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Der Parteinachwuchs kritisiert ein verheerendes Erscheinungsbild der SPD in der Berliner Koalition - und schenkt der Fraktions- und Parteichefin ein Paar rote Boxhandschuhe. Sie solle deutlich härter zulangen. Detailansicht öffnen "Jede Woche trifft es einen in den Bauch, wenn man die Umfragen liest." SPD- Fraktionschefin Andrea Nahles spricht beim Bundeskongress der Jusos in Düsseldorf den Zustand ihrer Partei an. (Foto: Marcel Kusch/ dpa) Zum Abschied bekam Andrea Nahles ein Paar rote Boxhandschuhe überreicht. Ein Geschenk von Juso-Chef Kevin Kühnert, "was Handfestes für den Koalitionspartner". Kühnert und seine Jusos finden, sie dürfte da deutlich härter zulangen. Die SPD-Vorsitzende streifte sich einen Handschuh über die rechte Hand und führte einen Schlag durch. Ihr Schwinger wirkte unkoordiniert, was vermutlich daran lag, dass sie keine Boxerin ist. Dem Kampf ist Nahles am vergangenen Wochenende auf dem Bundeskongress der Jusos in Düsseldorf hingegen nicht aus dem Weg gegangen. Sie hat ihn vielmehr bewusst herbeigeführt. Die Jusos gelten als vehemente Gegner der große Koalition, die Nahles befürwortet. Sie warf den Jusos vor, die von den Mitgliedern getroffene Entscheidung "nicht wirklich akzeptiert" zu haben. Egal welche Erfolge die SPD in der Regierung erzielen würde, die Reaktion der Jusos sei stets dieselbe: "Das reicht nicht. Raus aus der Groko." Außerdem warnte Nahles vor einem Richtungsstreit: "Das führt zu Spaltung." Die Vorsitzende teilte aus, und sie musste einstecken. Den ersten Schlag setzte Juso-Chef Kühnert. Gerade in der Anfangszeit sei die Akzeptanz für die Koalition sehr hoch gewesen, betonte er: "Dass das Gerede wieder angefangen hat, hatte mit der überaus überschaubaren Performance dieser Koalition zu tun." Die Jusos hätten lange stillgehalten. Erst bei der nicht nachvollziehbaren Affäre um den inzwischen entlassenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen habe es ihnen gereicht. Kühnert warf der Parteispitze fehlende Entschlossenheit vor angesichts der zahlreichen Krisen: "Wer nie eine Konsequenz zieht, landet irgendwann als Bettvorleger", sagte er. In der SPD konkurrieren derzeit zwei unterschiedliche Denkschulen: Nahles und die Parteispitze glauben, die SPD mit guter Regierungsarbeit aus dem Tief zu führen und gleichzeitig die Partei zu erneuern. Die Jusos sehen das anders. Sie gehen davon aus, dass eine Erneuerung vor allem außerhalb der Regierung funktioniert. Und sie fühlen sich durch die schlechte Leistung der großen Koalition bestätigt. "In der Frage werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr einig", sagt die Berliner Landesvorsitzende Annika Klose. Was schade sei, schließlich habe man auf dem Bundeskongress eine gute Diskussion geführt, auch "mit Andrea". Die Jusos schätzen es, dass Nahles nach Düsseldorf gekommen ist, obwohl sie während der Woche krank war. Sie rechnen ihr auch hoch an, dass sie die Hartz IV-Debatte zuletzt neu entfacht und zwei junge Frauen auf der Liste der Europawahl weit nach vorne geschoben hat. "Wir sind uns in vielem auch einig", sagt die Berlinerin Klose, der zudem gefällt, dass Nahles "ohne Deckung kämpft". Hoffnungsträgerin der Jusos ist mittlerweile aber eine andere. Am Freitag war Justizministerin Katarina Barley auf die Bühne getreten, die designierte Spitzenkandidatin für die Europawahl. In ihrer Rede zu Europa sagte Barley im Wesentlichen nichts anderes als Nahles am Samstag: dass die Investitionen in Europa zu gering seien, dass die Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern zu hoch sei. Doch Barley bekam euphorischen Applaus. Sie hatte - übrigens auch Kühnert in seiner Eröffnungsrede - das Thema Groko weitgehend ausgespart. Für Barley, sagten viele Jusos, werden sie im Sommer auf die Straße gehen.
Der Parteinachwuchs kritisiert ein verheerendes Erscheinungsbild der SPD in der Berliner Koalition - und schenkt der Fraktions- und Parteichefin ein Paar rote Boxhandschuhe. Sie solle deutlich härter zulangen.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/jusos-nahles-warnt-vor-spaltung-1.4235713
Nahles warnt vor Spaltung
00/12/2018
Sie wollte schon lange Präsidentin werden, seit mehr als elf Jahren hat Salome Surabischwili davon geredet. Anfangs war das ein verwegener Wunsch. Denn damals hatte sie ihren georgischen Pass noch nicht lange und war eher ein Neuling in Tiflis. Ein Neuling allerdings, der aneckte mit seiner zupackenden Art. Das hat sich bis heute nicht geändert. Zwar hat Surabischwili ihr großes Ziel erreicht und die Präsidentschaftswahl in Georgien gewonnen. Umstritten ist allerdings der Weg, auf dem sie ins Amt gekommen ist, und die Frage, wie unabhängig sie es ausüben kann. Salome Surabischwili kam vor 66 Jahren in Paris zur Welt. Ihre Großeltern waren aus Georgien geflohen, bevor das Land 1921 von der Roten Armee besetzt wurde. Von der Heimat ihrer Vorfahren erfuhr sie zunächst nur aus Büchern und durch Geschichten bei Familienessen an den Wochenenden, auch die Sprache lernte sie aus der Ferne. Erst mit 36 Jahren kam sie zum ersten Mal nach Georgien - als Gast. Damals arbeite sie als Diplomatin, war für Frankreich unter anderem in Rom, Washington, bei den Vereinten Nationen und der Nato tätig. 2003 wurde sie nach Tiflis entsandt, kurz vor der Rosenrevolution. Damals wurde Michail Saakaschwili zum Präsidenten gewählt, von ihm erhoffte man sich Demokratie und Anbindung an den Westen. Saakaschwili machte die französische Diplomatin zur georgischen Außenministerin, ein politischer Coup. Doch nur kurze Zeit später löste sie sich von ihm und ging in die Opposition, weil Saakaschwili sich nicht als der erhoffte Reformer herausgestellt hatte. Heute erinnert sie gerne an diesen Bruch als Beweis ihrer Unabhängigkeit. Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass Saakaschwili sie schon vorher aus dem Amt entlassen hatte, die Außenministerin hatte sich im Parlament mächtige Feinde gemacht. Heute steht wieder ein starker Mann hinter ihr, auch wenn sie es so selbst nicht sieht, der Milliardär Bidsina Iwanischwili. Dessen Partei "Georgischer Traum" ist seit sechs Jahren in der Regierung. Er hat die Kandidatur der früheren französischen Diplomatin massiv unterstützt und dafür auch den Regierungsapparat genutzt, um Druck auf Wähler auszuüben. Er ging so weit, 600 000 Georgiern zu versprechen, ihre Schulden zu übernehmen. Viele betrachten das als eine Art Stimmenkauf, sicher war es kein faires Mittel im Wahlkampf. Einem Wahlkampf, der auf beiden Seiten schmutzig geführt wurde. Salome Surabischwili berichtet von Morddrohungen gegen sie und ihre beiden Kinder. Am Ende war es wohl kaum ein Wettstreit von Kandidaten, sondern mehr ein Ringen der jeweiligen einflussreichen Unterstützer. Bei Salome Surabischwili war das der Milliardär Iwanischwili, im Fall ihres Kontrahenten der frühere Präsident Michail Saakaschwili, der aus dem Exil agierte. Ihm warf Surabischwili vor, Mitschuld am russisch-georgischen Krieg 2008 zu tragen. Dafür wurde sie im Land als Vaterlandsverräterin beschimpft, später korrigierte sie ihre Aussage. Die Opposition wirft ihr ohnehin vor, Russland gegenüber zu nachsichtig zu sein. Moskau kontrolliert die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien, besetzt sie aus georgischer Sicht. Nach der Wahl sprach Surabischwili denn auch von Russland als Besatzungsmacht - so geht das hin und her. Das Ziel der neuen Präsidentin ist es, Georgien in die EU zu führen - dafür sei sie schließlich, sagt sie, damals ins Land gekommen. Ein Land, das nach dieser Wahl stärker gespalten ist als zuvor. Und nun mit einem Staatsoberhaupt ausgestattet, das seine Unabhängigkeit von der Regierung erst beweisen muss. Die Aufgabe der früheren Diplomatin Surabischwili ist es, Georgien nach außen hin zu vertreten. Ihre Aufgabe ist es aber auch, die Menschen wieder miteinander zu versöhnen. Bisher hat sie eher das Gegenteil bewirkt.
Neue Präsidentin Georgiens auf der Suche nach einem eigenen Kurs.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/profil-salome-surabischwili-1.4235830
Salome Surabischwili
00/12/2018
Andrea Nahles ist wieder einmal einem Konflikt nicht aus dem Weg gegangen, und wieder kann man sich fragen, ob das klug war. Die SPD-Vorsitzende hat sich auf dem Bundeskongress der Jusos den 300 Delegierten entgegengestellt, die ihre große Koalition leidenschaftlich ablehnen - und sie hat ihnen genau diese Ablehnung mit harschen Worten vorgeworfen. Die Jusos würden der Partei mit ihren ständigen "Raus aus der Groko"-Rufen schaden. Das wirkte kämpferisch, zielführend war es nicht. Zwar waren es anfangs vor allem die Jusos, die vehement gegen die Neuauflage der großen Koalition kämpften, und sie sehen sich durch das verheerende Bild der Regierung in ihrer Ablehnung bestätigt. Aber es sind längst nicht mehr nur die Jusos, die an dem Bündnis zweifeln. Die Spaltung geht durch die ganze Partei, und der Konflikt schwelt weiter. Interessanterweise waren die Jusos beim Bundeskongress gar nicht auf Krawall aus. So hat Kevin Kühnert, der Anti-Groko-Wortführer, die Debatte nur gestreift. Er sprach vor allem über die inhaltliche Erneuerung der SPD und den Sozialstaat der Zukunft. Es hätte also viel gegeben, worüber Parteispitze und Nachwuchs intensiver hätten diskutieren können. Nahles dagegen hat mit ihrer Attacke eine Chance verpasst - und stattdessen den Konflikt verschärft.
SPD-Vorsitzende Andrea Nahles legt sich mit der Parteijugend an. Ein Fehler.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/jusos-nahles-schadet-sich-selbst-1.4235822
Nahles schadet sich selbst
00/12/2018
Am Rande des G-20-Gipfels einigen sich die Präsidenten Trump und Xi darauf, drei Monate lang auf Provokationen und neue Zölle zu verzichten. Nach mehreren gescheiterten Anläufen unternehmen die USA und China einen neuen Versuch, ihren seit Monaten schwelenden Handelsstreit auf dem Verhandlungswege beizulegen. Die Präsidenten Donald Trump und Xi Jinping vereinbarten am Rande des G-20-Gipfels in Buenos Aires, sich 90 Tage Zeit zu geben, um eine Lösung zu finden. Während dieser drei Monate wollen beide Seiten auf Provokationen und die Verhängung neuer Einfuhrabgaben verzichten. Trump hatte ursprünglich damit gedroht, die bereits bestehenden zusätzlichen Zollsätze auf chinesische Warenlieferungen im Wert von 200 Milliarden Dollar zum 1. Januar von derzeit zehn auf 25 Prozent anzuheben. Ob es tatsächlich gelingt, die Krise dauerhaft zu überwinden, ist aber höchst ungewiss, denn hinter dem Handelsstreit steckt in Wahrheit die Frage, welches der beiden Länder die Welt in den kommenden Jahrzehnten wirtschaftlich und politisch dominieren wird. Vor allem China bedient sich in der Auseinandersetzung unlauterer Mittel: Staatseigene, teils hoch subventionierte Firmen kaufen weltweit Konkurrenten auf oder stehlen deren geistiges Eigentum. Zugleich werden ausländische Unternehmen in China von den Behörden gegängelt. Hinzu kommt ein extremer Exportüberschuss im Warenverkehr mit den USA. Während chinesische Regierungsvertreter nach dem rund zweieinhalbstündigen Abendessen der beiden Präsidenten vor allem auf diese Unwucht in der Handelsbilanz abhoben und mehr Importe aus den Vereinigten Staaten ankündigten, pochten die USA auf strukturelle Reformen in der Pekinger Wirtschaftspolitik. Sollte es gelingen, diese "unglaubliche Vereinbarung" umzusetzen, "wird sie mit Sicherheit als einer der größten Deals in die Geschichte eingehen, die je geschlossen wurden", sagte Trump gewohnt unbescheiden auf dem Rückflug nach Washington. Die Fortschritte seien nur möglich gewesen, weil er zu Xi "eine Wahnsinnsbeziehung" habe. Allerdings haben die letzten Monate gezeigt, dass die Reformversprechen des chinesischen Präsidenten häufig nur Lippenbekenntnisse sind. Tatsächlich setzt Xi unverändert auf das ehrgeizige Subventionsprogramm "Made in China 2025", mit dem Peking neue Weltmarktführer in Zukunftsbereichen von der künstlichen Intelligenz bis zur Biomedizin aufbauen will. Immerhin konnte Trump beim Gipfeltreffen der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer durchsetzen, dass das Regelwerk und die Arbeitsweise der Welthandelsorganisation (WTO) überprüft werden. Der US-Präsident wirft der Institution Schwäche im Umgang mit Regelverstößen vor, etwa durch China, und sieht sein Land durch viele WTO-Richtersprüche benachteiligt. Mit Ausnahme Trumps bekräftigten die G-20-Staats- und Regierungschefs darüber hinaus die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens. Zudem wollen sie den Kampf gegen Steuerbetrug weltweit vorantreiben. Am Rande des Gipfels kam es zu Demonstrationen gegen Trump und Neoliberalismus. Anders als 2017 in Hamburg verliefen die Proteste friedlich.
Am Rande des G-20-Gipfels einigen sich die Präsidenten Trump und Xi darauf, drei Monate lang auf Provokationen und neue Zölle zu verzichten.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/weltwirtschaft-usa-und-china-entschaerfen-handelsstreit-1.4235686
USA und China entschärfen Handelsstreit
00/12/2018
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach den schweren Krawallen in Paris die Regierung am Sonntag zu einer Krisensitzung zusammengerufen. Macron habe Premier Édouard Philippe aufgefordert, Vertreter der Parlamentsparteien und auch der Protestbewegung der "gelben Westen" zu empfangen, teilte der Élysée-Palast anschließend mit. Die Gespräche sollen an diesem Montag beginnen. Demnach verlangte der Präsident auch, dass der Innenminister eine "Anpassung" des Polizeiaufgebots erwägen solle. Zuvor hatte Regierungssprecher Benjamin Griveaux nicht ausgeschlossen, dass der Ausnahmezustand verhängt werden könnte: "Alle Optionen müssen überprüft werden", sagte er dem Radiosender Europe 1, ähnlich äußerte sich Innenminister Christophe Castaner: "Alles, was mehr Sicherheit bringt, da habe ich kein Tabu." Justizministerin Nicole Belloubet jedoch sprach sich dagegen aus. 133 Menschen waren am Samstag in der französischen Hauptstadt verletzt worden bei Zusammenstößen während der Demonstration der Protestbewegung der "gelben Westen" mit etwa 10 000 Teilnehmern. 3000 von ihnen seien Randalierer gewesen, teilte die Pariser Polizei mit, die 412 Personen festnahm. Es waren die gewalttätigsten Proteste, die Frankreich seit Jahren erlebt hat. Schaufensterscheiben wurden im Zentrum von Paris zertrümmert, Geschäfte geplündert und Autos in Brand gesteckt. Die Krawalle konzentrierten sich auf die Prachtstraße Champs-Élysées, wo auch der Triumphbogen, ein Wahrzeichen von Paris, beschädigt und mit Graffiti besprüht wurde. Präsident Macron machte sich nach seiner Rückkehr vom G-20-Wirtschaftsgipfel in Buenos Aires am Sonntag mit einigen Ministern ein Bild von der Verwüstung. Es war bereits das dritte Wochenende in Folge, an dem die gelben Westen gegen Macrons Reformpolitik demonstrierten, im ganzen Land beteiligten sich am Samstag rund 135 000 Menschen. Außer in Paris blieben die Kundgebungen friedlich. Die gelben Westen protestieren gegen Steuererhöhungen vor allem für Kraftstoffe und gegen hohe Lebenshaltungskosten. Ihren Namen tragen sie, weil sie die leuchtgelben Warnwesten tragen, die für Autounfälle und Pannen vorgeschrieben sind. Regierungssprecher Griveaux schloss am Sonntag aus, dass Macrons Vorhaben aufgrund der Proteste geändert werden. "Die Regierung wird ihren Kurs nicht ändern", sagte er Radio Europe 1, sie sei aber bereit zum Dialog. Macron hatte am Samstag gesagt, "die Verursacher dieser Gewalt wollen keine Veränderung, sie wollen keine Verbesserung, sie wollen Chaos". Zu den Gewaltausbrüchen in Paris sagte Griveaux, man müsse unterscheiden zwischen Demonstranten, die für ihre Sache friedlich einträten, und solchen, die gekommen seien, um zu plündern und Polizisten anzugreifen. Auf die Frage, warum Tausende Polizisten die Ausschreitungen nicht verhindern konnten, antwortete Griveaux: "Wir haben gestern eine Entscheidung getroffen - den Schutz von Menschen über den von Sachen zu stellen." Von den 412 Festgenommenen waren am Sonntag noch 378 in Polizeigewahrsam.
Bei Protesten gegen die Reformpolitik von Präsident Macron werden in der französischen Hauptstadt 133 Menschen verletzt. Die Regierung erklärt, sie werde an ihrem Kurs festhalten.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-gewalt-erschuettert-paris-1.4235682
Gewalt erschüttert Paris
00/12/2018
Vor dem UN-Klimagipfel in Kattowitz zeigt sich Umweltministerin Svenja Schulze im Kampf gegen die Erderwärmung optimistisch. Sie hat einen einfachen Tipp: weniger Auto fahren und weniger fliegen. Es wird eine schwierige Klimakonferenz, zu der Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) an diesem Montag reist. International wächst der Widerstand gegen Klimaschutz, und auch Deutschland hat nicht viel zu bieten: Das eigene Klimaziel hat die Koalition vorerst beerdigt, und die Kohlekommission kommt nicht voran. Doch Schulze ist dennoch optimistisch: Am Ende siege die Vernunft, sagt sie.
Vor dem UN-Klimagipfel in Kattowitz zeigt sich Umweltministerin Svenja Schulze im Kampf gegen die Erderwärmung optimistisch. Sie hat einen einfachen Tipp: weniger Auto fahren und weniger fliegen.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/svenja-schulze-un-klimagipfel-kattowitz-erderwaermung-1.4235612
"Svenja Schulze - ""Vernunft lässt sich nicht aufhalten"""
00/12/2018
Als Bill Clinton am 20. Januar 1993 nach seiner Vereidigung an seinem neuen Schreibtisch Platz nahm, fand er einen Brief vor sich liegen. Die Umzugsleute hatten Resolute Desk, den schweren Eichentisch, gefertigt 1879 aus den Schiffsplanken eines Polarschiffes, wieder in das Oval Office gebracht. Und dort hatte George Bush einen Brief deponiert. "Lieber Bill", stand da, "als ich gerade in dieses Büro gelaufen bin, habe ich dasselbe Erstaunen und denselben Respekt verspürt wie vor vier Jahren." Weiter unten kommt dann ein Satz, der alles über George Bush sagt und noch viel mehr über seine Zeit, die gerade so unwiederbringlich zerstört zu sein scheint: "Du wirst unser Präsident sein, wenn Du diese Notiz liest. Ich wünsche Dir alles Gute. ... Dein Erfolg ist nun der Erfolg unseres Landes. Ich drücke Dir ganz schwer die Daumen. Viel Glück." Bill Clinton hat jetzt an diesen Brief erinnert, am Morgen nachdem George Bush gestorben war; am Morgen, an dem Donald Trump "aus Respekt vor dem Toten" auf eine Pressekonferenz verzichtet hat; am Morgen, an dem Amerika innehalten und sich fragen konnte, wie weit es mit dem Land gekommen ist. Unser Präsident - George Bush hatte das Wörtchen "unser" unterstrichen, als verfügte er über prophetische Gaben. Unser Land und unser Präsident - das gibt es heute nicht mehr in Amerika. George Herbert Walker Bush war der letzte Yankee im Weißen Haus. Vielleicht war er auch der letzte Yankee-Republikaner, ehe die Partei ihr Beuteschema änderte und die reichen Söhne der Neuengland-Aristokratie den Demokraten überließ. Ganz bestimmt aber war George H.W. Bush der letzte amerikanische Präsident, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat gekämpft und den Kalten Krieg ausgefochten hat - er war der letzte wirklich transatlantische Präsident. Bush organisierte die Nachhut einer inzwischen verflossenen Epoche. Und er hatte einen Sohn, der als Präsident die nächste Epoche begründete, die in Donald Trump einen kaum zu steigernden Höhepunkt erlebt.
George Herbert Walker Bush, der 41. Präsident der USA, ist tot. Er war der letzte Republikaner seiner Art - mit stillem Ehrgeiz erst dienend, später dann regierend.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/nachruf-der-aristokrat-1.4235727
Nachruf - Der Aristokrat
00/12/2018
In deutschen Wohnzimmern wird an jedem Adventswochenende in besinnlicher Keksstimmung eine weitere Kerze angezündet. In Frankreich dürfte in den kommenden Wochen deutlich mehr in Flammen aufgehen. Die Gewalt dieses ersten Dezembertages fühlt sich nicht an wie der Höhepunkt der Eskalation, sondern wie ihr Anfang. Wenn Menschen in Westeuropa auf die Straße gehen, verläuft das für gewöhnlich so: Jemand meldet eine Demonstration an, alle marschieren auf der vereinbarten Route, am Ende kommt es zu Prügeleien mit der Polizei, und unter den gegenseitigen Schuldzuweisungen, wer zuerst provoziert habe, geht der Anlass des Protests unter. Die Krawalle in Paris brechen mit dieser Logik. Schon morgens flogen Steine und Tränengasgranaten. Es gab keine Sprechchöre und Plakate, es gab keinen Demozug, dem man sich anschließen konnte. Stattdessen spielten Tausende Guerilla. Die Proteste gerieten nicht außer Kontrolle - sie hatten gar nicht erst kontrolliert begonnen. Das Chaos in den Straßen illustriert dabei das Chaos in den Köpfen. Was wollen diese Menschen in Warnwesten? Wer sind sie? In den Antworten auf diese Fragen lässt sich nicht das klare Bild einer Bewegung erkennen, sondern das Bild einer Gesellschaft, die zerfasert. Das Feindbild der Demonstrierenden ist schnell benannt: Emmanuel Macron, Präsident im zweiten Amtsjahr. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, die Reichensteuer abzuschaffen. Es ist eine Entscheidung, die ihn jetzt mit Wucht einholt. Auch wenn der Protest von einer Benzinsteuer ausgelöst wurde, die in Teilen eine Ökowende finanzieren soll, wäre es Unsinn, von antiökologischen Protesten zu sprechen. Es geht nicht um die Frage, ob man für oder gegen eine Umweltpolitik ist, es geht darum, wer diese Politik finanzieren soll. Der ökologische Fußabdruck der zehn reichsten Prozent der Franzosen ist viermal so groß wie jener der 50 Prozent, die zur ärmeren Hälfte des Landes gehören. Es schürt den Zorn, dass Macron bei Letzteren ansetzt, nicht bei Ersteren. Wer sich in diesen Tagen eine gelbe Weste überzieht, inszeniert einen der ältesten Kämpfe: Unten gegen oben. Diese Trennlinie verläuft nicht so eindeutig, wie in hysterischen Facebook-Posts behauptet wird. Doch die klare Überzeugung, David zu sein, während Macron den Goliath markiert, erklärt, warum viele der Westenträger so wenig von ihrem Zorn abzubringen sind und warum laut einer Umfrage mehr als 75 Prozent der Franzosen Sympathien für die "gilets jaunes" empfinden. Dieser Kampf "Volk gegen Präsident" findet dabei in einer Art politischem Vakuum statt. Die Menschen mit den Westen sind zu unterschiedlich, um gemeinsame Forderungen formulieren zu können. Sie sind zu aufgebracht und, was Protest betrifft, zu unerfahren, um sich in lange Verhandlungsprozesse begeben zu können. So orientierungslos und provozierbar, wie sie am Samstag durch Paris irrten, so entwurzelt sind sie auch in ihren politischen Überzeugungen. Zum ersten Mal in Frankreichs Fünfter Republik gehen Linke und Rechte gemeinsam auf die Straße. Das ist nicht die viel beschworene "convergence des luttes", das Zusammenfließen der Widerstände. Es ist die verspätete Quittung der völlig gescheiterten sozialdemokratischen Präsidentschaft des Macron-Vorgängers François Hollande. Der Klassenkampf ist zurück, und eine gemäßigte Linke hat in ihm keinen Platz mehr. Nationalistische Rechte hingegen schon. Die Bewegung der Westenträger spiegelt wie eine verzerrte Fratze die versöhnenden Gesten Macrons. Ich bin weder links noch rechts, sagt der Präsident. Wir auch nicht, brüllt die Straße zurück. Macron inszeniert sich in seiner Abkehr von den politischen Lagern als pragmatischer Modernisierer. Die Menschen an Straßensperren und Barrikaden haben wie ihr Präsident das Vertrauen in die Volksparteien verloren. Doch in ihrer Enttäuschung wenden sie sich nicht Macron zu - sie wehren alles ab, was nach übergeordneter Autorität klingt. Parteien, Steuern, Medien, Polizei. Oder einfach nur die Idee, dass man eine Demonstration anmelden könnte. Übrig bleibt eine destruktive Kraft. Die Proteste sind nicht nur bemerkenswert brutal, sie sind auch bemerkenswert unentschieden. Der einzige Slogan, auf den sich alle einigen können, lautet "Marchons, marchons". Es ist der Marschier-Refrain der französischen Nationalhymne. Nur marschiert gerade niemand in irgendeine Richtung. Weder Macron mit seiner Marschier-Partei, die den Rückhalt in der Bevölkerung immer mehr verliert. Noch die Menschen auf der Straße, die in einem wilden "Es reicht!" vereinigt sind. Frankreich ähnelt in diesen Tagen einer Familie, mit der man ungern in drei Wochen unterm Weihnachtsbaum sitzen möchte. Macron gibt den strengen Vater, der viel von "Pädagogik" spricht, wenn er seine Politik erklärt. Und die, die er wie seine Kinder behandelt, benehmen sich auch so. Null Bock auf Papa und zugleich rasend wütend.
Die Proteste sprengen bisherige Muster. Sie sind destruktiv und gefährlich. Außer dem Zorn auf den Präsidenten eint die Demonstranten wenig.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/krawalle-in-frankreich-feindbild-macron-1.4235818
Feindbild Macron
00/12/2018
Nach den schwersten Ausschreitungen in Frankreich seit Jahren hat Präsident Emmanuel Macron am Sonntag eine Krisensitzung seiner Regierung zu Sicherheitsfragen einberufen. An dem Treffen im Pariser Elysée-Palast nahmen Premierminister Édouard Philippe, Innenminister Christophe Castaner und der für Verkehr und Energie zuständige Umweltminister François de Rugy teil. Sie wollen gemeinsam beraten, wie auf die Krawalle zu reagieren sei. Die französische Regierung erwog offenbar auch die Verhängung des Ausnahmezustands. Es würden alle Optionen geprüft, um erneute Ausschreitungen zu verhindern, sagte ein Regierungssprecher. In dem Krisentreffen wies Macron die Regierung an, Gespräche mit Vertretern der Demonstanten aufzunehmen. Das teilte der Élysée-Palast nach der Sitzung mit. Premierminister Edouard Philippe solle Vertreter der im Parlament vertretenen Parteien sowie der "Gelbwesten" empfangen, die Gespräche bereits am Montag beginnen. Plünderungen mit Äxten, Graffitis am Triumphbogen Demonstranten hatten sich am Samstag vor allem in Paris Straßenschlachten mit der Polizei geliefert, ganze Straßenzüge glichen einem Schlachtfeld. Demonstranten in gelben Warnwesten setzten Autos in Brand, schlugen Fenster ein, plünderten Geschäfte und besprühten den Triumphbogen mit Graffiti. Vermummte Männer randalierten zum Teil mit Metallstangen und Äxten in den Straßen im Zentrum. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. Auch in anderen Teilen des Landes kam es zu Zwischenfällen. In Frankreich ist von einem "Schwarzen Samstag" die Rede. Landesweit wurden bei Protestaktionen der "Gelbwesten" 263 Menschen verletzt, die Hälfte von ihnen in Paris. Unter den Verletzten sind nach Polizeiangaben 23 Sicherheitskräfte. In der Hauptstadt nahm die Polizei 412 Menschen fest, von denen sich am Sonntag noch 378 in Gewahrsam befanden. Macron wird ausgebuht Macron machte sich nach seiner Rückkehr vom G20-Gipfel in Buenos Aires am Sonntag ein Bild von den Zerstörungen in Paris. Er besuchte den Triumphbogen, den Demonstranten mit Parolen wie "Triumph der Gelbwesten" und "Macron, tritt zurück!" besprüht hatten. Auf der nahegelegenen Avenue Kléber traf er Geschäftsleute, deren Läden verwüstet worden waren. In einer Rede dankte Macron den Einsatzkräften. Dabei wurde er von Demonstranten ausgebuht. Es war der dritte landesweite Aktionstag der "Gelbwesten" an einem Samstag in Folge. Nach Angaben des Innenministeriums vom Nachmittag hatten sich daran geschätzt 75 000 Menschen beteiligt. Als Erkennungszeichen tragen die Anhänger der Bewegung gelbe Warnwesten, wie sie für Autofahrer im Fall einer Panne oder eines Unfalls vorgeschrieben sind. Die Proteste richten sich längst nicht mehr nur gegen die erhöhten Spritpreise, an denen sich die Wut ursprünglich entzündete, sondern gegen die Reformpolitik der Regierung sowie hohe Lebenshaltungskosten und niedrige Löhne und Renten.
Der Präsident selbst äußerte sich zunächst nicht zu den Krawallen. Schon am Montag soll die Regierung aber Gespräche mit Vertretern der "Gelbwesten"-Demonstranten aufnehmen.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-paris-proteste-macron-gelbwesten-1.4235517
"Frankreich: Krisensitzung nach dem ""Schwarzen Samstag"""
00/12/2018
Im Handelsstreit gehen die USA und China zögerlich aufeinander zu. Die Gefahr für die Weltwirtschaft ist damit aber noch nicht gebannt. Waffenstillstand also, mancher spricht gar schon von Frieden. Wenn sich die Experten da mal nicht täuschen. US-Präsident Donald Trump und sein Pekinger Kollege Xi Jinping haben vereinbart, den Handelsstreit zwischen ihren Ländern vorerst nicht weiter anzuheizen. Das ist zunächst tatsächlich eine gute Nachricht, denn eine Eskalation hätte das ohnehin fragile Weltwirtschaftswachstum zusätzlich schwer belastet. Diese Gefahr ist nun abgewendet. Allerdings wohl nur vorerst, denn das Grundsatzproblem bleibt. China will die USA politisch wie wirtschaftlich als Weltmacht Nummer eins ablösen, die Amerikaner wollen eben dies verhindern: Das - und nicht die Handelsbilanz - ist der eigentliche Kern der Auseinandersetzung. Xi Jinping steht intern unter Erfolgsdruck Dazu kommen das Naturell der beiden Präsidenten und die Umstände, unter denen sie arbeiten. Trump ist ein Spieler, der in der Kategorie von Sieg und Niederlage denkt. Er braucht Zuspitzungen und Beinahe-Katastrophen, um weiter den starken Mann markieren zu können. Xi wiederum mag zwar kein Narziss sein. Er steht jedoch intern unter Erfolgsdruck und ist zudem ein kühler Machtpolitiker, der nicht das große Ganze im Blick hat, sondern permanent versucht, für Chinas Marsch an die Weltspitze Zeit zu gewinnen. Nach dauerhaftem Frieden klingt das alles nicht.
Im Handelsstreit gehen die USA und China zögerlich aufeinander zu. Die Gefahr für die Weltwirtschaft ist damit aber noch nicht gebannt.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/handelsstreit-bruechiger-friede-1.4235820
Handelsstreit China und USA: Kein dauerhafter Friede
00/12/2018
Die Parteichefs unmittelbar nach Adenauer und Kohl hatten kein Glück. Sie standen nur kurz an der Spitze der CDU. Was bedeutet das für die Merkel-Nachfolge? Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen. Am kommenden Freitag, endlich: Auf dem CDU-Parteitag in Hamburg wird der neue oder die neue Vorsitzende der CDU gewählt, der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Angela Merkel. Nur sieben Vorsitzende hatte die CDU bisher in siebzig Jahren - am kommenden Freitag wählt die CDU den achten. Die SPD hat da der CDU viel voraus: Sie hatte 18 Vorsitzende in siebzig Jahren; auf einen CDU-Chef kommen also statistisch zweieinhalb SPD-Chefs. Auf Siebenmeilenstiefeln durch die CDU-Geschichte Dieser Text unternimmt den Versuch, auf Siebenmeilenstiefeln durch sieben Jahrzehnte Bundesrepublik zu laufen - und bei jedem CDU-Parteitag kurz anzuhalten, auf dem ein neuer CDU-Vorsitzender gewählt wurde. Station eins: 1950, CDU-Parteitag in Goslar, gewählt wird Konrad Adenauer. Station 2: 1966, CDU-Parteitag in Bonn, gewählt wird Ludwig Erhard. Station 3: 1967: CDU-Parteitag in Braunschweig, gewählt wird Kurt Georg Kiesinger. Station 4: 1971, CDU-Parteitag in Saarbrücken, gewählt wird Rainer Barzel. Station 5: 1973, CDU-Parteitag in Bonn, gewählt wird Helmut Kohl. Station 6: 1998, CDU-Parteitag in Bonn, gewählt wird Wolfgang Schäuble. Station 7: 2000, CDU-Parteitag in Essen, gewählt wird Angela Merkel. Fixsterne und Sternschnuppen Es sind Namen darunter, die für Fixsterne gehalten wurden, aber dann schnell verglühten. Und es sind Namen darunter, die für Sternschnuppen gehalten wurden, aber Fixsterne wurden. Drei Fixsterne hat die CDU: Adenauer, Kohl und Merkel. Bisher war es so, dass jedem Nachfolger eines Großen nur eine sehr kurze Zeit beschieden war: Ludwig Erhard, der Mann nach Adenauer, führte die CDU nur ein gutes Jahr. Wolfgang Schäuble, der Mann nach Kohl, führte sie nur eineinhalb Jahre. Das ist ein Menetekel für den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Merkel. Konrad Adenauers Wahl, 1950 in Goslar: Gewählt wurde Adenauer mit 302 von 335 Stimmen und nach seiner Wahl sagte er einen Satz, den man Jahrzehnte später von Angela Merkel wieder hörte: "Sie kennen mich." Adenauer machte es freilich noch ein wenig ausführlicher als später Merkel im Wahlkampf von 2013: "Ich kenne Sie und Sie kennen mich, das wird die beste Grundlage für eine Zusammenarbeit sein." Große Überraschungen waren dementsprechend nicht zu erwarten; und so wurde seinerzeit den Delegierten in Goslar eine neue Parteisatzung vorgelegt, auf deren gedrucktem Titelblatt schon mitgeteilt wurde, dass der erste Vorsitzende der Partei "Herr Bundeskanzler Dr. Adenauer" sei - und dies, noch bevor der Parteitag ihn gewählt hatte. Der Parteitag damals war noch ein "gesamtdeutscher Parteitag", und er war nach Goslar einberufen worden, um, wie es hieß, "der Zonengrenze nahe zu sein". Auf diesem Parteitag wurden auch noch für die Gebiete östlich von Oder und Neiße CDU-Vertreter bestellt, fünf an der Zahl. Mit Bayern und der CSU hatte die CDU schon damals ihre Schwierigkeiten. Bayern, so hieß es dazu auf Seite Drei der SZ, "glänzt durch Abwesenheit. Zwar flattern weißblaue Fahnen und gutmütige Reden kreisen um dieses kaum verstandene und dennoch viel umworbene Land. Niemand begreift, warum die CSU bei diesem Aufbruch gesamtdeutscher Politik in der CDU nicht dabei sein will." (Zu Adenauer siehe SZ vom 18. April 2017: "Entweder Europa - oder der Untergang") Ludwig Erhards Wahl, 1966 in Bonn: Er bekam 413 Stimmen, 80 Delegierte stimmten gegen ihn, 56 enthielten sich der Stimme - ein sehr mittelmäßiges Abstimmungsergebnis. Das "Ich nehme die Wahl an" brummelte er missmutig vor sich hin. Hans Ulrich Kempski, der Chefreporter der SZ, beschrieb das so: "Er sagte es so kleinlaut wie ein Feldherr, der seiner Kapitulation zustimmt. ... Er steht da wie ein überforderter Mann, der sich redlich, aber erfolglos mit Deutschlands vertrackten Problemen abmüht, von denen auch andere redliche Menschen nicht wissen, wie sie zum guten Ende zu bringen wären." Die Delegierten hatten einen Parteichef gewählt, von dessen Führungsqualitäten nur wenige überzeugt waren. Und Adenauer, der Alte, trumpfte noch einmal groß auf - er war damals 91 Jahre alt und ein Jahr vor seinem Tod. Er verwirrte in einem großen Auftritt die Partei mit der Feststellung, die Sowjetunion sei in die Reihe jener Völker eingetreten, die den Frieden wollen. Er wurde nicht müde, den Delegierten einzuhämmern, dass die Deutschland seitens der Sowjetunion zugefügten Härten Vergeltung sind: "Vergeltung für harte Wunden, die den Russen unter Hitler geschlagen wurden". Kurt Georg Kiesingers Wahl, 1967 in Braunschweig: Er erhielt 423 von 449 Stimmen und wurde euphorisch gefeiert als die neue Wahllokomotive. Er war so unumstritten, dass er schon vor der Wahl wie selbstverständlich im Zentrum des Vorstandstisches saß, wie auf einem seit Langem angestammten Platz. "Gelangweilt gähnend", so beobachtete der SZ-Reporter, betrachtete er das Parteivolk. Kiesinger, "König Silberzunge" genannt, damals auch Kanzler der ersten großen Koalition mit der SPD, galt als großer Redner. Doch die einzige Rede, über die sich Gedanken zu machen lohnte, hielt nach dem Urteil des SZ-Reporters der Unions-Fraktionschef Rainer Barzel: "Loyal gegenüber dem Partner in der großen Koalition, doch durchaus kritisch gegenüber den Unzulänglichkeiten in den eigenen Reihen". Rainer Barzels Wahl, 1971 in Saarbrücken: Zum ersten Mal in der Geschichte der CDU und aller anderen Parteien in der Bundesrepublik standen zwei Kandidaten für den Parteivorsitz zur Verfügung - Rainer Barzel und Helmut Kohl. Barzel erzielt 66 Prozent der Stimmen. Für ihn stimmten 344 von 521 Delegierten, für Kohl nur 174 (zu Rainer Barzel siehe den Nachruf in der SZ vom 26. 8. 2008 "Der Mann, der fast Bundeskanzler war"). Kohl hatte die Kandidaten-Debatte eröffnen dürfen, er war den Delegierten aber als ein blutarmer Held erschienen. Man wartete vergeblich auf ein Wort, das geeignet gewesen wäre, dem Duell eine neue Wendung zu geben. Von einem "wohlpräparierten Rededuell" schrieb der SZ-Kommentator: "auf der einen Seite der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kohl, sich mit treuherziger Routine als Mensch und nur als Mensch vorstellend, auf der anderen der Fraktionsvorsitzende Barzel, das supersachliche Elektronengehirn hervorkehrend." Knapp zwei Jahre später war schon alles anders. Helmut Kohls Wahl, 1973 in Bonn: Er erhielt 520 von 600 Stimmen und forderte "eine Wende in der Politik" - in der damals Bundeskanzler Willy Brandt den Ton angab. Kohls Antrittsrede riss die Delegierten nicht von den Stühlen, sein Stellvertreter Stoltenberg erhielt sehr viel mehr Stimmen als der neue Chef, und der Fraktionschef Carstens sehr viel mehr Beifall. Der scheidende Parteichef Barzel mahnte die Union, sich stets bewusst zu sein, dass man sich mit den anderen Parteien im Wettbewerb um die politische Mitte befinde. Der hessische Landesvorsitzende Alfred Dregger zeigte, was er sich unter der von Kohl geforderten Wende vorstellte: Er warnte die CDU davor, die SPD links zu überholen. Links von der SPD, so meinte er, stehe nicht einmal mehr die DKP: "Da gibt es nur die Wand - und was sollen wir da?" Bei den Delegierten herrschte Zweifel, ob mit dem neuen Vorsitzenden Kohl der Durchbruch für die Partei geschafft sei. "Ob Kohl zusammen mit seinem Generalsekretär Biedenkopf imstand ist, die einigende Führungsfigur zu sein?", fragte der SZ-Leitartikler. (Zu Helmut Kohl siehe SZ-Magazin vom 12. März 2010, Laudatio zum 80. Geburtstag) Wolfgang Schäubles Wahl, 1998 in Bonn: Neun Jahre hatte Kohl die Partei durch die Opposition geführt, 16 Jahre lang hatte er in Personalunion die CDU und die Bundesrepublik regiert. Er unterlag 1998 dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder. Schäuble, lange Adlatus von Kohl, gewann neunzig Prozent der Delegiertenstimmen. Der SZ-Leitartikler war mit Schäubles Antrittsrede nicht zufrieden: "Während sich der Alte, wie es ihm zustand, mit einer rückblickenden Rede verabschiedete, hielt der Neue ein Ansprache, die beunruhigend bekannt klang. Sie war zu lang; sie war zu kopflastig, um zu begeistern. Sie widmete den Ursachen der Niederlage ganze drei Absätze. Es wäre eine interessante Rede für eine Nummer Zwei gewesen. Doch ist Wolfgang Schäuble jetzt Nummer Eins." (zu Wolfgang Schäuble siehe SZ-Magazin vom 6. Februar 2004) Angela Merkels Wahl, 2000 in Essen: Sie schwamm in ihr Amt auf einer gewaltigen Welle der Sympathie. Alfred Dregger, damals der letzte Repräsentant des ganz rechten Parteiflügels, hatte Tränen in den Augen: "Mit der Wahl von Angela Merkel vollendet die CDU die deutsche Einheit", erklärte der Erzkonservative. Aber auch Heiner Geißler freute sich: "Endlich eine Parteispitze, wie ich sie mir immer gewünscht habe." Die Partei schwanke, so hieß es in den Kommentaren, zwischen Tradition und Moderne. Und die Verlegenheitskandidatin Merkel habe bereits im Krisenmanagement beschrieben, dass sie mehr könne, als die alten Herren im Vorstand ihr zugetraut hätten ... Das ist nun bald 19 Jahre her. Adenauer, Kohl, Merkel: Bisher war es so, dass jedem Nachfolger der drei Großen nur eine sehr kurze Zeit beschieden war: Ludwig Erhard, der Mann nach Adenauer, führte die CDU nur ein gutes Jahr. Wolfgang Schäuble, der Mann nach Kohl, führte sie nur eineinhalb Jahre. Das ist ein Menetekel für den Nachfolger oder die Nachfolgerin von Merkel. Am kommenden Freitag wird er oder sie gewählt. Danach ist - die CDU-Historie zeigt es - der Kampf noch nicht vorbei; dann beginnt er erst richtig.
Die Parteichefs unmittelbar nach Adenauer und Kohl hatten kein Glück. Sie standen nur kurz an der Spitze der CDU. Was bedeutet das für die Merkel-Nachfolge?
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-cdu-parteichef-1.4236251
Prantls Blick: Die Schwierigkeit, Nachfolger zu sein
00/12/2018
Peter Tischler und Khalid al-Shantot wussten, wie Syrer und Deutsche ticken. Jetzt wissen sie, wo sie daneben lagen - aber auch, dass manches Klischee nicht ganz falsch ist. Khalid al-Shantout ist Syrer, 29 Jahre alt und - genau: Arzt. Er entspricht dem Wunsch- und Klischeebild von 2015. Auf dem gläsernen Couchtisch in seiner Einzimmerwohnung liegt das Deutsche Ärzteblatt neben einem syrischen Kochbuch. Draußen drückt eine Nebelglocke auf die Dächer. Drinnen ist die Heizung voll aufgedreht, es riecht nach schwerem Mokka und Kardamom, wie ein würziger Weihnachtsduft. Integration in Deutschland Dieser Text ist Teil der SZ-Integrationsserie "Schaffen wir das?". Alle Folgen der Serie finden Sie hier. Der junge Arzt blättert im Kochbuch und zeigt auf Molokheya, eine Spezialität aus dem Orient. Die habe er seinem deutschen Freund Peter Tischler vor einigen Monaten serviert. Die Blätter des Muskrauts kocht man wie Spinat, dann ein wenig Koriandergrün, Chilischoten und reichlich Knoblauch. Tischler sitzt ihm gegenüber auf dem Sofa, holt sein Monokel aus der Brusttasche und wirft einen Blick ins Kochbuch. "Ja, das war echt lecker", sagt er. Das Bild des orientalischen Macho, der sich nur bekochen lässt, verschwand spätestens, als Tischler das Fladenbrot ins dampfende Molokheya tunkte. Es dauerte zwar, bis der 64-Jährige wusste, was es mit der grünen Suppe auf sich hatte. Aber darum gehe es ja, sagt Tischler, ein gelernter Bildhauer, der sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert. Man müsse aus seiner Komfortzone rauskommen, Grenzen überschreiten, auch mal kulinarische, um sich besser kennenzulernen, um seinen Blick zu weiten. Einfach ist das nicht. Auch er habe Klischees im Kopf, habe er immer noch. Etwa, dass syrische Mädchen fahrradfahren dürfen - das war für ihn kaum vorstellbar, doch dann sah er, wie sich diese Mädchen ohne Probleme auf den Sattel schwangen. Detailansicht öffnen Sie überschreiten Grenzen, geografisch, kulinarisch, gedanklich: der Asylhelfer Peter Tischler (links) und der syrische Arzt Khalid al-Shantot. (Foto: Brigitte Loibl-Piffer) Als der Deutsche den Syrer kennenlernte, fragte er sich: Wie der wohl mit Frauen umgeht? Oder dass ihm alle syrische Frauen den Handschlag verweigern würden - tatsächlich aber ergriffen manche sogar selbst die Initiative. Auch als Tischler Khalid al-Shantout kennenlernte, den syrischen Arzt mit dem faltenfreien weißen Hemd und dem sauber gestutzten Bart, da fragte er sich, wie der wohl mit Frauen umgehe. Seit drei Jahren lebt al-Shantout im niederbayerischen Simbach am Inn. In Homs hatte er nur ein Jahr lang als Kinderarzt gearbeitet, dann begann der Krieg. Seitdem überquert er Grenzen, regelmäßig. Ins Nachbarland zum Beispiel, Simbach liegt nur wenige Kilometer vom österreichischen Braunau entfernt. Sein erstes Klischee von Deutschland verschwand, als er ein paar Kilometer aus der Stadt rausfuhr. "Von wegen Deutschland, das hoch entwickelte Land schlechthin", sagt er. Aus vier Balken Handyempfang wurden ganz schnell null. Sogar in der syrischen Wüste habe er besser telefonieren können. Aber manche Klischees stimmten einfach, sagt al-Shantout und klappt das Kochbuch zu. Das Genießen, das beherrschten die Deutschen einfach nicht so gut wie die Syrer. Das Leben hier bestehe hauptsächlich aus Arbeit, man gehe unter der Woche früh ins Bett, um am nächsten Tag wieder fit zu sein. Keine Kaffeehauskultur, kein spontanes Vorbeischauen bei Freunden, immer Termine machen - am besten zwei Wochen im Voraus. "Bei uns ist es andersrum, wir arbeiten, um zu genießen", sagt al-Shantout und hebt entschuldigend die Hände. Doch Tischler nickt zustimmend: "Bei uns hat man nicht mal mehr Zeit zum Essen. Wenn man's in zwanzig Minuten drin hat, am besten noch unterwegs, dann hat man für ein paar Stunden seine Ruhe."
Peter Tischler und Khalid al-Shantot wussten, wie Syrer und Deutsche ticken. Jetzt wissen sie, wo sie daneben lagen - aber auch, dass manches Klischee nicht ganz falsch ist.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/sz-serie-schaffen-wir-das-folge-12-wie-ein-deutscher-und-ein-syrer-ihre-vorurteile-ueberwanden-1.4230639
Integration - Vorurteile bei Deutschen und Flüchtlingen
00/12/2018
Fast wie bei James Bond: Sprengsätze der britischen Armee, die in Ziegelsteinen versteckt waren. Im Zweiten Weltkrieg lernten britische Agenten Spezialwaffen in einer geheimen Ausstellung kennen. Die Erfindungen waren mitunter ziemlich kurios - wie später in Filmen von James Bond. "Nicht anfassen, das ist mein Mittagessen!" Bei James Bonds Quartiermeister Q ist nie sicher, ob das Sandwich echt ist oder explodiert, wenn einer hineinbeißt. Qs Labor gleicht einem Museum für Agentenausrüstung, eine Erfindung des James-Bond-Schöpfers Ian Fleming und der Filmindustrie. Doch es ist mehr dran an den Gerätschaften als gedacht. Beinahe wäre eine Absurdität des englischen Geheimdienstes in den Annalen der Geschichte verschwunden, die zeigt, dass die Abteilung Q des MI 6 wohl nicht nur der Fantasie entsprungen ist: der Ausstellungsraum der "Special Operations Executive", kurz SOE, im Londoner Natural History Museum. Sondertruppe für Sabotageakte Die Sondertruppe wurde 1940 von Winston Churchill geschaffen für Sabotageakte in Deutschland und in besetzten Gebieten. Sie galt als seine Geheimarmee. Weil ihr Hauptquartier in der Baker Street lag, wurden ihre Mitglieder auch als "Baker Street Irregulars", als Baker-Street-Spezialeinheit, bezeichnet nach den Hilfsdetektiven, durch die Sherlock Holmes Informationen bekam. Die SOE konnte wegen der Geheimhaltungsstufe mit unorthodoxen Mitteln operieren, anders als der offizielle Geheimdienst, der Secret Intelligence Service - Bond-Fans als MI6 bekannt. Der sprach sich wiederholt gegen die SOE aus, die er für ein Stümperkommando hielt. Die SOE wurde in den Neunzigerjahren bekannt, als die Regierung Geheimakten aus dem Zweiten Weltkrieg freigab. Doch dass es die Abteilung XVb gab, ebenjenen Raum im Natural History Museum, wurde zufällig 2004 aufgedeckt: Paul Clark, ein Experte für Einsiedlerkrebse, ging dem Hinweis seines Vaters nach, der einst geheime Versorgungsflüge für die französische Résistance unternommen hatte. Clark recherchierte im Museumsarchiv und stieß auf Fotos eines im Krieg geschlossenen Gebäudeflügels mit einer geheimen Spionageausstellung. Angehende Detektive sollten sich hier über den "State of the Art" der Ausrüstung informieren. Zugleich war die Sammlung ein PR-Instrument für die Einheit, die ständig ums Fortbestehen kämpfen musste. Fotos von König George und Königin Elisabeth belegen, dass sie der Einladung der SOE folgten, ein Eintrag im Tagebuch des Diplomaten Bruce Lockhart bezeichnete die Ausstellung als "good show". In sechs Räumen wurden nach Themen geordnet Exponate aus so aufregend klingenden Bereichen wie "Brandsätze und Sprengladungen" oder "Tarnung von Sprengstoffen" gezeigt: als Kohle oder Brennholz getarnte Bomben, die unters Brennmaterial von Zügen gemischt werden konnten, explodierender Tierdung - je nach Einsatzgebiet den Exkrementen von Pferden, Eseln oder Kamelen nachempfunden; auch Attrappen in Obst- und Gemüseform, um sie unter echte Lebensmittel zu schmuggeln. Zu den absurderen Erfindungen gehörten in ausgestopfte Ratten eingenähte Sprengsätze und Schuhe, die Barfußabdrücke hinterließen, um den Feind zu verwirren. Auch neue Maschinenpistolen, Revolver und Haftminen sowie Schwimmausrüstungen und mit Fallschirm abwerfbare Miniaturmotorräder waren zu sehen. Aus der Tarnabteilung kamen detaillierte Nachbildungen von landesspezifischer Kleidung - es sollte kein Spion auffliegen, nur weil seine Kragenknopflöcher horizontal genäht waren wie in Großbritannien üblich, und nicht vertikal wie auf dem Festland. Unglaublicherweise hielt die SOE einen illustrierten Katalog der verfügbaren Gadgets bereit, aus dem die Agenten direkt bestellen konnten. Ob sie auf der Bestellkarte ihren Decknamen oder ihren Klarnamen angeben mussten, ist nicht überliefert. Natürlich war die Ausrüstung wichtig, doch mussten die Agenten auch ein Sondertraining absolvieren, um ihre Tarnidentität zu verinnerlichen und auch als Gefangene und bei Folter aufrechterhalten zu können. Neben körperlichem Training, Schießübungen und einer Fallschirmausbildung stand daher Schauspielunterricht auf dem Lehrplan. Der ehemalige Filmkritiker Paul Dehn entwickelte dafür ein Training, das einen 96-stündigen Probeeinsatz unter Realbedingungen vorsah, heute würde man wohl Live Action Roleplay dazu sagen. Bei allen Vorbehalten der SOE gegenüber war der MI 6 von dieser Methode begeistert und übernahm sie ins eigene Ausbildungsprogramm. Dehn schrieb später die Drehbücher zur Bond-Verfilmung "Goldfinger" (1964) und der Adaption des Romans "Der Spion, der aus der Kälte kam" von John le Carré (1965). Der Stuckateur Walter Bull, der führend an der Entwicklung der explodierenden Kohle beteiligt war, arbeitete später als Szenenbildner für Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" (1968). Der Leiter dieser Ausbildungseinheit war James Ernest Elder Wills, der spätere künstlerische Leiter der Produktionsfirma Hammer Films, die sich in den Sechzigerjahren mit Horrorfilmen wie etwa der Dracula-Reihe mit Christopher Lee einen Namen machte. Wills schrieb zudem das Drehbuch für den Film "Against the Wind" (1948), einem Thriller über die SOE, für den er damals von der Kritik wegen des vermeintlich so absurden Einfalls einer Spezialeinheit verlacht wurde. Filmindustrie und Geheimdienst beeinflussten einander Es dauerte beinahe 50 Jahre, bis die Kritiker eines Besseren belehrt wurden, offenbar beeinflussten Filmindustrie und Geheimdienst einander mehr, als es sich der gemeine Film-Fan träumen ließ. Ob auch Ian Fleming von der Ausstellung wusste, ist nicht klar, doch war er als persönlicher Assistent von Admiral Godfrey dessen Kontaktmann zu den Geheimdiensten, auch zur SOE. Nach dem Krieg und Churchills Wahlniederlage 1945 wurde die SOE 1946 aufgelöst. Den MI 6 gibt es bis heute.
