung dieses Ausdrucks „Würde“ entfaltet hat, bedeutete er bei ihm doch, dass Menschen niemals nur zu Mitteln gemacht werden dürfen: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes gesetzt werden“ – so Kant in der „Metaphysik der Sitten“ – „was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde“. Menschen haben nach Kant deswegen „Würde“, weil sie grundsätzlich einer autonomen moralischen Urteilsbildung fähig sind: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ Überlegungen zum Thema „Race“ 1785, zehn Jahre nach seinen ersten Überlegungen zum Thema „Race“, publizierte er unter dem Eindruck des sich weltweit ausbreitenden europäischen Schiffsverkehrs die Schrift „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“. Hier bestimmt er „Rasse“ vor allem als Hautfarbe. Zugleich versichert er, nicht von erblichen Volkscharakteren auszugehen. Weswegen er unmissverständlich feststellt: „[…] es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen. Dadurch würde die Einheit des Stammes, wo­raus sie hätten entspringen können, abgeleugnet.“ Aber sogar wenn Kant kein – jedenfalls kein „darwinistischer“ – Rassist war, so ist gleichwohl zu fragen, wie er sich zum Institut der Sklaverei und zur europäischen Landnahme in den Ländern des Südens stellte. Tatsächlich war auch Preußen – was wenig bekannt ist – am Sklavenhandel beteiligt: Ende des 17. Jahrhunderts wurde an der ghanaischen Küste die Festung „Groß Friedrichsburg“ errichtet, preußische Sklavenschiffe sollen bis zu 30.000 Menschen verschleppt haben. Eine bekannt gewordene Person dieser Herkunft war der Schwarze Anton Wilhelm Amo (1703–1753), der, in Ghana geboren, verschleppt und als Kind an den Herzog von Braunschweig verschenkt wurde. Nach Ausbildung und Studium promovierte er 1729 mit einer inzwischen verschollenen Arbeit „Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa“ und lehrte von 1736 bis 1739 an den Universitäten Halle, Wittenberg und Jena. Nach rassistischen Angriffen kehrte Amo 1747 nach Ghana zurück, wo er 1753 starb. Gegen Leibeigenschaft Anton Wilhelm Amos Zeitgenosse Immanuel Kant setzte sich nicht explizit mit der Sklaverei auseinander, wohl aber mit jener Institution, die in Preußen als „Leibeigenschaft“ be­zeichnet wurde: In der „Metaphysik der Sitten“ lehnte Kant Kriegsgefangenschaft als Grund für Leibeigenschaft grund­sätzlich ab, umso mehr eine gar erbliche Leibeigenschaft der Nachkommen Kriegsgefangener. So bleibt die Frage, ob überhaupt – und wenn ja – wie sich Kant zur europäischen Landnahme in Übersee, also zu dem, was heute als „Kolonialismus“ bezeichnet wird, gestellt hat. Hier geht die vor allem in den letzten Jahren lebhaft geführte angelsächsische Debatte von einem Lernprozess des Königsbergers aus. In einem seiner Alterswerke, der Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1791, sprach er sich klar gegen alle Formen der ­Landnahme aus: Zwar votierte er für ein „Hospitalitätsrecht“, „welches aber, d. i. die Befugnis der fremden Ankömmlinge, sich nicht weiter erstreckt als auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen.“ Erschrecken über Ungerechtigkeiten Kant geht mit den sogenannten gesitteten handeltreibenden Staaten Europas streng ins Gericht: gehe doch „die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker beweisen, bis zum Erschrecken weit“. Insbesondere Großbritannien gerät hier in den Blick: „In Ostindien […] brachten sie, unter dem Vorwand bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“ Kurzum: Immanuel Kant hatte zwar rassistische Vorurteile, glaubte aber nicht daran, dass „Rasseeigenschaften“ angeboren und unveränderlich seien. Er war zudem ein Gegner von Leibeigenschaft wie Sklaverei und schon früh einer der schärfsten Kritiker der kolonialen Expansion europäischer Staaten. Dieses Denkmal kann, nein, muss geradezu stehen bleiben.
Micha Brumlik
Immanuel Kant hatte rassistische Vorurteile. Aber er war ein Gegner des Kolonialismus und glaubte keineswegs an „verschiedene Arten von Menschen“.
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„Mein Gewissen, mein Gewissen, sag ich!“ - taz.de
„Mein Gewissen, mein Gewissen, sag ich!“ Die Rhetorik Martin Walsers in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche im Oktober 1998 wirft die Frage nach dem Fortwirken der nationalsozialistischen Moral auf. Aus Anlass des Todes von Ignatz Bubis eine „Nachgeholte Lektüre einer Sonntagsrede“ von Jan Philipp Reemtsma 1. Was würden Sie von jemandem halten, der Sie in regelmäßigen Abständen beiseite nähme und Ihnen eingehend versicherte, er sei inzwischen ganz normal? So viel zu Walsers Frage: „In welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk?“ 2. Walser zitiert Kleist, „Prinz von Homburg“, so: „Es kann keiner vom anderen verlangen, was er gern hätte, der aber nicht geben will. Und das ist nicht nur deutsche idealistische Philosophie. In der Literatur, zum Beispiel, Praxis. Bei Kleist. Und jetzt kann ich doch noch etwas Schönes bringen. Herrliche Aktionen bei Kleist, in denen das Gewissen als das schlechthin Persönliche geachtet, wenn nicht sogar gefeiert wird. Der Reitergeneral Prinz von Homburg hat sich in der Schlacht befehlswidrig verhalten, der Kurfürst verurteilt ihn zum Tode, dann, plötzlich: 'Er ist begnadigt!‘ Natalie kann es kaum glauben: 'Ihm soll vergeben sein? Er stirbt jetzt nicht?‘ fragt sie. Und der Kurfürst: 'Die höchste Achtung, wie Dir wohl bekannt / Trag ich im Innersten für sein Gefühl / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier' ich die Artikel; er ist frei!‘ Also, es wird ganz vom Gefühl des Verurteilten abhängig gemacht, ob das Todesurteil vollzogen wird. Wenn der Verurteilte das Urteil für ungerecht halten kann, ist er frei.“ Natalie kann es kaum glauben. Ich auch nicht. Bei Walser wird der Prinz von Homburg begnadigt, weil er das Urteil für ungerecht hält, bei Kleist allerdings erst, nachdem er sich schuldig bekennt. Der Weg dahin ist gewunden, auch mancherlei Interpretationen offen, aber das „Gefühl“, dem im Stücke Achtung bezeugt werden soll, ist nicht das Gewissen des Zivilisten, sondern das des untergebenen Militärs: „Er handle, wie er darf; / Mir ziemt's hier zu verfahren, wie ich soll!“ 3. Dabei klingt es wie eine Definition von Gewissen – nicht, was ein anderer (vielleicht) darf, sondern was ich muss –, jedenfalls protestantisch. Nun ist das protestantische Gewissen verdammt innerlich, aber mit sich allein ist es nicht. Aus der protestantischen Ansicht, es sei nicht moralisch, was nicht unter Gewissenszwang zustande komme, folgt keineswegs, dass das Gewissen autonom entscheide, was gut oder böse sei. Tatsächlich entscheidet natürlich jeder für sich, was gut, böse, richtig und falsch ist, und darum braucht es Außenkorrektive, ob diese sich nun als Forderung, an Bräuchen teilzunehmen, oder verinnerlicht als Gewissenzwang melden. Könnte das Gewissen sich selbst freisprechen, es gäbe kein schlechtes. – „Ein gutes Gewissen ist keins“, sagt Walser und hat auch Recht. Ergebnis: Gewissen wegdefiniert. Gewissensentscheidungen nennt man solche, bei denen auf Grund von Wertekonflikten jemand nicht der einen oder anderen Normvorgabe folgen mag. Er entscheidet sich so oder so oder so, und wenn er sich dabei auf sein Gewissen beruft, sagt er damit, die Entscheidung sei bedeutsam, er habe sie wohl erwogen und sie sei für ihn von hoher Verbindlichkeit. Er behauptet nicht, sie sei unanfechtbar. Die Entscheidungen, die „nur mich etwas angehen“, gehen nur mich etwas an, wenn sie und ihre Konsequenzen tatsächlich nur mich etwas angehen. 4. „Wenn ein Denker 'das ganze Ausmaß der moralisch-politischen Verwahrlosung‘ der Regierung, des Staatsapparates und der Führung der Parteien kritisiert, dann“ – hat er vielleicht Unrecht. Oder er spinnt. Aber dass „der Eindruck nicht zu vermeiden (sei), sein Gewissen sei reiner als das der politisch-moralisch Verwahrlosten“, ist Unsinn. Es kann so sein, muss aber keineswegs. – „Den Anschein vermeiden, man wisse etwas besser“, was für eine skurrile Maxime. Etwas besser wissen und Besserwisserei ist ebenso wenig dasselbe wie moralische Kritik und moralische Überhebung. Wer etwas besser weiß, weiß nicht alles besser; wer Handlungen als moralisch falsch kritisiert, behauptet damit nicht, ein besserer Mensch zu sein. Kritik als Besserwisserei abzuwehren ist ebenso dumm, wie es amoralisch ist zu fordern, jemand müsse entweder ein nachweislich besserer Mensch sein, um über Moral reden zu dürfen, oder stille schweigen. All das heißt nur eine Mauer ziehen gegen unliebsame Einrede. Die Rhetorik dieser Grenzziehung: scheinbare Selbstverständlichkeiten so ungenau formulieren, dass sie absurd werden, aber ihren Zweck erfüllen – Gemeinschaft stiften. Denn so ganz allein ist denn doch niemand gerne mit sich und seiner „durchgängigen Zurückgezogenheit in sich selbst“. 5. Mit siebzig sollte man nicht mehr von allen gemocht werden. Wo einer sich der Öffentlichkeit verweigern und Intimität herstellen will, muss er sich eingeschränkten Öffentlichkeiten zur Schau stellen oder sein Publikum in einen Haufen Gleichgesinnte verwandeln. Walser ist das gelungen, indem er in der Paulskirche geredet hat, als wäre er im Gasthof. Mit Augenzwinkern: „Sie wissen schon“, mit: „Warum bietet sich mir das so dar?“ und: „Was fehlt meiner Wahrnehmungsfähigkeit?“ – da schmunzeln sie schon – „Oder liegt es an meinem zu leicht einzuschläfernden Gewissen?“ – und lachen bereits (Walser! und einzuschläferndes Gewissen!) – „In welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“ – und da werden sie endlich laut (Genau! In welchen Verdacht geraten wir! 50 Jahre! Ein ganz gewöhnliches Volk sind wir!). Die 1.000 Zustimmungsbriefe, die Walser, wie er sagte, bekommen hat, möchte ich nicht lesen. Nach seiner Aussage steht Folgendes drin: „Was wir bis jetzt hinter vorgehaltener Hand sagten oder unter Freunden sagten, das haben Sie öffentlich ausgesprochen und dafür sind wir Ihnen dankbar. So, und ich denke: Das müssen wir jetzt ernst nehmen.“ Vermutlich. 6. Walser hat sich klar ausgedrückt, und seine Rede ist nicht missverständlich gewesen: Die Klarheit, die für eine Debatte nötig gewesen wäre, hat er nicht herstellen wollen, weil er keine Debatte wollte. Aber die Klarheit, zwischen denen zu unterscheiden, die mit ihm diese Debatte nicht wollten, und den anderen, hat er hergestellt. Er hat zwischen Wir und Sie unterschieden, und er hat es so gemacht, dass die ins Wir sich eingeschlossen fühlen, wissen, was er meint. Er hat geeint. Es ist sein Beitrag zur inneren Einheit gewesen: „ 'Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offen halten.‘ Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“ – Die einen (draußen) zucken die Achseln: „Gewiss, das stimmt irgendwie, wir könnten ihm zustimmen, wenn er es doch klarer sagte, und was meint er mit 'Moralkeule‘ und für wen ist Auschwitz 'Drohroutine‘, und warum eigentlich zittert Walser?“ Die anderen (innen) sagen: „Genau so isses.“ – Walser wollte keine „Schlussstrichdebatte“ beginnen, sondern eine Grenze markieren. 7. „Die Instrumentalisierung unserer Schande“, immer wieder „Schande“: „Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird“ – „diese Dauerrepräsentation unserer Schande“ – „die Vorhaltung unserer Schande“ – „die Monumentalisierung unserer Schande“. Er hätte vom Verbrechen sprechen sollen, hatte Ignatz Bubis eingewandt, und Walser nahm es für den Beleg dessen, woran er Ärgernis genommen hatte: dass man vorschreibe, wie zu reden sei. „Wenn Herr Bubis mir vorschreibt, ich darf nicht Schande sagen, sondern ich soll Verbrechen sagen, dann bemerke ich darin eine Vorschrift, Herr Bubis. Dann wollen Sie mir sagen, wie ich mit meinem Gewissen umgehen soll. Und dann wehre ich mich dagegen.“ Bubis hatte Einwände gemacht, Einwände gehören zu einer Debatte. Walser hatte keine Debatte gewollt, sondern eine Grenze markieren wollen. Für ihn war Bubis' Einrede die Verletzung dieser Grenze und gleichzeitig nach innen Beleg, wie notwendig diese Grenze sei. – Schande, so weiß jeder, der sich „der Sprache ausliefert“, wie jeder, der ein Wörterbuch zu benutzen weiß, ist „Ehrverminderung“ („O Schand' und ew'ge Schande, nichts als Schande!“, ruft Shakespeares Herzog von Bourbon auf dem Feld von Agincourt, als er die Niederlage erkennt, und Fontanes Frau Hulen sagt dem frankophilen Feldwebel in „Vor dem Sturm“ und denkt auch an eine verlorene Schlacht: „Aber nichts für ungut, Herr Feldwebel Klemm, davon dürfen wir nicht sprechen, denn das ist ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, und das Unglück von damals oder die Schande von damals, ich weiß nicht, was richtig ist, das muss nun begraben und vergessen sein.“). Dem Verbrechen folgt die Empfindung der Schande ebenso wenig automatisch wie ihr Vorhandensein auf ein voraufgegangenes Verbrechen schließen lässt. Aber trotzdem ist Walsers Wort nicht einfach das falsche Wort. Für Schande gilt (anders als für Schuld etwa oder Verantwortung), dass man ihrer ledig ist, wenn man sich ihrer ledig fühlt, und wer darauf besteht, sie existiere fort, wer nicht ablässt, sie vorzuhalten, der tut Unrecht. Mit der Wahl des Wortes „Schande“ konstituiert Walser ein Wir, das nur aus Selbstzuschreibungen besteht, ein ebendarum dummes, aber, das ist der Ertrag so beschaffener Dummheit, seiner selbst gewisses Wir. 8. Als Daniel Goldhagen anlässlich der Verleihung des Demokratiepreises der Blätter für deutsche und internationale Politik seine Dankadresse verlas, attestierte er den Deutschen, eine ganz normale Gesellschaft geworden zu sein, und alle die, die Walser, wie ich vermute, „Meinungssoldaten“ nennt, waren verstimmt. Der Rheinische Merkur schrieb, nicht unbedingt das Gesagte zureichend referierend, aber die Pointe schön herausarbeitend: „Die meisten der zweitausend Zuschauer musste dieses Lob ratlos machen. Hatten sie nicht vorher in Jürgen Habermas' Laudatio gehört, dass Goldhagen das notwendige Gegenstück zu einer konservativen Geschichtsverharmlosung geschrieben habe? Hatte ihnen nicht Jan Philipp Reemtsma in seiner Rede erklärt, dass die kollektive Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen, erst mit Goldhagens Buch, der Wehrmachtsausstellung und den Klemperer-Tagebüchern 'unerwartete Erfolge‘ aufzuweisen habe? Für die Kritik am deutschen Umgang mit der Vergangenheit gab es Beifall, bei Goldhagens Lob auf ebendiesen Umgang malte sich eher verlegene Ratlosigkeit auf den Gesichtern ab. Und gerade deshalb liegt der Verdacht nahe, dass viele nicht nur gekommen waren, um den Preisträger zu ehren, sondern auch, um sich selbst als aufrechte Minderheit inmitten der geschichtsvergessenen Mehrheit zu feiern. Den Thesen von den 'willigen Vollstreckern‘ zuzustimmen heißt für sie, Widerstand gegen einen neokonservativen Zeitgeist zu leisten. Goldhagens Dankesrede ließ – möglicherweise unbeabsichtigt – diese Haltung als einen Widerstand erscheinen, der nichts kostet, weil die berechtigte Forderung nach einem schuldbewussten und schuldzuweisenden Blick auf die deutsche Geschichte längst in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion eingelöst wurde.“ – Goldhagen hatte gesagt, die Deutschen hätten, notgedrungen zunächst, mangelnder staatlicher Souveränität wegen, gelernt, auf das Urteil anderer zu achten. Diese Not habe sich in eine Tugend verwandelt, und er hoffe, auch das neu vereinigte Deutschland werde sich an diese Tugend halten. Es gehöre zu einer erwachsenen Auffassung von Tugend, nicht nur auf die innere Stimme zu hören, sondern auch auf das Bild in den Augen der anderen zu achten. 9. „Wissen Sie“, sagte Martin Walser im Gespräch zu Ignatz Bubis, „was Sie einmal gesagt haben, Sie haben gesagt, der Walser will seinen Seelenfrieden. Hätten seine Vorfahren dafür gesorgt, dass die Juden nicht umgebracht wurden, hätte er seinen. Herr Bubis, das sage ich Ihnen: Ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie. Und wie ich ihn kriege, das ist in mir, das ist mein Gewissenshaushalt. Und da lasse ich mir von niemandem, auch nicht von Ihnen, dreinreden. Oder ich pfeife drauf, dann schenke ich es Ihnen.“ Seine Rede habe befreiend gewirkt – „Befreiende Wirkung heißt, unser Gewissen ist unser Gewissen, das lassen wir uns nicht von anderen vorschreiben“. Keine Spekulationen von anderen darüber, wer Wir wohl sind: „Ich lasse mir die tausend Briefe nicht schlecht machen“, und: „ Ich habe noch nie in diesen Jahren so etwas Volksabstimmungshaftes erlebt. [...] Das kann nicht nur ein Missverständnis meiner Rede sein.“ Bubis: „Zum großen Teil schon.“ Walser: „Meine Briefschreiber sind in der Mehrzahl ehrenwerte Leute. Also bleibt es dabei.“ 10. Es ist nicht inkonsequent, wenn Walser dem deutschen Staatsbürger Bubis untersagen möchte, zu deutschen Angelegenheiten Stellung zu nehmen: „Ich glaube, ich habe Sie im Fernsehen gesehen in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt frage ich Sie, als was waren Sie dort?“ Bubis: „Ich stand vor dem Haus mit den verrußten Fenstern und habe mir vorgestellt, es waren Menschen drin und es wurden Molotowcocktails dort reingeschmissen. Das hat bei mir schlimmste Erinnerungen wachgerufen. Nur, das habe ich auch gesagt, [...] das war in Lichtenhagen der Mob. Und das, woran ich mich erinnert habe, das war der Staat, der das organisiert durchgeführt hat.“ Walser: „Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort rückgebunden an 1933 [...]. Und das können die Leute nicht mehr ertragen, und das wollen sie nicht andauernd hören, und darauf haben sie ein Recht, denn sie haben mit diesem Spuk nichts mehr zu tun.“ Auf die Frage der BuntenIllustrierten, was er seinem Mitbürger Ignatz Bubis zu Weihnachten wünsche, antwortete der Deutsche Martin Walser: „Einen so guten Rotwein, wie ich ihn trinken werde. Chateaux Margaux, Premier Cru. Der ist völkerverbindend.“ 11. Walser: „Und, Herr Bubis, da muss ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet als ich.“ Bubis: „Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte.“ Walser: „Und ich musste, um weiterleben zu können, mich damit beschäftigen.“ – „Weiter leben“ – aber so heißt ein anderes Buch, nicht: „Ein springender Brunnen.“ Jan Philipp Reemtsma, Jahrgang 1952, ist Literaturwissenschaftler. Seinen Text entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Mittelweg 36– Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Heft 4/99; Themenschwerpunkt: Raphael Gross/Werner Konitzer: „Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral“.
