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wienbarg_feldzuege_1834 | 590 | Eine unendliche Maſſe von Licht hat ſich uͤber Europa ausgegoſſen und Luther Flammen aus Licht gezaubert und verzehrend die alten Heiligthuͤmer angetaſtet. | Eine unendliche Masse von Licht hat sich über Europa ausgegossen und Luther Flammen aus Licht gezaubert und verzehrend die alten Heiligtümer angetastet. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 591 | Der Sohn dieſes Lichts und dieſer Flamme, der Verſtand, errang die Herrſchaft und hat ſie von Tage zu Tage mehr ausgebreitet. | Der Sohn dieses Lichts und dieser Flamme, der Verstand, errang die Herrschaft und hat sie von Tage zu Tage mehr ausgebreitet. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 592 | Man legte Baͤnder um ihn her, aber er ſchluͤpfte hindurch wie eine Sylfe, man wollte ihn gewaltſam greifen und halten, aber er zerrann in den Haͤnden ſeiner Feinde und ſpottete ihres nichtigen Beginnens. | Man legte Bänder um ihn her, aber er schlüpfte hindurch wie eine Sylphe, man wollte ihn gewaltsam greifen und halten, aber er zerrann in den Händen seiner Feinde und spottete ihres nichtigen Beginnens. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 593 | Er war es auch, der die Riegel wegſchob vor der eingekerkerten Sinnlichkeit, und nun im Verein mit der ſinnlichen Kraft offen die Spitze bot und die franzoͤſiſche Revolution zu Stande brachte. | Er war es auch, der die Riegel wegschob vor der eingekerkerten Sinnlichkeit, und nun im Verein mit der sinnlichen Kraft offen die Spitze bot und die Französische Revolution zustande brachte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 594 | Verſtand und Sinnlichkeit habe ich ſchon in voriger Stunde als diejenigen Kraͤfte gedacht, welche die entſchiedenſte Richtung gegen die Anſchauungsweiſe der alten Zeit eingeſchlagen. | Verstand und Sinnlichkeit habe ich schon in voriger Stunde als diejenigen Kräfte gedacht, welche die entschiedenste Richtung gegen die Anschauungsweise der alten Zeit eingeschlagen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 595 | Unzweifelhaft ſind es dieſe beiden Elemente, auf deren harmoniſcher Vereinigung die Form der neuen Anſchauungsweiſe beruhen wird. | Unzweifelhaft sind es diese beiden Elemente, auf deren harmonischer Vereinigung die Form der neuen Anschauungsweise beruhen wird. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 596 | Hiſtoriſch denkreich iſt es wieder, daß unſer proteſtirendes Deutſchland auch der geiſtige Herd war, wo der zuruͤckgedraͤngte Funke des ſinnlichen Lebens zuerſt aus der Aſche der Schulweisheit aufblitzte. | Historisch denkreich ist es wieder, dass unser protestierendes Deutschland auch der geistige Herd war, wo der zurückgedrängte Funke des sinnlichen Lebens zuerst aus der Asche der Schulweisheit aufblitzte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 597 | Nicht nur poetiſche, ſondern hiſtoriſche Bedeutſamkeit hat die Sage vom Fauſtus, der ſeine Buͤcher an die Wand wirft und im Ueberdruß nichtiger Weisheit ſich in das bunte Leben ſtuͤrzt, um ſein verwelktes Herz wieder mit den Stroͤmen der Liebe und des Haſſes aufzufriſchen. | Nicht nur poetische, sondern historische Bedeutsamkeit hat die Sage vom Faustus, der seine Bücher an die Wand wirft und im Überdruss nichtiger Weisheit sich in das bunte Leben stürzt, um sein verwelktes Herz wieder mit den Strömen der Liebe und des Hasses aufzufrischen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 598 | Daß dieſe deutſche Volksſage mit der Erfindung der Buchdruckerkunſt koinzidirt, ja, daß ſie ſogar den Erfinder uns als Fauſtus vorſtellt, iſt tief und charakteriſtiſch. | Dass diese deutsche Volkssage mit der Erfindung der Buchdruckerkunst koinzidiert, ja, dass sie sogar den Erfinder uns als Faustus vorstellt, ist tief und charakteristisch. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 599 | Kein Dichter hat die ganze Tiefe dieſes ernſthaften Maͤhrchens ſo geiſtreich nachempfunden, als der große Goethe, der im Fauſt Niemand anders, als ſich ſelbſt und den Drang der neuen Zeit geſchildert hat. | Kein Dichter hat die ganze Tiefe dieses ernsthaften Märchens so geistreich nachempfunden, als der große Goethe, der im Faust Niemand anders, als sich selbst und den Drang der neuen Zeit geschildert hat. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 600 | Freilich ſtammt das Maͤhrchen noch aus einer Zeit, wo: das Recht des Sinnlichen geltend zu machen gegen die Anmaßungen des Spiritualismus, als ein ſchwarzes Verbrechen erſchien, woher denn auch der Fauſtus nach der Sage von Gott abfaͤllt und einen Bund mit dem Boͤſen ſchließt — einen volksthuͤmlichen Zug, den Goethe als Dichter wieder aufzunehmen nicht verſaͤumte. | Freilich stammt das Märchen noch aus einer Zeit, wo: Das Recht des Sinnlichen geltend zu machen gegen die Anmaßungen des Spiritualismus, als ein schwarzes Verbrechen erschien, woher denn auch der Faustus nach der Sage von Gott abfällt und einen Bund mit dem Bösen schließt — einen volkstümlichen Zug, den Goethe als Dichter wieder aufzunehmen nicht versäumte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 601 | Das hat, ſagt ein bekannter Schriftſteller, das hat nun das deutſche Volk laͤngſt geahnt, daß die Menſchen nicht blos zu einem himmliſchen, ſondern auch zu einem irdiſchen Gluͤck berufen ſind; denn das deutſche Volk iſt ſelbſt jener gelehrte Doktor Fauſt, der nach materiellen Genuͤſſen verlangt und dem Fleiſche ſeine Rechte wieder, gibt — doch noch befangen in der katholiſchen Simbolik, wo Gott als der Repraͤſentant des Geiſtes und der Teufel als der Repraͤſentant des Fleiſches gilt, bezeichnete man jene Rehabilitation des Fleiſches als einen Abfall von Gott, als ein Buͤndniß mit dem Teufel. | Das hat, sagt ein bekannter Schriftsteller, das hat nun das deutsche Volk längst geahnt, dass die Menschen nicht bloß zu einem himmlischen, sondern auch zu einem irdischen Glück berufen sind; denn das deutsche Volk ist selbst jener gelehrte Doktor Faust, der nach materiellen Genüssen verlangt und dem Fleische seine Rechte wieder, gibt — doch noch befangen in der katholischen Symbolik, wo Gott als der Repräsentant des Geistes und der Teufel als der Repräsentant des Fleisches gilt, bezeichnete man jene Rehabilitation des Fleisches als einen Abfall von Gott, als ein Bündnis mit dem Teufel. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 602 | Jener brennende Glaube, jene Kaſteiung des Fleiſches, jener heroiſche Sinn, der ſich ſelbſt und ſein Liebſtes opfert, um der Liebe Gottes willen, war die Seele des Mittelalters. | Jener brennende Glaube, jene Kasteiung des Fleisches, jener heroische Sinn, der sich selbst und sein Liebstes opfert, um der Liebe Gottes Willen, war die Seele des Mittelalters. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 603 | Glaube iſt aber der kindlich unſchuldige Sinn, die einfaͤltige Hingebung an die aͤußere Auktoritaͤt. | Glaube ist aber der kindlich unschuldige Sinn, die einfältige Hingebung an die äußere Autorität. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 604 | Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, wie der Heroismus, wie der Glaube, daß in Gott alle Dinge leben, weben und ſind. | Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, wie der Heroismus, wie der Glaube, dass in Gott alle Dinge leben, weben und sind. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 605 | Aber eben darum, und weil noch immer in der zertruͤmmerten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die Wache halten, gibt es eine neue Geſchichte, gibt es Maͤrtyrer der Freiheit und des Glaubens, gibt es Enthuſiaſten und Opfer, gibt es Hochgefuͤhle in unſerer Bruſt, die erhabener und reiner ſind als die, welche der verwitterte Glaube und die erkaltete Liebe der Vorzeit zu erregen im Stande ſind. | Aber eben darum, und weil noch immer in der zertrümmerten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die Wache halten, gibt es eine neue Geschichte, gibt es Märtyrer der Freiheit und des Glaubens, gibt es Enthusiasten und Opfer, gibt es Hochgefühle in unserer Brust, die erhabener und reiner sind als die, welche der verwitterte Glaube und die erkaltete Liebe der Vorzeit zu erregen imstande sind. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 606 | Fuͤrchtet nicht, daß der Verſtand der neuen Zeit alles Heilige zum Geſpoͤtte, alle Ahnung zum Kindertraum, alles Schoͤne zum Beduͤrftigen herabwuͤrdigen wird. | Fürchtet nicht, dass der Verstand der neuen Zeit alles Heilige zum Gespötte, alle Ahnung zum Kindertraum, alles Schöne zum Bedürftigen herabwürdigen wird. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 607 | Wohl iſt der Verſtand ein Handelsherr, Maſchinenmeiſter, Konſtitutionsſchmieder, und an ſich mehr Feind als Freund des Gemuͤths und des poetiſch ſinnlichen Lebens. | Wohl ist der Verstand ein Handelsherr, Maschinenmeister, Konstitutionsschmieder, und an sich mehr Feind als Freund des Gemüts und des Poetisch sinnlichen Lebens. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 608 | Aber ihm gegenuͤber macht ſich geltend ein poetiſcher Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der dem Verſtande allerdings dankbar iſt fuͤr die in der Befreiungsſache geleiſtete Huͤlfe, keineswegs aber geſonnen, ſich von ihm als einem neuen Despoten unter ein neues Joch ſpannen zu laſſen. | Aber ihm gegenüber macht sich geltend ein poetischer Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der dem Verstande allerdings dankbar ist für die in der Befreiungssache geleistete Hilfe, keineswegs aber gesonnen, sich von ihm als einem neuen Despoten unter ein neues Joch spannen zu lassen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 609 | Fuͤrchtet auch nicht, daß dieſe uͤppige Jugend aus ihren felſigten Ufern hervortreten und die Bluͤthen des Geiſtes, die ſie ſelbſt hervorgerufen und befruchtet, uͤberſchwemme und zerſtoͤre. | Fürchtet auch nicht, dass diese üppige Jugend aus ihren felsigen Ufern hervortreten und die Blüten des Geistes, die sie selbst hervorgerufen und befruchtet, überschwemme und zerstöre. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 610 | Sie iſt ja eben die Poeſie und das Leben ſelber und alle edlen und großen Leidenſchaften und die ſchoͤpferiſche Kraft der Geſchichte fließt aus ihrem Blut und Nervengeiſte. | Sie ist ja eben die Poesie und das Leben selber und alle edlen und großen Leidenschaften und die schöpferische Kraft der Geschichte fließt aus ihrem Blut und Nervengeiste. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 611 | Sie iſt das bewegende Prinzip und nimmt alle Keime der Bildung auf in ihrem Schooße, wie man's ſieht an jenem Mittelalter, an der Jugend unſerer Nation, welche die ſchoͤnen und herrlichen Erſcheinungen des Chriſtenthums (wie wirkte daſſelbe im greiſen Orient? | Sie ist das bewegende Prinzip und nimmt alle Keime der Bildung auf in ihrem Schoß, wie man es sieht an jenem Mittelalter, an der Jugend unserer Nation, welche die schönen und herrlichen Erscheinungen des Christentums (wie wirkte dasselbe im greisen Orient? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 612 | ) erſt moͤglich und wirklich machte. | ) erst möglich und wirklich machte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 613 | Behauptung der Rechte des Verſtandes und des ſinnkraͤftigen Gemuͤths, darauf draͤngt der Geiſt der neuen Zeit. | Behauptung der Rechte des Verstandes und des sinnkräftigen Gemüts, darauf drängt der Geist der neuen Zeit. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 614 | Ueber unſerer Aſche wird ſich ein neues europaͤiſches Griechenthum erheben, angemeſſen dem geiſtigen Fortſchritt, den das Chriſtenthum vorbereitet hat. | Über unserer Asche wird sich ein neues europäisches Griechentum erheben, angemessen dem geistigen Fortschritt, den das Christentum vorbereitet hat. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 615 | Nur zweimal hat der Erdball die Erſcheinung erlebt, daß Menſchen in ſinnlich-geiſtiger Eintracht organiſche Monaden bildeten und ein Leben der Friſche und Geſundheit fuͤhrten. | Nur zweimal hat der Erdball die Erscheinung erlebt, dass Menschen in sinnlich-geistiger Eintracht organische Monaden bildeten und ein Leben der Frische und Gesundheit führten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 616 | Von dem Einen berichtet uns die Sage des Paradieſes, von dem Andern die Geſchichte Griechenlands. | Von dem Einen berichtet uns die Sage des Paradieses, von dem Anderen die Geschichte Griechenlands. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 617 | Indien vernichtete das Sinnliche, Palaͤſtina uͤberhob das Geiſtige, zwiſchen beiden bluͤhte Griechenland wie zwiſchen zwei Abgruͤnden, deren bodenloſe Tiefe es ahnungslos mit Roſen und Lorbeeren uͤberſtreute. | Indien vernichtete das Sinnliche, Palästina überhob das Geistige, zwischen beiden blühte Griechenland wie zwischen zwei Abgründen, deren bodenlose Tiefe es ahnungslos mit Rosen und Lorbeeren überstreute. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 618 | Aber die Menſchheit mußte hinuͤber und dem germaniſchen Stamm war es vorbehalten, in die tiefſte Tiefe hinabzuſchauen und ſelig den zu preiſen, „der lebt im roſigen Licht. | Aber die Menschheit musste hinüber und dem germanischen Stamm war es vorbehalten, in die tiefste Tiefe hinabzuschauen und selig den zu Preisen, „der lebt im rosigen Licht. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 619 | “ Dem germaniſirten Europa bleibt die dritte Entwicklungsſtufe der Menſchheit vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeiſtigter wie bei den Griechen, das Geiſtige durchſinnlichter wie bei den Chriſten zur Erſcheinung kommt. | “ Dem germanisierten Europa bleibt die dritte Entwicklungsstufe der Menschheit vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeistigter wie bei den Griechen, das Geistige durchsinnlichter wie bei den Christen zur Erscheinung kommt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 620 | So gleicht das Menſchengeſchlecht in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung einem wahren Organismus, einer erhabenen Pflanze, die von Zeit zu Zeit in neue Knoten anſchießt, ſich zuſammenſchließt, um ſich deſto kraͤftiger wieder zu entfalten. | So gleicht das Menschengeschlecht in seiner geschichtlichen Entwicklung einem wahren Organismus, einer erhabenen Pflanze, die von Zeit zu Zeit in neue Knoten anschießt, sich zusammenschließt, um sich desto kräftiger wieder zu entfalten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 621 | Wir haben uns in die Weltanſchauung der Indier, der Griechen, des chriſtkatholiſchen Mittelalters verſetzt, und geſehen, wie eine nach der andern mit Leben, Kunſt und Dichtung ihren Kreis in der Zeit beſchloß und einem unabaͤnderlichen Schickſal anheimfiel. | Wir haben uns in die Weltanschauung der Inder, der Griechen, des christkatholischen Mittelalters versetzt, und gesehen, wie eine nach der anderen mit Leben, Kunst und Dichtung ihren Kreis in der Zeit beschloss und einem unabänderlichen Schicksal anheimfiel. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 622 | Dadurch beſtaͤtigte ſich uns die aufgeſtellte Anſicht, daß die Aeſthetik, wenn irgend etwas eine geſchichtlich geſchloſſene Diſziplin iſt, und als ſolche einem viel hoͤhern, aber zugleich auch beſchraͤnkteren Standpunkt angehoͤrt, als man ihr gewoͤhnlich einraͤumt, naͤmlich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltanſchauung ſelber. | Dadurch bestätigte sich uns die aufgestellte Ansicht, dass die Ästhetik, wenn irgendetwas eine geschichtlich geschlossene Disziplin ist, und als solche einem viel höheren, aber zugleich auch beschränkteren Standpunkt angehört, als man ihr gewöhnlich einräumt, nämlich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltanschauung selber. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 623 | In dieſem Sinne iſt freilich keine Aeſthetik der Indier, der Griechen, des Mittelalters vorhanden, wenn wir unter dieſem Namen den ganzen heutigen Umfang aͤſthetiſcher Geſetze und Urtheile begreifen, allein theils iſt dieſe Art wiſſenſchaftlicher Vollſtaͤndigkeit uͤberhaupt mehr eine Erſcheinung der neueren Zeiten, worauf es das Alterthum nicht ablegte, theils beſitzen wir in den Gedichten, Philoſophemen und Kunſtwerken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigſte Aeſthetik jener Zeiten und Voͤlker, um ſo lebendiger, da ſie aus dem Leben ſelbſt geſchoͤpft iſt. | In diesem Sinne ist freilich keine Ästhetik der Inder, der Griechen, des Mittelalters vorhanden, wenn wir unter diesem Namen den ganzen heutigen Umfang ästhetischer Gesetze und Urteile begreifen, allein teils ist diese Art wissenschaftlicher Vollständigkeit überhaupt mehr eine Erscheinung der neueren Zeiten, worauf es das Altertum nicht ablegte, teils besitzen wir in den Gedichten, Philosophemen und Kunstwerken der Inder, der Griechen, des Mittelalters die lebendigste Ästhetik jener Zeiten und Völker, um so lebendiger, da sie aus dem Leben selbst geschöpft ist. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 624 | Von Geſchmack und Ungeſchmack kann auf dieſem Standpunkt nicht die Rede ſein. | Von Geschmack und Ungeschmack kann auf diesem Standpunkt nicht die Rede sein. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 625 | Die abſurdeſten Extravaganzen der indiſchen Phantaſie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herabfaͤllt, und ſich in dem wulſtigen Haupthaar eines Gottes verſtrickt, ein Gott mit Elephantenruͤſſel u. dergl. ſind fuͤr die Anſchauungsweiſe des indiſchen Aeſthetikers eben ſo muſterguͤltige Bilder und Vorſtellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorſtellung aus dem griechiſchen und chriſtkatholiſchen Anſchauungskreiſe, wie z. B. die Venus Anadiomene, die ſich aus dem Schaum der Wellen erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Chriſti uͤber den Waſſern des Jordan flattert. | Die absurdesten Extravaganzen der indischen Phantasie, ein Fluss, die Ganga, die vom Himmel herabfällt, und sich in dem wulstigen Haupthaar eines Gottes verstrickt, ein Gott mit Elephantenrüssel u. dergl. sind für die Anschauungsweise des indischen Ästhetikers eben so mustergültige Bilder und Vorstellungen, wie nur irgendein Bild und eine Vorstellung aus dem griechischen und christkatholischen Anschauungskreise, wie z. B. die Venus Anadyomene, die sich aus dem Schaum der Wellen erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Christi über den Wassern des Jordan flattert. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 626 | Entweder man hat den Geſchmack, oder man hat ihn nicht, das iſt Alles, was ſich ſagen laͤßt; denn dies heißt dann weiter nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Chriſt die Welt und ihre Erſcheinungen auffaßt. | Entweder man hat den Geschmack, oder man hat ihn nicht, das ist alles, was sich sagen lässt; denn dies heißt dann weiter nichts, als dass man entweder als Inder, oder als Grieche, oder als Christ die Welt und ihre Erscheinungen auffasst. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 627 | So geſchieht es allerdings oft, daß dem chriſtlichen Auge mißfaͤllig und unſchoͤn vorkommt, was dem griechiſchen ſchoͤn und gefaͤllig, was Beiden vielleicht uͤbereinſtimmend ſchoͤn, dem indiſchen Auge als das grade Gegentheil, oder umgekehrt, daß, was den Indier entzuͤckt, dem Griechen und Chriſten ein Abſcheu und Graͤuel iſt. | So geschieht es allerdings oft, dass dem christlichen Auge missfällig und unschön vorkommt, was dem griechischen schön und gefällig, was Beiden vielleicht übereinstimmend schön, dem indischen Auge als das gerade Gegenteil, oder umgekehrt, dass, was den Inder entzückt, dem Griechen und Christen ein Abscheu und Gräuel ist. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 628 | Alle dieſe verſchiedenen Geſchmacksurtheile ſind keineswegs willkuͤhrlich und zufaͤllig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefaͤllt, oder aus individueller Mißbildung der Organe hervorgegangen; ſondern man muß ſie betrachten als direkte, geſetzmaͤßige Ausfluͤſſe aus der Grundquelle aͤſthetiſcher Urtheile, als volksthuͤmliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanſchauung ausgepraͤgt ſind. | Alle diese verschiedenen Geschmacksurteile sind keineswegs willkürlich und zufällig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefällt, oder aus individueller Missbildung der Organe hervorgegangen; sondern man muss sie betrachten als direkte, gesetzmäßige Ausflüsse aus der Grundquelle ästhetischer Urteile, als volkstümliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanschauung ausgeprägt sind. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 629 | Solche Geſetze und Formen mußte die Aeſthetik, wie ſchon bemerkt, nach dem wiſſenſchaftlichen Beduͤrfniſſe unſerer Zeit, in moͤglichſter Vollſtaͤndigkeit enthalten und dies iſt eine Aufgabe, welche die Reflexion des Aeſthetikers ohne Schwierigkeit zur Loͤſung bringen kann, ſobald ſein Leben in eine Zeit faͤllt, der eine eigenthuͤmliche, Alles durchdringende Weltauſchauung zu Theil geworden, ſobald ſein Leben einer Menſchheit angehoͤrt, die mit ihm und mit ſich ſelbſt ſympathiſirt und gleichſam aus einem Zeuge gewebt iſt. | Solche Gesetze und Formen musste die Ästhetik, wie schon bemerkt, nach dem wissenschaftlichen Bedürfnisse unserer Zeit, in möglichster Vollständigkeit enthalten und dies ist eine Aufgabe, welche die Reflexion des Ästhetikers ohne Schwierigkeit zur Lösung bringen kann, sobald sein Leben in eine Zeit fällt, der eine eigentümliche, alles durchdringende Weltanschauung zuteilgeworden, sobald sein Leben einer Menschheit angehört, die mit ihm und mit sich selbst sympathisiert und gleichsam aus einem Zeuge gewebt ist. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 630 | Da denke ich mir den Aeſthetiker, wie er zunaͤchſt aus dem tauſendfaͤltig Gegebenen, vermoͤge eines Akts poetiſch divinirender Abſtraktion, die einfache Formel des aͤſthetiſchen Bewußtſeins oder, was daſſelbe, der zeitig lebendigen Weltanſchauung aufſucht. | Da denke ich mir den Ästhetiker, wie er zunächst aus dem tausendfältig gegebenen, vermöge eines Akts poetisch divinierender Abstraktion, die einfache Formel des ästhetischen Bewusstseins oder, was dasselbe, der zeitig lebendigen Weltanschauung aufsucht. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 631 | Hat ſich ihm dieſe ahnungsvoll erſchloſſen, ſo mag er ſie im Eingang ſeines Werkes ausſprechen, als eine Definition der Schoͤnheit, womit auch die modernen Aeſthetiker den Anfang zu machen pflegen, und daß in ihrer geſchichtloſen und todten Weiſe der Begriff der Schoͤnheit zur allgemeinen Abſtraktion wird, waͤhrend ſie bei jenem eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er ſie aus den ſchoͤnſten Bluͤthen der Gegenwart ſelbſt ausgeſogen und eingeathmet hat. | Hat sich ihm diese ahnungsvoll erschlossen, so mag er sie im Eingang seines Werkes aussprechen, als eine Definition der Schönheit, womit auch die modernen Ästhetiker den Anfang zu machen pflegen, und dass in ihrer geschichtlosen und toten Weise der Begriff der Schönheit zur allgemeinen Abstraktion wird, während sie bei jenem eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er sie aus den schönsten Blüten der Gegenwart selbst ausgesogen und eingeatmet hat. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 632 | So mochte z. B. der indiſche Aeſthetiker auftreten und ſagen, die Schoͤnheit, oder das, was gefaͤllt, iſt der Ueberoder Untergang des Wirklichen und Natuͤrlichen in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts; der Grieche, die Schoͤnheit oder das, was gefaͤllt, iſt die goͤttliche Idee der Einheit im Mannigfaltigen und Wirklichen, welche verklaͤrt zur Erſcheinung kommt; eine Abſorbtion des Geiſtigen durch das Sinnliche; der Chriſt, die Schoͤnheit oder das, was gefaͤllt, iſt der Sieg des Unſichtbaren uͤber das Sichtbare, des Himmliſchen uͤber das Irdiſche, die Abſorbtion des Sinnlichen durch das Geiſtige, oder, wie Jeder von dieſen Supponirten das Eigenthuͤmlichſte ſeiner aͤſthetiſchen Grundanſchauung ausſprechen mochte. | So mochte z. B. der indische Ästhetiker auftreten und sagen, die Schönheit, oder das, was gefällt, ist der Oder Untergang des Wirklichen und Natürlichen in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts; der Grieche, die Schönheit oder das, was gefällt, ist die göttliche Idee der Einheit im Mannigfaltigen und Wirklichen, welche verklärt zur Erscheinung kommt; eine Absorption des Geistigen durch das Sinnliche; der Christ, die Schönheit oder das, was gefällt, ist der Sieg des Unsichtbaren über das Sichtbare, des Himmlischen über das Irdische, die Absorption des Sinnlichen durch das Geistige, oder, wie Jeder von diesen Supponierten das Eigentümlichste seiner ästhetischen Grundanschauung aussprechen mochte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 633 | Nach dieſem denke ich mir den Aeſthetiker, wie er den Begriff der Kunſt entwickelt und zwar nach dem weiteſten Umfang, in dem nicht nur die Poeſie und die bekannten Kuͤnſte eingehen, ſondern auch und vorzuͤglich, die groͤßte und erhabenſte Kunſt, die Kunſt, ſein innres und aͤußeres Leben als Einzelner, als Glied der Familie, als Glied des Staats, als Glied der Menſchheit zu geſtalten, die Kunſt alſo, die ſich unſer Sittliches und Sinnliches ſelbſt zum Stoſſe auswaͤhlt, um an ihm die Schoͤnheit zu bethaͤtigen. | Nach diesem denke ich mir den Ästhetiker, wie er den Begriff der Kunst entwickelt und zwar nach dem weitesten Umfang, in dem nicht nur die Poesie und die bekannten Künste eingehen, sondern auch und vorzüglich, die größte und erhabenste Kunst, die Kunst, sein inneres und äußeres Leben als Einzelner, als Glied der Familie, als Glied des Staats, als Glied der Menschheit zu gestalten, die Kunst also, die sich unser Sittliches und Sinnliches selbst zum Stoße auswählt, um an ihm die Schönheit zu betätigen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 634 | Hierauf hat er auf eine Reihe von Kunſtlehren ſich einzulaſſen und in jeder beſonderen darauf ſein Hauptaugenmerk zu richten, daß das urſpruͤngliche Geſetz, die Grundanſchauung ſeiner Zeit und ſeiner Aeſthetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde, ſondern moͤglichſt klar und individuell heraustrete und ſeine Rechtfertigung in ſich ſelber und im Ganzen finde. | Hierauf hat er auf eine Reihe von Kunstlehren sich einzulassen und in jeder besonderen darauf sein Hauptaugenmerk zu richten, dass das ursprüngliche Gesetz, die Grundanschauung seiner Zeit und seiner Ästhetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde, sondern möglichst klar und individuell heraustrete und seine Rechtfertigung in sich selber und im Ganzen finde. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 635 | Da aber der Aeſthetiker nicht eigentlich Geſetze gibt, ſondern nur zuruͤckgibt, ſie nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da ſie zu den geſchichtlichen Wiſſenſchaften gehoͤrt, ſo wird ihm die kritiſche Betrachtung vorhandener Kunſtwerke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtungen und uͤberhaupt der Produkte des Genies, den Beſchluß jener Kunſtlehren bilden, wie ſie in der That auch ihren Anfang erſt moͤglich machten. | Da aber der Ästhetiker nicht eigentlich Gesetze gibt, sondern nur zurückgibt, sie nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da sie zu den geschichtlichen Wissenschaften gehört, so wird ihm die kritische Betrachtung vorhandener Kunstwerke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtungen und überhaupt der Produkte des Genies, den Beschluss jener Kunstlehren bilden, wie sie in der Tat auch ihren Anfang erst möglich machten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 636 | Dieſes iſt in kurzen Zuͤgen das Bild eines Aeſthetikers und einer Aeſthetik, wie es mir vorſchwebt, vorſchwebt, ohne daß ich die entfernteſte Moͤglichkeit ſaͤhe, wie es ein ſterblicher Menſch heut zu Tage realiſiren koͤnnte, weil Leben, Sitten, Kuͤnſte, Dichtungen in einem widrigen Zwielicht ſtehen, wie alles Charakteriſtiſche total untergegangen iſt, weil noch die Zeit ihren Geiſt ſucht, der ihr abhanden gekommen iſt, wie Peter Schlemihl ſeinen Schatten und weil das, was man vorlaͤufig Zeitgeiſt nennt, bisher nur mehr negative als poſitive Lebensaͤußerungen von ſich gegeben hat. | Dieses ist in kurzen Zügen das Bild eines Ästhetikers und einer Ästhetik, wie es mir vorschwebt, vorschwebt, ohne dass ich die entfernteste Möglichkeit sähe, wie es ein sterblicher Mensch heutzutage realisieren könnte, weil Leben, Sitten, Künste, Dichtungen in einem widrigen Zwielicht stehen, wie alles Charakteristische total untergegangen ist, weil noch die Zeit ihren Geist sucht, der ihr abhandengekommen ist, wie Peter Schlemihl seinen Schatten und weil das, was man vorläufig Zeitgeist nennt, bisher nur mehr negative als positive Lebensäußerungen von sich gegeben hat. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 637 | Was man bisher deutſche Aeſthetik nannte, war ein unaͤſthetiſches Gemengſel ſogenannter aͤſthetiſcher Geſetze und Formen, woraus die Dichter des Ramajana und Mahabarat, wonach Firduſi und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Calderon, Shakſpeare und Goethe, Jeder etwas und Alle nichts haͤtten ſchoͤpfen koͤnnen. | Was man bisher deutsche Ästhetik nannte, war ein unästhetisches Gemengsel sogenannter ästhetischer Gesetze und Formen, woraus die Dichter des Ramanja und Mahabharata, wonach Firdusi und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Calderon, Shakespeare und Goethe, jeder etwas und alle nichts hätten schöpfen können. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 638 | So war auch die Zeit zuſammengemiſcht aus allen moͤglichen Elementen und man moͤchte die groͤßten Dichter derſelben poetiſche Kamaͤleons nennen, die bald im reichen orientaliſchen Talar, bald im ſpaniſchen Mantel, bald als eiſerne Ritter in Helm und Panzer, bald als Moderne im Pariſer Frack auftraten und die Poeſie fremder Voͤlker und Zeiten auf die taͤuſchendſte Weiſe nachzuahmen verſtanden; dadurch ward die Poeſie allerdings immer poetiſcher und die Zahl der Poeten in einem Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein auf der andern Seite ward das Leben immer proſaiſcher, immer fader, immer mehr platt wirklich. | So war auch die Zeit zusammengemischt aus allen möglichen Elementen und man möchte die größten Dichter derselben poetische Chamäleons nennen, die bald im reichen orientalischen Talar, bald im spanischen Mantel, bald als eiserne Ritter in Helm und Panzer, bald als Moderne im Pariser Frack auftraten und die Poesie fremder Völker und Zeiten auf die täuschendste Weise nachzuahmen verstanden; dadurch wurde die Poesie allerdings immer poetischer und die Zahl der Poeten in einem Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein auf der anderen Seite wurde das Leben immer prosaischer, immer fader, immer mehr platt wirklich. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 639 | Die nationale Quelle der Poeſie war vertrocknet und haͤtten die Poeten auch das poetiſche Weltmeer ausgeſchoͤpft und den Strom aller himmliſchen und irdiſchen Poeſien uͤber die ſchmachtende Gegenwart ergoſſen, ſie waͤre darob um nichts poetiſcher und bluͤhender geworden, als ſie war. | Die nationale Quelle der Poesie war vertrocknet und hätten die Poeten auch das poetische Weltmeer ausgeschöpft und den Strom aller himmlischen und irdischen Poesien über die schmachtende Gegenwart ergossen, sie wäre darob um nichts poetischer und blühender geworden, als sie war. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 640 | Eben dieſer Zeitraum, den wirklich geniale und große Dichter, wie Schiller und Goethe verherrlichten, liefert uns den ſchlagendſten Beweis, daß die Poeſie und alles Schoͤnſte immer und ewig ein Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt und nicht geboren und aufgewachſen mit den Kindern der Heimath. | Eben dieser Zeitraum, den wirklich geniale und große Dichter, wie Schiller und Goethe verherrlichten, liefert uns den schlagendsten Beweis, dass die Poesie und alles Schönste immer und ewig ein Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt und nicht geboren und aufgewachsen mit den Kindern der Heimat. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 641 | Und die Poeſie unſerer Dichter war das Maͤdchen aus der Fremde, wovon Schiller ſingt, die erſcheint, man weiß nicht woher, und ſpurlos verſchwindet, wenn ſie Abſchied nimmt. | Und die Poesie unserer Dichter war das Mädchen aus der Fremde, wovon Schiller singt, die erscheint, man weiß nicht woher, und spurlos verschwindet, wenn sie Abschied nimmt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 642 | So kam die Poeſie zu den Deutſchen, ſo laſen ſie Schiller's und Goethe's Gedichte, ſo ſahen ſie den Tell auf der Buͤhne, und wenn die Poeſie wieder weggegangen war, ſo war ihre Spur verloren und des Philiſteriums breite, ausgetretene Fußſtapfen wurden betreten, nach wie vor. | So kam die Poesie zu den Deutschen, so lasen sie Schillers und Goethes Gedichte, so sahen sie den Tell auf der Bühne, und wenn die Poesie wieder weggegangen war, so war ihre Spur verloren und des Philisteriums breite, ausgetretene Fußstapfen wurden betreten, nach wie vor. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 643 | Gegenwaͤrtig iſt es freilich anders. | Gegenwärtig ist es freilich anders. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 644 | Nicht, daß wir ſchoͤner lebten; doch fuͤhlen wir allmaͤhlig Sehnſucht danach und es faͤngt uns an zu daͤmmern von einer Poeſie des Lebens, die aller Kunſtpoeſie Mutter iſt und zwar mater, filia pulchrior. | Nicht, dass wir schöner lebten; doch fühlen wir allmählich Sehnsucht danach und es fängt uns an zu dämmern von einer Poesie des Lebens, die aller Kunstpoesie Mutter ist und zwar mater, filia pulchrior. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 645 | Die großen Dichter ſind todt und wir graͤmen uns nicht ſo ſehr daruͤber, uͤberall ſind wir mehr gleichguͤltig gegen Kunſt und Poeſie geworden, in dem Verſtand, worin beide bisher gepflegt, auch Das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieſes, daß die ſogenannte Proſa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetiſcher zu ſtroͤmen anfaͤngt, als bisher, wo die Proſa eben den von den Stricken der Philiſter gebundenen Simſon vorſtellte und die ſogenannte gebundene Rede, die Poeſie, ſchrankenlos umherſchwaͤrmte. | Die großen Dichter sind tot und wir grämen uns nicht so sehr darüber, überall sind wir mehr gleichgültig gegen Kunst und Poesie geworden, in dem Verstand, worin beide bisher gepflegt, auch das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieses, dass die sogenannte Prosa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetischer zu strömen anfängt, als bisher, wo die Prosa eben den von den Stricken der Philister gebundenen Simson vorstellte und die sogenannte gebundene Rede, die Poesie, schrankenlos umherschwärmte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 646 | Unſere Dichter ſind proſaiſcher geworden, unſere Proſaiker aber poetiſcher, und das iſt ein bedeutſamer Wechſel, ein Wechſel, der zu den erfreulichen Zeichen und Erſcheinungen der Zeit gehoͤrt, weil Proſa unſere gewoͤhnliche Sprache und gleichſam unſer taͤgliches Brod iſt, weil unſere Landſtaͤnde in Proſa ſprechen, weil wir unſere Perſon und Rechte nachdruͤcklicher in Proſa vertheidigen koͤnnen, als in Verſen. | Unsere Dichter sind prosaischer geworden, unsere Prosaiker aber poetischer, und das ist ein bedeutsamer Wechsel, ein Wechsel, der zu den erfreulichen Zeichen und Erscheinungen der Zeit gehört, weil Prosa unsere gewöhnliche Sprache und gleichsam unser tägliches Brot ist, weil unsere Landstände in Prosa sprechen, weil wir unsere Person und Rechte nachdrücklicher in Prosa verteidigen können, als in Versen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 647 | Doch iſt dem Aeſthetiker mit alledem nicht viel geholfen; die Stagnation des Lebens iſt noch zu allgemein und vorherrſchend und das gruͤne, truͤbſchmutzige Waſſer iſt kaum trinkbar fuͤr einen Muͤllereſel, geſchweige fuͤr das gefluͤgelte Roß, das ſeinen Durſt in der klaren Fluth der Hippokrene ſtillen will. | Doch ist dem Ästhetiker mit alledem nicht viel geholfen; die Stagnation des Lebens ist noch zu allgemein und vorherrschend und das grüne, trübschmutzige Wasser ist kaum trinkbar für einen Mülleresel, geschweige für das geflügelte Ross, das seinen Durst in der klaren Flut der Hippokrene stillen will. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 648 | Alſo, es gibt keine Aeſthetik im angegebenen Sinn, es kann keine echte Aeſthetik geben, wer ſie ſchriebe, muͤßte vorher (neue Religion, eine neue Moral) eine neue Kunſt, ein neues Leben herbeiſchaffen. | Also, es gibt keine Ästhetik im angegebenen Sinn, es kann keine echte Ästhetik geben, wer sie schriebe, müsste vorher (neue Religion, eine neue Moral) eine neue Kunst, ein neues Leben herbeischaffen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 649 | Weder in Muͤnchen, noch in Berlin wird ſie ein Profeſſor leſen, alle Gemaͤlde, Bildſaͤulen und geſchnittene Steine der Koͤnige von Preußen und Baiern reichen nicht aus, um einen Paragraphen der Aeſthetik zu fuͤllen, die der neuen Geſchichte, ich meine, der Zukunft angehoͤrt. | Weder in München, noch in Berlin wird sie ein Professor lesen, alle Gemälde, Bildsäulen und geschnittene Steine der Könige von Preußen und Bayern reichen nicht aus, um einen Paragraphen der Ästhetik zu füllen, die der neuen Geschichte, ich meine, der Zukunft angehört. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 650 | Iſt doch ſelbſt jene ſogenannte neue Kunſtund Malerſchule an beiden genannten Orten, nur die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur Wiederholung von Kunſtideen und Kunſtformen, die, wie Alles, ihre Zeit gehabt haben. | Ist doch selbst jene sogenannte neue Kunst Malerschule an beiden genannten Orten, nur die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur Wiederholung von Kunstideen und Kunstformen, die, wie alles, ihre Zeit gehabt haben. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 651 | Indem ich dies Geſtaͤndniß, das ich ſchon in der erſten Stunde ablegte, wiederhole, nachdem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Argumentation deſſelben gedient hat, ſchreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Aeſthetik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig geſchichtliche zu ſein, durchaus nicht entſprechen kann, von Aeſthetik noch bleibt. | Indem ich dies Geständnis, das ich schon in der ersten Stunde ablegte, wiederhole, nachdem mir alles Bisherige zur Erläuterung und Argumentation desselben gedient hat, schreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Ästhetik gegenwärtig ihrer Aufgabe, eine lebendig geschichtliche zu sein, durchaus nicht entsprechen kann, von Ästhetik noch bleibt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 652 | Zunaͤchſt wird Jeder gleich ſehen, daß uns hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle Anſichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aeſthetiker ſich in den Fall verſetzt findet, mit hinlaͤnglicher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten beliebig Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die klaſſiſchen, bald mehr die romantiſchen zu beguͤnſtigen, bald mehr die Kunſt, bald mehr die Poeſie in ſein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhetoriſchen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu verſtatten. | Zunächst wird jeder gleich sehen, dass uns hier ein reicher Spielraum für individuelle Ansichten aufnimmt, und dass jeder heutige Ästhetiker sich in den Fall versetzt findet, mit hinlänglicher Willkür den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schönheiten beliebig Dies und Jenes auszuwählen, bald mehr die klassischen, bald mehr die romantischen zu begünstigen, bald mehr die Kunst, bald mehr die Poesie in sein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhetorischen Schönheiten das Übergewicht zu verstatten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 653 | Aus dieſem Wirrwarr iſt wirklich das, was wir heutiges Tags Aeſthetik nennen, entſprungen. | Aus diesem Wirrwarr ist wirklich das, was wir heutiges Tags Ästhetik nennen, entsprungen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 654 | Man iſt ausgegangen, ſagt Herbart, von der Thatſache, daß uͤber Sachen des Geſchmacks verſchieden geurtheilt wird; man wuͤnſcht aber zu einer ſichern Entſcheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Aeſthetik als eine, der vorhandenen unſichern Beurtheilung des Schoͤnen in der Natur und Kunſt vorgeſchobene und zum Dienſt derſelben beſtimmte Wiſſenſchaft. | Man ist ausgegangen, sagt Herbart, von der Tatsache, dass über Sachen des Geschmacks verschieden geurteilt wird; man wünscht aber zu einer sicheren Entscheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Ästhetik als eine, der vorhandenen unsicheren Beurteilung des Schönen in der Natur und Kunst vorgeschobene und zum Dienst derselben bestimmte Wissenschaft. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 655 | Sehr richtig. | Sehr richtig. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 656 | Jeder abſtrahirte nun die Geſetze des guten Geſchmacks (ein Wort, das den Alten natuͤrlicherweiſe nicht bekannt war, da ihr Schoͤnheitsſinn nicht allein guten Geſchmack an Artiſtik und Poeterei, ſondern auch am Leben bezeichnete, mit dem unſer guter Geſchmack gar nichts zu ſchaffen hat, Jeder, ſage ich, abſtrahirte die Geſetze des guten Geſchmacks aus den ihm bekannten Poeten und Kuͤnſtlern. | Jeder abstrahierte nun die Gesetze des guten Geschmacks (ein Wort, das den Alten natürlicherweise nicht bekannt war, da ihr Schönheitssinn nicht allein guten Geschmack an Artistik und Poeterei, sondern auch am Leben bezeichnete, mit dem unser guter Geschmack gar nichts zu schaffen hat, jeder, sage ich, abstrahierte die Gesetze des guten Geschmacks aus den ihm bekannten Poeten und Künstlern. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 657 | Da nun das vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV. | Da nun das vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 658 | trug, ſo war man anfangs ziemlich einig uͤber die echten Muſter der Poeſie und Kunſt, und daher auch uͤber die Kunſterzeugniſſe, welche bei der Abfaſſung jener ſteifzierlichen, franzoͤſiſch antiken Meiſterwerke zur Richtſchnur dienen ſollten. | trug, so war man anfangs ziemlich einig über die echten Muster der Poesie und Kunst, und daher auch über die Kunsterzeugnisse, welche bei der Abfassung jener steifzierlichen, französisch antiken Meisterwerke zur Richtschnur dienen sollten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 659 | In Deutſchland wurde ſolche Kritik des Geſchmacks Aeſthetik, und nur etwas langweiliger, gelehrter, philoſophiſcher unter dieſem Namen auf den Univerſitaͤten dozirt. | In Deutschland wurde solche Kritik des Geschmacks Ästhetik, und nur etwas langweiliger, gelehrter, philosophischer unter diesem Namen auf den Universitäten doziert. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 660 | Das durch Winckelmann wieder aufbluͤhende Studium der Antike, die Bekanntſchaft mit Shakſpeare, mit Kalderon und andern auslaͤndiſchen Dichtern, mit dem romantiſchen Mittelalter, mit Indien und Perſien zuletzt, alles dieſes, was zur neuern Geſchmacksbildung, das heißt, zur neuern Geſchmacksverwirrung gehoͤrt, bereicherte und verwirrte auch die Aeſthetik. | Das durch Winckelmann wieder aufblühende Studium der Antike, die Bekanntschaft mit Shakespeare, mit Caldéron und anderen ausländischen Dichteren, mit dem romantischen Mittelalter, mit Indien und Persien zuletzt, alles dieses, was zur neueren Geschmacksbildung, das heißt, zur neueren Geschmacksverwirrung gehört, bereicherte und verwirrte auch die Ästhetik. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 661 | Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die ihren Geſchmack bilden wollten, die halbe Welt durchzuſchmecken, woraus aber mehr Ekel, als Genuß und Bildung hervorging und wovon allmaͤhlig Widerwille gegen alles Aeſthetiſche die natuͤrliche Folge war. | Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die ihren Geschmack bilden wollten, die halbe Welt durchzuschmecken, woraus aber mehr Ekel, als Genuss und Bildung hervorging und wovon allmählich Widerwille gegen alles Ästhetische die natürliche Folge war. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 662 | Beantworte ich alſo die Frage, was uns gegenwaͤrtig als Aeſthetik noch bleibt, damit, daß ich ſage: die alte Aeſthetik fuͤr die, die ihrer noch nicht uͤberdruͤſſig geworden ſind, fuͤr die Andern aber, das leiſe aͤſthetiſche Gefuͤhl, das im Schooß der Zeit ſich regt, das prophetiſche Gefuͤhl einer neu beginnenden Weltanſchauung, das ſich von Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die Einleitung zur kuͤnftigen Aeſthetik. | Beantworte ich also die Frage, was uns gegenwärtig als Ästhetik noch bleibt, damit, dass ich sage: die alte Ästhetik für die, die ihrer noch nicht überdrüssig geworden sind, für die Anderen aber, das leise ästhetische Gefühl, das im Schoß der Zeit sich regt, das prophetische Gefühl einer neu beginnenden Weltanschauung, das sich von Tage zu Tage bewusster und deutlicher wird, die Einleitung zur künftigen Ästhetik. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 663 | Als eine ſolche, meine Herren, moͤgen Sie auch die gegenwaͤrtigen Vorleſungen betrachten. | Als eine solche, meine Herren, mögen Sie auch die gegenwärtigen Vorlesungen betrachten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 664 | Was uns betrifft, ſo koͤnnte uns ſchon deswegen die gewoͤhnliche Aeſthetik nicht genießlich ſein, da wir im Norden aller kuͤnſtleriſchen Bildung ermangeln, da es am hieſigen Ort weder Gemaͤldeſammlungen, noch Gypsabdruͤcke, noch Daktiliotheken gibt, da ich auch auf keine Anſchauungen der Art hinweiſen, noch mich auf fruͤhere berufen koͤnnte. | Was uns betrifft, so könnte uns schon deswegen die gewöhnliche Ästhetik nicht genießlich sein, da wir im Norden aller künstlerischen Bildung ermangeln, da es am hiesigen Ort weder Gemäldesammlungen, noch Gipsabdrücke, noch Daktyliotheken gibt, da ich auch auf keine Anschauungen der Art hinweisen, noch mich auf frühere berufen könnte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 665 | Hoͤren Sie alſo den Plan, den ich in der Zukunft befolgen werde. | Hören Sie also den Plan, den ich in der Zukunft befolgen werde. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 666 | Was den Stoff betrifft, ſo muͤſſen wir uns, einige Allgemeinheiten abgerechnet, allerdings beſchraͤnken auf Poetik und Rhetorik, was den Geiſt und die Darſtellung betrifft, hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare Pedanterie fruͤherer Behandlungen, ſo wenig als moͤglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe ſein wird, ſowohl Poeſie als Proſa im Zuſammenhang mit den Richtungen der Zeit aufzufaſſen und Sie das Geſetz der Schoͤnheit, das uͤber beiden gemeinſchaftlich waltet, als das Geſetz der werdenden Weltanſchauung ahnen zu laſſen. | Was den Stoff betrifft, so müssen wir uns, einige Allgemeinheiten abgerechnet, allerdings beschränken auf Poetik und Rhetorik, was den Geist und die Darstellung betrifft, hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare Pedanterie früherer Behandlungen, so wenig als möglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe sein wird, sowohl Poesie als Prosa im Zusammenhang mit den Richtungen der Zeit aufzufassen und Sie das Gesetz der Schönheit, das über beiden gemeinschaftlich waltet, als das Gesetz der werdenden Weltanschauung ahnen zu lassen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 667 | Meine Bemerkungen werden ſich anreihen an die Werke einiger neuerer Schriftſteller, an Byron und Goethe in poetiſcher, an Heinrich Heine in proſaiſch ſtiliſtiſcher Beziehung. | Meine Bemerkungen werden sich anreihen an die Werke einiger neuerer Schriftsteller, an Byron und Goethe in poetischer, an Heinrich Heine in prosaisch stilistischer Beziehung. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 668 | Die Proſa wird vor allen Dingen unſer Augenmerk ſein, und ich hoffe Sie ſelbſt in den letzten Stunden zu praktiſchen Uebungen zu bewegen. | Die Prosa wird vor allen Dingen unser Augenmerk sein, und ich hoffe Sie selbst in den letzten Stunden zu praktischen Übungen zu bewegen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 669 | Die Proſa iſt eine Waffe jetzt und man muß ſie ſchaͤrfen; dies allein ſchon waͤre ein erfreuliches Reſultat unſeres Zuſammentreffens. | Die Prosa ist eine Waffe jetzt und man muss sie schärfen; dies allein schon wäre ein erfreuliches Resultat unseres Zusammentreffens. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 670 | Haben wir die aͤſthetiſche Weltanſchauung als eine Offenbarung der Geſchichte angeſprochen, unſerer Zeit aber eine ſolche abgeſprochen, ſo muͤſſen wir deſſenungeachtet das Zugeſtaͤndniß machen, daß das aͤſthetiſche Gefuͤhl auch zu unſerer Zeit Anſpruͤche mache, Urtheile faͤlle, zu Handlungen reize, Befriedigung ſuche. | Haben wir die ästhetische Weltanschauung als eine Offenbarung der Geschichte angesprochen, unserer Zeit aber eine solche abgesprochen, so müssen wir dessen ungeachtet das Zugeständnis machen, dass das ästhetische Gefühl auch zu unserer Zeit Ansprüche mache, Urteile fälle, zu Handlungen reize, Befriedigung suche. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 671 | Wir ſchreiben uns einen Geſchmack zu, um eine ſchoͤne That von einer haͤßlichen zu unterſcheiden, um eine Sudelei nicht mit einem Meiſterwerk zu verwechſeln; und ſind wir ſelbſt die Handelnden und die Kuͤnſtler, ſo trachten wir bei unſern Handlungen und Produktionen ſowohl nach eigenem, als nach fremdem Beifall, und ſuchen das Mißfallende nach Kraͤften zu vermeiden. | Wir schreiben uns einen Geschmack zu, um eine schöne Tat von einer hässlichen zu unterscheiden, um eine Sudelei nicht mit einem Meisterwerk zu verwechseln; und sind wir selbst die Handelnden und die Künstler, so trachten wir bei unseren Handlungen und Produktionen sowohl nach eigenem, als nach fremdem Beifall, und suchen das Missfallende nach Kräften zu vermeiden. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 672 | Was alſo unterſcheidet uns und unſere Zeit von ſolchen Menſchen und Zeiten, die ſich einer gemeinſamen Weltanſchauung zu ruͤhmen haben? | Was also unterscheidet uns und unsere Zeit von solchen Menschen und Zeiten, die sich einer gemeinsamen Weltanschauung zu rühmen haben? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 673 | Nach dem Bisherigen und Ihrem eigenen Gefuͤhl iſt die Antwort: der Mangel an Einheit und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit, und daher der Mangel an Wahrheit. | Nach dem Bisherigen und Ihrem eigenen Gefühl ist die Antwort: der Mangel an Einheit und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit, und daher der Mangel an Wahrheit. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 674 | Wir ſind im Handeln eben ſo unſicher, wie im Genießen, im Schaffen eben ſo ſchwankend, wie im Beurtheilen, Kopf ſtoͤßt ſich an Kopf, Gefuͤhl an Gefuͤhl, es iſt eine Welt von Diſſonanzen, die ihren Generalbaß erſt von der Zukunft erwartet. | Wir sind im Handeln eben so unsicher, wie im Genießen, im Schaffen eben so schwankend, wie im Beurteilen, Kopf stößt sich an Kopf, Gefühl an Gefühl, es ist eine Welt von Dissonanzen, die ihren Generalbass erst von der Zukunft erwartet. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 675 | Was iſt ſchoͤn? | Was ist schön? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 676 | Was nennt man heutzutage unisono eine ſchoͤne That? | Was nennt man heutzutage unisono eine schöne Tat? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 677 | Denken Sie an den Aufſtand der Polen! | Denken Sie an den Aufstand der Polen! |
wienbarg_feldzuege_1834 | 678 | — Daß vor vielen Jahrhunderten die Schweizer ſich von Oeſtreich losriſſen, daß Tell den Gesler erſchoß, daß Winkelried der Freiheit eine Mauer war und die feindlichen Lanzen in ſeine eigne Bruſt ſchob, das finden wir allerdings unisono ſchoͤn und es iſt jedem Deutſchen ſowohl polizeilich, als aͤſthetiſch erlaubt, daruͤber in gelinden Enthuſiasmus zu gerathen. | — Dass vor vielen Jahrhunderten die Schweizer sich von Österreich losrissen, dass Tell den Gessler erschoss, dass Winkelried der Freiheit eine Mauer war und die feindlichen Lanzen in seine eigene Brust schob, das finden wir allerdings unisono schön und es ist jedem Deutschen sowohl polizeilich, als ästhetisch erlaubt, darüber in gelinden Enthusiasmus zu geraten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 679 | Allein, daß ein ſchaͤndlich zerſtuͤcktes und unterdruͤcktes Volk vor unſern Augen die Eisdecke der Tyrannei in die Luft ſprengt, daß es eine Nacht gab, wo wir ruhig in unſern Betten ſchliefen und Gott weiß, von welcher Oper traͤumten, eine Nacht, wo eine Handvoll kuͤhner Juͤnglinge den Palaſt zu Warſchau ſtuͤrmten und nach der Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen einer Morgenroͤthe zujauchzten, welche die geſprengten Ketten einer großen und edelmuͤthigen Nation beleuchtete, dieſes Ereigniß und alle die glaͤnzenden Thaten und Opfer, die es nach ſich zog — fand es ſo allgemeinen Anklang, riß es ſo allgemein und wahrhaft die Gemuͤther hin, oder hoͤrte man nicht, wo Zwoͤlf zuſammenſtanden, den Einen verabſcheuen, den Andern bewundern und Zehen mit den Haͤnden klatſchen, als wohnten ſie nur im Theater der Welt der Auffuͤhrung eines ſchoͤnen Stuͤckes bei. | Allein, dass ein schändlich zerstücktes und unterdrücktes Volk vor unseren Augen die Eisdecke der Tyrannei in die Luft sprengt, dass es eine Nacht gab, wo wir ruhig in unseren Betten schliefen und Gott weiß, von welcher Oper träumten, eine Nacht, wo eine Handvoll kühner Jünglinge den Palast zu Warschau stürmten und nach der Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen einer Morgenröte zujauchzten, welche die gesprengten Ketten einer großen und edelmütigen Nation beleuchtete, dieses Ereignis und alle die glänzenden Taten und Opfer, die es nach sich zog — fand es so allgemeinen Anklang, riss es so allgemein und wahrhaft die Gemüter hin, oder hörte man nicht, wo Zwölf zusammenstanden, den Einen verabscheuen, den Anderen bewundern und Zehn mit den Händen klatschen, als wohnten sie nur im Theater der Welt der Aufführung eines schönen Stückes bei. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 680 | Ich fuͤhre eben dieſes tragiſche, uns ſo nahe liegende Beiſpiel an, um zu zeigen, was es fuͤr eine Bewandtniß habe mit unſern aͤſthetiſchen Gefuͤhlen, wenn auch die gluͤhendſte Thatenſchoͤnheit ſich vor unſern Blicken aufthut. | Ich führe eben dieses tragische, uns so naheliegende Beispiel an, um zu zeigen, was es für eine Bewandtnis habe mit unseren ästhetischen Gefühlen, wenn auch die glühendste Tatenschönheit sich vor unseren Blicken auftut. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 681 | Hier ſehen Sie eine That, von deren Schoͤnheit man durchdrungen ſein muß, wenn man einen Tropfen Roͤmerblut, einen Hauch aus Timoleons Seele in ſich ſpuͤrt, wenn nicht Alles Luͤge und Schulgeſchwaͤtz iſt, was wir der alten Geſchichte nachruͤhmen, der kontraſtirendſten Beurtheilung anheim fallen, nach den Extremen der Bewunderung und des Abſcheus hingetrieben und bei der Menge entweder dumpfes Staunen, ſtupides Ergoͤtzen, oder eine Art von kuͤnſtleriſchem, dramatiſch-theatraliſchem Wohlgefallen erregend. | Hier sehen Sie eine Tat, von deren Schönheit man durchdrungen sein muss, wenn man einen Tropfen Römerblut, einen Hauch aus Timoleons Seele in sich spürt, wenn nicht alles Lüge und Schulgeschwätz ist, was wir der alten Geschichte nachrühmen, der kontrastierendsten Beurteilung anheimfallen, nach den Extremen der Bewunderung und des Abscheus hingetrieben und bei der Menge entweder dumpfes Staunen, stupides Ergötzen, oder eine Art von künstlerischem, dramatisch-theatralischem Wohlgefallen erregend. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 682 | Ein ſolches Schickſal, meine Herren, wird jede andere ſchoͤne That unter uns erleben: | Ein solches Schicksal, meine Herren, wird jede andere schöne Tat unter uns erleben: |
wienbarg_feldzuege_1834 | 683 | Viele werden ſie ſchoͤn finden, nicht als Ereigniß der Geſchichte, nicht als ſittliche Handlung, nicht als wiederbegeiſternde Begeiſterung ſchoͤner Seelen, ſondern als ein ſchoͤnes Naturoder Kunſtprodukt, deſſen bequeme und ruhige Betrachtung wohl eine angenehme Waͤrme im Herzen verbreitet, aber eine Waͤrme, die fuͤr das Herz ſo flau und unſchuldig iſt, wie eine Taſſe Thee fuͤr den Magen; immer nur Wenige wird es geben, denen die That auf's Herz ſchießt, wie ein Blitz, entzuͤndend, begeiſternd, zu aͤhnlichen Thaten befluͤgelnd, kurz, auf deren Gemuͤth die geſchichtliche, lebendige Schoͤnheit, wie es in ihrem urſpruͤnglichen Weſen liegt, geſchichtlich und lebendig wirkſam iſt. | Viele werden sie schön finden, nicht als Ereignis der Geschichte, nicht als sittliche Handlung, nicht als wiederbegeisternde Begeisterung schöner Seelen, sondern als ein schönes Naturoder Kunstprodukt, dessen bequeme und ruhige Betrachtung wohl eine angenehme Wärme im Herzen verbreitet, aber eine Wärme, die für das Herz so flau und unschuldig ist, wie eine Tasse Tee für den Magen; immer nur Wenige wird es geben, denen die Tat aufs Herz schießt, wie ein Blitz, entzündend, begeisternd, zu ähnlichen Taten beflügelnd, kurz, auf deren Gemüt die geschichtliche, lebendige Schönheit, wie es in ihrem ursprünglichen Wesen liegt, geschichtlich und lebendig wirksam ist. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 684 | Leichter, werden Sie ſagen, vereinigt man ſich uͤber die Schoͤnheiten der Kunſt und Dichtung. | Leichter, werden Sie sagen, vereinigt man sich über die Schönheiten der Kunst und Dichtung. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 685 | Sie haben recht, und das iſt es auch eben, was dem Kuͤnſtler und Dichter nicht allen Muth nimmt in dem Maß, wie dem handelnden Menſchen, das iſt ſogar die Urſache, weswegen der Aeſthetiker, wenn er auch ſeiner Aufgabe nicht entſprechen kann, die Aeſthetik nicht ganz fahren laͤßt. | Sie haben recht, und das ist es auch eben, was dem Künstler und Dichter nicht allen Mut nimmt in dem Maß, wie dem handelnden Menschen, das ist sogar die Ursache, weswegen der Ästhetiker, wenn er auch seiner Aufgabe nicht entsprechen kann, die Ästhetik nicht ganz fahren lässt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 686 | Laſſen Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakſpeare, die Polenrevolution, den Kampf und Untergang der Freiheit, großartig poetiſch in ruhiger Zeit auf die Breter bringen, „welche nicht die Welt ſind, ſondern die Welt bedeuten,“ wie Schiller ſagt, dann werden Sie hoͤren, wie alle Urtheile ſich vereinigen, wie das Parterre klatſcht, wie die Faͤhndriche ſich in die Bruſt werfen, wie die Kritiker ihre Brillen wiſchen, welcher Enthuſiasmus ſich in den Logen verbreitet und wie vielleicht ſelbſt ein erſtarrtes Amts- und Miniſtergeſicht am Schluß des Stuͤcks und der Freiheit Thraͤnenwaſſer und einen Reſt von Mitgefuͤhl und Wehmuth auf den Wangen hat. | Lassen Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakespeare, die Polenrevolution, den Kampf und Untergang der Freiheit, großartig poetisch in ruhiger Zeit auf die Bretter bringen, „welche nicht die Welt sind, sondern die Welt bedeuten,“ wie Schiller sagt, dann werden Sie hören, wie alle Urteile sich vereinigen, wie das Parterre klatscht, wie die Fähnriche sich in die Brust werfen, wie die Kritiker ihre Brüllen wischen, welcher Enthusiasmus sich in den Logen verbreitet und wie vielleicht selbst ein erstarrtes Amts- und Ministergesicht am Schluss des Stücks und der Freiheit Tränenwasser und einen Rest von Mitgefühl und Wehmut auf den Wangen hat. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 687 | Woher dieſe Erſcheinung? | Woher diese Erscheinung? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 688 | Hat der Dichter Begeiſterung und Schmerz der That erſt hinzugedichtet, oder gehoͤren ſie nicht vielmehr der That an; hat der Dichter Erhabenes und Schoͤnes aus ſeinem Hirn geboren oder iſt nicht bereits die That erhaben und ſchoͤn, liegt Alles, was ſo maͤchtig ruͤhrt, nur darin, daß es in Verſen ausgeſprochen und in fuͤnf Akte vertheilt iſt, oder hat die Poeſie einen tieferen Grund, weswegen ſie zum Herzen ſpricht? | Hat der Dichter Begeisterung und Schmerz der Tat erst hinzugedichtet, oder gehören sie nicht vielmehr der Tat an; hat der Dichter Erhabenes und Schönes aus seinem Hirn geboren oder ist nicht bereits die Tat erhaben und schön, liegt alles, was so mächtig rührt, nur darin, dass es in Versen ausgesprochen und in fünf Akte verteilt ist, oder hat die Poesie einen tieferen Grund, weswegen sie zum Herzen spricht? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 689 | Ja, die Poeſie hat einen tieferen Grund. | Ja, die Poesie hat einen tieferen Grund. |