Im Zweiten Weltkrieg lernten britische Agenten Spezialwaffen in einer geheimen Ausstellung kennen. Die Erfindungen waren mitunter ziemlich kurios - wie später in Filmen von James Bond.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/geheimwaffen-briten-weltkrieg-hitler-deutschland-james-bond-1.4220630
Zweiter Weltkrieg: Geheimwaffen wie bei James Bond
00/12/2018
Die israelische Polizei empfiehlt, Anklage gegen Premierminister Benjamin Netanjahu zu erheben - in einem dritten Fall. Es ist der Korruptionsfall, der Netanjahu am gefährlichsten werden könnte. Dem Politiker der rechten Likud-Partei und seiner Frau Sara wird Bestechung, Betrug und Untreue in einer Affäre rund um den Telekom-Konzern Bezeq vorgeworfen. Nach Ansicht der Ermittler gibt es ausreichend Beweise, dass zwischen Netanjahu, seiner Frau Sara, Bezeq-Eigentümer Schaul Elovitch sowie dessen Frau "korrupte Beziehungen herrschten", teilte die Polizei am Sonntag mit. Bereits im vergangenen Februar hatte die Polizei empfohlen, in zwei anderen Korruptionsaffären Anklage zu erheben. In einem Fall geht es um die Annahme von Geschenken wie Zigarren und Champagner im Wert von einer Million Schekel (umgerechnet etwa 230 000 Euro). Im zweiten soll Netanjahu für positivere Berichterstattung im Gegenzug Einschränkungen für eine Konkurrenzzeitung in Aussicht gestellt haben. "Unverblümt interveniert" für positive Berichterstattung Der neueste Vorwurf ist für Netanjahu angesichts der Beweislage noch gefährlicher. Sein ehemaliger Medienberater Nir Hefetz hat sich den Ermittlern als Kronzeuge zur Verfügung gestellt. Es gibt Aufnahmen von Gesprächen, in denen Sara Netanjahu positive Berichterstattung im zum Bezeq-Konzern gehörenden Medium Walla einfordert. Walla ist eines der zwei führenden Nachrichten-Portale in Israel. "Netanjahu und ihm Nahestehende haben wegen Inhalten auf der Walla-Website unverblümt interveniert, manchmal sogar täglich, und sie versuchten Einfluss zu nehmen auf die Bestellung von höherrangigen Angestellten (Redakteuren und Reportern), indem sie ihre Beziehungen zu Schaul und Iris Elovitch ausgenutzt haben", erklärte die Polizei. Die Ermittler haben eigenen Angaben zufolge 60 Zeugen befragt und jede Menge Dokumente und Aufnahmen ausgewertet. Netanjahu wird verdächtigt, in seiner Zeit als Kommunikationsminister Bezeq rechtliche Vergünstigungen ermöglicht zu haben. Zwischen 2014 und 2017 war der Premierminister zusätzlich für das Kommunikationsressort in der Regierung verantwortlich. Die Polizei empfiehlt im sogenannten "Fall 4000" auch Anklage gegen den Sohn des Bezeq-Eigentümers sowie Zeev Rubinstein, einen Geschäftsmann mit engen Verbindungen zu beiden Ehepaaren. Er soll als Mittelsmann in der angeblichen Schmiergeldaffäre fungiert haben. Die Ermittlungen gegen Netanjahus Sohn Yair wurden eingestellt. Anklagen werden aber gegen weitere Bezeq-Manager empfohlen. Netanjahu glaubt nicht an Anklage Netanjahu wies in einer schriftlichen Erklärung die Vorwürfe entschieden zurück, es gebe keine rechtliche Basis dafür. Er sei zuversichtlich, dass es letztlich nicht zu einer Anklage kommen werde, "weil es nichts gibt", hieß es in seiner Mitteilung. Ihn überrasche dieser Schritt ebenso wenig wie das Timing. Netanjahu spielte damit darauf an, dass die Anklageempfehlung am letzten Amtstag von Polizeichef Roni Alsheich veröffentlicht wurde, dessen Amtszeit nach drei Jahren nicht mehr verlängert worden war. Seine Korruptionsermittlungen gegen den Regierungschef hatten bei diesem Unmut ausgelöst. Auch die Anwälte des Ehepaares Elovitch wiesen die Vorwürfe zurück. Zum Auftakt der Kabinettssitzung am Sonntag, bei der trotz Widerspruchs der Auswahlkommission der Regierungskandidat für die Nachfolge des scheidenden Polizeichefs nominiert werden sollte, äußerte sich Netanjahu nicht zur Anklageempfehlung. Er sprach lediglich andere Themen an. Die Opposition verlangte den Rücktritt des Regierungschefs, der wiederholt erklärt hatte, selbst im Falle einer Anklage werde er im Amt bleiben. Als Oppositionsführer hatte Netanjahu 2008 den damaligen Regierungschef Ehud Olmert zum Rücktritt gedrängt, als dieser unter Korruptionsverdacht stand. Die Entscheidung, ob tatsächlich Anklage erhoben wird, trifft in allen Fällen Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit nach Konsultationen mit einem Team von Rechtsberatern. Israelischen Medien zufolge soll es in den ersten zwei Fällen, die bereits seit Februar bearbeitet werden, eine Empfehlung geben, Anklage zu erheben. Mandelblit hatte vor kurzem das Team noch einmal aufgestockt. Spätestens im November 2019 stehen in Israel Wahlen an. Nach dem Rückzug von Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und dessen Partei hat die Koalition nur noch eine Stimme Mehrheit in der Knesset. Sollte es zu einer Anklage kommen, wäre das eine Hypothek für Netanjahu im Wahlkampf. Sara Netanjahu steht seit kurzem bereits vor Gericht. Sie ist angeklagt, drei Jahre lang auf Staatskosten Essenslieferungen im Wert von umgerechnet 83 000 Euro bestellt zu haben.
Israels Premier wird erneut Korruption vorgeworfen, diesmal geht es um wohlwollende Berichterstattung. Dieser dritte Fall könnte Netanjahu am gefährlichsten werden.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-polizei-empfiehlt-anklage-gegen-netanjahu-1.4236166
Israel - Polizei empfiehlt Anklage gegen Netanjahu
00/12/2018
Paris, einen Tag nach den Krawallen: Ein Auto, besprüht mit einer die Polizei beleidigenden Abkürzung, liegt ausgebrannt in der Innenstadt. Die Proteste gegen die Politik vom Präsident Emmanuel Macron waren am Samstag in massive Gewalt umgeschlagen: Fenster wurden eingeschlagen, Geschäfte geplündert und Autos angezündet. Bei den schwersten Ausschreitungen seit Jahren in Frankreich wurden am Samstag mehr als 100 Menschen verletzt, mehr als 400 wurden festgenommen.
Ein beschmierter Triumphbogen, ausgebrannte Autos, geplünderte Geschäfte: Am Tag nach den Krawallen zeigt sich die französische Hauptstadt erschüttert von den schwersten Ausschreitungen seit Jahren.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/proteste-in-frankreich-paris-im-schockzustand-1.4235688
Proteste in Frankreich - Paris im Schockzustand
00/12/2018
Als die Peak Pegasus am 8. Juni in Seattle in See stach, war der Frachter bloß eines von Tausenden Schiffen, die jeden Tag auf den Weltmeeren verkehren - die Boten der Globalisierung, deren Namen niemand kennt. 70 000 Tonnen Sojabohnen hatte die Peak Pegasus geladen. Ihr Reiseziel: die nordostchinesische Hafenstadt Dalian auf der anderen Seite des Pazifiks. Einen Monat dauert diese Passage. Als am 6. Juli die USA und China neue Strafzölle erließen, konnte die Besatzung schon die Küstenlinie sehen - zu spät. 25 Prozent Preisaufschlag waren nun für Sojabohnen fällig. Die Reederei setzte auf Hoffnung und ließ das Schiff im Gelben Meer kreisen, bald war die Peak Pegasus Gesprächsthema in Chinas sozialen Netzwerken. Jede Schleife wurde eifrig verfolgt und kommentiert, aus dem anonymen Schiff wurde so das Symbol des sich zuspitzenden Handelsstreits zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Erde. Dieser Zwist könnte sich nun abkühlen. Als die meisten Staats- und Regierungschefs längst abgereist waren, zogen sich US-Präsident Donald Trump und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping nach dem G-20-Gipfel mit ihren Beratern zum Abendessen in ein Luxushotel in Buenos Aires zurück. Bei Steak und argentinischem Rotwein kamen sich beide Seiten näher und einigten sich nach zweieinhalb Stunden auf eine Art Waffenstillstand. Keine neuen Abgaben für niemand. Seit dem Frühjahr hatten sich die beiden Staaten gegenseitig mit Strafzöllen überzogen. Kaum legte Washington vor, konterte Peking. Erst drei, dann 34 und dann noch einmal 16 Milliarden Dollar. Hüben wie drüben. Im September verhängte Trump weitere Abgaben auf chinesische Waren, diesmal im Wert von 200 Milliarden. Da konnte Peking rein mathematisch nicht mehr mithalten. China importierte zuletzt Waren für etwa 130 Milliarden Dollar aus den Vereinigten Staaten. Chinas Reaktion: 60 Milliarden Dollar neue Zölle. Seitdem sind beinahe alle amerikanischen Einfuhren mit Abgaben belegt. Kommenden Monat wollten die USA dann wieder nachziehen. In den vergangenen Wochen hatte Trump angedroht, weitere Importe im Wert von 256 Milliarden Dollar mit Sonderzöllen belegen zu wollen, wenn China nicht ausreichend entgegenkommt. Nun klang er deutlich moderater: "Es war ein erstaunliches und produktives Treffen mit unbegrenzten Möglichkeiten sowohl für die USA als auch China", sagte Trump. Nach Angaben des Weißen Hauses ist der Burgfrieden mit einer Frist verknüpft, in der China weitere Konzessionen machen muss. Beide Seiten wollen Trumps Sprecherin Sarah Sanders zufolge versuchen, ihre Differenzen innerhalb von 90 Tagen zu beseitigen. Wenn bis dahin keine Einigung erzielt werden könne, würden die USA ihre Pläne für eine Erhöhung der Abgaben auf Importe aus China umsetzen. China habe sich im Gegenzug bereit erklärt, eine nicht näher vereinbarte, "aber sehr bedeutende Menge" an Produkten aus der Landwirtschaft, dem Energie- und Industriesektor sowie anderen Wirtschaftszweigen aus den USA zu importieren, berichtete Sanders. So soll offenbar das große amerikanische Handelsdefizit zu China verringert werden. Die Handelslücke ist aber nur eines der beiden Probleme, die Peking und Washington miteinander haben. Das zweite heißt: "Made in China 2025". Ein groß angelegter Staatsplan für eine ganz neue Industrie. Zehn Branchen haben sich die Wirtschaftsplaner herausgesucht: Autos und Züge, den Flugzeugbau, die digitalisierte Produktion oder die Pharmaindustrie - überall soll die Volksrepublik bald führend sein. An Geld fehlt es dafür nicht: Der Staat hilft mit Forschungsförderung; Entwicklungsbanken und extra eingerichtete Fonds versorgen die ausgewählten Branchen mit günstigen Krediten - das hilft vor allem beim Kauf von ausländischen Konkurrenten. Ziemlich unfairer Wettbewerb, wie man in Washington findet, genauso übrigens in Brüssel und Berlin. "Sehr positive und konstruktive" Gespräche Darum geht es in den kommenden 90 Tagen. Die neuen Verhandlungen sollen sich mit "strukturellen Veränderungen" hinsichtlich zwangsweisem Technologietransfer, Urheberrechtsschutz, Marktbarrieren, Cyber-Attacken, Dienstleistungen und Landwirtschaft beschäftigen, erklärte Trump-Sprecherin Sanders. Chinas Außenminister Wang Yi bestätigte die Vereinbarung, erwähnte aber die Frist von 90 Tagen nicht. Ziel der Verhandlungen sei es, alle verhängten Sonderabgaben zu beseitigen. Wang sprach von einer "wichtigen gemeinsamen Übereinkunft" und "sehr positiven und konstruktiven" Gesprächen. Für die Peak Pegasus kommt die amerikanisch-chinesische Annäherung allerdings ein wenig zu spät. Mitte August gaben ihre Betreiber auf und ließen die Ladung teuer löschen: Gut Sechs Millionen Dollar Zoll fielen für die Sojabohnen an. Dazu rund 400 000 Dollar Mehrkosten für das wochenlange Kreisen auf hoher See.
Der Handelsstreit zwischen den USA und China könnte sich abkühlen, die Staatschefs einigen sich auf einen Verzicht auf neue Strafzölle. Vorerst. Trump sieht darin "unbegrenzte Möglichkeiten" für beide.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/g-20-gipfel-usa-china-handelsstreit-strafzoelle-einigung-1.4235480
G-20-Gipfel: Eine Art Waffenstillstand für Strafzölle
00/12/2018
Egomanen, Autokraten und Zollkrieger dominieren die Gruppe der G20. Nur deshalb sorgt die dürftige Einigung für Erleichterung. Vielleicht wurde die vorerst letzte Chance verpasst, zumindest ein großes globales Problem zu lösen. Mauricio Macri, 59, hat diesmal nicht so ergreifend geweint wie am Samstagabend im Teatro Colón, als ihn der dargebotene musikalische Streifzug durch sein wahrhaft schönes Land zu Freudentränen rührte. Aber dass er glücklich, zufrieden und vor allem sehr erleichtert war, das merkte man dem argentinischen Präsidenten sehr wohl an am Sonntagnachmittag. Es ist aus seiner Sicht gerade noch mal gut gegangen mit diesem G20-Gipfel von Buenos Aires, Macris bislang größter und schwierigster Prüfung seiner dreijährigen Amtszeit. Gegen 14.30 Uhr Ortszeit konnte er verkünden: "Wir haben uns auf eine gemeinsame Abschlusserklärung geeinigt." Alles andere wäre nicht nur ein Novum in der Geschichte dieser Veranstaltung, sondern auch eine große Blamage für den Gastgeber gewesen. Aus argentinischen Regierungskreisen war zu hören, dass die Unterhändler der 20 Staats- und Regierungschefs, die sogenannte Sherpas, "bis zur letzten Minute" an dem Vertragstext gefeilt hatten. Die meisten von ihnen dürften in den vergangenen Nächten nicht viel mehr geschlafen haben als Angela Merkel bei ihrer beschwerlichen Anreise nach Buenos Aires. Unterm Strich steht aber: Es gibt einen Text - und zwar den "bestmöglichen zu diesem Zeitpunkt", wie es die argentinische Regierung ausdrückte. Immerhin keine Katastrophe. Und weil dasselbe auch für den Ablauf der massiven Straßenproteste gilt, die diesen Gipfel begleiteten, konnte Macri am Ende gleich einen Doppelerfolg für sich reklamieren. Als Tagungsleiter hat er eine zerstrittene Runde zu einem Minimalkonsens bewegen können. Als Cheforganisator ist es ihm gelungen, jene Bilder zu verhindern, die vom vorangegangenen Gipfel in Hamburg in Erinnerung blieben: Straßenschlachten, brennende Autos, Zerstörungswut. Diesmal blieb es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei friedlichen Protesten. "Wir haben die Welt überrascht", lobte sich Macri. Das alles wird ihm auch helfen für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr, bei der seine Wiederwahl keineswegs sicher ist. Ob es auch der Welt hilft, was die Staats- und Regierungschefs in Buenos Aires vereinbart haben, darüber kann man streiten. Einig wurden sich die G20 nämlich nur deshalb, weil sie sich an der heikelsten Stelle in eine G19 und eine G1 aufspalteten. In Paragraf 20 der Abschlusserklärung steht, wie es die G19 mit dem Klimaschutz halten: "Unterzeichner des Übereinkommens von Paris (...) bekennen sich zu seiner uneingeschränkten Umsetzung." Paragraf 21 bringt dagegen die Position der G1 zum Ausdruck: "Die Vereinigten Staaten bekräftigen ihre Entscheidung, sich aus dem Übereinkommen von Paris zurückzuziehen." Bei dem für die gesamte Erdbevölkerung existenziellen Thema haben sich US-Präsident Donald Trump und der Rest der Welt also lediglich darauf geeinigt, dass sie sich uneinig sind. Optimisten nennen das einen Konsens, Realisten wohl eher eine Mogelpackung. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem "klaren Signal zum Klimawandel, jedenfalls der allermeisten." Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte, in Bezug auf den Klimawandel sei dieser G-20-Gipfel immerhin kein Rückschritt gewesen. Das stimmt einerseits, denn schon im vergangenen Jahr in Hamburg gab es kein einstimmiges Bekenntnis zu Klimaschutz. Damals nahmen "die übrigen G-20-Mitglieder" in der Abschlusserklärung lediglich zur Kenntnis, dass die USA aus dem Klimaabkommen aussteigen wollen. Inzwischen ist Washington ausgestiegen, weil aber am 1. Januar 2019 der rechtsradikale Jair Bolsonaro als brasilianischer Präsident einsteigt, könnte es in dieser Sache auch schon bald 2 zu 18 stehen. Diesmal wurde das Land mit dem größten Regenwald des Planeten noch von seinem scheidenden Staatschef Michel Temer vertreten, der sich zum Pariser Abkommen bekannte. Bolsonaro aber ist ein bekennender Gegner - und der von Macron geleugnete Rückschritt wohl nur vier Wochen aufgeschoben. Einen bereits jetzt nicht mehr zu leugnenden Rückschritt gibt es in der Wirtschaftspolitik. Die Abschlusserklärung von Buenos Aires enthält - anders als in den vorangegangenen Jahren - keine explizite Verurteilung des Protektionismus im Welthandel. Auch hier steckt eindeutig Trump dahinter. Die USA hätten das "Etikett" des Protektionismus in dem Dokument nicht akzeptiert, berichtete Macri. Und so wird in dem siebenseitigen Gipfelkommuniqué zwar der "Beitrag" des "multilateralen Handelssystems" für "Wachstum, Produktivität, Innovation, Schaffung von Arbeitsplätzen und Entwicklung" gelobt, aber gleichzeitig auch kritisiert, dass dieses System hinter seinen Zielsetzungen zurückbleibe. In diesem Fall hat der Widerspruch in einen einzigen Paragrafen gepasst. Es darf bezweifelt werden, dass sich die Umstände bald bessern Einig waren sich die Gipfelteilnehmer immerhin darin, dass die Welthandelsorganisation WTO reformiert werden müsse, da sie gegenwärtig ihre Ziele nicht erreiche. Vonseiten der deutschen Bundesregierung hieß es, das sei "Eingedenk der Umstände" ein zufriedenstellendes Gesamtergebnis. Zu diesem Umständen gehört zweifellos, dass die G20-Gruppe, die sich ursprünglich formiert hatte, um Freihandel, Demokratie, Nahrungsmittelsicherheit, Klimaschutz und Gleichheit der Geschlechter in alle Winkel der Erde zu tragen, mehr denn je von Machos, Egomanen, Autokraten und Zollkriegern dominiert wird. Also von Männern wie Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und Xi Jinping, vom saudischen Kronprinzen Mohammed bis Salman ganz zu schweigen. Und ob sich die Umstände in naher Zukunft verbessern, darf bezweifelt werden. Beim nächsten Gipfel in Japan wird erstmals der allseits gefürchtete Brasilianer Jair Bolsonaro dabei sein. Und der übernächste Gipfel findet dann in Saudi-Arabien statt. Es kann gut sein, dass in Buenos Aires die vorerst letzte Chance verpasst wurde, zumindest eines der großen globalen Probleme zu lösen.
Egomanen, Autokraten und Zollkrieger dominieren die Gruppe der G20. Nur deshalb sorgt die dürftige Einigung für Erleichterung. Vielleicht wurde die vorerst letzte Chance verpasst, zumindest ein großes globales Problem zu lösen.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/g-20-abschlusserklaerung-analyse-1.4235470
G20 - Analyse nach dem Treffen in Buenos Aires
00/12/2018
Es sind Minimalkompromisse und doch waren die Diplomaten am Ende erleichtert: Die argentinische G20-Präsidentschaft hat die Einigung auf die Gipfelerklärung bestätigt. "Ich möchte Euch ankündigen, dass wir eine Erklärung haben, die viel von unseren Empfindungen und unserem Engagement widerspiegelt", sagte der argentinische Präsident Mauricio Macri am Samstag nach Ende des Spitzentreffens. "Wir können alle froh sein und uns beglückwünschen, dass wir wichtige Vereinbarungen erzielt haben." In der Gipfelerklärung erneuern die Staats- und Regierungschefs der großen Industrie- und Schwellenländer unter anderem ihr Bekenntnis zur Zusammenarbeit. Bei wichtigen Themen wie Handel, Klimaschutz und Migration mussten verbergen sich hinter den Kompromissformeln allerdings große Meinungsverschiedenheiten. Und in der Klimapolitik scheren die USA aus dem Kreis der G-20-Staaten aus: In der Abschlusserklärung des Gipfels in Buenos Aires tragen die USA das Bekenntnis der 19 übrigen Mitglieder zu den Pariser Klimaschutzzielen von 2015 nicht mit. Die Gipfelerklärung macht den Sonderweg der USA in der Klimapolitik besonders deutlich: "Die USA bekräftigen ihre Entscheidung, sich aus dem Pariser Abkommen zurückzuziehen", heißt es darin. Alle anderen G20-Mitglieder legten ein Bekenntnis zu den damals vereinbarten Klimaschutzzielen ab und bezeichneten diese als "unumkehrbar". Auch in der Handelspolitik spiegelt sich der Einfluss der USA in der Abschlusserklärung wider: Das Gipfelkommuniqué verzichtet auf die sonst bei G20-Gipfeln übliche Verurteilung des Handelsprotektionismus. Es würdigt zwar in allgemeiner Form den "Beitrag" des "multilateralen Handelssystems", weist aber zugleich auf dessen "Versäumnisse" etwa bei der Schaffung von Arbeitsplätzen hin. Die Regierung von US-Präsident Donald Trump setzt im Welthandel auf eine Politik des "America first" und liefert sich harte Handelsauseinandersetzungen mit anderen Staaten. Merkel spricht mit Putin und Trump Bundeskanzlerin Merkel führte während des Gipfels mehrere bilaterale Gespräche. Eines ihrer Hauptanliegen: Eine Annäherung zwischen Russland und der Ukraine. Bei ihrem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin schlug sie einen Vermittlungsversuch Deutschlands und Frankreichs in dem russisch-ukrainischen Konflikt im Asowschen Meer vor. Ihre Anregung, ein Treffen auf Beraterebene im sogenannten Normandie-Format anzuberaumen, dem Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine angehören, sei "zustimmend zur Kenntnis genommen worden", sagte Merkel. Mit Beratern seien die außen- und sicherheitspolitischen Berater der Staats- und Regierungschefs gemeint, hieß es aus der deutschen Delegation dazu. An einer Meerenge vor der Küste der von Russland annektierten Halbinsel Krim hatte die russische Küstenwache kurz zuvor drei ukrainische Schiffe festgesetzt und Matrosen festgenommen. Merkel betonte, dass der freie Schiffsverkehr durch das Asowsche Meer erhalten bleiben müsse. Dazu gebe es eine Vereinbarung von 2003. "Diese Grundlage muss Russland einhalten." Die USA und die Ukraine hatten Deutschland zur Vermittlung in dem Konflikt aufgerufen. Russland hatte das bisher abgelehnt. Eine echte Annäherung scheint aber auch nach dem G-20-Treffen noch weit entfernt. Putin ließ über seinen Sprecher erklären, er habe der Kanzlerin bei dem Treffen am Rande des G20-Gipfels die Umstände der jüngsten Konfrontation mit der Ukraine im Schwarzen Meer "ausgiebig und im Detail erklärt". Ein Ende des Kriegs in der Ost-Ukraine unter der derzeitigen Regierung in Kiew, halte er für ausgeschlossen, sagte Putin in Buenos Aires: "Der Krieg wird weitergehen, solange sie an der Macht bleibt." Auch mit US-Präsident Trump kam Merkel zusammen. "Wir haben ein großartiges Verhältnis und ein großartiges Arbeitsverhältnis", sagte Trump zum Auftakt des Treffens. Es werde unter anderem um Handel und Verteidigung gehen. "Wir werden über Handelsfragen sprechen, über multilaterale Fragen", sagte Merkel. Auch die Ukraine werde eine Rolle spielen, betonte die Kanzlerin weiter. Eigentlich hätte das Treffen mit dem US-Präsidenten bereits am Freitag stattfinden sollen. Wegen der verspäteten Ankunft Merkels musste es aber verlegt werden. Nach Abschluss des Gipfels steht nun noch ein Treffen von Trump und Chinas Staats- und Parteichef an. Merkel äußerte nach einem Gespräch mit Xi Jinping die Hoffnung auf ein Ende des Handelskrieges zwischen den USA und China. "Wir alle, das merken wir, sind indirekt beeinflusst davon, wenn die chinesisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen nicht so reibungslos laufen." Die Xi Jinping und Donald Trump wollen bei einem Abendessen einen Versuch machen, eine Lösung zu finden.
Bei wichtigen Themen mussten starke Meinungsunterschiede hinter Kompromissformeln versteckt werden. Die USA scheren beim Thema Klimapolitik aus.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/gipfel-in-buenos-aires-g-20-staaten-einigen-sich-trotz-grosser-differenzen-auf-gemeinsame-erklaerung-1.4235403
Gipfel in Buenos Aires - G-20-Staaten einigen sich trotz großer Differenzen auf gemeinsame Erklärung
00/12/2018
Die Kandidaten für den CDU-Vorsitz, Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn und Friedrich Merz, halten die Zahlen ihrer Redereihenfolge auf dem Landesparteitag der CDU-Sachsen in die Höhe. Beim Landesparteitag der CDU stellen sich die Kandidaten für den Parteivorsitz ein letztes Mal vor. Die Stimmung ist ausgesprochen gut. Und der Favorit der Delegierten steht schnell fest. Die Frage der Nachfolge ist in Leipzig längst geklärt. Lama "Horst", 15 Jahre alt, wetterfühlig, und nicht mehr gut zu Fuß, wird in absehbarer Zeit in Ruhestand versetzt. Neues Maskottchen des Tierparks wird ein nicht minder prachtvoller Paarhufer: Lama "Sancho". Noch stehen beide Tiere Flanke an Flanke vor der Kongresshalle am Leipziger Zoo, begegnen Selfie-Wünschen und tätschelnden Händen mit beeindruckendem Gleichmut. Immerhin 900 Gäste haben sich angemeldet für den 33. Parteitag der sächsischen CDU. Dass es so viele sind, hat mit dem Rückzug Angela Merkels von der Parteispitze zu tun und dem kleinen Coup, der Sachsens Landesverband gelungen ist: Obwohl Annegret-Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz und Jens Spahn sich erst kürzlich auf der Regionalkonferenz in Halle den Fragen der ostdeutschen Basis stellten, sind die drei aussichtsreichsten Kandidaten für den CDU-Vorsitz nun eine Woche vor dem alles entscheidenden Bundesparteitag noch einmal nach Leipzig gereist. 30 von 1001 Delegierten schicken die Sachsen nach Hamburg - und bekommen doch das letzte Wort. Das wiederum hat mit der Landtagswahl im kommenden Jahr zu tun und dem blauen Wunder, das der CDU im Freistaat droht. Eine aktuelle Umfrage sieht die Partei bei 29 Prozent, gefolgt von der AfD mit 24 Prozent. Ein bisschen Wahlkampf-Starthilfe aus Berlin kann da nicht schaden. Und so laufen sie ein, die drei Fragezeichen, zum nunmehr neunten Mal. Aus den Lautsprechern dröhnt "Start me up" von den Rolling Stones. Ausgerechnet der Hit, zu dem die Kanzlerin schon im Bundestagswahlkampf 2009 wippte, als sie auf sächsischen Marktplätzen noch "Angie" war und nicht die Merkel, die weg muss. Kramp-Karrenbauer macht den Anfang an diesem Samstag, vor allem aber macht sie Mut: Sachsens CDU könne stolz sein auf das Erreichte: Abitur in acht Jahren, die Herausforderungen des Strukturwandels - all das ohne "die Larmoyanz westlicher Bundesländer". Geht es nach der Generalsekretärin, ist der Osten mitnichten Dunkeldeutschland, sondern leuchtendes Vorbild. Auch Michael Kretschmer wird mit Lob bedacht: "Bei ihm hat man immer das Gefühl, er hat den kleinen Finger in der Steckdose." Durch die Adern des sächsischen Ministerpräsidenten fließt zweifellos Kohlestrom. Jens Spahn keilt wie schon in Halle gegen die "Besserwessis", und wie auf der Regionalkonferenz bekommt er kaum Applaus dafür. Auch dass er in der Lausitz einst zum Ehrenbergmann geschlagen worden ist, nehmen Delegierte und Gäste recht unbeeindruckt zur Kenntnis. Sie sparen sich auf für Friedrich Merz. Dessen Kandidatur hatte die konservative Basis in Sachsen geradezu verzückt: Der einstige Widersacher Merkels weckt Hoffnung auf eine Neuausrichtung der Union, und Merz weiß diese zu füttern: "Wir müssen nicht alle Ideen gut finden, die von den Sozialdemokraten kommen", sagt er. Statt über ostdeutsche Befindlichkeiten spricht der Kandidat lieber von der Neuordnung der Welt. Der Bundesparteitag in Hamburg, so Merz, könne die Antwort auf historische Zäsuren sein, wie auf den Brexit oder die Wahl Donald Trumps. Auch er spricht der CDU Mut "für die Landtagswahl am 21. September" zu. Dass in Sachsen am 1. September 2019 gewählt wird - geschenkt. Der Applaus ist so laut und anhaltend, dass der Meister der Kunstpause sich zu einer Siegerpose hinreißen lässt, die Fäuste schüttelt wie ein Preisboxer. Auch der Ministerpräsident verbreitet Zuversicht Die Stimmung in Leipzig ist ausgesprochen gut. Am Kaffeestand, im Raucherraum - nirgends zeigt sich Verdruss. Das liegt auch an Michael Kretschmer, der in der Kongresshalle eine erstaunliche Motivationsrede hält. 38 Minuten, in denen die Buchstaben A, f und D nicht vorkommen, dafür Bildung, Breitbandausbau und immer wieder der ländlichen Raum. 35 Vereine haben sie gleich zu Beginn des Parteitages ausgezeichnet. Die Kinderfeuerwehr aus Markranstädt, den Männerchor aus Nemt, den 1. Neuseenländer Quadverein. Dieser Parteitag soll eine Verneigung vor dem Ehrenamt sein, auch weil Wahlen in Sachsen auf dem Land entschieden werden. Ein Jahr ist der Ministerpräsident nun im Amt. Während sein Vorgänger Stanislaw Tillich das Gespräch mit Landräten und Bürgermeistern mied, erklärt Kretschmer diese zu Partnern im Kampf um den Status als führende Volkspartei. "Wenn ich das allein mache, wird es nicht reichen", ruft er. Ein Schulterschluss der Anständigen müsse her. "Wir brauchen keine Miesmacher, sondern ein Klima, in dem über die Zukunft gesprochen wird und nicht über alles, was schlecht ist." Der Saal applaudiert, stehend, so als stünden da oben auf der Bühne tatsächlich die Stones. Als Miesmacher würde Joachim Schwill sich nicht bezeichnen, aber als Tagesordnungspunkt 9 erreicht ist - Aussprache - tritt er als einziger ans Mikrofon. Ein schmaler Mann mit wachem Blick. 1990 ist er aus Dortmund nach Sachsen gezogen, leitet das Zwickauer Rechtsamt, liebt eine Vogtländerin. Schwill lobt die neue Debattenkultur in der Partei, den Ministerpräsidenten, der noch im hinterletzten Winkel des Freistaats Hände schüttelt. Aber eines stört ihn: die Unschärfe im Umgang mit der AfD. Während Kretschmer nicht müde wird, eine schwarz-blaue Koalition nach der Landtagswahl auszuschließen, äußerte sich der neu gewählte Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, Christian Hartmann, zuletzt weniger eindeutig. "Abgrenzen statt Ausgrenzen" sei seine Linie, sagt Hartmann in Leipzig. "Lassen Sie uns arbeiten, dann wird sich die Frage nach Alternativen nicht stellen." Joachim Schwill ist nicht restlos überzeugt. Die Radikalisierung, sagt er, finde ja nicht nur innerhalb der AfD statt, sondern auch im Alltag. Zu viele Menschen hätten sich bereits in den Echokammern des Internets verloren. Schwill, im Ruhrgebiet aufgewachsen und im Erzgebirge heimisch geworden, sagt: "Vor uns liegt ein Berg, und er ist gewaltig."
Beim Landesparteitag der CDU stellen sich die Kandidaten für den Parteivorsitz ein letztes Mal vor. Die Stimmung ist ausgesprochen gut. Und der Favorit der Delegierten steht schnell fest.
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https://www.sueddeutsche.de/politik/cdu-landesparteitag-sachsen-cdu-vorsitz-1.4235454
CDU in Sachsen: Merz lässt sich zu Siegerpose hinreißen
00/12/2018
Gottfried Waldhäusl wollte Juden registrieren, die koscheres Fleisch kaufen. Er wetterte gegen "Hunde mit Migrationshintergrund". Nun hat der FPÖ-Mann drastische Pläne für Flüchtlinge. Die Landeshauptfrau stoppt ihn. In Niederösterreich sorgt der FPÖ-Regierungspolitiker Gottfried Waldhäusl für Unruhe, die weit über die Landeshauptstadt St. Pölten hinauswirkt. Der Landesrat, wie die Landesminister in Österreich heißen, ist zuständig für "Integration und Veranstaltungswesen", also auch für Asylbewerber. Waldhäusls radikal rechte Partei vertritt eine Linie gegen Flüchtlinge, die teilweise menschenfeindliche Züge trägt. Eine Maßnahme, die nun für Aufregung sorgt, hat er sich selbst ausgedacht und umgesetzt: Eine spezielle Unterkunft für unbegleitete Minderjährige, mit denen es schon mal Probleme gab. Sie befindet sich direkt an der tschechischen Grenze und kilometerweit entfernt vom Ort Drasenhofen. Vor dem Eingang steht ein Stacheldrahtzaun. Sicherheitsleute mit Hunden bewachen den Komplex. Wer hier einquartiert wird, darf nur noch in Begleitung rausgehen. Doch abgestimmt hat Waldhäusl diese Pläne mit der konservativen Regierungschefin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) offenbar nicht. Auch andere staatliche Stellen scheint er außen vor gelassen zu haben. Die niederösterreichische Kinder- und Jugendanwaltschaft besichtigte die Anlage erst, als schon mehr als ein Dutzend Jugendliche einquartiert worden waren. "Aus jugendrechtlicher Sicht" sei die Unterkunft im aktuellen Zustand "nicht geeignet", urteilte die Behörde - und verwies unter anderem auf den Stacheldraht vor dem Eingang. Der Drasenhofener ÖVP-Bürgermeister nannte Waldhäusls Unterkunft "eine Schande". Danach zog Landeshauptfrau Mikl-Leitner die Notbremse und ließ die Jugendlichen wieder in ihre vorherigen Quartiere bringen. "Diese Unterkunft ist kein Gefängnis", sagte die Regierungschefin am Samstag zur Süddeutschen Zeitung. "Stacheldraht hat dort nichts verloren". Die Konservative machte klar, dass sich ihre Geduld mit Waldhäusl dem Ende zuneigt. "Solche Provokationen hat es in Zukunft nicht mehr zu geben". Mikl-Leitner wies mit Blick auf das Proporzsystem darauf hin, dass die FPÖ durch die Wähler mit einem "Regierungssitz ausgestattet" und damit legitimiert worden wären. Heikel ist die Sache auch deshalb, weil seit einem Jahr ÖVP und FPÖ auf Bundesebene koalieren - und die Causa Waldhäusl die Regierung zu belasten droht. Der restriktive Umgang mit Flüchtlingen ist von Beginn ein Leib- und Magenthema der rechtskonservativen Regierung von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ). Allerdings formuliert Kurz bei weitem nicht so drastisch wie die Freiheitlichen. Fraktionschef Johann Gudenus sprach davon, Flüchtlinge in unwirtlichen Gegenden unterzubringen. Und FPÖ-Innenminister Herbert Kickl schwadronierte davon, Migranten an einem Ort zu "konzentrieren". Hinterher stritt er ab, die Bezeichnung bewusst in Anlehnung an Nazi-Konzentrationslager verwendet zu haben. Waldhäusl provoziert nicht zum ersten Mal Doch die Vorstellungen passen in die praktische Politik, die Waldhäusl in Niederösterreich umsetzen will. Und seine Partei scheint nicht willens zu sein, ihn aufzuhalten. Die Unterkunft sei ein "Vorzeigeprojekt", erklärte sein Parteifreund Udo Landbauer. Waldhäusl selbst sprach davon, dass der Stacheldraht die Jugendlichen ja auch schütze - vor möglichen Übergriffen von außen. Außerdem wies er darauf hin, dass es sich bei den minderjährigen Flüchtlingen in Drasenhofen um "notorische Unruhestifter" handele. Die Bezeichnung des "notorischen Unruhestifters" passt auch gut auf den 53-jährigen Landwirt aus dem Waldviertel. Denn außerhalb des Bundeslandes ist Waldhäusl vor allem wegen seiner Ausfälle bekannt. Dabei handelt es sich immer wieder für FPÖ-Verhältnisse besonders krasse Äußerungen. Den langjährigen Landeshauptmann Erwin Pröll von der christsozialen ÖVP nannte er einmal "Diktator". Prölls damaligen Stellvertreter und heutigen Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka schmähte er 2009 einen "Triebtäter, dem das Handwerk gelegt gehört". 2011 empörte sich Waldhäusl über Kürzungen bei der Familienbeihilfe und führte als Gegenargument an: "Schwuchteln werden unterstützt". ÖVP, SPÖ und Grüne beleidigte er ein Jahr später als "Anwälte von Kinderschändern", weil sie die FPÖ-Forderung nicht unterstützten, Sexualstraftäter chemisch zu kastrieren. Integration - für die er heute zuständig ist - fand Waldhäusl 2014 "idiotisch", denn: "Die Kinder der Asylwerber brauche ich nicht in den Kindergarten oder in die Schule zu schicken." Anfang 2018 unterstellte er der Regierungschefin Mikl-Leitner, eine "Gesetzesbrecherin" zu sein . Seit Anfang 2018 regiert Waldhäusl in St. Pölten mit. Nicht nur das Proporzprinzip hat ihm das schöne Amt beschert, sondern auch die antisemitische Liedbuch-Affäre von FPÖ-Frontmann Udo Landbauer (der Mikl-Leitner als "Moslem-Mama" bezeichnete, und dann an seine iranische Mutter erinnert wurde). Im Regierungsamt lieferte Waldhäusl inzwischen quartalsweise Negativ-Schlagzeilen. Im Frühjahr machte er Front gegen ausländische Hunde. Originalton: "Hunde mit Migrationshintergrund nehmen unseren Tieren leider oftmals den Platz in den örtlichen Tierheimen weg". Im Juli sorgten Waldhäusls Pläne für Aufsehen, wonach sich die Käufer von koscherem Fleisch registrieren lassen sollten. Gläubige Juden und Muslime hätten sich also ausweisen müssen, wenn sie in Niederösterreich das Fleisch geschächteter Tiere kaufen wollten. Der Vorstoß wurde fallen gelassen. Und nun die Sache mit der Asylunterkunft für Jugendliche mit Stacheldraht vor dem Eingang. Landeshauptfrau Mikl-Leitner ist spürbar genervt von Waldhäusl und seinem Drang zum Unruhestiften. Der FPÖ-Mann sei nicht mehr Oppositionspolitiker, sondern Teil der Landesregierung, sagt die Landesmutter zur SZ. "Es ist Zeit, dass er sich als solcher auch selbst wahrnimmt."
Gottfried Waldhäusl wollte Juden registrieren, die koscheres Fleisch kaufen. Er wetterte gegen "Hunde mit Migrationshintergrund". Nun hat der FPÖ-Mann drastische Pläne für Flüchtlinge. Die Landeshauptfrau stoppt ihn.
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https://www.sueddeutsche.de/politik/fpoe-oesterreich-waldhaeusl-1.4235420
FPÖ - Gottfried Waldhäusl stiftet Unruhe
00/12/2018
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich optimistisch gezeigt, dass es zum Abschluss des G20-Gipfels eine gemeinsame Erklärung geben wird. "Es werden noch die letzten Hände angelegt, aber ich glaube, wir können einiges erreichen und erwarten", sagte Merkel am Samstag vor Journalisten in Buenos Aires. Es habe konstruktive Zusammenarbeit und Kompromisse gegeben. Alle hätten übereingestimmt, dass die Welthandelsorganisation WTO reformiert werden sollte. "Das ist eine wichtige Einigung." Trotz der Differenzen mit den USA im Klimaschutz rechnete Merkel mit einem klaren Signal "der allermeisten" G20-Staaten für einen Erfolg für die unmittelbar bevorstehende Weltklimakonferenz in Polen. Trotz der Politik von US-Präsident Donald Trump, im Alleingang auf bilaterale Lösungen zu setzen, erwartet Merkel, dass es in der Abschlusserklärung auch einen Hinweis auf den Multilateralismus geben wird - also die gemeinsame Lösung von Problemen durch internationale Mechanismen. "Ich glaube dass das Wort Multilateralismus auftauchen wird", sagte Merkel. "Darum muss gekämpft werden, aber wir tun das." Merkel konnte sich nach ihrer Flugpanne erst mit zwölfstündiger Verspätung in das Ringen um die Handlungsfähigkeit der Gruppe der Staats- und Regierungschefs einschalten. Im Ukraine-Konflikt um die Festsetzung ukrainischer Schiffe und Seeleute durch Russland vor der Krim vermittelte Merkel bei einem Arbeitsfrühstück mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die beiden vereinbarten, dass außenpolitische Berater Deutschlands, Russlands, der Ukraine und Frankreichs, das entspricht dem sogenannten Normandie-Format, über die Situation im Asowschen Meer sprechen sollen, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Seibert erklärte außerdem: "Die Bundeskanzlerin machte noch einmal ihre Sorge über die Zuspitzung an der Straße von Kertsch und ihr Eintreten für die Freiheit des Schiffsverkehrs ins Asowsche Meer deutlich." Aus Protest gegen das russische Vorgehen hatte US-Präsident Donald Trump ein Treffen mit Putin in Buenos Aires abgelehnt. Er setzt dafür - ähnlich wie die Ukraine - auf das Verhandlungsgeschick der Kanzlerin. Am Samstag traf Merkel auch für eine halbe Stunde mit Trump zusammen. "Wir haben ein großartiges Verhältnis und ein großartiges Arbeitsverhältnis", sagte Trump zum Auftakt des Treffens. Es werde unter anderem um Handel und Verteidigung gehen. "Wir werden über Handelsfragen sprechen, über multilaterale Fragen", sagte Merkel. Auch die Ukraine werde eine Rolle spielen, betonte die Kanzlerin weiter. Trotz der schwerwiegenden Differenzen hatten sich die Unterhändler zuvor auf den Entwurf für eine Abschlusserklärung geeinigt. Die letzten Streitpunkte hätten am frühen Samstagmorgen ausgeräumt werden können, sagte ein ranghoher EU-Beamter. Der Entwurf wurde den Staats- und Regierungschefs zur Zustimmung vorgelegt. Umstritten waren bis zuletzt wichtige Punkten wie Handel, Klimawandel und Migration. In allen Fragen seien nun aber Kompromisse gefunden worden, hieß es. Allerdings erwarteten Beobachter eher einen Minimalkonsens. Als größter Erfolg wurde von EU-Seite verbucht, dass sich die Gruppe dazu verpflichten will, die Reform der Welthandelsorganisation WTO voranzutreiben, um eine bessere Einhaltung gemeinsamer Spielregeln zu ermöglichen. Zudem soll in der Erklärung darauf verwiesen werden, dass man weiter im großen Kreis gemeinsam an der Lösung von Problemen arbeiten will. Angesichts der Alleingänge des US-Präsidenten wurde dies von Diplomaten schon als Erfolg gewertet. Trump hatte sich zuletzt selbst als Nationalisten bezeichnet. Einen G20-Gipfel ohne Abschlusserklärung hat es noch nie gegeben. Beim G7-Gipfel der großen Industrienationen in Kanada hatte Trump das vereinbarte Papier allerdings noch nachträglich platzen lassen. Der US-Präsident und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping wollten nach Abschluss des Gipfels einen Versuch machen, ihren Handelskrieg zu beenden oder zumindest einen "Waffenstillstand" zu vereinbaren. Bei einem Abendessen sollte es darum gehen, wie die von den USA gegen China verhängten massiven Sonderzölle wieder aufgehoben können oder wenigstens deren Ausweitung zu verhindern ist. "Wenn wir einen Deal erreichen könnten, wäre das gut", sagte Trump. Die USA verlangen, dass China seinen Markt weiter öffnet und wirksam gegen Produktpiraterie und erzwungenen Technologietransfer vorgeht. China und Russland übten den Schulterschluss Japans Ministerpräsident Shinzo Abe, der als nächster den Vorsitz in der "Gruppe der 20" übernimmt, präsentierte sich auf dem G20-Gipfel als Vorkämpfer des Freihandels. Er sprach sich nachdrücklich gegen wachsende Hürden im Welthandel aus. China und Russland übten den Schulterschluss. Bei einem Treffen kamen Putin und Xi Jinping überein, ihre Koordination in der G20-Gruppe und anderen Organisationen auszubauen. Beide plädierten nach Angaben der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua dafür, den Multilateralismus, die Werte und Mechanismen der WTO und die Handelsliberalisierung zu wahren. Ohne die USA beim Namen zu nennen, sprachen sich Putin und Xi Jinping "gegen Alleingänge und Protektionismus" aus. In Buenos Aires protestierten Tausende Menschen gegen den Gipfel, doch blieben die Demonstrationen friedlich. Die Demonstranten zogen über die Prachtstraße 9 de Julio und skandierten: "Raus mit Trump und den imperialistischen Führern!" Auf Transparenten war zu lesen: "Sie wollen Krieg und wir lassen sie nicht in Frieden." Rund 25 000 Polizisten und Soldaten sind im Einsatz. Die "Gruppe der 20" aus 19 Ländern und der Europäischen Union repräsentiert zwei Drittel der Weltbevölkerung und 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Der G20 gehören neben der EU an: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, die Türkei und die USA.
Erst kurz vor Abschluss des G20-Gipfels in Buenos Aires liegt der Entwurf einer Abschlusserklärung vor. Die Bundeskanzlerin zeigt sich optimistisch, dass es eine gemeinsame Erklärung geben wird.
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https://www.sueddeutsche.de/politik/g-20-buenos-aires-merkel-putin-trump-1.4235333
G-20-Gipfel Buenos Aires: Ringen um Aschlusserklärung
00/12/2018
Andrea Nahles kommt leicht verspätet, aber immerhin: Sie ist da, schiebt sich mit zügigen Schritten vor zur Bühne. Begleitet wird sie von Juso-Chef Kevin Kühnert und einem Applaus, von dem sich schwer sagen lässt, ob er noch freundlich oder schon kühl-distanziert ist. Nahles ist krank gewesen während der Woche. Man merkt es ihr an. Die Stimme kratzt, kippt an manchen Stellen fast. Trotzdem hat sich die Vorsitzende der SPD auf diese Veranstaltung eingelassen, die, wie sie ganz richtig vermutet, "kein Wellness-Wochenende" werden wird. Samstagmittag, Bundeskongress der Jusos in Düsseldorf. Hier haben es SPD-Parteivorsitzende grundsätzlich eher schwer. Nahles weiß das, sie hat die Jusos von 1995 bis 1999 selbst angeführt. Doch so unangenehm wie gerade waren die Zeiten noch nie. Die SPD ist arg ramponiert aus den vergangenen Landtagswahlen in Hessen und Bayern hervorgegangen. Umfragen weisen immer neue Tiefstwerte aus. Die Regierung, an der die SPD beteiligt ist, gibt ein verheerendes Bild ab. Und viele der Juso-Delegierten glauben, dass in dieser großen Koalition mit der Union die entscheidende Ursache für das Leiden der SPD liegt. Die Jusos haben im vergangenen Winter vehement gegen die Neuauflage der großen Koalition getrommelt. Nahles hat ebenso vehement dafür geworben - und gewonnen. Nun steht sie da, angeschlagen, auf der Bühne vor den Leuten - und geht erst einmal in die Offensive. Sie stellt fest, dass die von den Mitgliedern getroffene Entscheidung "nicht wirklich akzeptiert worden" sei: "Wir diskutieren ununterbrochen weiter." Egal welche Erfolge die SPD in der großen Koalition zustande bringe - die Brückenteilzeit, einen besseren Schutz für Mieter, die Parität im Gesundheitssystem -, nichts davon werde gewürdigt. Gerade von Seiten der Jusos. Deren Reaktion sei stets dieselbe, klagt Nahles: "Das reicht nicht. Raus aus der Groko." Das habe allerdings problematische Folgen für die Partei: "Wir wirken nach draußen, als wären wir mit uns selbst nicht im Reinen." Ein Murmeln läuft durch die Halle, in das sich ein bisschen Applaus mischt. Dann spricht Nahles über den schwierigen Zustand, in dem sich die SPD befinde, über die Tiefpunkte, die "nur durch tiefere Tiefpunkte in den Umfragen" unterboten würden. Sie betont aber auch, dass "ein Richtungsstreit" nicht die Lösung sein könne. "Das führt zu Spaltung", warnt Nahles. Was die Partei bräuchte, sei eine ehrliche Debatte. Ansätze gebe es bereits. Anfang November hatte sich die Partei in Berlin zu einem Debattencamp getroffen, um zwei Tage kontrovers zu diskutieren. Eine strittige Debatte, sagt Nahles, "kann zu mehr Klarheit, zu Klärung führen, zu neuer Geschlossenheit." Was aus ihrer Sicht nicht zu neuer Geschlossenheit führt: Sich hinzustellen "wie Kaiser Nero in der Arena und die Parteispitze so oder so bewerten, je nachdem was läuft". Sie deutet mit ihrem Daumen abwechselnd nach oben und unten. Bei den Jusos zeigte der Daumen zuletzt häufig nach unten. Jusos fühlen sich durch das Erscheinungsbild der großen Koalition bestätigt In der SPD konkurrieren derzeit zwei unterschiedliche Denkschulen: Nahles und die Parteispitze glauben, die SPD mit guter Regierungsarbeit aus dem Tief zu führen, und gleichzeitig die Partei zu erneuern. Die Jusos sehen das anders. Sie glauben, dass eine Erneuerung vor allem außerhalb der Regierung funktioniert. Und sie fühlen sich durch das verheerende Erscheinungsbild der großen Koalition in den vergangenen Monaten bestätigt: der Unionsstreit um die Migration im Sommer oder der kaum nachvollziehbare Umgang mit dem inzwischen entlassenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen. Am Samstag räumt die Vorsitzende auch Fehler ein, sowohl eigene als auch solche, die die Regierung gemacht habe. "Unterirdisch" sei die Leistung gewesen. Auch greift Nahles Bildungsministerin Anja Karliczek heftig an, von der sie nicht wisse, was sie überhaupt mache als Ministerin. An der Stelle johlen die Delegierten. Aber die Zustimmung bleibt gedämpft. Keinesfalls ist sie so euphorisch wie am Abend zuvor bei Katarina Barley. Da war der Kongress fast überschwänglich, Standing Ovations. Zwar gehört Barley der großen Koalition als Justizministerin an, aber viele sehen in ihr die Hoffnungsträgerin für die Europawahl. Barley wird die SPD als Spitzenkandidatin führen, vorausgesetzt die Europadelegiertenkonferenz nächste Woche wählt sie. Man werde für "die Katarina" auf die Straße gehen, sagen die Jusos. Nahles erfährt weniger Solidarität. Wohl auch, weil sie im Gegensatz zu Barley den Konflikt nicht scheut. Als Nahles nach ihrer Rede die Bühne verlässt, steht kein Delegierter auf, niemand zuckt auch nur. Auftritt Kevin Kühnert. Der Juso-Chef hat bei seiner Rede am Vortag das Thema große Koalition allenfalls gestreift. Am Samstag muss er direkt werden. Nahles' Vorwürfe? Treffen nicht zu, findet er. Gerade in der Anfangszeit sei die Akzeptanz sehr hoch gewesen: "Dass das Gerede wieder angefangen hat, hatte mit der überaus überschaubaren Performance dieser Koalition zu tun." Auch hätten die Jusos keineswegs ständig das Ende der Groko gefordert. Erst bei der Causa Maaßen habe es gereicht. Dann wechselt Kühnert von Verteidigung auf Angriff. Er wirft der Parteispitze eine Art Hinhaltetaktik vor: Nach jedem neuen Tiefpunkt reagiere die Parteispitze gleich, immer heiße es: "So geht es nicht weiter, das war jetzt das letzte Mal." Aber eine richtige Reaktion bleibe aus. Kühnert sagt: "Wer nie eine Konsequenz zieht, landet irgendwann als Bettvorleger." Da applaudieren die Delegierten lange und rhythmisch. Für Kühnert dürfte sich dieses Wochenende schon eher wie Wellness anfühlen.
Auf dem Bundeskongress der Jusos geht die SPD-Chefin in die Offensive und warnt vor einer Spaltung der Partei. Doch am Ende ihrer Rede zeigt sich, wie groß die Vorbehalte gegen Nahles mittlerweile sind.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/juso-bundeskongress-der-schwere-gang-der-andrea-nahles-1.4235366
Juso-Bundeskongress: SPD-Chefin Andrea Nahles kämpft
00/12/2018
Am Triumphbogen am Ende des Prachtboulevards fordern etwa 700 Gelbwesten in Sprechchören den Rücktritt Macrons. In Paris ist es am Samstag erneut zu gewaltsamen Protesten gegen die Wirtschaftspolitik von Präsident Emmanuel Macron gekommen. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die "Gelben Westen" ein, die auf der Prachtmeile Champs-Elysées versuchten, die Absperrungen zu durchbrechen. Autos brannten, Dutzende Menschen wurden verletzt, darunter auch Sicherheitskräfte. Mehr als hundert Demonstranten wurden festgenommen. Die Polizei geht davon aus, dass sich Anhänger von gewaltbereiten rechts- und linksextremen Gruppen unter die sogenannten Gelbwesten gemischt haben, die seit zwei Wochen gegen steigende Spritpreise und hohe Lebenshaltungskosten demonstrieren. Es ist das dritte Wochenende in Folge, an dem die Protestgruppe mit Großaktionen landesweit demonstriert. Neben den gewaltbereiten Demonstranten, protestierten ein paar Tausend "Gelbe Westen" friedlich in Paris. Das sind deutlich weniger als noch vergangene Woche, als über 100 000 Menschen auf die Straße gingen. Der Protest entzündete sich an der neuen Öko-Steuer auf Sprit, die Präsident Macron einführen will. Die Menschen demonstrieren aber auch gegen die steigenden Lebenskosten im Allgemeinen und die zunehmende soziale Ungleichheit im Land. Viele fordern Macrons Rücktritt. Dieser hat sich vergangene Woche zu Kompromissen bereit erklärt. Macron hat zugesagt, die umstrittene Ökosteuer auf Diesel an den Kraftstoffpreis anzupassen. Das geht den Aktivisten aber nicht weit genug. Es sind die heftigsten Proteste seit Beginn der Amtszeit Macrons vor 18 Monaten.