Jan Philipp Reemtsma
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Countrylegende George Jones: Schuld und Sühne - taz.de
Countrylegende George Jones: Schuld und Sühne Der US-amerikanische Sänger George Jones ist einer der größten Halunken im Showbusiness und erfreut sich allen Skandalen zum Trotz bester Gesundheit. Ist der meistgespielte Künstler bei Bob Dylans Internetradio "Theme Time": George Jones. Bild: ap Ich will nicht, dass meine Frau Dreck anfasst, deshalb kann ich nicht nach Hause gehen." - Der Song "I Cant Go Home" von 1967 gehört nicht zu den großen Hits von George Jones. Aber, kaum je wurde das zu verzweifeltem Selbsthass gesteigerte Schuldbewusstsein des vergnügungssüchtigen Herumtreibers drastischer und radikaler in einen Vers gepackt. Mit Schuld, Reue und Selbstanklagen kennt sich der mittlerweile 77-jährige US-Countrysänger George Jones aus. Niemand hat dieses Feld so glaubwürdig und andauernd beackert wie er. Zwei Albumsammlungen des Bremer Bear-Family-Labels geben nun Gelegenheit, sich mit George Jones, seinem Leben und seinem Werk auseinanderzusetzen: "Walk Through This World With Me" (fünf CDs) und "A Good Year For The Roses" (vier CDs). Bear Family steht seit Jahren für eine neue Editionspraxis, die der gewachsenen musikhistorischen Bedeutung der Popmusik Rechnung trägt. Hier werden in Multi-CD-Boxen Gesamtwerke präsentiert, chronologisch geordnet. Hinzu kommen aus den Archiven der Plattenfirmen zutage geförderte Aufnahmen, begleitet von Büchern im LP-Format, die mit historischen Fotos und Original-Albumcovern aufwarten können. Auch penible Besetzungslisten gehören dazu - aus denen man etwa entnehmen kann, dass der legendäre Nashville-Drummer Buddy Harman in Wirklichkeit Murrey mit Vornamen hieß. Man spürt, hier ist Gründlichkeit am Werk, muss aber auch konstatieren, dass so die Grundlage für wissenschaftliches Arbeiten gelegt wird. George Jones1931: George Glenn Jones wird in Saratoga, Texas geboren und wächst in Vidor mit Bruder und fünf Schwestern auf1940: erste Gitarre und erste Cents als Straßenmusiker1947: weg von zu Hause und Anstellung bei einer Radddiostation im texanischen Jasper1950-51: Ehe mit Dorothy Bonvillion (ein Kind)1954-68: Ehe mit Shirley Ann Corley (zwei Kinder)1954: erste Plattenaufnahmen1955: für Song "Why, Baby, Why" als "Grand Ole Oprys New Star" nominiert1959: Erster von vierzehn Nr.-1-Hits in den "Billboard Country Charts": "White Lightnin'"1969-75: Ehe mit TammyWynette (Tochter Georgette)1969: George Jones wird Mitglied der Grand Ole Opry1973: Erster von drei Nr.-1-Hits mit Gattin: "Were Gonna Hold On"1981: Grammy für "He Stopped Loving Her Today"1983: Ehe mit Nancy Sepulveda1983: letzter Country-Nr.-1-Hit:"I Always Get Lucky With You"1992: Aufnahme in die "Country Music Hall of Fame"1996: Autobiografie "I Lived To Tell It All"1999: Grammy für "Cold Hard Truth"2008: Ehrenmedaille des Kennedy Centers. George Jones lebt heute mit Familie in Franklin, Tennessee. (dd) Eine solche Behandlung, die sonst eher das Werk von Großliteraten erfährt, wird so nun den Aufnahmen des polytoxikomanen Quadratschädels George Jones zuteil, die er zwischen 1965 und 1971 für das Label Musicor einspielte. Das Leben von George Jones ist ja eine schmuddelige, unmoralische Schelmenfantasie, die sich auch Nabokov oder John Irving nicht grotesker und unrealistischer hätten ausdenken können. Eine wichtige Rolle kommt dabei den Sidekicks zu, wie etwa Pappy Daily - schon der Name kann eigentlich nur ausgedacht sein. Aber nein: Harold Daily, wie er eigentlich hieß, war ein typischer Vertreter jener etwas windigen Kleingewerbetreibenden, die es vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren im Musikgeschäft der USA in großer Zahl gab. Er arbeitete in den Diensten von United Artists, beteiligte sich aber mit privatem Geld am UA-Sublabel Musicor. Er schaffte es, den bei UA unter Vertrag stehenden, nur leidlich erfolgreichen, aber perspektivreichen Nachwuchssänger Jones zu Musicor hinüberzubugsieren, und ließ ihn fast ausschließlich Songs aufnehmen, die er in seinem Musikverlag verlegte. Auch die Produktion übernahm er selbst - allerdings nur auf dem Papier: "Die meisten Leute denken, Pappy sei der Produzent gewesen, aber das war er nicht", wird Jones im Booklet von "Walk Through This World" zitiert. "Er buchte das Studio und füllte die Formulare aus. Die Arrangements haben die Musiker und ich im Studio ausgetüftelt." Viel Zeit blieb ihnen dafür nicht, denn Nashville war schon damals ein großer musikalischer Industriebetrieb und Pappy Daily einer seiner schärfsten Schinder: "Heutzutage arbeiten Künstler zwei oder drei Tage an der Aufnahme eines Songs", so Jones. "Als ich bei Musicor war, nahm ich ein ganzes Album in drei Stunden auf, auch wenn das gegen die Vorschriften der Musikergewerkschaft verstieß. Wir hatten einen Take pro Song, Pappy Daily hörte sich einmal alles an und dann brüllte er: ,Abschicken!' Am nächsten Tag waren die Aufnahmen im Presswerk." Rund 280 Aufnahmen kamen so für Musicor zustande, sie finden sich in diesen beiden Boxen (und einer weiteren, die die Duette enthält, die Jones mit Gene Pitney, dem seinerzeit größten Musicor-Star, aufnehmen durfte). Sie zeigen Jones als Rohdiamanten, dem nicht immer alles gelingt, was er anpackt, und der nicht immer mit erstligareifem Songmaterial ausgestattet wird. Die Möglichkeiten, die er und die Musiker mit diesen Kompositionen haben, bewegen sich innerhalb der Grenzen jenes Sounds für die Jukeboxes der Truck Stops und Honky Tonks, der die ländlichen Gebiete der USA in den Sechzigerjahren definiert - der Sound des "Okie From Muskogee" oder auch jener Rednecks, die den Bikern etwa in dem Film "Easy Rider" den Garaus machen. Auf der anderen Seite ist den Textern dieses Genres nichts Menschliches fremd. So erkennt man auch die Höhepunkte der beiden George-Jones-Boxen, wie oft im Country-Genre, am Titel: "Hangin On To One (And Hangin Round The Other)", "Tell Me My Lying Eyes Are Wrong", "There Aint No Grave Deep Enough", "Divorce Or Destroy". Hier künden sich jene existenziellen Schuld-und-Sühne-Dramen an, bei deren Aufführung es Jones scheinbar immer nur unter größter Anstrengung vermeidet, in Tränen auszubrechen. In Wahrheit neigt sich die Balance in seinem Leben wohl eher in Richtung Schuld. Vor allem Frauen bekamen es dicke, wenn Jones in Alkohol- und Kokainwahn die Sicherungen durchbrannten. Ehefrauen, Geliebte, Zufallsbekanntschaften wurden geschlagen, gewürgt und mit Waffen bedroht, wie Randall Rieses Genre-Skandalbuch "Nashville Babylon" zu berichten weiß, das Jones ein eigenes Kapitel widmet. Aber auch sein langjähriger Saufkumpan Earl "Peanut" Montgomery, der Bruder von Jones langjähriger Duett-Partnerin Melba Montgomery, der als Songwriter einige der Highlights in Jones Repertoire verantwortete, wurde nicht verschont. Als er eines Tages zu Gott fand und dem sündigen Treiben abschwor, schoss Jones auf ihn mit den Worten: "Wir wollen doch mal sehen, ob dein Gott dich auch hiervor beschützen kann." Und sehet: Gott beschützte Peanut und ließ die Kugel einige Zentimeter neben ihm einschlagen - und verhinderte so auch ein unrühmliches Ende der Jonesschen Sangeskarriere, vielleicht eingedenk der Tatsache, dass der auch mehrere Alben mit religiösen Besinnungsliedern eingesungen hatte. Die meisten dieser Skandale ereigneten sich nach der Musicor-Zeit, als Jones seiner Gattin und bevorzugten Duett-Partnerin Tammy Wynette zu Columbia und zum Produzenten und Songwriter Billy Sherrill (weltbekannt etwa durch Tammys "Stand By Your Man") gefolgt war. Er musste nun nicht mehr selbst arrangieren, stattdessen kreierte Sherrill am Fließband dramaturgisch feinst durchdachte Minidramen für ihn - was Jones vielleicht zu viel Freizeit verschaffte. Jedenfalls waren die Siebziger Jones künstlerisch wagemutigstes und erfolgreichstes Jahrzehnt, aber menschlich wohl sein finsterstes. "Nashville Babylon" listet endlos Verhaftungen wegen Trunkenheit am Steuer und Waffenbesitz sowie häusliche Gewalt und vor allem immer wieder ohne Grund abgesagte Konzerte auf, was ihm den Spitznamen "No Show Jones" einbrachte und ihn aufgrund der damit verbundenen Vertragsstrafen an den Rand des Bankrotts führte. Seine Kollegen Johnny Cash und Waylon Jennings, beide selbst dem Rausch durchaus zugeneigt, halfen ihm finanziell aus der Patsche. Man möchte meinen, wie die beiden hätte Jones irgendwann für dieses Leben den bekannten Preis zahlen oder als vom Leben gezeichneter Rentner irgendwo in Florida der Wiederentdeckung durch Rick Rubin oder Jack White entgegendämmern müssen. Aber nein: Heute geht es Jones besser als je zuvor. Er erfreut sich bester Gesundheit, ist seit über zwei Jahrzehnten mit derselben Frau verheiratet und absolviert weit über hundert Auftritte im Jahr. Darüber hinaus vermarktet er Barbecuesoßen und drei Sorten "George Jones Country Sausage" (natürlich nach eigenem Rezept), mit schillernden Anekdoten aus seinem Leben auf der Verpackung. Er unterhält in Nashville eine Boutique, im Städtchen Enterprise (Alabama) ein Diner, dessen Wände voll sind mit Jones-Memorabilia, den Themenpark "Country Crossings" in Dothan (Alabama) und das Label Bandit Records, auf dem er neben eigenen Aufnahmen "einzigartige interessante Projekte von künstlerischer Integrität" herausbringt, "die sich frei vom Druck der großen Plattenfirmen entfalten" sollen. Und an der "George Jones University" lernen Nachwuchsmusiker die Gepflogenheiten im Musikgeschäft. Wie gesagt: ein Schelmenroman. Ohne Moral.
Detlef Diederichsen
Der US-amerikanische Sänger George Jones ist einer der größten Halunken im Showbusiness und erfreut sich allen Skandalen zum Trotz bester Gesundheit.
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Ärger im Abgeordnetenhaus: Henkel unter Druck aus der CDU - taz.de
Ärger im Abgeordnetenhaus: Henkel unter Druck aus der CDU In der Unionsfraktion gibt es Ärger über den Innensenator: Der ducke sich weg. Und zwei Parlamentarier zweifeln gar, ob Henkel 2016 wieder Spitzenkandidat sein soll. Für manche spricht er zu selten Klartext: In der CDU-Fraktion gab es jetzt Kritik an Innensenator und Landeschef Frank Henkel. Foto: dpa Er fehlte im Parlament bei der Regierungserklärung, er war bei der folgenden Senatssitzung nicht dabei. Als Frank Henkel, der Innensenator und CDU-Landesvorsitzende, am Dienstag auch bei der Fraktionssitzung der Christdemokraten nicht auftauchte, reichte es einigen Abgeordneten. Wortreich machten sie ihrem Ärger über den Mann Luft, der sie 2016 wieder in die Abgeordnetenhauswahl führen soll. Henkel ducke sich weg, hieß es. Die Parlamentarier Stefan Schlede und Kurt Wansner bezweifelten nach Teilnehmerangaben offen, ob Henkel der richtige Spitzenkandidat ist. Schon im Sommer war in der CDU zu hören, man sei unzufrieden mit Henkel. Der sei als Innensenator nicht aktiv genug und gehe Konflikten mit der SPD aus dem Weg. Auch da hieß es bereits: Der duckt sich weg. Als Alternative wurde der in der Partei sehr populäre Generalsekretär Kai Wegner genannt. Ausgerechnet Wegner war es, der Henkel schon im März de facto zum erneuten Spitzenkandidaten ausgerufen hatte. Die Kritik flammte nun erneut auf, weil Henkel bei gleich mehreren wichtigen Terminen fehlte. Mehrere CDU-Abgeordnete mochten nicht verstehen, warum er eine Sportministerkonferenz in Köln der Parlamentssitzung vorzog, für die Regierungschef Müller zwei Tage zuvor eine Regierungserklärung angekündigt hatte. Dass Müller sich dabei nicht in Lobeshymnen über die CDU ergehen würde, war absehbar. So aber musste Sozialsenator Mario Czaja Müllers Rede, die viele als Rücktrittsaufforderung verstanden, ohne Rückendeckung seines Parteichefs über sich ergehen lassen. Aus der Fraktion ist zu hören, man hätte von Henkel zumindest als Reaktion erwartet, bei der folgenden Senatssitzung auf den Tisch zu hauen. Doch auch dafür ließ sich der Innensenator entschuldigen – dem Vernehmen nach, um sich um sein erkranktes Kind zu kümmern. Schon im Sommer war in der CDU zu hören, man sei unzufrieden mit Henkel Die Fraktionsführung wiegelte ab: Jeder habe das Recht, seine Meinung zu äußern. Offiziell hieß es von Pressesprecher Michael Thiedemann, man tage nichtöffentlich und kommentiere darum keinerlei Aussagen der Fraktionsmitglieder. Zudem bemühte man sich, die Kritik an einer Spitzenkandidatur Henkels als Einzelmeinung notorischer Quertreiber abzutun. Tatsächlich gelten der Zehlendorfer Schlede und der Kreuzberger Wansner nicht als die ausgleichendsten Figuren in der Fraktion. Doch eine solche Attacke auf den Parteichef war bislang auch von ihnen nicht bekannt geworden. Wansner selbst mochte sich gegenüber der taz zu der Fraktionssitzung nicht äußern. Nur wenige Stunden nach der Fraktionsdiskussion kursierte am Landesamt für Gesundheit und Soziales das Gerücht, Czaja solle anstelle von Henkel Spitzenkandidat werden. Das bestätigte sich am Mittwoch allerdings nicht. Offiziell nominiert die CDU ihren Spitzenmann für die Abgeordnetenhauswahl bei einem Parteitag im Frühjahr. Eine Spitzenfrau ist nicht absehbar: Von Bundeskulturministerin Monika Grütters, Henkels erster Stellvertreterin in der Berliner CDU, heißt es, ihr gefalle ihr jetziger Job zu sehr, um sich in eine aussichtslose Spitzenkandidatur zu stürzen und als Oppositionsführerin ins Abgeordnetenhaus zurückzukehren. Bereits am kommenden Wochenende geht der CDU-Landesvorstand in eine schon länger geplante Klausurtagung in Neuruppin, um das Wahljahr vorzubereiten. Die Diskussionen in der Fraktion dürften sich dort dem Vernehmen nach fortsetzen. Wansner zumindest ist als Chef der Kreuzberger CDU mit dabei.
Stefan Alberti
In der Unionsfraktion gibt es Ärger über den Innensenator: Der ducke sich weg. Und zwei Parlamentarier zweifeln gar, ob Henkel 2016 wieder Spitzenkandidat sein soll.
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Mehlis-Report belastet Syrien schwer - taz.de
Mehlis-Report belastet Syrien schwer Der neue Bericht der UN-Untersuchungskommission zum Hariri-Mord enthält neue Zeugenaussagen und wirft dem Regime in Damaskus mangelnde Zusammenarbeit vor. Wichtige Dokumente wurden verbrannt. Trauer um Tueni im Libanon AUS DAMASKUS KARIM EL-GAWHARY Der UN-Untersuchungsbericht hat neue Indizien für eine Verwicklung des syrischen Geheimdienstes in die Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri gefunden. Dies geht aus dem Report des Berliner Staatsanwaltes Detlev Mehlis hervor, der am Montag dem Sicherheitsrat in New York vorgelegt wurde und gestern Abend dort diskutiert werden sollte. Einen endgültigen Beweis für die Verwicklung der höheren Etagen des Regimes in Damaskus enthält der Bericht jedoch nicht. Syrien hatte jede Verstrickung in den Mordfall zurückgewiesen. Ein Zwischenbericht des Mehlis-Teams vom Oktober war von einer hohen Wahrscheinlichkeit einer syrischen Verwicklung in den Mordanschlag vom Februar ausgegangen, bei dem neben Hariri weitere 22 Menschen getötet worden waren. „Die ursprünglichen Schlussfolgerungen im Zwischenbericht im Oktober haben sich nicht verändert, sondern nur verstärkt“, heißt es in dem neuen Bericht. Politisch am brisantesten dürfte die Forderung Mehlis’ sein, 19 nicht namentlich genannte Verdächtige zu verhaften, darunter auch fünf hohe syrische Beamte, die letzte Woche von den UN-Ermittlern in Wien vernommen worden waren. Unbestätigten Berichten zufolge sollen auch der Schwager des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und Chef des militärischen Geheimdienstes, Asef Schaukat, sowie der einst für den Libanon zuständige Geheimdienstchef Rustum Ghazali, verhört worden sein. „Syrien muss jene Funktionäre und jene Einzelpersonen verhaften, die bei der Kommission in Verdacht stehen, an der Planung, der Unterstützung und der Organisation des Terroraktes beteiligt gewesen zu sein“, verlangt der Report eindeutig und fordert, dass alle Verdächtigen der Kommission für Verhöre zur Verfügung gestellt werden müssen. Die syrische Zusammenarbeit mit der UN-Kommission wird in dem Bericht als „langsam“ bezeichnet. In der UNO-Resolution 1636 vom 31. Oktober waren Syrien Strafmaßnahmen für den Fall mangelnder Kooperation angedroht worden. Dem Regime in Damaskus wird jetzt erneut vorgeworfen, in einigen Fällen eine Verzögerungstaktik angewandt zu haben. Besonders verärgert zeigen sich die Ermittler über einen der wichtigsten Zeugen für den Zwischenbericht vom Oktober, den ehemaligen syrischen Geheimdienstler Hussam Taher Hussam. Dieser zog später seine Aussage zurück, mit dem Hinweis, er sei von Hariris Familie bestochen worden. Der Bericht wirft den syrischen Behörden vor, Familienmitglieder des Zeugen verhaftet und unter Druck gesetzt und den Zeugen selbst manipuliert zu haben. Mehlis fordert eindeutig: „Syrien sollte eine eigene ehrliche und professionelle Untersuchung durchführen und schnell und ohne weitere Bedingungen den UN-Ermittlern antworten.“ Was schriftliche Beweisstücke angeht, wird sich wenig finden. Zwei der in Wien vernommenen Zeugen haben zugegeben, dass alle syrischen Geheimdienstdokumente, die mit dem Libanon in Zusammenhang stehen, verbrannt worden sind. Der Bericht fordert auch eine Verlängerung des Mandats der Kommmission um mindestens sechs Monate. Allerdings wird Mehlis nicht mehr zur Verfügung stehen, denn seine Amtzeit läuft morgen aus und wird auf eigenen Wunsch nicht verlängert. Der Bericht geht auch auf die Anschläge ein, die seit der Ermordung Hariris stattfanden. Es gebe neue Zeugenaussagen, die einen „hohen syrischen Beamten“ mit einer Kampagne verbinden, im Libanon Chaos zu schaffen. Er soll in den Tagen nach dem Hariri-Mord Waffen, Munition und Provokateure zur Verfügung gestellt haben. Dies ist nach dem Mordanschlag vom Montag auf den prominenten libanesischen Kritiker Syriens, Gibran Tueni, besonders brisant. Gestern blieben im Libanon Geschäfte und Büros aus Trauer weitgehend geschlossen. Das Kabinett rief den Sicherheitsrat auf, diesen und andere politisch motivierte Morde der letzten Monate zu untersuchen. Daraufhin zogen sich fünf prosyrische Minister aus dem Kabinett zurück. „Wir sind dagegen, alles, was im Libanon geschieht, zu internationalisieren und unsere Souveränität aufzugeben“, sagte Muhammad Fneisch, Energieminister und gleichzeitig Politbüro-Mitglied der Hisbollah. Dies zeigt, wie sehr die Morde auch die innenpolitische Lage im Libanon angespannt hatten. Die syrische Regierungssprecherin Butheina Schaaban stritt jegliche Verwicklung in den Mord an Tueni ab. „Wir haben auch voll mit Mehlis kooperiert“, erklärte sie. „Wir würden gerne selber wissen, wer die Mörder waren, weil wir glauben, dass jeder, der ein solches Verbrechen gegen den Libanon begeht, sich auch gegen Syrien richtet.“
KARIM EL-GAWHARY
Der neue Bericht der UN-Untersuchungskommission zum Hariri-Mord enthält neue Zeugenaussagen und wirft dem Regime in Damaskus mangelnde Zusammenarbeit vor. Wichtige Dokumente wurden verbrannt. Trauer um Tueni im Libanon
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Verhältnis Kolonialismus und NS: Krise der Erinnerung - taz.de
Verhältnis Kolonialismus und NS: Krise der Erinnerung Der sogenannte neue Historikerstreit berührt eine zentrale Frage: Wie soll Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter aufgestellt werden? In welchem Verhältnis stehen Kolonialismus und die Shoah zueinander? Holocaust-Mahnmal in Berlin Foto: Jürgen Ritter/imago Nur zwei Tage nachdem Bund und Länder Ende März letzten Jahres den ersten Lockdown beschlossen hatten, nahm im Feuilleton und auf Twitter mit der sogenannten „Causa Mbembe“ eine sich bis heute hinziehende öffentliche Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus ihren Anfang, die von vielen als neuer „Historikerstreit“ betrachtet wird. Dass sich die ursprünglich eher abseits geführte Diskussion über die israelfeindlichen Äußerungen des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe binnen kürzester Zeit zu einer erinnerungspolitischen Fundamentaldebatte auswuchs, ist durchaus erklärungsbedürftig. Die Gründe sind sicher vielfältig, aber auch ein Zusammenhang mit dem Lockdown, in dem die Welt für einige Wochen stillzustehen schien und die aus den Büros Vertriebenen über ihr eigenes Leben und den Zustand der Welt sinnierten, ist naheliegend. In der verschärften sozialen, politischen und ökologischen Krise (Pandemie, Klimawandel, Niedergang der USA als Ordnungsmacht etc.) wuchs das Bedürfnis, über die Fehler der Vergangenheit nachzudenken und die bisherige Weltsicht infrage zu stellen. Zumal mit China längst ein in der Pandemie besonders sichtbarer Akteur die politische Bühne betreten hatte, der unter Xi Jinping inzwischen lautstark die Systemfrage stellt und historische Deutungsmacht beansprucht. Sich verändernde Welt Inmitten der allgemeinen Verunsicherung und Panik also fungierten die Mbembe-Debatte und der sich anschließende Historikerstreit als Foren, auf denen Deutschlands Rolle in einer sich radikal verändernden Welt verhandelt werden konnte. Anstatt aber offen über globale Herausforderungen und Bedrohungen der Demokratie zu sprechen, richtete sich der Blick auf die deutsche Vergangenheit – und auf die Frage, wie sie richtig zu deuten sei. Die Mbembe-Debatte war folglich nur ein eher zufälliger Auftakt für weitere Kontroversen, die sich alle um denselben Themenkomplex drehten: Wie muss eine nationale Gedenkkultur beschaffen sein, um der globalen Gegenwart endlich gerecht zu werden? In welcher Weise muss die koloniale Vergangenheit Deutschlands im nationalen Erinnerungsnarrativ berücksichtigt werden? Wie „provinziell“ ist das deutsche Holocaustgedenken? Auf welcher geschichtspolitischen Grundlage beruht die deutsche Israelpolitik? Was ist Antisemitismus und was „legitime Israelkritik“? Inwiefern grenzt der Begriff der „Singularität“ postmigrantische Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung aus? Solche Fragen sind zweifellos wichtig, doch der Verdacht, manchen an der Diskussion Beteiligten gehe es hauptsächlich darum, Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter flottzumachen, das wohl nicht mehr im Zeichen westlicher Hegemonie stehen wird, drängte sich rasch auf. Zahlreiche Kritiker erklärten, das Holocaustgedenken sei nicht mehr „zeitgemäß“, als ob das irgendetwas über dessen Richtigkeit aussagen würde. Neue Zeiten Im modernisierungstheoretischen Sinne könnten dieser Lesart zufolge jene, die Erinnerungspolitik noch am Geschichtsbild der scheinbar untergehenden Pax Americana ausrichten, als „konservativ“ bezeichnet werden. Als „progressiv“ dagegen erscheinen all jene, die den Glockenschlag der Geschichte vernommen haben und sich vorlaufend auf neue Zeiten unter der Ägide Chinas einstellen. Die elementare wissenschaftliche Kategorie der Wahrheit, die zwar nicht kontext- und standortunabhängig ist, aber eben auch nicht vom historischen Geschehen selbst abgelöst werden kann, blieb in diesem zähen Ringen um Deutungsmacht zunehmend auf der Strecke. Wie im ersten Historikerstreit ging es auch im zweiten um die Deutung des Nationalsozialismus, um die angemessene Form des Erinnerns, um die richtigen „Lehren aus der Vergangenheit“. Doch während die politische Kultur der alten Bundesrepublik noch durch ein konservatives Lager geprägt war, das die deutsche Schuld kleinredete und den Holocaust relativierte, sind die Vorzeichen heute gänzlich andere: Die ursprünglich von lokalen Initiativen getragene erinnerungspolitische Modernisierung, die erst unter der rot-grünen Regierung Schröders und Fischers richtig Fahrt aufnahm, festigte in den Nullerjahren das Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für den „Zivilisationsbruch“ Holocaust und beförderte die Revisionisten aus dem ersten Historikerstreit ins politische Abseits. Kern der Staatsräson Seither bildet die Erinnerung an Nationalsozialismus, Vernichtungskrieg und Holocaust den Kern deutscher Staatsräson, aus der Prinzipien politischen Handelns abgeleitet werden sollen. Dazu gehört die Solidarität mit Israel, dem Staat der Holocaustüberlebenden, dessen Unterstützung insbesondere die Merkel-Regierung zu einem Eckpfeiler deutscher Außenpolitik gemacht haben will. Was im ersten Historikerstreit „progressiv“ war, nämlich die Position Jürgen Habermas’, der gegen seine konservativen Widersacher Ernst Nolte und Michael Stürmer die Singularität des Menschheitsverbrechens Holocaust betonte und eine kulturelle Integration Deutschlands in die Tradition des westlichen Liberalismus anstrebte, entspricht heute dem politischen Kompass nahezu der gesamten politischen Klasse. Wer diesen Kompass neu ausrichten möchte, und sei es auch aus besten, postkolonialen Absichten, kann dies offenbar nicht mit kleinen Positionsveränderungen tun, sondern muss auf das Zentrum der deutschen Staatsräson zielen. Deshalb geriet im zweiten Historikerstreit erneut die Konzeption des Holocaust als eines „singulären“ oder „präzedenzlosen“ Ereignisses systematisch unter Beschuss. Dieser als „Narrativ“ oder gar „Mythos“ relativierte geschichtswissenschaftliche Begriff ziele darauf ab, so die Kritiker, nichtwestliche Erfahrungen und Narrative auszugrenzen. Nur ein schreckliches Beispiel Zudem führe er zur Unterstützung Israels, in dem manche Diskutanten gar ein siedlerkolonialistisches und rassistisches Apartheidsystem auszumachen glaubten. Der Holocaust wiederum sei zweifellos ein schreckliches Verbrechen gewesen, aber zugleich auch nur ein besonders schreckliches Beispiel für die Blutexzesse des westlichen Kolonialismus. Mit großen interpretatorischen Verrenkungen versuchte etwa der australische Genozidforscher Dirk Moses, Holocaust und Vernichtungskrieg in koloniale Verbrechen umzudeuten. Im geschichtspolitischen Überschwang, der dazu tendierte, alle Differenzen in einer einzigen Gewaltgeschichte des „westlichen Kolonialismus“ verschwinden zu lassen, wurde also nicht nur die Präzedenzlosigkeit des Holocaust bestritten, sondern auch die spezifische deutsche Verantwortung unsichtbar gemacht. Aus einer solchen Perspektive lassen sich die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs letztlich nicht mehr vom Nationalsozialismus unterscheiden. Und auch der jüdische Staat passt plötzlich ins Passepartout eines Kolonialrassismus, dessen Bekämpfung die wichtigste „Lehre aus der Geschichte“ sei. Wenig erstaunlich daher, dass Achille Mbembe, der in seinem Buch „Politik der Feindschaft“ die südafrikanische Apartheid, die israelische Palästinenserpolitik und den Holocaust allesamt zu Manifestationen eines kolonialen „Trennungswahns“ erklärt hatte, so viel Zuspruch aus dem „progressiven“ Lager erhielt. Ideologische Soft Power Erst in einigen Jahren wird sich abschließend beurteilen lassen, wie der zweite Historikerstreit ausging – und zwar nicht zuletzt abhängig davon, wie der Westen aus der globalen machtpolitischen Auseinandersetzung mit China hervorgehen wird. Schon jetzt nutzt der chinesische Imperialismus den Postkolonialismus als ideologische Soft Power, um seinen Einflussbereich in Afrika und Südostasien auszuweiten und die westliche Hegemonie zu torpedieren. Dabei stört das Wissen um die Spezifik des Holocaust nur insofern, als dieser sich eben nicht in das Schema des bösen westlichen Kolonialismus einfügen lässt. Solange die Vernichtung der europäischen Juden als ein „westlicher Genozid“ unter anderen rubriziert werden kann, kommt das Holocaustgedenken der chinesischen Staatsideologie dagegen nicht in die Quere. Aber auch der Postkolonialismus kann zum Bumerang für die Herrscher in Beijing werden: dann nämlich, wenn sich „Konservative“ und „Progressive“ gemeinsam gegen den chinesischen Neokolonialismus wenden und den drohenden Genozid an den Uiguren anprangern, ohne damit die Spezifik des Holocaust zu leugnen.
Philipp Lenhard
Der sogenannte neue Historikerstreit berührt eine zentrale Frage: Wie soll Deutschland geschichtspolitisch für ein neues Zeitalter aufgestellt werden?
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Die Symbolik der Kerosinsteuer - taz.de
Die Symbolik der Kerosinsteuer Umweltexperten kritisieren, dass die Kerosinsteuer allein zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden soll. Dabei sei sie entscheidend für den Klimaschutz BERLIN taz ■ Wegen einigen Euros mehr fürs Fliegen wird niemand sein Urlaubsziel von Mallorca in den Bayerischen Wald verlegen. Von einer Revolution des Klimaschutzes kann also keine Rede sein, wenn sich die EU zu einer Besteuerung von Flugzeugbenzin durchringen sollte. Diese Pläne verlauteten beim G-7-Gipfel vergangenes Wochenende. Trotz gedämpfter Euphorie halten sich die Umweltschützer mit Kritik zurück, zu lange hatten sie für eine solche Steuer gekämpft – allerdings unter anderen Vorzeichen: Sie wollten damit eher das Klima schützen als – wie nun geplant – die Armut bekämpfen. Erste kritische Stimmen erhebt jetzt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltfragen (WBGU). „Das reicht vorne und hinten nicht“, sagte die Vorsitzende des WBGU, Renate Schubert, der taz. Da nur mit einigen Euros Teuerung pro Flugticket zu rechnen sei, „ist der Lenkungseffekt gering“. Überhaupt findet die Wissenschaftlerin den umweltpolitischen Aspekt einer Steuer auf Flugbenzin, die Senkung der klimaschädlichen Emissionen des Flugverkehrs, in der Debatte vernachlässigt. „Das wird momentan nur als Einnahmequelle diskutiert.“ Ein Gutachten des WGBU empfahl der Bundesregierung die Zweckbindung der Abgaben des Flugverkehrs für Klimaschutzmaßnahmen und die Anpassung an den Klimawandel. Doch nun sind die Einnahmen dem Vorschlag des britischen Finanzminister Gordon Brown zufolge vorgesehen, um die Entwicklungshilfe so weit aufstocken zu können, dass die UN-Ziele zur Armutsbekämpfung erreicht werden. Würden diese Mittel an Maßnahmen zur Bewältigung des globalen Klimawandels in den Entwicklungsländern geknüpft, wären wohl auch die Kritiker zufrieden. „Die Entwicklungsländer leiden schließlich am meisten unter dem Klimawandel“, sagte Dietrich Brockhagen von der Entwicklungsorganisation Germanwatch der taz. Zerreden will man den Vorstoß allerdings auch beim WBGU nicht. Selbst wenn man dem Ziel, die Emissionen des Flugverkehrs deutlich zu reduzieren, nur marginal näher komme, „werde ein Tabu damit salonfähig“, so die WBGU-Vorsitzende Schubert. Im Bundesumweltministerium sieht man in der Kerosinsteuer einen Schritt zu mehr ökologischer Gerechtigkeit bei der Besteuerung von konkurrierenden Verkehrsmitteln, erklärte eine Sprecherin zur taz. Zudem verweist das Ministerium auf eine entsprechende Koalitionsvereinbarung, will sich jedoch zur Mittelverwendung nicht äußern. Direkte Effekte durch die Kerosinsteuer sieht bisher nur die Luftfahrtindustrie. 50.000 Arbeitsplätze seien bedroht, behauptet Lufthansa-Sprecher Stefan Schaffrath. Trotz der nur marginalen Teuerung befürchtet er „entscheidende“ Wettbewerbsnachteile. „Schon 2 Euro sind entscheidend im internationalen Wettbewerb.“ Wegweisend könnte die Kerosinsteuer in Bezug auf die Klimaziele nach Auslaufen des ersten Kioto-Protokolls 2012 sein. Darin soll nach Auffassung von Deutschland und Großbritannien erstmals auch der Flugverkehr berücksichtigt werden. Erste Anreize für geringere Emissionen durch den internationalen Flugverkehr seien deshalb auch im Hinblick auf Kioto nach 2012 wichtig, findet Renate Schubert vom WGBU. Über die Stellschraube Kerosinsteuer könnten die Emissionen dann gesteuert werden. Und die Luftfahrtindustrie könnte anfangen, sich darauf einzustellen. Schubert: „Nicht nur weniger Fliegen, sondern auch neue Technologien können klimaschädliche Emissionen mindern.“ JOCHEN SETZER