Die "Gelben Westen" demonstrieren seit zwei Wochen gegen die Wirtschaftspolitik des französischen Präsidenten. Es kommt erneut zu Ausschreitungen in Paris.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-macron-proteste-gelbe-westen-1.4235284
Paris: Festnahmen bei Protesten gegen Macron
00/12/2018
Noch im vergangenen Jahr waren ein paar Deutsche zu Besuch bei George H. W. Bush in Kennebunkport, dem Sommerdomizil des früheren Präsidenten im Nordosten. Bush war nicht sonderlich mobil, und viele Worte mochte er auch nicht sagen, aber er hörte aufmerksam zu. Wie es denn so gehe zwischen West und Ost in Deutschland, wie sich Angela Merkel halte. Und aus ein paar schnarrenden, schneidigen Bemerkungen war schnell klar, dass sich in diesem gebrechlichen Körper ein wacher, gar ironisch-bissiger Geist verbirgt. Es war derselbe Geist, der dem "lieben Donald" am 10. Januar 2017 eine Achtzeiler schickte mit einem Bedauern über die Absage zur Inauguration."Mein Arzt sagt mir, dass ich vermutlich sechs Fuß unter der Erde lande, wenn ich im Januar draußen herumsitze. Gleiches gilt für Barbara. Also hängen wir vermutlich in Texas fest." Bush bietet dann noch seine Hilfe an, wenn sie denn nötig sei. Vermutlich hat er das ernst gemeint. George Herbert Walker Bush hat ein sehr ernst gemeintes aber auch ein sehr ironisch-leichtes Leben gelebt - soweit das einem Präsidenten der vereinigten Staaten möglich ist. Ein Pflichtmensch wie er tut seine Pflicht, und wenn es sich um die Bürde des Präsidentenamtes handelt. Der Rest ist Familie und Leben - so wie es bei den Bushs früher üblich war. Kein Aufhebens, keine Jammerei. Tun. George H. W. Bush war der letzte Patrizier im Weißen Haus. Vielleicht war er auch der letzte Patrizier bei den Republikanern. Ganz bestimmt aber war George H.W. Bush der letzte amerikanische Präsident des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges und damit der wirklich letzte transatlantische Präsident. Und er war der Vater des Präsidenten einer neuen Epoche. Es ist so leicht aufzuzählen, was George Herbert Walter Bush alles war. Wenn er es nur mal selbst gewusst hätte. Amerika, 1988, Wahlkampf, es geht um die Präsidentschaft. Ronald Reagan verlässt das Amt nach acht Jahren, es treten an George Bush und Michael Dukakis. Bush will endlich aus seiner Haut, sein wahres Ich zeigen, lebendig wirken. Plötzlich klopft er sich auf die Brust, immer wieder, "wir müssen mich da raus kriegen", sagt er und schlägt sich an die Stelle, wo das Herz sitzt. "Wir müssen da mehr von mir rausholen." Bush haderte Zeitlebens mit seiner Wirkung. Er, der Perfektionist, konnte in so viele Rollen schlüpfen, wenn man sie nur von ihm verlangte. Aber nun, als Präsident, sollte er alle Rollen ablegen und Vorbild sein, sein eigener Charakter, unverstellt. Damit fremdelte er. Wer immer nur dient, der kann nicht plötzlich an der Spitze stehen. Bush war ein Pragmatiker der Macht, ein Technokrat. Vielleicht tat er sich deshalb so schwer mit der freien Wahl, dem Spiel mit den Emotionen der Wähler. Zweimal bemühte er sich um einen Sitz im Senat, einmal aus eigenem Antrieb gar um die Präsidentschaft - diese Wahlen verlor er allesamt. Bush diente also den Präsidenten Nixon, Ford und Reagan. Nixon machte ihn 1970 zum UN-Botschafter in New York, zwei Jahre später übertrug er ihm den Geschäftsführerjob bei den Republikanern - eine mehr administrative und organisatorisch wichtige Position in den USA. Als Nixon gestürzt und Gerald Ford im Amt installiert war, schickte ihn der Präsident nach Peking, wo er das US-Verbindungsbüro leitete. Kaum war Ford zum ersten Mal erfolgreich nach Peking gereist, rief er Bush zurück nach Washington und übertrug ihm die Führung des (mal wieder) skandalgeschüttelten Geheimdienstes CIA. Bush war ein Insider der Macht, ein Mann Washingtons - und vor allem ein Netzwerker. Einer behauptete mal, der Mann müsse 75 Stunden am Tag telefoniert, Karten und Briefe geschrieben haben - niemand führe ein eindrucksvolleres Telefonbuch der Macht. Für die ultimative Macht sollte es dennoch nicht reichen. Ronald Reagan, der Gouverneur und Schauspieler aus Kalifornien, schlug Bush im Vorwahlkampf um die Präsidentschaft 1980. Dann, wenige Stunden vor dem Nominierungsparteitag, trug er ihm die Vizepräsidentschaft an. Bush akzeptierte, bereit zu dienen. So hatte er es gelernt, von seinem Vater, Prescott Sheldon Bush, der als Geschäftsmann sehr viel Geld verdient hatte und selbst zehn Jahre im Senat saß. Es gab Prinzipien im Hause Bush. Und Überzeugungen. Die wichtigste: Dass man einer bestimmten Klasse angehörte, dass man mit einem Netzwerk an Gleichgesinnten Großes erreichen konnte, dass man der Aristokratie der Gründerväter angehörte. Als Bush die Präsidentschaft von Reagan übernahm, sollte er mit Hilfe dieser Prinzipien regieren. Freunde statt großer Ideen, ein Netzwerk in der ganzen Welt statt der luftigen Visionen zur Innenpolitik. Sein Kabinett füllte er mit Männern seiner Herkunft - reich, unabhängig, solide, erfahren. Nur auf sie würde er hören. George Bush war ein außenpolitischer Präsident, er steuerte das Land im Augenblick des größten Triumphs - als die Sowjetunion kollabierte und der Kalte Krieg endete. Für Deutschland ein Glücksfall Aber Bush hielt keine Siegesrede auf einem Flugzeugträger, wie es der Sohn 14 Jahre später tun sollte. Die Pose des Siegers war ihm fremd - der Ausdruck der Freundschaft war ihm wichtiger. Vielleicht entstand deshalb die enge Bindung zum deutschen Bundeskanzler. Helmut Kohl, der persönliche Loyalitäten über alles schätzte, hatte in Bush einen Bruder im Geist gefunden. Für Deutschland war Bush ein Glücksfall. Der Präsident verstand ohne Zögern, dass mit dem Fall der Mauer die Vereinigung unaufhaltsam war. Und er wusste instinktiv, dass dieses Deutschland an Amerika gebunden werden sollte: in der Nato, im westlichen Bündnis, auf keinen Fall in der Neutralität. Hätte Bush nicht auf den simplen Grundsätzen bestanden, dann wäre das außenpolitische Geschäft der Vereinigung weniger glatt verlaufen. Prinzipien aber kein Triumph: Noch ein zweites Mal entschied sich Bush für die Pose der Bescheidenheit, als er mit einer großen Koalition und einer halben Million Soldaten Saddam Hussein aus dem besetzten Kuwait vertrieb. Das Bild vom übermächtigen Amerika war begründet. Zuhause aber fühlten die Menschen die wirtschaftliche Schwäche und wandten sich lieber dem Mann mit den Visionen zu: Bill Clinton. George Bush wurde abgewählt. In der Nacht zum Samstag starb er, 94-jährig, in seinem Haus in Houston, Texas.
Für die Pose des Triumphs war er nicht gemacht. George H. W. Bush war ein Pflichtmensch. Und für Deutschland ein Glücksfall.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/bush-deutschland-nachruf-1.3418413
George H. W. Bush - Der letzte Patrizier im Weißen Haus
00/12/2018
Der Tod des früheren Präsidenten ruft Bestürzung bei seinen Nachfolgern und internationalen Politikern hervor. Trump, Clinton und Obama würdigen die Rolle von Bush für die USA. Der frühere US-Präsident George H. W. Bush ist tot. Er ist im Alter von 94 Jahren gestorben, teilte ein Sprecher der Familie mit. Der Republikaner war von 1989 bis 1993 der 41. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Er war der Vater des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush und des Ex-Gouverneurs von Florida, Jeb Bush. Die Familie Bush sei zutiefst dankbar für das Leben und die Liebe des früheren Präsidenten, erklärte George W. Bush. Er sei der beste Vater gewesen, den man sich als Sohn oder Tochter habe wünschen können, hieß es in einer Erklärung. Im Umfeld der Familie hieß es, Bush senior sei friedlich in seinem Haus in Houston verstorben. Bush war zuletzt gesundheitlich angeschlagen und saß im Rollstuhl. Er lebte länger als all seine Vorgänger. Erst vor sieben Monaten war Bushs Frau Barbara gestorben, mit der er 73 Jahre verheiratet war. Der heutige US-Präsident Donald Trump bekundete gemeinsam mit First Lady Melania sein Beileid. Authentisch und mit unerschütterlichem Bekenntnis zu Glaube, Familie und Vaterland habe Bush Generationen von US-Bürgern inspiriert. Bush senior habe sein Land und die Welt zu einem friedlichen Ende des Kalten Krieges geführt. Seine Arbeit habe den Grundstein für den jahrzehntelangen Wohlstand der USA gelegt. Der demokratische Ex-Präsident Bill Clinton hat die Freundschaft zu Bush als eines der größten Geschenke seines Lebens bezeichnet. Dafür werde er immer dankbar sein, erklärte Clinton. Von dem Moment an, als er Bush als junger Gouverneur getroffen habe, sei er von der Freundlichkeit beeindruckt gewesen, von dem ihm eigenen und aufrichtigen Anstand und dessen Zuneigung zu seiner Ehefrau Barbara. Clinton erklärte weiter, er sei für jede Minute dankbar, die er mit ihm verbrachte. Bush war Clinton im Präsidentschaftswahlkampf 1992 unterlegen. Auch Barack Obama hat sich bestürzt gezeigt über den Tod von Bush. Amerika habe einen "Patrioten und bescheidenen Diener" verloren, hieß es in einer Erklärung von Barack und Michelle Obama. "Während unsere Herzen heute schwer sind, sind sie auch voller Dankbarkeit." Bush habe sein Leben einem Land gewidmet, das er geliebt habe. Er hinterlasse ein Vermächtnis, das niemals erreicht werden könne, "auch wenn er gewollt hätte, dass wir alle es versuchen", so der demokratische Ex-Präsident. "Großer Anführer", "echter Partner" und "Freund Deutschlands" In Deutschland haben Politiker ebenfalls ihr Beileid bekundet und an Bushs Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges erinnert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den verstorbenen ehemaligen Präsidenten als "Freund der Deutschen" gewürdigt. "Seinen Beitrag zu unserer Wiedervereinigung werden wir nie vergessen", twitterte Regierungssprecher Steffen Seibert am Samstag. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb in einem Kondolenzschreiben: "Ohne das Vertrauen und die Freundschaft der Vereinigten Staaten und ihres Präsidenten wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen." Und Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) nannte Bush "einen Freund Deutschlands", der 1989 "mutig die Chance zur Beendigung des Kalten Krieges" ergriffen habe, wie Maas in Berlin erklärte. Einer, der an diesen Ereignissen ebenfalls beteiligt war und mit Bush die Abrüstung in den 1980er Jahren vorantrieb, ist Michail Gorbatschow. Er habe mit Bush in einer "dramatischen Zeit" zusammengearbeitet, sagte der 87-jährige frühere sowjetische Staatschef in Moskau. "Das Ergebnis war die Beendigung des Kaltes Krieges und des Rüstungswettlaufs". Bush sei ein "echter Partner" gewesen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat Bush als "großen Anführer" gewürdigt. Der ehemalige US-Präsident habe die Allianz mit Europa immer unterstützt, schrieb Macron auf Twitter. "Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und den Menschen, die ihm nahe standen."
Der Tod des früheren Präsidenten ruft Bestürzung bei seinen Nachfolgern und internationalen Politikern hervor. Trump, Clinton und Obama würdigen die Rolle von Bush für die USA.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/bush-tod-reaktionen-1.4235264
Reaktionen zum Tod von George H.W. Bush
00/12/2018
Deutsche Einheit, Irakkrieg, das Ende des Kalten Krieges: George H. W. Bush war als US-Präsident mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Nun starb der Staatsmann, der Politik für schmutzig hielt, im Alter von 94 Jahren. Ein Versager, wie es ihn selten gegeben hat in der langen Reihe der US-Präsidenten. Ein "One Term President", vier Jahre nur im Amt, nicht wiedergewählt. Einer, der es nie geschafft hat, aus dem Schatten seines Vorgängers zu treten, der seine Versprechen gebrochen hat. Und: ein Langweiler. Das war lange das Bild, das die öffentliche Wahrnehmung von George Herbert Walker Bush bestimmte. Jetzt ist er, der die vergangenen Jahre an Parkinson gelitten hat, im Alter von 94 Jahren gestorben - und wird als einer der populärsten Präsidenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die US-Historie eingehen. Lange hat es keinen US-Präsidenten mehr gegeben, dessen Imagewandel nach der Amtszeit so tiefgreifend war. In die Jahre 1989 bis 1993, die Jahre seiner Präsidentschaft, fallen politische Ereignisse von globaler Bedeutung: Das Ende des Kalten Krieges, die deutsche Wiedervereinigung und der erste Irakkrieg. Ohne George Bush an der Spitze der zumindest damals mächtigsten Nation der Welt, hätten diese Ereignisse eine andere, eine möglicherweise zerstörerische Wendung genommen. Denn Bush wusste, was Krieg bedeutet - und wie wichtig es ist, Dinge zum Positiven zu wenden. Der 2. September 1944 war ein entscheidender Tag in seinem Leben. George Bush hatte gerade eine Bombe auf eine japanische Funkstation abgeworfen, als sein Flugzeug über dem Pazifik abgeschossen wird. Der Lieutenant Junior Grade rettet sich aus dem Flugzeug per Fallschirm, die drei anderen Soldaten im Flugzeug schaffen es nicht. Drei Stunden schwimmt Bush durch den Ozean, hinter ihm ein japanisches Schiff. Erst dann nimmt ihn ein US-amerikanisches U-Boot auf. Kein typischer Politiker Dieser Schock, der Tod der Kameraden, die drei Stunden im Wasser, die Angst vor dem eigenen Tod - all das hat das Leben von George Bush geprägt. Bush war kein typischer Politiker. Im Kern seines Wesens wollte er mit der Politik nichts zu tun haben. Er hielt sie für eine schmutzige, eine unfaire Sache. Aber eben eine, die man mitmachen musste. So lange, bis man Präsident ist, also in einem Amt, das einen aus all dem Schmutz und der Unfairness erhebt. Er war ein Mann mit Prinzipien, angetrieben vom Konkurrenzdenken, er wollte es allen zeigen. Vor allem seinem Vater Prescott Bush, für ihn eine überlebensgroße Figur, der als Investor und im Ölgeschäft ein Vermögen gemacht hat.
Deutsche Einheit, Irakkrieg, das Ende des Kalten Krieges: George H. W. Bush war als US-Präsident mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Nun starb der Staatsmann, der Politik für schmutzig hielt, im Alter von 94 Jahren.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/george-h-w-bush-der-diplomat-im-weissen-haus-1.2215078
George H. W. Bush Der Diplomat - Ein Nachruf
00/12/2018
Ein Misstrauensvotum im Parlament hat Tschechiens Premier Andrej Babiš knapp überstanden, doch seine Gegner, hier bei Protesten Mitte November in Prag, halten an ihrer Forderung fest: "Rücktritt!" Einer Analyse des juristischen Dienstes der EU-Kommission zufolge erscheinen die Interessenkonflikte des tschechischen Premierministers Andrej Babiš unüberbrückbar, solange der Milliardär die Anteile seiner Agrofert-Gruppe nicht verkauft. Für den Gründer der populistischen Ano-Partei, der erst vor einer Woche ein Misstrauensvotum im Parlament überstanden hat, ist dies eine äußerst schlechte Nachricht. Denn während es beim Misstrauensantrag in Prag um einen wahrscheinlichen, ein Jahrzehnt zurückliegenden Missbrauch von EU-Subventionen durch Babiš' Firmengruppe in Verbindung mit dem Konferenzzentrum "Storchennest" geht, beschäftigt sich das neue Papier mit der Gegenwart. Die neun Seiten, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, lassen wenig Zweifel: Als Regierungschef übt der 64-Jährige so großen Einfluss auf die tschechische Politik aus, dass eine Verquickung mit seinen Geschäftsinteressen nicht zu verhindern sei. Das Gutachten ist die Antwort der Hausjuristen auf ein Schreiben von Marc Lemaître, dem Chef der Generaldirektion Regionalpolitik, und ist auch im Generalsekretariat der EU-Kommission sowie den Experten für Landwirtschaft und Haushalt bekannt. Lemaître verweist auf die im Juli 2018 in Kraft getretene Neufassung der EU-Haushaltsordnung, die unter anderem zum Ziel hat, Interessenkonflikte zu vermeiden und den Missbrauch von Fördergeldern zu unterbinden. 82 Millionen aus dem EU-Fonds Laut Lemaîtres Schreiben erhielt und erhält die von Babiš gegründete Agrofert-Gruppe zwischen 2014 und 2020 "bedeutende Summen" aus dem Europäischen Struktur- und Investitionsfonds. Während es 2013, "dem Jahr, in dem Herr Babiš in die Politik eintrat", noch 42 Millionen Euro gewesen seien, habe Brüssel 2017 82 Millionen Euro überwiesen. In diesem Jahr hat Andrej Babiš seine Anteile am Unternehmen Agrofert und der gleichnamigen Firmengruppe in zwei private Trusts übertragen, welche "AB private trust I" und "AB private trust II" heißen. Er beteuert seither, kein "direktes oder indirektes Interesse" an der Agrofert-Gruppe mehr zu haben. Diese besteht aus 200 bis 300 Firmen, die neben der Landwirtschaft europaweit in der Chemie- und Medienbranche aktiv sind. Der juristische Dienst der EU-Kommission sieht die Lage ganz anders. "Die Situation von Herrn Babiš ist als Interessenkonflikt nach Artikel 61 (3) der Neufassung der EU-Haushaltsordnung zu bezeichnen", steht auf Seite 6 des am 19. November verfassten Gutachtens in gefetteter Schrift. Laut diesem Absatz liegt ein Interessenkonflikt für Mitglieder von nationalen Regierungen oder Behörden vor, wenn die "unabhängige, objektive Ausübung" ihrer Arbeit durch "Familienbeziehungen, politische Neigungen, Wirtschaftsinteressen oder sonstige direkte oder indirekte Interessen" beeinträchtigt wird. Das Gutachten bestätigt einen brisanten Fund des tschechischen Ablegers von Transparency International (TI) im slowakischen "Register für Partner des öffentlichen Sektors", wonach Babiš einer der fünf Begünstigten der Trusts sei. In einer Fußnote wird festgestellt, dass es sich hier nicht um einen "blind trust" handelt, weil der Premier und seine Ehefrau Monika Babišova weiterhin über die Bestände informiert seien. TI hatte im Sommer 2018 ebenso wie die tschechischen Piraten bei der EU-Kommission eine Beschwerde eingereicht, auf die bis Mitte Januar geantwortet werden muss. Für den EU-Abgeordneten Bart Staes, der für die Grünen im Haushaltskontrollausschuss sitzt, ist klar: "Babiš muss sich entscheiden, ob er aus der Politik aussteigt oder alle Verbindungen zu Agrofert aufgibt, indem er die Anteile verkauft und die Trusts auflöst." Auch wenn der Sachverhalt des Interessenkonflikts erst in der Neufassung der EU-Haushaltsordnung konkret formuliert wurde, ist sich der Belgier sicher, dass schon vorher Verstöße vorlagen und die tschechischen Stellen dies hätten unterbinden müssen. Kurz vor der Europawahl ist es Staes wichtig, dass die EU-Kommission zügig handelt und im Ernstfall alles dafür tut, die ausgezahlten Subventionen zurückzufordern. "Die EU ist kein Bankautomat für die Reichen und Mächtigen. Wenn so ein Vorgehen toleriert wird, stärkt das nur die Europaskeptiker", sagt der Grüne. Gerade weil der Anteil der Agrarsubventionen am Haushalt der EU so groß ist, müsse hier genau kontrolliert werden. Pikanterweise steht auch der tschechische Landwirtschaftsminister Miroslav Toman im Verdacht, Interessenkonflikte nicht ausgeräumt zu haben. Die Reaktion des Premiers dürfte heftig ausfallen, er schimpft auf "Journalistenhyänen" und stilisiert sich als Mann des Volkes. Abzuwarten bleibt, wie die Sozialdemokraten als Koalitionspartner reagieren. Sie hatten sich nicht am Misstrauensvotum beteiligt und so Babiš indirekt gestützt. Diese Position dürfte aber schwer zu halten sein, wenn Babiš' Verquickungen europaweit diskutiert werden.
Ein bislang unveröffentlichter Bericht der EU attestiert dem Milliardär und Populisten Andrej Babiš erhebliche Interessenkonflikte. Der Verdacht besteht schon lange.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/tschechien-eu-subventionen-1.4233949
Andrej Babiš vermischt Politik und Geschäfte
00/12/2018
Der frühere Präsident der Vereinigten Staaten starb im Alter von 94 Jahren, teilt seine Familie mit. Er amtierte von 1989 bis 1993. George Herbert Walker Bush ist tot. Das teilte seine Familie mit, berichtet die Washington Post. Bush diente den Vereinigten Saaten von 1989 bis 1993 als ihr 41. Präsident. Er führte die USA in den ersten Irak-Krieg und galt als Freund des verstorbenen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Sein Sohn George W. Bush war von 2001 bis 2009 Präsident. Erst im April dieses Jahres war seine Frau Barbara gestorben. Die beiden waren 73 Jahre verheiratet. Das Ehepaar hatte sechs Kinder, von denen eines im Alter von drei Jahren gestorben war. George H. W. Bush musste in den vergangenen Jahren immer wieder im Krankenhaus behandelt werden. Vor etwa zweieinhalb Jahren brach er sich bei einem Sturz in seinem Ferienhaus einen Halswirbel. Zuletzt saß er im Rollstuhl. Aus seiner Amtszeit ist vor allem der Krieg zur Befreiung Kuwaits in Erinnerung. Besonderes Profil zeigte er auch nach dem Fall der Berliner Mauer - als einer der ganz wenigen westlichen Staatschefs stellte er sich offen hinter die deutsche Einheit. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl zollte ihm dafür großes Lob.
Der frühere Präsident der Vereinigten Staaten starb im Alter von 94 Jahren, teilt seine Familie mit. Er amtierte von 1989 bis 1993.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/eil-george-h-w-bush-ist-tot-1.4235259
EIL - George H.W. Bush ist tot
00/12/2018
Die britische Premierministerin Theresa May muss den nächsten Minister-Rücktritt verkraften. Diesmal geht Forschungsminister Sam Gyimah aus Protest gegen ihren Brexit-Deal von Bord. Im Streit über das Brexit-Abkommen mit der EU setzt der Rücktritt eines weiteren britischen Staatssekretärs die ohnehin schon angeschlagene britische Premierministerin Theresa May zusätzlich unter Druck. Sam Gyimah, zuständig für Forschung und Universitäten, teilte am Freitagabend via Twitter mit, er werde bei der Abstimmung am 11. Dezember im Parlament gegen den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal mit Brüssel votieren. Er sprach sich zudem für ein zweites Brexit-Referendum aus. Es sei naiv zu glauben, die EU würde in Verhandlungen über die künftigen Beziehungen nicht rigoros ihre eigenen Interessen verfolgen, schrieb Gyimah. Das zeigten die gescheiterten Verhandlungen über das europäische Satellitennavigationssystem Galileo, an dessen militärischer Komponente Großbritannien nach dem EU-Austritt nicht mehr teilhaben dürfe. London habe seine Trümpfe verspielt. "Nachdem wir unsere Stimme, unser Stimmrecht und unser Veto aufgegeben haben, sind wir darauf angewiesen, dass sich die EU "nach Kräften bemüht", ein endgültiges Abkommen abzuschließen, das unser nationales Interesse berücksichtigt", schrieb er. Gyimah ist das neunte Regierungsmitglied, das im Streit über Mays Brexit-Kurs aus der Regierung ausscheidet. Die Regierungschefin wirbt verzweifelt für das mit der EU ausgehandelte Abkommen. Es scheint aber fraglich, ob sie eine Mehrheit dafür im Parlament finden kann. Großbritannien wird voraussichtlich am 29. März 2019 aus der EU ausscheiden. Das Abkommen sieht eine Übergangsphase bis 2020 vor, in der zunächst alles bleibt, wie es ist. Sollte der Vertrag im Londoner Parlament durchfallen, droht ein ungeregelter Brexit mit drastischen Folgen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche.
Die britische Premierministerin Theresa May muss den nächsten Minister-Rücktritt verkraften. Diesmal geht Forschungsminister Sam Gyimah aus Protest gegen ihren Brexit-Deal von Bord.
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https://www.sueddeutsche.de/politik/brexit-da-waren-es-schon-neun-1.4235257
Brexit - Da waren es schon neun
00/12/2018
Am Freitagabend, um 19.06 Uhr, mehr als neun Stunden nach dem offiziellen Beginn des G20-Gipfels, ist die Gruppe endlich vollzählig. Angela Merkel gesellt sich dazu. Sie huscht mit ihrem Handtäschchen ins ehrwürdige Teatro Colón hinein, den 110 Jahre alten Prachtbau von Buenos Aires. So unauffällig wie möglich. Gut eine Stunde zuvor war sie mit einer Linienmaschine der spanischen Iberia auf dem Flughafen Ezeiza gelandet. Vielleicht hat sie sich dort kurz umgezogen und etwas frisch gemacht, im Hotel kann sie kaum gewesen sein. Als sie das Foyer im Colón betritt, stehen drei Menschen vor ihr, ein Mann, zwei Frauen, und es hat den Anschein, dass sie auf Anhieb nur die Dame in dem weißen Ballkleid erkennt. Es ist Juliana Awada, die Ehefrau des argentinischen Präsidenten Maurico Macri. Wo der gerade steckt, eben war er doch noch da? "Womöglich auf der Toilette", vermutet ein argentinischer Reporter. Es ist und bleibt der Wurm drin bei dieser Dienstfahrt nach Argentinien. Merkel umarmt also Awada. Und Awada umarmt Merkel. Einen mitleidigen Blick wirft sie der Bundeskanzlerin zu, aber sie verkneift sich, soweit man das aus der Ferne beurteilen kann, jeden Kommentar. Die Witze über die bedingte Einsatzbereitschaft der deutschen Flugbereitschaft sind ja alle schon im Netz gemacht worden. Gerade will Merkel auch den Rest des Empfangskomitees begrüßen, es handelt sich um Horacio Larreta, den Bürgermeister von Buenos Aires, und seine Frau, da biegt Macri um die Ecke. Ein Lippenleser möchte man jetzt sein. Wenn nicht alles täuscht, sagt er: "Pero Aaaangela, que pasó?" (Mensch Angela, was ist denn passiert?). Ausführlich aufgeklärt werden kann das in diesem Moment nicht, der Beginn der Gala ist schon überfällig. Es gibt noch ein schnelles Gruppenfoto auf der Marmortreppe, diesmal mit allen Staats- und Regierungschefs, dann gehen im Theatersaal die Lichter aus. Nach ihrem Höllenritt von Berlin über den niederländischen Luftraum, der Kehrtwende nach Köln und der kurzen Nacht in Bonn über Madrid nach Buenos Aires, beginnt Merkels Gipfelteilnahme also mit einer 45-minütigen Tanzvorführung. Mit einem musikalischen Streifzug durch alle argentinischen Provinzen. Dabei wird auch "Rock Argentino" gespielt - das mindert die Einschlafgefahr. Tagsüber im Plenum wurde Merkel von ihrem Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller vertreten, er saß an exponierter Stelle zwischen Macri und US-Präsident Donald Trump. Die Bundeskanzlerin hatte auch ihre bilateralen Treffen mit den beiden verpasst, sie sollen nun genau wie das mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Samstag nachgeholt werden. Noch ist offen, ob es eine Abschlusserklärung geben wird Merkel wird in kürzester Zeit sehr viel von ihrer berühmten ausgleichenden Art aufbringen müssen, wenn sie die Runde der Alphatiere doch noch zu einer gemeinsamen Abschlusserklärung bewegen will. Ob es dazu kommen würde, war am Ende des ersten Konferenztages jedenfalls offen. Vor allem bei den bekannten Streitthemen - Klimaschutz, Strafzölle, Migration - gab es offenbar breiten Dissens. Einen G-20-Gipfel ohne Abschlusserklärung hat es noch nie gegeben. Für zusätzliche Aufregung, vor allem unter den Gastgebern, sorgte ein Statement von Trumps Sprecherin Sarah Huckabee Sanders. Nach dem morgendlichen Treffen des US-Präsidenten mit Macri wurde sie von mehreren Medien mit dem Satz zitiert: "Die beiden Leader bekräftigten ihre gemeinsame Absicht, den regionalen Herausforderungen wie Venezuela etwas entgegen zu setzen sowie der räuberischen Wirtschaftstätigkeit Chinas." Im Fall des komplett heruntergewirtschafteten Venezuela ist man sich tatsächlich einig. Der Halbsatz zu China entwickelte sich allerdings zum Aufreger des Tages in Argentinien. Das Land ist in seiner tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise auf Gedeih und Verderb auf chinesischen Investitionen angewiesen. Wohl auch deshalb wurde Chinas Staatchef Xi Jinping als einziger G-20-Besucher von Macri als offizieller Staatsgast eingeladen und mit militärischen Ehren empfangen. Am Sonntag, im Anschluss an den Gipfel, wollen die beiden einen strategischen Deal schließen und 37 bilaterale Verträge unterzeichnen. Das letzte, was Macri in dieser Situation einfiele, wäre es, Xi als Räuber zu bezeichnen. Allerdings ist Argentinien auch von US-Krediten abhängig. Bei dem mit größter Spannung erwarteten Abendessen zwischen Trump und Xi am Samstagabend in Buenos Aires wird wohl nicht zuletzt Mauricio Macri mitzittern. Spitzt sich der Handelskrieg zwischen den USA und China zu, dann könnte er früher oder später zu einer Entscheidung zwischen Freund und Feind gezwungen sein, obwohl er beide als Freunde braucht. Vieles von dem, was bei diesem Gipfel noch herauskommt oder auch nicht, dürfte wie so oft an der Tagesform des US-Präsidenten liegen. Am Freitags gab es bei ihm jedenfalls eine klare Tendenz zu schlechter Laune, bestens symbolisiert durch jenen Kopfhörer, den er offenbar wegen einer unverständlichen Simultanübersetzung auf den Roten Teppich knallte. Falls ihn die allgemein gelobte Tanz-Performance im Teatro Colón nicht noch umgestimmt hat, lässt das nichts Gutes für den Samstag erwarten. Demonstrativ gut gelaunt präsentierte sich dagegen der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman. Trotz der gegen ihn in Argentinien eingereichten Anzeige wegen des Vorwurfs von Menschenrechtsverbrechen im Jemen-Krieg und seiner mutmaßlichen Verstrickung in den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi, wurden er in der Runde des Mächtigen der Welt keineswegs als Aussätziger behandelt. Ganz im Gegenteil. Die meisten Staats- und Regierungschefs begrüßten den Prinzen höflich, Putin klatschte mit ihm sogar wie mit einem alten Kumpel ab. Angela Merkel hat am Samstag noch die Gelegenheit, auch in dieser Hinsicht dem Gipfel eine andere Note zu verleihen.
Spät trifft die Kanzlerin in Buenos Aires ein. Sie wird nun viel von ihrer ausgleichenden Art brauchen, wenn sie eine Abschlusserklärung erreichen will - denn die Laune scheint nur bei einem gut zu sein.
politik
https://www.sueddeutsche.de/politik/trump-merkel-g-20-gipfel-argentinien-china-1.4235245
Trumps Laune, Merkels Verspätung und Chinas Räuberei
00/12/2018
Endlich frei: Der aus türkischer Haft entlassene Korrespondent bedankt sich für die Unterstützung: "Es geht mir gut, weil es viele Menschen gab, die hinter mir standen." Am 16. Februar 2018 steht Dilek Mayatürk vor dem Gefängnis von Silivri und wartet auf ihren Mann Deniz Yücel. Dann fallen sich die beiden erstmals seit einem Jahr wieder in die Arme, er hält in den Händen einen großen Strauß Petersilie. Was es mit der Petersilie auf sich hat, wird der Journalist Yücel später in Berlin erzählen, bei seinem ersten Auftritt, 36 Tage nach der Haftentlassung: Mit Petersilie und Minze habe er seine Zelle geschmückt und so das Blumenverbot in dem türkischen Hochsicherheitsgefängnis umgangen. Und er sagt auch: "Es geht mir gut", nicht nur, weil die Haft vorbei sei, "sondern auch, weil es viele Menschen gab, die hinter mir standen." Im Februar 2017 war der Korrespondent der Welt in Istanbul festgenommen worden. In einem Haftbefehl wird ihm "Terrorpropaganda" vorgeworfen, ein Vorwurf, mit dem türkische Staatsanwälte großzügig umgehen. Yücel, geboren 1973 in Flörsheim am Main, ist deutscher und türkischer Staatsbürger. Für die Bundesregierung steht fest: Er wurde wegen seiner kritischen Berichte festgenommen. Die Türkei fordert zur selben Zeit von Deutschland die Auslieferung türkischer Staatsbürger, die sie mitverantwortlich macht für den Putschversuch 2016. Das deutsch-türkische Verhältnis erlebt seine schwerste Belastungsprobe seit Langem. Am Tag, als Yücel die Türkei verlassen durfte, wurden drei Journalisten verurteilt Viele Deutsche trauen sich gar nicht mehr in die Türkei, Unternehmer dort haben Schwierigkeiten, neue Mitarbeiter aus Deutschland zu holen, die deutsche Schule in Istanbul bekommt kaum noch Lehrer, Touristen bleiben weg. Türkische Hoteliers in Antalya klagen über das schlechte Geschäft und das Image, das die Türkei mittlerweile in Deutschland hat. Ihre Beschwerden erreichen den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, der seinen Wahlkreis an der Ägäisküste hat. Çavuşoğlu und sein damaliger deutscher Kollege Sigmar Gabriel (SPD) werden dann so etwas wie Brückenbauer, ihre diplomatischen Bemühungen bleiben aber erst einmal geheim, so wie auch ein Treffen Gabriels mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am 4. Februar in einem Hotel in Rom. Bei diesem langen Gespräch geht es auch um den Fall Yücel. Für den Journalisten, der schon fast ein Jahr in Untersuchungshaft sitzt, gibt es zu diesem Zeitpunkt noch immer keine Anklageschrift. Bald darauf geht alles ganz schnell: Yücel wird am 16. Februar per Videolink aus der Haft in einen Gerichtssaal geschaltet, ein Staatsanwalt fordert 18 Jahre Haft, und dann wird der Prozess vertagt. Yücel darf noch am selben Abend mit seiner Frau ausreisen. Der Prozess aber wird fortgesetzt, die nächste Verhandlung ist am 11. April 2019. Das geht auch in Abwesenheit des Angeklagten. Erdoğan besucht dann Ende September Deutschland. Die Türkei steckt in einer Finanzkrise, sie braucht ihre europäischen Partner wieder. Bei dem Besuch erinnert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier daran, dass noch viele türkische Journalisten in Haft sind. Allein an dem Tag, an dem Deniz Yücel das Land verlassen durfte, gab es drei Urteile gegen Journalisten - dreimal lebenslang.
Endlich frei: Der aus türkischer Haft entlassene Korrespondent bedankt sich für die Unterstützung: "Es geht mir gut, weil es viele Menschen gab, die hinter mir standen."
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deniz-yuecel-mit-petersilie-gegen-die-willkuer-1.4270554
Mit Petersilie gegen die Willkür
00/12/2018
Viele Kenner waren mehr als nur erstaunt, als der Bundestrainer Anfang Juni den deutschen Kader für die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland bekannt machte. Womöglich hat sich Joachim Löw über sich selbst gewundert, als er die Liste zusammenstellte - nicht wegen der 23 Spieler, die er für das Turnier auserlesen hatte, sondern wegen dieses einen Spielers, für den er plötzlich keinen Platz mehr fand. Dass der anerkannt hochbegabte und vielseitig wertvolle Angreifer Leroy Sané, 22, nicht mitfahren durfte, das schien also sogar der Cheftrainer, der dies beschlossen hatte, für unerklärlich zu halten: Schließlich hatte Sané im zweiten Jahr beim englischen Meister Manchester City einiges beigesteuert zum Saisonertrag, als Stammspieler und Flügelstürmer 49 Partien bestritten, dabei 15 Tore geschossen und 19 Torvorlagen gegeben. Die Liga kürte ihn zum Aufsteiger des Jahres. Und dennoch hatte der Bundestrainer seine Entscheidung bei wachem Verstand und aus freiem Willen getroffen, niemand hatte ihn bedroht oder unter Drogen gesetzt. Sané sei "irgendwie noch nicht angekommen" in der Nationalmannschaft, versuchte Löw zu erklären. Niemand weiß, ob die DFB-Elf mit Sané in Russland erfolgreicher gewesen wäre. Sicher ist lediglich, dass sie, wenn er mitgespielt hätte, kaum weniger erfolgreich hätte abschneiden können. Sie schied in der Vorrunde aus. Und zumindest Löw kennt jetzt noch eine zweite gesicherte Erkenntnis: dass es niemandem nutzt, Hypothesen aufzustellen oder im Nachhinein zu beklagen, was zuvor womöglich versäumt wurde. Das Thema der Nichtnominierung sei "Schnee von gestern", befand der Bundestrainer im November in Gelsenkirchen, nachdem Sané beim Länderspiel gegen die Niederlande eine glänzende Leistung geboten hatte. Vermutlich wird Löw trotzdem noch häufig auf die Sache angesprochen werden. Gemäß den Berechnungen des Datendienstleisters "transfermarkt.de" ist Leroy Sané zurzeit der teuerste (und damit beste) deutsche Fußballspieler. Gemäß der inoffiziellen, aber auch nicht unseriösen Einschätzung des Portals beträgt der Marktwert des Angreifers 100 Millionen Euro, er ist somit teurer als Toni Kroos (80 Millionen) oder Timo Werner (65 Millionen). Bei seinem Klub schätzt man sich glücklich, bis 2021 mit Sané vertraglich verbunden zu sein, und wirbt bereits jetzt öffentlich darum, das Arbeitsverhältnis zu verlängern. Manchester City ist einer der finanziell am besten ausgestatteten Vereine der Welt und beschäftigt einen der besten Trainer, die es gibt; doch selbst die vielen Millionen Pfund Gehalt und die schönsten Komplimente des charmanten Pep Guardiola bieten keine Garantie, dass dem Gepriesenen die Offerten von Real Madrid oder Paris St. Germain nicht noch besser gefallen könnten. Die schnellen Beine hat er vom Vater geerbt, die Athletik von der Mutter Sané selbst sagt zu solchen Dingen nichts, und es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass er sich darüber auch nicht allzu viele Gedanken macht. Seine Weltsicht ist, obschon er mittlerweile Vater wurde, noch ziemlich unbekümmert. Er befindet sich mitten in dem Leben, von dem er immer geträumt hat - dem eines Fußballers. Für ihn war "von vornherein klar", dass er diesen und keinen anderen Beruf anstreben würde: "Ich habe schon als ganz kleines Kind mit meinen Freunden immer Fußball gespielt, und mein Vater war ja früher auch Fußballprofi. Mit dem habe ich zu Hause im Garten und auf dem Bolzplatz gekickt", erzählte er vor ein paar Jahren, als er bei Schalke 04 gerade das Dasein als Profi kennenlernte. Fünfjährig war er von seinem Vater Souleymane bei dessen Ex-Verein Wattenscheid 09 eingeschult worden, im Alter von acht Jahren wechselte er dann in den Schalker Nachwuchs. Er habe sich, so berichtete Sané Junior, "auf jedes Training und jedes Wochenende gefreut, an dem wir ein Spiel hatten. Das konnte ich gar nicht abwarten. Ich war auch nie auf Partys mit 16 oder 17, das habe ich überhaupt nicht vermisst. Hobbys hatte ich auch nicht, nur den Ball." Mit seinem Lieblingsspielzeug hat sich Leroy Sané während der Gelsenkirchener Lehrjahre bestens vertraut gemacht. Außer den extrem schnellen Beinen (vom Vater geerbt) und einer außerordentlichen Athletik (von der Mutter geerbt, der Olympiaturnerin Regina Weber) besitzt er auch ein hochgradig entwickeltes Ballgefühl. Letzteres verleitet ihn manchmal zum Übermut. Es könnte sein, dass ihn Löw im Mai im Südtiroler Trainingslager just in einer Phase antraf, in welcher der Übermut überhandgenommen hatte. Auch Pep Guardiola in Manchester hat seinem Schüler immer wieder demonstrative Lektionen erteilt, um Sané anzutreiben. Der Erfolg gab seinen Methoden recht. Jogi Löw hatte frühzeitig erkannt, welche außergewöhnlichen Talente Sané besitzt. Schon im Herbst 2015 legte er fest, dass er den Schalker Angreifer - damals noch ein besserer Geheimtipp - mit zur Europameisterschaft im nächsten Sommer nehmen werde. Das hat er dann zwar auch gemacht, zum Einsatz brachte er Sané allerdings kaum. Das Verschmähen hat sozusagen Tradition. Dafür ist der Bundestrainer kritisiert worden, doch das ist, wie er sagen würde, Schnee von gestern. Heutzutage ist Sané Stammspieler in Löws Nationalelf, und während der Trainer sagt, der Spieler habe "aus der Nichtnominierung gelernt", sagt der Spieler über den Trainer: "Der Jogi macht das sehr gut. Er hat einen klaren Plan." Womöglich geht diese wechselhafte Beziehungsgeschichte jetzt geradewegs auf ihr Happy-end zu.
Wahrscheinlich hat Jogi Löw selbst nicht verstanden, warum er Leroy Sané nicht zur WM mitnahm. Egal: Nun trägt der Stürmer von Manchester City die Hoffnungen auf eine bessere deutsche Fußball-Zukunft.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/leroy-sane-der-unbekuemmerte-1.4270564
Der Unbekümmerte
00/12/2018
Charlotte Ritter trifft ihren Chef im Separee eines Nachtklubs. Er, dickbäuchig und leicht verschwitzt, will Informationen und vermutlich mehr. Sie, blitzgescheit und ziemlich nackt, nutzt die Gelegenheit, um ihre Karrierechancen zu verbessern. In Szenen wie diesen zeigt die Krimiserie "Babylon Berlin", warum Liv Lisa Fries eine der vielversprechendsten Fernsehentdeckungen dieses Jahres ist. Wie sie die so kluge wie frivole, so verletzliche wie knallharte Charlotte Ritter darstellt, jenseits aller Klischees, hat Millionen Zuschauer in ihren Bann gezogen. Die Krimiserie ist ein opulentes Sittengemälde der Zwanzigerjahre. Liv Lisa Fries, 28 Jahre alt, spielt eine neugierige, ambitionierte Stenotypistin, die gemeinsam mit einem Kommissar Fälle löst. Mit einem Budget von 40 Millionen Euro ist die Serie die bislang teuerste deutsche Fernsehproduktion. Sie wurde 2017 auf dem Bezahlsender Sky gezeigt und erreichte erstaunliche Zuschauerzahlen, 2018 war sie in der ARD und der Mediathek zu sehen, mit Rekord-Abrufzahlen. Die Serie wurde in mehr als 90 Länder verkauft, die US-Rechte hat sich Netflix gesichert. Fries wurde für ein weltweites Publikum zum Gesicht der Goldenen Zwanziger. Ein Erfolg, den sie sich akribisch erarbeitet hat. Als Liv Lisa Fries erstmals vor der Kamera stand, für Oskar Roehlers "Elementarteilchen", war sie 14. Ihre Rolle fiel dem Schnitt zum Opfer, aber egal, Fries nahm privaten Sprech- und Schauspielunterricht. Neben Götz George spielte sie dann in "Schimanski - Tod in der Siedlung" direkt die Hauptrolle. George sei ein Schauspieler, der seine Sache sehr ernst nehme, erzählte sie später. Wie ernst auch sie ihre Sache nimmt, zeigte "Babylon Berlin". Sie vertiefte sich erst mal in Bücher, eine alte Gewohnheit aus ihrem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft. Sie las Schriftstellerinnen der Zwanziger, besuchte Ausstellungen über die Weimarer Republik, schaute Marlene-Dietrich-Filme, schrieb sogar mit den Regisseuren eine Textpassage für den Film. Ihr Schauspielkollege Volker Bruch, der den Kommissar Rath spielt, sagt: "Liv will und muss alles verstehen, damit sie sich dann am Set bedingungslos der Szene hingeben kann. Dann kann man sich als Partner von ihr überraschen lassen, bis man am Ende völlig vergisst zu spielen." In Deutschland bekannt wurde Fries 2011 durch "Sie hat es verdient" von Thomas Stiller. Sie spielt eine Jugendliche, die eine Mitschülerin zu Tode quält. Später war sie Überlebende eines Amoklaufs in "Staudamm", die Freundin eines Mannes, der gerade sein Coming-out hatte, in "Romeos", eine Mukoviszidose-Erkrankte in "Und morgen Mittag bin ich tot". Für diesen Film hat Fries zehn Kilo abgenommen. Sie ist, durch einen Strohhalm atmend, Treppenhäuser auf und ab gelaufen, um das Gefühl von Atemlosigkeit zu verstehen. Liv Lisa Fries nimmt ihre Sache wirklich sehr, sehr ernst. Nebenbei gelang ihr 2018 der Sprung nach Hollywood: In der Spionageserie "Counterpart" spielt sie Barkeeperin Greta an der Seite von Oscar-Preisträger J. K. Simmons. Für die Zwanzigerjahre wird Liv Lisa Fries aber noch eine Weile stehen; gerade entsteht die dritte Staffel "Babylon Berlin".
Wie ernst die deutsche Schauspielerin ihren Beruf nimmt, beweist sie in der Erfolgsserie "Babylon Berlin".
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/liv-lisa-fries-das-gesicht-der-goldenen-zwanziger-1.4270560
Das Gesicht der Goldenen Zwanziger
00/12/2018
Sie ist Wahlsiegerin für die Demokraten und frühere CIA-Agentin - und nun Teil jener "blauen Welle" vor allem von Frauen, die an Donald Trumps Macht rütteln. Sie ist das, was Amerikaner gerne einen tough cookie nennen, geschlechtsneutral einen harten Hund, sozusagen eine Art Carrie Mathison aus der Geheimdienst-Serie "Homeland" im wirklichen Leben: Abigail Spanberger, 39, jagte jahrelang als CIA-Agentin undercover Terroristen in aller Welt, ehe sie sich entschloss, für die Demokraten in die Politik zu gehen. In einem konservativen Wahlkreis forderte sie einen konservativen republikanischen Kongressabgeordneten heraus - und gewann am 6. November 2018 wider alle Vorhersagen (im Bild mit Tochter Catherine am Wahlabend). Damit trug sie zur "blauen Welle" bei, benannt nach der Farbe der Demokratischen Partei. Denn die stellt nun nach acht Jahren erstmals wieder die Mehrheit im Repräsentantenhaus, und das mit klarem Vorsprung vor den Republikanern, der Partei Präsident Donald Trumps. Spanberger ist eine von mehr als 100 Frauen, die dem neuen Kongress angehören - so viele waren es noch nie. Und sie ist eine von 36, die neu ins Parlament eingezogen sind - die meisten von ihnen Demokratinnen, die republikanische Männer aus ihren bisherigen Posten katapultiert haben. So, wie es auch Spanberger gelungen ist. Im Nachhinein betrachtet hat Spanberger so ziemlich alles richtig gemacht, nämlich das getan, was Kandidaten in Wahlkreisen machen sollten, wenn sie ideologisch nicht festgelegt sind. Sie war für eine freiwillige staatliche Krankenversicherung, aber gegen eine allgemeine Pflichtversicherung. Sie verurteilte sanctuary cities, die illegalen Einwanderern Schutz anbieten und die Zusammenarbeit mit den Behörden des Bundes verweigern. Sie warb vehement für eine verantwortungsvolle staatliche Ausgabenpolitik, polterte wider die Schuldenmacherei, die Republikaner lange Jahre verteufelten und der sie nun unter Trump selbst hemmungslos verfallen. Alles sind das Positionen, die Spanberger eher auf dem rechten Flügel der Demokraten verorten. Vor allem aber beklagte sie lautstark "mangelnden Anstand" in der amerikanischen Politik, eine klare Anspielung auf den Präsidenten und seine Lügen und Herabwürdigungen des politischen Gegners, ohne dabei je Trumps Namen in den Mund zu nehmen. Das Problem war nur: In Virginias Wahlbezirk Nr. 7, in dem Spanberger antrat, hatte es seit Jahrzehnten keine wechselnden Mehrheiten gegeben. Der Wahlkreis war klar festgelegt: streng konservativ. Seit der Ära von Präsident Nixon, also seit fast einem halben Jahrhundert, hatte der Distrikt nur Republikaner in den Kongress geschickt. Noch 2016 siegte deren Abgeordneter Dave Brat mit 15 Prozent Vorsprung vor seinem Konkurrenten von den Demokraten. Keine guten Voraussetzungen für die Herausfordererin. Doch Spanberger, die drei Kinder hat und selbst in dem ländlichen Wahlbezirk im Westen von Virginias Hauptstadt, der alten Südstaatenkapitale Richmond, groß geworden ist, hat den Nachteil wettgemacht. Zum einen mit unermüdlichem Einsatz: Sie hat schlicht mit den Menschen geredet. Allein im Oktober hatte sie 93 offizielle Gesprächstermine. Damit mobilisierte sie viele politisch nicht festgelegte Wähler - vor allem Frauen und vor allem in den urbanen Gegenden ihres Bezirks, die an Richmond angrenzten. Spanberger gab den Wählerinnen und Wählern das Gefühl, Gehör zu finden, das Gefühl, dass sie sich in ihren Dienst stellt und nicht in den Dienst einer Ideologie. Das passte - und das war ihr anderer Trumpf - zu ihrer Lebensgeschichte. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatte die sprachenbegabte junge Frau (unter anderem beherrscht sie fließend Deutsch) sich freiwillig bei der CIA gemeldet, um, wie sie es formuliert, ihrem Land zu dienen. Nach vier Jahren Training wurde Spanberger als Geheimagentin eingesetzt - ein Umstand, den sie nicht einmal ihrer Mutter erzählen durfte und den Amerikas Spionagedienst erst bestätigte, als sie ihre Kandidatur bekannt gab. Bereitwillig ließ sie sich im Wahlkampf vor ihrem Holzhaus mit wehendem Sternenbanner im Hintergrund ablichten. Dienst an der Gemeinschaft, Dienst für das Land - das sind Werte, die keineswegs nur bei konservativen Amerikanern hoch angesehen sind. Die Demokratische Partei wird sich Spanbergers Erfolg genau anschauen - als Blaupause für die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren.
Sie ist Wahlsiegerin für die Demokraten und frühere CIA-Agentin - und nun Teil jener "blauen Welle" vor allem von Frauen, die an Donald Trumps Macht rütteln.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/abigail-spanberger-die-spionin-die-aus-der-kaelte-kam-1.4270550
Abigail Spanberger - Die Spionin, die aus der Kälte kam
00/12/2018
Hat er wirklich gesagt, "Wir müssen wegkommen vom Ego First"? Doch, hat er, ausgerechnet der Super-Ehrgeizige. Bayerns Ministerpräsident beweist Talent als Kabarettist und als Künstler des Wandels - seiner selbst. Als es Markus Söder einst in die Politik verschlug, ging der Welt ein Unterhaltungskünstler verloren. Wobei man Söder anrechnen muss, dass er sich offenbar auch in höchsten Ämtern noch bemüht, seine kabarettistischen Talente und Neigungen zu pflegen. Sein jüngstes Interview in der FAZ etwa gilt vielen als Perle des politischen Humors. "Wir müssen wegkommen vom Ego First", fordert er da. Man müsse einander wieder mehr zuhören und offen sein für Argumente. Es wirkt fast ein wenig, als hätte Söder mehr als zwei Jahrzehnte lang auf diese eine Pointe hingearbeitet - und sich das teuflische Image eines Egomanen bloß aufgeladen, damit das Publikum vom Stuhl fällt, wenn er eines Tages plötzlich singt wie ein Engel. Söder zog im März in die bayerische Staatskanzlei ein, er war ein Ministerpräsident des Wandels - vor allem des Wandels seiner selbst. Karrierist, Lautsprecher, Scharfmacher? Verblassende Erinnerung. Dabei hatte Söder den Streit der CSU mit Bundeskanzlerin Angela Merkel um die Abweisung bestimmter Asylbewerber an der Grenze zunächst wesentlich befeuert. Erst Ende Juni legte er angesichts des Umfrage-Sinkflugs eine kühne Kehrtwende hin und tat so, als hätte er mit der Berliner Krise nichts zu tun. Er kam damit durch, weil CSU-Chef Horst Seehofer allen Zorn auf sich zog, auch in der eigenen Partei. Wenn man freundlich sein will zu Söder, könnte man sagen: Er hat früher als Seehofer erkannt, dass die brachiale Konfrontation mit der Kanzlerin bei den Leuten nicht verfängt. Diese Lektion scheint er nun verinnerlicht zu haben. Der neue Söder ist ein Softie, der viel über Respekt, Würde und Stil redet und seine Partei moderner und weiblicher machen möchte. Die CSU legt sich ganz in seine Hand: Beim Parteitag am 19. Januar 2019 soll er zum Vorsitzenden gewählt werden. Es beginnt eine neue Etappe in der Geschichte der Christsozialen - die des Alleinherrschers Markus Söder. Ein bisschen bizarr ist das schon: Die CSU belässt den Ministerpräsidenten, der am 14. Oktober bei der Landtagswahl den Horrorwert von 37,2 Prozent eingefahren hat, nicht nur im Amt; sie belohnt ihn auch noch mit dem Parteivorsitz. Vermutlich hat Söder, als er unter dem Christbaum das Jahr 2018 Revue passieren ließ, sein Glück kaum fassen können. Und doch macht das Ganze für viele in der CSU Sinn: Über die 37,2 Prozent waren die meisten sogar noch erleichtert. Dem unermüdlichen Wahlkämpfer Söder rechnen sie so etwas wie Schadensbegrenzung an. Markus Söder hatte nur sieben Monate Zeit, sich als Ministerpräsident das Vertrauen der Wähler zu erwerben; mit seiner Hyperaktivität behinderte er freilich die eigene Profilbildung. Jetzt bekommt er eine zweite Chance - in einer komfortablen Koalition mit bislang sehr folgsamen Freien Wählern. Er muss nun aber auch die Zweifel widerlegen, die es in der Partei weiter an ihm gibt. Deren Zukunft, sagt ein wichtiger CSU-Mann, hänge von Söders Bereitschaft ab, sich "vom Einzelspieler zum Teamplayer" zu entwickeln. Söder muss vom "Ego First" wegkommen, und nicht nur rhetorisch.
Hat er wirklich gesagt, "Wir müssen wegkommen vom Ego First"? Doch, hat er, ausgerechnet der Super-Ehrgeizige. Bayerns Ministerpräsident beweist Talent als Kabarettist und als Künstler des Wandels - seiner selbst.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/markus-soeder-wenn-englein-singen-1.4270546
Wenn Englein singen
00/12/2018
Die Weisheit der Älteren, früher sei alles besser gewesen, war bereits bei den Phöniziern und den Römern zu hören. Gestimmt hat sie selten. Der amerikanische Philosoph Steven Pinker widmete diesem häufigen Irrglauben und dem darin steckenden, zur Zeit wieder sehr modischen Kulturpessimismus 2018 das großartige Buch "Aufklärung jetzt", in dem er treffend argumentiert, dass es so vielen Menschen wie nie zuvor heute besser gehe, sogar sehr viel besser, als noch vor einer oder zwei Generationen. Wer freilich in den vergangenen Jahren damit beauftragt war, einen Jahresrückblick zu erstellen, dessen Glauben an den Fortschritt der Menschheit erfuhr jedes Mal eine ernsthafte Prüfung. Das Narrenschiff der Trump-Administration. Brexit-Chaos, Europas Krise, der Aufstieg des Rechtspopulismus, auch in Deutschland. Das Artensterben und die nahende Katastrophe des Klimawandels, Kriege und Terroranschläge. So gern man einen Jahresrückblick also mit positiveren Botschaften füllen würde, so schwer machen das erneut die Ereignisse. Im Magazin "Der große Jahresrückblick 2018" (gedruckt erhältlich im Handel oder im SZ-Shop unter sz.de/2018) haben Redakteure der Süddeutschen Zeitung versucht, Wege aus den vielbeklagten Miseren zu beschreiben: Ist das Klima wirklich nicht mehr zu retten? Wie kann das historische Werk der Einigung Europas wieder an Fahrt und Überzeugungskraft gewinnen? Wie vermag die amerikanische Demokratie ihre Selbstreinigungskräfte zu mobilisieren? Wie überwinden wir die wachsende Spaltung und Polarisierung der eigenen Gesellschaft? Diese Menschen beweisen, dass die Dinge zu bewegen und zu verändern sind Wir haben einen anderen Zugang gewählt, um uns dem schwierigen Jahr 2018 zu nähern. Wir erzählen dieses Jahr in zwölf Kapiteln über Menschen, die darin eine teils erhebliche und auch nicht immer nur die beste Rolle gespielt haben, in deren Handeln es sich aber widerspiegelt. Diese Zwölf beweisen, jeder auf seine Art, dass die Dinge zu bewegen und zu verändern sind. Da ist, zuerst, in der Politik die Aufsteigerin des Jahres, Annegret Kamp-Karrenbauer. Sie löste Angela Merkel als deren Wunschkandidatin im CDU-Vorsitz ab, nach einem dramatischen Dreikampf mit Friedrich Merz und Jens Spahn, und muss den künftigen Kurs der Partei bestimmen. Es war ein etwas überraschender Triumph innerparteilicher Demokratie, der alle Vorurteile gegen das angeblich verkrustete Parteiensystem Lügen straft. Dann ist da der schwierige Partner im Süden, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der sich im letzten Moment vor der Landtagswahl von Horst Seehofers politischen Geisterfahrten distanzierte. An der Spitze Frankreichs, Deutschlands wichtigstem Partner in Europa, sah sich der Präsident einem spontanen Aufstand der Frustrierten ausgesetzt; ob Emmanuel Macron seine Rolle als Hoffnungsträger des Westens wird weiter einnehmen können, hängt auch davon ab, wie geschickt er mit den "Gelbwesten" umgeht. Und die USA, nichts als Trump? Bei den Midterm-Wahlen erlitt der Präsident zumindest eine Schlappe, und es waren vor allem Frauen wie die ehemalige CIA-Agentin Abigail Spanberger, welche bei den Demokraten für Siege und Optimismus sorgen. Der Journalist Deniz Yücel durfte das Gefängnis endlich verlassen, vielleicht hat seine Standhaftigkeit ein Tauwetter zwischen der Türkei und dem Westen ermöglicht. Sehr zu Recht ging der Friedensnobelpreis an die Jesidin Nadia Murad, die unter der Herrschaft des IS Entsetzliches erlitt und doch die Kraft fand, aufzustehen gegen den Terror. Im Chaos des Brexit gaben Harry und Meghan als neues Traumpaar den Briten Grund zum Optimismus. Sind die politische Unversöhnlichkeiten, wie sie im Brexit zum Tragen kamen, nicht eigentlich absurd? Vom Weltall aus verdeutlichte uns das auf eindrucksvolle Art Astronaut Alexander Gerst. Manche Menschen haben eben die Fähigkeit, andere zu verzaubern. Zu ihnen gehört Schauspielerin Liv Lisa Fries, sie führte die Deutschen auf magische Weise zurück in die Goldenen Zwanziger. Ebenso magisch ist das Fußballspiel von Leroy Sané, der die Deutschen nach dem WM-Aus in bessere Zeiten führen soll. Radsportlerin Kristina Vogel, querschnittgelähmt nach einem Unfall, gibt nicht nur der Sportwelt ein Beispiel an Lebensmut. Und dann ist da noch ein Niederländer, von dem das Wohl der deutschen Autoindustrie abhängt: Bram Schot. Manche sagen: Er müsste zaubern können, um Audi wieder flott zu machen.