JOCHEN SETZER
Umweltexperten kritisieren, dass die Kerosinsteuer allein zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden soll. Dabei sei sie entscheidend für den Klimaschutz
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"Rolling Stone Weekender": Ein wenig wild, ein wenig frei - taz.de
"Rolling Stone Weekender": Ein wenig wild, ein wenig frei Der "Rolling Stone Weekender" ist ein Festival für Menschen, die während der Konzerte ihre Mails checken. Auf dieser Zeitreise ist sogar die Security nett. Die größte Rarität: Frauen. Aber es muss sie gegeben haben, jemand hat sie schließlich fotografiert. Bild: Promo WEISSENHÄUSER STRAND taz | Die ersten Worte des Wochenendes machen Lust auf weniger: "Bruttogehalt", "Rentenversicherung", "Pflichtbeiträge" - die dunkelgelockte Schwäbin mit der jugendlichen Umhängetasche kennt ihre Rechte. Auf der Zugfahrt von Hamburg nach Oldenburg (Holstein) redet sie ausdauernd auf ihr Gegenüber ein. Die Freundin, blond und in ihrem Schweigen hochsympathisch, leistet kaum Gegenwehr. Sie weiß, dass es rausmuss. Die Gesprächsthemen sind genauso erwachsen wie das Festival, zu dem die beiden unterwegs sind: der "Rolling Stone Weekender" an der Ostsee, vom Veranstalter als "Indoor-Komfort-Festival" beworben - mit anderen Worten: ein Festival für Leute, die eigentlich nicht mehr auf Festivals fahren, weil sie Kinder haben. Oder Rücken. Oder beides. Als der ICE in Oldenburg (Holstein) hält, zieht die dunkelgelockte Schwäbin wie so viele hier einen Rollkoffer hinter sich her. Das dutzendfache Klackern der Kunststoffrollen kündet von einer Invasion der Junggebliebenen, gekommen, um sich noch mal ein Wochenende frei und auch ein bisschen wild zu fühlen, so frei und wild, wie man sich mit Taxireservierung in eine Ferienanlage aus den 70ern fühlen kann. Rund 3.600 Menschen übernachten an diesem Wochenende in den betongrauen Plattenbauten, hinzu kommen 400 Heimschläfer. Am beliebtesten sind die Apartments für vier bis sechs Personen, jedenfalls waren die am schnellsten ausgebucht. Festivals sind auch in dieser Altersgruppe noch Anlass für ein Jungswochenende. Nostalgie ist im Preis inbegriffen Der eine oder andere Besucher dürfte am Weißenhäuser Strand als Kind schon mal Familienurlaub gemacht haben. Es ist also eine doppelte Zeitreise: in die eigene Kindheit und in die Jugend, als man "Helga" über den Zeltplatz rief, weil das alle taten und Bier aus einem langen Schlauch trank, weil das so schön effektiv war. Nostalgie ist im Preis der pastellfarben eingerichteten Ferienapartments ebenso inbegriffen wie der Eintritt ins "subtropische Badeparadies". Auch die Bands, die auf einer der vier Bühnen beim "Rolling Stone Weekender" auftreten, sind größtenteils lange genug im Geschäft, um von den über 30-Jährigen "von früher" gekannt zu werden. The Notwist, Death Cab For Cutie, Nada Surf, Wilco - noch hält die Bands nicht ausschließlich das Geld zusammen, noch ist das hier keine Oldieparade, kein reines Schwelgen im Vorgestern, aber die halbe Strecke ist gemacht. Die zahlreichen älteren Herren in Lederjacke, denen die Musik der auftretenden Bands insgeheim zu jugendlich ist, können sich auf der Plattenbörse in der "Galeria an der Düne" auch mit richtigen Oldies eindecken: mit Don McLean oder den Dubliners auf Vinyl oder sogar CD. Die größte Rarität hier sind - Frauen. Zynische Männer über 35 "Das ist das Schöne am Rolling Stone Weekender", sagt Thees Uhlmann bei seinem Auftritt am frühen Samstagabend. "Zu 95 Prozent zynische Männer über 35." Die sich zu späterer Stunde auch gern mal bierselig in den Armen liegen und schunkeln. Die Virtuosität von Wilco-Gitarrist Nelf Cline belohnen sie mit Szenenapplaus, irgendjemand kommentiert: "saucool". Das Höchste der Gefühle sind vereinzelte Bravo-Rufe. Die Bands können einem fast ein bisschen leid tun, weil das Publikum so novemberlich-gemütlich drauf ist, und das Publikum kann einem leid tun, weil die Konzerte nicht bestuhlt sind. Der Rücken! Als Zugeständnis an die Gebrechen der Besucher ist der Boden vor der Hauptbühne im Zelt mit gelenkschonenden Kunststoffplatten ausgelegt. Wer nach den Konzerten immer noch stehen kann, steht auf der After-Show-Party weiter rum. Wunschdenken gab ihr den Namen: "Excess all areas". Betrunken sind nach Mitternacht viele, ausfällig wird kaum jemand. Der Rolling-Stone-Weekender-Besucher weiß sich zu benehmen. Was auch den Bands nicht entgeht. "We love you", legt sich Nada-Surf-Sänger Matthew Caws schon vor dem Auftritt fest, weil das Publikum so geduldig den verzögerten Soundcheck abgewartet hat. Mit der allgegenwärtigen Harmonie ist es wie mit dem durchweg hohen handwerklichen Niveau der Bands: erst mal ganz schön, auf Dauer aber ein wenig fad. Der Höhepunkt des Festivals ist eine Art Gottesdienst mit Elbow. Alle singen mit. Sogar die Securitys sind nett! Mittvierziger spielen Flunky-Ball Schick ist auch der Strand, spiegelglatt die Ostsee. Auf dem Steg flanieren Familien mit Kindern. Gerade noch händchenhaltende Paare schießen Erinnerungsfotos, überhaupt hat jeder hier mindestens eine Kamera und ein Smartphone dabei, das ständig gezückt wird, auch um während der Konzerte E-Mails zu checken. Könnte ja wichtig sein. Unter dem Steg spielen zwei ergraute Mittvierziger Flunky-Ball - ein typisches Festivalspiel, bei dem es darum geht, möglichst schnell möglichst viel Bier zu trinken. Man gibt sich jung - aber nicht so jung, dass man nachts noch am Strand rumhängt. Erstens ist es kalt, und zweitens will man ja auch noch was vom nächsten Tag haben. Tomte-Sänger Thees Uhlmann, der sich wegen des unerwarteten Charterfolgs seines Solodebüts "Europas ältester Newcomer" nennt, kann als prototypischer Künstler dieses Festivals gelten: Trotz Familie nimmt sich der 38-Jährige immer noch Zeit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens: Musik, Kumpels, FC Sankt Pauli, Bier. "Die Nacht war kurz und ich stehe früh auf" heißt sein Song zu diesem Lebensentwurf. Einige Gründe fürs frühe Aufstehen springen auf den Konzerten zwischen ihren Eltern herum. Gegen den Lärm tragen viele der Kinder Ohrenschützer, die ein findiger Hersteller eigens ihren kleinen Köpfen angepasst hat. Auch optisch: Pink ist die Farbe der Wahl. Das eigene Leben mag nicht mehr so unbeschwert sein wie früher - das Festivalgepäck allerdings ist leichter als damals beim Hurricane, das übrigens von der selben Firma organisiert wird wie der Rolling Stone Weekender, - nicht nur weil man die Koffer hinter sich herzieht, auch weil niemand mehr palettenweise Dosenbier mit sich führt. Alles, was man braucht - inklusive Olivenöl in Miniflaschen und 80 Sorten Chips - hält ein Supermarkt auf dem Gelände bereit. Und außerdem kann man es sich im Urlaub ja auch mal gutgehen lassen und essen gehen. Doch die Auswahl im Feriendorf hält den gestiegenen Ansprüchen der Festivalbesucher nicht wirklich stand: eine Pommesbude, ein Italiener, ein gutbürgerliches und ein Fischrestaurant, das aber geschlossen hat. Wohl besser so. Wo ist der Vietnamese, nach dem die Gäste aus der Großstadt sich sehnen? Immerhin eine Kaffeebar gibt es, allerdings eine schlecht organisierte, die Wartezeit vertreiben sich die Besucher mit Kommentaren über die Servicequalität. Pünktlichkeit als Zier Das Festival selbst bietet da wenig Angriffsfläche: Hier ist Pünktlichkeit noch eine Zier! Kaum eine Band, die die Gäste warten ließe. Weil die im Programm angegebenen Zeiten stimmen, kann man zwischen den Bühnen pendeln, ohne auf böse Überraschungen gefasst sein zu müssen. Wie schön. Im Gegensatz zur Welt da draußen ist der Rolling Stone Weekender blutdruckschonend berechenbar. Man weiß genau, was man kriegt - und wann man es kriegt. Deswegen werden viele Besucher nächstes Jahr wohl wieder dabei sein. Denn das Schöne am Rolling Stone Weekender ist ja: Für dieses Festival wird man so schnell nicht zu alt. Wenn sie zu Hause allerdings gefragt werden, wie es war, werden viele der zynischen Männer aus Prinzip "Scheiße" sagen, wie Thees Uhlmann antizipiert. Sonst will die Freundin beim nächsten Mal noch mit. "Helga" hat niemand gerufen. Weil sie zu Hause geblieben ist.
D. Denk
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Retrospektive Rote Traumfabrik: Proletarier aller Länder, amüsiert Euch! - taz.de
Retrospektive Rote Traumfabrik: Proletarier aller Länder, amüsiert Euch! Von großen Filmerfolgen, ideologischen Missverständnissen und von erstaunlicher Blindheit erzählt die Retrospektive der Berlinale: "Die Rote Traumfabrik". "Aelita" - Die Revolution beginnt auf dem Mars! Bild: Plakatsammlung Russische Staatsbibliothek, Moskau Unter dem griffigen Titel "Die Rote Traumfabrik" widmet die Berlinale 2012 ihre Retrospektive dem deutsch-sowjetischen Studio Meshrabpom-Film. Die Geschichte von Meshrabpomfilm-Russ (1923-1936) war die Geschichte einer großen Utopie von Filmen für das Weltproletariat, von berauschenden Triumphen und erschütterndern Katastrophen. Die Geburt des Unternehmens ging nicht auf einen Film, sondern auf die Hungersnot an der Wolga zurück, die Sowjetrussland 1921 erlitten hatte. Lenin bat das Weltproletariat um Hilfe, und so wurde im Juli 1921 in Berlin ein Komitee unter dem Vorsitz von Willi Münzenberg gegründet. Doch nicht nur Geld wurde nach Russland geschickt, auch 10.000 Meter Filmmaterial, um in den Hungergebieten Aufnahmen zu machen und diese in der Hilfskampagne einzusetzen (Russland produzierte damals keinen Rohfilm). Aus diesem Hilfs-Komitee entwickelte sich die Massenorganisation Internationale Arbeiterhilfe (IAH), die im Herbst 1922 eine Filmabteilung eröffnete. Sie sollte Filmtechnik für Sowjetrussland einkaufen und sich um die Verbreitung der Dokumentarfilme kümmern. Für die Wirksamkeit der Kampagne wurde auch ein Spielfilm in das Programm aufgenommen. So kam im März 1923 - nach einer langen Unterbrechung des Filmexports während des 1. Weltkriegs - der erste sowjetrussische Spielfilm nach Berlin: "Polikuschka" - nach einer Erzählung von Leo Tolstoi mit Schauspielern aus dem Stanislawski-Theater. Auf den Weltmarkt hoffen Die deutsche proletarische Presse wusste nicht recht, wie sie diesen Film einordnen soll, und meinte, der Herzschlag der Revolution poche auch in diesem unpolitischen Film. Produziert wurde er vom Studio "Russ", einer privaten Aktiengesellschaft. "Russ" konzentrierte sich auf publikumswirksame Filme, auf Stoffe aus der russischen Geschichte und Literatur, um sie auf dem Weltmarkt zu vertreiben. Als 1923 das Studio entschied, eine Allianz mit der IAH in Berlin einzugehen, erschien dieser Schritt nahezu unverständlich. Doch Beziehungen und Kalkül spielten dabei eine Rolle: Die IAH wand sich aus Pragmatismus einem privaten Filmunternehmen aus Russland zu. Der Erfolg von "Polikuschka" schien ein Garant für die Eroberung des Weltmarkts. Für das Studio "Russ" war der Zusammenschluss mit der kommunistischen Organisation in Deutschland eine taktische Rückversicherung gegen mögliche Angriffe im eigenen Land. So unterschrieben am 8. März 1923 beide Seiten einen Vertrag. Der Studioleiter Moissej Alejnikow hatte den prominentesten vorrevolutionären russischen Regisseur, Jakow Protasanow überredet, aus der Emigration zurückzukehren und auf der Grundlage des Romans Alexej Tolstoj, den ersten sowjetischen Science-Fiction-Film, "Aëlita", zu drehen - über die Reise dreier Russen zum Mars, die zu einer Revolution, aber auch einer Liebesromanze mit der Marskönigin führt - und obendrein das Ganze als eine Komödie zu gestalten! Ausgestattet wurde der Film mit kubistischen Dekorationen und avantgardistischen Kostümen á la Malewitsch. Für Spezialeffekte wurde Eugen Schüftan, ein deutscher Kameramann, eingeladen. Dieser spektakuläre Neuanfang bescherte dem Studio jedoch im eigenen Land nicht den erhofften Erfolg. "Russ" blieb einer permanenten Kritik ausgeliefert - als bürgerliches, kommerzielles, dem proletarischen Geist der neuen Gesellschaft völlig fremdes Unternehmen. Eigentlich sollte die Allianz mit der kommunistischen IAH dem abhelfen, aber diese Hoffnung erwies sich als folgenschwerer Irrtum. Helden mit Adelstiteln Fast bis zur Auflösung als bürgerliche Erscheinung attackiert, wurden im Ausland seine Filme als Quell proletarischer Kultur hochgepriesen. Beide Einschätzungen lagen ebenso weit auseinander, wie sie übertrieben waren. "Die Marke Meshrabpom-Russ ist ein Genre im sowjetischen Film", schrieb der Kritiker Michail Bleiman, "das Material: Geschichte mit Kostümen oder besser ohne. Manchmal, um die Fracks zensurfrei zu zeigen, wird die Handlung ins Ausland verlegt. Die Helden haben meist Adelstitel. Keine Figur geht unter einem Grafen weg. Selbst die Diener sind echte Aristokraten. Den Filmen liegt immer ein Liebeskonflikt zugrunde. Der Liebe wegen wird Revolution gemacht, Kriege werden angefangen oder beendet, Weltkatastrophen in Gang gesetzt." Aber nicht nur sexualisierte Historiendramen, Melodramen über verführte Mädchen wie "Der gelbe Pass", Komödien aus dem sowjetischen Alltag wie "Das Mädchen mit Hutschachtel" und mondäne Abenteuerfilme aus dem Leben des dekadenten Westens wie "Miss Mend" - allesamt auf dem inländischen Markt erfolgreiche Unterhaltung - bestimmten das Profil des Studios. 1925 wechselte fast die gesamte Werkstatt von Lew Kuleschow an das Studio und brachte eine experimentelle Note in das Programm ein. Wsewolod Pudowkin, Boris Barnet und Sergej Komarow wurden bald zu den führenden Regisseuren. Pudowkin bestimmte nun die andere Richtung, die das Studio für das Ausland verfolgte: revolutionäre Werke nach dem Vorbild von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin". Die folgten einem anderen ästhetischen Programm - geometrische Linien bestimmten die Komposition eines fast leeren Filmraums. Dazu kam die rhythmische Montage kurzer Einstellungen, die die Dynamik intensivierte. Das Bild des dörflichen Russland wurde für unfotogen erklärt. Pudowkins "Sturm über Asien" bot einen idealen Zusammenschluss alter und neuer Stereotypen: die ethnographische Exotik einer dokumentarisch gefilmten buddhistischen Zeremonie und Revolution, das individuelle Ausnahmeschicksal eines Nachfahren von Dschingis Khan und eine beeindruckende Montage von Massenszenen. Der Hauptdarsteller Waleri Inkishinow war die Verkörperung des Russisch-Asiatischen schlechthin, "absolut erdhaft". Die Premiere in Berlin bescherte einen überwältigenden Erfolg. Um Kredite betteln Trotzdem wird das Studio von den Kritikern daheim als innerer Emigrant wahrgenommen und vom staatlichen Filmkomitee Sowkino als Erzrivale. Es muss um Subventionen und Kredite betteln, doch als Privatunternehmen bekommt es keine. In Berlin wird entschieden, die Anteile der IAH drastisch zu erhöhen und das Studio in "Meshrabpomfilm", also "IAH- Film" umzubenennen. Um der Quotenkontingentierung von Importen entgegenzuwirken, wird beschlossen, russische Filme in Deutschland zu produzieren, auch eine Neuverfilmung von Tolstois "Lebendem Leichnam". Die erfolgreichen Film-Russen, die Stars des Studios, Fjodor Ozep, Anna Sten, Waleri Inkishinow, bleiben im Ausland als Emigranten zurück. Anfang der 1930er Jahre sollte die Ausrichtung des Studios sich jäh ändern. Dahinter stand Willi Münzenberg mit seiner Idee: Film sei ein Propagandamittel, doch die proletarischen Massen im Westen hätten dieses Mittel nicht in der Hand, aber es gäbe in der Sowjetunion ein Studio, an dem die IAH als Gesellschafter beteiligt ist. Der vorherige Versuch, die "Prometheus" als ein solches Studio in Deutschland zu etablieren, war gescheitert. Die Firma hatte einige wenige Spiel- und Dokumentarfilme über proletarischen Kampf und proletarisches Elend (wie "Mutter Krausens Fahrt ins Glück") produziert und ging bankrott. Von nun an sollte das Studio "Meshrabpomfilm" Ausländer nach Moskau holen, um dort Filme für das Weltproletariat zu drehen, und zwar in deutscher Sprache. Bald fahren Erwin Piscator, Joris Ivens und Hans Richter nach Moskau. Doch da kam der Tonfilm mit seinen "Sprachbarrieren" der gewählten Internationalisierung der Produktion - für die Proletarier aller Länder - in die Quere. Genauso brach der Widerspruch zwischen der ursprünglichen Fixierung des Studios "Russ" auf Kino-Kommerz und der Ausrichtung der IAH auf politische Propaganda auf. Oder wollte die IAH mit Propaganda Geld verdienen und das Studio "Russ" seine Unterhaltung der Proletarier aller Länder als Propaganda verkaufen? Emigranten interniert 1934 wird das Studio Meshrabpomfilm einmal mehr reorganisiert und in "Rot Front" umbenannt. Hier sollen nun deutsche Emigranten, die nach Hitlers Machtergreifung in die Sowjetunion gekommen waren, arbeiten. Der Film "Kämpfer" sollte das Paradestück werden. Von Gustav von Wangenheim realisiert, bringt er zwei Stränge zusammen: den realen Reichstagsbrandprozess gegen Georgi Dimitrow in Leipzig und einen fiktiven gegen Arbeiter in der deutschen Provinz, die beschuldigt werden, ihre Fabrik in Brand gesetzt zu haben. Doch fast alle deutschen Emigranten, die in dem Film mitwirken, werden während der Dreharbeiten verhaftet und verschwinden spurlos in Lagern. 1936 wird das Studio geschlossen. So endete dieses merkwürdige Konglomerat aus Kasse und Ideologie, Tradition und Experiment, Künstlertheater und Konstruktivismus, Revolutionsfilm und Unterhaltung, altem Russlandbild und proletarischem Internationalismus, Filme über die Welt und das Weltproletariat - aus der Isolierung von innen wie außen - entstehen sollten. Eine Vision von utopischer Kraft und erstaunlicher Blindheit zugleich.
Oksana Bulgakowa
Von großen Filmerfolgen, ideologischen Missverständnissen und von erstaunlicher Blindheit erzählt die Retrospektive der Berlinale: "Die Rote Traumfabrik".