Wer einen Rückblick macht, braucht gute Nerven bei all den schlechten Nachrichten. Aber versuchen wir's!
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/menschen-2018-wege-aus-den-miseren-1.4270548
Menschen 2018 - Wege aus den Miseren
00/12/2018
Die Gelbwesten kommen: Frankreichs Präsident sieht sich zu seiner Verblüffung dem Volkszorn ausgesetzt. Ganz unschuldig ist er daran nicht. Die letzten Nachrichten über Emmanuel Macron in diesem Jahr lesen sich wie das späte Kapitel eines bösen modernen Märchens - das ist ja immer die Stelle, wo es um Moral und die sogenannte gerechte Strafe geht. Die Boulevardmärchenpresse mag solche Bilder: Der von der Wut seines Volkes in den goldenen Käfig des Élysée verbannte, einst vorsichtig als Heilsbringer begrüßte Präsident traue sich nur noch mit Make-up aus dem Haus, sogar seine Hände lasse der vom Sturm des Zorns Gebeutelte schminken, heißt es. Die politische Zukunft Macrons ist heute so ungewiss ist wie die vieler anderer europäischer Staatsoberhäupter: Fünf Wochenenden lang stürmen jene in Paris immer noch belächelten Provinzen die Champs-Élysées, schlagen Symbolfiguren entzwei und fordern den jungen Präsidenten auf, sich aus dem Staub zu machen. Um mehr Kaufkraft geht es den "Gelbwesten", um billiges Benzin, scheinbar um einen Flickenteppich aus Kleinigkeiten. Im Kern geht es ihnen auch darum, eine jahrzehntelang geduldete Kultur der präsidialen Anmaßung, der Elitebevorzugung und des Nepotismus in die brennende Tonne zu klopfen. Und Emmanuel Macron, der vor eineinhalb Jahren doch angetreten war, alles anders zu machen, steht nun eben nicht als Andersmacher da, sondern als vollgepiekste Voodoo-Puppe, stellvertretend für die Präsidialkultur der Fünften Republik. Deren aristokratische Züge hatte er eher noch stärker herausgearbeitet. Bereits seine erste Rede an die Nation im Frühsommer 2017 hielt Macron in Versailles, dem Schloss des Sonnenkönigs. Damals waren die Franzosen ihm noch im Zweifel zugewandt - sie hatten sich ja weniger für ihn als gegen die antieuropäischen Extremisten von rechts und links, Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon, entschieden. Aber das Missfallen an Macron begann bereits in den ersten Amtsmonaten; der erwartete Gerechtigkeitsschub blieb aus, Macron schaffte die Vermögensteuer ab, er will Frankreich kräftig reformieren. Diese erste Verstörung wurde von erster Empörung abgelöst, als Macron anfing, despektierlich über Menschen zu reden, die "nichts sind" - damit wollte er jene gemeint haben, die nichts haben. Aber "Les gens qui ne sont rien" begannen, ihrem Unmut über den "Präsidenten der Reichen" Luft zu verschaffen und zu zeigen, dass sie sehr wohl dem selbstgefällig auftretenden Macron das Kraut ausschütten können. Als seine Regierung dieses Jahr die Erhöhung der Diesel- und Benzinsteuer bekannt gab, legten die Gelbwesten das öffentliche Leben in Teilen lahm. Sie zwangen Macron, ihnen Zugeständnisse in Milliardenhöhe zu machen und die Steuererhöhungen auszusetzen. Jetzt sitzt Macron erst einmal einsam im Élysée, lässt sich die Hände schminken, und wenn er nicht mit konsequentem Fingerspitzengefühl daran geht, die Franzosen von seiner umfassenden Reformpolitik zu überzeugen, dann kann er sich seine zweite Amtszeit wohl abschminken.
Die Gelbwesten kommen: Frankreichs Präsident sieht sich zu seiner Verblüffung dem Volkszorn ausgesetzt. Ganz unschuldig ist er daran nicht.
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https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/emmanuel-macron-ein-kaefig-aus-gold-1.4270544
Ein Käfig aus Gold
00/12/2018
Hätte sich Nadia Murad eine Auszeit gegönnt, wäre das sicher auf Verständnis gestoßen. Am 10. Dezember 2018 wurde die gerade erst 25 Jahre alte Frau mit einem der angesehensten Preise geehrt, den die Jurys dieser Welt zu vergeben haben, dem Friedensnobelpreis. Sie musste bei der Zeremonie unzählige Hände schütteln, eine weltweit beachtete Rede halten, Interviews geben. Auch die Wochen zuvor waren fordernd: Murad hat Kanadas Premier Justin Trudeau getroffen, mit Frankreichs Präsident verhandelt, Angela Merkel in Berlin besucht, war Ehrengast auf Galas und Veranstaltungen. Wer würde sich nach all dem nicht an einen ruhigen Ort zurückziehen, zumindest bis Jahresende, um wieder Kraft zu tanken? Nadia Murad scheint nach ihrem großen Tag in Oslo aber vor allem ans Weitermachen zu denken. Zumindest lässt der Rhythmus darauf schließen, in dem sie seither Termine absolviert: Nur zwei Tage, nachdem sie in Norwegens Hauptstadt geehrt worden war, traf sie 4000 Kilometer weiter südlich den neuen Präsidenten ihres Heimatlandes Irak. Den neuen Parlamentssprecher, den neuen Premier - jeder wollte ein Foto. Später reiste Murad zum Papst, weiter nach Paris, nach Katar. Ein Grund für ihre Rastlosigkeit könnte sein, dass Nadia Murad ihr Engagement als UN-Sonderbotschafterin für die Überlebenden von Menschenhandel vor allem für andere betreibt - und höchstens insofern ein bisschen für sich selbst, als dass sie mit vielen Frauen, für die sie sich einsetzt, schreckliche Erinnerungen teilt. Der Nobelpreis ist für sie somit keine persönliche Auszeichnung, auf der sie sich ausruhen könnte, sondern ein Ansporn, weiterzumachen: "Ich hoffe, dass durch diesen Preis noch mehr Licht ins Dunkel kommt", sagte Murad in Oslo, "dass noch mehr Menschen aufmerksam werden auf die Gewalt, die den Jesiden angetan wird." Eine Ikone der Menschenrechtsbewegung wollte Murad nie werden - ihr Plan war es vielmehr, einmal einen Schönheitssalon zu eröffnen in ihrer Heimat im Nordirak, nahe der syrischen Grenze. Dieser Traum starb am 3. August 2014, als die Terrormiliz Islamischer Staat das Dorf Kodscho stürmte. Die Islamisten, die zwei Monate zuvor die irakische Millionenstadt Mossul überrannt hatten und sich unbesiegbar wähnten, hatten sich in einem zynischen religiösen Gutachten die Legitimation erteilt, die Minderheit der Jesiden auszulöschen, die im Nordirak, in Syrien und der Türkei siedelt. Verfolgt wurden die Jesiden in ihrer Geschichte schon mehrmals, was aber der IS nach jenem 3. August 2014 betrieb, war systematischer Völkermord: Seine Kämpfer erschossen in dem Gebiet um das Sindschar-Gebirge jeden männlichen Jesiden, dessen sie habhaft werden konnten, vorpubertäre Jungen steckte der IS in Umerziehungslager, um sie zu Kämpfern heranzuzüchten. Jesidische Frauen wie Nadia Murad wurden von den Dschihadisten verschleppt, versklavt und vergewaltigt. Angetrieben von ihrem eigenen Trauma kämpft sie für die Sache der Jesidinnen Sexuelle Gewalt wird in vielen Konflikten dieser Welt als Waffe eingesetzt; gemeinsam mit Nadia Murad wurde der Arzt Denis Mukwege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, der sich um Frauen aus Kongos Kriegsgebieten kümmert. Die Mitglieder des IS wussten um einen Kodex der verschlossenen Religionsgemeinschaft der Jesiden: Wer sexuellen Kontakt mit Andersgläubigen hat - ob freiwillig oder nicht -, wurde bisher aus der Gemeinschaft verstoßen. Nach dem Genozid durch den IS sollte es die jesidische Gemeinschaft schaffen, ihre Haltung zu ändern. Nadia Murad gelang nach drei Monaten mithilfe einer muslimischen Familie in Mossul die Flucht. 2015 kam sie mit einem Sonderkontingent, das Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann in einer spontanen Entscheidung aufgelegt hatte, nach Deutschland: 1000 jesidische Überlebende wollte er aufnehmen, wollte ihnen mit Therapieangeboten den Start in ein neues Leben erleichtern. Nadia Murad lebte zunächst in einer Sammelunterkunft, zum Psychologen ging sie nicht, sie wählte eine andere Form, mit ihrem Trauma umzugehen: Sie hielt es wach, riss es wieder und wieder auf, indem sie über das Erlebte sprach. "Natürlich fühle ich mich beschmutzt, vom ersten Tag an und bis heute", erklärte Murad nach der Preisverleihung in Oslo ihr Verhalten. Aber die Verbrechen würden weitergehen, "wenn wir als Frauen nicht dagegen anreden". Wenn sie dagegen anredet, spricht Nadia Murad eher leise als laut, lieber in ihrem kurdischen Dialekt als auf Englisch. Dennoch hört man ihr gebannt und schockiert zu, in TV-Dokumentationen und in Parlamenten, in der UN-Vollversammlung und bei der Verleihung von Preisen, die sie mittlerweile für ihr Engagement in großer Zahl zugesprochen bekam. Dass man ihr auch in Regierungssitzen zuhört, ist Nadia Murad besonders wichtig. Bei ihrem Besuch im Élysée-Palast in Paris erreichte sie, dass Frankreich dem Beispiel Baden-Württembergs folgt und ebenfalls ein Programm für überlebende Jesidinnen auflegt; die ersten Ankömmlinge begrüßte Murad wenige Tage vor Weihnachten gemeinsam mit Emmanuel Macron am Pariser Flughafen. Abgeschlossen ist die Leidensgeschichte der Jesidinnen durch den ersten Friedensnobelpreis für eine Vertreterin ihres Volkes noch lange nicht. Noch immer befänden sich 3000 Frauen in der Hand des IS, sagt Nadia Murad. Und noch immer wurden die meisten Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.
Die jesidische Friedensnobelpreisträgerin zieht die Welt in ihren Bann: Sie kämpft für die Rechte missbrauchter Frauen, angetrieben von ihrem eigenen Trauma.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nadia-murad-unbeugsam-1.4270552
Süddeutsche.de
00/12/2018
Am Ende eines langen Jahres, in dem aus Meghan Markle, einem vorwiegend in den USA berühmten Serienstar, eine der bekanntesten und beliebtesten Frauen der Welt wurde, wühlt eine neue, diesmal wirklich wichtige, alles entscheidende Frage die Briten auf: Werden es Zwillinge? Die Duchess of Sussex habe schon einen auffällig dicken Bauch, schreiben die britischen Boulevardmedien - dafür, dass sie offiziell erst im fünften Monat sei und das Baby "irgendwann im Frühjahr" kommen soll. Nichts ist der Öffentlichkeit bislang bekanntgegeben worden vom Palast - weder das Geschlecht noch der Geburtstermin noch, offenbar, die Zahl der zu erwartenden Nachkommen von Prinz Harry und seiner zauberhaften Gattin. Das Land, das zu Beginn dieser ungewöhnlichen Liebesaffäre noch sehr skeptisch war gegenüber einer geschiedenen US-amerikanischen Schauspielerin, ist mittlerweile kollektiv verliebt in die junge Frau, ach was, in das junge Paar. Wo immer Harry und Meghan auftauchen, geraten die Massen in Ekstase. Der Gedanke, dass es nun statt eines süßen, royalen Babys, auf das sich die Briten in Zeiten von Brexit-Wahnsinn, Parlamentschaos und nationalem Niedergang besonders freuen, vielleicht einen doppelten Grund zur Freude geben wird, ist ein Hoffnungsschimmer mit Blick auf 2019. Womöglich beginnt, politisch und ökonomisch gesehen, die schwierigste Phase in der britischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber immerhin: Das Königshaus wächst und gedeiht. Die Hochzeit im Mai des ausklingenden Jahres war das gesellschaftliche Ereignis - nicht nur in adeligen Kreisen und für die angereisten Stars der Serie Suits, in der Meghan Markle in ihrer Rolle als treue, reizende und findige Juristin hatte ersetzt werden müssen. Nein, das Land, die Welt fieberten mit. Millionen klebten an den Bildschirmen, als Meghan in einem Kleid von Givenchy (Patrioten vermerkten dankbar, dass immerhin die Chef-Designerin des französischen Modehauses Britin ist) vom künftigen Schwiegervater, Prinz Charles, in die St. Georgs-Kapelle geleitet wurde. Sogar die kritische Queen soll zufrieden sein mit der Neuen in der Familie Manche Fans, welche die royale Sause in Windsor nicht verpassen wollten, waren schon vorher angereist, um die besten Plätze auszukundschaften und den besten Blick zu haben, wenn das Paar mit der Kutsche durch den Ort rollt. Die Hotels waren schon im Herbst des Vorjahres bald ausgebucht in Windsor und Umgebung, nachdem die Verlobung von Harry und Meghan bekanntgegeben worden war. Völlig aus dem Häuschen war die Markle-Gemeide dann am Abend der Hochzeit, als das frisch verheiratete Paar zur Party fuhr - sie in einem aufregenden Neckholder-Kleid der britischen Designerin Stella McCartney, er den Blick beglückt auf einen hellblauen Jaguar E-Type mit Elektroantrieb gerichtet. So schön, so mondän. Und so glücklich! Und so ist es geblieben. Die Duchess von Sussex und ihr Gatte, der Duke of Sussex, sind seither unentwegt in der Öffentlichkeit zu sehen - auf Charity-Veranstaltungen, bei der Geburtstagsparty der Queen, bei Konzerten und in Kinderheimen, bei den Invictus Games, einem paralympischen Sportwettbewerb für kriegsversehrte Soldaten, auf einer ausgedehnten Pazifikreise. Immer heiter, immer händchenhaltend, immer sehr aufmerksam umeinander bemüht. Keine Skandale, keine Intrigen. Und weil das so erbaulich ist, schauen die Briten auch beglückt auf die "fabulous four", das Brüderpaar William und Harry mit ihren Frauen Kate und Meghan. Es gibt ganze Fotoromane der vier jungen Menschen, in denen sie sich als neue Generation der Royals präsentieren: hemdsärmelig, naturnah, gute Eltern, unkomplizierte Partner. Weil das nicht alles sein kann, sieht man die Brüder auch, sehr staatstragend, bei passender Gelegenheit in hervorragend gebügelten Uniformen paradieren. Denn das britische Königshaus und seine Jungstars sollen immer beides sein, das ist der Trick, das ist das Marketing: volksnah - und abgehoben. Die Neue aus Amerika, da ist man sich landesweit einig, hat sich gut eingefügt, ein Naturtalent quasi. Allerdings sei sie ja auch als TV-Star einiges an Aufmerksamkeit gewöhnt, heißt es. Selbst die sonst oft sehr kritische Queen sei zufrieden. Die britische, aber auch die internationale Yellow Press bemüht sich derweil fast schon panisch, Honig zu saugen aus dem skandalfrei-schönen Paar. Aber mehr als die - unbestätigten - Pläne, dass die beiden nach der Geburt des ersten Kindes in die USA reisen wollen und dass Vater Markle traurig darüber sein soll, dass sich das Töchterchen nie bei ihm meldet, ist bislang nicht herausgekommen. Die Herzogin bekommt lobende Schlagzeilen für ihre treffsicheren und geschmackvollen Entscheidungen in Sachen Mode. Er äußert sich zu gesellschaftspolitischen Fragen, will das Stigma von Aids beenden oder setzt sich für die bessere Behandlung von psychisch kranken Patienten ein. Harry lobt, in einem rührenden Interview zum 70. Geburtstag von Charles, das Verhältnis zum Papa. Und bittet diesen, doch weniger zu arbeiten und mehr für "die Enkel" da zu sein. Meint Harry damit die Kinder von Kate und William, denen nach George und Charlotte im Frühjahr noch Prinz Louis geboren wurde? Oder ist das ein Hinweis, dass es bei Meghan und ihm zwei werden könnten? Wer weiß. Im Palast können sie Geheimnisse ganz gut für sich behalten.
Wenigstens das Königshaus wächst und gedeiht: Der Zauber des Royal Couple überstrahlt in Großbritannien alle Sorgen um den Brexit.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/meghan-und-harry-zum-knutschen-1.4270556
Meghan und Harry - Zum Knutschen
00/12/2018
Sie war zwei Mal Olympiasiegerin, elf Mal Weltmeisterin: Doch die größte Herausforderung hat für die Radsportlerin, die sich im Training schwer verletzte, erst begonnen. Am dritten Advent hat Wimbledon-Siegerin Angelique Kerber in Baden-Baden einen Preis entgegengenommen. Sie war gerührt, dankte freundlich und erklärte dem Publikum, dass die Bühne bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres 2018 weniger ihr zustehe als Kristina Vogel, die unten im Rollstuhl im Publikum saß: "Sie hat so viel geleistet in diesem Jahr, hat so viel gekämpft und Mut und Willensstärke bewiesen." Was ist dagegen schon ein Wimbledonsieg, bei dem man gegen gelbe Filzbälle drischt? Kristina Vogel, 28, ist zweimalige Bahnrad-Olympiasiegerin, im März gewann sie im Sprint den elften Weltmeistertitel ihrer Karriere. Keine Radsportathletin im Velodrom hat jemals mehr erreicht. Doch die größte Herausforderung ihres Lebens hat gerade erst begonnen. Sie wird unter anderem darin bestehen, einen Spaghettitopf vom Herd zu nehmen, wie sie erzählte, mit dem Rollstuhl die Treppen hinab zu fahren und den Alltag so zu meistern, dass sie möglichst auf Hilfe verzichten kann. Ein halbes Jahr hat sie im Krankenhaus verbracht, seit sie am 26. Juni beim Training in Cottbus mit einem niederländischen Athleten kollidierte und in vollem Tempo auf die Betonbahn krachte. An den Unglückshergang, so sagte sie im September bei ihrer ersten Pressekonferenz im Unfallkrankenhaus in Berlin, könne sie sich nicht erinnern, aber sie ahnte die Schwere der Verletzung bereits, als sie auf der Bahn lag und nicht spürte, wie die herbeigeeilten Helfer ihr die Schuhe aufschnürten und von den Füßen streiften. Das Rückenmark ist am siebten Brustwirbel durchtrennt. Sie wurde mehrmals operiert und ist querschnittsgelähmt. Trotz ihrer Lähmung sagt die Athletin: "Ich bin immer noch ich. Nur anders." Und doch, erklärte sie nüchtern und gefasst, habe sie "verdammt Glück" gehabt, weil sie die Hände bewegen könne; ein Halswirbel war auch gebrochen, es hätte sie "viel schlimmer treffen können". Kein Mitleid ließ sie zu, keine Tränen und auch keine Frage nach dem Warum. Weil Grübeln sie nicht weiterbringt. "Ich bin da. Ich bin immer noch ich. Nur anders", sagte sie, und mit solchen Sätzen dürfte sie vielen, die Ähnliches durchleiden, Hoffnung, Zuversicht und vielleicht sogar eine Stimme gegeben haben. Zweite ist Kristina Vogel bei der Wahl in Baden-Baden geworden mit nur wenigen Stimmen hinter Kerber. Als sie zur Bühne rollte unter dem Beifall der Athleten, haben viele Kollegen, die Skispringer, Turner, Eishockeyspieler wohl auch einen Teil von sich selbst in ihr erkannt: Das Wissen, dass die Risiken des Hochleistungssport trotz aller Vorsicht nie restlos kalkulierbar sind. "Wenn mir mein Unfall etwas gezeigt hat, dann, dass man jeden Tag genießen soll", gab sie ihnen mit auf den Weg und erzählte, dass sie an ihrer Fitness gearbeitet habe. Denn um solch einen Gala-Abend zu überstehen, gehöre mehr, "als nur zu sitzen und im Rollstuhl zu fahren". Im Krankenhaus erstellte sie eine Liste mit Dingen, die sie irgendwann unbedingt ausprobieren will. Darunter: ein Tandem-Fallschirmsprung. Das ist es, was Angelique Kerber meinte: Man hofft, dass man in schwierigen Lagen Kristina Vogels Daseinsfreude haben würde.
Sie war zwei Mal Olympiasiegerin, elf Mal Weltmeisterin: Doch die größte Herausforderung hat für die Radsportlerin, die sich im Training schwer verletzte, erst begonnen.
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https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kristina-vogel-mit-lebensmut-und-ohne-traenen-1.4270562
Mit Lebensmut und ohne Tränen
00/12/2018
So schlecht sei dieses Jahr 2018 doch gar nicht gewesen, sagte der neue Audi-Chef Bram Schot vor wenigen Tagen: "Es ist kein einfacher Moment, aber es ist auch eine Chance." Für ihn persönlich trifft das natürlich zu: Schot, ein Fan des Fußballvereins Feyenoord in Rotterdam und ebendort gebürtig, ist einigermaßen unerwartet zum Vorstandsvorsitzenden aufgestiegen, offiziell mit Wirkung zum Jahreswechsel. Das ist ein Posten voller Prestige, denn BMW, Mercedes und eben Audi sind eigentlich strahlende Marken. Als Sponsor des FC Bayern München ist Audi auch Teil des bayerischen Mia-san-Mia-Habitus, wobei der Ingolstädter Autobauer doch deutlich weniger strahlte im Jahr 2018. Sein Tun im Dieselskandal hat Schatten auf die ganze Autobranche geworfen. Insofern ist es bemerkenswert, dass der oberste Audianer dieser Krise etwas Positives abgewinnen kann. Der bisherige Audi-Chef Rupert Stadler landete wegen seines Verhaltens im Dieselskandal für einige Monate in Untersuchungshaft. In Ingolstadt verpassten sie sogar das regelkonforme Autobauen, weswegen die Verkaufsräume nun gerade recht leer sind. Und deshalb wird nun bei Audi doch alles Bisherige infrage gestellt: die Seilschaften, die Technologien und vor allem dieses ins Arrogante neigende Selbstverständnis. Bram Schot, 57 Jahre alt, Wirtschaftswissenschaftler mit Hang zu Pathos und Risiko, aber auch zum effizienten Arbeiten, 15 Jahre lang bei Daimler im Vertrieb tätig gewesen, seit 2011 im Volkswagen-Konzern, 2017 zu Audi gerufen, ist der neue starke Mann bei Audi. "Ich bin jetzt der Transformations-CEO", sagt er selbst. Schot findet es tatsächlich gut, wenn alte Gewissheiten nicht mehr gelten. In solchen Momenten ist eine Katharsis möglich. Und welch ein Glück ist es für Audi, dass da einer zum Zug kommt, der diese Gelegenheit tatsächlich ergreifen will. Wäre es nach den Mehrheitseigentümern gegangen, vor allem den Familien Porsche und Piëch, hätte ein Altgedienter aus dem Reich der Konzernmutter Volkswagen die Geschicke von Audi übernommen. Vor allem die Arbeitnehmer konnten das abwenden in langem Ringen. Und auch die von Konzernchef Herbert Diess gewünschte "externe Lösung" mit einem BMW-Menschen kam nicht zustande. Deswegen Schot. Der erst als Notnagel einsprang im Sommer, übergangsweise, und jetzt von manchen immer noch als eine Kompromisslösung gesehen wird. Aber er könnte zu weit mehr werden. Bram Schot strebt einen Wandel der Unternehmenskultur an. Die Mitarbeiter hat er zum "Tagträumen" aufgefordert, womit er meint, sie sollten reflektieren über die eigene Arbeit. Er propagiert flache Hierarchien und Transparenz, gibt sich zugänglich selbst abends im Fitnessstudio, spricht die Leute gern mit "Du" an. Zehn Kilo hat er in den ersten Monaten als Chef abgenommen. Der Wandel ist herausfordernd, die gestalterischen Freiheiten im VW-Reich sind begrenzt. Aber so weit man ihn bislang erlebt hat, kann er beides ganz gut: das breitbeinige Selbstbewusstsein, um sich durchzusetzen, und das Zuhören bei allen, die ihm Relevantes zu sagen haben. Die holländische Spielweise eben.
Sein Vorgänger landete in Untersuchungshaft, die mächtigen Eigentümer wollten einen Altgedienten: Doch der Mann, der erst nur ein Notnagel war, ist nun Vorstandschef.
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https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bram-schot-der-mann-des-wandels-bei-audi-1.4270566
Der Mann des Wandels bei Audi
00/12/2018
Wie hemdsärmelig Raumfahrt in Russland betrieben wird, zeigte sich im Dezember bei der Rückkehr des deutschen Astronauten Alexander Gerst nach fast 200 Tagen im All. Vier Helfer des Bergungskommandos schleppten den von der Schwerelosigkeit noch geschwächten Gerst - er hatte keinen Helm mehr auf dem Kopf, trug aber noch den Raumanzug - über den Schnee von Kasachstan. Die Männer sahen aus, als würden sie im Hauptberuf einen Skilift betreiben. Einer trug eine Norwegermütze mit Elchen als Strickmuster. Das Unprätentiöse passt zu Alexander Gerst. Ohne Angeberei, ohne das machohafte Gehabe mancher seiner Vorgänger hat es der 1976 in Künzelsau geborene Gerst zum Superstar der Raumfahrt gebracht. Zweifellos stammt ein Teil seiner Bekannt- und Beliebtheit von seinen multimedialen Aktivitäten, von Bildern, Eindrücken und Ansichten, die @Astro_Alex über die einschlägigen sozialen Medien verbreitet. Aber Gerst ist eben auch Gerst, wenn er mit seiner angenehmen Stimme und dem spitzbübischen Lächeln erklärt, die Landung 2018 sei angenehmer gewesen als im Jahr 2014: Sein Landemodul sei diesmal nur mit 3,9 g, also bloß dem fast Vierfachen der Erdbeschleunigung, durchgerüttelt worden. In einer Videobotschaft entschuldigt er sich bei seinen ungeborenen Enkeln Sein Arbeitgeber, die europäische Raumfahrtagentur Esa, hatte ihn 2009 unter 8400 Bewerbern ausgewählt und ins Trainingsprogramm aufgenommen. 2014 flog er für ein halbes Jahr zur Raumstation ISS. Nachdem er dort monatelang als Junior-Crewmitglied unter anderem für die Instandhaltung der Toiletten zuständig gewesen war, durfte Gerst im Juni dieses Jahres erneut zur ISS starten und die Station von Oktober bis Dezember sogar als Kommandant befehligen. Dutzende wissenschaftliche Experimente waren an Bord der orbitalen Containeranlage zu erledigen. Doch zu den wichtigsten Aufgaben eines Raumfahrers gehört es heute, junge Menschen für Technik, für den Weltraum zu begeistern. Das geschieht meist über soziale Medien, oft dürfen auch Studenten und Schulklassen auf der Raumstation anrufen. In Gersts Fall kommt noch ein besonderes Engagement für den Erhalt des Planeten hinzu. Politische Grenzen seien aus dem All betrachtet bedeutungslos, das betont er gerne. Noch während seines Aufenthalts an Bord der ISS schickte er über Twitter eine Videobotschaft an "seine Enkelkinder". Beim Blick auf den "wunderschönen Planeten" müsse er sich wohl bei seinen noch ungeborenen Nachfahren entschuldigen, sagt Gerst, von kitschigen Pianoklängen begleitet. Im Moment sehe es so aus, als werde seine Generation den Planeten wohl "nicht im besten Zustand hinterlassen". Er spricht den Klimawandel, den Ressourcenverbrauch und die Vermüllung der Meere an. Aber er habe noch Hoffnung für die Zukunft. Manchmal muss ein Astronaut auch seine wahren Gefühle verbergen. Als im Oktober der Start weiterer Crew-Mitglieder mit einer Sojus-Rakete misslang, sagte Gerst, der Unfall mache die Sojus-Rakete nur noch sicherer. Aber wer weiß, vielleicht dachte er das wirklich.
Der Unprätenziöse: Ohne jede Angeberei hat es der deutsche Astronaut zum Superstar gebracht.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/alexander-gerst-astro-alex-und-die-wunderschoene-welt-1.4270558
@Astro_Alex und die wunderschöne Welt
00/12/2018
2018 war das Jahr der Börsengänge, die Kurse gingen im Jahr zuvor stetig bergauf. Doch jetzt mehren sich die Alarmzeichen, die Risiken steigen, und damit steigt auch die Nervosität. Börsengänge sind wie das Leben. Sie unterliegen starken Schwankungen, sie hängen sehr von psychologischen Faktoren ab, man weiß nicht, was kommt, man weiß nicht, wie es ausgeht. Ein Blick auf den Erfolg oder Misserfolg von Börsengängen in einem Jahr sagt deshalb auch immer etwas über die allgemeine Stimmung in einem Land aus.
2018 war das Jahr der Börsengänge, die Kurse gingen im Jahr zuvor stetig bergauf. Doch jetzt mehren sich die Alarmzeichen, die Risiken steigen, und damit steigt auch die Nervosität.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/geldanlage-party-feiern-am-abgrund-1.4248275
Party feiern am Abgrund
00/12/2018
Da lag es plötzlich vor der Tür, ein großes Paket mit einer neuen Playstation-4-Konsole. Anna Funk stellte erschrocken fest, dass auch ihre Kreditkarte schon mit 339 Euro belastet war. Das Problem: Sie hat das Spielgerät nie bestellt. In einer unbeobachteten Minute hatte ihr achtjähriger Sohn Amazons Sprachassistentin Alexa gebeten, die Playstation zu bestellen. Unter den verschämten Blicken ihrer Kinder schickte Funk das Gerät später wieder zurück, so geht die Erzählung. Solche Geschichten gibt es derzeit etliche, ob im Bekanntenkreis oder in Internetforen. Die häufigsten Schlagzeilen über Sprachassistenten wie Alexa sind im Moment noch solche über Fehleinkäufe und peinliche Missverständnisse. Amazon-Deutschland-Chef Ralf Kleber vergleicht diese Geräte denn auch mit einem zweijährigen Kind: Da lernt jemand, soll das heißen. Doch die Skurrilität ist trügerisch: Solche Technik könnte viel Einfluss auf die Menschen bekommen, gerade im Handel. Diese Geräte, die menschlich sein sollen, sind im Grunde genommen recht banale Lautsprecher und Mikrofone, die mit dem Internet verbunden sind und die Sprache der Kunden in Windeseile an die Großrechner der Hersteller übertragen. Führend sind dabei die US-Konzerne, die man schon kennt: Amazon mit Geräten, die Echo heißen und aus denen eben eine Alexa spricht. Bei Apple heißt das Gerät Homepod, wenn es nicht direkt das Apple-Telefon ist, und der Charakter Siri. Bei Microsoft kann der Mensch mit Cortana "sprechen". Und bei Google Home-Boxen heißt der Gesprächspartner schlicht Google. Egal, wie nun der Name lautet: Aus Sprache werden Befehle, die Computer verstehen, im besten Fall entwickeln sich daraus so etwas wie hilfreiche Dialoge, aber meist ist es ein ruckeliges Hin- und Her. Weil die Erkennung von Sprache schwierig ist, weil das Formen spontaner ganzer Sätze für Computer noch zu herausfordernd ist. Das Wetter lässt sich abrufen, das schon. Musik lässt sich abspielen. Der Wecker stellen. Das Licht in der Wohnung ein- und ausschalten per Sprachbefehl. Aber wer wirklich hinhört, merkt: Da steckt eine Maschine dahinter, und deswegen hakt es. Wie ein zweijähriges Kind, nur noch ungelenker. Doch die Technik schreitet voran. Die Dosen und ihre Software werden älter, reifer, lernen oft mittels künstlicher Intelligenz auch ohne Zutun von Ingenieuren. Das wird Auswirkungen vor allem auf den Handel haben, das Einkaufen. Berater sprechen von einer "gigantischen Verschiebung" der Macht im Handel. Selbst Markenhersteller sorgen sich um das Geschäft mit ihren Produkten. Dabei darf man sich nicht von der Gegenwart und den skurrilen Geschichten täuschen lassen: Nicht einmal jeder Zehnte, der heutzutage eine Sprachbox besitzt, hat damit einkauft, zeigen Studien; die wenigsten taten es ein zweites Mal. Aber dieser geringe Zuspruch stellt nur einen Zwischenstand dar. "Sprache alleine kann viele Einkaufsbedürfnisse nicht erfüllen", sagt Martin Wild, Leiter des Innovationsmanagements bei dem Technik-Händler des Mediamark-Saturn-Konzerns. Einkaufen per Alexa oder Siri sei heute noch viel zu umständlich. Und auch zu unübersichtlich: Jeder kennt das Vergleichen von Produkten und Preisen vor dem Regal oder auf Internet-Shops. Sprache kann diesen Überblick nicht bieten. Auch das ist ein Grund, wieso derzeit nur einige wenige Standard-Produkte per Sprachcomputer gekauft werden. In den USA etwa kann der Kunde sagen "Alexa, buy me my Starbucks" und seinen Lieblingskaffee ein paar Minuten später bei der nächsten Filiale abholen. An solchen sogenannten Voicebots tüfteln im Moment auch viele deutsche Händler von Media-Saturn über Edeka bis hin zu Rewe. Sie arbeiten dabei eng zusammen mit den Sprachcomputer-Herstellern aus den USA. Wer zum Beispiel sagt "Hey Google, frag Rewe nach einem Lasagne-Rezept", aktiviert damit Rewes digitale Assistentin Carolin. Die hilft einem dann schrittweise beim Kochen, ohne dass man mit schmierigen Händen in Kochbüchern blättern muss. Dabei gilt, dass im Prinzip Sprache immer dann spannend wird als Eingabemedium, wenn die Zeit oder Situation es nicht erlauben, einen Blick aufs Smartphone zu werfen, sei es unter der Dusche, im Auto oder der Küche. Dass man aber selbst über Alexa oder Siri auch einkaufen soll, ist das vielleicht größte Missverständnis in dem Hype um solche Geräte. Die Gerätehersteller arbeiten deshalb nicht in erster Linie daran, den Verbrauchern das Einkaufen per Sprache zu ermöglichen. Ihr Plan ist viel größer und Bots - also gewissermaßen Programme - spielen darin die Hauptrolle. Die Bots können bereits automatisiert, das heißt sozusagen "selbständig", Kaufentscheidungen treffen oder diese zumindest dem Nutzer zum Absegnen vorschlagen. Und das soll nur der Anfang sein. Amazon, Apple, Google und Microsoft tüfteln wie alle Hardwarehersteller daran, eine neue Ära des Internets zu schaffen: Im "Internet der Dinge", das in Deutschland manchmal auch Industrie 4.0 heißt, sollen alle Geräte selbst miteinander kommunizieren. "Es ist vorstellbar, dass assistierende Services in Zukunft einen Hinweis auf einen niedrigen Tankstand automatisch mit einer Empfehlung der günstigsten Tankstelle auf dem Weg zur Arbeit verbinden", sagt Google-Manager Christian Bärwand. Oder fehlende Lebensmittel im Kühlschrank würden direkt auf die digitale Einkaufsliste gesetzt, vielleicht samt einem Rezeptvorschlag. Damit der Drucker Papier, die elektrische Zahnbürste Drehköpfe und die Uhr Batterien nachbestellen, müssen sie mit entsprechender Technik ausgestattet sein. Es geht den Konzernen darum, ein Maximum an Geräten mit der entsprechenden Sensoren auszustatten - vom Kühlschrank bis zum Drucker. Oder wie Peter Gentsch, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Aalen, es ausdrückt: "Sie versuchen möglichst viele Abhängige zu schaffen." Sollte das gelingen, wird das ein anderes Einkaufen sein. Nicht mehr der Hundebesitzer kauft dann Futter, nicht mehr die Sekretärin bestellt neues Druckerpapier, sondern Geräte erledigen dies. Das kann für den Menschen durchaus ein Gewinn an Freiheit und Freizeit sein, das muss jeder für sich entscheiden. Für Händler und Hersteller hat es aber gravierende Folgen. Die Bots der Techfirmen schieben sich an die Schnittstelle zwischen Verbraucher und Händler beziehungsweise Hersteller. Wie gefährlich das sein kann, belegen Testkäufe in den USA. Dort suchen die Sprachassistenten bereits nicht mehr nicht zwangsläufig das beste und günstigste Produkt, sondern das, an dem der jeweilige Hersteller des Sprachassistenten am meisten mitverdient. Obwohl etwa die Echo-Box von Amazon dank gesammelter Daten sehr wohl weiß, welches das günstigste und meistverkaufte Produkt ist, verkaufte der Konzern, vermittelt von Alexas zuckersüßer Stimme, in dem Test lieber seine eigenen Produkte. Es wäre aus Sicht Amazons daher nur rational, mehr Eigenmarken zu schaffen. Die der Konzern dann fast automatisch verkaufen könnte, wenn einmal Geräte die Kaufentscheidungen treffen. Sprachassistenten lohnen sich für die Tech-Giganten aber selbst, wenn sie keine eigenen Produkte anbieten, es also kein Amazon-Klopapier oder keine Microsoft-Schokolade geben sollte. Händler und Hersteller werden ihren Obolus entrichten müssen, wenn sie noch zum Kunden vorgelassen werden wollen. Die Gnade wird aber nur finden, wer sich das leisten kann. Das wird im Zweifel kaum der kleine Krämer aus der Nachbarschaft sein. Denn niemand sagt: Alexa, kaufe mir das an dritter Stelle platzierte Klopapier vom Händler im Viertel. Achim Himmelreich, Digital-Experte der Beratungsfirma Capgemini, warnt deswegen vor einer "Oligopolisierung" im Handel: Sprachassistenten führten zwangsläufig dazu, dass große Unternehmen immer größer werden, kleine aber auf der Strecke blieben. Dabei könnte es sein, sagt Fachmann Himmelreich, dass fatalerweise die neue EU-Datenschutzverordnung die Giganten noch größer macht - obwohl die Europäische Union ja die Verbraucher stärken und schützen wollte. Woran das liegt? Kunden im Internet vertrauten eher den bekannten Konzernen - eben Amazon und Google - als unbekannten Anbietern und deren Technik und Bots. Daher würden sie auch eher Produkten vertrauen, die auf den Plattformen der großen Konzerne angeboten werden, sagt Himmelreich. Und zwar selbst, wenn es heute abwegig erscheint, Schokolade oder Klopapier vom Technik-Konzern zu erhalten.
Techfirmen von Google bis Amazon investieren Milliarden in Geräte wie Alexa, mit denen Kunden sogar einkaufen sollen. Das könnte gefährlich werden.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sprachassistenten-hoer-mir-zu-1.4269587
Hör! Mir! Zu!
00/12/2018
Es wäre aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ein Fehler, die sozialen Kosten der Politik des billigen Geldes zu ignorieren. Die Zentralbanker müssen aus ihren Fehlern lernen und transparent operieren. Ein Gastbeitrag. Als vor zehn Jahren die Immobilienblase in den USA platzte und Schockwellen durch die Weltwirtschaft sandte, wurden Zentralbanker zu Krisenmanagern. Mittels unkonventioneller Geldpolitik, insbesondere durch den massiven Ankauf von Finanzinstrumenten - auch "quantitative easing" genannt - retteten sie das Finanzsystem vor dem Kollaps. Auf den ersten Blick erscheint es anmaßend, sie dafür zu kritisieren. Ohne das entschiedene Einschreiten der Notenbanken wäre eine tiefere Rezession unvermeidbar gewesen. Das ist richtig - und doch ist ihr Krisenmanagement mit hohen, oft vernachlässigten Kosten verbunden. Erstens hat die unkonventionelle Geldpolitik der letzten Jahre vorhersehbare negative Effekte. Man stelle sich vor, der Arzt verschweige die Nebenwirkungen eines Medikamentes. Mit der Politik des billigen Geldes taten Zentralbanken genau dies. Ein Großteil der eingeschossenen Liquidität führte nicht zu Realinvestitionen und dem erhofften ökonomischen Stimulus, sondern zu Spekulationsblasen auf dem Immobilien- und Aktienmarkt und damit zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Zentralbanker weisen mit Recht darauf hin, dass ihr Mandat sie nicht verpflichtet, Verteilungseffekte einzubeziehen. Doch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht wäre es ein Fehler, diese sozialen Kosten der Geldpolitik zu ignorieren. Wir sollten entweder das Mandat der Zentralbanken erweitern und eine minimale Sensibilität für Verteilungsfragen integrieren oder eine stärkere Absprache zwischen Zentralbanken und anderen politischen Instanzen einfordern. Zentralbanken fürchten in einem solchen Fall Einbußen bei der Effektivität ihrer Geldpolitik. Natürlich erfordert eine stärkere Koordination von politischen Zielen Kompromisse, doch es ist nicht ersichtlich, inwiefern sich diese von Kompromissen innerhalb der Geldpolitik unterscheiden, zum Beispiel zwischen Preisstabilität und Finanzstabilität. Zudem muss betont werden, dass eine solche Koordination sich institutionell auf verschiedene Weise verankern lässt und nicht automatisch eine Abkehr vom Grundsatz der unabhängigen Zentralbank zur Folge hat. Ein zweiter Grund, die derzeitige Rolle der Zentralbanken zu überdenken, liegt in ihrem Verhältnis zu den Finanzmärkten. Theorie und Praxis der Geldpolitik sind seit Jahrzehnten auf die politische Unabhängigkeit fixiert. Für diese gibt es in der Tat triftige Gründe, wie die jüngsten Aussagen Donald Trumps zur Politik der Federal Reserve zeigen. Doch wird oft übersehen, dass Geldpolitik heute in einer alarmierenden Abhängigkeit von den Finanzmärkten operiert. Zentralbanker selbst tragen zumindest einen Teil der Verantwortung hierfür. Vor der Krise verfielen auch sie dem Irrglauben der effizienten, selbstregulierenden Märkte. Folglich förderten sie die Deregulierung der Märkte und den Einsatz eben jener Finanzinstrumente, die die Krise auslösten - zum Beispiel hypothekarisch gesicherte Wertpapiere. Gleichzeitig waren sie davon überzeugt, dass liquidere Märkte eine bessere Steuerung der Geldpolitik ermöglichen würden. Doch genau damit legten sie die Geldpolitik an die Leine der Märkte. Diese preisten die Abhängigkeit der Notenbanken in ihre Entscheidungen ein, was sie dazu verleitet hat, übermäßige Risiken einzugehen. Nun könnte man meinen, dass die Zentralbanken geläutert aus der Krise hervorgingen. Doch die Währungshüter kriegen die Geister, die sie beschworen haben, nicht mehr los. Nehmen wir das Beispiel der "long-term refinancing operations" (LTROs) der EZB: 2012 stellte die EZB den Märkten zum ersten Mal Drei-Jahres-Kredite zu einem Prozent Zinsen zur Verfügung mit dem Ziel, die Konjunktur anzukurbeln. Die Banken langten kräftig zu, doch anstatt das Geld in Darlehen für Realinvestitionen zu schleusen, kauften sie risikoarme Anlagen und strichen die Differenz als Gewinn ein. 2014 gab EZB-Präsident Mario Draghi zu, dass die Operation ihr Ziel verfehlt hatte. Die EZB nahm einen neuen Anlauf. Für die veränderten LTROs galt die Bedingung, dass Banken die Kredite zurückzahlen müssen, wenn nicht ein bestimmter Anteil in Realinvestitionen fließt. Doch unter diesen Bedingungen spielten die Banken nicht mit. 2016 zog die EZB die Bedingungen zurück und beugte sich damit dem Diktat der Märkte. Die Experten müssen ihre Aussagen regelmäßig hinterfragen Wie zuversichtlich können wir sein, dass ihre Expertise es den Zentralbankern ermöglichen wird, sich den bereits diskutierten und anderen zukünftigen Herausforderungen zu stellen? Hier liegt der dritte Grund zur Skepsis. Jeder Experte macht Fehler. Doch wir erwarten von Notenbankern wie von allen Experten, dass sie aus ihren Fehlern lernen. Damit diese Korrektur optimal gewährleistet ist, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Die Expertengemeinschaft muss transparent operieren, sie muss ihre Aussagen und Handlungen regelmäßig und aus verschiedenen Perspektiven hinterfragen, und sie muss auf relevante Kritik mit Kursänderungen reagieren. Die Zentralbanken erfüllen diese Bedingungen seit der Krise nur bedingt. Zum Beispiel gibt es eine offene Diskussion der wirtschaftlichen Lage, die Unsicherheit auf den Finanzmärkten zur Folge haben könnte, von Seiten der Zentralbanken nur selten. In der Forschung zur Geldpolitik haben Zentralbanken inzwischen eine so dominante Position, dass in den wissenschaftlichen Top-Zeitschriften die Hälfte der Artikel mindestens einen Zentralbanker als Autor hat. Kann man da, angesichts der strikten Kommunikationspolitik ihrer Arbeitgeber, unvoreingenommene Kritik erwarten? Auch was die Vielfalt der Perspektiven angeht, gibt es Verbesserungspotenzial: Die meisten Notenbanker sind nach wie vor weiße Männer mit einer Ausbildung in neoklassischer Ökonomie und Berufserfahrung im Finanzsektor. Die Einstellung der Zentralbanken zu Kritik ist ebenfalls defizient. Interessenskonflikte, wie zum Beispiel das natürliche Interesse der Zentralbanken, ihre Unabhängigkeit zu schützen, stehen einer neutralen Diskussion im Wege. Reformvorschläge, wie den Herausforderungen der Geldpolitik heute besser zu begegnen wäre, gibt es zahlreiche. Ein offener Dialog zwischen Zentralbanken, Politik und Wissenschaft ist Voraussetzung dafür, dass wir für die nächste Krise besser gerüstet sind.
Es wäre aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ein Fehler, die sozialen Kosten der Politik des billigen Geldes zu ignorieren. Die Zentralbanker müssen aus ihren Fehlern lernen und transparent operieren. Ein Gastbeitrag.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/forum-besser-geruestet-1.4269583
Besser gerüstet
00/12/2018
Trauen sich im neuen Börsenjahr die Schnäppchenjäger wieder aus der Deckung oder behalten die Pessimisten die Oberhand? Gerade die erste Handelswoche 2019 könnte für Spannung sorgen. Denn sollten die Kurse zum Jahresbeginn weiter fallen, könnten sich Anleger an das Jahr 2016 erinnern. Seinerzeit war der Dax in den ersten Handelswochen unter Druck geraten. "Damals waren Risikobudgets, die eigentlich ein ganzes Jahr halten sollten, nach wenigen Tagen aufgebraucht", sagte Stefan Kreuzkamp vom Vermögensverwalter DWS. Die Folge: wochenlange "Zwangsverkäufe", bis der Markt schließlich einen Boden gefunden habe. Mit Hoffnung schaut dagegen Nikolaos Panigirtzoglou von JPMorgan auf den Jahresauftakt 2019. Nach den jüngsten herben Verlusten habe sich das Tor für Schnäppchenjäger weit geöffnet.
Die erste Handelswoche scheint entscheidend für die weitere Entwicklung des Börsenjahres 2019 zu sein.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/dax-schnaeppchenjagd-oder-zwangsverkaeufe-1.4269597
Schnäppchenjagd oder Zwangsverkäufe?
00/12/2018
Alte Postkutschen und moderne Elektroautos haben etwas gemeinsam: Beide müssen regelmäßig aufladen - oder austauschen. Was man daraus lernen könnte. Als sich Goethe am 3. September 1786 um drei Uhr morgens in Karlsbad in eine Postkutsche setzte und Richtung Süden aufmachte, hatte er niemanden informiert. "Ich warf mich ganz allein, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise." Die große, fast zweijährige Italien-Reise als Aufbruch und Befreiungsschlag - lange vor ICE und Pendolino, Lufthansa und Alitalia. Die Reise über den Brenner, den Gardasee und Rom bis nach Sizilien wäre ohne eine der ältesten Formen der Mobilität wohl kaum möglich gewesen: die Postkutsche. Noch heute finden sich in vielen Dörfern entlang des Post-Weges Richtung Süden jene historischen Gasthäuser mit Pension und alten Gebäuden für die Pferde, die ja nicht zufällig meistens "Gasthof zur Post" heißen. Solche alten Traditionshäuser lassen sich an vielen Orten besichtigen - zum Beispiel im oberbayerischen Kochel am See. Die Wagen, mit denen Post und Menschen transportiert wurden, brachten es anfangs noch auf zwei Kilometer pro Stunde. Später dann, Mitte des 19. Jahrhunderts, sollen es schon an die zehn Stundenkilometer gewesen sein. Eine Kutsche konnte in diesen Zeiten also auch schon mal an die 100 Kilometer am Tag hinter sich legen, in etwa so viel wie ein Auto heute in der Stunde. Vorausgesetzt, die Pferde spielten mit. Damit das alles funktionierte, mussten die Kutscher einen strikten Plan mit regelmäßigen Stopps einhalten. Als Johann Wolfgang von Goethe, der ja auch deshalb reiste, um unterwegs zu sein und nicht unbedingt, um anzukommen, in den Süden aufbrach, musste er immer wieder längere Wartezeiten und Unterbrechungen einplanen. In den Post- und Relaisstationen von einst wurde geruht, gegessen, oder es wurden Pferde und Kutscher ausgewechselt. Die alte Kutsche fuhr weiter, die Pferde aber waren frisch. Detailansicht öffnen Erschöpft im Sand: Auch früher mussten bei langen Fahrten Pausen eingelegt werden - damit sich die Pferde erholen konnten. (Foto: Frank Sorge/imago) Ein paar Hundert Jahre nachdem Postkutschen Europas Städte und Dörfer miteinander verbanden, könnte das Thema mit den ausgeruhten Pferden wieder interessant werden. Denn es gibt da eine Sache, die die Pferdekutschen von damals mit den Elektroautos von morgen gemeinsam haben: Beide müssen regelmäßig aufladen - oder austauschen. Die einen die Pferde, die anderen die großen Batterien. Solange Autos mit Verbrennungsmotor fahren, halten die Reisenden an Tankstellen. Tanken in ein paar Minuten auf, trinken vielleicht einen Kaffee, fahren weiter. Die Sache wird sich aber stark verändern, wenn immer mehr Menschen elektrisch fahren. Noch schreckt das lange Aufladen der E-Auto-Batterien mit begrenzter Reichweite viele Kunden ab. So eine Batterie aufzuladen dauert zwar nicht so lange, wie ein müdes Pferd wieder aufzubauen - aber es kann schon, je nach Aufladetechnik, eine halbe Stunde und mehr dauern. Eine Lösung: Batteriewechselstationen. Alte Batterie mit zwei Handgriffen ausbauen und an der Station lassen, neue Batterie rein - in ein paar Minuten ist das machbar. Die Idee des Batteriewechsels bei einem Elektromobil ist nicht neu. Einer der Ersten, der das Konzept der Wechselbatterie zu einem Geschäftsmodell machen wollte, war der israelische Unternehmer und Ex-SAP-Manager Shai Agassi. Er scheiterte vor einigen Jahren mit seinem Unternehmen "Better Place", das mit Infrastrukturen für den Batteriewechsel warb, weil die meisten Autohersteller sein Konzept rigoros ablehnten. Ihr Argument: Wenn es so ist, dass die Batterie nicht nur zu den Herzstücken der neuen Elektromobilität gehört, sondern möglicherweise auch das teuerste Teil eines solchen E-Autos ist, dann wollte man zumindest jenen Teil des Fahrzeugs selbst kontrollieren und nicht zu einem austauschbaren, standardisierten Gut machen und mit anderen teilen. Und: Angeblich wollten das die Kunden auch nicht. Mein Auto, meine Batterie. Detailansicht öffnen Die Serie "Unterwegs in die Zukunft. Leben ohne eigenes Auto" ist im SZ-Wirtschaftsteil zwischen 15. Dezember 2018 und 2. Februar 2019 erschienen. Rund zehn Jahre nach Agassis Pilotprojekten sind die Batteriewechsel wieder in der Diskussion. Warum, zum Beispiel, ließe sich nicht an jeder Autobahntankstelle auch eine Werkstatt für den Batteriewechsel einrichten? Reinfahren, Batterie wechseln, mit aufgeladener Batterie weiterfahren - Fahrern, deren Elektroautos eine Reichweite von 300 Kilometern haben, könnte dies die sogenannte "Reichweiten-Phobie" nehmen, also jene diffuse Angst, irgendwo zwischen Fulda und Kassel auf dem Seitenstreifen zu stranden, weil weit und breit nur herkömmliche Tankstellen für Benziner und Diesel-Autos stehen. Und offenbar sehen das längst nicht mehr alle Hersteller kritisch - vor allem in Asien liegen konkrete Pläne für den Wechsel der genormten Batterien in den Schubladen. Im vergangenen Frühjahr berichteten japanische Medien, dass der Hersteller Toyota, schon seit Jahren Vorreiter beim Bau von Hybrid-Fahrzeugen, offenbar Modelle mit Wechselakkus plant. Dabei soll es demnach erst einmal um kleinere Stadtautos gehen, die eher kleinere Batterien brauchen. Wenn jetzt einer der größten Autobauer der Welt das Thema angeht, dann dürfte es nicht ganz so abwegig sein. Knapp drei Minuten dauert der automatisierte Batteriewechsel Der taiwanische Motorrollerhersteller Kymco will in den nächsten Jahren nicht nur neue Elektro-Scooter auf den Markt bringen, sondern gleich auch die dazugehörige Ladeinfrastruktur mit Tausenden Wechselstationen für die Akkus. Was bei kleineren Motorrollern klappt, könnte später auch ein Modell für Autos werden. Der chinesische Elektroauto-Hersteller NIO plant bereits in großem Stil: So sollen zentrale Verkehrsachsen des Landes mit eigenen Batteriewechselstationen ausgerüstet werden. Mitte November informierte das Start-up über die Einweihung seines ersten Wechsel-Netzwerks - und versprach Elektroauto-Besitzern zwölf kostenlose Batteriewechsel im Jahr. Man wolle den Kunden ein "sorgenfreies Fahrerlebnis auf Chinas Autobahnen" ermöglichen, so NIO-Präsident und -Mitgründer Lihong Qin. Dauer des automatisch durchgeführten Tauschs: an die drei Minuten. Gut möglich also, dass die Idee von Batteriewechselstationen in den nächsten Jahren eine Renaissance erlebt. Was dafür spricht: Die seit dreieinhalb Jahren anhaltende Diesel-Krise zwingt die Hersteller in neue Geschäftsmodelle, und nicht zufällig haben Autobauer wie Volkswagen große Pläne für ihre Elektroautoflotte und planen für die nächsten Jahre Milliardeninvestitionen. Die Zahl der Elektroautos auf den Straßen wird zunehmen, und damit wird die Frage immer wichtiger: Wo nur sollen all diese neuen Autos aufgeladen werden? Mit Interesse dürften sich die großen Autohersteller daher demnächst anschauen, ob und wie Projekte wie das von NIO in China funktionieren. Anhalten, austauschen, frisch weiterfahren. Wie damals bei den Postkutschen und den Pferden.
Alte Postkutschen und moderne Elektroautos haben etwas gemeinsam: Beide müssen regelmäßig aufladen - oder austauschen. Was man daraus lernen könnte.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/mobilitaets-serie-muede-pferde-leere-akkus-1.4269814
Mobilitäts-Serie - Müde Pferde, leere Akkus
00/12/2018
Für Investoren von Bitcoin geht ein schwieriges Jahr zu Ende. Während die Kryptowährung 2017 noch teils vierstellige prozentuale Zuwachsraten verzeichnet hatte, brachen die Preise für die von Hochleistungscomputern generierte Cyberdevise 2018 deutlich ein. Mit 3600 Dollar kostete ein Bitcoin am vergangenen Freitag nur noch so viel wie im September 2017 und verliert damit seit Anfang dieses Jahres mehr als 70 Prozent an Wert. Analyst Timo Emden von Emden Research sagte, der Branche habe vor allem zugesetzt, dass keine globale Regulierung auf die Beine gestellt worden sei. Außerdem hätten Hackerangriffe und technische Spaltungen von Bitcoin und anderer Kryptowährungen Investoren verunsichert. Viele Experten rechnen damit, dass auch 2019 kein einfaches Jahr für Cyberdevisen wird.
Bitcoin-Anleger brauchen derzeit wirklich gute Nerven. Für den Kurs der Kryptowährung gibt es in diesem Jahr nur eine Richtung.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kryptowaehrung-schwere-zeiten-1.4269599
Schwere Zeiten
00/12/2018
Das neue Verpackungsgesetz geht nicht weit genug. Es hätte Hersteller und Supermärkte mehr in die Pflicht nehmen müssen. Vor allem aber hätte es endlich verhindern können, dass die Bürger weiterhin per Hand vorsortieren. Das ist ineffizient. Deutschland und der Plastikmüll, das ist eine Geschichte, die viel mit Selbstbetrug zu tun hat. Es ist ja nicht so, dass das Problem nicht erkannt wäre: Schon vor knapp drei Jahrzehnten verabschiedete die Bundesregierung die erste Verpackungsverordnung und führte den gelben Sack ein, das Symbol schlechthin für den Kampf gegen Plastikmüll und für mehr Recycling von Kunststoff, Leichtmetall und Getränkeverpackungen. Doch der Erfolg blieb aus. Der Müllberg schrumpft nicht, er wächst und wächst. Was steigen müsste, die Mehrwegquote etwa, sinkt. Viele Menschen in Deutschland sammeln und sortieren zwar fleißig, aber ihr Eifer hat wenig Sinn. Die Quoten sind niedriger, als ihnen Industrie und Politik weismachen. Der ökonomische Nutzen des kollektiven Sammelns ist gering. Bewegt wird vor allem eine riesige industrielle Maschinerie, die kaum etwas zur Lösung des eigentlichen globalen ökologischen Problems beiträgt: zur Vermeidung von Müll. Auch das von Januar an geltende Verpackungsgesetz wird keine schnelle Trendumkehr herbeiführen. Viele Ansätze gehen in die richtige Richtung: Müll soll erst gar nicht entstehen. Aber das Gesetz ist zu harmlos. Es hätte die Verursacher des Mülls viel stärker in die Verantwortung nehmen müssen. Das Gesetz verpflichtet Hersteller nicht dazu, festgelegte Mengen wiederverwertbaren Kunststoffs zu verwenden. Es hätte auch Supermärkte dazu anleiten können, den Verpackungsmüll wieder zurückzunehmen. Einer der größten Fehler ist, es den Bürgern weiterhin zu überlassen, den Müll per Hand vorzusortieren. Damit sind die allermeisten überfordert. Das ist ihnen nicht anzulasten. Das Sortieren ist schlicht zu kompliziert. Viele werfen in den gelben Sack, was dort gar nicht hineingehört. Und sie orientieren sich fälschlicherweise noch am Grünen Punkt, einem Relikt aus den Anfangszeiten des gelben Systems. Der Grüne Punkt ist aber kein staatliches Gütesiegel, sondern das Markenlogo des Privatunternehmens Duales System Deutschland. So gehen viele recycelbare Wertstoffe, die ein anderes Zeichen tragen, verloren. Eine sinnvolle Kampagne müsste den Grünen Punkt entmystifizieren. Viele Kunststoffe lassen sich zudem gar nicht trennen. Manche sind nicht wieder verwertbar, weil sie verunreinigt sind, Weichmacher oder Schwermetalle beinhalten. Oder weil sie farbig oder dunkel sind. Der kollektive Selbstbetrug muss endlich aufhören Das Sortieren von Hand ist hochgradig ineffizient. Daran wird auch das Gesetz vorerst nichts ändern. Es sieht zwar eine Informationskampagne über das richtige Sortieren vor, die soll aber frühestens 2020 starten. Wenn man schon dem alten System verhaftet bleibt, wäre es sinnvoller gewesen, die Kampagne an die Einführung des Gesetzes zu koppeln, um den Menschen klar zu machen, wie wichtig es ist, dass sie richtig sortieren. Noch besser wäre es gewesen, Maschinen zu überlassen, den Müll zu trennen. In Zeiten der Digitalisierung wäre das nur konsequent gewesen. Das hätte jedoch ein grundsätzliches Umdenken erfordert. Es hätte die Verantwortung von den Bürgern auf die Industrie verlagert. Hersteller und Händler hätten ihre Produktion umstellen und langlebige, reparierbare und recycelbare Artikel herstellen müssen. Die Regierung hätte sie auch dazu verpflichten können, Verpackungen schadstofffrei herzustellen und wieder zurückzunehmen. Das Gesetz hätte einen Markt für Rezyklat, für wiederverwertbare Wertstoffe, schaffen müssen. Einen Markt, der über das Prinzip von Angebot und Nachfrage eine Kreislaufwirtschaft in Gang setzt. Dann wäre ein wirtschaftlicher Anreiz entstanden, Müll zu vermeiden. Das wäre der Anfang vom Ende des kollektiven Selbstbetrugs gewesen.
Das neue Verpackungsgesetz geht nicht weit genug. Es hätte Hersteller und Supermärkte mehr in die Pflicht nehmen müssen. Vor allem aber hätte es endlich verhindern können, dass die Bürger weiterhin per Hand vorsortieren. Das ist ineffizient.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verpackungsgesetz-ueberlasst-die-muelltrennung-den-maschinen-1.4269579
Verpackungsgesetz - Überlasst die Mülltrennung den Maschinen!
00/12/2018
Die Bankkundin sitzt am Küchentisch, irgendwo in Bayern. Den Laptop hat sie aufgeklappt, vom Bildschirm lächelt sie der Finanzberater an. Die "Rentenlücke" seiner Kundin hat er längst erkannt. Wenn sie nicht monatlich mehrere Hundert Euro zurücklege und gewinnbringend investiere, dann werde das nichts im Alter. Er rät zu einem aktiv gemanagten Investmentfonds mit zusätzlichem Versicherungsschutz. "Und was kostet das Ganze?", will die Kundin wissen. Er windet sich. "In den ersten Jahren geht schon einiges für die Provision drauf." Er habe ja auch eine Familie zu ernähren. Als sie nicht locker lässt, lächelt er gequält und sagt: "Sie wollen es aber genau wissen!" Eine konkrete Zahl nennt er nicht. Kein Banker ist wie der andere, zu langjährigen Beratern haben viele Menschen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und gute Erfahrungen gemacht. Klar ist aber: Wer für die Beratung selbst kein Honorar erhält, verdient an den Produkten mit - und ist damit vor allem eins: Verkäufer. Hinter den Floskeln, die Banker häufig verwenden, steckt meist eine klare Intention. Sagt ein Berater beispielsweise: "Da können Sie mir vertrauen", dann knüpft er gezielt an das oft langjährige Geschäftsverhältnis mit dem Kunden an. "In den meisten Gesprächen verlassen Berater die Sachebene und versuchen, die Beziehungsebene reinzubringen", sagt die Finanzpsychologin Birgit Bruckner. Man spricht erst mal über den Lieblingsfußballverein oder das miserable Wetter, um Gemeinsamkeiten aufzubauen. Im ersten Beratungsgespräch geht es oft noch gar nicht um einen Vertragsabschluss. Die Strategie: Wenn der Kunde mir vertraut, glaubt er auch an das Produkt. "Wenn Menschen akkurat gekleidet sind, Brille, strenge Frisur, und wir das mit konservativ, sicher und seriös verbinden, dann übertragen wir das auf das Produkt, das wir nicht kennen", sagt Bruckner. Deshalb bedient sich die Werbung gern beliebter Testimonials. Im Umkehrschluss bedeute das aber: Wenn der Kunde das Produkt ablehnt, lehnt er auch den Berater als Mensch ein Stück weit ab. Das trauen sich manche Kunden aber aus Höflichkeit nicht. Ebenfalls auf die persönliche Ebene zielt der Satz: "Das Produkt habe ich selbst im Depot". Das könnte sogar stimmen, meint Bruckner, warnt aber dennoch davor, daraus Schlüsse für die eigene Geldanlage zu ziehen. "Ich weiß nicht, welche anderen Papiere er im Depot hat, mit welchem Mix, wie viel er verdient und so weiter", sagt sie. Auch kein Indiz für eine sichere Anlage ist es, wenn Berater sagen, sie würden das Produkt "auch meiner Mutter verkaufen" oder es sei "bei unseren Kunden sehr beliebt." Psychologen sprechen dabei von sozialer Bewährtheit: Wenn das alle machen, denkt der Kunde, kann es ja nicht schlecht sein. "Aber es gibt kein Produkt, das für alle passend ist und kaum eines, das für niemanden geeignet ist", sagt Bruckner.
Was die beliebtesten Floskeln sind, was wirklich dahintersteckt - und was die Berater damit verschweigen wollen. Eine Betrachtung.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bankberater-sprueche-1.4269595
Das steckt hinter den typischen Bankberater-Sprüchen
00/12/2018
Wer seine Ferien geschickt plant, kann sich viel länger erholen. Denn fast alle Feiertage liegen 2019 innerhalb der Woche und bieten Arbeitnehmern die perfekte Gelegenheit, ihren Urlaub zu verlängern. Besonders in der Weihnachtszeit. Gut für Arbeitnehmer: Fast alle Feiertage liegen 2019 in der Woche und bieten die perfekte Gelegenheit, ihren Urlaub durch den Einsatz von Brückentagen merklich zu verlängern. Ostern und erster Mai: Karfreitag fällt auf den 19. April, Ostermontag ist der 22. April. Wer sich vier Tage vor Karfreitag sowie vier Tage nach Ostermontag frei nimmt, verdoppelt so seine freien Tage. Besonders clever ist es, nach dem Osterwochenende und dem 1. Mai einige Tage Urlaub einzulegen. Aus sechs Urlaubstagen können so 13 freie Tage werden. Wer nach dem Maifeiertag die Woche auffüllt, holt 17 freie Tage raus. Es lohnt sich auch, die Wochen vor und nach Ostern auszunutzen und gleichzeitig nach dem 1. Mai frei zu nehmen. So bringen 12 Tage sogar 23 freie Tage am Stück. Da der 1. Mai auf einen Mittwoch fällt, bringen zwei Urlaubstage ein langes Wochenende. Christi Himmelfahrt und Pfingsten: Christi Himmelfahrt wird am Donnerstag, den 30. Mai, gefeiert. Dies schafft die Möglichkeit für ein langes Wochenende oder eine ganze freie Woche. Wer die Wochen bis zum Pfingstwochenende auffüllt, kann aus neun Urlaubstagen 17 freie Tage machen - der Pfingstmontag liegt auf dem 10. Juni. Wer sich ab Himmelfahrt frei nimmt und die Wochen vor und nach Pfingsten mit zehn Tagen auffüllt, kann 18 Tage Urlaub machen. Fronleichnam: Wer in der richtigen Gegend wohnt, kann auch an Fronleichnam ausspannen. Der Feiertag fällt auf Donnerstag, den 20. Juni, und bietet somit weitere Chancen für Brückentage. Ein gesetzlicher Feiertag ist er in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Hessen, dem Saarland und Teilen von Sachsen und Thüringen. Tag der Deutschen Einheit: Die nächste bundesweite Möglichkeit für urlaubssparende Konstruktion bietet der Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober, ein Donnerstag. Ein freier Freitag bietet gute Chancen - mit vier Urlaubstagen lässt sich ein neuntägiger Urlaub machen. Reformation und Allerheiligen: Der Reformationstag am 31. Oktober - begangen in Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen - fällt auf einen Donnerstag und lässt sich somit gut zu einem langen Wochenende ausdehnen. Den 1. November müssen sich Arbeitnehmer in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland nicht freinehmen. Dort ist Allerheiligen ein gesetzlicher Feiertag. Weihnachten und Silvester: Die Weihnachtsfeiertage liegen 2019 besonders arbeitnehmerfreundlich: Sie fallen auf Mittwoch und Donnerstag. Mit nur drei Urlaubstagen lassen sich neun freie Tage herausschlagen. Alle Arbeitnehmer, die noch weitere zwei Urlaubstage investieren, können bis einschließlich Neujahr 2020 sogar zwölf Tage frei machen.
Denn fast alle Feiertage liegen 2019 innerhalb der Woche und bieten Arbeitnehmern die perfekte Gelegenheit, ihren Urlaub zu verlängern. Besonders in der Weihnachtszeit.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/urlaub-2019-brueckentage-nutzen-1.4270008
Urlaub 2019 - Brückentage nutzen
00/12/2018
"Ein unvergänglicher Sommer": Der Roman der chilenisch-amerikanischen Schriftstellerin Isabel Allende ist schon kurz nach seinem Erscheinen Mitte August in den Bestsellerlisten vertreten. Dem Hamburger Start-up Qualifiction dient der Titel zwei Monate später bei der Frankfurter Buchmesse als Beweis dafür, dass die Software des Unternehmens mit dem Namen Lisa zuverlässig funktioniert. Der Algorithmus der Gründer Gesa Schöning und Ralf Winkler analysiert, ob belletristische Texte das Zeug zum Bestseller haben. Verlage sollen damit prüfen können, ob sie einen potenziellen Gewinnbringer in der Schublade haben, und Autoren, ob in ihnen ein neuer Dan Brown schlummert. Die Software auf dem Bildschirm des Messestandes von Qualifiction taxiert Allendes politischen Roman um ein Flüchtlingsschicksal in New York mit einem Bestseller-Score von 81 Punkten ein - möglich sind 100. "Dieses Werk besitzt ein sehr hohes Potenzial, ein Bestseller zu werden", urteilt die Software. Die künstliche Intelligenz, die hinter dem Algorithmus steckt, hat damit die Bestnote vergeben. Nach den Erfahrungen von Gründerin Schöning kommt dies nicht häufig vor. "Meist liegt die Quote bei null bis 15 Prozent, sagt sie. "Das muss kein schlechter Text sein, er wird aber wohl wirtschaftlich nicht erfolgreich". Doch warum will die 32-Jährige dem Geheimnis von Bestsellern per Algorithmus auf die Spur kommen? Einem Phantom, dem Autoren, Literaturwissenschaftler und Literaturagenten seit Jahrhunderten hinterherjagen? Könnte jemand dieses Geheimnis enthüllen, käme dies einer Lizenz zum Gelddrucken gleich - oder? "Wenn alle Bücher Besteller wären, wär' kein Buch ein Bestseller", sagt die Berliner Autorin Anna Basener, 35, die einen Leitfaden für Heftromanautoren verfasst, aber auch selbst bereits Heftromane, Bücher und Drehbücher veröffentlicht hat. Im Januar kommt ihr Buch "Schund und Sühne" in die Buchhandlungen, in dem es wohl nicht ganz zufällig um eine Groschenroman-Autorin geht, die eigentlich aufhören will. Von Algorithmen in der Buchbranche hält sie nicht viel: "Ich befürchte, das Angebot in Buchhandlungen wäre dann sehr eintönig, und mir graut als Leserin vor lauter Büchern, die einem Kommerz-Algorithmus folgen", sagt Basener. "Zum Glück haben Verlage aber ja auch eine inhaltliche Ausrichtung jenseits vom Bestseller-Hunger." Es geht um eine Empfehlung. Lektoren werden dadurch nicht überflüssig Schöning geht es aber gar nicht darum, nur noch Einheits-Bestseller vom Fließband zu produzieren. "Auch wir wollen mehr Buntheit auf dem Markt sehen", sagt sie. "Es soll letztlich eine Empfehlung sein, der Lektor wird nicht ersetzt." Wer vermutet, dass hinter Qualifiction ein paar gewiefte Betriebswirtschaftler stecken, die darauf aus sind, Gewinne in der Literaturbranche zu maximieren, der liegt falsch. Gründerin Schöning ist Kulturwissenschaftlerin und stammt aus einer Lübecker Buchhändlerfamilie. "Ich hatte immer den Wunsch, in die Buchbranche zu gehen", sagt sie. Im Studium beschäftigte sie sich mit Bestsellerforschung und setzte sich in der Konsumgüterindustrie mit dem Käuferverhalten auseinander. Sie erkannte auch entsprechende Muster in anderen Branchen. "Ich war davon überzeugt, dass es auch Muster in Bestsellern geben müsste, die man mit den neuesten Fortschritten aus der KI offenlegen könnte." Als Jodie Archers Buch "The Bestseller Code" 2016 ihre Vermutung stützte, schrieb sie nicht noch ein Buch über dieses Thema, sondern entschied sich, daraus doch gleich ein Geschäftsmodell zu machen. Auf einer Gründerplattform fand sie ihren Mitstreiter Ralf Winkler, der 40-jährige promovierte Mathematiker kannte sich mit Verkaufsvorhersagen auf KI-Basis aus und war beim Internethändler Zalando beschäftigt. Qualifiction will zunächst vor allem Verlagen anbieten, unter den zahllosen eingereichten Manuskripten eine Vorauswahl zu treffen. Hier kommt die Software Lisa ins Spiel, welche die Texte analysiert. "Wir versuchen offenzulegen, aus welchen Bausteinen sich die Texte zusammensetzen". Dazu zählen beispielsweise Themen, Stil, Spannung, Stimmung, Handlungsfortschritt und Charaktere, die den jeweiligen Roman ausmachen. Oder der Anteil der direkten Rede. Analysiert werden aber auch Satzlängen und das verwendete Vokabular. Das Start-up hat den Algorithmus vorab mit Tausenden Texten gefüttert, um eine Datenbasis zu schaffen, die ständig erweitert und aktualisiert wird. Schließlich ist auch Literatur Trends und Moden unterworfen - der Heimatkrimi zum Beispiel war irgendwann mal durch. Die Textanalyse dauert 30 bis 60 Sekunden. "Wir können Bestseller mit einer Trefferquote von 77 Prozent vorhersagen", sagt Schöning. Liegt der Score bei 50 oder mehr Punkten, "raten wir den Verlagen, sich die Texte deutlich anzusehen, da sie ein hohes Potenzial haben". Und da die Bestsellerquote zum Beispiel für kleinere Verlage nicht so relevant sein kann, errechnet Qualifiction aus dem Score auch noch potenzielle Verkaufszahlen. Dabei gilt immer: "Bücher mit einem hohen Bestseller-Score müssen nicht unweigerlich auch von der besten Textqualität im Sinne des literarischen Feuilletons sein", stellt sie klar. Nach Angaben Schönings haben Publikumsverlage Interesse an dem Algorithmus, allerdings will sie noch keine Namen nennen. Allerdings hätten auch bereits Autoren angefragt, "weil sie das umgekehrte Problem haben - ihnen fehlt die Objektivität". Werden ihre Romane von Verlagen abgelehnt, so würden sie kaum Hinweise erhalten, ob es hilft, noch mal an den Text zu gehen. Anna Basener, die selbst auch als Lektorin gearbeitet hat, sieht dies jedoch eher "als einen Fluch" für den Autor. "Ich kenne keine Autoren, die schreiben, um dem Markt zu gefallen. Wir alle schreiben, weil wir etwas Bestimmtes auf eine bestimmte Art erzählen wollen." Qualifiction hat nach eigenen Angaben bislang keinen vergleichbaren Mitbewerber in Deutschland und sucht gerade Investoren. Bislang finanzieren sich die Gründer unter anderem mit Hilfe eines Exist-Gründerstipendiums des Bundeswirtschaftsministeriums in Höhe von 150 000 Euro sowie einer gleich hohen Fördersumme der Hamburgischen Investitions- und Förderbank. Bald sollen aber auch Kunden das Geld bringen. Verlage müssen 7500 Euro zahlen, auch damit die Software auf das individuelle Buchprogramm abgestimmt wird, und dazu monatlich eine Abopauschale, die sich nach der Zahl der bearbeiteten Manuskripte richtet. Dem Team gehören drei Entwickler an, die den Algorithmus ständig aktualisieren. Im kommenden Jahr will das Start-up die Zahl der Mitarbeiter auf etwa zehn aufstocken und 2020 noch mal verdoppeln. Dass die KI irgendwann selbst kreativ wird, glaubt Schöning indes nicht: "Maschinen können noch keine Romane schreiben - zumindest keine guten", sagt sie. "Wir sehen auch keinen Grund, warum eine Maschine Bücher schreiben sollte, wenn es so viel gute Literatur von Autoren gibt."
Ein Hamburger Start-up hat einen Algorithmus für die Verkaufschancen von Romanen entwickelt. Der soll Verlagen dabei helfen, die zahllosen Manuskripte zu sichten.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kuenstliche-intelligenz-das-geheimnis-des-bestsellers-1.4269819
Das Geheimnis des Bestsellers
00/12/2018
Wenn die global vernetzte deutsche Wirtschaft etwas nicht brauchen kann, dann ist das eine Stimmung im Land, die auf Abschottung setzt. Kein Wunder also, dass der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) zum Jahresende noch einmal ein Zeichen setzen wollte: Eine Resolution "für Weltoffenheit und gegen Ausländerfeindlichkeit" hat die Vollversammlung des Verbands verabschiedet. Und sie warnt, dass es derzeit in Deutschland "um noch sehr viel mehr als um unser Image auf den Märkten dieser Welt" gehe.
Der Wirtschaftsverband hat eine Resolution für ein weltoffenes Deutschland verabschiedet.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/dihk-gegen-den-hass-1.4269817
Gegen den Hass
00/12/2018
"Aber man muss auch ehrlich sein: Mehr Tierwohl hat auch seinen Preis. Und der ist am Markt nicht so leicht durchzusetzen." Peter Wesjohann. Es wäre untertrieben zu sagen, dass Rechterfeld eine eher ruhige Gegend ist. Das hier ist niedersächsische Pampa, ein Ort, an dem es eigentlich nichts zu sehen gibt - außer der Firmenzentrale von PHW. Deutschlands größter Geflügelkonzern ist vor allem für seine Marke Wiesenhof bekannt. Der diplomierte Kaufmann Peter Wesjohann leitet dieses Unternehmen, das jeden Tag eine Million Hühner schlachtet. Entsprechend kritisch beobachten ihn Tierschutzorganisationen.
Wiesenhof-Chef Peter Wesjohann über veganes Fleisch und die Frage, ob Schlachten ihm ein schlechtes Gewissen bereitet.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ernaehrung-tierschutz-wiesenhof-interview-1.4269581
Landwirtschaft - Wiesenhof-Chef Wesjohann im Interview
00/12/2018
Wie sich Angela Merkels Wunschkandidatin geschickt gegen zwei Männer durchsetzte, die ihre Gegnerin wohl unterschätzt hatten. Und welche Herausforderungen nun auf die neue CDU-Vorsitzende warten. Detailansicht öffnen (Foto: Rainer Jensen/dpa) Die Neue stand kurz vor dem Jahresende fest: Annegret Kramp-Karrenbauer ist in der Geschichte der CDU nicht nur die Vorsitzende mit dem längsten Namen, sondern auch die mit dem knappsten Wahlsieg: 517 Stimmen für Kramp-Karrenbauer, 482 Stimmen für Friedrich Merz - so lautete das Ergebnis im entscheidenden zweiten Durchgang auf dem CDU-Parteitag in Hamburg. Die 56-jährige Saarländerin schreibt als Nachfolgerin Angela Merkels auch deshalb Geschichte, weil zum ersten Mal in einer deutschen Partei von Bedeutung der alleinige Parteivorsitz von einer Frau an die nächste übergeben wurde. Kramp-Karrenbauer wird von Kritikern gelegentlich als Kopie Merkels geschmäht, während Merz in den Augen mancher Fans die Rückkehr zu einer traditionellen CDU verkörpert hätte. Dabei wird gerne übersehen, dass Kramp-Karrenbauer bereits 1981 in die CDU eingetreten ist, sich in der Jungen Union und in der Frauen-Union engagierte und mehr christdemokratischen Stallgeruch verströmt, als ihn die Quereinsteigerin Angela Merkel aufgrund ihrer ostdeutschen Herkunft je mitbringen konnte. Anders als Merz, der zwei Jahre lang Unionsfraktionschef im Bundestag war, sich bis heute ein Ministeramt zutraut, aber noch nie eins hatte, regierte AKK, wie sie aus Platz- und Zeitgründen gerne genannt wird, 18 Jahre lang das Saarland: erst als Ministerin, unter anderem als erste Frau in einem Innenressort, von 2011 an als Ministerpräsidentin. Anfang 2018 wechselte sie als CDU-Generalsekretärin nach Berlin. Von Merkels Ankündigung, auf den Parteivorsitz zu verzichten, wurde AKK am 29. Oktober angeblich genauso überrascht wie der Rest der Partei. Mit Merz und Gesundheitsminister Jens Spahn lieferte sie sich binnen weniger Wochen einen parteiinternen Wahlkampf, der die Mitglieder der CDU mobilisierte. AKK muss nun der Partei den Schwung erhalten und die Unterlegenen einbinden. Dazu wird auch gehören, manchen Verlierer daran zu hindern, eine Niederlage nachträglich in einen gefühlten Sieg umzudeuten.
Wie sich Angela Merkels Wunschkandidatin geschickt gegen zwei Männer durchsetzte, die ihre Gegnerin wohl unterschätzt hatten. Und welche Herausforderungen nun auf die neue CDU-Vorsitzende warten.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/annegret-kramp-karrenbauer-ploetzlich-ganz-oben-1.4270542
Plötzlich ganz oben
00/12/2018
Die Gemeinschaft schrumpft sich klein, sagt Schwester Ruth. Ältere Schwestern sterben, wenige junge kommen nach. Die Kongregation der Missions-Benediktinerinnen in Tutzing am Starnberger See steht zwar wirtschaftlich gut da. Aber das kann sich schnell ändern. Die Gebäude aus dem Jahr 1904 müssen unterhalten, das Zusammenleben gestaltet und finanziert werden. Viel Arbeit für Schwester Ruth, seit 1986 im Kloster, seit drei Jahren Priorin. "Wir wirtschaften umweltfreundlich", erklärt sie. Die 70 Schwestern kaufen regional und bei Landwirten ein, achten auf fair gehandelte Produkte. Sie betreiben ein Gästehaus mit 24 Zimmern in Tutzing und ein Bildungshaus mit Seminarprogramm im Nachbarort Bernried. Sie arbeiten mit Hilfswerken zusammen, die Spenden für die Missions-Benediktinerinnen gehen von Tutzing aus in die ganze Welt. Oder wie es die Priorin ausdrückt: "Orden leben schon lange Globalisierung und Internationalität." Klöster sind weit mehr als nur Lebensgemeinschaften von Menschen gleicher Konfession. Sie sind Denkmäler, Mehrgenerationenhäuser, Alterssitze - und Unternehmen und Arbeitgeber. Für viele Menschen sind die Ordenshäuser eher touristisch wertvoll: nett anzusehen, aber aus der Zeit gefallen. Doch ist es eher andersherum: Die Wirtschaftswelt außerhalb der Klostermauern behandelt Frauen oft immer noch, als hätten sie keine Ahnung von Geld und nicht genügend Ambitionen für eine Führungsposition. Da ist man innerhalb der Klostermauern seit mehreren Jahrhunderten weiter. In Frauenklöstern wählen die Bewohnerinnen ihre Chefin selbst. Sie verwalten Haushalt und Vermögen in eigener Verantwortung. Und jede Ordensschwester bringt ihre Fähigkeiten so ein, wie es der Gemeinschaft am besten hilft. Die meisten Häuser, die der Benediktinerinnen und Zisterzienserinnen etwa, leben nach den Regeln des Heiligen Benedikt von Nursia: von der eigenen Hände Arbeit - Steuergeld etwa fließt selten. Wo immer sich Ordensschwestern zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, bilden sie auch eine Wirtschaftseinheit. Was sie einnehmen, finanziert ihr Leben bis zu seinem Ende: Orden zahlen nicht in die Rentenkasse, sie müssen also Geld zurücklegen, um vorzusorgen. In der Abtei Mariendonk investieren sie in Indexfonds. Die bringen mehr Zinsen In der Abtei Mariendonk in Grefrath ist Schwester Lioba für das Geld zuständig. Für jede der 27 Schwestern verwaltet sie ein Vermögen von etwa 65 000 Euro - das beinhaltet den Unterhalt, Anteil an Sanierungen, die Altersvorsorge. Schwester Lioba hat es vor einigen Jahren ins Wall Street Journal geschafft - als die Nonne, die morgens betet und nachmittags mit Aktien handelt. Das ist natürlich sehr vereinfacht. Aber die Cellerarin, wie das Amt in der Fachsprache heißt, setzt tatsächlich auf Wertpapiere. Bis 2013 investierte der Orden in einen Aktienfonds, aufgelegt von der katholischen Kirche, sowie in Festgeld und Sparbriefe. Als die Zinsen zu stark sanken, suchte sie Alternativen. Inzwischen investieren die Nonnen auch in fünf Indexfonds. Schwester Lioba behält die Depots im Blick, kontiert Rechnungen, spricht sich mit ihrer Mitschwester aus der Buchhaltung ab. "Ich kaufe keine Einzelaktien, auch wenn ich mich intensiv mit Geldanlagen beschäftigt habe", sagt die Cellerarin - aber eben Fonds. In Absprache mit der Bank und dem Wirtschaftsrat von Mariendonk, zu dem die Äbtissin und Priorin gehören, und die Schwester, die Hausmeisterarbeiten erledigt. Gemeinsam haben sie überlegt, nach welchen Kriterien, vor allem ethische, sie ihr Geld anlegen möchten. So investieren die Schwestern auch in zwei Mikrofinanzfonds: "In manchen Ländern sind es ja die Frauen, die die Wirtschaft noch am Laufen halten", sagt Schwester Lioba. Detailansicht öffnen Großes eigenes Vermögen hat niemand bei den Bendektinerinnen, das ist eine Voraussetzung, um Mitglied des Ordens zu sein. Die Schwestern – hier in Hildesheim – leben vielmehr nach den Regeln des Heiligen Benedikt von Nursia: von der eigenen Hände Arbeit. (Foto: imago) Für Frauen haben Klöster historisch eine besondere Bedeutung. Es war oft ihre einzige Chance auf Bildung. Und es war ihre einzige Möglichkeit, selbstbestimmt ohne Mann zu leben. Dass sich die Schwestern ihre Äbtissin oder Priorin wählen, ist ihnen wichtig. Denn im Mittelalter und in der Neuzeit gab es durchaus Versuche von Landesherren oder Bischöfen, die Wahl in zu beeinflussen, gerade bei wirtschaftlich bedeutsamen Häusern. Eine Ausnahme war da der hannoversche Prinzregent Georg II., der 1818 die Klosterkammer Hannover gründete. Deren Vermögen ist enorm: Die Behörde verwaltet Erbbau-Grundstücke, lässt in den Klosterforsten 26 600 Hektar Wald bewirtschaften und verpachtet landwirtschaftliche Flächen. Mit ihren Einnahmen erhält sie 800 Baudenkmäler und 12 000 Kunstgegenstände. Und betreut und unterstützt in ihrem 200. Jahr noch 15 aktive, evangelische Frauenklöster in Niedersachsen. Deren Grundaufbau unterscheidet sich jedoch deutlich von dem in Tutzing oder Mariendonk. Eines der Häuser ist etwa das Kloster Walsrode. Der Konvent ist das älteste der sechs sogenannten Heideklöster, die jeweils einen Tagesritt voneinander entfernt in der Lüneburger Heide liegen und schon immer von Frauen bewohnt wurden - in Walsrode seit dem Jahr 986. Die acht Damen, die hier leben, heißen Konventualinnen. Sie tragen zivil und haben kein Gelübde abgelegt. Es ist eine Lebensgemeinschaft, die dazu dient, das alte Gebäude zu bewohnen und die Tradition zu erhalten. Die Konventualinnen planen etwa Führungen, betreuen Gäste und Künstler und kümmern sich um Archiv und Garten. Und sie führen ihren Haushalt selbst, finanziert etwa durch Gehalt oder Rente: Das ist die Voraussetzung dafür, in das Kloster ziehen zu können. Klösterliche Armut heißt, nicht über eigenes Bargeld zu verfügen Ein häufiges Missverständnis über Orden ist die Sache mit dem Armutsgelübde. "Wir sind nicht arm wie etwa eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, die von Hartz IV leben muss. Das würde ich nie preisen, das hat auch Christus nicht getan", sagt Schwester Lioba. "Klösterliche Armut heißt, keine Verfügung über Bargeld zu haben, alles als Geschenk wahrzunehmen." Wenn eine Schwester in den Orden eintritt, fließt ihr Vermögen in das Gemeinschaftseigentum. Muss etwas besorgt werden, entscheidet der Wirtschaftsrat oder die Vorsteherin. Und für Hygieneartikel gibt es ein Regal, aus dem sich jede nimmt, was sie braucht. Bei Kleidung schauen die Schwestern, was man noch auftragen kann, ansonsten wird möglichst günstig und lokal neu eingekauft. Was Klöster einnehmen, richtet sich auch nach ihrem Arbeitsschwerpunkt. Manche Orden haben große Ländereien, die sie verpachten, Kunstschätze, die sie ausstellen, Hostienbäckereien, mit denen sie Kirchen beliefern. Mariendonk etwa stellt in einer Paramenten-Werkstatt Gewänder für Priester, Chöre und Schützenvereine her. Die Tutzinger Gemeinschaft hat bis 2007 das Benedictus-Krankenhaus auf dem Klostergrund betrieben, doch das wurde für die Schwestern zu aufwendig: Sie verkauften an eine Klinikgruppe, kümmern sich aber weiter um die Seelsorge der Patienten und bekommen Miete und Erbpacht. Detailansicht öffnen Ein angenehmer Lebensort und Arbeitsplatz: das Benediktinerinnen-Kloster Tutzing am Ufer des Starnberger Sees. (Foto: Michael Westermann /imago) Einfach ist es nicht, ein Kloster zu erhalten. Vielfach helfen Fördervereine, indem sie Spenden sammeln. Ältere Schwestern bringen ihre Rente ein, jüngere ihr Gehalt. So arbeitet eine Tutzinger Schwester als Oberärztin im Benedictus-Krankenhaus, eine andere ist Juristin. Doch die häufig denkmalgeschützten Gebäude sind ein großer Kostenfaktor. Die Abtei Mariendonk etwa wurde 1899 gebaut, andere Häuser sind mehrere Jahrhunderte alt. Schwester Lioba kann beim Bistum Aachen Bauzuschüsse beantragen, zuletzt mussten Kirchenheizung und Elektrik für 400 000 Euro saniert werden. Doch es gibt auch Grenzen. "Wir wollen nicht nur für das Gebäude leben", sagt Schwester Ruth, die Priorin von Tutzing, die studierte Volkswirtin ist. Sollte der Orden das Haus nicht mehr halten können, müssten sich die Schwestern irgendwo einmieten - theoretisch jedenfalls, die Gefahr besteht derzeit nicht. Andere Klöster hat das aber durchaus schon getroffen. 2016 etwa löste der Vatikan das Kloster Altomünster auf, weil dort nur noch eine Nonne lebte. Um Novizinnen auszubilden, sind nach Kirchenrecht aber mindestens drei Schwester nötig. "Das traditionelle Leben wird sich wohl ändern, da werden bestimmte Formen verloren gehen", sagt Schwester Ruth. Auch die Schwestern in Mariendonk machen sich Gedanken. Aber mit dem, was die Fonds und Anlagen bisher abwerfen, ist die Cellerarin zufrieden. "Ich versuche den Job so zu machen, dass ich, wenn ich vor meinen Schöpfer trete, sagen kann, ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt."
Klöster wirken irgendwie aus der Zeit gefallen. Doch gerade dort führen Frauen ein eigenständiges Leben. Mittlerweile sind Ordensschwestern auch Mitspieler an den Börsen.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzen-im-kloster-morgens-beten-abends-zaehlen-1.4269577
Finanzen im Kloster - Morgens beten, abends zählen
00/12/2018
Vom Lohn bleibt mehr übrig, mehr Geld gibt es auch für Hartz-IV-Empfänger. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte dieses Jahr einiges zu tun: Gleich vier größere Gesetzesvorhaben hat er durch den Bundestag gebracht; hinzu kommen zahlreiche weitere Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht, die Arbeitnehmer und Rentner von 2019 an im Geldbeutel spüren können. Arbeitslosenversicherung: Der Beitrag sinkt von 3,0 auf 2,5 Prozent. Qualifizierung: Mehr Arbeitnehmer als bisher können sich gefördert weiterbilden. Dafür müssen sie vom Strukturwandel betroffen sein. Oder ihr Job könnte durch neue Technologien verschwinden oder sie lassen sich in einem Beruf ausbilden, in dem Fachkräftemangel herrscht. Sozialer Arbeitsmarkt: Langzeitarbeitslose, die sechs (Schwerbehinderte und Betroffene mit Kindern: fünf) Jahre ohne Arbeit sind, sollen vom neu geschaffenen "sozialen Arbeitsmarkt" profitieren. Ihnen werden als Alternative zur Grundsicherung über Lohnkostenzuschüsse finanzierte Stellen in Kommunen oder Unternehmen angeboten, sozialabgabenpflichtig und für zwei bis fünf Jahre. Grundsicherung: Die Hartz-IV-Sätze steigen. Alleinstehende bekommen von Januar an 424 Euro im Monat, Paare 764 Euro. Bislang sind es 416 Euro beziehungsweise 748 Euro. Für Kinder bis einschließlich sechs Jahre liegt die Grundsicherung künftig bei 245 statt 240 Euro, bis 14 Jahre sind es 302 statt 296 Euro, bis unter 18 Jahre 322 statt 316 Euro. Befristete Teilzeit: Wer eine Zeit lang in Teilzeit arbeiten will, kann unter Umständen die neue Brückenteilzeit in Anspruch nehmen - und hat dann ein Recht darauf, danach auf seine Vollzeitstelle zurückzukehren. Voraussetzung ist, dass für ein bis fünf Jahre Teilzeit vereinbart wird und der Antragsteller in einer Firma mit mehr als 45 Mitarbeitern arbeitet - kleinere Betriebe sind von der Regelung ausgenommen. Für mittlere Betriebe bis 200 Arbeitnehmer gibt es zudem eine Zumutbarkeitsgrenze; sie müssen nicht unbegrenzt Anträge bewilligen. Arbeit auf Abruf: Dafür gelten von 2019 an strengere Regeln. Arbeitgeber dürfen nur noch höchstens 25 Prozent mehr Arbeit abrufen als die vereinbarte wöchentlichen Mindestarbeitszeit vorsieht; im Fall einer Höchstarbeitszeit dürfen es maximal 20 Prozent weniger sein. Ist keine Arbeitszeit festgelegt, gelten 20 Stunden als vereinbart. Gesetzlicher Mindestlohn: Er steigt 2019 von 8,84 auf 9,19 Euro und 2020 auf 9,35 Euro die Stunde. Rente: Mütter mit vor 1992 geborenen Kindern bekommen ein weiteres halbes Kindererziehungsjahr für die Rente gutgeschrieben; das entspricht einem halben Rentenpunkt oder monatlich bis zu 16,02 Euro mehr Rente je Kind im Westen und bis zu 15,35 Euro im Osten. Insgesamt kommen sie nun auf 2,5 Rentenpunkte je Kind; bei nach 1992 geborenen Kindern sind es drei. Neurentner bekommen das Geld direkt mit ihrer ersten Rentenzahlung ausgezahlt, alle anderen - wegen der Neuberechnung - erst bis Mitte nächsten Jahres, dann plus Nachzahlung. Erwerbsminderungsrentner, die etwa wegen einer Krankheit vorzeitig in den Ruhestand müssen, werden bessergestellt. Zur Berechnung ihrer Rente wird eine längere fiktive Berufstätigkeit zugrunde gelegt: Statt bis zum vollendeten 62. Lebensjahr und drei Monate wird diese sogenannte Zurechnungszeit schrittweise von 2019 an bis 2031 auf 67 Jahre verlängert. Die Regelaltersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand steigt weiter, für Rentenversicherte, die 1954 geboren wurden und nächstes Jahr 65 Jahre alt werden, auf 65 Jahre und acht Monate. Geringverdiener: Sie müssen niedrigere Sozialbeiträge bezahlen: Vom 1. Juli an werden für Einkommen von 450,01 bis 1300 Euro reduzierte Beiträge fällig, was aber nicht zu niedrigeren Rentenleistungen führen soll.
Vom Lohn bleibt mehr übrig, mehr Geld gibt es auch für Hartz-IV-Empfänger.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/einkommen-ein-plus-fuer-geringverdiener-1.4268153
Einkommen - Ein Plus für Geringverdiener
00/12/2018
Der nächste große Crash kommt bald, warnte der Verwandte beim Weihnachtsessen: Schaut doch nur in die USA! Wer sich davon anstecken ließ und direkt an der Frankfurter Börse alle Aktien verkaufen wollte, wurde vor einem Fehler bewahrt: Denn die Börse hatte geschlossen. Von Heiligabend bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag konnte dort niemand handeln. Tatsächlich sind die Aktienkurse im Dezember in den USA stark gefallen, zwischendurch fast schon panikartig. Der jüngste Schlag kam an Heiligabend. US-Finanzminister Steven Mnuchin hatte mit den Chefs der sechs größten Banken des Landes telefoniert. Die Vorstände hätten ihm mitgeteilt, dass bei ihnen alles in bester Ordnung sei, twitterte Mnuchin. Dass das Finanzsystem stabil ist, wird öffentlich eigentlich immer nur betont, wenn es starke Zweifel daran gibt. Vor Mnuchins Wortmeldung hatte aber niemand diese Zweifel gehegt. Es sind keine Wirtschaftsdaten bekannt, die darauf hindeuten, dass das amerikanische Bankensystem kurz vor der Implosion steht wie 2008. Das Magazin The Atlantic verglich den Finanzminister deshalb mit einem Arzt, der zu einem Patienten mit Schnupfen sagt: Glückwunsch, Sie haben keinen Krebs. Dass die Aktienkurse nicht mehr von Rekordhoch zu Rekordhoch steigen, ist kein Anzeichen dafür, dass die nächste dramatische Krise bevorsteht. An einem Tag steigt die Börse, am nächsten fällt sie, das ist im Vergleich mit den vergangenen Jahrzehnten ziemlich normal. Und so kam es auch in New York: Nach einer kurzen Weihnachtspause drehten sich die Werte am Handelstag nach dem Mnuchin-Rutsch ins Gegenteil: Sie stiegen rasant. Der 1885 begründete Aktienindex Dow Jones gewann sogar um mehr als 1000 Punkte. Das Tagesplus in Punkten war so hoch wie noch nie in der 133-jährigen Geschichte des Dow Jones, auch prozentual gerechnet war es ein Topwert. Wer also mit Verweis auf Mnuchin an Heiligabend den anstehenden Totalverlust für Anleger verkündete, sah nach Weihnachten blöd aus. Dieses Auf und Ab ging am Finanzplatz Frankfurt völlig vorbei, die dortige Börse hat zwei Tage länger geschlossen als die Wall Street. Ein Vorteil für die deutschen Privatanleger: Sie haben zwei dramatische Tage einfach ausgesessen. Das ist auch langfristig eine Strategie, an der sich Sparer orientieren können. Für viele lohnt es sich nicht, jeden Tag die Börsenkurse zu verfolgen, um dann Aktien zu kaufen und zu verkaufen. Wer nicht Millionen investiert, verliert schon durch die Bankgebühren für den Handel mit Aktien so viel Geld, dass man wie im Casino viel Glück braucht, um mit Gewinn aus der Sache herauszukommen. Wer stattdessen in sehr viele verschiedene Aktien investiert - beispielsweise über einen kostengünstigen ETF - und dann jahrzehntelang warten kann, darf das tägliche Börsendrama ignorieren. Der Dax verliert 18 Prozent Das klingt nach einer mutigen Aussage in einer Woche, in der der deutsche Leitindex Dax auf ein Zweijahrestief gefallen ist. Seit Neujahr 2018 hat der Dax fast ein Fünftel an Wert verloren. 2018 ist das schlechteste Dax-Jahr seit der Finanzkrise. Wer nur in den Dax investiert, ist aber auch nicht wirklich breit aufgestellt: Der Index umfasst nur 30 Konzerne aus Deutschland. Wenn der globale Handelsstreit sich nächstes Jahr verschärft, was die Exportnation Deutschland besonders hart treffen würde, kann der Dax 2019 weiter fallen. Wer in Aktien investiert, sollte aber weniger auf das nächste Jahr schauen, sondern mehr auf das nächste Jahrzehnt. Solange die Weltwirtschaft langfristig wächst, steigen auch die Kurse. Dabei gilt zugleich: Wer ständig den nächsten Aktiencrash vorhersagt, hat irgendwann recht. Das macht diese Prognosen aber nicht gut, im Gegenteil. Wer jeden Tag vorhersagt, dass es morgen regnet, hat schlicht aus Zufall irgendwann einmal das richtige Wetter prophezeit. Einem solchen Dauer-Schlechtwetter-Prognostiker würden die Menschen nicht mehr glauben. Bei Finanzvorhersagen verfängt aber leider bei vielen die Angst vor dem Crash. Auch bei den Silvesterabendessen werden wieder Menschen vor der angeblich ganz kurz bevorstehenden Finanzschmelze warnen. Dann ist gut zu wissen: An Neujahr haben die Börsen in Frankfurt und in New York geschlossen. Es kann eh keiner verkaufen.
Die Börsenkurse fallen - na und? Wer ständig vor dem nächsten Absturz warnt, ist kein guter Ratgeber für Sparer.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/dax-verlust-boerse-aktien-anlegen-1.4266738
Kursverlust an der Börse: Fatale Lust am Crash
00/12/2018
US-Präsident Donald Trump und die chinesische Regierung halten offenbar eine baldige Lösung des Handelskonfliktes für möglich. Nach einem Telefonat mit seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping äußerte sich der Republikaner optimistisch auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Trump schrieb, dass er ein "langes und sehr gutes Gespräch" mit Xi geführt habe. Es seien "große Fortschritte" erzielt worden. Sollte eine Vereinbarung zustande kommen, dürfte diese sehr umfangreich ausfallen. Nach einem Bericht des Wall Street Journals halten es Insider allerdings für möglich, dass Trump den Erfolg der Verhandlungen übertreibe, um die Märkte zu beruhigen. Die Aktienmärkte befinden sich zum Jahresende tief im Minus, für Investoren sieht es auch 2019 trüb aus, der Konflikt der beiden Wirtschaftsmächte gilt als eine der Ursachen. Andererseits zeigt sich auch Peking versöhnlich. Staatsmedien zufolge soll Xi erklärt haben, er hoffe, dass so bald wie möglich ein Abkommen erzielt werde, das für beide Seiten vorteilhaft sei. Aus dem Außenministerium hieß es, die Beziehungen zwischen beiden Ländern hätten "Stürme" durchgemacht, doch sei eine starke Bindung zwischen beiden Seiten sowohl für die Wirtschaft als auch für den weltweiten Frieden wichtig. "Nach 40 Jahren Entwicklung stehen die Beziehungen zwischen China und den USA nun an einem historischen neuen Ausgangspunkt", sagte Ministeriumssprecher Lu Kang mit Blick auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen beider Nationen im Jahr 1979. In der Woche ab dem 7. Januar soll eine US-Handelsdelegation nach Peking reisen. Weitere Gespräche sind für die kommenden Wochen geplant. Waffenruhe bis März Trump hatte den Streit ausgelöst, weil er das große Handelsdefizit der USA mit China abbauen will. Die USA erheben Sonderzölle auf Warenimporte aus China im Wert von 250 Milliarden Dollar. Peking revanchierte sich mit Vergeltungsmaßnahmen, allerdings nicht im gleichen Wert. Anfang Dezember hatten die beiden Wirtschaftsmächte eine Art Ruhepause in dem Streit bis Anfang März vereinbart. Bis dahin soll in Verhandlungen eine Lösung des Konfliktes erreicht werden. In der Auseinandersetzung geht es auch um den Vorwurf, chinesische Firmen würden Innovationen von westlichen Firmen kopieren. Offenbar als Zeichen des guten Willens veröffentlichte die Regierung in Peking in dieser Woche einen Gesetzentwurf, in dem ein erzwungener Technologie-Transfer untersagt wird. Bereits am Dienstag hatte die chinesische Regierung eine sogenannte Negativ-Liste veröffentlicht, in denen Industriesektoren aufgelistet werden, zu denen heimische wie ausländische Investoren nur einen begrenzten oder gar keinen Zugang haben sollen. Da hier chinesische wie ausländische Geldgeber gemeint sind, wird die Liste auch als Zeichen dafür gewertet, dass Peking den Vorwurf westlicher Staaten entkräften will, dass es keinen fairen Wettbewerb zulasse.
Nach einem Telefonat des chinesischen und des US-amerikanischen Präsidenten stellen beide Seiten eine Lösung des Handelsstreits in Aussicht.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vereinigte-staaten-trump-sieht-grosse-fortschritte-beim-handelspakt-mit-china-1.4269622
Trump sieht Fortschritte beim Handelspakt mit China
00/12/2018
Die Koalition aus der Rechtsaußenpartei Lega und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung musste ihre Ausgabenpläne auf Druck der EU-Kommission verändern. Die Debatte um den Haushalt nutzt Silvio Berlusconis Partei für eine Protestaktion. Monatelang hatten sich die italienische Regierung und die EU-Kommission über die Hohe der Schulden im Haushalt für das kommende Jahr gestritten. Erst kurz vor Weihnachten gab es eine Einigung. Die Koalition aus der Rechtsaußenpartei Lega und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung einigte sich mit Brüssel auf ein Defizit von 2,04 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Ursprünglich hatte sie sich mit 2,4 Prozent verschulden wollen. Was auf den ersten Blick klingt wie ein Gezerre um Nachkommastellen, kann für Italiens Regierung handfeste Konsequenzen haben. Die Kommission in Brüssel sah in dem Entwurf ein Verstoß gegen EU-Regeln. Mit dem Einlenken verhinderte Rom ein Defizit-Strafverfahren und milliardenschwere Geldbußen. Italiens Staatsverschuldung ist mit 130 Prozent des BIP sehr hoch und wird von Analysten an den Finanzmärkten als Gefahr für die Stabilität in der Eurozone gesehen. Jetzt hat diese Einigung mit der Kommission auch das Parlament in Rom passiert. Das Abgeordnetenhaus stimmte dem überarbeiteten Haushaltsplan mit 327:228 Stimmen am späten Samstagabend zu. Der Senat, die zweite Kammer des Parlaments, hatte den neuen Haushaltsentwurf bereits vor einer Woche gebilligt. Die Debatte am Samstag wurde, wie italienische Medien berichten, von einer Protestaktion von Silvio Berlusconis Forza Italia überschattet. Deren Abgeordnete streifen sich während der Plenarsitzung azurblaue Westen über, auf denen Protestslogans gegen die Regierung zu lesen waren. Der frühere Regierungschef kündigte an, diese Proteste in den kommenden Wochen auch auf die Straße tragen zu wollen - in Anlehnung an die Gelbwestenbewegung in Frankreich.
Die Koalition aus der Rechtsaußenpartei Lega und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung musste ihre Ausgabenpläne auf Druck der EU-Kommission verändern. Die Debatte um den Haushalt nutzt Silvio Berlusconis Partei für eine Protestaktion.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/streit-mit-eu-kommission-italiens-abgeordnete-stimmen-haushaltsplan-zu-1.4269542
Streit mit EU-Kommission - Italiens Abgeordnete stimmen Haushaltsplan zu
00/12/2018
Das bedingungslose Grundeinkommen galt als Hirngespinst von Idealisten. Inzwischen können sich immer mehr Staaten eine Umsetzung vorstellen - und schieben unterschiedliche Projekte an. Ein Überblick. Das BIEN gibt es seit 32 Jahren, aber wohl selten hatten die Macher der Organisation so viel zu tun wie 2018. BIEN steht für Basic Income Earth Network, das Netzwerk vereint die weltweiten Grundeinkommensinitiativen und veranstaltet jedes Jahr eine Konferenz. Dass 2018 besonders viel debattiert wurde, hat mit den oft als Bedrohung empfundenen Entwicklungen zu tun, mit denen viele Industrieländer zu kämpfen haben: Digitalisierung und Automatisierung, Prekarisierung, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, das wachsende Misstrauen gegenüber dem Staat.
Das bedingungslose Grundeinkommen galt als Hirngespinst von Idealisten. Inzwischen können sich immer mehr Staaten eine Umsetzung vorstellen - und schieben unterschiedliche Projekte an. Ein Überblick.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bedingungsloses-grundeinkommen-1.4266730
Bedingungsloses Grundeinkommen: Geld für alle
00/12/2018
Kurz vor Weihnachten war die Geduld der französischen Regierung zu Ende. Man werde eine Digitalsteuer im nationalen Alleingang erheben, erklärte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Im Frühjahr 2019 soll sie beschlossen werden, allerdings schon rückwirkend zum 1. Januar gelten. Die neue Steuer zielt auf global agierende Internet-Konzerne wie Google, Facebook und Amazon ab, die dank "Steuerparadiesen" wie Irland nur minimal Abgaben auf ihre in Europa erwirtschafteten üppigen Gewinne abführen müssen. Dem Pariser Alleingang folgte nun die Regierung in Wien zum Ende der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft. "Da es auf europäischer Ebene keinen Konsens gibt, machen wir das, was wir angekündigt haben: Wir setzen eine nationale Digitalsteuer um", sagte der österreichische Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) zur Süddeutschen Zeitung am Samstag. Ähnlich äußerte sich zuvor Bundeskanzler Sebastian Kurz (ebenfalls ÖVP): "Es ist nur gerecht, wenn die Internet-Giganten in Europa ordentlich Steuer zahlen", sagte er der Tiroler Tageszeitung. Die Steuer solle im Rahmen einer geplanten Steuerreform in Kraft treten. Wie die Süddeutsche Zeitung aus Regierungskreisen erfuhr, ist diese Reform für 2020 angesetzt. Was genau nun in Österreich besteuert werden soll, etwa nur Online-Werbung, oder auch der Handel mit Daten, ist noch unklar. Details sollten bei einer Klausur der Koalition aus konservativer ÖVP und radikal rechter FPÖ bekannt gegeben werden, die am 10. und 11. Januar stattfindet. Die Europäische Kommission unter Jean-Claude Juncker hatte vorgeschlagen, für Digitalunternehmen mit einem weltweiten Jahresumsatz von mindestens 750 Millionen Euro sowie einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro in Europa eine Steuer von drei Prozent zu erheben. In einem zweiten Schritt soll eine digitale Betriebsstätte definiert werden, um eine Körperschaftsteuer erheben zu können. "Wir brauchen eine Digitalsteuer - es geht nicht anders", sagte Juncker beim SZ-Wirtschaftsgipfel im November 2018. Doch die Verhandlungen der europäischen Partner blieben ohne Ergebnis. Steuer-Entscheidungen können in der EU nur einstimmig beschlossen werden. Entsprechend knifflig ist es, ein Vorhaben wie die Digitalsteuer durchzubringen, die Nachteile für ein Niedrigsteuerland wie Irland hat, wo Digitalkonzerne Tausende Jobs geschaffen haben. Deutschland und Frankreich konnten beim Finanzministertreffen Anfang Dezember in Brüssel auch mit einem Kompromissvorschlag, nachdem sich die geplante Abgabe nur noch auf die Werbeumsätze der Konzerne beschränken soll, die Gegner nicht für sich einnehmen. Deutschland verweist auf die geringen Einnahmen Dass es bislang immer noch zu keiner Einigung gekommen ist, lag wohl auch an Berlin. Die Bundesregierung fürchtet, eine Digitalsteuer könnte in der Folge dazu führen, dass auch virtuelle Betriebsstätten besteuert werden könnten - mit massiven Einnahmerückgängen für den deutschen Fiskus bei der Körperschaftsteuer. Außerdem fürchtet Berlin, dass die US-Regierung von Donald Trump kostspielige Gegenmaßnahmen einleiten könnte, denn die meisten Internet-Konzerne sind in den Vereinigten Staaten beheimatet. Gleichzeitig verweist man in Berlin auf die nur relativ geringen Einnahmen, die eine europaweite Digitalsteuer bringen würde. Deshalb haben die Deutschen, namentlich Finanzminister Olaf Scholz (SPD), beim Thema Digitalsteuer lange laviert und schließlich geblockt, was offenkundig nicht nur die französischen Partner genervt hat. In Paris verspricht man sich durch die nationale Digitalsteuer Einnahmen von 500 Millionen Euro. Aus Regierungskreisen in Wien ist zu hören, dass Österreich mit Mehreinnahmen in Höhe von "mindestens 60 Millionen Euro" pro Jahr rechnet. Zum Vergleich: Die gesamte Körperschaftssteuer in Österreich brachte 2017 etwa acht Milliarden Euro ein. Frankreich beteuert, man wolle nach wie vor eine europäische Lösung hinbekommen. Und auch Österreich fährt zweigleisig. Sobald sich eine europäische Einigung abzeichne, sei man bereit, eine einheitliche Regelung mitzutragen, sagte Finanzminister Löger. "Bleibt zu hoffen, dass sich diese Gerechtigkeitsfrage bald in den Hauptstädten Europas durchsetzt und wir geeint nach außen auftreten können."