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Sicherheit als Ware - taz.de
Sicherheit als Ware In Afghanistan und Irak sind die Militärfirmen noch überwiegend staatlich finanziert. Doch mit der neoliberalen Globalisierung erhöht sich die Zahl der privaten Auftraggeber Im Sinne neoliberaler Ideologie ist es konsequent, Sicherheit zu privatisierenUnsicherheit wird zum persönlichen Makel, der Staat wird aus der Haftung entlassen Die Ausbreitung privater Militärunternehmen ist die logische Weiterentwicklung des neoliberalen Abbaus von Staatlichkeit. In der Konsequenz bedeutet dies die Schaffung privat abgesicherter sozialer Räume. An die Stelle des Gemeinwesens tritt die Aufteilung in nützliche, privatwirtschaftlich gesicherte Sphären einerseits und überflüssige Räume andererseits. Setzt sich der Trend wie derzeit absehbar fort, werden die aktuellen Aufträge des Pentagons in Afghanistan und Irak im Rückblick einmal als bescheidene Anfänge einer dramatischen Entwicklung angesehen werden. Die private Sicherheitsindustrie wird in allen ihren Ausprägungen expandieren. Dabei ist das Outsourcing militärischer Aufgaben zunächst einmal nichts Neues. Auch während des Kalten Krieges waren auf westlicher Seite riesige Heere formell zivilen Personals im Einsatz. Diese Konstruktion diente dazu, der Hochrüstung ein niedrigeres politisches Profil zu verleihen. Im sowjetischen Machtbereich hingegen wurden alle militärischen Aufgaben, von der Küche bis zum Abort, von uniformiertem Personal ausgeführt. Neu ist, dass das zivile Personal zunehmend nicht mehr von den Streitkräften direkt angestellt wird, sondern umfassende Aufgabenpakete an Unternehmen vergeben werden. Zugleich hat sich das funktionale Spektrum der Aufträge bis in Bereiche Waffen tragender Funktionen verschoben. Auch militärisches Training wird an den privaten Sektor delegiert. Daher muss die Branche heute verstärkt Personen mit militärischer Expertise rekrutieren, also ausgeschiedene oder im aktiven Dienst anderer Staaten stehende Soldaten. Die privatwirtschaftlichen Unternehmen profitieren also von der Ausbildung, die zuvor aus Steuermitteln bezahlt wurde. Noch ist das staatsfinanzierte Segment der privaten Militärindustrie für die höchsten Wachstumsraten verantwortlich. Im Rahmen der zahlreichen militärischen Einsätze im Ausland hat der massive Einsatz vermeintlich zivilen Personals derzeit vor allem zwei Funktionen: Er verschleiert die tatsächliche Größenordnung des Engagements – was die politische Durchsetzbarkeit erleichtert, zugleich verdeckt er aber auch die – gemessen an den aufgewendeten Mitteln und beschäftigtem Personal – beschämend geringe Leistungsfähigkeit militärischer Organisationen. Ein Blick auf die Bundeswehr genügt: Schon bei rund 10.000 Personen im Auslandseinsatz gilt ihre Leistungsgrenze als erreicht – bei mehr als 300.000 Beschäftigten insgesamt. Die begrenzte Leistungsfähigkeit liegt zum einen am politischen Beharrungsvermögen obsoleter militärischer Strukturen, zum anderen an politisch dramatisierten neuen Anforderungen. Die mit tatsächlichen oder vermeintlichen neuen Bedrohungen legitimierten Einsätze haben zu militärischen Gesamtplanungen vor allem in den USA und Großbritannien geführt, die das Potenzial akzeptierter Erhöhungen der Militärausgaben deutlich übersteigen. Als Antwort auf die Logik neoliberaler Strategien, den Staat zu verschlanken, hat sich dabei auch auf militärischem Gebiet eine Vielzahl neuer haushaltstechnischer Verfahren durchgesetzt. So wird privates Kapital auch für militärische Beschaffung und für die weitestgehende Privatisierung früher als hoheitlich angesehener Aufgaben eingesetzt. Durch Konstruktionen der „Private Public Partnership“ verschafft sich das Militär raschen Zugriff auf neue Infrastrukturen und Ausrüstungsgüter – bis hin zu Waffensystemen. Der Effekt ist vor allem, dass die Finanzierung ähnlich wie beim Leasing oder Ratenkauf weit in die Zukunft gestreckt wird. Auch auf militärischem Gebiet stehen Dienstleister aller Art beim neoliberalen Staat Schlange und behaupten, alles besser und billiger erledigen zu können, was bislang den Streitkräften als hoheitliche Aufgabe vorbehalten ist. Entgegen kommt dieser Lobby, dass die Organisation von Streitkräften den Strukturen sowjetischer Planwirtschaft näher sind als modernen Unternehmen. Beim so genannten Kontraktpersonal der Sicherheitsindustrie in Afghanistan und Irak gilt es, zwei Typen von „Kontraktpersonal“ zu unterscheiden: Bei einem Teil des Personals handelt es sich um die Auslagerung militärischer Aufgaben. Die Beschäftigten sind zwar formell „Zivilisten“ und unterstehen deshalb auch nicht dem Kriegsvölkerrecht. Funktional sind diese Unternehmen aber eindeutig Teil der Interventionstruppen, ihre Rechnungen werden aus dem US-Staatshaushalt beglichen. Ein anderer Teil dieses Personals – und hier wird der neue Trend deutlich – steht unmittelbar im Sold privater Unternehmen, für die diese Sicherheitsmaßnahmen zum nüchternen Geschäftskalkül gehören. Im Kontext fortschreitender neoliberaler Globalisierung und der mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Fragmentierung deutet sich weltweit folglich eine Tendenz zu privater Sicherheitsvorsorge in Ergänzung zum öffentlichen Gut Sicherheit an. In immer mehr Räumen, in denen das Monopol legitimer Gewalt nicht wirksam ist, wird der Staat sogar vollständig von privaten Sicherheitsunternehmen ersetzt. Selbst im Irak, vermeintlich kontrolliert von der US-geführten militärischen Koalition, ist es ja bislang nicht gelungen, mit staatlich finanzierter Militärmacht die notwendigen Rahmenbedingungen für Kapitalanleger zu schaffen. Aus Sicht der dort und in vergleichbaren Umfeldern tätigen Unternehmen muss sich als Alternative anbieten, die für die Kapitalanlage notwendige Sicherheit gar nicht mehr wie bislang indirekt durch die Stärkung staatlicher Strukturen zu suchen. Stattdessen dürften diese Akteure verstärkt abwägen, ob die direkte, also eigenfinanzierte privatwirtschaftliche Schaffung sicherer Rahmenbedingungen mithilfe von Militärunternehmen für sie nicht bessere Ergebnisse erzielt. Schließlich waren Diktatoren und Warlords schon in der Vergangenheit zuallererst kostengünstige Geschäftspartner bei der Sicherung von Produktionsexklaven. Diese Perspektive hat also durchaus Vorläufer. Auch der Einsatz von Paramilitärs etwa in Kolumbien oder Todesschwadronen im Auftrag informeller Handelskammern in Zentralamerika spiegeln eine radikale Form der Privatisierung von selektiver Sicherheit längst wider. Mit dem Fortschreiten dieser Entwicklung verschwindet das öffentliche Gut Sicherheit zusehends und wird durch den Imperativ selektiver privater Sicherheitsvorsorge ersetzt. Exklaven privater Sicherheit durchdringen so moderne Gesellschaften und zerfallende Staaten. Im Sinne neoliberaler Ideologie ist dies konsequent: Es erscheint kostengünstiger, Sicherheit insgesamt zu privatisieren, also nicht nur staatliche Aufgaben an private Unternehmen zu vergeben, sondern Sicherheit insgesamt zu einem Problem der individuellen Lebensvorsorge zu machen. Der Staat wird zunehmend aus der Haftung entlassen. Sicherheit wird eine Ware, Unsicherheit zum persönlichen Makel. PETER LOCK
PETER LOCK
In Afghanistan und Irak sind die Militärfirmen noch überwiegend staatlich finanziert. Doch mit der neoliberalen Globalisierung erhöht sich die Zahl der privaten Auftraggeber
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Hilfe behindert - taz.de
Hilfe behindert ■ In Somalia wächst die Kritik der Hilfsorganisationen an der UNO Nairobi (taz) – Die angespannte Lage in Somalias Hauptstadt Mogadischu beeinträchtigt immer stärker die Arbeit der Hilfsorganisationen. Zwei – die irischen Organisationen Goal und Concern – haben ihr gesamtes Personal abziehen müssen, andere können kaum noch arbeiten. „Direkt vor dem Tor unseres Gebäudekomplexes wurde gekämpft“, sagt Jamie McGoldrick von der britischen Hilfsorganisation Save The Children. „Vier Tage lang konnten wir nicht auf die Straße. Eine Überwachung der Aktivitäten in Kliniken, Lebensmittelverteilungszentren und Flüchtlingslagern war nicht möglich.“ „Wir können in Mogadischu überhaupt nicht mehr planen“, ärgert sich auch Kevin Noone von Goal. Allerdings werde der Rest von Somalia währenddessen wiederaufgebaut. Insgesamt gibt es nur noch um die 50 ausländische Hilfsarbeiter in Mogadischu. McGoldrick äußert scharfe Kritik an der UNO. „Die Militäraktivitäten haben die humanitäre Arbeit an den Rand gedrängt. Die UNO macht sich die Somalis zu Feinden, und dadurch wird es später sehr schwer sein, neue Aktionen zu starten.“ Die UNO sei auch dafür verantwortlich, daß sich die Clans in Mogadischu wieder bekämpfen: „Die UNO treibt einen Keil zwischen die Clans, indem sie sich auf Aidid konzentriert. Andere Clans, die mit ihm verfeindet sind, profitieren von deren Schwächung und greifen an.“ Die UNO scheint auch unter Aidids Hauptrivalen in Mogadischu, dem Abgal-Clan, Unterstützung zu verlieren, glaubt ein Save- The-Children-Vertreter. „Die Abgal waren empört über das angebliche Abkommen zwischen den italienischen Soldaten und Aidids Leuten. Im Viertel Medina bewerfen Angehörige des Abgal-Clans jetzt die UNO mit Steinen.“ Einig sind sich die Hilfsorganisationen darin, daß Mogadischu jetzt ein gefährlicherer Ort ist als vor der Landung der ersten ausländischen Truppen im Dezember 1992, als Milizen über die Stadt herrschten. „Damals konnten wir zumindest mit unseren bewaffneten Leibwächtern auf die Straße gehen. Unsere somalischen Mitarbeiter konnten uns sagen, wo es gefährlich wurde. Nun können überall Kämpfe ausbrechen.“ David Neif, Somalia-Direktor von Care international, ist sich sicher: „Mit jedem getöteten somalischen Zivilisten werden Racheabsichten gegen zehn UNO-Soldaten geboren. Die UNO sollte Staatsmänner nach Somalia schicken, keine militärischen Betonköpfe.“ Sinikka Kahl
sinikka kahl
■ In Somalia wächst die Kritik der Hilfsorganisationen an der UNO
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Streit ums schwarze Gold - taz.de
Streit ums schwarze Gold ■ Einer der Hauptgründe für die erneute Spaltung des Landes sind Ölvorkommen Die Ölbarone Europas und der USA schauen mit Sorge auf den Jemen. Nachdem die Kämpfe eskalierten, stieg der Preis für das Barrel (= 159 l) Rohöl in London um 35 Cent. Dabei liegt Jemen auf der Liste der Ölexporteure am hinteren Ende: 335.000 Barrel täglich aus dem Wüstensand gepumptes Rohöl, von dem nur ein verschwindender Anteil für den Eigenbedarf genutzt wird, bringen den Staat auf Listenplatz 31. Aber ebenso wichtig wie erschlossene Ölfelder sind geortete und vermutete Vorkommen. Eines der größten Ölfelder des Landes liegt genau auf der Grenze zwischen dem ehemaligen Norden und dem Süden. Dort werden 1,4 Billionen Barrel Öl sowie bedeutende Erdgasvorkommen vermutet. Mit der Erschließung wurde erst nach der Einheit im Mai 1990 begonnen. Die Schürfrechte gingen an fünf namhafte Unternehmen aus den USA, der damaligen UdSSR, Frankreich und Kuwait. Das schwarze Gold ist auch einer der Hauptgründe für die erneute Spaltung des Landes. 140.000 Barrel Öl werden derzeit täglich im Süden gefördert. Das ist zwar etwas weniger als die Hälfte der Gesamtmenge, doch im Südteil des Landes lebt nur knapp ein Fünftel der JemenitInnen. In einem erneut geteilten Staat würden die Pro-Kopf-Einnahmen aus dem Öl im Süden erheblich höher liegen als im Norden. Im Süden werden derzeit die größten Ölmengen in der östlichen Provinz Hadramaut gefördert. Dort ist unter anderem der saudiarabische Konzern Nimr aktiv. Saudi-Arabien und die Bewohner Hadramauts verbinden jahrhundertealte kulturelle und wirtschaftliche Kontakte. Während die saudische Führung mit der Regierung in Sanaa im Clinch um die Grenze liegt, unterhält sie gute Kontakte nach Aden. Die von Sanaa in das Land geholten ausländischen Ölkonzerne waren dem Ölstaat Nummer eins am Golf stets ein Dorn im Auge. Und so scheute sich das saudische Königshaus nicht, sechs westliche Ölkonzerne davor zu warnen, im jemenitisch- saudischen Grenzgebiet aktiv zu werden. taud
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■ Einer der Hauptgründe für die erneute Spaltung des Landes sind Ölvorkommen
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Veteranin der türkischen Frauenbewegung: Auszeichnung für langen Kampf - taz.de
Veteranin der türkischen Frauenbewegung: Auszeichnung für langen Kampf Seit den 80ern setzt sich Cânân Arın für Frauenrechte ein. Dafür wird die Juristin mit dem Anne-Klein-Frauenpreis geehrt. Die türkische Juristin und Frauenrechtlerin Cânân Arın erhält den Anne-Klein-Frauenpreis 2021 Foto: Mareliber Caner Özkan/CC-BY-NC-ND 4.0 ISTANBUL taz | Cânân Arın ist so etwas wie die Veteranin der modernen türkischen Frauenbewegung – nicht so umstritten wie Alice Schwarzer in Deutschland, aber genauso wichtig in der Türkei. Am Donnerstag gab die Heinrich-Böll-Stiftung bekannt, dass die 1942 geborene Feministin den Anne-Klein-Frauenpreis 2021 zugesprochen bekommt. Das ist eine schöne Anerkennung für eine Frau, die seit den 80er Jahren zu den prägenden Figuren der türkischen Frauenbewegung gehört. Arın kommt aus einer kemalistischen Beamtenfamilie in Ankara, für die die Gleichberechtigung der Frau quasi zur Staatsdoktrin gehörte. Wie ihre beiden Brüder konnte sie studieren und promovierte in Jura und Politikwissenschaften in London. Danach kehrte sie in die Türkei zurück und gründete eine Anwaltskanzlei, die sich gezielt um Frauen kümmerte, die von ihren Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern unterdrückt wurden oder gar physischer Gewalt ausgesetzt waren. Aus diesen Erfahrungen heraus beteiligte sie sich Anfang der 80er Jahre an einer Initiative zur Gründung unabhängiger Frauenhäuser, in denen bedrohte Frauen Zuflucht suchen konnten. Nach Jahren des Kampfs um Geld und die rechtliche Anerkennung als Verein wurde 1990 das erste Frauenhaus der Stiftung Mor Çatı (Lila Dach) gegründet. Etliche weitere in anderen Städten folgten. Doch Arın gab sich nicht damit zufrieden. Knapp zehn Jahre später entstand auf ihre Initiative ein Zentrum für Frauenförderung innerhalb der Istanbuler Anwaltskammer, um Frauen gezielt in Studium und Beruf zu unterstützen. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits eine international anerkannte Expertin für Frauenrechte, die bei diversen Kommissionen der UNO und dem Europarat mitarbeitete. 2012 landete sie fast im Knast Anfangs unterstützte sie noch die neue islamisch-konservative Regierung der AKP und beteiligte sich an der Erarbeitung einer Strafrechtsreform, die unter anderem die Gleichberechtigung von Frauen bei Scheidungsverfahren zum Ziel hatte. Aber die Unterstützung wandelte sich schnell in massive Kritik, als klar wurde, dass deren starker Mann Recep Tayyip Erdoğan das Patriarchat für die einzig mögliche Gesellschaftsform hält. Während einer Kampagne gegen die Zulassung von Kinderbräuten landete sie 2012 fast im Knast, weil sie die Frau des Propheten Mohammed und die Ehefrau des damaligen Präsidenten Abdullah Gül als Beispiele angab. Beide waren mit 14 verheiratet worden. Doch Arın machte unverdrossen weiter. Sie beteiligte sich an der Organisation KaDer, die sich für mehr weibliche Abgeordnete im Parlament einsetzt. Zuletzt engagierte sie sich trotz ihres hohen Alters bei einer Kampagne, die verhindern will, dass die AKP aus der 2003 ratifizierten Istanbul-Konvention des Europarats austritt. In dem internationalen Vertrag sind Frauenrechte völkerrechtsverbindlich festgeschrieben. Bis heute hat sie sich trotz Rückschritten, wie etwa der steigenden Zahl von Feminiziden, nicht entmutigen lassen.
Jürgen Gottschlich
Seit den 80ern setzt sich Cânân Arın für Frauenrechte ein. Dafür wird die Juristin mit dem Anne-Klein-Frauenpreis geehrt.
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das wird: „Den Vorplatz kulturell bespielen“ - taz.de
das wird: „Den Vorplatz kulturell bespielen“ Umsonst und draußen: „Summerside“ zeigt Filme vor dem Bremer Hauptbahnhof Interview Wilfried Hippen taz: Herr Sifrin, zwei Wochen lang umsonst Filme vor dem Bremer Hauptbahnhof: Wie ist es dazu gekommen? Marc Sifrin: Es war eine Idee der Wirtschaftsförderung Bremen (WFB), den Bahnhofsvorplatz auch kulturell zu bespielen. Dort fand vor ein paar Wochen ein Beachvolleyball-Turnier statt und deshalb gibt es dort eine Spielfläche mit Sand, die man ja auch anders nutzen kann. Dort gab es zum Beispiel schon einen Beachclub mit Musik-Acts. Das Konzept besteht darin, eine Mischung aus klassischem Mainstream und Arthouse-Kino sowie am Nachmittag ein Kinderprogramm zu zeigen. Die WFB sind Hauptförderer beim Filmfest und da die sich mit Filmverleihen, Lizenzen und Kinotechnik nicht auskennen, organisieren wir die Veranstaltung. Einige Vorführungen wirken wie eine Open-Air-Fortsetzung Ihres Filmfests Bremen. Ja, wir beginnen am Montag mit dem Kurzfilmprogramm „Best of Filmfest“ und zeigen dann am Dienstag mit dem kirgisischen Spielfilm „The Scent of the Wormwood“ den Gewinner unseres diesjährigen Publikumspreises. Und weil Loriot bei uns posthum den Ehrenpreis bekommen hat, zeigen wir am Donnerstag seinen Spielfilm „Pappa ante portas“ Foto: Manja HermannMarc Sifrin 1976 geboren, war über 20 Jahre in den Bremer Filmkunst­theatern beschäftigt und absolvierte berufsbegleitend seinen Abschluss in Kulturmanagement. Er ist Festivalkoordinator beim Filmfest Bremen. Auch sonst sind viele Filme im Programm, die zum Teil in Bremen gedreht wurden, unter anderem „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ von An­dreas Dresen. Ja, und der war dann auch noch im letzten Jahr unser Eröffnungsfilm. Im Kinderprogramm und im Hauptprogramm werden viele Filme aus den 1980er-Jahren gezeigt. Hat das mit Ihrer eigenen Kinosozialisation zu tun? Open-Air-Kino „Summerside“: Mo, 17. 7., bis So, 30. 7., auf dem Vorplatz des Bremer Hauptbahnhofs, Infos und Programm: https://www.filmfestbremen.com/summerside-open-air-kino/ Ja, da spiegelt sich auch mein eigener Geschmack. Aber ich finde, diese Filme sind zeitlos. Sie dürfen den Zeichentrickfilm „Das Dschungelbuch“ zeigen, obwohl Disney es sonst ja nicht gestattet, dass deren Klassiker umsonst und draußen vorgeführt werden. Das war früher so. Da haben die ihre Filme nur selektiv zeigen lassen und zum Beispiel DVDs nur alle fünf Jahre neu aufgelegt. Aber ihre Politik hat sich geändert, seit Disney seine eigene Streaming-Plattform hat. Jetzt haben die einen eigenen Vertrieb und es ist nicht mehr schwer, deren Filme zu zeigen.