Wie Frankreich will Österreich die Abgabe, die auf Konzerne wie Google, Facebook und Amazon zielt, im Alleingang erheben - "da es auf EU-Ebene keinen Konsens gibt", sagt Finanzminister Löger. Die Regierung hat schon errechnet, wie viel Geld reinkommen kann.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/steuerreform-oesterreich-will-digitalsteuer-einfuehren-1.4269531
Steuerreform - Österreich will Digitalsteuer bis 2020
00/12/2018
Es gab mal eine Ziegelei in Schafstädt, ein Eisenwerk und eine Zuckerfabrik. Da das Örtchen im heutigen Sachsen-Anhalt Ende des 19. Jahrhunderts eine wahre Blüte erlebte, wurde eine Bahntrasse in die nächstgrößeren Orte gebaut. Doch vom Aufschwung ist wenig geblieben. Die großen Werke sind längst dicht. 2014 wurde der Ort dann so richtig abgekoppelt. Die Bahn legte die Strecke nach Bad Lauchstädt still. Als letztmals ein Zug abfuhr, begleitete die Musikkapelle das mit Weihnachtsliedern. Die Lokalzeitung zitierte einen resignierenden Ortsbürgermeister: "Auf der Titanic haben sie auch bis zum Schluss gespielt." So wie Schafstädt geht es vielen Orten in Deutschland. Eine neue Zahl der Bundesregierung macht nun das ganze Ausmaß der Streckenstilllegungen bei der Deutschen Bahn seit der Bahnreform vor 25 Jahren klar. Mehr als 5400 Kilometer ihres deutschen Streckennetzes fielen demnach weg. So geht es aus einer Antwort von Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. In Betrieb sind heute noch gut 33 000 Kilometer. Damit hat die Bahn etwa 16 Prozent ihres gesamten Netzes aufgegeben. Es gehe um den Zusammenhalt und die Daseinsvorsorge in der Gesellschaft Im Bundestag herrscht angesichts des ausgedünnten Netzes und der aktuellen Probleme der Bahn Verärgerung. "In den vergangenen Jahren wurden mehrere Tausend Kilometer Bahnstrecke stillgelegt", klagt die Grünen-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Annalena Baerbock und fordert von der Bahn einen neuen Kurs. Ländliche Regionen würden abgehängt. "Dies ist ein Sterben auf Raten", warnt die Politikerin. Es gehe um eine Frage von Zusammenhalt und Daseinsvorsorge in der Gesellschaft. Anstatt in teure Prestige- und Logistikprojekte auf anderen Kontinenten zu investieren, müsse die Deutsche Bahn wieder stärker ihr Kerngeschäft, Menschen in Deutschland günstig und verlässlich von A nach B zu transportieren, ausbauen, fordert Baerbock. Die Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren zwar verlangsamt. Doch bis vor zehn Jahren legte die Bahn den Zahlen zufolge jährlich meist Hunderte Kilometer unrentabler Strecken still. Nach Angaben der Bahn sind vor allem ländliche Regionen betroffen. Im Konzern rechnet man gegen, dass auch neue Trassen entstanden sind, etwa neue Hochgeschwindigkeitsteile der Strecke Berlin - München oder die Schnelltrasse Köln - Frankfurt. Insgesamt kamen rund 1100 Kilometer hinzu. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die neuen Strecken meist bereits bestehende ersetzten - also keine neuen Verbindungen schufen. Die Bahn steht derzeit wegen immer größerer Verspätungen und ihrer wackligen wirtschaftlichen Lage in der Kritik. Fachleute wie der Berliner Verkehrsexperte Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft sehen einen Zusammenhang. Denn mit den Streckenstilllegungen seien auch Ausweichtrassen aus Kostengründen eliminiert worden. So verliere die Bahn Flexibilität. Der Konzern verteidigt sich Die Bahn weist dagegen auf wirtschaftliche Nöte hin. Eine Streckenstilllegung werde nur in Betracht gezogen, wenn es zu wenige Fahrgäste oder Gütertransport gebe, sagte ein Sprecher am Freitag. Das Aus für eine Trasse genehmige das zuständige Eisenbahnbundesamt zudem nur, wenn kein anderer Wettbewerber bereit sei, die Strecke weiter zu betreiben. Die Bahn verweist auch auf die Politik. Die Länder hätten als Besteller von Nahverkehrsleistungen entscheidenden Einfluss darauf, ob eine Strecke stillgelegt wird, erklärt der Konzern. Auch die Grünen mahnen eine andere Politik an. Entscheidend für die Verkehrswende sei ein breit gefächertes Schienennetz in allen Regionen Deutschlands. "Wir wollen deshalb Schienennetze im Fern- und Nahverkehr in Stadt und Land ausbauen", kündigt Baerbock an. Dann werde die Bahn auch besser genutzt.
Neue Zahlen zeigen, wie drastisch der Konzern sein Schienennetz seit der großen Bahnreform zusammengestrichen hat. Politiker fordern einen Kurswechsel.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-bahn-deutsche-bahn-hat-16-prozent-ihrer-schienen-stillgelegt-1.4268351
Deutsche Bahn hat 16 Prozent ihrer Schienen stillgelegt
00/12/2018
Der Verhaltensökonom Marc Oliver Rieger erklärt, wie man mit Aktien für das Alter vorsorgen kann, welche Fehler viele machen und warum man nicht ständig sein Depot einsehen sollte. Sich um die eigene Geldanlage zu kümmern, ist bei vielen in etwa so beliebt wie ein Besuch beim Zahnarzt. Dabei ist es gar nicht so schwer. Laut Professor Marc Oliver Rieger von der Universität Trier müssten Verbraucher nur mal ihre Ängste vor der Börse ablegen.
Der Verhaltensökonom Marc Oliver Rieger erklärt, wie man mit Aktien für das Alter vorsorgen kann, welche Fehler viele machen und warum man nicht ständig sein Depot einsehen sollte.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/geldanlage-aktien-etf-1.4268331
"Anlegerverhalten: ""Man muss die Nerven behalten"""
00/12/2018
Es ist jetzt eine Dekade vergangen, seit die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins zum ersten Mal bei ein Prozent fixiert hat. Das macht deutlich, wie lange sich Anleger nun schon mit der Niedrigzinsphase abfinden müssen. Für Sparer war in den vergangenen Jahren wenig bis nichts zu holen. An den Aktienmärkten gab es hingegen satte Renditen, doch viele Deutsche trauen sich an diese Wertpapiere nicht heran. Einige können es sich auch schlicht nicht leisten, weil ihr Einkommen gerade so zum Leben reicht. Diese Menschen parken etwaige Überschüsse vornehmlich auf dem Giro- oder Festgeldkonto - trotz der schlechten Konditionen. Die hiesigen Banken bieten aktuell für eine Festgeldanlage über zehn Jahre im Durchschnitt gerade mal ein Prozent Rendite, berichtet die FMH-Finanzberatung. Das ist ein Minusgeschäft, denn die Inflationsrate in Deutschland lag im Dezember bei 1,7 Prozent. Über fünf Jahre beträgt der durchschnittliche Zinssatz auf Sparkonten 0,6 Prozent, auf zwei Jahre sind es 0,3 Prozent, Tagesgeld rentiert mit 0,1 Prozent. Ob das auch mal wieder mehr wird? EZB-Präsident Mario Draghi legt sich nicht fest. Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt der Euro-Zone im vergangenen Jahr gewachsen. Doch der Schwung nimmt ab. Die Konjunkturaussichten für Europa werden zunehmend schlechter, Italien steht vor einer Rezession, und auch in Deutschland geht das Wachstum zurück. Draghi sagte, dass der Leitzins noch mindestens "über den Sommer 2019 hinweg" unverändert bleibe. Vielleicht aber auch länger. Im Wirtschaftsabschwung möchte die EZB den Leitzins möglicherweise noch länger bei null Prozent halten, um der Wirtschaft weiter Impulse zu geben. Die Zinswende könnte damit noch lange auf sich warten lassen. Kaum jemand geht davon aus, dass der Leitzins in naher Zukunft wieder ein "normales Niveau" von drei oder vier erreichen könnte. Selbst wenn die EZB im Herbst 2019 den Leitzins von null auf 0,25 und 0,5 Prozent erhöhen sollte, käme es nicht sofort und automatisch zu einer Erhöhung der Sparzinsen. So einfach läuft das nicht, denn die Banken leiden unter dem Strafzins, den ihnen die EZB seit Jahren aufbürdet. Die Kreditinstitute im Euro-Raum müssen auf Einlagen bei der EZB 0,4 Prozent bezahlen. Da bleibt kaum Raum für Zinsen an Sparer. Das billige Geld führt zu steigenden Immobilienpreisen Erst wenn die EZB den Strafzins auf Einlagen abschaffen würde, könnte sich der Wind drehen. Auf der anderen Seite sind die Immobilienfinanzierungen in Deutschland weiter sehr günstig. Die Hypothekendarlehen mit einer Laufzeit von zehn Jahren kosten im Durchschnitt 1,35 Prozent, so die FMH-Finanzberatung. Unterdessen hat die EZB einen ersten Schritt getan, ihre lockere Geldpolitik ein wenig zu straffen. Die Währungshüter beschlossen auf ihrer Sitzung im Dezember, den Ankauf neuer Anleihen zum Jahresende einzustellen, nachdem die Notenbank seit 2015 insgesamt 2,6 Billionen Euro ins Finanzsystem gepumpt hatte. Die Entscheidung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EZB mit der Geldversorgung auch weiter großzügig umgehen wird. Die Notenbank möchte bis auf Weiteres auslaufende Anleihen ersetzen. Wenn eine Bundesanleihe nach Ende der Laufzeit zurückbezahlt wird, steckt die Zentralbank das eingenommene Geld in einen neuen Schuldschein. Somit bleibt die EZB auch in den kommenden Jahren der wichtigste Akteur am Anleihenmarkt. Die anhaltende Nachfrage durch die Währungshüter hält die langfristigen Zinsen niedrig, was gut für Investitionen, doch schlecht für die Sparer ist. So umstritten die lockere Geldpolitik auch sein mag, sie hat dazu beigetragen, dass Europas Wirtschaft aus der Krise kam. Doch nun warnt Draghi vor Protektionismus, der heiklen Lage in den Schwellenländern und zunehmender Unruhe an den Finanzmärkten. An den Börsen sind die Aktienkurse zuletzt gesunken - trotz der Nullzinspolitik durch die Notenbank, die Anleger förmlich dazu zwang, in Aktien zu investieren. Das billige Geld entfaltet gefährliche Nebenwirkungen. Die billigen Kredite haben dazu geführt, dass die Immobilienpreise in Deutschland massiv gestiegen sind. In den Ballungszentren sind Mieten und Grundstückspreise für Normalverdiener unerschwinglich geworden. Die Notenbank steckt in der Bredouille: Was könnte die EZB überhaupt noch machen, wenn Europa schneller als erwartet in eine neue Wirtschaftskrise rutscht und der Leitzins dann immer noch bei null Prozent liegt? Im Ernstfall könnte und müsste die EZB dann wohl das Anleihekaufprogramm reaktivieren. Die Zinswende wäre dann endgültig vom Tisch.
Viele Experten gehen davon aus, dass die Zinsen für Sparanlagen noch lange nicht steigen werden. Warum eine Normalisierung der Geldpolitik nicht in Sicht ist.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/geldpolitik-wenig-bis-nichts-1.4268337
Geldpolitik - Wenig bis nichts
00/12/2018
"Kleinvieh macht auch Mist", heißt es im Volksmund. Beim Ansparen für das Eigenheim, den Ruhestand oder schlicht zur Rücklagenbildung gilt das allemal. Um im Vermögensaufbau zu reüssieren, ist großes Expertentum gar nicht nötig. "Anleger tun sich noch immer schwer, ihr Geld selbständig anzulegen. Dabei gibt es kein großes Geheimnis, Sparen ist tatsächlich einfacher als viele denken und kann trotzdem sehr ertragreich sein", sagt Yann Stoffel, Projektleiter bei der Stiftung Warentest. Vorausgesetzt man nutzt die Gunst der Stunde. Denn wer so früh wie möglich mit dem Sparen keiner Beträge beginnt, hat am Ende die Nase vorn. Den Erfolg bringt nicht primär die Höhe der Sparrate, sondern Dank des Zinseszins-Effektes die Laufzeit. Dieser bewirkt, dass Geldvermögen exponentiell umso mehr steigt, je länger Anleger ansparen. "Wer mit 35 Jahren einen Sparplan anfängt und 30 Jahre lang monatlich 25 Euro in einen breit streuenden Aktien-ETF einzahlt, kann mit 65 Jahren auf knapp 30 000 Euro hoffen, wenn die Aktienmärkte sich durchschnittlich und wie bisher entwickeln", sagt Stoffel. Wer zehn Jahre später einen Sparplan anfängt, der müsse schon rund 58 Euro monatlich sparen, wenn er mit 65 Jahren auf den gleichen Betrag kommen will. Detailansicht öffnen Illustration: Stefan Dimitrov Sparpläne sind das passende Instrument für die schmale Geldbörse, dabei werden jeden Monat kontinuierlich feste Raten eingezahlt. Die Sparpläne bieten einigen Banken und Sparkassen bereits ab 25 Euro an, was einen Start in jungen Jahren möglich macht. Zur Auswahl stehen unterschiedliche Arten, Anleger können nach persönlicher Vorliebe zwischen Bank-, Tagesgeld-, Festgeld- und Fonds-Sparplänen mit unterschiedlichen Renditen wählen. Angesichts der niedrigen Zinsen der vergangenen Jahre konnten Tagesgeld-Sparpläne die Inflation kaum ausgleichen. Für mehr Rendite ist eine gute Mischung aus Risiko und Sicherheit zu empfehlen: Aktienfonds in Kombination mit Tages- und Festgeld oder Rentenfonds. Für langfristig orientierte Sparer ist eine 50:50-Aufteilung geeignet, der vorab definierte Sparbetrag von zum Beispiel 50 Euro monatlich wird über zwei Daueraufträge vom Girokonto zu je 25 Euro in zwei Sparpläne - ETF und Tagesgeldkonto - angelegt. Für das Aktieninvestment unbedingt die kostengünstigste und renditestärkste Alternative, also ETF, wählen. Sonst wird die Rendite durch hohe Gebühren verringert. Diese Aktienfonds sollten aus Kostengründen nicht über die Börse gekauft werden, sondern über den Sparplan bei der Bank. Direktbanken, Onlinebroker und einige wenige Traditionshäuser haben sie im Angebot. Rechenbeispiel Kleine Beträge, über 20 Jahre in Sparplänen angelegt, hätten von 1997 bis 2017 ein kleines Vermögen eingebracht. In ihrem Anlagemodell "Pantoffel-Sparpläne" vergleicht die Zeitschrift Finanztest Sparplan-Renditen. Eine 200-Euro-Rate, die Anleger zu je 100 Euro in den MSCI World ETF und in einen Tagesgeld-Sparplan investiert hätten, lieferte attraktive Gewinne, trotz Finanzkrise. Nach 20 Jahren wurden aus 48 000 Euro Einzahlungen 78 210 Euro. Das sind 4,6 Prozent Rendite jährlich. Adaptiert auf eine 50-Euro-Rate läge das (auf zwei Sparplänen zu 25 Euro) investierte Geld bei 12 000 Euro, die Endsumme bei 19 553 Euro. Wer auf Aktien verzichtete und einen Tagesgeld-Sparplan mit 50-Euro-Rate bedient hätte, könnte über 14 070 Euro verfügen. Das entspricht einem durchschnittlichen Zins von 1,55 Prozent. Im Berechnungszeitraum gab es im Schnitt aber deutlich höhere Zinsen für Tagesgeld als aktuell. Christiane Kaiser-Neubauer Einen Teil der Eigenmittel, etwa drei bis fünf Nettomonatsgehälter, sollten Sparer vor Fixierung der Sparpläne als Reserve für den Urlaub oder Neuanschaffungen kurzfristig verfügbar halten. Reine Aktien-Sparpläne steigern die Chance auf attraktive Renditen, gehen jedoch zulasten der Sicherheit. "Wer in Aktien anlegt, muss auch gut mit dem höheren Risiko leben können, sonst macht es keinen Sinn. Bekommt man beim Crash kalte Füße und steigt mit Verlust aus, hat man wahrscheinlich die falsche Anlage gewählt", sagt Finanzexperte Stoffel. Mit Rückschlägen muss man am Aktienmarkt rechnen, Gelassenheit und Durchhaltevermögen lohnt sich jedoch. Denn Marktschwankungen gleichen sich langfristig häufig aus, wie die Vergangenheit zeigt. Gerade junge Sparer mit jahrzehntelangem Anlagehorizont können einen höheren Aktien-Anteil, etwa 75 Prozent, wagen und bei sich abzeichnendem Kapitalbedarf nach Jahren auf Festgeld umschichten. Schließlich ist die maximale Flexibilität das große Plus von Sparplänen. Die Anleger haben keine fixe Verpflichtung, denn die monatliche Rate kann jederzeit ausgesetzt, reduziert oder erhöht werden, auch eine vorzeitige Entnahme ist möglich. Ausnahme sind staatlich geförderte Riester-Sparpläne. Hier kann man auf die angesparte Summe erst im Alter zugreifen. "Ein Sparplan entwickelt seine Wirkung langfristig. Modethemen und einzelne Länder- oder Branchenfonds empfehlen wir dafür nicht. Besser sind günstige Aktienfonds, die breit gestreut investieren, wie zum Beispiel ETF", sagt Stoffel. Trotz langfristiger Orientierung sollten Privatanleger regelmäßig prüfen, ob die Mischung ihres Portfolios, also zum Beispiel die Kombination aus Tagesgeld und Aktien-ETF, noch ihrer Risikoeinstellung entspricht. Denn über die Jahre kann sich etwa eine 50:50-Relation zu 30:70 verschieben. "Bei kleinen Spar-Beträgen dauert es natürlich entsprechend länger, bis sich zum Beispiel ein zu hoher Aktienanteil im Marktcrash auch in Euro und Cent wirklich schmerzhaft auswirkt", sagt Stoffel. Ist eine Anpassung der Gewichtung erforderlich, kann die Sparrate zwischen den Produkten rasch umgeleitet und die monatliche gesamte Zahlung etwa auf das Tagesgeldkonto eingezahlt werden. Entscheidend für den Erfolg ist bei Anlegern von Aktien-Plänen der Zeitpunkt des Exits. Am Ende sollte man flexibel bleiben, um nicht in einer schlechten Börsenphase auszusteigen. Wer einen fixen Endpunkt, etwa die Auszahlung zum Rentenstart, definiert hat, sollte daher gute Entwicklungen vorab nutzen, um sein Kapital auf Tages- oder Festgeld umzuschichten.
Auch mit kleinen Beträgen kann für das Alter vorgesorgt werden, zum Beispiel mit Sparplänen. Umso eher man beginnt, desto besser.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sparplaene-fruehstart-1.4268349
Süddeutsche.de
00/12/2018
Der Hedgefonds-Manager James Cordier zeigte kürzlich in einem Youtube-Video eine sehr menschliche Seite. Mit Tränen in den Augen entschuldigte er sich bei seinen Anlegern, deren Millionen er am Rohstoffmarkt verspekuliert hatte. Statt das Geld der Kunden zu vermehren, war er mit seiner Strategie gescheitert. 150 Millionen Dollar seiner Kundengelder waren ausradiert. Die "katastrophalen Verluste", von denen er sprach, dürften die meisten seiner Anleger überrascht haben, denn auf seiner Internetseite Optionsellers.com warb Cordier damit, den Fonds konservativ verwalten zu wollen. Wenn es kein Betrug war, der zum Bankrott führte, dann deutet alles auf menschliches Versagen hin, eine Komponente, die bei treuhänderischer Geldanlage nie ganz auszuschließen ist. Kein Finanzmarktexperte ist vor Fehleinschätzungen gefeit, zumal rationale Entscheidungen immer auch durch Emotionen beeinflusst werden können. Diese Tatsache machen sich die Anbieter von Robo Advisors zunutze, einer neu geschaffenen Variante der Geldanlage aus dem Kosmos der Finanztechnologie, kurz Fintech. Robo Advisors ermöglichen den Kunden automatisierte Investitionen in digital zusammengestellte Portfolios aus Indexfonds, Aktien, Anleihen, Rohstoffen oder Immobilien. Es sind Algorithmen, nicht Menschen, die dem Anleger vorschlagen, wie dessen persönliches Anlageprofil am besten auszusehen hat. Die gleichen Algorithmen helfen später dabei, Bausteine des Portfolios abzustoßen und andere neu einzusetzen. Diese Prozesse gehen ganz ohne menschliche Emotionen über die Bühne, also ohne jene unberechenbare Gefahrenquelle, die den Kunden von Optionsellers.com wohl zum Verhängnis wurde. Doch auch die computergesteuerte Geldanlage ist damit noch kein Kinderspiel. "Wenn Anfänger nach dem Zufallsprinzip einen Robo aussuchen, könnten sie bei einem landen, der ein Portfolio anbietet, das man eher dann auswählen sollte, wenn man etwas Erfahrung mit Geldanlage hat", sagt Yann Stoffel vom Verbrauchermagazin Finanztest. Nicht alle Angebote auf dem Markt spucken nämlich bei gleicher Dateneingabe die gleiche Risikoklasse aus. Das ist legitim, und deshalb ist es hilfreich, Fachkenntnis mitzubringen, um diese Differenzen als Anleger zu erkennen. Auch die Kosten variieren von Anbieter zu Anbieter, und nicht immer wird sofort klar, wie hoch die jährlichen Gebühren tatsächlich sind. Die europäischen Finanzmarktrichtlinien verlangen, dass diese Kosten ausgewiesen werden müssen. Doch manche Anbieter machen erst später im Anmeldeprozess deutlich, dass auf die vermeintlichen All-in-Entgelte noch die Fondskosten oben drauf kommen. Bei Gebühren von fast einem Prozent, wie sie vereinzelt dann noch zusätzlich veranschlagt werden, geht dem Kunden eine weitere große Portion seiner Rendite verloren. Finanztest vergab die Note sehr gut für Gebühren in Höhe von weniger als 0,6 Prozentpunkte im Jahr und die Note mangelhaft bei über 1,27 Prozent. Der Grund ist einfach: "Die Robos machen nichts, was ein Kundenberater bei der Bank nicht auch machen könnte, aber sie machen alles standardisiert und automatisiert, und dafür sollten sie billiger sein", sagt Stoffel. Anbieter argumentieren, dass höherer Personalaufwand durch eine engmaschige Kontrolle von Wertentwicklungen einzelner Titel zwar höhere Kosten nach sich ziehen. Allerdings könnte der Kunde davon durch eine möglicherweise höhere Rendite profitieren. Finanztest bewertete diesen Aspekt bewusst nicht, sondern überlässt es dem Anleger, wie viel Gebühr ihm ein umfassender Service wert ist. Die Algorithmen schützen nicht vor Beratungsfehlern Gegen starke, unvorhergesehene Kursschwankungen sind Robo Advisors nicht gefeit. Grundsätzlich aber ist diese Form der Onlineanlage eine gute neue Möglichkeit für Sparer. Kunden überweisen ihr Geld ohnehin nie an den Robo Advisor selbst, sondern an eine Bank, die für den Robo beauftragt wurde, die Gelder und Fonds zu verwalten. Das Geld liegt dann getrennt vom Vermögen der Anbieter bei einer Depotbank und ist zum größten Teil in Fonds investiert. Sogar bei einer Pleite der Fondsgesellschaft wäre es dort vor dem Zugriff eines Insolvenzverwalters geschützt. Dennoch gibt es einen Unterschied, der zumindest bei Finanztest ausschlaggebend dafür war, zuletzt nur 14 Anbieter in Deutschland unter die Lupe zu nehmen, nämlich nur jene, die bei der Finanzaufsicht Bafin als Finanzportfolioverwalter registriert sind. Viele andere Robos operieren unter Paragraf 34 der Gewerbeordnung, so wie zum Beispiel das Angebot der Sparkasse, Bevestor. Das bedeutet, ihr Tun wird nicht von der Bafin, sondern von den örtlichen Industrie- und Handelskammern überwacht. Das bedeutet aber nicht zwingend ein größeres Risiko für den Kunden. "Mit der Bafin-Aufsicht gehen für den Robo mehr Pflichten einher, und diese Beaufsichtigung stellt einen höheren Schutz für Verbraucher dar", sagt Projektleiter Stoffel von Finanztest. Zudem könne die Anpassung der Portfolios nur dann eigenständig vom Robo durchgeführt werden, wenn dieser als Finanzportfolioverwalter zugelassen ist. Anleger, die unsicher sind, welchen Robo Advisor sie wählen sollen und möglicherweise noch nicht allzu viel Erfahrung mit den Kapitalmärkten gesammelt haben, sollten mehrere Angebote vergleichen und prüfen, wie gut sie sich bei den einzelnen Anbietern informiert fühlen. Die Kernfrage lautet immer: Was erfährt man über die Anlage und ihr Portfolio, ehe persönliche Daten samt Kontonummer oder Geldtransfers gefordert werden. Manche Robos tun sich noch schwer, die Fragen im Rahmen der Entwicklung des Risikoprofils eines Kunden ausreichend präzise zu formulieren. Die Frage nach den höchsten Verlusten des potenziellen Neukunden kann etwa völlig unterschiedlich beantwortet werden. Beispielsweise könnte der Kunde darunter verstehen, wie viel Geld er insgesamt verloren hat in seiner bisherigen Anleger-Historie oder nur innerhalb eines bestimmten Anlagezeitraums. Versteht ein Kunde die Frage jedoch falsch, entwirft der Algorithmus das bestmögliche Portfolio aufgrund fehlerhafter Angaben. Gerade Neulinge können dann unbewusst Entscheidungen treffen, die ihrem Naturell widersprechen.
Robo Advisors bieten eine digitale, automatisierte Geldanlage. Das kann viele Vorteile haben. Die Kosten können jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Ein Vergleich verschiedener Anbieter lohnt sich.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/robo-advisor-ohne-emotion-1.4268345
Süddeutsche.de
00/12/2018
Es sind schwierige Zeiten für Sparer. Neben der seit Jahren anhaltenden Niedrigzinsphase erschwert die steigende Inflation den Vermögensaufbau. Einige Banken und Sparkassen verrechnen ihren Kunden für zu hohe Guthaben sogar Negativzinsen. Unter diesen Bedingungen ist eine sorgsame Anlageplanung ratsam. Der Jahreswechsel ist laut Honorarberaterin Stefanie Kühn ein guter Zeitpunkt, "um die gesamte Geldanlage genau unter die Lupe zu nehmen und zu überprüfen, ob die Verteilung noch mit der persönlichen Planung und Risikobereitschaft übereinstimmt". Egal, ob der Vermögensaufbau für die Rente oder eine größere Investition das erklärte Ziel ist, das Gros der heimischen Privatanleger möchte mit sicheren Anlageformen maximale Rendite erzielen. So liegen rund 90 Prozent der mehr als fünfeinhalb Billionen Euro Geldvermögen auf Sparbüchern, Tages- und Festgeldkonten. Doch eine optimale, ausgewogene Geldanlage sieht anders aus. "Wer die Inflation schlagen, also mehr Kaufkraft in der Tasche haben will, kommt am Aktienmarkt nicht vorbei", sagt Sara Zinnecker, Geldanlage-Expertin beim Verbraucherportal Finanztip. Gute Tagesgeldangebote bei sicheren Banken bringen aktuell nur 0,3 Prozent Zinsen, für Festgeld auf drei Jahre gibt es maximal 1,2 Prozent im Jahr. Statt Rendite steht ein Kapitalverlust unterm Strich. Die Dauer der Anlage ist entscheidend für den Erfolg Ein ausgewogenes Portfolio besteht laut Zinnecker aus 30 Prozent Tagesgeld, 30 Prozent Festgeld und 40 Prozent Aktien, konkret weltweiten Aktien-Indexfonds. Diese sogenannten ETF (Exchange Traded Funds) bilden einen kompletten Index wie den Dax oder Stoxx Europe ab. Sparer können somit von der Entwicklung eines Aktienmarktes profitieren. Klarer Vorteil gegenüber teuren gemanagten Fonds sind die Kosten. Denn Gebühren für die aktive Fondsverwaltung sparen sich Anleger bei ETF. Mit einem Depot bei einer Direktbank entfällt in der Regel auch die Depotgebühr als weiterer Renditefresser. ETF sind Sondervermögen und bieten Anlegern somit Kapitalschutz im Insolvenzfall der Fondsgesellschaft. Entscheidend für den Erfolg ist ein langer Anlagehorizont, weshalb nur der Geldbetrag investiert werden sollte, auf den man mehr als zehn, 15 Jahre lang gut verzichten kann. Alternativ können ETF-Sparpläne mit 25 Euro monatlich bereits in jungen Jahren begonnen werden. "Es gilt der Spruch: Hin und her macht Taschen leer. Wer zu oft umschichtet, hat höhere Kosten und kann wertvolle Rendite verschenken", sagt Kühn. Die eigene Altersvorsorge sei nicht zur Spekulation geeignet. Um ihr Risiko zu minimieren, ist bei Sparern die Streuung ihres Kapitals auf verschiedenen Märkten beliebt. "Ein normaler Anleger muss nicht in fünf verschiedene Fonds investieren, um alle Märkte abzudecken. Besser die Geldanlage einfach halten und einen weltweit ausgerichteten Aktien-ETF auswählen", sagt Zinnecker. Aktiv gemanagte Fonds, Immobilienfonds und komplexe Finanzprodukte sind hingegen zu teuer oder bergen ein zu großes Anlagerisiko. Durchaus lohnen kann sich dank Steuervorteil und Kinderzulagen die staatlich geförderte Riester- und Rürup-Vorsorge für Sparer, die noch mehr als 15 Jahre bis zur Rente haben. Doch Vorsicht vor der Kostenfalle ist geboten. Hilfreiche Basis für den Gebührenvergleich sind die Produktinformationsblätter. Vor einem Aktieninvestment sollten Sparer, die auf ausgewogene Geldanlage setzen, im ersten Schritt für kurz- und mittelfristige Anschaffungen sowie als Notfallreserve Fest- und Tagesgeldkonten in der Höhe von drei bis fünf Nettogehältern befüllen. Bei Festgeld raten Experten zur Stückelung nach unterschiedlichen Laufzeiten von einem bis zu drei oder fünf Jahren, um sich maximale Flexibilität zu erhalten. "Die Festgeldtreppe ist ein sehr einfaches Modell, das jeder selbständig umsetzen kann. Durch die Staffelung müssen Sparer jedes Jahr zur Neuanlage lediglich einen Zinssatz vergleichen", sagt Kühn. Der Dreiklang aus Tagesgeld, Festgeld und Aktien gilt unabhängig von Alter und Vermögenssituation der Anleger. Dieses Portfolio können Berufseinsteiger mit kleinen Beträgen über Sparpläne aufbauen und über Jahre anpassen sowie Personen mit höheren Vermögen durch Stückelung eines Gesamtbetrags wählen. Wer hingegen kurz vor der Rente steht und bislang nicht in Aktien investiert hat, sollte nicht damit beginnen. Die Gefahr eines Verlustes von Teilen des über Jahrzehnte angesparten Kapitals ist zu groß. Besonders unter gut situierten Anlegern hat die Unsicherheit der Finanzkrise die Nachfrage nach Gold angekurbelt. Aus Renditegesichtspunkten lohnt sich das Edelmetall jedoch nicht. "Eine Anlage in ein weltweites Aktienportfolio hätte Anlegern seit 1975 im Durchschnitt pro Jahr etwa die doppelte Rendite eingebracht", sagt Zinnecker. Sie rät maximal zu einer zehnprozentigen Beimischung.
Wer über Länder und Branchen hinweg investiert, kann auch in Zeiten niedriger Zinsen sein Geld vermehren.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/portfoliocheck-die-risiken-breit-streuen-1.4268347
Portfoliocheck - Die Risiken breit streuen
00/12/2018
Privatanleger können heute nahezu ihr ganzes Vermögen nach ethischen Kriterien investieren. Und das, ohne auf ein ausgewogenes Portfolio und Renditechancen verzichten zu müssen. Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und verantwortungsbewusst agierende Unternehmen sind für immer mehr Anleger wichtige Punkte bei der Geldanlage. Wer das umsetzen will, kann mit unterschiedlichen Anlageklassen nachhaltig investieren. Im Vordergrund des Interesses ethisch orientierter Anleger stehen jedoch Fonds, die in Aktien und Anleihen investieren. Nachhaltigkeit ist dabei im breiten Produktangebot jedoch nur ein Oberbegriff. "Man sollte sich genau ansehen, wie, in welchem Umfang und in welcher Tiefe ein Fonds das letztlich umsetzt", sagt Professor Timo Busch von der Universität Hamburg. Das aber könne schnell sehr komplex werden. Er rät, sich an den Informationen und Prüfstandards des Forums Nachhaltige Geldanlagen (FNG) zu orientieren. An mehr als hundert Fonds wurde bereits das FNG-Siegel vergeben, das die Einhaltung gewisser Mindeststandards mit Blick auf Arbeits- und Menschenrechte, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung bescheinigt. Unabhängig von diesem Siegel informiert das FNG auf seiner Webseite zudem über die Nachhaltigkeitsprofile zahlreicher Fonds. Aktienfonds eignen sich dabei für den Teil der Anlagemittel, die für einen längeren Zeitraum verfügbar sind. "Wir raten, über einen Zeitraum von fünf Jahren zu investieren und mehr als nur einen nachhaltigen Fonds ins Portfolio zu nehmen", sagt Hilde Jenssen, Expertin bei der Kapitalanlagegesellschaft Nordea. Die meisten aktienorientierten Produkte investieren weltweit in große Unternehmen und bieten so eine breite Streuung nach Ländern, Branchen und Technologien. Regionale Schwerpunkte setzen Anleger durch eine gezielte Fondsauswahl etwa für nachhaltige Investitionen in Europa, Nordamerika oder in Schwellenländern. Wer will, kann dem Portfolio auf spezifische Themen fokussierte Fonds beimischen, die dann aber mit höheren Risiken behaftet sind. "Allerdings gibt es heute auch Bereiche, bei denen es aufgrund der wachsenden Nachfrage um relativ sichere Zukunftstechnologien wie etwa solche für mehr Energieeffizienz oder die Gewinnung und Reinhaltung von Wasser geht", sagt Busch. Anleger sollten sich aber bewusst sein, dass sie für das Erzielen einer attraktiven Wertentwicklung möglicherweise einen langen Atem benötigen. Als Alternative zu aktiven Fonds können Anleger auch passive Strategien wählen. Börsengehandelte Fonds (ETF) bilden heute zahlreiche nachhaltig ausgerichtete Indizes ab und sind wegen des relativ geringen Managementaufwands deutlich kostengünstiger als aktive Fonds. "Das Interesse an nachhaltigen ETF ist seit dem Abgasskandal in der Autoindustrie noch einmal deutlich gestiegen", sagt Dag Rodewald, ETF-Experte bei UBS. Staatsanleihen sind heikel wegen der Rüstungsindustrie Dabei geht es Anlegern sowohl um den Umweltaspekt als auch um eine verantwortungsvolle Unternehmensführung. Indizes wie die internationalen Börsenbarometer von MSCI gibt es heute in Varianten, die ethische, soziale sowie ökologische Kriterien berücksichtigen. "Anleger können so schon mit wenigen ETF geografisch ein Kernportfolio für die europäischen und globalen Aktienmärkte aufbauen", sagt Rodewald. Auch wer in festverzinsliche Wertpapiere nachhaltig investieren will, findet dafür ETF-Lösungen. "Das größte Angebot gibt es im Bereich der Unternehmensanleihen, wobei ein Index bei der Auswahl vergleichbare Kriterien wie bei Aktien anwenden kann", sagt Rodewald. Nicht ganz so leicht ist es bei Staatsanleihen. Schwerlich wird sich etwa ein Land finden, das nichts mit Rüstung zu tun hat. Doch es gibt Alternativen. Die UBS hat einen ETF aufgelegt, der ein Investment in Anleihen internationaler Entwicklungsbanken ermöglicht. Das sind - bei entsprechend starker Bonität - staatlich getragene Institute wie die zur Weltbank gehörende Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die in Schwellenländer-Projekte mit gesellschaftlichem und ökologischem Nutzen investieren. Rodewald verweist darauf, dass es auch für Rohstoffe, die für viele Anleger zu einem ausgewogenen Portfolio gehören, in gewisser Weise nachhaltige ETF-Lösungen gibt. Sie investieren beispielsweise in breite Rohstoffindizes, die Lebendvieh und Agrarrohstoffe ausklammern. Sind passive Fonds also die ideale Lösung? Nicht in jeder Hinsicht. Nach dem Skandal um manipulierte Abgaswerte etwa konnten aktive Fondsmanager betroffene Autokonzerne schnell aus ihrem Portfolio streichen. "Ein ETF dagegen kann darauf nur relativ träge reagieren, weil der ihm zugrunde liegende Index frühestens erst am Quartalsende umgestellt wird", sagt Wissenschaftler Busch. Nicht minder wichtig: Viele aktive Fonds stehen in einem engagierten Gedankenaustausch mit den Unternehmen, in die sie investieren. "Sie können dabei letztlich auch ihre Stimmrechte im Sinne einer von ihnen geforderten Umsetzung von Nachhaltigkeitskriterien geltend machen", so der Wissenschaftler. Ein ETF hat diese Möglichkeit nicht. Durch den regelmäßigen Dialog trauen sich Fondsmanager zudem zu, positive Veränderungen zu bewirken. "Sie können in der konstruktiven Auseinandersetzung bei der Berücksichtigung von ESG-Kriterien sowohl Verbesserungsmöglichkeiten für Unternehmen erkennen als auch Risiken mindern", sagt Expertin Jenssen. Eine Studie der Universität Hamburg kommt nach der Analyse von mehr als 2000 akademischen Einzelstudien zu dem Schluss, dass tendenziell eher ein positiver Zusammenhang zwischen nachhaltiger Anlage und Rendite besteht. Für nicht wenige Bundesbürger ist das allerdings offenbar gar nicht so entscheidend. Oft genug stecken sie ihr Geld trotz niedriger Marktzinsen immer noch in Sparpläne oder parken es aus Gründen der Liquidität auf dem Girokonto. Anbieter, die mit ethischem Anspruch werben, halten da immerhin ein moralisches Trostpflaster bereit. Institute wie die Frankfurter Direktbank Triodos oder die GLS Bank in Bochum versprechen, das ihnen anvertrautes Geld nur für Kredite an nachhaltige Unternehmen oder Projekte zu verwenden.
Wer sein Vermögen nachhaltig investieren möchte, muss keineswegs auf Rendite verzichten. Voraussetzung ist, dass das Geld möglichst breit investiert wird.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nachhaltige-geldanlage-gutes-tun-und-geld-verdienen-1.4268342
Nachhaltige Geldanlage - Gutes tun und Geld verdienen
00/12/2018
Viele Arbeitnehmer lassen sich jedes Jahr Geldgeschenke entgehen. Zwischen 6,65 und 40 Euro im Monat betragen die vermögenswirksamen Leistungen (VL), die der Arbeitgeber bezahlt. Laut Ralf Scherfling von der Verbraucherzentrale NRW gibt es keinen Grund, diese freiwillige oder nach Tarifvertrag geregelte Sparzulage nicht zu nutzen. "Arbeitnehmer sollten diesen Zuschuss nicht verfallen lassen", rät der Verbraucherschützer. Zahlt der Betrieb vermögenswirksame Leistungen, müssen Arbeitnehmer nur einen geeigneten Sparvertrag finden und diesen dem Arbeitgeber vorlegen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Gängig sind Bausparverträge, Banksparpläne und Aktienfondssparpläne. Arbeitnehmer können das Geld aber auch für die Tilgung eines Baukredits oder die betriebliche Altersvorsorge nutzen. Viele verzichten auf die Geldgeschenke Welche Sparform vorteilhaft ist, hängt von der persönlichen Situation und Risikoneigung ab und davon, ob man zusätzlich noch staatliche Zuschüsse erhält. Die staatliche Arbeitnehmer-Sparzulage gibt es nur bei Bausparverträgen oder Tilgungen von Darlehen für selbst genutzte Immobilien sowie Wertpapiersparplänen. Die Zulage muss bei der Steuererklärung beantragt werden. Entscheidend ist hier das zu versteuernde Einkommen, also was vom Bruttolohn nach Abzug von Werbungskosten, Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen, Freibeträgen und Kinderfreibeträgen übrig bleibt. Bis zu 43 Euro pro Jahr zahlt der Staat für Bausparer und Immobilienbesitzer, die einen Baukredit abbezahlen, wenn das zu versteuernde Einkommen unter 17 900 Euro (35 800 Euro bei Paaren) liegt. Bei Aktienfondssparplänen gibt es pro Jahr sogar bis zu 80 Euro zusätzlich, wenn das zu versteuernde Einkommen unter 20 000 Euro (40 000 Euro bei Paaren) rangiert. Bei Aktienfondssparplänen sind Verluste möglich, sie bieten aber auch die besten Renditechancen. Wer dabei noch die staatlichen Prämien nutzen kann, legt das Geld am besten auf einen breit gestreuten, kostengünstigen ETF, etwa mit dem Index MSCI World. ETF steht für Exchange Traded Funds. Diese börsengehandelten Fonds sind kostengünstiger als aktiv gemanagte Fonds. ETF-Sparpläne gibt es schon ab einer Mindestsparrate von 25 Euro monatlich. Verschiedene Angebote zu vergleichen, lohnt sich. Nach sieben Jahren - so lange läuft der Vertrag - kann man das Geld auch einfach liegenlassen. Das ist oft ratsam, insbesondere, wenn die Aktienkurse gefallen sind. Anleger sollten dann warten können, bis sich die Kurse erholen. Muss das Geld nach sieben Jahren verfügbar sein, ist vielleicht eine sichere Sparform geeigneter. Arbeitnehmer sollten sich auch fragen, ob sie die Mindest-ETF-Sparrate von 25 Euro aufstocken können, wenn etwa der Arbeitgeber nur sieben Euro an VL zahlt. Auch Bausparen geht oft erst ab einem bestimmten Mindestbetrag. "Für diejenigen, die keinen Anspruch auf staatliche Förderung haben und auch nicht bauen und geringe Leistungen auch nicht selbst aufstocken wollen, kann auch ein ganz einfacher Bank-Sparplan sinnvoll sein", sagt Scherfling. Selbst wenn der Arbeitgeber nur 6,65 Euro zahle und man selbst nichts beisteuere, rentiere sich der Aufwand. "Nach sieben Jahren bekommt man dann knapp 500 Euro ausbezahlt. Warum soll man darauf verzichten?", fragt Scherfling. Auch beim VL-Banksparplan lohnt sich ein Vergleich. So können etwa Sparer bei der Degussa Bank nach sieben Jahren eine Rendite von knapp 2,75 Prozent bekommen. Und was ist bei Arbeitslosigkeit oder einem Arbeitgeberwechsel? Arbeitnehmer sollten sich bei der Bank vorab vergewissern, dass sie dann die Raten auch selbst bezahlen können.
Vermögenswirksame Leistungen gibt es zusätzlich zum Gehalt. Viele nutzen die Prämien aber nicht.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vermoegenswirksame-leistungen-sparen-mit-dem-chef-1.4268335
Sparen mit dem Chef
00/12/2018
Es ist das beliebte Prinzip, zwei Fliegen mit nur einer Klappe zu schlagen: Man legt Geld auf die hohe Kante, erhält unter Umständen noch etwas Geld dazu und tut damit sogar noch etwas Gutes. Immer mehr Anbieter nachhaltiger Geldanlagen werben damit, dass ihre Anlagen neben den konventionellen Parametern wie Rendite und Risiko auch nachhaltige Aspekte berücksichtigen. Vermögensverwalter ziehen die Kriterien Umwelt (Environment), Soziales (Social) und eine gute Unternehmensführung (Governance) als Maßstab heran, um zu beurteilen, wie nachhaltig ein Unternehmen ist. Daraus ergibt sich der Dreiklang der sogenannten ESG-Kriterien. Nachhaltig ist ein Betrieb also zum Beispiel dann, wenn er nur wenig CO₂ ausstößt, sich für seine Mitarbeiter oder soziale Projekte stark macht und eine transparente Unternehmenskultur pflegt. Außerdem werden Firmen, die in bestimmten Bereichen tätig sind, oft prinzipiell ausgeschlossen. Dazu gehören die Rüstungsindustrie, Kernenergie, Glückspiel oder Unternehmen, die Arbeits- und Menschenrechte verletzen. Der Markt für nachhaltige Geldanlagen ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, obgleich er absolut gesehen immer noch einen sehr kleinen Teil des gesamten Finanzmarkts ausmacht. Zur Umsetzung der Klimaziele sind jährlich 180 Milliarden Euro nötig Auch bei der EU-Kommission in Brüssel steht das Thema Nachhaltigkeit aktuell ganz oben auf der Liste. Nach dem Pariser Klimaschutzabkommen 2015 und der Verabschiedung der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung muss sich Brüssel ordentlich bewegen, um die unterzeichneten Ziele auch alle zu erreichen. Dafür will die Politik nun auch das Finanzwesen mit ins Boot nehmen und prescht mit Gesetzentwürfen vor. Dabei geht es nicht nur um den Kampf für eine grüne und soziale Welt an allen Fronten, sondern auch darum, das nötige Geld zur Umsetzung der Klimaziele in die Kassen zu bekommen. 180 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen seien dazu jährlich notwendig, sagte Vizekommissionschef Valdis Dombrovskis, zuständig für den Finanzmarkt. Dabei soll der im März dieses Jahres vorgestellte "EU-Aktionsplan für nachhaltiges Finanzwesen" helfen. Die ersten konkreten Maßnahmen umfassen mehrere Eckpunkte, die darauf abzielen, "mehr Investitionen in nachhaltige Tätigkeiten" zu lenken. Eine Expertengruppe hatte die Vorschläge im vergangenen Jahr ausgearbeitet. So sollen die Vermögensverwalter ihre Kunden in Sachen Nachhaltigkeit besser beraten und deren jeweilige "Nachhaltigkeitspräferenzen" stärker berücksichtigen. Das bedeutet, dass Berater künftig nicht nur fragen müssten, ob ein Kunde sein Geld nachhaltig anlegen möchte. Sie sollen darüber hinaus individuell darauf eingehen, was der Kunde unter Nachhaltigkeit versteht. Damit erhofft sich die EU, ein "breiteres Spektrum von Anlegern" für die grünen Anlagen gewinnen zu können. Noch ist dieser Plan nicht beschlossen, doch die darin vorgeschlagenen Maßnahmen rufen schon jetzt kein begeistertes Echo bei Experten, Banken und Versicherern des Finanzmarkts hervor. Viele fühlen sich von der Politik bevormundet. "Man sollte die Leute nicht dazu zwingen", sagt Duy Ton, zuständig für das nachhaltige Portfoliogeschäft bei Union Investment. Die Investmentgesellschaft gehört zu den größten Anbietern von Fonds mit Nachhaltigkeitsbezug in Deutschland. Für den Fondsmanager Ton sind Vorschriften und Gesetze "nicht der Königsweg". Denn wenn ein Anleger nicht von Nachhaltigkeit überzeugt sei, finde er immer Schlupflöcher. "Die Initiative muss vom Anleger selbst ausgehen", so Duy Ton. Nicht nur Banken und Investmentfirmen müssten sich bei ihrer Beratung an die EU-Vorschriften halten, auch Unternehmen wären gezwungen, sich entsprechend ihrer Nachhaltigkeitsbilanz anzupassen. Das könnte manche Betriebe dazu verleiten, "Grünfärberei" zu betreiben - so nennt man es, wenn Bilanzen "grüner" präsentiert werden, als sie es eigentlich sind. Henry Schäfer, Professor an der Universität Stuttgart, attestiert Brüssel bei seinem Finanzplan auch "viel Blauäugigkeit". Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit dem nachhaltigen Finanzmarkt. Einerseits, so der Experte, gebe es gar nicht so viele Anlagemöglichkeiten, wie nötig wären, um den Markt entsprechend der Vorstellungen der EU wachsen zu lassen. Und selbst wenn diese geschaffen würden, müssten sie erst einmal nachgefragt werden. Ob diese Rechnung nur mittels intensiverer Beratung aufgeht - Schäfer ist da skeptisch. Zwar belegen Umfragen, dass die Deutschen ihr Geld durchaus nachhaltig anlegen möchten, doch "Privatanleger sind schon in normalen Anlagefragen überfordert und mit Nachhaltigkeit erst recht", sagt der Wirtschaftsprofessor. Der größte Knackpunkt der politischen Überlegungen ist aber ein ganz anderer: Die Kommission möchte eine einheitliche Klassifikation entwickeln, um die Nachhaltigkeit einzelner Fonds besser bewerten zu können. Dazu muss sie in einem ersten Schritt allerdings definieren, was Nachhaltigkeit überhaupt bedeutet - und zwar allgemeingültig. In Frankreich gilt die Atomkraft als umweltschonend Eine Mammutaufgabe, vor der die Beteiligten des Finanzmarkts bisher zurückgeschreckt sind, denn ein einheitliches Verständnis des Begriffs gibt es nicht. Momentan bestimmt jeder Vermögensverwalter selbst, was er unter nachhaltigem Investment versteht - das macht es für den Anleger denkbar unübersichtlich. Wie komplex eine einheitliche europäische Taxonomie wäre, zeigt sich am Beispiel Atomkraft: In Deutschland gehören wirtschaftliche Tätigkeiten im Bereich Kernenergie zu den sogenannten Ausschlusskriterien, die eine Investition im Sinne der Nachhaltigkeit ausschließen. In Frankreich hingegen gilt die Atomkraft wegen ihres geringen CO₂-Ausstoßes als nachhaltig. Eine Expertengruppe will der EU dabei helfen, "Schritt für Schritt" festzulegen, welche Tätigkeiten als nachhaltig gelten. Daran sollen sich sowohl Investoren als auch Unternehmen orientieren. Aus der Taxonomie will die EU in einem weiteren Schritt auch ein gesetzliches Qualitätssiegel für Nachhaltigkeit entwickeln - vergleichbar mit dem europäischen Biosiegel für Erzeugnisse aus ökologischem Anbau. Solche Nachhaltigkeitssiegel gibt es auf dem Finanzmarkt schon in großer Zahl, allerdings stehen bisher immer private Organisationen dahinter. So verleiht das Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG) seit 2015 jährlich das FNG-Siegel, das Mindeststandards für nachhaltige Investmentfonds definiert. Auch das Onlinemagazin ecoreporter.de, das sich auf den grünen Anlagemarkt spezialisiert hat, vergibt ein Siegel. Dessen Kriterien gehen allerdings weit über einen Mindeststandard hinaus. Wie streng die Regelungen für einen gesetzlichen Stempel sein würden, ist offen. Branchenkenner wie Henry Schäfer schätzen, dass sich die EU-Partner auf einen Kompromiss mit Mindestanforderungen einigen werden. Anders kommt man wohl auf keinen gemeinsamen Nenner. Sind die Standards zu streng, gäbe es außerdem weniger Anlagemöglichkeiten und damit wieder weniger Anleger. Zu lasch sollten die Vorschriften aber auch nicht sein - sonst komme schnell wieder der Verdacht der "Grünfärberei" auf, so Schäfer. Und das will die EU unter allen Umständen vermeiden.
Die EU-Kommission will nachhaltige Finanzprodukte fördern und dafür ein Siegel einführen. Doch die Probleme fangen schon bei den einfachsten Definitionen an.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nachhaltige-investments-fuer-eine-gruene-und-soziale-welt-1.4268340
Für eine grüne und soziale Welt
00/12/2018
Die großen Lebensmittel­hersteller wie Nestlé und Unilever haben es verlernt, die Wünsche ihrer Kunden zu respektieren. Damit schaden sie sich vor allem selbst. Nicht jede gewonnene Schlacht ist ein Grund zum Feiern. So mancher vermeintliche Etappensieg entpuppt sich am Ende als Niederlage. Ein gutes Beispiel dafür ist die Lebensmittelampel, die auf den ersten Blick signalisieren sollte, ob das Müsli im Regal oder die Tiefkühlpizza in der Gefriertheke zu viel Zucker, Salz oder Fett enthält - für Verbraucher eigentlich eine feine Sache. Trotzdem haben sich viele Hersteller, allen voran große Konzerne wie Nestlé und Unilever, mit aller Macht dagegen gewehrt. Mehr als eine Milliarde Euro steckte die Branche in den Kampf gegen die Ampel und verhinderte sie so. Inzwischen ist klar, dass sich die Lebensmittelindustrie damit mehr geschadet als genutzt hat. Weil sie Umsatzeinbrüche fürchtete, hat sie den Wunsch ihrer Kunden einfach ignoriert - und das nicht nur bei der Kennzeichnung. Auch der Biotrend und der Wunsch nach mehr gesunden Nahrungsmitteln wurden unterschätzt. Dabei achten deutsche Verbraucher heute viel stärker darauf, was sie essen, als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisch oder vegan. Der Preis spielt für viele Konsumenten nach wie vor eine wichtige Rolle, aber er ist nicht mehr das allein entscheidende Kriterium. Die Geiz-ist-geil-Phase der frühen 2000er-Jahre ist definitiv vorbei. Auch die Marktführer, der Schweizer Nestlé-Konzern und das britisch-niederländische Unternehmen Unilever, haben diese Entwicklung verschlafen. Das lässt sich auch am Umsatz mit Lebensmitteln ablesen, der kaum noch wächst. Die Riesen sind dabei, ihre Vormachtstellung im Ladenregal zu verlieren, auch weil ihnen die Innovationskraft abhandengekommen ist. Der Kampf um Verkaufsfläche im Handel wird fast ausschließlich über den Preis geführt - und nicht mehr mit neuen Produkten, die bei der Kundschaft so gut ankommen, dass die darauf nicht mehr verzichten möchte. Ernährung ist lebenswichtig und Vertrauenssache Die großen Hersteller erfahren derzeit schmerzhaft, dass ihre Produkte austauschbar geworden sind. 2018 war auch das Jahr der Boykotte. Der Händler Edeka verbannte zeitweise einige Nestlé-Artikel aus den Regalen, weil man sich nicht über den Preis einig wurde, in der Folge traf dies auch die großen Markenhersteller Mars, Red Bull und Heineken. Kaufland listete kurz vor Weihnachten das gesamte Unilever-Sortiment aus. All dies sind Zeichen eines Wandels, von dem Verbraucher durchaus profitieren. In Lücken, welche die Großen nicht füllen können oder wollen, stoßen andere. Das Angebot wird vielfältiger. So finden Konsumenten in einem gut sortierten Bio-Supermarkt inzwischen alles, was sie brauchen. Labels großer Lebensmittelkonzerne sind hier dagegen selten oder gar nicht zu finden. Kein Wunder also, dass die Ökobranche ein Wachstum vorweisen kann, von dem die Vorstände von Nestlé und Co. nur träumen können. Die großen Konzerne haben es schlicht verlernt, ihren Kunden zuzuhören. Eine Stärke, die einst auch Nestlé auszeichnete. Der Konzern verdankt seinen Aufstieg zum weltweit größten Nahrungsmittelproduzenten einer bahnbrechenden Erfindung. Mit dem ersten löslichen Milchpulver für Säuglinge erleichterte der Apotheker Henri Nestlé das Leben vieler Mütter und ihrer Kinder. Doch das liegt nun gut 150 Jahre zurück. Künftiger Erfolg lässt sich nur sichern, wenn sich traditionsreiche Unternehmen auf ihre alten Werte besinnen und die Bedürfnisse ihrer Kunden respektieren. Sie müssen an erster Stelle stehen. Ernährung ist lebenswichtig und Vertrauenssache. Kaum jemand kann heute alles selbst anbauen und zubereiten. Diese Verantwortung müssen die Hersteller ernst nehmen, Verbraucher haben einen Anspruch darauf.