Wilfried Hippen
Umsonst und draußen: „Summerside“ zeigt Filme vor dem Bremer Hauptbahnhof
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Fashion Week in Berlin: Strumpfband und Ziegelstein - taz.de
Fashion Week in Berlin: Strumpfband und Ziegelstein Avantgarde, Idiotie und Baumarktcharme: Bei der „18. Mercedes-Benz Fashion Week“ zeigten Designer Entwürfe ihrer neuen Kollektionen. Esther Perbandt und Models bei der Fashion Week. Foto: dpa BERLIN taz | Eine einzige Fashion Week genügt, um den Unterschied zwischen Stilist und Fashion-Victim zu verstehen. Das Fashion-Victim, und da ist es wirklich egal, ob Mann oder Frau, zuppelt ständig an sich rum und wirkt fremd im eigenen Körper. Kein Fenster, keine Handykamera, keine Passantin, die nicht zur Bespiegelung herhalten muss. Und triebe es sich nicht auf Schauen herum, auf denen Fußballerfrauen in der Front Row sitzen, man könnte es auch lustig finden. Und wirkte seine ständige Überprüfung dessen, wie es im Raum steht und wer mit ihm im Raum ist, nicht gar so existenziell, es erschiene nicht so erbärmlich. Und dennoch sind sie irgendwie süß, die Victims, weil ihre Anstrengungen immer etwas mit der Idee, ein anderer zu sein als der, der man gerade ist, zu tun haben. Zudem ist die Vorstellung, dass irgendwer einfach nur Opfer von irgendwas ist, ohnehin total daneben. Aber so eine Fashion Week stimmt nicht gerade milde. Bedeutend ist sie nicht, die Berliner Mercedes-Benz Fashion Week, aber es gibt immer wieder Newcomer zu entdecken, was wiederum zu Berlin passt. Weil viele talentierte Designerinnen oft wieder in der Versenkung verschwanden, haben zwölf Branchenexpertinnen und -experten um Vogue-Chefredakteurin Christiane Arp vor einem Jahr den Fashion Council Germany gegründet, um Lobbypolitik für junge Talente zu betreiben. Nobieh Talaei, eine der ersten zwei Mentees des Councils, war mit ihren Entwürfen, in denen sie Minimalistisches mit Folkloreelementen kombiniert, der Shootingstar dieser Fashion Week. Weich fließende Stoffe kombinierte sie mit schweren Materialien in Schwarz, Weiß und Offwhite. Keine Newcomerin mehr, sehr talentiert und charmant ist die Berlinerin Esther Perbandt, die seit 2004 stringent Avantgardemode macht und deren androgyne, monochrome und manchmal uniformhafte Entwürfe an den Japaner Yoji Yamamoto und die großen belgischen Avantgardedesigner um Ann Demeulemeester und Martin Margiela erinnern. Damit ist Perbandt fast schon wieder traditionelle Avantgarde. Dekonstruktion des Runway? Perbandt zeigte ihre Entwürfe im Radialsystem, vier Tänzer der Sasha-Waltz-Kompanie tanzten zu wummernden Bässen, die gegen sphärische Klänge ankämpften. Ihre Models liefen rechts und links der Publikumstribüne die Treppen hinauf, um auf dem eigentlichen mittigen Runway dem Publikum den Rücken zuzukehren. War das schon die Dekonstruktion des Runways selbst? Oder sollten die spektakulären Rückenansichten der Entwürfe zur Geltung gebracht werden, wenn von Stoffteilen umflatterte Hosenröcke von hinten einsehbar waren und Harnesses, Bänder sich am Rücken kreuzten? Perbandt ist der coole Underground zur Fashion-Idiotie. Bei ihren Schauen sitzen Berghain-Türsteher Sven Marquardt und Veruschka Gräfin von Lehndorff in der ersten Reihe. Die Models, einige sind um die 50, 60 Jahre alt, sehen nicht einfach gut aus - diese Vorstellung kommt einem plötzlich total langweilig vor –, nein, sie strahlen. Der Schauspieler Alexander Scheer läuft regelmäßig für Perbandt und flachste rum. Schauspieler Sabin Tambrea gab in einem Karomantel mit unvernähten Nähten den perfekten Dandy. Die Kniestrümpfe mit Strumpfhaltern, die Perbandt an Frauen wie Männern zeigte, sind sensationell. Weich fließende Stoffe kombinierte sie mit schweren Materialien in Schwarz, Weiß und Offwhite. Perbandt selbst sah mit ihrer Kappe und den flachen Lackschuhen wieder aus wie die Mischung aus einem Zinnsoldaten und einem General Officer aus „Star Wars“. Im Baumarkt Johanna Perret und Tutia Schaad, die seit 2009 zusammen Perret Schaad sind und bei Givenchy in Paris gelernt haben, hatten den wohl originellsten Runway dieser Modewoche. Sie luden in den Baumarkt Hellweg an der Yorckstraße ein. Karl Lagerfeld fiel einem ein, der für Chanel im Herbst/Winter 2014/15 seine Models in einem Supermarkt einkaufend inszenierte, die Modewelt fand das damals ganz aufregend. Aber Perret Schaad inszenierten ihre Models nicht im Raum, sondern improvisierten zwischen Ziegelsteinen, Infodesk und Bierbänken einen Laufsteg. Die Models kamen unterm Rolltor hervor und zeigten klare Silhouetten in aufregenden Farb- und Materialkombinationen: tannengrünes Wollgeorgette mit pastelligem Crepe de Chine, raschelndes Gold oder flauschiges Angora mit metallischen Highlights. Ein Baumarktmitarbeiter, bei Hellweg heißen sie Ideengeber, bestätigte, dass vor allem Frauen gern im Baumarkt einkaufen und fand‘sgut, an diesem Tag mal ganz andere Leute zu sehen. „Nach so vielen Jahren hier kennste halt jeden Schwanz.“ Und dass die Besucher an diesem Tag mal im weißen Fake-Fur-Mantel in den Markt kamen, war dann eben doch allein der Fashion Week zu verdanken.
Tania Martini
Avantgarde, Idiotie und Baumarktcharme: Bei der „18. Mercedes-Benz Fashion Week“ zeigten Designer Entwürfe ihrer neuen Kollektionen.
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23.000 mal Kompost-Rabatt - taz.de
23.000 mal Kompost-Rabatt ■ Wurm-Anmeldefrist abgelaufen 23.000 mal Kompost-Rabatt Wurm-Anmeldefrist abgelaufen Die Frist ist abgelaufen: Wer seinen Komposthaufen im Haus- oder Schrebergarten immer noch nicht bei den Bremer Entsorgungsbetrieben (BEB) angemeldet hat, muß weiterhin die volle Müllgebühr bezahlen. Auch NeubremerInnen mit Kompostplatz zum Beispiel haben ab jetzt keine Chance mehr, in den Kompostier- Rabatt-Genuß zu kommen: „Es gibt eben immer Menschen, die aus administrativen Regeln rausfallen“, heißt es von Seiten der BEB. Die BEB können den Stichtag 1. April von sich aus nicht ändern, selbst wenn sie wollten: Der ist durch das Ortsgesetz besiegelt. Die Politik wird auch entscheiden, ob die KompostiererInnen im nächsten Jahr wieder einen Bonus bekommen. Der Rabatt für den wurmstichigen Haufen Kompost im eigenen Garten beträgt immerhin 20 Mark pro Haushalt und 10 Mark extra pro Kopf — im Jahr, versteht sich. „Wer kein Abfallbewußtsein hat, fängt bei diesen geringen Beträgen ohnehin nicht mit dem Kompostieren an“, da ist sich der BEB-Mitarbeiter Alexander Vedder sicher. Nachschlag nur für MieterInnen der Wohnungsbaugesellschaften Immerhin 23.000 Anträge sind bisher bei den Entsorgungsbetrieben eingegangen. Hochgerechnet kompostieren damit rund 57.000 BürgerInnen ihren organischen Abfall. Die MieterInnen der Wohnungsbaugesellschaften sind darin noch gar nicht enthalten, denn für sie gibt es eine Sonderregelung: Um den Vorwurf zu entkräften, die Kompostpauschale sei nur „von Eigenheimern für Eigenheimer“ gemacht, wurde die Einreichungsfrist für MieterInnen der Baugesellschaften bis zum 19. April verlängert. Viele Anträge werden von dort aber nicht erwartet. Günter Wiegand, Mitarbeiter der GEWOBA, spricht von rund 500 Anträgen, die bisher gestellt wurden. Er ist sicher: „Viele stellen den Antrag nicht, obwohl sie berechtigt wären.“ ede
ede
■ Wurm-Anmeldefrist abgelaufen
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Besuch auf Karls Erdbeerhof: Im Herz der Erdbeernis - taz.de
Besuch auf Karls Erdbeerhof: Im Herz der Erdbeernis Früher haben hier sowjetische Soldaten geschossen, heute verkauft Karls Erdbeerhof alles, wo die rote Frucht drin, dran oder drauf ist. Alle so schön rot hier: Karls Erdbeerhof Foto: Fabian Stark In meinem Rucksack stecken eine aufgeschnittene Wassermelone, acht Bananenbrote, vier Liter Isostar, sechs Ibuprofen 400, Feuchttücher, Desinfektionsmittel, Spreequell ACE und eine Eierschrippe von Backwerk. Eben das, was man stets auf Vorrat hat für einen Ausflug ins Erdbeer-Erlebnis-Dorf. Wir fahren im RE 4 nach Elstal – zehn Kilometer westlich von Berlin steht einer der fünf Vergnügungsparks von Karls, dem Erdbeer-Tycoon. Hier dreht sich alles um die Sammelnussfrucht. Meine Freundin Kati wäre heute mit Putzen dran gewesen, doch auf Tiktok springt ihr der „Löffel-Jet“ ins Auge: ein Karussell im Wasser. Familien kreisen in riesigen Löffeln um ein Marmeladenglas. Kati ist komplett geflasht und kommt mit. „Meinst du, die haben Bratwurst im Erdbeerdorf?“, fragt sie. Da fällt es uns wie Eicheln von den Eichen: Wir reisen in das Herz des deutschen Erdbeertraums. 1921 gründet Karl Dahl einen Gemüsehof bei Rostock. Mit einem Pferdekarren soll er damals seine Waren in die Stadt gebracht haben. Nach dem Krieg geht es mit der Familie nach Holstein, in die Nähe der Schwartauer Marmeladenfabrik, und Dahl sattelt komplett auf Erdbeeren um – 200 Jahre nachdem die heute verbreitete Fragaria ananassa in der Bretagne gekreuzt worden sein soll. Drei Generationen Dahl leben das deutsche Erdbeerwunder. Doch mit der Wende kommen günstigere Erdbeeren aus Polen. Am Bahnhof Elstal fährt ein Bus zur Endstation Erlebnisdorf. Der Bus ist voll mit Grundschulkindern, ihren Eltern und Geschwistern. Es ist jetzt schon eine soziale Utopie. Unfassbare Lebensbejahung Der Park sieht aus, als habe hier seit der Feudalzeit ein Bauernhof gestanden. Hat er nicht. Wo heute Erlebnisdorf ist, stand einst der erste deutsche Militärflughafen, gebaut in der Kaiserzeit. Später erzählt mir Robert Dahl, der Enkel von Karl, das Gelände sei ihm schon als Kind aufgefallen, als er im Transitbus nach Westberlin fuhr. Da robbten Sowjets umher und er habe große Augen gemacht. Heute ist Robert Dahl, 51 Jahre, der Chef des Erdbeerreichs. Trotz Stacheldraht drumrum umweht das Dorf eine unfassbare Lebensbejahung, sie riecht nach Brause. Ein Herr steigt von seiner Harley und kämmt sich noch einmal die Haare im Rückspiegel seiner Maschine. Mit Kinderwägen in den Hacken dackeln wir durch die Drehtür. Ein Fegefeuer des Merchandising erleuchtet die Halle: Erdbeerkerzen, -kuscheltiere, -brote, -gummibärchen, -radler, -ohrringe, -hundekekse. Erdbeeren X everything. Allem Trubel zum Trotz kicken die Oma-Vibes. Denn unterm Dachgiebel weilen 8.000 Kaffeekannen, in zwanzigstöckigen Regalen, gleich, wohin wir sehen. Laut „Guinnessbuch der Rekorde“ lagert in den Erdbeerdörfern zusammen die größte Kaffeekannensammlung der Welt, crowdgesourct von Karls’ Kundschaft, abzugeben sind die Kannen am Infostand. „Beerchen-Schleuder“, „Fliegende Kaffeetafel“, „Saftpresse“: Erste Fahrgeschäfte kreisen bereits im Hofladen. „Wie krass kann man das Konzept Erdbeere aufblasen?“, frage ich Kati. Ich erinnere mich an die Karls-Story im Internet. Da ist erzählt: Die initiale Luftpumpe kam aus Wimbledon. Dort ist Roberts Schwester Ulrike Dahl zum Schüleraustausch, kurz nach der Wende, als die Alman-Erdbeere Konkurrenz aus Polen bekommt. Ulrike Dahl sieht eine Erdbeerbude – selbst im Look einer Erdbeere. Bald baut ein Schiffsbauer für Karls die ersten Riesenerdbeeren mit Theke. Der Erdbeertraum wird zum Ding, an Straßenrändern und in U-Bahn-Stationen zwischen Ostsee und Leipzig. Vor den Toiletten der Verkaufshalle schlurft nun ein Papa umher und imitiert Furzgeräusche. Um seinen Hals hängt eine Jahreskarte von Karls. Raus hier. Im Freien thront eine Erdbeere über uns, groß wie eine Raumkapsel, sie hat einen Mund, grinst uns mit der unteren Zahnreihe an. Auweh, sie blickt gar auf uns herunter mit smaragdgrünen Augen und Brauen lang wie Kochlöffel. Die Erdbeere zwinkert uns zu. Wir senken den Kopf und überblicken die Situation wieder: Die Frucht sitzt auf einem Monitor. Auf dem erzählt Robert Dahl, graue Weste, Goldring, stone­washed Jeans, von einer großen Unzufriedenheit. Dahl blickt zurück ins Jahr 2010, da steht neben dem Ur-Erdbeerhof samt Laden bei Rostock schon ein Spielplatz, und Karls Erdbeeren landen in deutschen Schleckermäulchen, also da, wo sie hingehören. Doch an den Jahren des Erfolgs haftet eine Sinnkrise: Wofür steht Karls? Und damit die Erdbeere an und für sich? Der Misere begegnet Dahl gemeinsam mit Frau, Schwester und Notizbuch. In dem landen 80 Adjektive, es bleiben 6, der Unternehmer zählt sie an seinen Fingern auf. „Authentisch“ ist ihm das wichtigste: „Zum Beispiel können wir statt in Palmöl in Rapsöl frittieren. Das ist wiederum authentisch, wir brauchen kein Palmöl!“ Und überall nur Erdbeeren Foto: Fabian Stark Design Thinking tut den Rest – seitdem ist die authentisch augenzwinkernde Erdbeere auf Robert Dahls Schultern offenbar seine Muse. Lila Leuchtgummibälle fliegen aus dem Karls-Shop, dafür ist nun ganz viel Rummel und Manufaktur – fünf Dörfer gibt es bisher, alle im Nordosten Deutschlands, weitere werden dazukommen. Etwa drei Viertel des Geschäfts machen die Erdbeerdörfer mittlerweile aus, sagt Karls-Chef Dahl am Handy, bleibt ein Viertel für die Erdbeeren selbst. Ich bestelle „Erdbeer-Ische“. Sie heißt wirklich so: Eine Bratwurst mit Erdbeerpüree drin, sie trägt die Farbe eines heftigen Sonnenbrands Von der verführerischen Blinzel-Erdbeere blicke ich nach links. Menschen strecken ihre Arme über einen Grill. In ihren Händen: ein Stock. Am Stock: Brotteig. An den Stöcken der Kinder: Marshmallows. Woher nur? Mein Blick wandert zu einer Hütte, eine Tafel bepreist die Speisestöcke auf zwei Euro. Oh, es gibt Bratwürste. Klarer Fall. Kati wählt normal, ich bestelle „Erdbeer-Ische“. Sie heißt wirklich so: Eine Bratwurst mit Erdbeerpüree drin, sie trägt die Farbe eines heftigen Sonnenbrands. Ich tauche sie in Erdbeer-Senfsoße, deren Süße sagt der Zunge Hallo, dann beißt die Senfschärfe, schließlich wabert ein lieblicher Brei von Schwein und Erdbeer im Mund; nun ja, spannend, denke ich. Kati probiert und sagt: „Ätzend.“ Vor unserer Rückfahrt will ich unbedingt den Erdbeer-Drop fahren: Ein rotes Bötchen schlittert über eine Rampe und platscht in einen Teich. Der „Drop“ kostet zwei Erlebnistaler, die Karls-eigene Währung mit dem eingeprägten Erdbär-Maskottchen. In der Erdbeer-Drop-Schlange fragt ein Mädchen ihren Vater: „Wie viel Frauen hast du schon enttäuscht?“ Er antwortet: „Das musst du sie selbst fragen.“ Zwanzig Minuten später werfe ich die Taler in einen Schacht, ziehe zweimal am Seil und werde hochgezogen. Oben ein kurzer Ruck, Beschleunigung, die Schanze hoch und da bin ich: schwerelos über einem Bassin, in der Luft das ewig pfeifende Lied aus den Lautsprechern des Parks, rechts von mir gleiten Löffel um ein Marmeladenglas, in der Systemgastronomie links schwitzen Kartoffeln in Rapsöl. All das dauert das Augenzwinkern einer Riesenerdbeere, da macht es Platsch. Der pure Spaß. Das Seil zieht mich zurück zur Basis, ich lasse meine Hand neben dem Boot ins Wasser fallen. Es ist glitschig, grün, authentisch. Kati und ich verlassen das Erdbeerdorf. Wir haben keine Erdbeere gegessen.
Fabian Stark
Früher haben hier sowjetische Soldaten geschossen, heute verkauft Karls Erdbeerhof alles, wo die rote Frucht drin, dran oder drauf ist.
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Gewalttätiger Wahlkampf in Sri Lanka - taz.de
Gewalttätiger Wahlkampf in Sri Lanka Nach 17 Jahren muß die zerstrittene Regierungspartei fürchten, im August abgewählt zu werden / Ex-Premierministerin Bandaranaike und ihre Tochter auf dem Vormarsch  ■ Von R. Cheran und Walter Keller Als der amtierende Präsident D. B. Wijetunga Ende Juni das Parlament auflöste und vorgezogene Wahlen für den 16. August ankündigte, war nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch das Kabinett völlig überrascht. Die seit siebzehn Jahren regierende United-National-Partei ist völlig zerstritten, und der Schachzug des Staatschefs zwingt die verschiedenen Fraktionen plötzlich zur Zusammenarbeit, wenn die UNP an der Macht bleiben will. Seitdem der Wahltermin feststeht, kommt es täglich in zahlreichen Landesteilen zu Auseinandersetzungen zwischen Unterstützern der miteinander konkurrierenden Parteien. Die Polizei zählte bereits über eintausend Vorfälle, wobei zahlreiche Menschen den Tod fanden. In zwei Häusern Colombos und einem Lieferwagen fand die Polizei außerdem 700 Kilogramm Sprengstoff, die nach Angaben der Polizei von sechs in die Hauptstadt eingedrungenen Selbstmordkommandos der tamilischen LTTE – genannt „Black Tiger“ – für Terrorakte genutzt werden sollten. Daraufhin wurden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, unter denen vor allem wieder die schätzungsweise 100.000 Tamilen leiden, die in den vergangenen Jahren auf der Flucht vor militärischen Auseinandersetzungen im Nordosten des Landes nach Colombo geflüchtet sind. Hunderte, die der Polizei „keine zufriedenstellende Erklärung für ihren Aufenthalt in Colombo“ – so der offizielle Sprachgebrauch – geben konnten, wurden allein während der vergangenen Wochen wieder verhaftet – die meisten allerdings „nur“ für kurze Zeit. Das politische Spektrum ist derzeit recht unübersichtlich: 1.395 Männer und nur 45 Frauen aus dreizehn politischen Parteien sowie 26 unabhängigen Gruppierungen konkurrieren um die 196 gewählten Parlamentssitze in den 22 Distrikten des Landes. Hinzu kommen noch einmal 29 Sitze, die über Landesplätze abgesichert werden. Die größte Herausforderung für die Regierungspartei stellt die oppositionelle „Sri Lanka Freedom Party“ (SLFP) unter Ex-Premierministerin Sirimavo Bandaranaike dar. Sie hat am Mittwoch die Tochter der 78jährigen Politikerin, Chandrika Kumaranatunga, zu ihrer Premierministerkandidatin gekürt. Die SLFP ist stärkste Partei innerhalb eines Elf-Parteien- Bündnisses (People's Alliance, PA). Selbst auf der militärisch umkämpften Jaffna-Halbinsel soll gewählt werden – obwohl dort ohne die Zustimmung der tamilischen Guerillaorganisation LTTE nichts geht. Offiziell sind die „Tiger“ strikt gegen Wahlen in den von ihnen kontrollierten Gebieten; sie haben allerdings bisher die Wahlvorbereitungen noch nicht durch militante Aktionen gestört. Im von der Armee kontrollierten Gebiet auf der Jaffna-Halbinsel sowie auf einigen Jaffna vorgelagerten Inseln hatte die Regierung eigens Büros eingerichtet, in denen sich Kandidaten für die Wahlen im Jaffna-Distrikt registrieren lassen konnten. Die dort für zahlreiche tamilische Parteien – die alle in Konkurrenz zur LTTE stehen und deshalb vorwiegend mit der Regierung zusammenarbeiten – kandidierenden Personen wurden zur Registrierung mit Armeeflugzeugen eingeflogen. Menschenrechtsgruppen haben die Entscheidung der Regierung kritisiert, Wahlen auch in den umkämpften Landesteilen abzuhalten. Der nördliche Jaffna-Distrikt wird nur zu höchstens zwanzig Prozent von den srilankischen Streitkräften kontrolliert. Insgesamt leben derzeit schätzungsweise 600.000 Menschen auf der Jaffna- Halbinsel; in dem von den Regierungstruppen gehaltenen Gebiet sind es allerdings nur etwa 7.000. Dies würde bedeuten, daß nur 7.000 Einwohner über die 13 Sitze im Parlament entscheiden könnten, die insgesamt für den äußersten Norden Sri Lankas vorgesehen sind. In Colombo stellt sich unter Führung von Kumar Ponnapalam erstmals eine unabhängige tamilische Gruppierung zur Wahl, die überwiegend aus Intellektuellen, pensionierten Richtern, Lehrern und Beamten sowie Schriftstellern besteht. Die Gruppe fordert die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten in den Nordostgebieten und verlangt eine stärkere Beteiligung von Tamilen an der Regierungspolitik. Damit wirbt zum ersten Mal in Colombo eine tamilische Gruppe offen um die Stimmen der schätzungsweise 175.000 tamilischen Wähler, die bisher überwiegend für die regierende UNP gestimmt hatten. Siebzehn Jahre freie Marktwirtschaft haben auch im Wahlkampf ihre Spuren hinterlassen: Alle Parteien werben mit Hilfe der großen kommerziellen Werbeagenturen, die Zeitungen sind voller mehr oder weniger anspruchsvoller Wahlwerbung, die fünf privaten Fernsehsender verkaufen Sendezeit für Wahlspots, und auch das staatliche Fernsehen „Rupavahini“ bietet allen Parteien Sendezeit an. Während früher die Kandidaten auf Wahlplakaten meist nur im weißen „National Dress“ aus Baumwolle zu sehen waren, zeigt sich derzeit Premierminister Ranil Wickramasinghe, dessen Wahlkampf von der Werbeagentur, die auch für US-Präsident Clinton arbeitet, fast „yuppiehaft“ auf Wahlplakaten der UNP in Jeans. Inhaltlich unterscheiden sich die Wahlprogramme von UNP und PA nur marginal. Beide Gruppen versprechen Unterstützung der Armen und Arbeitslosen. Während die PA bei einem Wahlsieg ein Ende des Bürgerkriegs und sofortige Verhandlungen ohne Vorbedingungen mit der LTTE verspricht, verkündet die UNP die militärische Zerschlagung der „Tiger“ für den Fall, daß die tamilischen Rebellen nicht an den Verhandlungstisch zurückkehren – warum sie dies bis jetzt nicht getan hat, bleibt das Geheimnis der Regierungspartei. Sollte es im August wirklich zum Sturz der Regierungspartei kommen, so sähe sich Präsident Wijetunga bis zu den Präsidentschaftswahlen im Dezember in einer äußerst schwierigen Position, müßte er doch unter einer von der SLFP geführten Regierung sein Exekutivamt ausführen.
r. cheran / walter keller
Nach 17 Jahren muß die zerstrittene Regierungspartei fürchten, im August abgewählt zu werden / Ex-Premierministerin Bandaranaike und ihre Tochter auf dem Vormarsch  ■ Von R. Cheran und Walter Keller
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Stellenabbau bei Siemens Energy: Auf Schrumpfkurs - taz.de
Stellenabbau bei Siemens Energy: Auf Schrumpfkurs Das Unternehmen will weltweit 7.800 Jobs, also jede zwölfte Stelle, abbauen. Vor allem in der fossilen Sparte Gas and Power fallen Arbeitsplätze weg. Die Energiesparte von Siemens ist seit September 2020 an der Frankfurter Börse notiert Foto: reuters MÜNCHEN dpa | Siemens Energy will weltweit 7.800 Stellen abbauen – 3.000 davon in Deutschland. Bis 2025 könnte damit jeder zwölfte Job in dem vergangenes Jahr von Siemens an die Börse gebrachten Unternehmen wegfallen. Betroffen ist die Sparte Gas and Power, wie Siemens Energy am Dienstag bei der Vorlage der Ergebnisse für das erste Geschäftsquartal erklärte. Die Zahlen fielen dabei gut aus: Von Oktober bis Dezember verdiente das Unternehmen unter dem Strich 99 Millionen Euro und kehrte damit in die Gewinnzone zurück. Im vergangenen Geschäftsjahr hatte Energy noch einen Milliardenverlust gemacht. „Der Energiemarkt verändert sich rasant. Das bietet uns Chancen, stellt uns aber gleichzeitig vor große Herausforderungen“, sagte der Vorstandsvorsitzende Christian Bruch. Mit dem Sparprogramm will er die Wettbewerbsfähigkeit steigern. „Wir sind uns bewusst, dass unsere Pläne Teilen der Belegschaft viel abverlangen. Daher ist es unser Ziel, diese Maßnahmen so sozialverträglich wie möglich durchzuführen.“ Zudem sollen keine ganzen Standorte geschlossen werden. Sitz des Unternehmens ist München, das Hauptquartier soll in Berlin angesiedelt werden. Erst vor wenigen Tagen hatte Siemens Energy mit den Arbeitnehmervertretern eine Vereinbarung zum Umbau des Unternehmens geschlossen, die unter anderem vorsieht, möglichst ohne Kündigungen auszukommen. Zahlen hatte das Unternehmen damals aber noch nicht genannt. IG Metall-Hauptkassierer Jürgen Kerner sagte, er erwarte, „dass wir die geplanten Restrukturierungsmaßnahmen im Sinne der Beschäftigten und einer nachhaltigen Zukunftsperspektive ohne Kündigungen gestalten“. Die Zukunftsvereibarung sei „eine solide Grundlage für die Transformation von Siemens Energy in Deutschland“. Dass die Geschäfte im ersten Quartal gut liefen, ändere nichts an der Notwendigkeit des Umbaus, hieß es von Siemens Energy. Das Ergebnis wurde zum einen von operativen Verbesserungen bei Gas and Power und der Windkrafttochter Siemens Gamesa getragen. Zum anderen halfen Sondereffekte: So sparte das Unternehmen durch Homeoffice und wegfallende Dienstreisen in der Coronapandemie.
taz. die tageszeitung
Das Unternehmen will weltweit 7.800 Jobs, also jede zwölfte Stelle, abbauen. Vor allem in der fossilen Sparte Gas and Power fallen Arbeitsplätze weg.
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Neue Studie zur Verteilung von Reichtum: Acht Männer reicher als halbe Welt - taz.de
Neue Studie zur Verteilung von Reichtum: Acht Männer reicher als halbe Welt Eine Oxfam-Studie zeigt: Die acht reichsten Milliardäre besitzen mehr Kapital, als der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zur Verfügung steht. Stärkt die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen nationalistische Tendenzen? Foto: dpa DAVOS taz | Was bedeutet es für Gesellschaften, wenn wenige Bürger weit mehr besitzen als die Hälfte der Bevölkerung? Das fragt die Entwicklungsorganisation Oxfam in der neuen Studie „Eine Wirtschaft für 99 Prozent“. Demnach haben weltweit die acht reichsten Milliardäre inzwischen mehr Kapital angehäuft, als den ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung zur Verfügung steht. Die große Mehrheit – die „99 Prozent“ – erleide dadurch massive Nachteile. Oxfam veröffentlicht den Bericht anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos. Dort wird unter anderem diskutiert, ob die zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen den Aufstieg des neuen Nationalismus begünstigt. Manche Manager befürchten, dass zu große Ungerechtigkeit Wähler zu Politikern wie Donald Trump oder den Befürwortern des britischen EU-Austritts treiben. Im Vergleich zur entsprechenden Studie 2016 ist die Polarisierung heute noch stärker. Damals besaßen laut Oxfam an 62 Milliardäre so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Die Berechnungen basieren unter anderem auf weltweiten Vermögensdaten der Bank Credit Suisse. Demnach besaßen die acht reichsten Männer der Welt 2016 zusammen knapp 400 Milliarden Euro – darunter die US-Unternehmer Bill ­Gates (Microsoft), Warren Buffett (Berkshire Hathaway), Jeff Bezos (Amazon) und Marc Zuckerberg (Facebook). Nachteilige Folgen der Entwicklung In Deutschland besitzen 36 Milliardäre so viel wie die ärmere Hälfte der Bundesbevölkerung. An der Spitze stehen Mitglieder der Familie Albrecht (Aldi), Susanne Klatten (BMW) und Georg Schaeffler. Insgesamt liege etwa 90 Prozent des Weltvermögens in den Händen von 10 Prozent der Bevölkerung. Diese Entwicklung hat laut Oxfam drei nachteilige Folgen: Einmal könnten sich die Superreichen zunehmenden politischen Einfluss auch auf demokratisch gewählte Regierungen kaufen. Zweitens „fühlen sich immer mehr Menschen abgehängt“, so Jörn Kalinski, Kampagnenleiter von Oxfam Deutschland. Das Gefühl der Ungerechtigkeit „untergräbt den Glauben an die Demokratie“. Drittens fehle das Geld, das die Superreichen bunkern, bei öffentlichen Aufgaben wie dem Bau oder der Renovierung von Schulen. Steueroasen schließen, höhere Abgaben für Reiche Oxfam fordert deshalb Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene, um an einen Teil der gehorteten ­Vermögen heranzukommen. Steueroasen sollen geschlossen, internationale Mindeststeuersätze für Konzerne und höhere Steuern für Reiche eingeführt werden. In den vergangenen Jahren gab es Versuche in diese Richtung. Die Industrieländer-Organisation OECD verstärkte ihre Aktivitäten gegen Steuerparadiese, die EU arbeitet an gemeinsamen Steuerregeln für Konzerne. Unter anderem aufgrund des anstehenden Brexit könnten solche Maßnahmen aber schwer durchzusetzen sein. Die britische Regierung hat schon durchblicken lassen, dass sie die Steuern für Unternehmen eher senken als anheben will.
Hannes Koch
Eine Oxfam-Studie zeigt: Die acht reichsten Milliardäre besitzen mehr Kapital, als der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zur Verfügung steht.
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Kolumne Landmänner: Zwanzig Jahre Achtziger - taz.de
Kolumne Landmänner: Zwanzig Jahre Achtziger Wenn die eigene Jugend im deutschen historischen Museum archiviert wird, hat man es geschafft und kann sich entspannen. Muss es denn wirklich sein, dass er heute schon wieder diese Achtziger-Lederjacke trägt. Wie oft schon habe ich im Lauf unserer Beziehung versucht, meinen Mann davon zu überzeugen, dass diese auf Taille geschnittene, extrem kurze schwarze Lederjacke mit der ausladenden Schulterpartie nun wirklich gar nicht geht. Als ich mir irgendwann gar keinen Rat mehr wusste, wurde ich sogar brutal: "Sie macht dich alt", habe ich gesagt. Da er runde zehn Jahre älter ist als ich, hatte das ganz schön gesessen. Nicht so, dass er die Jacke danach zur Altkleidersammlung gegeben hätte, aber immerhin so, dass es mir danach leidtat. Als wir uns kennen lernten, lag die Berliner Mauer schon ein paar Jährchen in Schutt und Asche. Ich war seinerzeit einer von denen, die mit schuld daran sind, dass aus dem Prenzlauer Berg wurde, was er heute ist - also ein jungscher Wessi aus der Provinz, der im wilden Osten Szene spielt und überzeugt ist, mit regelmäßigem Drogenkonsum und dem Tragen von Second-Hand-Stoffhosen gerade das Rad neu zu erfinden. Und er war jemand von denen, die daran schuld waren, dass der Prenzlauer Berg so interessant für uns war - also ein in den Achtzigern knalljungscher Ossi, der in der Kunst-, Schwulen-, Dissidentenszene unterwegs war und in Ost-Berlin versucht hatte, es mit einem anderen Rad als dem staatlich vorgegebenem zu versuchen. Was mit dem angeblich ganz neuen Rad der Wessis im Prenzlauer Berg geworden ist, weiß man ja nun hinlänglich. Aber sein anderes Rad ist es immerhin wert, im Deutschen Historischen Museum aufbewahrt zu werden - und auf Arte zu bewundern. Als ich am Sonntag vom Lande in die Stadtwohnung zurückgekehrt war, klingelte das Telefon: "Schalt mal schnell den Fernseher ein." Ich antwortete: "Aber nicht, dass ich dir schon wieder beim Onanieren zusehen muss" - er hatte seinerzeit mal als Darsteller bei einem Kunstprojekt mitgewirkt, dass erst Jahre später den Weg ins Fernsehen gefunden hatte, natürlich bei Arte, und mir war fast das Brötchen aus dem Gesicht gefallen. Doch dieses Mal handelte es sich um einen allgemeinen Film über die Ost-Subkultur der Achtziger: "Guck dir das mal an, so war das damals, und die Leute, die da gezeigt werden, kenne ich fast all"e. Ich glaubte ihm sofort, denn sie hatten auch Achtziger-Lederjacken an. Mein Mann gehört nun zu jenen Ost-Subkulturpflanzen, die ihr Glück eher auf dem Land suchen, dort ihr Ding durchziehen. Besser im Umland von Berlin als in irgendeinem Ashram, denn sonst hätten wir uns ja nicht kennen gelernt. Den Prenzlauer Berg haben wir beide verlassen - ich finde ihn mittlerweile doof, mein Mann jedoch freut sich, dass er heute so voller Leben ist. Alles bunt. Junge Menschen. Vielleicht hat er ja Recht. Vorbei ist vorbei. Er ist entspannt, bei sich, ganz ohne Schaum vor dem Mund. Doch leider treiben sich genau diese jetzt in meinem von Gentrifzierung bedrohten Viertel "Kreuzkölln" rum. Trinken überall laktosefreien Milchkaffee, quaken rum und blockieren die Bürgersteige, so dass die arabischen Großfamilien und die raumgreifenden türkischen Jungmänner-Gruppen nicht mehr durchkommen. Aber falls ich mich irgendwann erinnern sollte, wo genau dieser Keller in der Nachbarschaft war, in dem Klezmer-Punkrock gespielt wurde und in dem ich schauerlich versackte, dann leihe ich mir die dort bei Jungmännern gerade schwer angesagte schwarze Achtziger-Lederjacke von meinem Mann. Darin würde ich mich gleich zehn Jahre jünger fühlen.
Martin Reichert
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Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien: „Man kann und sollte mehr tun“ - taz.de
Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien: „Man kann und sollte mehr tun“ Die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus Syrien steht in Aussicht. Innenminister aus Bund und Ländern beraten am Mittwoch über eine Vergrößerung des Kontingents. Syrische Flüchtlingskinder üben sich in ihrer zukünftigen Rolle. Bild: dpa HANNOVER dpa | Für eine Aufnahme weiterer Syrienflüchtlinge hat sich der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Niedersachsens Ressortchef Boris Pistorius (SPD), stark gemacht. „Nach meinem Eindruck wissen alle Länderinnenminister, dass die Aufnahme von 5000 Syrern wichtig ist und darüber hinaus ein positives Signal. Aber natürlich ist uns allen klar, dass man mehr tun kann und auch tun sollte“, sagte Pistorius der Nachrichtenagentur dpa vor dem am Mittwoch beginnenden Treffen der Innenminister von Bund und Ländern in Osnabrück. Ein Thema dort ist die Flüchtlingspolitik. „Wir reden über mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus und innerhalb Syriens. Von daher sind 5000 sehr, sehr wenig“, meinte Pistorius. Er betonte, dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) bereits signalisiert habe, über das deutsche Sonderprogramm zur Aufnahme von 5000 Flüchtlingen hinaus weitere Syrer aufzunehmen, wenn die Lage dies gebiete. Bei dem von den Bundesländern ermöglichten Nachzug von Syrern zu Familienangehörigen, die bereits in Deutschland leben, solle die Hürde der hohen Krankenversicherungskosten auf der Innenministerkonferenz thematisiert werden, sagte Pistorius. „Die Aufnahme von traumatisierten Flüchtlingen darf nicht daran scheitern, dass die Familien sich die teure private Krankenversicherung nicht leisten können. Da würde ich es sehr begrüßen, wenn man da eine Lösung findet.“
taz. die tageszeitung
Die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus Syrien steht in Aussicht. Innenminister aus Bund und Ländern beraten am Mittwoch über eine Vergrößerung des Kontingents.