Die großen Lebensmittel­hersteller wie Nestlé und Unilever haben es verlernt, die Wünsche ihrer Kunden zu respektieren. Damit schaden sie sich vor allem selbst.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kommentar-der-kunde-kommt-zuerst-1.4268135
Kommentar - Der Kunde kommt zuerst
00/12/2018
Die Furcht vor einem länger dauernden Regierungsstillstand in den USA hat den US-Dollar am Freitag weiter belastet und im Gegenzug den Euro unterstützt. Der Kurs der Gemeinschaftswährung stieg bis auf 1,1476 Dollar. Der teilweise Stillstand der Regierungsgeschäfte in den USA wird sich wohl bis ins neue Jahr hinziehen. Nur wenige Minuten nach Sitzungsbeginn vertagte sich der US-Kongress in Washington am Donnerstag (Ortszeit) auf kommende Woche, wie US-Medien berichteten. Nur wenige Abgeordnete seien nach den Weihnachtsferien überhaupt in Washington erschienen. US-Medien gehen nun davon aus, dass frühestens Anfang Januar eine Einigung über den Haushalt und die Grenzsicherung zu Mexiko gefunden und damit der "Shutdown" beendet werden könne. Kurz vor dem Ende eines turbulenten Jahres zogen die Ölpreise am Freitag wieder etwas an. Nordseeöl der Sorte Brent verteuerte sich zeitweise um 3,1 Prozent auf 53,80 Dollar je Barre. US-Leichtöl WTI kostete mit 45,80 Dollar 2,7 Prozent mehr. Händler sprachen von einer technischen Bewegung, nachdem die Preise in den vergangenen Wochen stark unter Druck geraten waren. An den fundamentalen Gründen für die Preisentwicklung habe sich in den vergangenen Tagen nichts geändert. Zum einen hat der Handelsstreit zwischen China und den USA seit Beginn des vierten Quartals Spekulationen auf eine Konjunkturabschwächung mit sinkender Nachfrage nach Öl ausgelöst. Zum anderen fördern die USA wieder mehr Öl und könnten 2019 trotz Förderkürzungen der Opec und ihrer Partner für ein Überangebot sorgen. Wegen der Turbulenzen an den weltweiten Aktienmärkten und der Furcht vor weiteren Schwankungen im neuen Jahr haben sich Anleger am letzten Handelstag 2018 verstärkt mit Gold eingedeckt. Der Preis für das Edelmetall kletterte um bis zu 0,6 Prozent auf ein Sechs-Monats-Hoch von 1282 Dollar je Feinunze (31,1 Gramm).
Aus Furcht vor starken Kursschwankungen im kommenden Jahr gehen die Anleger am letzen Handelstag auf Nummer sicher und setzen auf Gold.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/rohstoffe-und-devisen-oel-und-goldpreis-steigen-1.4268095
Rohstoffe und Devisen - Öl- und Goldpreis steigen
00/12/2018
Das heimliche Wirtschaftswort des Jahres 2018 lautet "mitnehmen", gerne gebraucht in Verbindung mit dem Wort "Menschen". Schon im Januar sagte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, CDU, er wolle der Digitalisierung mehr Raum geben, "damit wir die Menschen mitnehmen". Im Februar wies Siemens-Chef Joe Kaeser darauf hin, die Digitalisierung führe zu einer "großen Umverteilung in der Gesellschaft, und dabei müssen wir die Menschen mitnehmen". Henkel-Chef Hans Van Bylen fügte im Juli hinzu, er wolle "auf dem Weg in die digitale Arbeitswelt alle Menschen mitnehmen". Und dann kündigte die Bayerische Oberlandbahn im August auch noch an, ab 2020 ihre 20 Jahre alten Züge zu ersetzen, dann könne man "mehr Menschen mitnehmen". Vom US-Fahrdienst Uber redet man schon gar nicht mehr, der hat sowieso das ganze Jahr über nichts anderes zu tun, als ständig und überall "Menschen mitzunehmen". Ist es da ein Wunder, dass jetzt, am Ende des Jahres, so viele Menschen mitgenommen aussehen? Vermutlich kommt das daher, dass hinter der Floskel das Bild eines unselbständigen, entmündigten Menschen zum Vorschein kommt. Wer mitgenommen werden muss, bewegt sich nicht aus eigenem Antrieb, sei es, weil er grundsätzlich unbeweglich ist, sei es, weil es ihm am Fahrzeug mangelt. Wenn ein Manager also sagt: "Wir wollen die Menschen mitnehmen", dann sagt er zwischen den Zeilen dazu: "weil von selbst bewegen sie sich ja nicht". Er bezichtigt seine Mitarbeiter der Passivität. Ganz absurd wird es, wenn Führungskräfte ihre Mitarbeiter dorthin mitnehmen, wo sie selbst gar nicht hingehen, dann zum Beispiel, wenn es zu Umstrukturierungen und Stellenabbau kommt. Bei näherem Hinschauen zeigt sich, dass das heimliche Wort des Jahres 2018 ein freundlich daherkommendes Unwort ist. Es wäre ein guter Vorsatz im neuen Jahr für alle mitnehmenden Vorgesetzten, sich darum zu kümmern, dass sich ihre Mitarbeiter aus freien Stücken bewegen - und sie dann einfach mal dort zu lassen, wo sie sind.
"Die Menschen mitnehmen" ist das heimliche Wirtschaftswort des Jahres 2018. Bei näherem Hinschauen entpuppt es sich als Unwort.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zwischen-den-zahlen-bitte-nicht-mitnehmen-1.4268362
Zwischen den Zahlen - Bitte nicht mitnehmen
00/12/2018
Der Neujahrstag ist Japans höchster Feiertag, historisch hat an diesem Tag jeder seinen Geburtstag begangen. Individuelle Geburtstagsfeiern gab es nicht. An diesem Tag, bis 1873 der erste Tag des Mondkalenders wie in China, wurden alle Japaner ein Jahr älter. Heute feiert Japan am 1. Januar das neue Jahr. Die Familien treffen sich zum Osechi-Riyori, einem traditionellen Festessen, das vor allem schön aussieht. Es wird vorab zubereitet, damit an Neujahr niemand arbeiten muss. Viele dieser Gerichte haben eine symbolische Bedeutung: Herings-Rogen, japanisch "Kazunoko", steht für den Kinderwunsch. "Kazu" bedeutet "Zahl, zahlreiche, und "ko" steht für "Kinder". Für die - heute meist wenigen - Kinder ist der Neujahrstag Zahltag. Von den Großeltern, Tanten, Onkeln und Bekannten erhalten sie "weiße Briefumschläge", in denen Bargeld steckt. Da kommen leicht umgerechnet 200 bis 300 Euro zusammen. Weiße Umschläge schenkt man in Japan auch einem Brautpaar und der Trauerfamilie zur Beerdigung. Zu Neujahr und zur Hochzeit müssen die Geldscheine neu sein. Oder wenigstens so aussehen. Zur Beerdigung hingegen dürfen es keine neuen Scheine sein. Das würde bedeuten, man begrüße den Weggang des Verstorbenen als Neuanfang. Auch in Korea und Südostasien wird traditionell Geld in Briefumschlägen verschenkt. Der Brauch stammt aus China, wo er seit mehr als 2000 Jahren überliefert ist. Nur steckt das Geld, und zwar ein runder Betrag, dort in einem "Hong-bao", einem "roten Päckchen". Rot ist die Farbe des Glücks. Zum chinesischen Neujahr, 2019 am 5. Februar, müssen die erwachsenen Verwandten, besonders die unverheirateten, jedem Kind der Familie ein Hong-bao zustecken. Geld in roten Umschlägen schenken die Chinesen auch zur Hochzeit, zur Geburt oder zum Studienabschluss. Die Großmutter gibt ihrem Enkel einen Hong-bao, wenn sie ihn länger nicht gesehen hat. Besucht der Schwiegersohn, der in einer anderen Stadt lebt, seine Schwiegereltern, dann überreicht er ihnen je einen roten Umschlag. Bevor er abreist, erhält auch er einen Hong-bao, in dem womöglich der gleiche Betrag steckt, den er den Schwiegereltern geschenkt hat. In Südchina schenken sich die Trauernden zur Beerdigung selten Geld, im Norden schon. Dann allerdings in einem weißen Umschlag, der Farbe der Trauer, und einen ungeraden Betrag. Der Brauch fußt im Konfuzianismus und hält den Familien-Clan oder eine Gemeinschaft durch ein Geben und Nehmen zusammen. Die Lehre verpflichtet die Menschen, zum Gemeinwohl der Gruppe beizutragen. Mit den Geldgeschenken tun sie das auch symbolisch. Zugleich müssen sie ihrer Gruppe jedoch zurückgeben, was sie erhalten haben. Nicht heute, aber irgendwann. Wer einen roten Umschlag erhält, wird damit in die Gemeinschaft eingebunden. Mitglieder westlicher Kulturen halten Hong-bao außerhalb der Familie für Bestechung. Die gibt es mit den roten Umschlägen tatsächlich. Wer einen unangemessen hohen Betrag erhält, muss damit rechnen, dass der Geber eine Gegenleistung erwartet. Weist er das Geldgeschenk jedoch zurück, verlieren beide ihr Gesicht. China bewegt sich rasch vom Bargeld weg. Manche Läden und Restaurants wollen kein Cash mehr. Kunden zahlt mit Wechat, dem chinesischen Pendant von Facebook. Der Taxifahrer raunzt einen an, wenn man kein Wechat-Konto hat. Warum so umständlich? Seit vier Jahren gibt es auf Wechat auch eine Hong-bao-Funktion. Manche Kinder erhalten ihre roten Umschlägen nun elektronisch. Und damit plötzlich keine runden Beträge mehr, sondern zum Beispiel 88,88 Yuan. Die Acht ist eine Glückszahl. Wenn die Symbolik wirklich wichtig sei, für eine Hochzeit etwa, so ein Bekannter, dann sollte es jedoch auch künftig in Form von Bargeld sein. Von elektronischen "weißen Umschlägen" kann Japan, noch immer ein Bargeld-Land, vorerst nur träumen. Andererseits ist die Acht hier auch keine Glückszahl.
Früher feierten die Japaner an Neujahr kollektiv Geburtstag. Heute gibt es ein Festessen - und für Kinder die begehrten weißen Briefkuverts.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/tradition-neujahr-auf-japanisch-1.4268358
Tradition - Neujahr auf japanisch
00/12/2018
Nach sechs Gewinnjahren in Folge, mussten Anleger am deutschen Aktienmarkt 2018 herbe Verluste hinnehmen. Der Dax büßte mehr als 18 Prozent ein und brachte damit das verlustreichste Jahr seit der internationalen Finanzkrise 2008 hinter sich. Der Freitag, der verkürzte letzte Handelstag des Jahres, geriet etwas versöhnlicher. Für den deutschen Leitindex reichte es zu einem Plus von 1,7 Prozent auf 10 559 Punkte. Der Index der mittelgroßen Werte M-Dax stieg um 1,4 Prozent auf 21 588 Zähler. Er büßte in diesem Jahr fast 18 Prozent ein. Einen Tag zuvor war der Dax auf den niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahren gefallen. Bei aller Kursschwäche gab es doch bei einzelnen Aktien für Anleger durchaus einiges zu gewinnen. Im Dax schafften die Papiere der im September erst in den Leitindex aufgerückten Wirecard ein Jahresplus von mehr als 40 Prozent. Der Spezialist für elektronischen Zahlungsverkehr profitierte vom weltweiten Boom beim Online-Shopping. Am Freitag schoben Spekulationen um eine Übernahme die Aktien des Zahlungsabwicklers um 4,3 Prozent an. Händler verwiesen auf ein Interview des Handelsblatts mit dem früheren Aufsichtsratschef von Wirecard, Klaus Rehnig, der an dem Unternehmen beteiligt ist und sagte: "Ich rechne damit, dass bald ein internationaler Konzern kommen wird und Wirecard kaufen will." Die Aktien der Deutschen Bank machten am Freitag mit einem Plus von 3,2 Prozent einen Teil der Verluste vom Donnerstag wett, als sie um 4,2 Prozent auf ein Rekordtief von 6,75 Euro abgerutscht waren. Deutschland größtes Geldhaus hatte 2018 mit vielen Problemen zu kämpfen, was den Aktienkurs um 56,1 Prozent und damit ans Dax-Ende drückte. Ähnlich desaströs sah es auf Jahressicht bei den Aktien der Commerzbank aus, die um knapp 54 Prozent einbrachen. Sie waren das Schlusslicht im M-Dax. Wegen dieser Verluste verlor das seit der Finanzkrise teilverstaatlichte Geldhaus nach 30 Jahren sogar seinen Platz im Dax. Die Favoritenrolle im M-Dax gehört derweil der Medizintechnik: Mit Aufschlägen von bis zu 40 Prozent haben mit Sartorius und Carl Zeiss Meditec zwei Indexneulinge aus dieser Branche ihre Nase klar vorn. An der Wall Street überwogen Kursverluste zum Handelsschluss. Der Dow Jones gab um 0,3 Prozent auf 23 062 Punkte nach.
Der Dax kann am letzten Handelstag des Jahres einen kleinen Teil der jüngsten Verluste wettmachen. Dennoch bleibt 2018 für die Anleger ein unerfreuliches Börsenjahr.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/aktien-letzter-handelstag-endet-versoehnlich-1.4268093
Letzter Handelstag endet versöhnlich
00/12/2018
Es ist kalt an diesem Dezembermorgen in Oberaudorf. Es hat geschneit. Sogar die Schlittenstrecke vom Brünnstein hinab in die Mühlau sei befahrbar, lautet die Auskunft von der Hütte unter dem 1600 Meter hohen Gipfel. Das Aufsteigen wärmt auf, die Wegbeschreibung passt. Der Weg klar gekennzeichnet, ja man kann sagen: Der Berg ist gemacht. Zwei Stunden soll es dauern bis zum Brünnsteinhaus. Die vom Bergführer angeratenen Grödeln mit den Metallzacken für besseren Tritt können im Rucksack bleiben. Dass es so gut bergan geht, liegt vor allem an Christian Berghofer. Bevor der erste große Schneefall kam, hat er Schilder erneuert und Stufen ausgebessert, ein paar dicke Äste, die nach den herbstlichen Stürmen liegen geblieben waren, beseitigt und das Wegenetz rund um "seinen" Berg für den Winter vorbereitet. Berghofer ist Wegereferent beim Deutschen Alpenverein in Rosenheim, bei einer von 356 Sektionen im größten Bergsportverein der Welt mit bald 1,3 Millionen Mitgliedern, den alle nur kurz DAV nennen. Berghofer macht das im Ehrenamt. Gemeinsam mit einem Kollegen kümmert er sich um 400 Kilometer Wanderwege, Pfade und Gipfelstiege rund um den Brünnstein und den Hochries, beides beliebte Ausflugsziele, die einschließlich der Hütten von der Sektion Rosenheim unterhalten werden. "Es muss alles passen, damit Wanderer und Bergsteiger sicher unterwegs sein können", erklärt der 51-Jährige, der im Hauptberuf Hubschrauberpilot ist bei der Bundespolizei. Das rund 30 000 Kilometer große Wegenetz und die insgesamt 322 Hütten des DAV in den Alpen sind so etwas wie "die heiligen Kühe des Alpenvereins", sagt Berghofer. Neben den Mitgliedsbeiträgen sind die Hütten mit 800 000 Übernachtungen im Jahr Einnahmegaranten für den Verein. Er habe das Glück, in früheren Jobs vieles gelernt zu haben, was er in seinem Ehrenamt nun brauchen könne, sagt Berghofer: Wege trockenlegen, Mauern untersetzen, Gerüste bauen, Stufen reparieren. "Die meiste Freizeit verbringe ich mit meiner Frau in den Bergen. Die Alpen, das ist ein Refugium, das uns viel gibt, und das ich erhalten will", erklärt er sein Engagement. Er teilt diesen Enthusiasmus mit mehr als 26 000 ehrenamtlich tätigen Mitgliedern im Alpenverein. Sie arbeiten fast zwei Millionen Stunden pro Jahr für den DAV und bringen dem Verein abzüglich der Kosten eine "Wertschöpfung von fast 28 Millionen Euro", wie sie beim Bundesverband in München ausgerechnet haben. Detailansicht öffnen Überall gilt, was Yvonne Tremml vom Brünnsteinhaus bei Schlechtwetter mit Fotos belegt: Der Ausblick ist unschlagbar. (Foto: Simone Boehringer) "Wieso fragen Sie nach Geld?", sagt die Wirtin. Und zeigt das Gipfelpanorama Diese Freiwilligendienste weiß auch Yvonne Tremml zu schätzen. Mit ihrem Mann Sepp betreibt die 40-jährige Oberaudorferin ganzjährig das Brünnsteinhaus, das dem DAV gehört. Das heißt: Sie zahlt eine "faire Pacht", wie sie sagt, einen monatlich vierstelligen Betrag. Einschließlich der Bettenpauschale vom DAV pro Übernachtungsgast "haben wir schon unser Auskommen", sagt sie. Freilich sei es nicht zu vergleichen mit ihrem vorherigen Job als Tourismuschefin. Und ihr Mann, der jetzt in der Hütte kocht, leitete zuvor den Bauhof in Oberaudorf. "Wieso fragen Sie nach Geld? Schauen Sie doch, wie es hier aussehen kann!" Wirtin Tremml nimmt einen Posterkalender mit Panoramen von der Wand. "Vom Kaisergebirge bis zum Großglockner und Großvenediger können Sie sehen, wenn es das Wetter hergibt." Es seien diese Momente, die ihr und ihrem Mann immer wieder bestätigen, das Richtige getan zu haben, als sie ihre Managerjobs im Tal aufgaben und rauf auf die Hütte zogen. 50, 100, am Wochenende auch mal bis zu 300 Gäste kämen am Tag in das Brünnsteinhaus, sagt Tremml. Bis zu 60 Ausflügler könne sie pro Nacht beherbergen. Auf dem Brünnstein, nur eine Stunde von München entfernt, ist meist viel los. Die bayerische Landeshauptstadt ist Hochburg für den Alpenverein. Allein die beiden größten Sektionen, München und Oberland, haben zusammen etwa 170 000 Mitglieder und Jahresbudgets von etwa zehn Millionen Euro. Ein Volumen, das für mehr reicht als zum Unterhalt der 16 zu den Sektionen gehörenden Hütten. So stemmte die Sektion München vor drei Jahren mithilfe von Fördergeldern, Darlehen und Spenden den 5,5 Millionen Euro teuren Neubau der Höllentalangerhütte auf dem Weg zur Zugspitze. Für 2019/20 ist im Verbund mit mehreren Sektionen ein weiteres Leuchtturmprojekt geplant: der Ausbau des europaweit größten Kletterzentrums in Thalkirchen mit einer weiteren Halle. Bis zu sechs Millionen Euro sind für das Projekt veranschlagt. Die Genehmigung steht allerdings noch aus. Da die Sektionen als regionale Vereine alle einzeln Buch führen, ist es schwer, einen Überblick über alle Bauvorhaben und Aktivitäten des DAV zu bekommen. "Es gibt keine konsolidierte Bilanz", heißt es in der Bundesgeschäftsstelle. "Die Sektionen müssen uns keine Rechenschaft ablegen." Man muss also viele Hundert Einzelberichte durchforsten, um zu erfassen, was dieser Riesenverein so alles auf die Beine stellt. Dass die beiden mitgliederstärksten Sektionen München und Oberland Millionenetats verwalten, überrascht nicht. Aber auch eine mittelgroße Einheit wie etwa die in Rosenheim kommt mit 10 000 Mitgliedern auf Beitragseinnahmen von immerhin 400 000 Euro. So urig sie auch sind, in den Vereinshütten stecken Millionensummen Insgesamt habe der DAV in den vergangenen zehn Jahren allein für Hüttenbaumaßnahmen 103 Millionen Euro ausgegeben, heißt es im Sektions-Magazin Alpinwelt-Extra zur Fertigstellung der Höllentalangerhütte 2016. Seitdem sind weitere Projekte hinzugekommen. Die genehmigte Gesamtbausumme im DAV für 2017 lag laut Jahresbericht bei knapp 15 Millionen Euro. Hinzu kamen knapp neun Millionen Euro für Kletteranlagen, dem zweiten starken und seit Jahren boomenden Bereich. Rund 200 Anlagen sind inzwischen in Betrieb, pro Jahr kommen nach Angaben des DAV etwa zehn neue hinzu. Seit der Jahrtausendwende hat der Boomsport dem Alpenverein 300 000 neue Mitglieder eingebracht, ist dem bundesweiten Mitgliedermagazin Panorama zu entnehmen. Im Gespräch mit Wegereferent Berghofer und Hüttenwirtin Tremml interessieren die Großprojekte nur am Rande. Hier geht es um Einkäufe, Reparaturen und Organisatorisches. Für die Zahlen sind andere zuständig. Zum Beispiel Franz Knarr, der Sektionsvorsitzende. 1,5 Millionen Euro habe sich der DAV Rosenheim die Modernisierung des Brünnsteinhauses in den vergangenen 25 Jahren kosten lassen, rechnet Knarr vor. Weitere zwei Millionen Euro entfielen auf die Hochrieshütte auf dem "Rosenheimer Hausberg", wie sie hier sagen. Sie soll die erste Skihütte der Alpen gewesen sein, erbaut vor dem Ersten Weltkrieg - aber ganz sicher weiß man das nicht. Detailansicht öffnen Der Berg ist bereitet von den Wegewarten und so geht es auch im Schnee gut voran: Aufstieg auf den Brünnstein im morgendlichen Sonnenschein. (Foto: Simone Boehringer) Knarr führt die Geschäfte der Sektion seit 30 Jahren. Die Ehrenamtsstunden seiner Leute rechnet er mit der Bundesgeschäftsstelle ab, "wir bekommen dann Beiträge rückvergütet vom Dachverband", erklärt er. Geld, das er dann wieder in Renovierungen von Hütten und Wegen, in Schulungen und Veranstaltungen für die Mitglieder stecken kann. So funktioniert es, das Stammgeschäft des Alpenvereins, das eigentlich "Zweckbetrieb" heißt in der Buchhaltersprache der Vereine. Es ist das traditionelle und neben den Bereichen Bergsport, Ausbildung und Klettern mehr als nur ein Standbein für den Alpenverein. "Die Hütten sind die wichtigsten Identifikationsflächen für den Verein. Da fließt so viel Herzblut hinein, die Bedeutung kann man wirtschaftlich gar nicht messen", erklärt Olaf Tabor, seit gut sechs Jahren Hauptgeschäftsführer des DAV. Der 47 Jahre alte promovierte Sportwissenschaftler leitet die Bundesgeschäftsstelle in München. Tabor hat sich Zeit genommen, zu Finanzdetails wird er von der Presse nicht oft gefragt, verrät sein Sprecher. Dabei gibt es auch im Bundesverband einiges zu berichten. So laufen die Fäden des DAV derzeit noch in einem wenig repräsentativen, aber funktionalen Gebäude im unspektakulären Stadtteil Untermenzing zusammen. Aber: "Das Wachstum hat dazu geführt, dass wir bald aus den Nähten platzen", sagt Tabor. Etwa 5000 neue Mitglieder stoßen jedes Jahr dazu. Für 2020 ist deshalb ein Umzug geplant, die neue Zentrale entsteht gerade in der Parkstadt Schwabing, nahe der Autobahn-Zufahrt zur A9. Dort saniert der DAV einen Teil des ehemaligen Stammhauses des Langenscheidt-Verlags. Die Kosten für den Umbau: mehr als 20 Millionen Euro. Eine Summe, die man sich ohne die riesige Mitgliederzahl im Hintergrund sicher nicht leisten könnte. Tabor und seine etwa 100 Kollegen in der Bundesgeschäftsstelle - dazu gehören auch das DAV-Museum auf der Münchner Praterinsel und die Bildungsstätte Bad Hindelang im Allgäu - sind hauptberuflich im Alpenverein tätig. Der Bau der neuen Zentrale ist nur eine Baustelle des Vereins, und sicher auch nicht die Wichtigste. Gleichwohl erntet das Projekt mehr Kritik als jede Hüttenrenovierung: "Braucht's das?" hört man in Gesprächen mit Mitgliedern, gelegentlich fällt auch das Wort "Wasserkopf". Mit solchen Reaktionen hatte die Geschäftsführung wohl schon gerechnet. Sie hat sich das Bauvorhaben von der Hauptversammlung des Vereins und damit von allen Delegierten der Sektionen absegnen lassen. Detailansicht öffnen 103 Millionen Euro verbaute der Alpenverein in den vergangenen zehn Jahre in seinen Hütten. Manche wurden neu errichtet, wie die Höllentalangerhütte. (Foto: Bernd Ritschel/mauritius) Der DAV ist überall in Deutschland vertreten, nicht nur nahe den Alpen. Auch im Ruhrgebiet oder Hamburg sitzen große DAV-Sektionen. Viel Zulauf gibt es zuletzt in Ostdeutschland, wo 2017 neue Kletterzentren eröffnet wurden, in Dresden und Weimar. Viele Sektionen haben zudem eine oder auch mehrere DAV-Hütten in der Obhut. Nicht wenige Häuser sind nach der Sektion benannt, die sie erbaut hat - so gibt es etwa ein Hannover und ein Kölner Haus und eine Wormser und eine Potsdamer Hütte. Alles Orte, die man nicht unbedingt mit den Alpen in Verbindung bringt. "Es gibt viele unterschiedliche Motive, die die Menschen zu uns führen", freut sich Geschäftsführer Tabor. Wandern, Skitouren gehen und Klettern gehörten genauso dazu wie der Wunsch nach Ausbildung im Bergsport oder schlicht die Liebe zur Natur. Denn der DAV ist beides, Naturschutzorganisation und Sportverein. Und seit Neuestem ist der DAV auch betreuender Dachverband für eine olympische Sportart: Der Wettbewerb im Klettern wird 2020 zum ersten Mal in Tokio olympisch ausgetragen. "Dafür haben wir zu Januar 2019 den Leistungssport in eine gemeinnützige GmbH ausgegliedert", sagt Tabor. So verlangen es Bundesinnenministerium und Deutscher Olympischer Sportbund, damit die neue Einheit für Leistungssport direkt Fördermittel bekommen kann. Der DAV insgesamt finanziert sich allerdings "zu gut 80 Prozent aus Mitgliedsbeiträgen und ist somit weitgehend unabhängig von Zuschüssen und Spenden", betont Tabor. Rund 26 Millionen Euro aus Mitgliedsbeiträgen bekommt der Bundesverband von den Sektionen für 2018 überwiesen. Ein Gutteil davon fließt als Zuschuss für den Bau von Kletteranlagen oder für Hütten- und Wegesanierungen an die Sektionen zurück. 2019 wird ein großes Jahr für den DAV, ein Jubiläumsjahr. Vor 150 Jahren, 1869, wurde der Verein gegründet, mit dem "Zweck, die Kenntnisse von den Deutschen Alpen zu erweitern und verbreiten, ihre Bereisung zu erleichtern", wie es in der ersten Satzung heißt. Statt Sennerhütten mit Strohlagern und ohne Toiletten entstanden nach und nach komfortablere Herbergen, der Österreichische und der Deutsche Alpenverein taten sich schnell zusammen, um die logistische Herausforderung gemeinsam zu stemmen. Heute gelten die Alpen als ausreichend erschlossen, insgesamt 570 Hütten betreiben der Deutsche, der Österreichische und der Südtiroler Alpenverein. Vielen Mitgliedern geht es nun darum, das Erreichte zu bewahren und eine weitere Kommerzialisierung, wie sie etwa mit der Zusammenlegung verschiedener Skigebiete immer wieder versucht wird, zu verhindern. Im Kleinen hat das Engagement gefruchtet. Auf Druck vieler Umweltschützer, auch aus dem DAV, hat die Bayerische Landesregierung die Pläne für eine Skischaukel am Riedberger Horn im Allgäu gestoppt. Dabei sind sich die Sektionen nicht immer grün bei solchen Fragen, und manche vertreten auch andere Meinungen als das Präsidium oder die Bundesgeschäftsstelle. In der jährlichen Hauptversammlung und in den regionalen Mitgliedertreffen wird oft heftig um den Kurs gestritten. "Auseinandersetzungen zwischen Naturschützern und Bergsportlern sind bei uns so alt wie der Verband selbst", sagt Hauptgeschäftsführer Tabor. "Wir führen diese Debatten mit Leidenschaft und Überzeugung. Im Ergebnis müssen wir unsere Positionen immer wieder nachjustieren, und das ist gut so." Lokale Skivereine zum Beispiel wollen möglichst ortsnah gute Trainingsgebiete, die Gemeinden legen oft mehr Wert auf naturbelassene Naherholungsgebiete. "Die Alpen sind schön", heißt der aktuelle Slogan, "Noch." Es lohne sich dafür zu kämpfen Für 2019 hat sich der DAV entschieden, dem Naturschutz Vorrang zu geben. Gemeinsam mit den Österreichern und den Südtirolern wird gerade eine Kampagne gestartet: "Die Alpen sind schön. Noch. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen", heißt der Slogan, mit dem der DAV die Bevölkerung mobilisieren will. "Projekte zur Zusammenlegung der Skigebiete Sölden und Pitztal, Hochötz und Kühtai sowie eine Skischaukel vom Kaunertal bis ins Langtauferer Tal, mit der erstmals mit Liften der Alpenhauptkamm überwunden würde, sollen problematisiert werden", erklärt ein DAV-Sprecher. Ziel sei es, Ausbauprojekte zu stoppen. Brünnstein-Wirtin Tremml muss sich mit solchen Themen nicht rumschlagen. Viele Wege führen auf ihren Berg, aber kein Lift, der die Ruhe stört. Es ist nachmittags halb vier, der Mittagsansturm an Gästen ist vorbei. Für die Übernachtungsgäste muss sie noch nichts tun. Bleibt noch eine Stunde, um bei Helligkeit einige Arbeiten draußen zu erledigen - und um Schlitten herauszugeben. Die Naturrodelbahn beginnt vor der Hütte, der Weg führt zurück in die Mühlau und dauert etwa 20 Minuten. Und: Die Wolkendecke reißt auf, der Blick, von dem Yvonne - am Berg oberhalb 1000 Meter ist man jetzt per Du - so geschwärmt hatte, ist plötzlich live, der Großglockner gut sichtbar. "Und da fragst noch, warum wir hier bleiben?"
Der DAV ist die größte Bergsportvereinigung der Welt, ein Konzern mit Millionenumsatz. Auf Spurensuche in den Alpen.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/report-stille-macht-am-berg-1.4268137
Report - Stille Macht am Berg
00/12/2018
Noch eine Zeitung im alten Jahr. In der Silvester-Ausgabe, laufende Nummer 300/2018, kommt Peter Wesjohann zu Wort. Er leitet ein Unternehmen, das jeden Tag eine Million Hühner schlachtet. Als Chef des Geflügelfleisch-Herstellers Wiesenhof hat Wesjohann gelernt, mit Widerständen umzugehen, Tierschützer gehören zu seinen schärfsten Kritikern. Im Montagsinterview erklärt er, warum ihm das Schlachten trotz allem kein schlechtes Gewissen bereitet und er hin und wieder gern mal einen Insekten-Burger essen würde. Lecker.
Das neue Jahr beginnt die Redaktion wieder mit einem monothematischen Wirtschaftsteil - diesmal zum Thema Glück.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/was-kommt-die-gluecksausgabe-1.4268141
Was kommt - Die Glücksausgabe
00/12/2018
Jogis Mannen versagten bei der Fußball-WM in Russland kläglich. Das ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass der Fernsehgeräte-Hersteller Loewe aus dem oberfränkischen Kronach dringend neues Geld braucht. Wie wären die Geschäfte wohl gelaufen, wären Yogis Buben nicht schon in der Vorrunde ausgeschieden? "Das schlechte Abschneiden der deutschen Fußballnationalmannschaft hat uns, wie allen Fernsehgeräteherstellern, geschadet", sagt der Sprecher von Loewe. Weil nämlich der "WM-Effekt" ausgeblieben sei, die sonst bei großen Fußballturnieren spürbare Neigung der Fans, sich neue TV-Geräte zu kaufen, um die Spiele ihrer Mannschaft in bestmöglicher Qualität verfolgen zu können. Der Verzicht darauf erklärt allerdings nur zum Teil die Probleme, mit denen Loewe kämpft.
Jogis Mannen versagten bei der Fußball-WM in Russland kläglich. Das ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass der Fernsehgeräte-Hersteller Loewe aus dem oberfränkischen Kronach dringend neues Geld braucht.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/tv-geraetehersteller-loewe-sucht-investoren-1.4268360
TV-Gerätehersteller - Loewe sucht Investoren
00/12/2018
Die Amer-Sports-Gruppe mit seinen weltbekannten Marken soll von Chinesen übernommen werden. Bruno Sälzer steht hinter dem Geschäft und erklärt, was das mit den Winter­spielen in Peking zu tun hat. In der Sportwelt sind diese Marken weltweit bekannt: Salomon und Atomic etwa, die größten Produzenten von Skiern, Peak-Performance und Arcteryx, die teure Funktionsbekleidung für Winter und Sommer herstellen, Wilson, einer der wichtigsten Anbieter von Tennisschlägern. Dazu kommen Namen wie Mavic (Fahrradsport) oder Suunto (Fitnessuhren). Alle Marken gehören zu Amer Sports mit einem Jahresumsatz von 2,7 Milliarden Euro. Nun will ein Konsortium unter Führung des chinesischen Sportartiklers Anta die finnische Gruppe für fast 4,7 Milliarden Euro kaufen, in der vergangenen Woche erst wurde das Angebot veröffentlicht. Es wäre eine der größten Übernahmen durch Investoren aus China in Europa überhaupt. Bruno Sälzer, 61, Chairman von Amer Sports, erklärt, was die Chinesen vorhaben.
Die Amer-Sports-Gruppe mit seinen weltbekannten Marken soll von Chinesen übernommen werden. Bruno Sälzer steht hinter dem Geschäft und erklärt, was das mit den Winter­spielen in Peking zu tun hat.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sporthersteller-winter-ist-wichtiger-als-sommer-1.4268145
"Sporthersteller - ""Winter ist wichtiger als Sommer"""
00/12/2018
Bernd Meyer gebührt der zweifelhafte Ruhm, 2018 als Erster von einer "Jahresendrally" gesprochen zu haben. Es war am 28. September, als der Chefstratege der Bankhauses Berenberg sagte: "Die Jahresendrally im Dax wird holprig, aber sie kommt." Kurz darauf fielen die Aktienkurse rasant, doch vier Wochen später bekräftigte Berenberg-Kollege Henning Gebhardt noch einmal: "Wir glauben an eine Jahresendrally. Die unerwartet starken Turbulenzen seit Oktober müssten in den kommenden Wochen ein Ende finden." Sehr viel weiter daneben kann eine Prognose kaum liegen. Denn auch im November fielen die Kurse an den Börsen deutlich, im Dezember ging es weiter nach unten, bis hin zum traurigen Tiefpunkt um Weihnachten herum, als die New Yorker Börse binnen drei Tagen fast zehn Prozent verlor. Im Vergleich zum Rekordstand im Oktober hat der US-Aktienindex S&P 500 nun 15 Prozent verloren, beim Deutschen Aktienindex liegt das Minus gegenüber dem Rekord Ende Januar sogar bei 21 Prozent, seit Jahresanfang sind es 18 Prozent. Aus der Jahresendrally ist Jahresendjammer geworden, zumal auch der Ausblick vieler Experten auf 2019 wenig optimistisch ausfällt. Zu groß sind die Sorgen um eine abflauende Weltkonjunktur und um politische Risiken. Damit droht ein Börsenboom zu Ende zu gehen, der fast zehn Jahre lang anhielt. Seit März 2009 waren die Aktienkurse fast ununterbrochen gestiegen, der Wert der US-Börse hatte sich in dieser Zeit verfünffacht, der der deutschen mehr als verdreifacht. In dieser Zeit waren Aktien für Investoren stets so etwas wie eine letzte Zuflucht. Wegen der Niedrigzinspolitik der Notenbanken brachten Sparprodukte und Staatsanleihen kaum Rendite. Wenigstens an den Aktienmärkten aber war etwas zu holen. Wenn die nun auch noch ausfallen, sieht es für Investoren trüb aus. Geldanlage? Selten war sie so schwer wie heute. Ulrich Kater ist lange genug im Geschäft, um sich von den Kapitalmärkten nicht mehr überraschen zu lassen. So etwas wie 2018 aber, sagt er, habe es "noch nie gegeben". Seit 14 Jahren leitet Kater die volkswirtschaftliche Abteilung der Deka Bank, wo er und seine Experten ökonomische Analysen, Prognosen und Markteinschätzungen erstellen. Und wo immer sie hinschauten in diesem Jahr, sahen sie mit der Zeit rote Zahlen: Die Aktienmärkte sind zum Jahresende tief im Minus, mit Anleihen von Staaten und Unternehmen ließ sich größtenteils kein Geld verdienen, auch Rohstoffe wie Gold und Öl brachten keine Rendite. Gäbe es einen chinesischen Kapitalmarktkalender, sagt Kater, müsste 2018 das Jahr des Wurms sein: "Es war nämlich überall der Wurm drin." Lange hatte es so ausgesehen, als würde es an den Börsen nur noch nach oben gehen. Als stünden den wichtigsten Aktienindizes in den USA immer weiter neue Rekorde bevor, als gäbe es im neunten Jahr des globalen Börsenaufschwungs stets neue Gründe für weitere Kursgewinne: Der weltweit synchrone Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre trieb die Unternehmensgewinne, steigende Gewinne bedeuteten steigende Aktienkurse, die lockere Geldpolitik der großen Notenbanken machte Aktien zur Anlageklasse fast ohne Alternative. Aber schon zu Beginn dieses Jahres wuchsen dies- und jenseits des Atlantiks die Zweifel an diesem Gesamtbild, die Anleger wurden nervöser, die Kurse schwankten wieder stärker, die Wachstumsaussichten trübten sich ein, die US-Notenbank Fed hob mehrmals die Zinsen an - und gegen Ende des Jahres machte sich Ernüchterung breit. Sind die fetten Jahre an der Börse nun vorerst vorbei? "Die Märkte sind anfällig für Bedenken, dass ein Abschwung nahe bevorsteht", schreiben die Kapitalmarktexperten der weltweit größten Fondsgesellschaft Blackrock in ihrem Jahresausblick. Zwar sehen sie diesen nicht unmittelbar voraus, aber wenn die Zeit der satten Gewinne am Aktienmarkt nun endet, sollte das aus ihrer Sicht niemanden überraschen. Zu viele Risiken haben sich angestaut in den vergangenen Jahren. Da wären zunächst die politischen Verwerfungen: Es bleibt fraglich, wie der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ablaufen soll, welche Folgen er hat für die Wirtschaft des Staatenbundes. Spätestens mit dem Haushaltsstreit zwischen der EU-Kommission und der Regierung in Italien wurde offenbar, wie fragil die konjunkturelle Lage in der Euro-Zone im zehnten Jahr nach Beginn der Finanzkrise immer noch ist. US-Präsident Donald Trump hat mit seiner Steuerreform die Unternehmensgewinne zu einer Zeit aufgepumpt, in der die Wirtschaft der Vereinigten Staaten ohnehin schon zu überhitzen drohte. Und der Handelsstreit mit China geht spätestens im kommenden Jahr in eine neue Runde. Derweil können die Marktteilnehmer nun nicht mehr auf die lockere Geldpolitik vertrauen, die Verschuldung günstig, Anleiherenditen niedrig und Aktien teuer gemacht hat. "Von der Geldpolitik ist 2019 bestenfalls nur eine geringe Unterstützung zu erwarten", heißt es in einer aktuellen Analyse der unabhängigen Münchner Vermögensverwaltung Fiduka. Man muss sogar mit dem Gegenteil rechnen. Als die Fed in der Woche vor Weihnachten zum vierten Mal in diesem Jahr ihren wichtigsten Leitzins anhob - auf 2,5 Prozent -, fielen die Kurse an den Weltbörsen daraufhin deutlich.
Die wichtigsten Aktienmärkte der Welt werden das Jahr wohl im Minus abschließen. 2019 dürfte es so weiter gehen. Selten war es so schwer wie heute, Geld anzulegen.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/boerse-aktien-boom-ende-aera-1.4268133
Börse 2018: Ende der goldenen Ära
00/12/2018
In Bolivien gibt es einen Berg, der Cerro Rico heißt, reicher Hügel. Er ist mit 4800 Metern Höhe mehr als ein Hügel, er überragt die Stadt Potosí, ja er ist eigentlich der Grund für ihre Existenz. Der Cerro Rico ist ausgehöhlt und abgefressen. Es gibt Befürchtungen, dass er bald einstürzen könnte, so tief haben Bergleute Stollen in sein Innerestes getrieben, um Silber und andere Bodenschätze herauszuholen. Viele sind darin gestorben, "dieser Berg frisst Menschen", hat der uruguayische Kolonialismuskritiker Eduardo Galeano mal geschrieben. In Wahrheit ist der reiche Berg ein Symbol der Armut. Solche Orte gibt es viele in Lateinamerika: Minas Gerais in Brasilien, die Ölfelder von Maracaibo in Venezuela, La Oroya in Peru, lange Zeit als dreckigster Ort der Welt bekannt. Aber auch in den Bananenplantagen von Costa Rica kann man sich fühlen wie in einem Bergwerk. Es ist heiß und schmutzig und stickig, wer dort schuftet, lebt nicht lange, allein schon wegen der Giftwolken der Sprühflugzeuge.
Nirgends auf der Welt sind die Einnahmen so ungleich verteilt wie in Lateinamerika. Seit dem Kolonialismus arbeiten die Eliten einem System zu, das den Globus in Gewinner und Verlierer einteilt.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/samstagsessay-kontinent-der-verlierer-1.4268161
Kontinent der Verlierer
00/12/2018
Auf dem Balkan boomt der Bau von Wasserkraftwerken, doch die Nachhaltigkeit der Projekte ist umstritten. Frauen im Dorf Kruščica besetzen eine Brücke und blockieren so die Interessen internationaler Konzerne. Tahira-Mika Tibold gießt Kaffee nach, die anderen Frauen tunken Zuckerwürfel in das starke Getränk und ziehen an ihren Zigaretten. Sie sitzen im Schatten dichter Baumkronen, neben ihnen plätschert die Kruščica. Der glasklare Fluss spendet das Wasser für den Kaffee. Ohne Kaffee schmecken die Zigaretten nicht. Und wer Tag und Nacht einen Fluss bewacht, sommers wie winters, seit mehr als einem Jahr, der braucht viele Zigaretten. "Unser Fluss ist das Wertvollste, was wir haben. Und den wollen sie uns wegnehmen", sagt Tibold. Die 66-Jährige lebt in Kruščica, einem Dorf in Bosnien-Herzegowina, durch das sich der gleichnamige Fluss schlängelt. Tibold trägt eine randlose Brille und hat ihre braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Sie spricht mit ruhiger Stimme und wirkt dabei so souverän, als würde sie schon seit Jahren die Interessen ihres Dorfes vertreten. Dabei hatte sie früher nie etwas mit Politik und Umweltschutz zu tun, sondern hat in der Personalabteilung einer Firma gearbeitet, drei Kinder großgezogen, sich um ihre Enkel gekümmert. Politisch engagiert haben sich im Dorf immer nur die Männer. Bis August 2017, als ein Wasserkraftwerk gebaut werden sollte. Seitdem kämpfen die Frauen von Kruščica um ihren Fluss. Sie haben sich bei den lokalen Wahlen aufstellen lassen und Tibold zu ihrer Sprecherin ernannt. "Wir haben keine Alternative", sagen sie. "Der Fluss ist unsere Trinkwasserquelle und die Lebensgrundlage unseres Dorfes." Energiekonzerne, Politiker und Investoren sehen jedoch einen anderen Wert in Flüssen wie der Kruščica. Sie wollen mit Wasserkraft Strom erzeugen. Im gesamten Balkangebiet werden derzeit etwa 190 neue Wasserkraftwerke gebaut, weitere 2800 sind geplant. Zusätzlich zu etwa 1000 Anlagen, die schon in Betrieb sind. Während in Deutschland fast alle Flüsse reguliert, in Korsette gezwängt, durch Kraftwerke gedämmt sind, fließen zwischen Slowenien und Albanien hingegen die letzten unberührten Wildflüsse Europas. Sie mäandern durch Überschwemmungslandschaften, stürzen Wasserfälle hinab und bieten seltenen und bedrohten Tierarten einen Lebensraum. Kruščica, das ist die Geschichte von Frauen, die sich erhoben haben, um für ihr Dorf zu kämpfen. Kruščica ist aber auch die Bühne für einen Konflikt, wie er an so vielen Orten weltweit ausgetragen wird. Ein Konflikt, dem immer die gleichen Fragen zugrunde liegen. Wie lässt sich der wachsende Bedarf an Ressourcen in der Zukunft decken? Und ist es möglich, dass es dabei zwischen Menschen, Natur und Konzernen gerecht zugeht? Detailansicht öffnen Für die einen Lebensader ihrer Dörfer, für die anderen Stromlieferanten: Um die Flüsse auf dem Balkan tobt ein Streit. (Foto: @theolator) Flüsse, die einfach so vor sich hinfließen. Das ist verschenkte Energie, sagen die Befürworter von Wasserkraft. Die Balkanstaaten müssen ihren steigenden Strombedarf decken. Und sie haben sich verpflichtet, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen. Der Balkan hat das größte, bisher nicht genutzte Potenzial für Wasserkraft in Europa, konstatiert die International Hydropower Association (IHA), ein weltweiter Zusammenschluss von Konzernen der Wasserkraftbranche. In Deutschland dagegen gilt laut Umweltbundesamt das Potenzial als weitestgehend ausgeschöpft. Die IHA propagiert Wasserkraft nicht nur als klimaneutrale Alternative zu fossilen Brennstoffen, sondern auch als gute Ergänzung zu anderen erneuerbaren Energien. Ein großer Vorteil sei, dass man durch Wasserspeicher jederzeit auf Abruf zuverlässig und flexibel Strom erzeugen könne. Wasserkraft, das sei grün, unerschöpflich und klimafreundlich.
Auf dem Balkan boomt der Bau von Wasserkraftwerken, doch die Nachhaltigkeit der Projekte ist umstritten. Frauen im Dorf Kruščica besetzen eine Brücke und blockieren so die Interessen internationaler Konzerne.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bosnien-herzegowina-die-frauen-von-der-bruecke-1.4267945
Bosnien-Herzegowina: Die Frauen von der Brücke
00/12/2018
Für den deutschen Aktienindex lief es in diesem Jahr so schlecht wie zuletzt in der Finanzkrise. Schuld daran sind drei Faktoren. Immerhin blieb der Dax fünfstellig: Am letzten Handelstag des Jahres 2018 ist der Dax auf den Wert von 10 559 Punkten gefallen. Er hat seit Jahresbeginn 18,3 Prozent an Wert verloren, das ist fast ein Fünftel. Einen so großen Verlust gab es seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr. Im Januar hatte der Dax noch ein Rekordhoch von 13 597 Punkten erreicht. Seitdem ging es bergab. Schuld daran sind drei Faktoren: die Weltpolitik, die Zentralbanken - und die Konzerne selbst. Im Dax sind die 30 größten Aktiengesellschaften Deutschlands gelistet. Viele dieser Unternehmen hatten 2018 Probleme. Die Investoren haben ihnen nicht mehr so viele Gewinne zugetraut, daher sind die Kurse gefallen. Größter Verlierer im Dax ist die Deutsche Bank, ihr Wert an der Börse ist 2018 um satte 56 Prozent gefallen. Auch der Kurs des Kunststoffskonzerns Covestro hat sich fast halbiert. Ebenfalls schlecht lief es für den Automobilzulieferer Continental, die Aktien gaben um 46 Prozent nach. Die drei Konzerne sind eher kleinere Dax-Firmen, die den Index nicht mit voller Wucht nach unten ziehen. Doch auch Dax-Schwergewichte wie Bayer machten Ärger. Das Leverkusener Traditionsunternehmen hat 41 Prozent seines Börsenwerts verloren. Dazu kamen die politischen Verwerfungen. Der anstehende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union verunsichert Investoren. Der Haushaltsstreit zwischen der EU-Kommission und der Regierung in Italien offenbarte, wie fragil die konjunkturelle Lage in der Euro-Zone immer noch ist. US-Präsident Donald Trump hat mit seiner Steuerreform die amerikanischen Unternehmensgewinne zu einer Zeit aufgepumpt, in der die Wirtschaft der Vereinigten Staaten ohnehin zu überhitzen drohte. Der Handelsstreit mit China könnte sich jederzeit verschärfen und die Exportnation Deutschland belasten. Anleger konnten außerdem nicht mehr auf die lockere Geldpolitik vertrauen, die Aktien teuer gemacht hat. Die Europäische Zentralbank ist, wie angekündigt, aus dem Aufkaufprogramm für Staatsanleihen ausgestiegen. Und die US-Notenbank Fed hat 2018 vier Mal Mal ihren wichtigsten Leitzins angehoben, auf mittlerweile 2,5 Prozent. Steht der Abschwung bevor? Auch viele andere Finanzprodukte liefen 2018 nicht gut. Mit Anleihen von Staaten und Unternehmen ließ sich größtenteils kein Geld verdienen, auch Rohstoffe wie Gold und Öl brachten keine Rendite. 2019 könnte ebenfalls ein schwieriges Börsenjahr werden. "Die Märkte sind anfällig für Bedenken, dass ein Abschwung nahe bevorsteht", schreiben die Kapitalmarktexperten der weltweit größten Fondsgesellschaft Blackrock in ihrem Jahresausblick. Zwar sehen sie diesen nicht unmittelbar voraus, aber wenn die Zeit der satten Gewinne am Aktienmarkt nun endet, sollte das aus ihrer Sicht niemanden überraschen. Zu viele Risiken haben sich angestaut in den vergangenen Jahren.
Für den deutschen Aktienindex lief es in diesem Jahr so schlecht wie zuletzt in der Finanzkrise. Schuld daran sind drei Faktoren.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/boersen-bilanz-2018-dax-verliert-18-prozent-1.4268344
Börsen-Bilanz 2018: Dax verliert 18 Prozent
00/12/2018
Die Preise in Deutschland steigen so schnell wie seit Jahren nicht mehr. Das hat drastische Folgen für Sparer. Die Inflation ist in Deutschland so hoch wie seit sechs Jahren nicht mehr. Sie wird 2018 bei 1,9 Prozent liegen, teilt das Statistische Bundesamt mit. Viele Sparer ärgern sich über die steigende Inflation. Wer beispielsweise ein Prozent Zinsen bekommt, hat de facto einen Verlust von einem Prozent gemacht, wenn man zwei Prozent Inflation berücksichtigt. Wegen der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank gibt es auf Sparbücher und Tagesgeld schon lange nicht mal mehr ein Prozent Zinsen. Deutsche Sparer haben in den vergangenen Jahren im Durchschnitt aber immer noch positive Renditen erwirtschaftet, hat die Bundesbank berechnet (PDF). Das lag vor allem daran, dass die Aktienkurse jahrelang gestiegen sind. Das hat sich 2018 für viele Anleger allerdings geändert. Der deutsche Leitindex Dax hat in diesem Jahr rund 20 Prozent seines Werts verloren. Zum ersten Mal seit sechs Jahren werden demnach die deutschen Sparer im Mittel Geld verlieren: Jetzt treffen fallende Aktienkurse auf eine steigende Inflation. 2015 lag die Inflation sogar nur bei 0,3 Prozent und damit nah an der sogenannten Deflation, wenn also die Preise sinken, statt zu steigen. Viele Ökonomen gehen davon aus, dass es für eine Volkswirtschaft am besten ist, wenn die Preise leicht steigen. Die EZB zielt mit ihrer Geldpolitik darauf, dass die Inflation in der Währungsunion unter, aber doch nahe bei zwei Prozent liegt. Der Wert soll aber mittelfristig erreicht werden, nicht unbedingt in jedem einzelnen Jahr. Außerdem schaut die EZB auf die gesamte Euro-Zone und nicht auf einzelne Länder. 2,6 Billionen Euro flossen ins Finanzsystem Die EZB hat in den vergangenen Jahren mit beispiellosem Einsatz versucht, die Inflation in der Euro-Zone wieder zu erhöhen. Seit 2015 hat sie rund 2,6 Billionen Euro ins Finanzsystem fließen lassen. Vor Kurzem hat sie beschlossen, ihr Aufkaufprogramm für Staatsanleihen zu beenden. Der Jahreswert für die Inflation in der gesamten Euro-Zone wird erst Anfang Januar vom Statistischen Amt der Europäischen Union veröffentlicht. Auch in der Währungsunion liegt die Inflation seit Monaten bei Werten um die zwei Prozent.
Die Preise in Deutschland steigen so schnell wie seit Jahren nicht mehr. Das hat drastische Folgen für Sparer.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/inflation-deutschland-2018-preise-1.4268231
Inflation steigt auf 1,9 Prozent für das Jahr 2018
00/12/2018
Immerhin: Die Regierung hat es 2018 ein bisschen einfacher gemacht, Kinder und Beruf zu vereinbaren. Aber es muss sich noch viel mehr tun - und auch die Männer müssen sich ändern. Morgens vor der Arbeit schnell die Kinder anziehen und zur Kita bringen. Dann bei der Arbeit Gas geben, um sie rechtzeitig abzuholen und nach Hause zu bringen - wo die Hausarbeit wartet. Ja, Eltern mit zwei Jobs steuern leicht auf die Erschöpfung zu. Will das einer (meist die Mutter) durch Teilzeit verhindern, wird er (sie) beruflich wie finanziell abgehängt. Burn-out oder B-Job: Vor diesem Dilemma stehen immer mehr Paare. Der Politik war das lange egal. Aber vielleicht wird man irgendwann sagen, dass das Jahr 2018 die Wende markierte. Diese Hoffnung gründet etwa darauf, dass die IG Metall die B-Job-Falle angegangen ist. Die Gewerkschaft boxte in der Tarifrunde durch, dass ihre Millionen Mitglieder vorübergehend weniger arbeiten dürfen - und dann in Vollzeit zurückkehren. Das erlaubt, zeitweise wegen der Kinder kürzerzutreten, ohne sich von einer Karriere zu verabschieden. Das Gleiche ermöglicht der Rückkehranspruch in Vollzeit, den die SPD in der Regierung durchsetzte. Und dann ließ die Regierung noch kurz vor Weihnachten Milliarden für die Kita-Einrichtungen springen. Alles zusammen sieht wie eine Wende aus. Andererseits: Hoffnung verkommt zur Illusion, blendet man die Schwächen der aktuellen Projekte aus. Auf das Modell der IG Metall lassen sich nur wenige Beschäftigte ein, weil es eine Männerbranche betrifft. Der eigentliche Erfolg liegt daher mehr in seiner Signalwirkung - aber nur, wenn Tarifabschlüsse in Branchen mit mehr Frauen folgen. Unvollkommen wirkt auch das Rückkehrrecht der Regierung: Auf Wunsch der Wirtschaft wurde es von der Union so durchlöchert, dass die Hälfte der Arbeitnehmerinnen keinen Anspruch darauf hat. Und falls die Bundesländer die Kita-Milliarden nur nutzen, um Gebühren abzuschaffen, die sich Mittelklasse-Eltern eigentlich leisten können - dann fließt kein Geld in mehr Personal, also mehr Qualität. Damit es wirklich zu einer Wende für arbeitende Eltern kommt, muss also noch viel passieren. In Deutschland üben heute zwar oft beide Elternteile einen Beruf aus, aber zwei Drittel der Einkommen kassieren die Männer. Frauen stecken öfter als in anderen Industriestaaten in B-Jobs unter 20 Stunden die Woche fest. Im Alter bekommen sie durchschnittlich halb so viel Rente. Wer angesichts solcher Perspektiven auf Kinder verzichtet, bereut es vielleicht später - und schwächt die Sozialsysteme einer alternden Bevölkerung. Die Gesellschaft tut sich einen Gefallen, wenn sie Eltern nicht vor die Entscheidung Kinder oder Beruf stellt. Flexibel zwischen Teil- und Vollzeit wechseln zu können, ist ein guter Anfang, genau wie Milliarden für die Kitas. Aber es braucht noch mehr. Eltern fällt es trotz aller Ausbaugesetze nach wie vor schwer, genug Betreuung zu finden, weil die Politik immer noch zu wenig investiert. Dem zweiten Elternteil, der in den Beruf zurückkehren möchte, werden so viel Steuern und Abgaben vom Gehalt abgezogen wie in fast keinem anderen Industrieland. Schuld daran ist das steuerliche Ehegattensplitting, das nach wie vor die Frau-am-Herd-Ehe der 1950er-Jahre privilegiert. Das muss sich endlich ändern. Warum Männern und Frauen nicht einen Teil des Lohnausfalls ersetzen, wenn sie beide vorübergehend weniger arbeiten? Die Union hält diesen SPD-Plan für feministischen Schnickschnack - und ignoriert so die schwierige Lage von Familien. Eltern müssen sich dagegen wehren und die Parteien mehr unter Druck setzen. Wer die Parteiprogramme studiert, kann die markanten Unterschiede erkennen. Firmen müssen Eltern flexiblere Arbeitsmodelle anbieten Wer ehrlich ist, wird die Verantwortung für das Thema aber nicht nur der Politik zuschieben. Auch Firmen müssen es ihren Mitarbeitern leichter machen, Kinder und Karriere zu verbinden. Zwar sind viele Unternehmen flexibler geworden. Doch es gibt noch immer Personalchefs, die schwangere Mitarbeiterinnen ausgrenzen, anstatt sie wie eine wertvolle Fachkraft zu behandeln - und das, obwohl sie deren Mangel ständig beklagen. Burn-out oder B-Job: Dieses Dilemma verursachen auch alle Männer mit, die Kinderbetreuung und Hausarbeit ihren Partnerinnen überlassen. Auch 2018 haben es sich viele Väter sehr einfach gemacht. Nein, sie könnten den Nachwuchs an keinem Nachmittag abholen, weil ihr Job so viel wichtiger sei als der ihrer Frau, so lautet all zu oft die Standardausrede. Auch das ist beschämend und falsch.
Immerhin: Die Regierung hat es 2018 ein bisschen einfacher gemacht, Kinder und Beruf zu vereinbaren. Aber es muss sich noch viel mehr tun - und auch die Männer müssen sich ändern.
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https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eltern-in-teilzeitjobs-die-politik-treibt-frauen-in-die-b-job-falle-1.4265879
Die Politik treibt Frauen in die Teilzeit-Falle
00/12/2018
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) macht Medienberichten zufolge den Weg für die Hardware-Nachrüstung älterer Diesel-Pkw zur Reduzierung des Stickoxid-Ausstoßes frei. In einem 30-seitigen Papier würden die technischen Anforderungen für die "Allgemeine Betriebserlaubnis" (ABE) festgeschrieben, die für die Zulassung der Hardware-Bausätze durch das Kraftfahrtbundesamt (KBA) nötig seien, berichten die Bild-Zeitung sowie der Bayerische Rundfunk. Damit sei zumindest rechtlich ein wichtiger Schritt für den Umbau älterer Diesel-Pkw erfolgt. Dies sind dem BR zufolge die Anforderungen, die in der Richtlinie festgeschrieben werden: Von den Nachrüstern wird unter anderem eine Garantie verlangt, dass das nachträglich eingebaute technische System zur Abgasreinigung bei Diesel-Pkw der Schadstoffklassen Euro 4 und 5 "bis Minimaltemperaturen von -7 Grad (...) wirksam und funktionsfähig" ist. Die entsprechend spezialisierten Unternehmen müssen zudem zusichern, dass für ihre Anlagen "eine Kilometerleistung von 100 000 km oder eine Lebensdauer von bis zu fünf Jahren (...) gewährleistet ist". Außerdem darf der Pkw nach der Nachrüstung nicht lauter sein als vorher. Der Stickoxid-Ausstoß (NOx) nachgerüsteter Diesel-Fahrzeuge darf nicht über dem Grenzwert von 270 Mikrogramm pro Kilometer liegen. Beim KBA sind nach Informationen der Bild allerdings noch keine vollständigen und entscheidungsreifen Anträge für Pkw-Nachrüstsätze eingegangen. Verschiedene Firmen bieten Nachrüstsätze zum Reduzieren des Stickoxidausstoßes an. Damit diese Nachrüstsätze rechtlich anerkannt werden und als legale Veränderung an dem speziellen Motortyp zulässig sind, müssen sie vom KBA genehmigt werden. Volkswagen reagierte umgehend: Der Branchenführer warnte vor einem höheren Verbrauch nach einer Umrüstung und vor negativen Folgen bei der Zuverlässigkeit der Autos: "Dies können wir als Automobilhersteller im Sinne unsere Kunden weder befürworten noch dafür haften. Deshalb raten wir von Hardware-Nachrüstungen ab." Das Bundesumweltministerium wies die Kritik von Volkswagen zurück. "Die Reaktion von VW wundert uns", sagte ein Ministeriumssprecher. "Dass VW nun eine Rolle rückwärts macht und wieder ausschließlich auf die Erneuerung der Fahrzeugflotte setzt, ist ärgerlich und wird kaum das verlorene Vertrauen in den Autokonzern wiederherstellen. Denn ein wenige Jahre altes Fahrzeug gegen ein neues einzutauschen, können sich nur die Wenigsten leisten und ist ökologischer Irrsinn." Die Bundesregierung hatte im Zuge ihrer Bemühungen zur Vermeidung von Fahrverboten Hardware-Nachrüstungen in besonders belasteten Metropolen-Regionen beschlossen. Unklar ist derzeit allerdings noch die Kostenübernahme für den Einbau. Die Verhandlungen der Bundesregierung mit den Autoherstellern sind noch nicht abgeschlossen. Kostenübernahme von Nachrüstungen noch unklar Anfang November hatten sich Daimler und Volkswagen bereiterklärt, ältere Diesel für bis zu 3000 Euro mit Katalysatoren nachrüsten zu lassen - allerdings nur in besonders mit Stickoxid belasteten Regionen. BMW lehnt eine Hardwarenachrüstung weiterhin ab, will aber ebenfalls mit bis zu 3000 Euro die Halter älterer Diesel unterstützen, etwa beim Kauf eines Gebrauchtwagens. Der Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA) warnte jetzt, Besitzer älterer Diesel könnten bei technischen Problemen nach einer Nachrüstung nicht mit Unterstützung der deutschen Hersteller rechnen. "Wir können keine Garantie für ein Fahrzeug übernehmen, in das nachträglich Abgasreinigungssysteme Dritter eingebaut wurden", sagte Verbandspräsident Bernhard Mattes der Welt. Wenn ein Kunde sein Fahrzeug umbauen lasse, dann trügen er und der Nachrüster auch die Verantwortung für mögliche Folgeschäden.
Bundesverkehrsminister Scheuer hat Medienberichten zufolge die technischen Anforderungen für Diesel-Nachrüstungen bestimmt. VW kritisiert die Nachrüstungen und zieht damit Ärger aus dem Umweltministerium auf sich.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/papier-des-bundesverkehrsministeriums-technische-richtlinie-fuer-diesel-nachruestungen-steht-1.4267963
Technische Richtlinie für Diesel-Nachrüstungen steht
00/12/2018
Bei den deutschen Rüstungsexporten zeichnet sich in diesem Jahr ein deutlicher Rückgang ab. Bis zum 13. Dezember wurden nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums Ausfuhren von Waffen und anderen Rüstungsgütern im Wert von 4,62 Milliarden Euro genehmigt. Im gesamten Vorjahr waren es 6,24 Milliarden Euro. Der Umfang der genehmigten Exporte dürfte damit 2018 zum dritten Mal in Folge schrumpfen. Ein Wachstum gab es zuletzt 2015, damals auf einen Rekordwert von 7,86 Milliarden Euro. Nach einer Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Omid Nouripour war Saudi-Arabien trotz Beteiligung am Jemen-Krieg mit Geschäften im Umfang von 416 Millionen Euro viertgrößter Kunde deutscher Waffenschmieden - nach Algerien (802 Millionen Euro), den USA (506 Millionen Euro) und Australien (432 Millionen Euro). Erst im Zuge der Affäre um die Tötung des regierungskritischen Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Generalkonsulat in Istanbul wurde im November ein kompletter Exportstopp gegen das Königreich verhängt. Eigentlich hatte die Bundesregierung schon im März im Koalitionsvertrag beschlossen, keine Rüstungsgüter mehr an Länder zu liefern, die "unmittelbar" am Jemen-Krieg beteiligt sind. Für bereits erteilte Vorgenehmigungen wurde allerdings eine Ausnahme gemacht. Der Grünen-Außenpolitiker Nouripour kritisierte, dass die Bundesregierung weiterhin in großem Umfang Ausfuhren an autoritäre Staaten und in Spannungsgebiete genehmigt habe. "Trotz der Ankündigungen im Koalitionsvertrag ist die Bilanz der Exportgenehmigungen für dieses Jahr verheerend", sagte er.
Die Anzahl der Exporte dürfte das dritte Mal in Folge sinken. Ein Hauptabnehmer der deutschen Rüstungsindustrie bleibt trotz des Jemen-Krieges Saudi-Arabien.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-waffenexporte-sinken-1.4267960
Deutschland exportiert weniger Rüstungsgüter
00/12/2018
Bundesfinanzminister Scholz beruft den SPD-Europapolitiker Jakob von Weizsäcker zum Chef der Grundsatzabteilung. Er hält unter anderem eine europäische Arbeitslosenversicherung für sinnvoll - wenn das mal keine Richtungsänderung ist. Wenn jemand aus Brüssel in die deutsche Innenpolitik wechselt, trifft er in Berlin auf zweierlei: Widerstand und Skepsis. Im Berliner Kosmos, der so gerne um sich selbst kreist, sind Menschen, die es ernsthaft in den europäischen Institutionen ausgehalten und diese sogar für einflussreich befunden haben, mindestens suspekt. Martin Schulz, der gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD, hat es leidvoll erfahren müssen. Sein Schicksal schreckt Nachahmer allerdings nicht ab. Anfang Januar wechselt nun Jakob von Weizsäcker aus Brüssel nach Berlin. Der SPD-Europaabgeordnete wird Chef der Grundsatzabteilung im Bundesfinanzministerium. Mit der Berufung von Weizsäckers als Chefökonom vollzieht Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) einen klaren Kurswechsel. Sein Vorgänger Ludger Schuknecht war Verfechter einer strengen Austeritäts- und Ordnungspolitik; er argumentierte oft gegen die weitere Verschuldung des Staates. Außerhalb Berlins trug ihm das den Beinamen "Deutscher Taliban" ein. Der 48 Jahre alte Nachfolger ist da deutlich offener. Er hat in Wales Abitur gemacht, in Bonn und Lyon Physik studiert und später an einer Pariser Elite-Uni sein Diplom in Volkswirtschaft gemacht. Von Weizsäcker ist frankophil, liebt die britische Debattenkultur. Er hat bei der Weltbank gearbeitet, im Thüringer Wirtschaftsministerium und später im Europaparlament. Er lebt mit der Familie in Thüringen. Ein waschechter Ostdeutscher ist er allerdings nicht. Von Weizsäcker stammt aus Heidelberg, er ist ein Großneffe des Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Die Berufung von Weizsäckers ist durchaus mutig; jedenfalls geht sie klar gegen den deutschen Zeitgeist. Der ist gegen Euro-Bonds, also europäische Wertpapiere. Von Weizsäcker ist grundsätzlich dafür: Er entwarf einst als Mitarbeiter der Denkfabrik Brügel, die von europäischen Staaten getragen wird, gemeinsam mit dem Franzosen Jacques Delpla ein Modell für Gemeinschaftsanleihen. Jean-Claude Juncker, damals noch Chef der Eurogruppe, also des Gremiums der Finanzminister aus den Euro-Staaten, brachte es in die Debatte ein. Der Vorschlag wurde aus Deutschland so heftig abgeschmettert, dass sich seither kaum jemand wagt, das Wort Euro-Bonds überhaupt auszusprechen. Und das, obwohl renommierte Ökonomen einen gemeinsamen Anleihemarkt als nötig ansehen, um den Euro sicher zu machen. Eine andere Idee des designierten Chefökonomen wird zumindest öffentlich diskutiert, nämlich die einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Das geht vor allem auf Olaf Scholz zurück, der das Modell einer Rückversicherung propagiert. Die Staaten zahlen in einen Topf, aus dem sie unter bestimmten Bedingungen Geld als Kredite erhalten. Von Weizsäcker hatte Anfang des Jahres zusammen mit dem spanischen Europaabgeordneten Jonas Fernandez und dem Berliner Ökonomieprofessor Sebastian Dullien einen ähnlichen Vorschlag vorgelegt. Wie heftig der Widerstand des alten und neuen Koalitionspartners CDU/CSU in der Bundesregierung ist, wurde am 12. Juni deutlich. Es war früher Abend, im Berliner Europa-Haus Unter den Linden hatten von Weizsäcker und Dullien zusammen mit Clemens Fuest, dem Präsidenten des eher als konservativ geltenden Münchner Ifo-Instituts zur Diskussion über eine EU-Arbeitslosenversicherung eingeladen. Mit dabei ist auch ist Ralph Brinkhaus, damals noch Vize-Fraktionschef der Union und zuständig für Haushalts- und Europapolitik. Kalkül des Abends sollte es sein, dass der konservative Ökonom Fuest dem Unionsabgeordneten die Idee des Sozialdemokraten von Weizsäcker ein Stück weit interessanter machen könnte - eine Fehlkalkulation. Brinkhaus, der direkt von einer Fraktionssitzung kommt, in der die Abgeordneten CDU-Parteichefin Angela Merkel die europapolitischen Kompetenzen beschneiden wollten, wollte nichts hören von gemeinsamen Versicherungen: Er sei gegen eine Transferunion und dabei bleibe es. Jedes Argument perlte an ihm ab wie an Teflon. Neue Töne: Der deutsche Handelsbilanzüberschuss soll kritisch hinterfragt werden Inzwischen ist Brinkhaus Unions-Fraktionschef und Merkel nicht mehr CDU-Vorsitzende. Die Machtverschiebung hat die große Koalition zu einem fragilen Zweckbündnis gemacht, dass jederzeit platzen kann. Von Weizsäcker weiß, was auf ihn zukommt, wenn er am 7. Januar 2019 in der Berliner Wilhelmstraße anfängt. Womöglich ist er den Job schnell wieder los. Allerdings ist es so, dass seine Zeit als Abgeordneter nach der Europawahl im Mai wohl ohnehin beendet wäre. Die deutschen Sozialdemokraten haben sich darauf eingestellt, dass sie nur etwa 15 Sitze werden erringen können. Von Weizsäcker war zwar Spitzenkandidat der Thüringer SPD, aber offenbar nur für Listenplatz 28 vorgesehen, er hätte es also kaum wieder ins EU-Parlament geschafft. Das Angebot von Scholz kam also gerade recht. Besonders am Herzen liege ihm Europa, sagt von Weizsäcker nun im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Aber er wolle auch herauszufinden, wo Deutschland noch mehr investieren müsse, etwa in Infrastrukturen oder Universitäten. Und es sei Zeit, die "etwas schräg" geführte Debatte um den deutschen Handelsbilanzüberschuss neu auszurichten. Man müsse prüfen, ob ein hoher Überschuss auf Dauer "im wohlverstandenen Interesse Deutschlands" liege. Frankreich oder die USA etwa bewerten die vielen deutschen Exporte immer wieder als unfaire Handelspraxis. Entsprechend sind von Weizsäckers Aussagen nun wirklich neue Töne im Bundesfinanzministerium, wie man sie zu Zeiten seines Vorgängers und des damaligen Ministers Wolfgang Schäuble eher nicht hören konnnte.
Bundesfinanzminister Scholz beruft den SPD-Europapolitiker Jakob von Weizsäcker zum Chef der Grundsatzabteilung. Er hält unter anderem eine europäische Arbeitslosenversicherung für sinnvoll - wenn das mal keine Richtungsänderung ist.
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https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzpolitik-dieser-mann-soll-das-finanzministerium-europaeisch-machen-1.4266800
Finanzpolitik - Der Neue Chefökonom
00/12/2018
Es gibt keinen Konsum mehr, der nicht auch politisch ist - weil der Käufer nicht mehr nur ein Produkt wählt, sondern zugleich ein Weltbild. Man kann gar nicht genau sagen, seit wann das so ist, aber an gewissen Tagen fällt es plötzlich auf. Die Sachen zusammenzubekommen, die man eben braucht - das Gemüse, eine neue Jogginghose, die Glühbirne für die alte Wohnzimmerlampe - das alles ist ziemlich aufwendig geworden. Ist die Glühbirne quecksilberfrei? Hat der Textilhersteller eine überprüfte Compliance zur Kinderarbeit und Umweltverschmutzung oder ist er ein Fast-Fashion-Schurke? Wird am Wochenende mit Eiern aus Belgien gekocht, die bio sind, aber zum massenhaften Warenverkehr auf der Autobahn beitragen? Oder mit denen vom Regionalvermarkter, die aber nicht bio sind? Wie die Gans gelebt hat, bevor sie geschlachtet wurde, ist genauso wichtig wie die Oberhitze am Schluss im Ofen. Wir denken mehr nach über das, was wir kaufen. Ist womöglich der achtsame Konsum die zeitgemäße Form politischer Teilhabe? Ob wir es wollen oder nicht: Jedes Mal, wenn wir in der globalisierten Warenwelt etwas kaufen, treffen wir eine Entscheidung für oder gegen bestimmte Werte, ach was, für eine ganze Weltordnung. Wir entscheiden nach Kriterien, die mit unserer Haltung zusammenhängen: ob wir zum Beispiel Plastik in den Weltmeeren als Bedrohung empfinden, ob es den Einzelhandel trotz Internet weiter geben soll. Und es ist doch einfach ein unglaublich gutes Gefühl, das Richtige zu tun. Das Private ist politisch, hieß es einmal. Heute gibt es keinen Konsum mehr, der nicht auch politisch ist - weil der Käufer nicht mehr nur ein Produkt wählt, sondern zugleich ein Weltbild. Selbst wer mit dem Einkaufswagen durch den Discounter fegt und möglichst viel fürs Geld einpackt, ist nicht neutral. Er stützt ein Billigpreismodell, mit allem, was dazugehört. Der mündige Bürger ist heute auch mündiger Konsument. Er entscheidet, ob Geschäftsmodelle funktionieren oder nicht. Er hat Macht. Selbst Unternehmen, die vor allem auf Masse ausgerichtet sind, werben um diesen mündigen Konsumenten, wenn sie, mal mehr und mal weniger glaubwürdig, eine Bio-Sparte einführen, Finanzanlagen nach ökologischen und sozialen Kriterien anbieten oder Rohstoffe aus fairem Handel verarbeiten. Notfalls bewirbt man sogar noch die angeblich nachhaltige Tragetasche. Das alles sind Folgen einer neuen Konsumentenmacht. Den richtigen Braten zu wählen ist noch keine Demokratie Machtausübung durch Konsum passt auch deshalb so gut in die Zeit, weil sie es erlaubt, Einfluss zu nehmen, ohne sich mit dem Staat zu identifizieren, in dem man lebt. Der Staat mit seinen klassischen demokratischen Institutionen ist im Narrativ der Skeptiker sowieso machtlos gegen den Druck, den die Globalisierung, der Finanzkapitalismus und die Internetökonomie erzeugen. Dem mündigen und medial aufgeklärten Käufer in der globalisierten Konsumgesellschaft wird dagegen das verlockende Angebot einer politischen Teilhabe unterbreitet, für die man sich nicht zur Kandidatur für den Gemeinderat und noch nicht mal zur Entscheidung für eine Partei durchringen muss. Man kann noch so politikverdrossen sein, so lautet dieses verführerische Angebot: Mit dem richtigen Einkaufsverhalten kann man etwas ändern. Politik durch Kauf, die direkte Demokratie der Warenwelt. Aber stimmt das? Zweifellos hat Konsumverhalten eine Wirkung. Konsum als neue Graswurzelbewegung, dafür hat sich der Begriff "Lifestyle Politics" etabliert. Ersetzt es aber das politische Handeln von Regierungen? Es gibt Argumente für diese Sichtweise. Die Empörung über Arbeitsbedingungen in den Sweatshops Asiens oder das tonnenweise Verbrennen von unverkauften Kleidern der Modelabels kann bei Käuferinnen in unterschiedlichen Ländern einen gemeinsamen Boykott auslösen, der schneller Wirkung zeigt als jeder politische Prozess. Trotzdem geht es dabei nicht in erster Linie um Menschenfreundlichkeit, um das Wohl der Näherinnen oder einer ganzen Gesellschaft. Es geht um das Wohl des Unternehmens, also um seinen Gewinn. Der Käufer soll bekommen, was er will. Aber kaufen muss er, denn dafür ist er da. Der demokratische Staat dagegen, der angeblich so schlecht sein soll, mit all seinen langsamen und mühseligen Prozessen, gehört ganz und gar den Bürgern. Es gibt ihn überhaupt nur, weil sie ihm ihre Macht übertragen. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es im deutschen Grundgesetz. Das bedeutet auch, wäre der Staat wirklich schlecht und machtlos, müssten sich durchaus die Bürger selber fragen lassen, warum sie das erlauben. Vor allem aber ist das Wahlrecht nicht an irgendeinen Konsum und die politische Teilhabe nicht ans Geldausgeben gebunden; das ist der unbezahlbare Gegenentwurf in einer sonst fast ausschließlich materialistischen Zeit. Politik ist mühsam, ein hartes Geschäft, mit Streit und Konflikt. Es ist anstrengend. Aber ein Bürger ist ein Bürger, ein Käufer dagegen bleibt ein Käufer. Den richtigen Braten zu wählen ist noch keine Demokratie.
Die Eier bio, der Kaffee fair gehandelt: Wer bewusst einkauft, kann durchaus die Welt verändern. Doch das richtige Verhalten im Supermarkt ist kein Ersatz für politische Teilhabe.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nachhaltigkeit-konsum-politik-1.4267075
Warum Konsumenten glauben, Einfluss zu haben
00/12/2018
Es ist Mittwochnachmittag kurz nach vier Uhr Ortszeit, als der Moderator des amerikanischen Börsenfernsehens CNBC kaum mehr an sich halten kann. "Der Dow springt um fast 1100 Punkte", ruft Moderator Brian Sullivan auf der Galerie der New Yorker Wall Street. "Sie haben richtig gehört", setzt er nach. "Ein-tausend-ein-hundert Punkte", lässt Sullivan es über die Galerie schallen. Seine Stimme hüpft dabei von Silbe zu Silbe, mindestens genauso stark wie der Aktienindex. Wenn Börsenexperten und Anleger wissen wollen, wie es dem amerikanischen Aktienmarkt geht, schauen sie gerne auf den "Dow". Experten jedoch bezweifeln, wie aussagekräftig dieser Aktienindex überhaupt ist. Kritiker des Indexes sagen: Er sei viel zu grobschlächtig kalkuliert und völlig verzerrt. Manche sagen gar: lächerlich. Wer den Unmut der Kritiker verstehen will, muss nachvollziehen, wie der Dow funktioniert. Als Aktienkorb enthält er 30 wichtige US-amerikanische Aktien. Viel zu wenige, sagen manche Kritiker, um die Breite des Aktienmarktes angemessen abzubilden. Andere amerikanische Aktienindizes wie der S&P 500 umfassen 500 Titel, der Russell 2000 sogar 2000 US-Firmen. Welche Firmen es in den Dow schaffen, bestimmt ein Gremium relativ freihändig, wie manche Experten meinen. Die Hauptkritik jedoch entzündet sich an den Rechenmethoden des Indexes. So summieren die Dow-Macher einfach alle Aktienpreise ihrer Mitglieder auf und teilen sie durch einen sogenannten Dow-Divisor. Das Ergebnis: Die Punktezahl, die der Dow aktuell erreicht. Zu Beginn des Handelstages am Donnerstag waren es in den USA genau 22629 Punkte. Wie viel Gewicht eine Aktie im Indexkonzert hat, entscheidet sich vor allem an ihrem absoluten Preis. Eine Aktie, die 400 Dollar kostet, hat viel mehr Gewicht, als eine Aktie, die nur 40 Dollar kostet. Darüber, wie wichtig das Unternehmen tatsächlich ist, sagt der reine Preis einer einzelnen Aktie aber nichts aus. Denn manche Unternehmen geben viele Aktien zu geringen Preisen aus, andere wenige Papiere zu hohen. So hat das größte Gewicht im Index derzeit Boeing, vor allem weil der Kurs einer einzelnen Aktie mit 307 Dollar so hoch ist wie der keiner anderen. Als angemessener betrachten es Börsenexperten, nicht den Aktienpreis einer einzelnen Aktie als Gradmesser für das Gewicht eines Unternehmens im Index zu verwenden. Sondern den Preis, den man zahlen müsste, wenn man alle Aktien der Firma aufkaufen wollte, den sogenannten Börsenwert eine Firma. Dann käme man darauf, dass man für Coca Cola als gesamte Firma mehr zahlen müsste als für Boeing. Dass Boing aber mehr Gewicht im Index hat. Vor allem, weil der Preis einer einzelnen Aktie höher ist.
Rumpelt es an den Aktienmärkten, schauen alle auf den Dow Jones. Experten verstehen das nicht.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/dow-jones-falsch-kalkuliert-1.4266686
Falsch kalkuliert
00/12/2018
Ein britischer Multimillionär entwickelt Drohnen, die Passagiere für wenig Geld durch Städte transportieren sollen - hoch über den verstopften Straßen. Schon in zwei Jahren könnten die ersten Käufer abheben. In einer grauen langen Halle nahe der Bahngleise sind Werkstätten und kleine Betriebe untergebracht. Neben den blauen Rolltoren hängen Nummern und Firmenschilder. Hinter Tor Nummer sechs befindet sich eine Glaserei, hinter Nummer sieben ein Cabrio-Spezialist. Bei Nummer acht gibt es kein Schild. Umso größer ist die Überraschung, wenn sich das Tor öffnet: Mitten im Raum steht eine riesige weiße Drohne, in deren Kabine zwei Menschen nebeneinander sitzen können. Zwischen den Sesseln ragt der Steuerknüppel empor; vor ihm hängt ein Tablet-Rechner. Der ersetzt das Armaturenbrett. Angetrieben wird das Fluggerät von sechs Propellern. Jeweils zwei sind an den Enden der Flügel montiert, zwei weitere am Heck. In dieser Halle in Sevenoaks, einer Kleinstadt gut 30 Kilometer südöstlich von London, wuseln Männer in weißen Schutzanzügen herum. In der Ecke, neben dem Weihnachtsbaum, steht der Gründer und Chef und schaut sich das Treiben an. "Bis März wollen wir die ersten Flugtests mit Pilot machen", sagt Martin Warner. Der britische Multimillionär entwickelt mit seinem Unternehmen Autonomous Flight - zu deutsch: Autonomer Flug - Drohnen, die Reisende schnell und bequem aus verstopften Metropolen an den Stadtrand bringen sollen, etwa zum Flughafen. Die Batterien des elektrisch angetriebenen Zweisitzers in der Halle reichen für 100 Kilometer, das Modell namens Y6S soll in bis zu 450 Metern Höhe mit 110 Kilometern pro Stunde herumsausen. Für die Strecke von Londons Innenstadt zum Flughafen Heathrow würde die Drohne zwölf Minuten brauchen. Ein Lufttaxi als Alternative zum Taxi, das sich durch den Dauerstau am Boden quält: Das klingt nach Science-Fiction, doch tatsächlich arbeiten eine Reihe von Start-ups, Luftfahrt- und Autokonzernen an Passagierdrohnen, darunter auch deutsche Firmen. Die Geräte sollen kleiner, leiser, umweltfreundlicher und viel billiger als Hubschrauber sein. Aber bis den neuartigen Fliegern der Einsatz als Taxi genehmigt wird, ist es noch ein weiter Weg. Detailansicht öffnen Etwa 30 000 Euro soll dieser Zweisitzer kosten – damit wird der Privatjet für Vielflieger erschwinglich. Sie brauchen allerdings einen Pilotenschein. (Foto: PR) "Wir werden 2019 größtenteils mit dem Testen verbringen. Vielleicht erhalten wir schon im Jahr darauf alle nötigen Zulassungen", sagt Warner. "Ende 2020 könnten dann die ersten Käufer mit der Drohne abheben." Dafür müssten die stolzen Besitzer einen Pilotenschein haben, der wohl dem für Leichtflugzeuge entsprechen wird. Langfristig sei das Ziel, dass die Drohnen ohne Pilot fliegen, sagt der 46-Jährige. Sie würden vom Computer gesteuert, der sich mit Hilfe von Ortungssystemen, Kameras, Radar und Sonar orientiert und Hindernissen ausweicht. Ähnliche Konzepte testen Autokonzerne mit ihren selbstfahrenden Wagen. "Autonome Steuerung in der Luft ist sogar einfacher als auf dem Boden", sagt Warner. "Es gibt keine Schlaglöcher und Fußgänger; die Drohnen müssen bloß auf Hochhäuser, Flughäfen und andere Drohnen achten." Die nötige Technik sei vorhanden, aber es werde noch dauern, bis die Behörden selbststeuernde Passagierdrohnen erlauben, schätzt der Manager. Seinen Zweisitzer, dessen Rumpf vor allem aus ebenso leichten wie stabilen Kohlefasern besteht, will Warner für etwa 30 000 Euro verkaufen. Zum Vergleich: Für einen Hubschrauber sind Hunderttausende oder Millionen Euro fällig. So ein Helikopter fliegt viel schneller und weiter und kann mehr transportieren, doch er ist eben nur etwas für sehr reiche Menschen. Passagierdrohnen könnten es dagegen für die breite Masse erschwinglich machen, im eigenen Fluggerät herumzusausen - solange die Distanz nicht zu groß ist. Der Gründer zielt mit dem Zweisitzer auf Privatleute als Kunden ab. Daneben will er zwei größere Modelle entwickeln: einen Viersitzer und eine Drohne, die acht Passagieren plus einem Flugbegleiter Platz bietet. Diese Modelle wären für Flugtaxis interessant, die vom Zentrum zum Stadtrand und zurück pendeln. Warner schwebt vor, dass auf Hochhausdächern kleine Drohnen-Flughäfen errichtet werden. Die Geräte landen, ein Förderband transportiert sie in ein Terminal, die Passagiere steigen aus, die Batterien werden schnell durch frische ersetzt, neue Fahrgäste steigen ein, das Förderband bringt die Drohne nach draußen, sie hebt wieder ab. Detailansicht öffnen Die Serie "Unterwegs in die Zukunft. Leben ohne eigenes Auto" ist im SZ-Wirtschaftsteil zwischen 15. Dezember 2018 und 2. Februar 2019 erschienen. Warner bezeichnet sich als "obsessiven Serien-Entrepreneur". Seinen größten finanziellen Erfolg hatte er mit Botobjects. Der Brite war Mitgründer dieses Herstellers von 3-D-Druckern und verkaufte die Firma 2015 für 50 Millionen Dollar an einen Rivalen. Im gleichen Jahr gründete Warner Flix Premiere, einen Streamingdienst für anspruchsvolle Filme. Der Manager lebt in New York, London und auf einem Landsitz in der Nähe der britischen Hauptstadt. Vom Landsitz fliegt er manchmal mit einem gecharterten Hubschrauber nach London. "Das kostet für 15 Minuten 1800 bis 2500 Pfund", sagt er. Der Betreiber einer Flotte von Drohnentaxis könnte diese Strecke für gut 100 Pfund anbieten, schätzt Warner, also 110 Euro. Gelingt der Durchbruch, könnte Warners Unternehmen entweder selbst eine Fabrik für die Massenproduktion bauen oder einen Partner aus der Industrie suchen. Dieser Partner würde die Flieger fertigen und den Briten Lizenzgebühren zahlen. "Meinem Bauchgefühl zufolge ist dieses Modell aber nicht so attraktiv", sagt Warner, der jetzt Flix Premiere und Autonomous Flight leitet - und nebenher als Geldgeber bei anderen Technologiefirmen mitmischt. In den Drohnenhersteller steckten Warner und zwei weitere Investoren bisher insgesamt eine Million Pfund. "Das meiste stammt von mir", sagt der Tüftler. Er sucht einen weiteren großen Investor und spricht darüber nach eigenen Angaben gerade mit namhaften Konzernen. Die Idee für die Drohnen entwickelte der Brite vor zwei Jahren, die Arbeit am ersten Modell begann im Herbst 2017. Warner hat keinen Pilotenschein und Angst vor Turbulenzen, sagt jedoch, das Thema Fliegen begeistere ihn seit jeher: "Viel Geld habe ich früher schon gemacht. Nun geht es vor allem darum, dass mir Dinge Spaß bereiten."
Ein britischer Multimillionär entwickelt Drohnen, die Passagiere für wenig Geld durch Städte transportieren sollen - hoch über den verstopften Straßen. Schon in zwei Jahren könnten die ersten Käufer abheben.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/flugtaxis-traum-vom-billigen-fliegen-1.4266744
Traum vom billigen Fliegen
00/12/2018
Amerikanische Finanzinvestoren haben bei der Privatisierung der HSH Nordbank ein erstaunlich gutes Geschäft gemacht - zulasten der Steuerzahler im Norden. Die Geschichte könnte sich bei der Nord-LB wiederholen. In Hannover wäre wohl niemand beleidigt, würde man die dortige Landesbank als Ladenhüter bezeichnen. Weil die Nord-LB frisches Kapital braucht, sucht Niedersachsen als Haupteigentümer Investoren. Viele Interessenten gibt es nicht, weswegen sich die Sache bis ins neue Jahr zieht. Übrig sind nur noch Finanzinvestoren wie Cerberus oder Centerbridge aus den USA. Andere heimische Banken, wie die Helaba oder die Commerzbank, sind vorerst wieder abgesprungen.
Amerikanische Finanzinvestoren haben bei der Privatisierung der HSH Nordbank ein erstaunlich gutes Geschäft gemacht - zulasten der Steuerzahler im Norden. Die Geschichte könnte sich bei der Nord-LB wiederholen.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/landesbanken-die-investoren-reich-die-laender-arm-1.4266819
Landesbanken - Die Investoren reich, die Länder arm
00/12/2018
Der Kalauer hält sich. "In der Kneipe gibt es mehr Prozente", scherzen Mitglieder von Sparklubs. Schon dieser Witz zeigt, wie es um die Tradition steht. Er hat seine Doppeldeutigkeit verloren. Längst gibt es Prozente nur noch im Bier und nicht mehr beim Sparzins. Genau wie der Gag scheint das gemeinsame Sparen von Stammtischen überholt zu sein. Nachwuchs fehlt, die Sparkassen stellen Sonderkonditionen für solche Gruppen ein. Nach mehr als 100 Jahren gerät die Tradition der Arbeiter in Vergessenheit. Eine Tradition, die eigentlich so gut zum Bild des fleißigen deutschen Sparers passt. Anfang des 20. Jahrhunderts sei das Sparen im Verein besonders aufgekommen, sagt Thorsten Wehber vom Sparkassenhistorischen Zentrum beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV). Arbeiter im Norden, dem Rheinland und dem Ruhrgebiet stellten in ihren Gaststätten Sparschränke auf. Die Blechkästen bestehen aus etlichen kleinen Fächern, in welche die Mitglieder Woche für Woche einen Mindestbetrag werfen. Eine, vielleicht zwei Münzen. Die Hoffnung auf ein bisschen Wohlstand lebte am Tresen der einfachen Wirtshäuser. Anfangs taten sich die Hafenarbeiter oder Bergleute aus Not zusammen. Die Öffnungszeiten der Sparkassen lagen für viele ungünstig. Die Einzahlung von Kleinstbeträgen lohnte sich ohnehin kaum. Also sammelte ein Kassenwart das Geld von allen und brachte es regelmäßig zur Bank. "Dabei ging es auch um Schutz vor sich selbst", sagt Wehber. Wenn sich die Kollegen gegenseitig motivieren, etwas zurückzulegen, tauschen sie nicht gleich die ganze Lohntüte in Doppelkorn um. Der Kasten neben dem Zapfhahn entwickelte sich zum Sparschwein der Malocher. Die Regeln der Runden bleiben streng. Mehr als der fixe Betrag ist gerne gesehen. Wer nicht zahlt, muss eine Strafe blechen. Bis zur feierlichen Auszahlung am Ende eines jeden Jahres ist Disziplin gefragt. Die beste Zeit hatten die Klubs in den Sechzigerjahren. Der Sparkassen- und Giroverband im Rheinland zählte 12 600 Vereine mit einer halben Million Mitglieder. Offizielle Daten für ganz Deutschland gibt es nicht. Mittlerweile melden aber fast alle Sparkassen, dass die Zahl der registrierten Vereine seit Jahren stark rückläufig ist. Einst konnten die Institute neue Kunden gewinnen, indem sie den Gruppen einen kleinen Zusatzzins in Aussicht stellten. Nach und nach ist mit diesen Sonderkonditionen Schluss. 2019 folgt für manche der nächste Schlag, unter anderem in Essen. Noch 300 Sparklubs führt die dortige Sparkasse. Finanzielle Anreize gibt es nicht mehr, und von Januar an fällt noch der Versicherungsschutz bei Einbrüchen für die verbliebenen Sparschränke weg. Das Geschäft lohnt sich nicht mehr. Zu viel hat sich getan, Gasthäuser haben ihren Stellenwert verloren: Schließlich wurde der Fernseher Massenware, das Rauchverbot kam und das Online-Banking auch. Wer Geld zurücklegen will, braucht keine Kneipe und keine Freunde mehr. Dennoch halten sich einige Runden, manche haben Reichs- und D-Mark überdauert. Im Großraum Duisburg etwa existiert die alte Welt noch. 750 Klubs zählt die Sparkasse und bedenkt diese ab 5000 Euro Guthaben mit plus 0,3 Prozent auf den üblichen Zins. Keine große Sache, aber immerhin eine Geste an die Treuen. "Wer richtig sparen will, legt sein Geld woanders an", sagt Oliver Voorter. Der 49-Jährige führt seit 17 Jahren einen Sparklub in einem Vorort von Krefeld. Ist die Idee nur noch ein Spaß? Na ja. Sein Klub sei familiär, sagt Voorter. Es geht um Geselligkeit, aber weiter auch um Geld. Keine Riesenbeträge, dreistellige Summen dürften es für jeden jährlich sein. "Einige gönnen sich von dem Geld eine Kleinigkeit", sagt Voorter. Wie üblich bleibt ein Teil für das Fest zur Auszahlung - mit lecker Bierchen und Buffet. Es ist der Höhepunkt im Dasein des Sparklub-Sparers. Wie die Freudentage bleiben auch die Sorgen die gleichen. Mancher Runde ist damals wie heute der Kassenwart nach der wöchentlichen Leerung des Sparschranks durchgebrannt. "Bei uns darf man nur zu Zweit an die Fächer", sagt Voorter. Alles muss seine Ordnung haben. Wer drei Wochen nicht spart, fliegt raus. Vorher gebe es aber noch eine nette Erinnerungs-SMS des Vereinsvorsitzenden, sagt Voorter. Ein bisschen Moderne hilft sogar dem alten Brauch. Die Letzten in der Szene stimmt das zuversichtlich. Zumindest ihr Spruch "In der Kneipe bleibst Du flüssig" soll so herrlich doppeldeutig bleiben.
Einst standen Sparschränke in vielen Kneipen etwa im Ruhrgebiet. Doch heute steht die alte Malochertradition der "Sparklubs" vor dem Aus.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sparclubs-fluessig-bleiben-1.4266804
Sparclubs - Flüssig bleiben
00/12/2018
Immer wieder dasselbe: Morgens aufstehen, abends ins Bett. Dazwischen Stau oder liegengebliebene S-Bahnen und das Büro. Anders kriegt man das nicht hin, jedenfalls nicht legal. Egal. Jetzt geht es um die Zukunft, Ihre Zukunft! Geehrte Leserinnen und Leser! Das neue Jahr naht, die Zeit der guten Vorsätze ist angebrochen. Anstatt sich zu überlegen, ob Sie das Rauchen aufgeben oder lieber ein paar Kilo abnehmen (beides ist bekanntlich miteinander nicht vereinbar), könnten Sie sich auch vornehmen, endlich so viel Geld an Land zu ziehen, dass die Privatinsel in tropischen Gefilden für Sie in Reichweite kommt. Die Rede ist selbstverständlich nicht von legalen Geschäften. Hier sind ein paar Tipps für die normalbürgerlichen Leser der SZ.
Immer wieder dasselbe: Morgens aufstehen, abends ins Bett. Dazwischen Stau oder liegengebliebene S-Bahnen und das Büro. Anders kriegt man das nicht hin, jedenfalls nicht legal. Egal. Jetzt geht es um die Zukunft, Ihre Zukunft!
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/augsteins-welt-gute-vorsaetze-1.4266750
Augsteins Welt - Gute Vorsätze
00/12/2018
Wenn in Deutschland bald die große Böllerei losgeht, kommt die Munition aus China. Dort wiederum herrscht am letzten Abend des Jahres - himmlische Ruhe. Wer Peking dieser Tage besucht, wird kaum merken, dass der Jahreswechsel ansteht. Ein paar Tage noch, dann herrscht der Ausnahmezustand: Explosionen im Sekundentakt, ab und an ertönt ein Martinshorn, Böller fliegen durch die Luft, dichter Feinstaub hüllt alles ein. Silvester nennt man das in Deutschland. Die Munition für die mancherorts fast paramilitärische Knallerei kommt allerdings aus China. Seit Monaten schon mischen chinesische Feuerwerker Schwarzpulver, befüllen Raketenköpfe und verlegen Zündschnüre. Sie bauen die legalen Böller, genauso wie die illegalen, die wohl auch in diesem Jahr wieder Gliedmaßen zerfetzen werden.
Wenn in Deutschland bald die große Böllerei losgeht, kommt die Munition aus China. Dort wiederum herrscht am letzten Abend des Jahres - himmlische Ruhe. Wer Peking dieser Tage besucht, wird kaum merken, dass der Jahreswechsel ansteht.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bei-uns-in-peking-himmlische-ruhe-1.4266834
Bei uns in Peking - Himmlische Ruhe
00/12/2018
Maschinen fallen bei Vollauslastung eher aus. Das kostet die Gesellschaften viele Millionen, weil die Produktion öfter stockt - nicht nur bei Betroffenen, sondern auch bei Kunden. Die gute Wirtschaftslage hat auch Nebenwirkungen - dazu gehören höhere Schäden für Industrieversicherer. "Die Vollauslastung der Maschinen in einer boomenden Konjunktur führt zu häufigen Maschinenausfällen", sagt Torsten Leue, Chef der Talanx-Versicherung, der Süddeutschen Zeitung. "Wegen der engen und globalen Vernetzung der deutschen Wirtschaft zieht das signifikante Betriebsunterbrechungsschäden nach sich."
Maschinen fallen bei Vollauslastung eher aus. Das kostet die Gesellschaften viele Millionen, weil die Produktion öfter stockt - nicht nur bei Betroffenen, sondern auch bei Kunden.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/industrie-boom-wird-teuer-fuer-versicherer-1.4266965
Industrie - Boom wird teuer für Versicherer
00/12/2018
Nach der Weihnachtspause verkaufen viele Anleger ihre Aktien. Das drückt den Dax auf ein Zwei-Jahres-Tief. Die Titel der Deutschen Bank sind so billig wie noch nie. Der Dow Jones steigt dagegen. Der Dax ist am vorletzten Handelstag des Jahres auf den tiefsten Stand seit zwei Jahren abgesackt. Nach den wilden Szenen, die sich an den Tagen zuvor an der Wall Street abspielten, fiel der Handelsauftakt noch recht stabil aus. Dann aber setzte sich die Flucht aus Aktien fort. Der deutsche Leitindex büßte bis zum Handelsschluss 2,4 Prozent auf 10 382 Punkte ein. Während der Handel hierzulande wegen der Weihnachtsfeiertage pausierte, war der Dow Jones an Heiligabend abgestürzt, hatte sich am Mittwoch aber kräftig erholt. Politische Krisen und Konjunktursorgen hatten die Märkte schon in den vergangenen Monaten belastet. Mit einem Jahresverlust von derzeit knapp 20 Prozent steuert der Dax auf das erste Verlustjahr seit 2011 zu. Der negativen Dax-Tendenz schlossen sich am Donnerstag die übrigen Indizes in Deutschland und Europa an. Der M-Dax und der Euro-Stoxx-50 gaben jeweils 1,4 Prozent nach. Begünstigt wurden die starken Kursausschläge durch die geringen Umsätze um die Feiertage und den Jahreswechsel. Bei den Einzelwerten im Dax büßten die Aktien des Darmstädter Pharmakonzerns Merck 4,5 Prozent an Wert ein. Merck hat eine Medikamentenstudie für ein Mittel zur Krebsbehandlung eingestellt, weil sie nicht das erhoffte Ergebnis gebracht hatte. Ebenfalls höhere Kursverluste mussten die Aktionäre der Versorger RWE und Eon mit Abschlägen von 3,2 beziehungsweise 3,8 Prozent verkraften. Die Titel von RWE gehörten im bisherigen Jahresverlauf zu den besten Indexwerten. Beim allgemeinen Ausverkauf kamen auch die Aktien der Deutschen Bank nicht unbehelligt davon. Sie fielen um 4,2 Prozent auf 6,75 Euro und notierten damit so niedrig wie noch nie. Mit einem Minus von 57 Prozent haben sie im Gesamtjahr so viel verloren wie keine andere Aktie im Dax. An der Wall Street drehte der Dow Jones nach deutlichen Abschlägen von mehr als zwei Prozent im späten US-Handel ins Plus und schloss 1,1 Prozent höher. Insgesamt aber war die Stimmung unter den Börsianern schlecht. Der Haushaltsstreit von US-Präsident Donald Trump mit den oppositionellen Demokraten, der zu einem teilweisen Behördenstillstand geführt hat, und die andauernde Unsicherheit über den chinesisch-amerikanischen Handelsstreit beunruhige die Anleger mehr und mehr, so Händler.
Nach der Weihnachtspause verkaufen viele Anleger ihre Aktien. Das drückt den Dax auf ein Zwei-Jahres-Tief. Die Titel der Deutschen Bank sind so billig wie noch nie. Der Dow Jones steigt dagegen.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/aktien-dax-faellt-auf-zwei-jahres-tief-1.4266682
Dax fällt auf Zwei-Jahres-Tief
00/12/2018
Die Fotomontage zeigt einen Volocopter vor einem Hangar der ADAC-Luftrettung. Der ADAC startet in der Region Ansbach in Mittelfranken und in Rheinland-Pfalz dazu ein Pilotprojekt. Schon im kommenden Jahr sollen Lufttaxis in Bayern und Rheinland-Pfalz umherfliegen - mit Menschen an Bord. Die ADAC-Luftrettung plant zusammen mit dem Hersteller Volocopter und der Ludwig-Maximilians-Universität München ein Pilotprojekt, bei dem Notärzte in zweisitzigen Multikoptern an Unfallorte geflogen werden. Dies wären dann die ersten bemannten Flüge der neuartigen Geräte in Deutschland über öffentlichem Gebiet. Die Firma Volocopter aus Bruchsal bei Karlsruhe würde mit den Testflügen ihre weltweit führende Rolle in der Szene der Lufttaxi-Pioniere unterstreichen. Die Volocopter sind eine Mischung aus Hubschrauber und Drohne, sie werden elektrisch angetrieben von 18 kleinen Rotoren. 2017 hatte das Unternehmen mit einem autonomen Flug über der dicht besiedelten Stadt Dubai Maßstäbe gesetzt. Ebenfalls 2017 ist Daimler bei Volocopter eingestiegen; Der Autobauer will dabei sein, wenn das Geschäftsmodell "Lufttaxis für verstopfte Megastädte" zu fliegen beginnt. Doch die Konkurrenz ist groß, überall auf der Welt basteln namhafte Unternehmen und unbekannte Start-ups an den Stadtfliegern. "Ich glaube, dass die ersten Flugtaxis zwischen 2020 und 2025 in Betrieb gehen werden", sagt Florian Holzapfel vom Institute of Flight System Dynamics an der Technischen Universität München. Der US-Fahrdienstvermittler Uber will nach eigenen Angaben bereits 2023 in Dallas und Los Angeles einen Testbetrieb starten. Dabei will Uber wie auf der Straße nur die Vermittlungs-App stellen, den Flugservice übernehmen andere Firmen. Wie zum Beispiel die US-Firma Aurora, die ebenfalls schon Erfahrung mit autonomen Fluggeräten hat. Der Flugzeugkonzern Boeing hat Aurora 2017 übernommen. Der andere große Hersteller Airbus tüftelt gleich an mehreren Lufttaxi-Projekten. Der "City-Airbus", ein viersitziger Senkrechtstarter mit Elektromotoren von Siemens, soll Anfang 2019 seinen Jungfernflug machen. Zusammen mit Audi hat Airbus zudem das Modell "Pop.Up Next" präsentiert: Eine Kabine für zwei Personen verkoppelt sich entweder mit einem selbstfahrenden Untersatz oder mit einer Drohne. Bislang klappt das allerdings erst im Maßstab 1:4. Audi beteiligt sich auch am EU-Testprojekt "Urban Air Mobility", das demnächst in Ingolstadt starten soll. Neben Volocopter und Airbus hat auch das Start-up Lilium aus Weßling bei München eine Zulassung bei der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) beantragt. Lilium entwickelt gerade einen bemannten Prototypen und will diesen 2019 vorstellen. "Es gibt weltweit kein System, das derzeit diese extrem hohen Sicherheitsstandards erfüllt", sagt TUM-Forscher Holzapfel. "Volocopter und Lilium sind weiter als Airbus." Alle Firmen müssten nun aber daran arbeiten, ihre Demonstrator-Systeme zu genehmigungsfähigen Passagier-Fliegern weiterzuentwickeln. Auf Augenhöhe mit Volocopter und Lilium bewegt sich das Unternehmen Kitty Hawk, an dem der Google-Mitgründer Larry Page beteiligt ist. Dessen Modell Flyer soll man auch ohne Fluglizenz steuern können, und das Modell Cora soll autonom Menschen transportieren. "Cora ist vorne dabei und wird 2020 wohl in Neuseeland den Personenverkehr aufnehmen", sagt Experte Holzapfel. Auch der Sportwagenhersteller Porsche hat angedeutet, sich mit Lufttaxis zu beschäftigen. "Wir arbeiten daran", bestätigt Porsche-Chef Oliver Blume, ohne aber weitere Details zu verraten. Aus der Szene heißt es, die Stuttgarter seien in Kontakt mit einem anderen namhaften Unternehmen.
Die ADAC-Luftrettung plant mit dem Hersteller Volocopter und der LMU München ein Pilotprojekt zur Luftrettung.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/luftrettung-der-arzt-kommt-mit-der-drohne-1.4266748
Der Arzt kommt mit der Drohne
00/12/2018
Ein Frühstück mit dem künftigen Staatsoberhaupt Bolsonaro im noblen Stadtteil Barra da Tijuca von Rio de Janeiro und die Folgen: Wie die ökonomischen Großmächte USA und China hinter den Kulissen um Einfluss in Südamerika ringen. An einem der letzten Tage im November, als sich die Augen der Welt auf den G20-Gipfel in Buenos Aires richteten, fand im noblen Stadtteil Barra da Tijuca von Rio de Janeiro ein Frühstück statt, das öffentlich kaum beachtet wurde. Dabei ging es um nicht weniger als um eine Achsenverschiebung in der Geopolitik. Am Frühstückstisch, gedeckt mit Maiskuchen und Kokoswasser im Tetrapack, saß neben dem Hausherrn Jair Bolsonaro auch John Bolton, der Nationale Sicherheitsberater von Donald Trump. Es war der erste direkte Kontakt des kommenden brasilianischen Staatschefs mit dem engen Zirkel des US-Präsidenten. Es war das erste informelle Treffen dieser Art zwischen Brasilien und den USA seit Jahren. Manche meinen, es war der Beginn einer neuen Ära. Worüber geredet wurde? Über das, was beide Seiten als die dringlichsten Probleme Lateinamerikas empfinden: Kuba, Venezuela, der wachsende Einfluss Chinas. Man darf davon ausgehen, dass der dritte Punkt Priorität hatte. Lateinamerika ist ein oft unterschätzter Nebenkriegsschauplatz des Handelsstreits zwischen Washington und Peking. Die USA haben die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit ihrem sogenannten Hinterhof in der jüngeren Vergangenheit allenfalls als Nischenthema behandelt. Präsident Obama entdeckte so etwas wie eine Lateinamerika-Strategie erst viel zu spät - mit der Annäherung an Kuba. Trump hatte nie eine Strategie, wenn man mal von der strategischen Beleidigung der Mexikaner absieht. In diese Lücke stießen die Chinesen. 80 Jahre lang waren die USA der wichtigste Handelspartner der regionalen Großmacht Brasilien, seit 2009 ist es China. Chinesische Firmen kaufen, investieren und bauen in ganz Lateinamerika ohne die lästigen Restriktionen, die sie beispielsweise in Europa vorfinden würden. Da geht es etwa um einen Freihandelshafen auf Kuba, um Ölbohrungen in Venezuela, um ein Atomkraftwerk in Argentinien, um die komplette brasilianische Stromversorgung. Neu ist, dass sich Washington daran stört. Ein nur vermeintlich kleines Beispiel: die Sojabohne. Seit Peking im Zuge des Zollkrieges 25 Prozent Aufschlag auf Soja-Importe aus den USA verhängt hat, verlegen sich chinesische Einkäufer noch mehr als bisher auf den brasilianischen Markt - zum Leidwesen der US-Farmer. Boltons Frühstücksbesuch in Rio dürfte also vor allem einen Hintergrund gehabt haben: Es war der Versuch, den Präsidenten bereits vor dessen Amtsantritt auf die amerikanische Seite der Front zu ziehen. Aus ideologischer Sicht dürfte es da keine größeren Hemmnisse geben. Der ultrarechte Jair Messias Bolsonaro, 63, ist stolz auf seinen Spitznamen "Tropen-Trump". Der Vergleich hinkt ziemlich, benutzen sollten ihn nur diejenigen, die Bolsonaro einen Gefallen erweisen wollen. Fest steht, dass er den US-Präsidenten bewundert, er sieht in Trump einen strategischen Partner im Kampf gegen alles, was aus seiner Warte links ist oder auch nur ansatzweise rot schimmert. Dazu zählt er offensichtlich auch den chinesischen Staatskapitalismus. Im März 2018, als Bolsonaro noch ein vermeintlich aussichtsloser Präsidentschaftskandidat war, unternahm er eine Asienreise. Er besuchte Japan, Südkorea und: Taiwan. Um die Volksrepublik China indes machte er einen großen Bogen. Auf Twitter teilte er mit, der Trip habe deutlich gemacht, dass die bisherige brasilianische Politik eines "freundlichen Umgangs mit kommunistischen Regimen" bald vorbei sein werde. Immer wieder erklärte er im Wahlkampf um das Amt des Präsidenten, er werde nicht erlauben, dass "China Brasilien aufkauft". Bolsonaro ist aber auch ein Meister des ständigen Widerspruchs, da ähnelt er dem US-Präsidenten. Sein designierter Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Paulo Guedes, will möglichst viele brasilianische Staatsbetriebe privatisieren. Es wäre ein gigantischer Supermarkt, der da plötzlich entstünde, nicht zuletzt für chinesische Investoren. Bolsonaro, der bekennt, keine Ahnung von Ökonomie zu haben, hat mit der Personalie Guedes im Wahlkampf die Börsen und einen Großteil der Unternehmer auf seine Seite gebracht. Sie erwarten von ihm jetzt den angekündigten wirtschaftsliberalen Reformkurs. Gleichzeitig steht der neue Präsident aber auch bei seiner wichtigsten Lobbygruppe, den Militärs, zu denen er selbst gehört, im Wort. Und die betrachten die brasilianischen Staatsbetriebe traditionell als nationales Eigentum. Eine der spannendsten Fragen wird sein, wie Bolsonaro vom 1. Januar an mit diesem Dilemma regieren will. Die politische Annährung an die USA, die an Nachäffung grenzt, ist schon jetzt unübersehbar. Dazu gehört die Ankündigung Bolsonaros, die brasilianische Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Er spielte auch offen mit dem Gedanken, wie Trump aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszutreten, was er angesichts sinkender Umfragewerte im Wahlkampf-Endspurt wieder dementierte. Das muss aber nicht heißen, dass der Plan damit erledigt ist. Der künftige Außenminister Ernesto Araújo gilt als einer der größten Trump-Fans Südamerikas. Den Klimaschutz hält er für eine "marxistische Ideologie" mit dem Ziel, den Einfluss Chinas in der Welt zu fördern. Das Bizarre an diesem Konfrontationskurs mit Peking ist, dass ihn sich Bolsonaro eigentlich überhaupt nicht leisten kann. Er muss so schnell wie möglich die brasilianische Wirtschaftskrise beenden, wenn er nach seinem rauschhaften Wahlsieg nicht direkt eine allgemeine Katerstimmung auslösen will. Dafür braucht er zweifellos chinesisches Geld. Gut ein Viertel aller brasilianischen Exporte, allen voran Soja und Eisenerz, gehen heute nach China, Tendenz steigend. Die USA kaufen nicht einmal halb so viel in Brasilien ein. Chinesische Investoren und Diplomaten, die in Brasilien deutlich diskreter vorgehend als etwa John Bolton, setzen darauf, dass Bolsonaro den Pfad des wirtschaftlichen Pragmatismus entdecken wird, wenn er erst einmal die Geschäfte führt. Vielleicht auch um bei diesem Denkprozess ein wenig nachzuhelfen, hat Chinas Staatschef Xi Jinping am Rande des G20-Gipfels demonstrativ ein Paket von 30 Handelsverträgen unterzeichnet - mit Brasiliens Nachbarn Argentinien.
Ein Frühstück mit dem künftigen Staatsoberhaupt Bolsonaro im noblen Stadtteil Barra da Tijuca von Rio de Janeiro und die Folgen: Wie die ökonomischen Großmächte USA und China hinter den Kulissen um Einfluss in Südamerika ringen.
wirtschaft
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brasilien-der-praesident-steckt-in-der-klemme-1.4266798
Der Präsident steckt in der Klemme
00/12/2018