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Kurden in Deutschland: Mehr Skepsis denn Feierstimmung - taz.de
Kurden in Deutschland: Mehr Skepsis denn Feierstimmung Kurden reagieren bei den Newroz-Feiern verhalten optimistisch auf die Ankündigung von PKK-Chef Öcalan zur Waffenruhe. Hoffen auf Frieden. Bild: Reuters BONN taz | Vielleicht liegt es am Wetter. Auf den Platz zwischen Telekom-Gebäude und Rhein in Bonn-Beuel sind etwa 15.000 Menschen gekommen, um das kurdische Neujahrsfest „Newroz“ zu feiern. Es ist eisig kalt, der Boden ist matschig. Vor der großen Bühne wehen Dutzende von Fahnen mit dem Porträt des in der Türkei inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Aber es kommt keine Feierstimmung auf. Nichts weist darauf hin, dass für die Menschen auf dem Platz eine neue Ära beginnen könnte. Öcalan hat vorige Woche das Ende des bewaffneten Kampfes in Kurdistan angekündigt. Beim Newrozfest im kurdischen Diyarbakir nahmen Hunderttausende die Botschaft begeistert auf, denn erstmals seit 30 Jahren besteht eine echte Chance auf Frieden in der Region. Doch bis nach Bonn-Beuel ist die Begeisterung nicht geschwappt. Die Leute auf dem Platz begrüßen Öcalans Ansage. Widerspruch ist im autoritären PKK-Umfeld nicht zu erwarten. „Der Kampf geht weiter mit demokratischen Mitteln“, sagt Nigazi Öztas, Vorstandsmitglied von Yek-Kom, der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland. „Ich bin sehr optimistisch.“ Aber in seiner Stimme schwingt keine Zuversicht. Er weiß, dass viele hier seinen Optimismus nicht teilen. „Die Menschen sind skeptisch“, erklärt er. Viele denken an 1999. Damals hat Öcalan nach seiner Verhaftung die PKK-Kämpfer zum Rückzug aufgerufen. Die türkische Regierung nutzte das aus und tötete fast 500 Menschen. Eher um sich aufzuwärmen, als um zu feiern, haken sich auf dem Platz hier und da Leute unter und beginnen zu tanzen. Immerhin: Unter den ganz Jungen sind einige überschwänglich. „Ich glaube, dass jetzt der Frieden beginnt“, sagt die 16-jährige Mitriba, die schon oft in Kurdistan war. „Wir haben so viele Leute verloren. Und die andere Seite auch. Das muss aufhören.“ Bei den Älteren überwiegt die Skepsis. In Deutschland sei nur die Friedensbotschaft Öcalans angekommen, sagt Nurettin Bayrak . „Öcalan hat aber auch Forderungen gestellt“, sagt er. Geht die türkische Regierung nicht darauf ein, wird es mit dem Frieden nichts, steht für ihn fest. „Die türkische Regierung muss das kurdische Volk endlich akzeptieren“, fordert auch Mehmet Günes. „Sonst geht der Kampf weiter.“ Nicht alle hier haben nur politische Interessen. Kurdistan ist auch eine Geschäftsidee. Unter den Ständen rings um den Platz ist auch der eines pakistanischen Telekommunikationsanbieters. Nebenan verteilt ein Mann ein kurdisches Branchenbuch für Deutschland. Ob der Friedensprozess gut oder schlecht für die Geschäfte ist, vermag er nicht zu sagen. „Mich stört er jedenfalls nicht“, sagt er.
Anja Krüger
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EU gegen Legalisierungspläne: Cannabis-Freigabe auf der Kippe - taz.de
EU gegen Legalisierungspläne: Cannabis-Freigabe auf der Kippe Die EU reagiert zurückhaltend auf den deutschen Vorstoß zur Cannabis-Legalisierung. Könnten die Pläne der Ampel in Brüssel scheitern? Kleine Pflanze, große Aufregung. Die Pläne der Ampel zur Freigabe könnten in Brüssel scheitern Foto: AP Photo/Richard Vogel BERLIN taz | Die Hoffnungen waren riesig, als die Ampelfraktionen an die Regierung kam: Viele Kif­fe­r*in­nen und Cannabis-Aktivist*innen glaubten, noch 2022 zu erleben, dass psychotrope Hanfprodukte legal in Deutschland konsumiert werden könnten. Doch der Prozess geriet schnell ins Stocken. Gleich nach Amtsantritt musste sich der zuständige SPD-Gesundheitsminister zunächst um die Eindämmung der Corona-Pandemie kümmern. Mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine galt es für die Ampel dann gleich die nächsten Großkrisen zu meistern. Bereits im vergangenen Sommer mahnten viele Kritiker, die Legalisierung komme nicht voran. Zwar lud das Bundesgesundheitsministerium im Sommer 200 Experten zur Anhörung zum Thema nach Berlin ein. Doch nach dem fünftägigen Marathon befand etwa Andreas Müller, Cannabis-Aktivist und Jugendrichter am Amtsgericht Bernau bei Berlin, im Interview mit der taz: „Deutsche Gründlichkeit könnte verhindern, dass es zu einem Ergebnis kommt.“ Deshalb verbanden viele die von Karl Lauterbach im Herbst vorgelegten Eckpunkte mit neuen Hoffnungen. Der Gesundheitsminister, lange kein Befürworter der Legalisierung, berichtete gar, selbst gekifft zu haben. Die Wirkung des vermeintlichen „Teufelskrauts“ habe er als angenehm empfunden. Zunächst wolle er die EU prüfen lassen, ob die deutschen Pläne zur Legalisierung rechtlich umsetzbar seien. Denn die rechtlichen Hürden sind hoch. Deutschland hat mehrere Völkerrechtsabkommen zu Cannabis unterzeichnet, allen voran die UN-Konvention über Betäubungsmittel von 1961. Durch sie ist im Prinzip alles, was mit Cannabis zu tun hat, verboten, vom Anbau über den Verkauf bis zum Handel. Aus dem Abkommen aus- und wieder einzusteigen, wäre ein Weg, den etwa Bolivien gewählt hat. Doch die Frist ist bereits verstrichen. Deutschland hätte bis Juli '22 aus dem Abkommen austreten müssen, um die Legalisierung 2023 zu erreichen. EU setzt enge Grenzen Noch schwieriger ist es mit dem EU-Recht. Das Schengen-Protokoll von 1990 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die unerlaubte Ausfuhr und Abgabe „von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen aller Art einschließlich Cannabis“ strafrechtlich zu unterbinden. Zudem schreibt ein EU-Rahmenbeschluss von 2004 vor, dass Herstellung, Anbau, Verkauf, Transport oder Ein- und Ausfuhr von Drogen inklusive Cannabis unter Strafe gestellt werden müssen. Nur eine Ausnahme gibt es: Wenn diese Handlungen „ausschließlich“ für den „persönlichen Konsum“ unternommen werden, dürfen die einzelnen EU-Länder in ihrer nationalen Rechtsprechung abweichende Regelungen treffen. Deutschland könnte deshalb zwar den Besitz geringer Mengen Cannabis oder den Anbau von ein paar Pflanzen für den Eigengebrauch erlauben oder zumindest straffrei ermöglichen – mehr lässt das Recht derzeit aber nicht zu. Die „holländische“ Regierung geht jedoch weiter: Über den Tresen darf legal verkauft werden, was illegal durch die Hintertür geliefert wurde. Sonst werden der Schwarzmarkt und die organisierte Kriminalität gefördert. Die Bundesregierung setzt deshalb auf eine neue Interpretation des EU- und des Völkerrechts. Sie will den Schwarzmarkt trockenlegen, um Jugend- und Gesundheitsschutz zu verbessern. Um weiteren Gegenwind aus der EU zu vermeiden, will die Bundesregierung zudem ausschließlich in Deutschland angebaute Hanfprodukte zum Konsum freigeben. Lauterbach leistet Überzeugungsarbeit Vor diesem Hintergrund ließ sich auch das im Oktober vorgelegte Eckpunktepapier noch als Teil einer cleveren Strategie gegenüber Brüssel interpretieren. Immerhin sollte Cannabis darin nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. Anbauclubs waren dabei nicht vorgesehen und der Eigenbau stark eingegrenzt: drei Pflanzen sollten erlaubt sein. Die Höchstmengen erschienen im Zuge einer kompletten Legalisierung als befremdlich: straffrei gestellt werden sollen 20 bis 30 Gramm für jeden Erwachsenen. Das rauchen solide Kiffer in einem Monat weg. Schließlich zeigte sich aber, dass Lauterbachs Vorgehen in Brüssel nicht überzeugte: Die EU konnte mit den eingereichten Dokumenten nichts anfangen. Mit Eckpunkten allein konnte sie keinen juristischen Prüfprozess anstoßen. Die zuständige Kommission braucht dafür einen Gesetzentwurf. Also legte Lauterbach nach und versprach im Frühjahr einen Entwurf vorzulegen. Des Weiteren habe er eine Studie in Auftrag gegeben, „um die EU-Kommission davon zu überzeugen, dass durch unser geplantes Gesetz der Cannabiskonsum begrenzt werden kann“, erklärte Lauterbach im November. Berlin bekam rechtlichen Gegenwind aus Brüssel. „Es ist Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, wie sie den persönlichen Gebrauch von Drogen, einschließlich Cannabis, behandeln“, zitierte die Legal Tribune Online eine Sprecherin der zuständigen Kommission. Auf dieser Sicht zu beharren, bedeutet aber im Umkehrschluss: Handel und Produktion unterliegen weiterhin dem EU-Recht. Bayern fühlt sich bestätigt Die Kritik der EU bestärkte auch die deutschen Kritiker des Projekts, allen voran Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Er traf im November in Brüssel Monique Pariat, Ansprechpartnerin für die deutschen Legalisierungpläne. Er habe den Eindruck, dass die Kommission vor allem den Verkauf von Cannabis europarechtlich problematisch sehe: „Ich bin optimistisch, dass die EU-Kommission als ausgleichendes Element auf die hitzige Legalisierungsdebatte in Deutschland einwirken wird“, erklärte Holetschek nach dem Gespräch. Zudem habe er „ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, um die völker- und europarechtlichen Grenzen einer Cannabis-Legalisierung in Deutschland zu klären.“ Er wolle es der Kommission zur Verfügung stellen, bis Ende Februar werde es fertig sein. Damit könnte Holetschek Lauterbach einen Monat voraus sein. Dass die Gegner der Legalisierung das SPD-geführte Gesundheitsministerium nun versuchen, rechts zu überholen, hat den Koalitionspartner auf den Plan gerufen. „Die kontrollierte Freigabe von Cannabis ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Der Gesundheitsminister muss nun zeitnah einen Gesetzentwurf vorlegen“, sagte die drogenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Kirsten Kappert-Gonther, vergangene Woche der dpa. Die „ewig-gestrigen“ Opponenten des Vorhabens nutzten ein mögliches Veto der EU als Vorwand. Doch das Verfahren in Brüssel dürfe den Prozess nicht weiter verschleppen. EU-Recht könne nicht als Totschlagargument dienen. Eine Vorhersage, wann die Legalisierung kommt, machte sie allerdings nicht. „Ich setze mich dafür ein, dass es so schnell wie möglich passiert“, so Kappert-Gonther. Lauterbach hat die Legalisierung als einen großen Vorstoß angekündigt, als ein „Modell für Europa“. Doch wenn es nicht gelänge, die Kommission zu überzeugen, würde er davon lieber komplett Abstand nehmen. Das wäre blamabel für die SPD und für viele Kon­su­men­t*in­nen ein Desaster. Die Linke hat jüngst einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der sich weitgehend mit einem Vorschlag der Organisation Law Enforcement Against Prohibition (LEAP) deckt: Erwachsenen soll der Erwerb und Besitz von bis zu 30 Gramm Cannabis erlaubt sein, ebenso der Anbau und der Besitz von bis zu drei weiblichen, blühenden Hanfpflanzen für den Eigenbedarf.
Oliver Schulz
Die EU reagiert zurückhaltend auf den deutschen Vorstoß zur Cannabis-Legalisierung. Könnten die Pläne der Ampel in Brüssel scheitern?
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Geplantes Digitalzentrum Potsdam: Hilfe, die Yuppies kommen - taz.de
Geplantes Digitalzentrum Potsdam: Hilfe, die Yuppies kommen Ein Investor will in Potsdam in der Nähe des Hauptbahnhofs ein Digitalzentrum errichten. Anwohner fürchten die Verdrängung. Luftaufnahme des ehemaligen RAW-Geländes in Potsdam, in der Nähe des Hauptbahnhofs Foto: Lutz Hannemann In fast allen Städten in Ostdeutschland würde die Geschichte ungefähr so laufen: Ein Investor will eine alte Industriebrache wieder nutzbar machen, einen dreistelligen Millionenbetrag ausgeben und mehr als 1.000 gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Die auserwählte Stadt setzt alles daran, dass das Projekt schnell umgesetzt werden kann, schließlich könnten mit den Steuereinnahmen Straßen repariert, Schulen saniert und Schulden abgebaut werden. Man hofft, mit der Ansiedlung endlich die Abwanderung zu stoppen. Aber Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam tickt anders: Seit vor etwa einem Jahr erste Pläne für ein neues Digitalzentrum in der Nähe des Hauptbahnhofs publik wurden, reißt die Kritik an dem Projekt nicht ab. Nun, da am 26. Mai parallel zur Europawahl auch das Stadtparlament neu gewählt wird, könnte das Projekt auch zum Wahlkampfthema werden. Gegen die Ansiedlung formiert sich eine ungewöhnliche Allianz aus bürgerlichen Gruppen, die die Größe des Projekts für unangemessen halten, Linken, die die unklare Herkunft des investierten Geldes kritisieren, und Mietern, die Angst vor Verdrängung haben – schließlich dürften die künftigen IT-Angestellten dort rund 100.000 Euro jährlich verdienen und sich entsprechend hohe Mieten leisten können. Stein des Anstoßes sind die mehr als hundert Jahre alten Gemäuer einer Waggonhalle des früheren Reichsbahnausbesserungswerks Potsdam – kurz RAW. Fährt man aus Potsdam mit dem Zug nach Berlin, sieht man sie rechts: gezacktes Dach, vernagelte Fenster, viele Graffiti. Seit die Bahn das Gelände nach der Wiedervereinigung abgab, hat sich das Areal stark gewandelt. Es wurden Wohnungen gebaut und eine Möbellagerhalle. Daneben errichtete die Stiftung Preußische Schlösser Gärten und ein Depot. 24/7-Programm im neuen Digitalzentrum Nur der vom Bahnhof entferntere Teil lag jahrzehntelang brach. Der frühere Eigentümer, die Immobilienfirma Semmelhaack, Potsdams größter privater Vermieter, wollte die denkmalgeschützte Halle zum Einkaufszentrum umbauen. Doch die Stadt wollte 500 Meter neben den Bahnhofspassagen keinen zweiten Konsumtempel. Unterdessen gammelte das Gebäude vor sich hin, vor sieben Jahren stand es auch mal in Flammen. Schon bald soll es dort ganz anders aussehen – jedenfalls wenn es nach den Plänen eines bisher namentlich nicht bekannten Investors geht. Es soll sich um einen Geschäftsmann aus der Ölbranche handeln, der in London lebt und ursprünglich aus Lettland stammt, berichteten die Potsdamer Neuesten Nachrichten. Die Stadtverwaltung kenne den Namen. Mutterunternehmen sei eine Holding mit Sitz auf Zypern. Öffentlich tritt bisher nur Mirco Nauheimer als Geschäftsführer der GmbH auf, die den Namen The RAW Potsdam trägt und das Projekt umsetzen soll. Angespannte LageNeubau Nach Angaben des Statistischen Landesamtes ist die Zahl der genehmigten Neubauwohnungen 2018 auf ein Drittel des Vorjahreswerts eingebrochen. Von der Baugenehmigung bis zum Einzug der ersten Bewohner dauert es üblicherweise eineinhalb bis zwei Jahre. Schon seit Jahren gibt es kaum Leerstand.Zuzug Die Zahl der Zuzüge ist im ersten Quartal 2019 auf ein 5-Jahres-Tief gesunken. Auch die Zahl der Umzüge innerhalb der Stadt ist so niedrig wie seit sieben Jahren nicht mehr. Beides deutet darauf hin, dass es nicht genug freie Wohnungen gibt. In einer bundesweiten Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur Demografie hatte die Stadt gut abgeschnitten – ­allerdings mit der Note 6 bei der Wohnraumversorgung. (mar) „Wir wollen, dass das Areal rund um die Uhr bespielt wird“, sagte Nauheimer kürzlich bei einer Infoveranstaltung für Bürger im nahe gelegenen soziokulturellen Zentrum Freiland. In der Halle sollen Veranstaltungen stattfinden, Gastronomie und kleiner Einzelhandel Platz finden. Daneben soll ein Büroriegel hochgezogen werden, der in Richtung Bahngleise ansteigt und dessen gezacktes Dach an der höchsten Stelle 33 Meter misst. Der Entwurf stammt von dem Berliner Architektenbüro Jürgen Mayer H. In dem Bau sollen neben etablierten Firmen auch Start-ups aus der IT-Branche unterkommen. Für 14.000 Quadratmeter der mehr als 20.000 Quadratmeter großen Nutzfläche habe er schon Interessenten, so Nauheimer. Namen der Mieter will er zum jetzigen Zeitpunkt nicht nennen. Milieuschutz gefordert In der Stadtverwaltung ist man angesichts der Pläne erfreut. Schließlich hatte die Wirtschaftsförderung jahrelang nach einem Investor gesucht. Unter den Stadtverordneten war das Meinungsbild allerdings von Anfang an gespalten. Die Grünen, in Potsdam immer auf städtebauliche Fragen fokussiert, kritisierten die Ausmaße des Neubaus. Die linksalternative Fraktion Die Andere beklagte die unklare Herkunft des Investorengeldes. Bedenken gab es auch in anderen Fraktionen. Als schließlich der Baubeigeordnete Bernd Rubelt (parteilos) im Januar ein „konkurrierendes Verfahren“ für den Architektenentwurf ins Spiel brachte, drohte Nauheimer damit das Projekt platzen zu lassen. Dann ging alles ziemlich schnell. Die Stadtverordneten genehmigten die Aufstellung eines entsprechenden Bebauungsplans. Nauheimer treibt unterdessen das Projekt voran: Im August soll der Bauantrag gestellt werden, gegen Jahresende erwarte er die Baugenehmigung. Anfang nächsten Jahres könnte dann gebaut werden. In den nächsten Wochen soll das Areal auf Munition aus dem Zweiten Weltkrieg abgesucht werden. Der Bahnhof war seinerzeit ein Hauptziel von Luftangriffen. Die Bedenken gegen das Projekt sind aber nicht ausgeräumt, wie bei der Infoveranstaltung klar wurde. Ein Anwohner fürchtete, dass er sich seine Wohnung in der Nähe künftig nicht mehr leisten kann, wenn durch die Ansiedlung zahlungskräftige Arbeitnehmer zuziehen. Die Gefahr von Verdrängung hatte Nauheimer sogar selbst angesprochen. Die Ansiedlung werde nicht nur positive Effekte haben. Holger Zschoge vom Bündnis Stadt für alle will nun für die Anwohner der benachbarten Teltower Vorstadt eine kritischere Veranstaltung organisieren. „Vielleicht gründet sich eine Bürgerinitiative“, sagte er der taz. Es gehe nicht darum, das Projekt als solches zu verhindern, sondern um den Umgang der Stadt mit Verdrängung. Er fordert für die Nachbarschaft Milieuschutz, um die Mieten zu begrenzen. Die Wählergruppe Die Andere erinnert an den Widerstand gegen den geplanten Google Campus in Berlin.
Marco Zschieck
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