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wienbarg_feldzuege_1834 | 90 | An Leuten, die vor Gelehrſamkeit ſtrotzen und halb daruͤber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfſinn und Spitzfindigkeit beſtaͤndig auf Nadeln gehen, an uͤberſchwaͤnglichen Poeten, an wahnſinnigen Muſicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Froͤmmlern, an Charakteren dieſer Art, fehlt es allerdings nicht in Deutſchland, allein ihre Fuͤlle und Anzahl beſtaͤtigt eben meine Behauptung, daß man zu wenig Charakter und Ausbildung deſſelben unter uns antreffe. | An Leuten, die vor Gelehrsamkeit strotzen und halb darüber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfsinn und Spitzfindigkeit beständig auf Nadeln gehen, an überschwänglichen Poeten, an wahnsinnigen Musicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Frömmlern, an Charakteren dieser Art, fehlt es allerdings nicht in Deutschland, allein ihre Fülle und Anzahl bestätigt eben meine Behauptung, dass man zu wenig Charakter und Ausbildung desselben unter uns antreffe. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 91 | Es ſind dieſe und aͤhnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur ſchlechte Kopien), lebendige Muſter der charakterloſen Einſeitigkeit einer zerſplitterten Zeit, die ſich zum wahren Charakter der Humanitaͤt in gar kein anderes Verhaͤltniß ſtellen laſſen, als in das der Scheuchbilder einer menſchlichen Geſtalt zur menſchlichen Geſtalt ſelber. | Es sind diese und ähnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur schlechte Kopien), lebendige Muster der charakterlosen Einseitigkeit einer zersplitterten Zeit, die sich zum wahren Charakter der Humanität in gar kein anderes Verhältnis stellen lassen, als in das der Scheuchbilder einer menschlichen Gestalt zur menschlichen Gestalt selber. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 92 | Daß ſolche und aͤhnliche Charaktere oder Charakterverzerrungen unfaͤhig ſind, den Stempel der Schoͤnheit aufzunehmen, bedarf wohl keiner Erlaͤuterung. | Dass solche und ähnliche Charaktere oder Charakterverzerrungen unfähig sind, den Stempel der Schönheit aufzunehmen, bedarf wohl keiner Erläuterung. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 93 | Eine zweite und noch zahlreichere Gattung von Charakteren liefern uns die Geſchaͤftsmaͤnner in allen Zweigen des Lebens; die Amtleute, Juriſten, Advokaten, Sachwalter; dieſe Generalpaͤchter des Geſetzes und der Gerechtigkeit, die noch in ſo vielen Laͤndern die Barbarei eines unbekannten, undeutſchen, unvolksthuͤmlichen und daher rechtloſen Rechts taͤglich verewigen und die daher ſeit alter Zeit eine pedantiſch gelehrte Kaſte bilden, welche, wie alles Kaſtenweſen, der freien Bildung und ſchoͤnen Humanitaͤt ſchnurſtracks entgegenlaͤuft, — die Aerzte, welche ebenfalls ihre Wiſſenſchaft und ihr ganzes Treiben vor den Augen der gebildeten Nation verbergen und ſich in den Nimbus einer Kunſt huͤllen, die an unſern eigenen Leibern experimentirt und taſtet — die Schulmaͤnner, die ſich noch immer nicht entſchließen koͤnnen, ihre Perruͤcke abzulegen und deutſche Juͤnglinge ſtatt Latiniſten und Graͤziſiſten fuͤrs Leben heranzubilden — die Theologen — kurz alle Aemter, die als ſogenannte Brodſtudien auf unſern Univerſitaͤten in eigenen abgeſchloſſenen Disziplinen gelehrt werden, wie wenig entſprechen ſie im Ganzen, Großen, wie im Einzelnen dem reinen Bilde der Humanitaͤt, und wie ſelten kann man beim Anblick des Wirkens der in dieſen und durch dieſe Disziplinen ausgebildeten Maͤnner freudig ausrufen, hier iſt ein Charakter, der rein und freudig im Geiſte ſeines Volks und im Hoͤheren der Menſchheit ruht, ein individueller Menſch, der natuͤrlich und aus dem Grunde lebt, der die Wiſſenſchaft, die Kunſt und Alles, was er treibt, nicht auf angelernte Weiſe handwerksmaͤßig treibt, ſondern mit innerem Drang, mit eigenem Denken und nach ſelbſtgemachten Erfahrungen, ein Geiſt, deſſen charakteriſcher Zug es eben iſt, die Bahn, die Art und Weiſe ſeiner Thaͤtigkeit ſich weder von außen aufdringen zu laſſen, noch ſich ſelber mit Willkuͤhr zu ſetzen, ſondern mit klarer Beſonnenheit zu waͤhlen. | Eine zweite und noch zahlreichere Gattung von Charakteren liefern uns die Geschäftsmänner in allen Zweigen des Lebens; die Amtleute, Juristen, Advokaten, Sachwalter; diese Generalpächter des Gesetzes und der Gerechtigkeit, die noch in so vielen Ländern die Barbarei eines unbekannten, undeutschen, unvolkstümlichen und daher rechtlosen Rechts täglich verewigen und die daher seit alter Zeit eine pedantisch gelehrte Kaste bilden, welche, wie alles Kastenwesen, der freien Bildung und schönen Humanität schnurstracks entgegenläuft, — die Ärzte, welche ebenfalls ihre Wissenschaft und ihr ganzes Treiben vor den Augen der gebildeten Nation verbergen und sich in den Nimbus einer Kunst hüllen, die an unseren eigenen Leibern experimentiert und tastet — die Schulmänner, die sich noch immer nicht entschließen können, ihre Perücke abzulegen und deutsche Jünglinge statt Latinisten und Gräzisisten fürs Leben heranzubilden — die Theologen — kurz alle Ämter, die als sogenannte Brotstudien auf unseren Universitäten in eigenen abgeschlossenen Disziplinen gelehrt werden, wie wenig entsprechen sie im Ganzen, Großen, wie im Einzelnen dem reinen Bilde der Humanität, und wie selten kann man beim Anblick des Wirkens der in diesen und durch diese Disziplinen ausgebildeten Männer freudig ausrufen, hier ist ein Charakter, der rein und freudig im Geiste seines Volkes und im Höheren der Menschheit ruht, ein individueller Mensch, der natürlich und aus dem Grunde lebt, der die Wissenschaft, die Kunst und alles, was er treibt, nicht auf angelernte Weise handwerksmäßig treibt, sondern mit innerem Drang, mit eigenem Denken und nach selbstgemachten Erfahrungen, ein Geist, dessen charakteristischer Zug es eben ist, die Bahn, die Art und Weise seiner Tätigkeit sich weder von außen aufdringen zu lassen, noch sich selber mit Willkür zu setzen, sondern mit klarer Besonnenheit zu wählen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 94 | An der Bildung eines ſolchen Mannes, meine Herren, mag vielleicht die letzte Feile fehlen, ſeiner geiſtigen Geſtaltung, ſeiner leiblichen Erſcheinung noch Manches abgehen, was der Grieche des Perikles, der auf jeden Zug, auf jedes Wort, auf jede Bewegung achtete, Sorgfalt verwandte, was der ungern vermißt haͤtte, es mag ihm noch nicht der rechte Sinn aufgegangen ſein fuͤr die tiefe Bedeutſamkeit der aͤußeren ſchoͤnen Form, fuͤr die himmliſche Bluͤthe des Geiſtes, fuͤr den reinen Abdruck der innern Harmonie, es mag ihm Sinn und Gemuͤth noch nicht gehoͤrig aufgeſchloſſen ſein fuͤr die Freuden der Kunſt, fuͤr den Genuß der Poeſie, er mag den Apoll von Belvedere noch nicht bewundern, ſich fuͤr die Goethiſche Iphigenie noch nicht begeiſtern, ſich vom Zauber einer ſchoͤnen Gegend, einer Mozartſchen Muſik nicht hinreißen laſſen, ſich uͤberhaupt noch nicht uͤber den bloßen baaren Ernſt des Lebens in die freiere Region erhoben haben, wo der Ernſt ein Spiel und das Spiel ein Ernſt iſt, ich meine die Region der Kunſt, der aͤſthetiſchen Anſchauungen des Lebens — aber er iſt vorbereitet, er iſt des Beſten wuͤrdig, was Gott fuͤr uns beſtimmt hat, des Genuſſes, den nur derjenige ahnt, dem er dafuͤr Empfaͤnglichkeit gegeben, und dem Welt, Erziehung und Geſellſchaft deſſen nicht beraubt haben. | An der Bildung eines solchen Mannes, meine Herren, mag vielleicht die letzte Feile fehlen, seiner geistigen Gestaltung, seiner leiblichen Erscheinung noch manches abgehen, was der Grieche des Perikles, der auf jeden Zug, auf jedes Wort, auf jede Bewegung achtete, Sorgfalt verwandte, was der ungern vermisst hätte, es mag ihm noch nicht der rechte Sinn aufgegangen sein für die tiefe Bedeutsamkeit der äußeren schönen Form, für die himmlische Blüte des Geistes, für den reinen Abdruck der inneren Harmonie, es mag ihm Sinn und Gemüt noch nicht gehörig aufgeschlossen sein für die Freuden der Kunst, für den Genuss der Poesie, er mag den Apoll von Belvedere noch nicht bewundern, sich für die Goethesche Iphigenie noch nicht begeistern, sich vom Zauber einer schönen Gegend, einer Mozartschen Musik nicht hinreißen lassen, sich überhaupt noch nicht über den bloßen baren Ernst des Lebens in die freiere Region erhoben haben, wo der Ernst ein Spiel und das Spiel ein Ernst ist, ich meine die Region der Kunst, der ästhetischen Anschauungen des Lebens — aber er ist vorbereitet, er ist des Besten würdig, was Gott für uns bestimmt hat, des Genusses, den nur derjenige ahnt, dem er dafür Empfänglichkeit gegeben, und dem Welt, Erziehung und Gesellschaft dessen nicht beraubt haben. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 95 | Allein, ſo lange noch das Leben ſelbſt, das uns von der Wiege auf umfaͤngt, ſo lange noch die Schule, die Univerſitaͤt, dieſe Bildungsmittel unſeres Geiſtes, ſpaͤter der Staat und das, was jetzt unter dem Namen der guten Societé und im weitern Umfang, der buͤrgerlichen Geſellſchaft beſteht, ſo lange dies Alles der eigenthuͤmlichen Bildung und Entwicklung unſers Charakters mit Haͤnden und Fuͤßen entgegenarbeitet, werden ſolche Maͤnner immer nur zu den ſeltenen Erſcheinungen gehoͤren und ſomit auch die Ausbildung des Schoͤnheitſinnes, nach meiner innigſten Ueberzeugung, eine vergebliche, ja in vielen Faͤllen ſchaͤdliche ſein, eine Erfahrung, die wir ſowohl an jenen geſchmackvollen Kunſtkennern machen, welche in unmaͤnnlicher Sorgloſigkeit und Unbekuͤmmertheit die Wiſſenſchaft ums Vaterland und die großen Intereſſen der Zeit, in italieniſchen und antiken Kunſtgenuͤſſen ſchwelgen, oder, wenn ſie es nicht zur Kunſtkennerſchaft bringen, fade Schoͤngeiſter werden, die ſich bei den Gebildeten, und die Aeſthetik mit ihrer Perſon beim großen Haufen laͤcherlich machen. | Allein, solange noch das Leben selbst, das uns von der Wiege auf umfängt, solange noch die Schule, die Universität, diese Bildungsmittel unseres Geistes, später der Staat und das, was jetzt unter dem Namen der guten Societé und im Weitern Umfang, der bürgerlichen Gesellschaft besteht, solange dies alles der eigentümlichen Bildung und Entwicklung unseres Charakters mit Händen und Füßen entgegenarbeitet, werden solche Männer immer nur zu den seltenen Erscheinungen gehören und somit auch die Ausbildung des Schönheitsinnes, nach meiner innigsten Überzeugung, eine vergebliche, ja in vielen Fällen schädliche sein, eine Erfahrung, die wir sowohl an jenen geschmackvollen Kunstkennern machen, welche in unmännlicher Sorglosigkeit und Unbekümmertheit die Wissenschaft um das Vaterland und die großen Interessen der Zeit, in italienischen und antiken Kunstgenüssen schwelgen, oder, wenn sie es nicht zur Kunstkennerschaft bringen, fade Schöngeister werden, die sich bei den Gebildeten, und die Ästhetik mit ihrer Person beim großen Haufen lächerlich machen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 96 | Vom Letzteren habe ich bisher noch gar nicht einmal geſprochen, indem ich die Unfaͤhigkeit unſerer Zeit zum Genuß und zur Wuͤrdigung des Schoͤnen in dieſer Einleitung beruͤhrte. | Vom Letzteren habe ich bisher noch gar nicht einmal gesprochen, indem ich die Unfähigkeit unserer Zeit zum Genuss und zur Würdigung des Schönen in dieser Einleitung berührte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 97 | Wer hat ihn, dieſen großen Haufen, beſſer geſchildert als Kant in ſeinem Werke uͤber das Gefuͤhl des Schoͤnen und Erhabenen, wenn er ſpottend ſagt: wohlbeleibte Perſonen, deren Autor der Koch iſt und deren Werke von feinem Geſchmack im Keller liegen, werden bei gemeinen Zoten und einem plumpen Scherz in eben ſo lebhafte Freude gerathen, als diejenige iſt, worauf Perſonen von edler Empfindung ſo ſtolz ſind. | Wer hat ihn, diesen großen Haufen, besser geschildert als Kant in seinem Werke über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, wenn er spottend sagt: wohlbeleibte Personen, deren Autor der Koch ist und deren Werke von feinem Geschmack im Keller liegen, werden bei gemeinen Zoten und einem plumpen Scherz in eben so lebhafte Freude geraten, als diejenige ist, worauf Personen von edler Empfindung so stolz sind. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 98 | Ein bequemer Mann, der die Lektuͤre der Buͤcher liebt, weil es ſich ſo wohl dabei einſchlafen laͤßt; der Kaufmann, dem alles Vergnuͤgen laͤppiſch erſcheint, dasjenige ausgenommen, das ein kluger Mann genießt, wenn er ſeinen Handlungsvortheil uͤberſchlaͤgt; der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder wilde Thiere, Alle dieſe haben ein Gefuͤhl, welches ſie faͤhig macht, Vergnuͤgen nach ihrer Art zu genießen, ohne daß ſie andere beneiden duͤrfen, oder auch von andern ſich einen Begriff machen koͤnnen — allein, ich wende fuͤr jetzt keine Aufmerkſamkeit darauf. | Ein bequemer Mann, der die Lektüre der Bücher liebt, weil es sich so wohl dabei einschlafen lässt; der Kaufmann, dem alles Vergnügen läppisch erscheint, dasjenige ausgenommen, das ein kluger Mann genießt, wenn er seinen Handlungsvorteil überschlägt; der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder wilde Tiere, alle diese haben ein Gefühl, welches sie fähig macht, Vergnügen nach ihrer Art zu genießen, ohne dass sie andere beneiden dürfen, oder auch von anderen sich einen Begriff machen können — allein, ich wende für jetzt keine Aufmerksamkeit darauf. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 99 | Es gibt noch ein Gefuͤhl von feinerer Art, und ſo fort, unter dieſem Gefuͤhl verſtand Kant das Gefuͤhl fuͤr das Schoͤne und Erhabene, das in ihm ſelbſt, wenn auch mit Uebergewicht fuͤr das geiſtig und moraliſch Erhabene lebendiger war, als in den meiſten ſeiner ſpaͤteren Juͤnger, Fichte und Schelling ausgenommen. | Es gibt noch ein Gefühl von feinerer Art, und so fort, unter diesem Gefühl verstand Kant das Gefühl für das Schöne und Erhabene, das in ihm selbst, wenn auch mit Übergewicht für das geistig und moralisch erhabene lebendiger war, als in den meisten seiner späteren Jünger, Fichte und Schelling ausgenommen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 100 | Ueberhaupt bin ich weit entfernt, wenn ich den Deutſchen der naͤchſtvergangenen und heutigen Welt das rechte Lebenselement und daher den rechten Sinn der Schoͤnheit abſpreche, in dieſer Behauptung den Einfluͤſterungen gewiſſer Schriftſteller Raum zu geben, die allzu leichtfertig uͤber unſere Nation den Stab brechen. | Überhaupt bin ich weit entfernt, wenn ich den Deutschen der nächstvergangenen und heutigen Welt das rechte Lebenselement und daher den rechten Sinn der Schönheit abspreche, in dieser Behauptung den Einflüsterungen gewisser Schriftsteller Raum zu geben, die allzu leichtfertig über unsere Nation den Stab brechen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 101 | Vor dieſer Geſinnung ſchuͤtze uns nicht eben die Stumpfheit, die man uns uͤberm Rheine vorwirft und die Gleichguͤltigkeit gegen das Urtheil der Welt — denn man kann wohl ſagen, daß die ganze Welt uͤber uns richtet, und daß wir nicht allein dem raſchen Franzoſen, ſondern auch dem bedaͤchtigen Englaͤnder, ja ſelbſt dem knechtiſch-feigen Italiener ein willkommner ſatyriſcher Stoff ſind — ſondern der Glaube an unſere Nation, das Vertrauen auf die Zeit, die Roſen und Ketten bricht, die Kenntniß unſerer Geſchichte, die uns einen Spiegel vorhaͤlt, worin wir eine beſſere und glaͤnzendere Vorzeit beſchauen. | Vor dieser Gesinnung schütze uns nicht eben die Stumpfheit, die man uns überm Rheine vorwirft und die Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Welt — denn man kann wohl sagen, dass die ganze Welt über uns richtet, und dass wir nicht allein dem raschen Franzosen, sondern auch dem bedächtigen Engländer, ja selbst dem knechtisch-feigen Italiener ein willkommener satirischer Stoff sind — sondern der Glaube an unsere Nation, das Vertrauen auf die Zeit, die Rosen und Ketten bricht, die Kenntnis unserer Geschichte, die uns einen Spiegel vorhält, worin wir eine bessere und glänzendere Vorzeit beschauen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 102 | Ja, ich bin im Gegentheil ſo weit entfernt von Kleinmuth, daß ich der Ueberzeugung lebe, keine einzige von den großen europaͤiſchen Nationen ſei von der Natur beſſer bedacht, als eben die unſrige. | Ja, ich bin im Gegenteil so weit entfernt von Kleinmut, dass ich der Überzeugung lebe, keine einzige von den großen europäischen Nationen sei von der Natur besser bedacht, als eben die unsrige. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 103 | Das ſehen wir am Mittelalter, an demſelben Mittelalter, das, als es veraltet war, Luthers Hand, und der dreißigjaͤhrige Krieg, und der ſiebenjaͤhrige, und die Revolution und NapoIeon und die Befreiungskriege, Alles, was auf Deutſchland losgeſtuͤrmt hat, nicht ſo weit hat zerſtoͤren und abbrechen koͤnnen, daß nicht noch gegenwaͤrtig die alten zerbroͤckelten Saͤulen und Bogengaͤnge in Schulen und auf Univerſitaͤten, in Kirche und Staat vor unſern Augen daſtaͤnden, und uns an eine Zeit ermahnten, deren geiſtiges Prinzip laͤngſt untergegangen iſt, deren leiblicher Schutt aber noch immer unausgekehrt, Leben und Wachsthum hemmend in der Gegenwart liegt. | Das sehen wir am Mittelalter, an demselben Mittelalter, das, als es veraltet war, Luthers Hand, und der Dreißigjährige Krieg, und der siebenjährige, und die Revolution und Napoleon und die Befreiungskriege, alles, was auf Deutschland losgestürmt hat, nicht so weit hat zerstören und abbrechen können, dass nicht noch gegenwärtig die alten zerbröckelten Säulen und Bogengänge in Schulen und auf Universitäten, in Kirche und Staat vor unseren Augen daständen, und uns an eine Zeit ermahnten, deren geistiges Prinzip längst untergegangen ist, deren leiblicher Schutt aber noch immer unausgekehrt, Leben und Wachstum hemmend in der Gegenwart liegt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 104 | So großartig baute jenes granitne Mittelalter, ſolche Maſſen thuͤrmte es in die Luft, mit ſo feſtem Kitt band es die Formen ſeines Lebens an einander feſt und ſo lange Zeit muß es dauern, daß nach ſeinem Fall eine neue Generation ſich wieder erheben und auf eigenem Grund und Boden fuͤr ſich daſtehen kann. | So großartig baute jenes granitene Mittelalter, solche Massen türmte es in die Luft, mit so festem Kitt band es die Formen seines Lebens aneinander fest und so lange Zeit muss es dauern, dass nach seinem Fall eine neue Generation sich wieder erheben und auf eigenem Grund und Boden für sich dastehen kann. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 105 | Unzweifelhaft leiden wir Deutſchen blos am Mittelalter — daher unſere Pfaffen, daher unſere Hoͤfe, daher unſere Ritter, daher unſere lateiniſchen Juriſten, medici ‚theologi, Promotionen und Diſſertationen und das ganze Spießbuͤrgerthum unſerer politiſchen und gelehrten Welt, woruͤber unſere Nachbarn und wir ſelbſt im guten Humor uns ſo oft luſtig machen. | Unzweifelhaft leiden wir Deutschen bloß am Mittelalter — daher unsere Pfaffen, daher unsere Höfe, daher unsere Ritter, daher unsere lateinischen Juristen, medici, theologi, Promotionen und Dissertationen und das ganze Spießbürgertum unserer politischen und gelehrten Welt, worüber unsere Nachbarn und wir selbst im guten Humor uns so oft lustig machen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 106 | Allein, beweiſt nicht eben dieſe Zaͤhigkeit und Unzerſtoͤrbarkeit der mittelaltrigen Formen, die ein ganz anderer Geiſt beſeelte, fuͤr die ungeheure aufbauende Kraft jener Zeiten? | Allein, beweist nicht eben diese Zähigkeit und Unzerstörbarkeit der mittelaltrigen Formen, die ein ganz anderer Geist beseelte, für die ungeheure aufbauende Kraft jener Zeiten? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 107 | Das iſt aber klar, ſagt Moriz Arndt, daß, wenn man dieſe Zeit aus ihren Werken und Schoͤpfungen erklaͤren und erkennen will, man bei ihnen nicht ſtehen bleiben darf. | Das ist aber klar, sagt Moriz Arndt, dass, wenn man diese Zeit aus ihren Werken und Schöpfungen erklären und erkennen will, man bei ihnen nicht stehen bleiben darf. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 108 | Ein tapferer und hoͤherer Lebensgrund, in der fruͤhſten Zeit geworfen, eine uralte, geiſtreiche und ſeelenvolle Religion, die aus Aſien in die Waͤlder Germaniens eingewandert war, die innigſte und tiefſte Weltanſchauung und Weltdurchdringung, die ſich in tauſend Zeichen und Bildern in der fruͤheſten Sprache wiederſpiegelt, einer Sprache, welche die Geiſter des Lichts erfunden haben — alles dieſes muß man glauben, wenn man begreifen will, wie ein Volk, das ſie im neunten Jahrhundert noch Barbaren nannten, im zwoͤlften und dreizehnten Jahrhundert ſchon ſo herrlich ſchaffen und bilden konnte. | Ein tapferer und höherer Lebensgrund, in der frühsten Zeit geworfen, eine uralte, geistreiche und seelenvolle Religion, die aus Asien in die Wälder Germaniens eingewandert war, die innigste und tiefste Weltanschauung und Weltdurchdringung, die sich in tausend Zeichen und Bildern in der frühesten Sprache widerspiegelt, einer Sprache, welche die Geister des Lichts erfunden haben — alles dieses muss man glauben, wenn man begreifen will, wie ein Volk, das sie im neunten Jahrhundert noch Barbaren nannten, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert schon so herrlich schaffen und bilden konnte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 109 | Woher iſt alles das Namenloſe und Unendliche, was jene fruͤhſte Zeit geboren hat? | Woher ist alles das Namenlose und Unendliche, was jene frühste Zeit geboren hat? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 110 | Aus welcher Bruſt klang zuerſt das Nibelungenlied und ſo viele ſuͤße Volksgeſaͤnge? | Aus welcher Brust klang zuerst das Nibelungenlied und so viele süße Volksgesänge? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 111 | Wer hat die Dome in Mailand, Ulm, Koͤln, Wien, Straßburg und Piſa gebaut? | Wer hat die Dome in Mailand, Ulm, Köln, Wien, Straßburg und Pisa gebaut? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 112 | Woher entſprangen die unendlichen Bilder, gleichſam aller Weltkraͤfte Spiegel, die in tauſend Geſtalten uns wie Traͤume und Daͤmmerungen aus einer lange vergangenen oder wie Andeutungen und Weiſſagungen einer zukuͤnftigen Zeit zu umflattern ſcheinen? | Woher entsprangen die unendlichen Bilder, gleichsam aller Weltkräfte Spiegel, die in tausend Gestalten uns wie Träume und Dämmerungen aus einer lange vergangenen oder wie Andeutungen und Weissagungen einer zukünftigen Zeit zu umflattern scheinen? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 113 | Wahrlich, dieſe Werke und Bilder ſind Beides, denn dieſe freudigen Menſchen lebten mitten in Gott und er ſelbſt ſchuf aus ihnen. | Wahrlich, diese Werke und Bilder sind beides, denn diese freudigen Menschen lebten mitten in Gott und er selbst schuf aus ihnen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 114 | In der That, wenn es nach des ſchoͤnen Griechenlands Entartung eine Epoche in der Weltgeſchichte gab, welche ſich durch ihr reges Walten und Wirken und durch ihren Sinn fuͤr Kunſt und Schoͤnheit die Auszeichnung erwarb, nicht mit Griechenland verglichen, ſondern Griechenland an die Seite geſtellt zu werden, ſo iſt dieſes die Epoche des deutſchen Mittelalters. | In der Tat, wenn es nach des schönen Griechenlands Entartung eine Epoche in der Weltgeschichte gab, welche sich durch ihr reges Walten und Wirken und durch ihren Sinn für Kunst und Schönheit die Auszeichnung erwarb, nicht mit Griechenland verglichen, sondern Griechenland an die Seite gestellt zu werden, so ist dieses die Epoche des deutschen Mittelalters. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 115 | Von ſonſtiger Vergleichung zwiſchen beiden kann allerdings nicht die Rede ſein, jede iſt zu eigenthuͤmlich ausgepraͤgt und kann daher nur aus ſich ſelbſt begriffen und mit ſich ſelbſt verglichen werden. | Von sonstiger Vergleichung zwischen beiden kann allerdings nicht die Rede sein, jede ist zu eigentümlich ausgeprägt und kann daher nur aus sich selbst begriffen und mit sich selbst verglichen werden. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 116 | Man hat die Kunſt und Poeſie des Mittelalters mit dem Namen der romantiſchen, die Kunſt und Poeſie der Alten mit dem Namen der klaſſiſchen getauft, welcher Name und Gegenſatz von einer deutſchen Dichterſchule, Tieck und den beiden Schlegeln, die man ſelbſt zur neuromantiſchen Klaſſe zaͤhlte, ausging, in Deutſchland viel Streit und Gerede machte und ſeit einem Dezennium auch in Frankreich und Italien die groͤßten Spaltungen erregte, indem die jungen franzoͤſiſchen und italieniſchen Dichter ſich zu den deutſchen Romantikern ſchlugen, und im Gegenſatze zu den Nachahmern des altklaſſiſchen Stils ſich mehr der brittiſchen und deutſchen Phantaſiefuͤlle und Regelloſigkeit hingaben, worin ſie hauptſaͤchlich das Weſen der Romantik erblickten. | Man hat die Kunst und Poesie des Mittelalters mit dem Namen der romantischen, die Kunst und Poesie der Alten mit dem Namen der klassischen getauft, welcher Name und Gegensatz von einer deutschen Dichterschule, Tieck und den beiden Schlegeln, die man selbst zur neuromantischen Klasse zählte, ausging, in Deutschland viel Streit und Gerede machte und seit einem Dezennium auch in Frankreich und Italien die größten Spaltungen erregte, indem die jungen französischen und italienischen Dichter sich zu den deutschen Romantikern schlugen, und im Gegensatze zu den Nachahmern des altklassischen Stils sich mehr der britischen und deutschen Phantasiefülle und Regellosigkeit hingaben, worin sie hauptsächlich das Wesen der Romantik erblickten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 117 | Ueberhaupt hat man viel Mißbrauch mit beiderlei Namen getrieben, und man iſt ſich noch jetzt, weder in Deutſchland, noch bei unſern Nachbarn ſelten klar, worin denn eigentlich das unterſchiedliche Weſen der einen und der andern Art beſtehe. | Überhaupt hat man viel Missbrauch mit beiderlei Namen getrieben, und man ist sich noch jetzt, weder in Deutschland, noch bei unseren Nachbarn selten klar, worin denn eigentlich das unterschiedliche Wesen der einen und der anderen Art bestehe. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 118 | Vielleicht druͤckt man ſich daruͤber am Richtigſten aus, wenn man ſagt, die Kunſt der Alten, das iſt, die Klaſſik, habe darin beſtanden, daß ſie jede Idee, die ſie darſtellen wollten, ſei's mit dem Meißel, am Stoff des Marmors, ſei's mit dem Griffel, am Stoff der Sprache, daß ſie jede darzuſtellende Idee, ſo vollkommen an dieſem Stoffe ausdruͤckten, daß nichts mehr und nichts weniger, als eben die Idee ſelbſt ſinnlich vor Augen trat; dagegen die Kunſt der Romantiker darin beſtand und beſteht, daß ſie die Idee im ſinnlichen Stoff keineswegs vollkommen erſchoͤpften, ſondern nur ſymboliſch an ihm darſtellten, ſo daß man bei ihren Gebilden immer etwas mehr hinzuzudenken habe, als man vor Augen ſaͤhe. | Vielleicht drückt man sich darüber am richtigsten aus, wenn man sagt, die Kunst der Alten, das ist, die Klassik, habe darin bestanden, dass sie jede Idee, die sie darstellen wollten, sei es mit dem Meißel, am Stoff des Marmors, sei es mit dem Griffel, am Stoff der Sprache, dass sie jede darzustellende Idee, so vollkommen an diesem Stoffe ausdrückten, dass nichts mehr und nichts weniger, als eben die Idee selbst sinnlich vor Augen trat; dagegen die Kunst der Romantiker darin bestand und besteht, dass sie die Idee im sinnlichen Stoff keineswegs vollkommen erschöpften, sondern nur symbolisch an ihm darstellten, so dass man bei ihren Gebilden immer etwas mehr hinzuzudenken habe, als man vor Augen sähe. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 119 | Die Urſache war denn die, daß die alten griechiſchen Kuͤnſtler, nach ihren Begriffen von ſinnlicher Form und Schoͤnheit, alle diejenigen Ideen zur Darſtellung verſchmaͤhten und von ſich wieſen, welche ſie nicht in feſte Form vollkommen einfaſſen konnten, die Kuͤnſtler und Dichter des Mittelalters aber ſich kein Bedenken daraus machten, das Hoͤchſte und Tiefſte, was nur die Menſchenbruſt faſſen, aber kaum ein ſterblicher Mund ausſprechen konnte, ſymboliſch in Formen und Geſtalten wenigſtens anzudeuten. | Die Ursache war denn die, dass die alten griechischen Künstler, nach ihren Begriffen von sinnlicher Form und Schönheit, alle diejenigen Ideen zur Darstellung verschmähten und von sich wiesen, welche sie nicht in feste Form vollkommen einfassen konnten, die Künstler und Dichter des Mittelalters aber sich kein Bedenken daraus machten, das Höchste und Tiefste, was nur die Menschenbrust fassen, aber kaum ein sterblicher Mund aussprechen konnte, symbolisch in Formen und Gestalten wenigstens anzudeuten. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 120 | Daß uns eine ſolche Kunſt der Bedeutſamkeit, eine ſolche Symbolik der Religion und der Liebe aus den Denkmaͤlern des Mittelalters uͤberall anweht, uns bald heimlich, bald großartig, bald abentheuerlich ergreift und etwas Unendliches, Ahnungvolles, Sehnſuͤchtiges in uns anregt, wird Jeder geſtehen, dem das Mittelalter bekannter geworden iſt, wie aus Buͤchern der neuern Zeit uͤber daſſelbe. | Dass uns eine solche Kunst der Bedeutsamkeit, eine solche Symbolik der Religion und der Liebe aus den Denkmälern des Mittelalters überall anweht, uns bald heimlich, bald großartig, bald abenteuerlich ergreift und etwas Unendliches, Ahnungsvolles, sehnsüchtiges in uns anregt, wird jeder gestehen, dem das Mittelalter bekannter geworden ist, wie aus Büchern der neueren Zeit über dasselbe. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 121 | Sollte es nun dieſe romantiſche Art der Schoͤnheit ſein, die uns als Muſter, als nationelles Element vorſchweben muß, wenn wir uns aus dieſer Zeit nach einer ſchoͤneren umſehen? | Sollte es nun diese romantische Art der Schönheit sein, die uns als Muster, als nationelles Element vorschweben muss, wenn wir uns aus dieser Zeit nach einer schöneren umsehen? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 122 | Ehe ich mir dieſe Frage zu beantworten getraue, werfe ich einen kritiſchen Blick auf gewiſſe Erſcheinungen des Mittelalters, die als die glaͤnzendſten von den romantiſchen Dichtern geprieſen worden ſind; bewaͤhren ſich dieſe als echt, als fuͤr alle Zeiten echt, ſind ſie nicht allein dem Schooß einer gewiſſen Bildungsſtufe, ſondern dem ewigen Schooße der Natur ſelbſt entſprungen, ſo wuͤrden ſie fuͤr die romantiſche Schoͤnheit, mit welcher ſie in ſehr genauer Verbindung ſtehen, in unſern Augen ein ſehr guͤnſtiges Vorurtheil erwecken. | Ehe ich mir diese Frage zu beantworten getraue, werfe ich einen kritischen Blick auf gewisse Erscheinungen des Mittelalters, die als die glänzendsten von den romantischen Dichteren gepriesen worden sind; bewähren sich diese als echt, als für alle Zeiten echt, sind sie nicht allein dem Schoß einer gewissen Bildungsstufe, sondern dem ewigen Schoß der Natur selbst entsprungen, so würden sie für die romantische Schönheit, mit welcher sie in sehr genauer Verbindung stehen, in unseren Augen ein sehr günstiges Vorurteil erwecken. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 123 | Ich meine hier insbeſondere die Andacht, die Ritterehre und die Frauenliebe des Mittelalters, drei der ſchoͤnſten Strahlen aus dem Leben dieſer wunderbaren Zeit. | Ich meine hier insbesondere die Andacht, die Ritterehre und die Frauenliebe des Mittelalters, drei der schönsten Strahlen aus dem Leben dieser wunderbaren Zeit. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 124 | War, frage ich mit Herder, war jene Andacht des Mittelalters, ich ſpreche nur von der reinen und uneigennuͤtzigen, von der hohen, myſtiſchen Andacht und nicht von der pfaͤffiſchen mit ihrem Klingklang und ihrer Selbſtſucht, jene Andacht, welche die ungeheuren Dome baute, welche ſich unermeßlichen und unennbaren Gefuͤhlen hingab, war ſie rein menſchlich, oder lag nicht etwas Uebertriebenes, Ungeſtaltetes und Falſches darin? | War, frage ich mit Herder, war jene Andacht des Mittelalters, ich spreche nur von der reinen und uneigennützigen, von der hohen, mystischen Andacht und nicht von der pfäffischen mit ihrem Klingklang und ihrer Selbstsucht, jene Andacht, welche die ungeheuren Dome baute, welche sich unermesslichen und unnennbaren Gefühlen hingab, war sie rein menschlich, oder lag nicht etwas Übertriebenes, Ungestaltetes und Falsches darin? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 125 | Ich glaube, ja. | Ich glaube, ja. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 126 | Das Unermeßliche, ſagt Herder, hat kein Maß, das Unendliche keinen Ausdruck. | Das Unermessliche, sagt Herder, hat kein Maß, das Unendliche keinen Ausdruck. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 127 | Je laͤnger man an dieſen Tiefen ſchwindelt, deſto mehr verwirret ſich die Zunge, Du ſagſt nichts, wenn Du vorhatteſt, etwas Unausſprechliches zu ſagen. | Je länger man an diesen Tiefen schwindelt, desto mehr verwirret sich die Zunge, Du sagst nichts, wenn Du vorhattest, etwas Unaussprechliches zu sagen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 128 | Und jene Frauenliebe, jene Galanterie der Liebe, war ſie nicht ein falſcher Geſchmack, war es die Sprache des Herzens, der rein menſchliche Erguß des Gefuͤhls und natuͤrlicher Neigungen, welche in dieſen Bildern, Schwuͤren, Worten, Witzen und Wendungen der mittelaltrigen Gedichte (das Nibelungenlied iſt uͤberall auszunehmen) ſpielt. | Und jene Frauenliebe, jene Galanterie der Liebe, war sie nicht ein falscher Geschmack, war es die Sprache des Herzens, der rein menschliche Erguss des Gefühls und natürlicher Neigungen, welche in diesen Bildern, Schwüren, Worten, Witzen und Wendungen der mittelaltrigen Gedichte (das Nibelungenlied ist überall auszunehmen) spielt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 129 | — Ich denke ja, und daſſelbe denke ich von der uͤbertriebenen Ritterwuͤrde. | — Ich denke ja, und dasselbe denke ich von der übertriebenen Ritterwürde. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 130 | Alles Geklirr, ſagt derſelbe Herder, alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verſtand, Zweck, Ebenmaß, wo Humanitaͤt fehlt, kein Klang einer himmliſchen Muſe werden. | Alles Geklirr, sagt derselbe Herder, alles Geklirr an Mann und Ross kann uns, wo Verstand, Zweck, Ebenmaß, wo Humanität fehlt, kein Klang einer himmlischen Muse werden. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 131 | — Daß die Raubritter des ſpaͤtern Mittelalters zu dieſem Gemaͤlde nicht einmal geſeſſen haben, ſehen Sie von ſelbſt. | — Dass die Raubritter des späteren Mittelalters zu diesem Gemälde nicht einmal gesessen haben, sehen Sie von selbst. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 132 | Indem ich dem deutſchen Leben von geſtern und heute denjenigen Charakter abſprach, der uͤberhaupt nur faͤhig waͤre, ſich zur Schoͤnheit zu ſteigern und zu verklaͤren, wies ich zugleich die Beſchuldigung von mir, als ob ich unſerer Nation uͤberall Charakterbefaͤhigung und daher Schoͤnheitsbefaͤhigung abzuſprechen gedaͤchte. | Indem ich dem deutschen Leben von gestern und heute denjenigen Charakter absprach, der überhaupt nur fähig wäre, sich zur Schönheit zu steigern und zu verklären, wies ich zugleich die Beschuldigung von mir, als ob ich unserer Nation überall Charakterbefähigung und daher Schönheitsbefähigung abzusprechen gedächte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 133 | Ich hielt Ihnen den Spiegel des deutſchen Mittelalters vor, Sie ſahen den nationalen Quell des deutſchen Lebens eroͤffnet, in jugendlicher Freiheit dahin ſtroͤmend, gewaltige und zugleich ſchoͤne Unternehmungen, ſtarke und zugleich kunſtreich gebildete Menſchen, Kuͤnſte die der Reichthum ernaͤhrt, kunſtreiche Kirchen und oͤffentliche Gebaͤude, Ernſt im Schaffen, Luſt im Spiel, Kriegsuͤbungen, weibliche Ritter, tapfere Buͤrger, welche das Schwert zu fuͤhren verſtanden, keuſche Weiber, die in Anmuth, Zucht und Unſchuld aufbluͤhten und daher nach Allem auch eine Poeſie, welche der Wiederſchein dieſes Lebens war und in der ſich alle Strahlen ſammelten, die romantiſche Poeſie des Mittelalters. | Ich hielt Ihnen den Spiegel des deutschen Mittelalters vor, Sie sahen den nationalen Quell des deutschen Lebens eröffnet, in jugendlicher Freiheit dahinströmend, gewaltige und zugleich schöne Unternehmungen, starke und zugleich kunstreich gebildete Menschen, Künste die der Reichtum ernährt, kunstreiche Kirchen und öffentliche Gebäude, Ernst im Schaffen, Lust im Spiel, Kriegsübungen, weibliche Ritter, tapfere Bürger, welche das Schwert zu führen verstanden, keusche Weiber, die in Anmut, Zucht und Unschuld aufblühten und daher nach allem auch eine Poesie, welche der Wiederschein dieses Lebens war und in der sich alle Strahlen sammelten, die romantische Poesie des Mittelalters. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 134 | Mußte nun dies Spiegelbild viel Anziehendes fuͤr unſere Phantaſie haben, die in der Gegenwart aus Mangel an Nahrung zu verſchmachten droht, ja lag uns die Frage nahe, ob es nicht eben dieſe romantiſche Schoͤnheit des Mittelalters ſei, deſſen Wiederbelebung der Zeit und dem deutſchen Volke Noth thue, ſo ließen wir uns doch nicht darauf ein, dieſe Frage eher zu beantworten, als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet waͤre, naͤmlich die: traͤgt die romantiſche Schoͤnheit des Mittelalters auch in der That den Stempel der ſchoͤnen Humanitaͤt an ſich, der uns als Ideal vorſchwebt, war ſie lautre Natur, frei von Kuͤnſtelei und Ueberſpannung, war ſie dem deutſchen Geiſte ſo eigenthuͤmlich, daß keine ſpaͤtere Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne ſich in dieſe Form zu ſchmiegen, muß die neue ſchoͤnere Zeit, die heranzieht, die als Samenkorn in tauſend und aber tauſend deutſchen Herzen verſchloſſen liegt, um an irgend einem Fruͤhlingsmorgen neuerwacht ins Leben zu bluͤhen, muß ſie haben Barone, Ritter, Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienſt, Minnegeſang und alle jene Denk- und Lebensformen, wodurch ſich das Mittelalter auszeichnete. | Musste nun dies Spiegelbild viel Anziehendes für unsere Phantasie haben, die in der Gegenwart aus Mangel an Nahrung zu verschmachten droht, ja lag uns die Frage nahe, ob es nicht eben diese romantische Schönheit des Mittelalters sei, dessen Wiederbelebung der Zeit und dem deutschen Volke nottue, so ließen wir uns doch nicht darauf ein, diese Frage eher zu beantworten, als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet wäre, nämlich die: trägt die romantische Schönheit des Mittelalters auch in der Tat den Stempel der schönen Humanität an sich, der uns als Ideal vorschwebt, war sie lautere Natur, frei von Künstelei und Überspannung, war sie dem deutschen Geiste so eigentümlich, dass keine spätere Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne sich in diese Form zu schmiegen, muss die neue schönere Zeit, die heranzieht, die als Samenkorn in tausend und aber tausend deutschen Herzen verschlossen liegt, um an irgendeinem Frühlingsmorgen neuerwacht ins Leben zu blühen, muss sie haben Barone, Ritter, Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienst, Minnegesang und alle jene Denk- und Lebensformen, wodurch sich das Mittelalter auszeichnete. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 135 | Und da glaubten wir mit Nein antworten zu muͤſſen, und ich denke, Alles was jung iſt in Deutſchland, ſteht auf unſerer Seite und lebt der frohen Hoffnung, daß auch ohne Verjuͤngung mittelaltriger Formen eine Wiedergebaͤrung der Nation, eine poetiſche Umgeſtaltung des Lebens, eine Ergießung des heiligen Geiſtes, eine freie, natuͤrliche, zwangloſe Entfaltung alles Goͤttlichen und Menſchlichen in uns moͤglich ſei. | Und da glaubten wir mit Nein antworten zu müssen, und ich denke, alles was jung ist in Deutschland, steht auf unserer Seite und lebt der frohen Hoffnung, dass auch ohne Verjüngung mittelaltriger Formen eine Wiedergebärung der Nation, eine poetische Umgestaltung des Lebens, eine Ergießung des Heiligen Geistes, eine freie, natürliche, zwanglose Entfaltung alles Göttlichen und Menschlichen in uns möglich sei. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 136 | Das Mittelalter hat ſich uͤberlebt, ſein Geiſt iſt ein Schatten der Geſchichte, der auf verwitterten Ruinen einherwandelt. | Das Mittelalter hat sich überlebt, sein Geist ist ein Schatten der Geschichte, der auf verwitterten Ruinen einherwandelt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 137 | Poeſie mag ihn beſchwoͤren, mag ihn in romantiſchem Mondlicht unſerm Auge voruͤberfuͤhren, der helle Tag ſieht und kennt ihn nicht mehr. | Poesie mag ihn beschwören, mag ihn in romantischem Mondlicht unserem Auge vorüberführen, der helle Tag sieht und kennt ihn nicht mehr. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 138 | Schon zur Zeit der Reformation gehoͤrte er zu den Abgeſchiedenen, die Erfindung des Pulvers, der erſte Kanonenſchuß, die Entdeckung der griechiſchen und lateiniſchen Klaſſiker, die Entdeckung von Amerika hatten ihn in Europa, und hauptſaͤchlich in Deutſchland allmaͤhlig geſchwaͤcht und vernichtet, als Luther auftrat und durch den Erfolg ſeiner kuͤhnen Worte und Unternehmungen darthat, daß ſeine aͤlteſte Burg und ſein feſteſtes Prachtgebaͤude, die Kirche, nur ſein eignes Mauſoleum ſei. | Schon zur Zeit der Reformation gehörte er zu den Abgeschiedenen, die Erfindung des Pulvers, der erste Kanonenschuss, die Entdeckung der griechischen und lateinischen Klassiker, die Endeckung von Amerika hatten ihn in Europa, und hauptsächlich in Deutschland allmählich geschwächt und vernichtet, als Luther auftrat und durch den Erfolg seiner kühnen Worte und Unternehmungen dartat, dass seine älteste Burg und sein festestes Prachtgebäude, die Kirche, nur sein eigenes Mausoleum sei. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 139 | Meine Herren, man hat es unſerm Luther verdacht und ich kann große Maͤnner dafuͤr anfuͤhren, daß er beim Werk der Reformation ſo wenig auf der einmal gegebenen hiſtoriſchen Baſis fortbaute, daß er der Kirche, welche er ſtiftete, ſo wenig aus der Nachlaſſenſchaft der alten zertruͤmmerten aneignete, daß er das ehrwuͤrdige Erbe der Vaͤter zu unbedenklich Preis gegeben, die Tradition verworfen, die Zeremonien und Aeußerlichkeiten verachtet habe; allein dieſer Vorwurf beruht auf Mißverſtaͤndniß ſowohl der Reformation, als uͤberhaupt der geſchichtlichen Fortbildung der Menſchheit, wie ſie uns eben in der Geſchichte ſelbſt zu Tage liegt, wenn wir unſere Augen nicht durch willkuͤhrliche Vorurtheile blenden. | Meine Herren, man hat es unserem Luther verdacht und ich kann große Männer dafür anführen, dass er beim Werk der Reformation so wenig auf der einmal gegebenen historischen Basis fortbaute, dass er der Kirche, welche er stiftete, so wenig aus der Nachlassenschaft der alten zertrümmerten aneignete, dass er das ehrwürdige Erbe der Väter zu unbedenklich preisgegeben, die Tradition verworfen, die Zeremonien und Äußerlichkeiten verachtet habe; allein dieser Vorwurf beruht auf Missverständnis sowohl der Reformation, als überhaupt der geschichtlichen Fortbildung der Menschheit, wie sie uns eben in der Geschichte selbst zutage liegt, wenn wir unsere Augen nicht durch willkürliche Vorurteile blenden. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 140 | Die Reformatoren waren begreiflicher Weiſe keine Anhaͤnger der hiſtoriſchen Schule, welche gerade in unſerer Zeit ſo viele Haͤupter und Verfechter findet und deren Prinzip der allmaͤhligen, ſchrittweiſen Entwicklung des Poſitiven, des Staats, des Rechts u. ſ. w. zu kleinlichen und engherzigen Anſichten und Irrthuͤmern Veranlaſſung gibt. | Die Reformatoren waren begreiflicherweise keine Anhänger der historischen Schule, welche gerade in unserer Zeit so viele Häupter und Verfechter findet und deren Prinzip der allmählichen, schrittweisen Entwicklung des Positiven, des Staats, des Rechts u. s. w. zu kleinlichen und engherzigen Ansichten und Irrtümern Veranlassung gibt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 141 | Haͤtte Luther das traditionelle Prinzip zugegeben, ſo haͤtte er es nicht wagen duͤrfen, auch nur einen Stein an Sankt Peter zu ruͤhren, dazu hatte das Gebaͤude der alten Kirche viel zu viel Konſequenz, als daß ein Einzelner haͤtte mit Einzelnem willkuͤhrlich ſchalten und walten duͤrfen. | Hätte Luther das traditionelle Prinzip zugegeben, so hätte er es nicht wagen dürfen, auch nur einen Stein an Sankt Peter zu rühren, dazu hatte das Gebäude der alten Kirche viel zu viel Konsequenz, als dass ein Einzelner hätte mit Einzelnem willkürlich schalten und walten dürfen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 142 | Luther, der ſchwach anfing, ward durch innere Nothwendigkeit auf ſeinem Wege immer weiter fortgetrieben und ſah ſich am Ziel ſeiner Laufbahn durch eine unuͤberſteigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters getrennt, nicht etwa, als haͤtte er ein poſitiv Lebendiges dem poſitiv Todten gegenuͤber geſtellt — denn was Luther aus der Bibel und der fruͤhſten chriſtlichen Zeit dogmatiſch Poſitives zum Behuf ſeiner Kirche aufzuſtellen ſich veranlaßt fand, war in ihm ſelbſt allerdings mit gewaltſamen und großartigen Zuͤgen ausgepraͤgt, zeigte ſich aber bald in verſteinertem Zuſtande der Orthodoxie und ohne jugendliche Zeugungskraft — ſondern weil er gegen die Unvernunft und gegen die Hiſtorie proteſtirte und Papſt, Religion und Kirche ſeinen lutheriſchen Kopf entgegenſetzte, der denn auch ſo feſt, eiſern war, daß er unbeſchadet an ihrem Fels anrennen konnte. | Luther, der schwach anfing, wurde durch innere Notwendigkeit auf seinem Wege immer weiter fortgetrieben und sah sich am Ziel seiner Laufbahn durch eine unübersteigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters getrennt, nicht etwa, als hätte er ein positiv Lebendiges dem positiv Toten gegenübergestellt — denn was Luther aus der Bibel und der frühsten christlichen Zeit dogmatisch Positives zum Behuf seiner Kirche aufzustellen sich veranlasst fand, war in ihm selbst allerdings mit gewaltsamen und großartigen Zügen ausgeprägt, zeigte sich aber bald in versteinertem Zustande der Orthodoxie und ohne jugendliche Zeugungskraft — sondern weil er gegen die Unvernunft und gegen die Historie protestierte und Papst, Religion und Kirche seinen lutherischen Kopf entgegensetzte, der denn auch so fest, eisern war, dass er unbeschadet an ihrem Fels anrennen konnte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 143 | Dies Proteſtiren gegen die Hiſtorie, meine Herren, das iſt die große Erbſchaft, die Luther uns Übermacht hat und wollte Gott, ſeine Kraft und ſein Geiſt ſenkte ſich auf uns nieder und wir waͤren im Stande, das begonnene Werk der Reformation nach allen Seiten hin wuͤrdig zu vollenden. | Dies Protestieren gegen die Historie, meine Herren, das ist die große Erbschaft, die Luther uns Übermacht hat und wollte Gott, seine Kraft und sein Geist senkte sich auf uns nieder und wir wären imstande, das begonnene Werk der Reformation nach allen Seiten hin würdig zu vollenden. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 144 | So wie aber die Reformation einſeitig ſtehen geblieben iſt, ſo wie dieſelbe ſich in aller Haſt vermaͤhlt hat mit der Einſeitigkeit des Verſtandes, mit der Proſa des Lebens, haͤngt die ſchoͤne Frucht leider ſaftlos und traurig am duͤrren Aſt und ſehnt ſich abzufallen und einer neuen Bluͤthe Platz zu machen. | So wie aber die Reformation einseitig stehengeblieben ist, so wie dieselbe sich in aller Hast vermählt hat mit der Einseitigkeit des Verstandes, mit der Prosa des Lebens, hängt die schöne Frucht leider saftlos und traurig am dürren Ast und sehnt sich abzufallen und einer neuen Blüte Platz zu machen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 145 | Wehmuth ergreift mich, ſehe ich den Lorbeerbaum von tauſend Wucherpflanzen umſchnuͤrt, ſeiner beſten Saͤfte und Kraͤfte durch Schmarotzer beraubt, froͤſtelnd in kalter Luft, abſterbend in fremdem Boden, ohne einen Fußbreit vaterlaͤndiſche Erde, im Treibhaus der Unnatur, ſtatt frei und offen dazuſtehen in Gottes ſchoͤner Welt, ſeine Wurzel befruchtet durch die uralten Quellen der Poeſie, ſeine Blaͤtter dem Saͤuſeln der Liebe und dem Sturm der Leidenſchaften Preis gegeben, ſeine Krone dem Himmel, dem Frieden, der Sehnſucht und den Segnungen der himmliſchen Sonne, Religion. | Wehmut ergreift mich, sehe ich den Lorbeerbaum von tausend Wucherpflanzen umschnürt, seiner besten Säfte und Kräfte durch Schmarotzer beraubt, fröstelnd in kalter Luft, absterbend in fremdem Boden, ohne einen Fuß breit vaterländische Erde, im Treibhaus der Unnatur, statt frei und offen dazustehen in Gottes schöner Welt, seine Wurzel befruchtet durch die uralten Quellen der Poesie, seine Blätter dem Säuseln der Liebe und dem Sturm der Leidenschaften preisgegeben, seine Krone dem Himmel, dem Frieden, der Sehnsucht und den Segnungen der himmlischen Sonne, Religion. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 146 | Wie ſich aber unſer nationales Leben in Zukunft geſtalten und entfalten wird, ſo viel ſcheint gewiß zu ſein, daß die Hoffnung der Zukunft einerſeits beruhe auf der Jugend, andererſeits auf der Wahl deſſelben Weges, auf dem Luther den erſten Rieſenſchritt machte und auf dem ihm die Pygmaͤen der Folgezeit in Stich gelaſſen haben. | Wie sich aber unser nationales Leben in Zukunft gestalten und entfalten wird, soviel scheint gewiss zu sein, dass die Hoffnung der Zukunft einerseits beruhe auf der Jugend, andererseits auf der Wahl desselben Weges, auf dem Luther den ersten Riesenschritt machte und auf dem ihm die Pygmäen der Folgezeit in Stich gelassen haben. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 147 | Ich meine auf dem Wege des Proteſtirens, des Proteſtirens gegen alle Unnatur und Willkuͤhr, gegen den Druck des freien Menſchengeiſtes, gegen todtes und hohles Formelweſen, Proteſtiren wider die Ertoͤdtung des jugendlichen Geiſtes auf unſern Schulen, wider das handwerksmaͤßige Treiben der Wiſſenſchaften auf unſern Univerſitaͤten, Proteſtiren wider den Beamtenſchlendrian im Leben, wider die Duldung des Schlechten, weil es herkoͤmmlich und hiſtoriſch begruͤndet, wider die Reſte der Feudalitaͤt, wider die ganze feudal-hiſtoriſche Schule, die uns bei lebendigem Leibe ans Kreuz der Geſchichte nageln will, und vor allen Dingen Proteſtiren gegen den Geiſt der Luͤge, der tauſend Zungen ſpricht und ſich mit tauſend Redensarten und Wendungen eingeſchlichen hat in alle unſere menſchlichen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe. | Ich meine auf dem Wege des Protestierens, des Protestierens gegen alle Unnatur und Willkür, gegen den Druck des freien Menschengeistes, gegen totes und hohles Formelwesen, Protestieren wider die Ertötung des jugendlichen Geistes auf unseren Schulen, wider das handwerksmäßige Treiben der Wissenschaften auf unseren Universitäten, Protestieren wider den Beamtenschlendrian im Leben, wider die Duldung des Schlechten, weil es herkömmlich und historisch begründet, wider die Reste der Feudalität, wider die ganze feudal-historische Schule, die uns bei lebendigem Leibe ans Kreuz der Geschichte nageln will, und vor allen Dingen Protestieren gegen den Geist der Lüge, der tausend Zungen spricht und sich mit tausend Redensarten und Wendungen eingeschlichen hat in alle unsere menschlichen und bürgerlichen Verhältnisse. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 148 | Es iſt eben zu dieſer Zeit, wo der Geiſt aus veralteten Formen gaͤnzlich herausgewichen iſt, die Hiſtorie ſelber zur Luͤge geworden und die Behauptung, es muͤſſe ſich das Neue aus dem Alten, das todt und abgethan iſt, allmaͤhlig fortentwickeln, iſt eben die abgeſchmackteſte Luͤge, womit der Anbruch des Neuen zuruͤckgehalten werden ſoll. | Es ist eben zu dieser Zeit, wo der Geist aus veralteten Formen gänzlich herausgewichen ist, die Historie selber zur Lüge geworden und die Behauptung, es müsse sich das Neue aus dem Alten, das tot und abgetan ist, allmählich fortentwickeln, ist eben die abgeschmackteste Lüge, womit der Anbruch des Neuen zurückgehalten werden soll. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 149 | Es iſt wahr, es liegt im Gange der Menſchheit, ſich in der Dauer gewiſſer Epochen am Poſitiven weiterzubilden; allein nicht weniger wahr iſt es, daß mit dem Schluſſe dieſer Epochen die geiſtige Entwicklung voͤllig aufhoͤrt — das Poſitive verfault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Bruſt der Menſchheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, weIche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu bluͤhen, zu wachſen, zu welken und zu vergehen. | Es ist wahr, es liegt im Gange der Menschheit, sich in der Dauer gewisser Epochen am Positiven weiterzubilden; allein nicht weniger wahr ist es, dass mit dem Schlusse dieser Epochen die geistige Entwicklung völlig aufhört — das Positive verfault, es muss ein neuer Lebensfunke in die Brust der Menschheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu blühen, zu wachsen, zu welken und zu vergehen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 150 | Betrachte ich die geiſtige und leibliche Lebendigkeit jugendlicher Voͤlker, z. B. einſt der Griechen und unſers eigenen Volks und vergleiche dieſe mit den europaͤiſchen der Gegenwart, ſo ſehne ich mich unter jenen geſchichtloſen Menſchen zu leben, die nichts hinter ſich ſehen, als ihre eigenen Fußſtapfen und nichts vor ſich als Raum, freien Spielraum fuͤr ihre Kraft. | Betrachte ich die geistige und leibliche Lebendigkeit jugendlicher Völker, z. B. einst der Griechen und unseres eigenen Volks und vergleiche diese mit den europäischen der Gegenwart, so sehne ich mich unter jenen geschichtlosen Menschen zu leben, die nichts hinter sich sehen, als ihre eigenen Fußstapfen und nichts vor sich als Raum, freien Spielraum für ihre Kraft. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 151 | Die Menſchheit, ſagen freilich die feudalen Hiſtoriker, iſt nicht ſo uͤbel daran, immerfort bildet und beſeelt ſie das Alte, den Theil, der ſich nicht laͤnger bilden und beſeelen laͤßt, ſtreift ſie von ſich ab und ſie hat daher aus ihrem Wege nichts weiter zu tragen, als ſich ſelbſt. | Die Menschheit, sagen freilich die feudalen Historiker, ist nicht so übel daran, immerfort bildet und beseelt sie das Alte, den Teil, der sich nicht länger bilden und beseelen lässt, streift sie von sich ab und sie hat daher aus ihrem Wege nichts weiter zu tragen, als sich selbst. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 152 | — Was nicht iſt, bemerken Andere, ſollte wenigſtens ſo ſein: ſucceſſive Fortentwicklung iſt das Geſetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu revidiren, durch Stehenlaſſen und Ausmerzen Heute und Geſtern mit einander zu verſoͤhnen. | — Was nicht ist, bemerken andere, sollte wenigstens so sein: sukzessive Fortentwicklung ist das Gesetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu revidieren, durch Stehenlassen und Ausmerzen heute und gestern miteinander zu versöhnen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 153 | Aber, frage ich, wer ſchreibt denn die Geſetze des Lebens, Ihr oder die Geſchichte. | Aber, frage ich, wer schreibt denn die Gesetze des Lebens, Ihr oder die Geschichte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 154 | Seht Ihr nicht, daß den fortlaufenden Generationen ſich von ſelbſt und trotz aller Gegenmuͤhe ſpaniſche Stiefel an die Fuͤße haͤngen, daß die Ausduͤnſtungen des Lebens ſich nach und nach am Buſen der Voͤlker verſteinern, ſich als Kruſten um ihre Bruſt ſetzen und ihnen das Athemholen ſchwer machen, daß es fuͤr die Voͤlker keine Wohlthat, ſondern Plage iſt, Tauſende von Jahren hinter ſich her am Schlepptau zu ziehen? | Seht Ihr nicht, dass den fortlaufenden Generationen sich von selbst und trotz aller Gegenmühe spanische Stiefel an die Füße hängen, dass die Ausdünstungen des Lebens sich nach und nach am Busen der Völker versteinern, sich als Krusten um ihre Brust setzen und ihnen das Atemholen schwer machen, dass es für die Völker keine Wohltat, sondern Plage ist, Tausende von Jahren hinter sich her am Schlepptau zu ziehen? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 155 | Alle Urſagen der Voͤlker beſtaͤtigen uns, daß ſelbſt die fruͤheſte, ſchoͤpfungsjunge Menſchheit ſich bald, ſehr bald ausgelebt und gleichſam abgenutzt habe; bildet es doch ein Hauptſtuͤck in den hebraͤiſchen, indiſchen, griechiſchen Sagen, daß Suͤndfluthen das fruͤh gealterte, ſeiner eigenen Geſchichte verfallene Geſchlecht der Menſchen wegraffen und vom Erdboden vertilgen? | Alle Ursagen der Völker bestätigen uns, dass selbst die früheste, schöpfungsjunge Menschheit sich bald, sehr bald ausgelebt und gleichsam abgenutzt habe; bildet es doch ein Hauptstück in den hebräischen, indischen, griechischen Sagen, dass Sündfluten das früh gealterte, seiner eigenen Geschichte verfallene Geschlecht der Menschen wegraffen und vom Erdboden vertilgen? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 156 | Muß nicht eine neue Jugend die Erde bevoͤlkern, wenn die Elohim, die Goͤtter den Anblick der erbaͤrmlichen, ſuͤndigen und ausgearteten Soͤhne des Staubes nicht laͤnger ertragen koͤnnen? | Muss nicht eine neue Jugend die Erde bevölkern, wenn die Elohim, die Götter den Anblick der erbärmlichen, sündigen und ausgearteten Söhne des Staubes nicht länger ertragen können? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 157 | Und in der Geſchichte — man werfe nur einen Blick auf die Roͤmer und Griechen zur Zeit des Heilandes: | Und in der Geschichte — man werfe nur einen Blick auf die Römer und Griechen zur Zeit des Heilandes: |
wienbarg_feldzuege_1834 | 158 | Was hatte die fruͤhere Goͤtter- und Heroenwelt, die Zeit der Ariſtide und der Katonen ihnen zum Erbtheil uͤberlaſſen? | Was hatte die frühere Götter- und Heroenwelt, die Zeit der Aristide und der Katonen ihnen zum Erbteil überlassen? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 159 | Ihren Leichengeruch. | Ihren Leichengeruch. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 160 | Und dieſes weltverjuͤngende Chriſtenthum, das nicht neuen Moſt in alte Schlaͤuche fuͤllte, dieſes Chriſtenthum in den Tagen vor Luther? | Und dieses weltverjüngende Christentum, das nicht neuen Most in alte Schläuche füllte, dieses Christentum in den Tagen vor Luther? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 161 | Ausgearteter, als das Judenthum je geweſen. | Ausgearteter, als das Judentum je gewesen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 162 | Statt Kinder Gottes, wie die Chriſten ſein ſollten, nicht einmal Knechte Gottes, was die Juden waren, Knechte des Papſtes, der Pfaffen, der Tradition, der Geſchichte, die ihren Abfall und Kehricht den Menſchen thurmhoch auf die Seele geſchichtet hatte. | Statt Kinder Gottes, wie die Christen sein sollten, nicht einmal Knechte Gottes, was die Juden waren, Knechte des Papstes, der Pfaffen, der Tradition, der Geschichte, die ihren Abfall und Kehricht den Menschen turmhoch auf die Seele geschichtet hatte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 163 | Die Anwendung auf unſere Zeit uͤberlaſſe ich Ihnen ſelbſt. | Die Anwendung auf unsere Zeit überlasse ich Ihnen selbst. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 164 | Wir ſind krank an unſerer Hiſtorie und wir werden vielleicht daruͤber hinſterben, ehe wir uns den Muth faſſen, den unheilbaren Sitz unſerer Krankheit einzuſehen, und uns dem wunderbaren Genius anvertrauen, der verjuͤngend durch die Welt ſchreitet. | Wir sind krank an unserer Historie und wir werden vielleicht darüber hinsterben, ehe wir uns den Mut fassen, den unheilbaren Sitz unserer Krankheit einzusehen, und uns dem wunderbaren Genius anvertrauen, der verjüngend durch die Welt schreitet. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 165 | Jedoch ſteht dem Truͤbſinnigen, das in dieſer Anſicht fuͤr uns liegt, der Spruch der Hoffnung gegenuͤber, daß ein Augenblick Alles umgeſtalten kann, ſo im Schickſal des Einzelnen, als im Schickſal der Voͤlker und Nationen. | Jedoch steht dem Trübsinnigen, das in dieser Ansicht für uns liegt, der Spruch der Hoffnung gegenüber, dass ein Augenblick alles umgestalten kann, so im Schicksal des Einzelnen, als im Schicksal der Völker und Nationen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 166 | Was aber der Jugend, als dem Element im Staat, das die neue Geſchichte bildet, jedenfalls obliegt, iſt der feſte Vorſatz, nach Kraͤften den bezeichneten Weg einzuſchlagen, iſt der feſte Wille, ſich immer entſchiedener von der Luͤge loszuſagen, immer deutlicher ſich des Gegenſatzes zwiſchen dem Alten und Neuen bewußt zu werden, jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fahren zu laſſen und die Kunſt zu ergreifen, das Unſchoͤne in Wort und That an ſich und Andern nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen Geiſtes nicht zu ſchließen und, weder gedankenlos und leichtfertig dahinlebend, noch ſchwermuͤthig bruͤtend, die Bluͤthen des Lebens und der Wiſſenſchaft mit jugendlicher Unſchuld und Heiterkeit zu pfluͤcken. | Was aber der Jugend, als dem Element im Staat, das die neue Geschichte bildet, jedenfalls obliegt, ist der feste Vorsatz, nach Kräften den bezeichneten Weg einzuschlagen, ist der feste Wille, sich immer entschiedener von der Lüge loszusagen, immer deutlicher sich des Gegensatzes zwischen dem Alten und Neuen bewusst zu werden, jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fahren zu lassen und die Kunst zu ergreifen, das Unschöne in Wort und Tat an sich und Anderen nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen Geistes nicht zu schließen und, weder gedankenlos und leichtfertig dahinlebend, noch schwermütig brütend, die Blüten des Lebens und der Wissenschaft mit jugendlicher Unschuld und Heiterkeit zu pflücken. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 167 | Es muß anders werden, das ſollte das Gefuͤhl ſein, das ſich Aller bemaͤchtigte, wir ſelbſt ſind dazu berufen, das ſtarke Echo dieſes Gefuͤhls. | Es muss anders werden, das sollte das Gefühl sein, das sich Aller bemächtigte, wir selbst sind dazu berufen, das starke Echo dieses Gefühls. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 168 | Wie viel duͤrre Blaͤtter wir dazu aus dem Kranze unſeres Lebens herausreißen muͤſſen, wie viel Unſchoͤnes wir von uns abthun, wie viel gemeine Proſa wir fuͤr ewig in den Schlamm und Schlick der abgeſtandenen Zeit verſenken muͤſſen, welche neue Anſichten der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der Poeſie, der Religion, des Staats, des Lebens wir faſſen und zum Eigenthum unſeres Herzens machen muͤſſen, dies Alles muß uns oft und lebhaft beſchaͤftigen und das Befreundete muß ſich verbinden mit dem Befreundeten, um ſich gegenſeitig auszutauſchen und zu befeſtigen. | Wie viel dürre Blätter wir dazu aus dem Kranze unseres Lebens herausreißen müssen, wie viel Unschönes wir von uns abtun, wie viel gemeine Prosa wir für ewig in den Schlamm und Schlick der abgestandenen Zeit versenken müssen, welche neue Ansichten der Wissenschaft, der Kunst, der Poesie, der Religion, des Staats, des Lebens wir fassen und zum Eigentum unseres Herzens machen müssen, dies alles muss uns oft und lebhaft beschäftigen und das Befreundete muss sich verbinden mit dem Befreundeten, um sich gegenseitig auszutauschen und zu befestigen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 169 | Jetzt, darauf komme ich zuruͤck, jetzt liegt Alles noch, Anſicht, Gefuͤhl, und gar das Leben und Treiben gar zu ſehr in roher Unbildung, in Verwirrung, Uneinigkeit und Zwiſt, und es haͤlt ſchwer, wenn nicht unmoͤglich, fuͤr den Einzelnen, ſich leicht und rein hinzuſtellen und ſich aus dem truͤben unaͤſthetiſchen Fahrwaſſer gemeiner Anſichten immer gluͤcklich herauszuziehen. | Jetzt, darauf komme ich zurück, jetzt liegt alles noch, Ansicht, Gefühl, und gar das Leben und Treiben gar zu sehr in roher Unbildung, in Verwirrung, Uneinigkeit und Zwist, und es hält schwer, wenn nicht unmöglich, für den Einzelnen, sich leicht und rein hinzustellen und sich aus dem trüben unästhetischen Fahrwasser gemeiner Ansichten immer glücklich herauszuziehen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 170 | Schon habe ich mit wenig Worten unſerer Schulen, Akademien und Brodſtudien als ſolcher Erwaͤhnung gethan, die im ſchneidendſten Kontraſte ſtaͤnden mit individueller und volksthuͤmlicher Bildung, der Grundbedingung charakteriſtiſcher Schoͤnheit und ihres Verſtehens und Auffaſſens. | Schon habe ich mit wenig Worten unserer Schulen, Akademien und Brotstudien als solcher Erwähnung getan, die im schneidendsten Kontraste ständen mit individueller und volkstümlicher Bildung, der Grundbedingung charakteristischer Schönheit und ihres Verstehens und Auffassens. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 171 | Doch unterliegen nicht geringerem Tadel unſere Anſichten und Studien jener allgemeineren Wiſſenſchaften, welche den Schlußſtein unſerer hoͤheren Geiſtesbildung ausmachen ſollten und ich will darunter nur die der Philoſophie und der Geſchichte mit Namen auffuͤhren, vom Studium und der wiſſenſchaftlichen Aneignung der Religion aber gaͤnzlich ſchweigen. | Doch unterliegen nicht geringerem Tadel unsere Ansichten und Studien jener allgemeineren Wissenschaften, welche den Schlussstein unserer höheren Geistesbildung ausmachen sollten und ich will darunter nur die der Philosophie und der Geschichte mit Namen aufführen, vom Studium und der wissenschaftlichen Aneignung der Religion aber gänzlich schweigen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 172 | Beginnen wir von der Geſchichte. | Beginnen wir von der Geschichte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 173 | Welche unleidliche, lebloſe Anſicht machen wir uns uͤber dieſelbe. | Welche unleidliche, leblose Ansicht machen wir uns über dieselbe. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 174 | Ueberall, wo wir zuruͤckgehen auf die fruͤhſten Zeiten eines Volkes, iſt es leicht zu merken, wie Poeſie und Hiſtorie ungetrennt von einem Gemuͤth aufbewahrt und von einem begeiſterten Munde verkuͤndet wurde. | Überall, wo wir zurückgehen auf die frühesten Zeiten eines Volkes, ist es leicht zu merken, wie Poesie und Historie ungetrennt von einem Gemüt aufbewahrt und von einem begeisterten Munde verkündet wurde. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 175 | Beide vereinigen ſich darin, das Leben mit allen ſeinen Aeußerungen aufzufaſſen und darzuſtellen. | Beide vereinigen sich darin, das Leben mit allen seinen Äußerungen aufzufassen und darzustellen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 176 | Erſt eine ſpaͤtere gelehrte Anſicht mußte ſie trennen, welche die Hiſtorie auf kritiſche Wahrheit beſchraͤnkt, die epiſche Poeſie aber dem Dichter uͤberlaͤßt. | Erst eine spätere gelehrte Ansicht musste sie trennen, welche die Historie auf kritische Wahrheit beschränkt, die epische Poesie aber dem Dichter überlässt. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 177 | Allein die kritiſche Wahrheit, hat an ſich gar keinen Werth, ſondern erhaͤlt ihn nur in Verbindung mit poetiſcher; nicht irgend eine aͤußere Thatſache wollen wir wiſſen, ſondern ihren Zuſammenhang mit dem Leben. | Allein die kritische Wahrheit, hat an sich gar keinen Wert, sondern erhält ihn nur in Verbindung mit poetischer; nicht irgendeine äußere Tatsache wollen wir wissen, sondern ihren Zusammenhang mit dem Leben. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 178 | Was will man von der Geſchichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche ſie darſtellt, und muß nicht alſo unſere jetzige kritiſche Hiſtorie wieder, wenn auch auf einem andern Wege, eins werden mit der Poeſie, mit dem Epos der Voͤlker? | Was will man von der Geschichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche sie darstellt, und muss nicht also unsere jetzige kritische Historie wieder, wenn auch auf einem anderen Wege, eins werden mit der Poesie, mit dem Epos der Völker? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 179 | Denken Sie an das beſte Geſchichtswerk der neuern Zeit, an unſers Niebuhr's roͤmiſche Geſchichte. | Denken Sie an das beste Geschichtswerk der neueren Zeit, an unseres Niebuhrs römische Geschichte. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 180 | Iſt nicht eine contradictio in adjecto in dieſem Titel, kann jemals durch gelehrte Forſchungen etwas, was einmal nicht Geſchichte war und iſt, zur Geſchichte erhoben werden? | Ist nicht eine contradictio in adjecto in diesem Titel, kann jemals durch gelehrte Forschungen etwas, was einmal nicht Geschichte war und ist, zur Geschichte erhoben werden? |
wienbarg_feldzuege_1834 | 181 | Laſſen Sie uns doch einen Augenblick bedenken, was es heißt: | Lassen Sie uns doch einen Augenblick bedenken, was es heißt: |
wienbarg_feldzuege_1834 | 182 | Roms Geſchichte ſoll vor unſern Augen entſtehen, ſich fortſpinnen, mannigfach verknuͤpfen, in immer groͤßern Radien anſchießen bis zur Vollendung des aͤußerſten und zur gewaltſamen Durchloͤcherung und Zerfetzung des ganzen Weltſpinnengewebes durch die furchtbaren Stuͤrme des Nordens. | Roms Geschichte soll vor unseren Augen entstehen, sich fortspinnen, mannigfach verknüpfen, in immer größeren Radien anschießen bis zur Vollendung des äußersten und zur gewaltsamen Durchlöcherung und Zerfetzung des ganzen Weltspinnengewebes durch die furchtbaren Stürme des Nordens. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 183 | Die erſten Faͤden aller Voͤlkergeſchichten verlaufen ſich in den Morgenhimmel des Mythus, Goͤtter ſpinnen ſie aus ihrem Buſen, ſie fliegen wie verklaͤrte Genien in einem loſen, lieblichen Durcheinander und man ſieht es kaum, wo ſie ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der Geſchichte ſetzen. | Die ersten Fäden aller Völkergeschichten verlaufen sich in den Morgenhimmel des Mythus, Götter spinnen sie aus ihrem Busen, sie fliegen wie verklärte Genien in einem losen, lieblichen Durcheinander und man sieht es kaum, wo sie ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der Geschichte setzen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 184 | Dichter und Kuͤnſtler ſind daruͤber leicht zu troͤſten; allein Geſchichtsforſcher und Mythologen wandern verzweifelnd in der poetiſchen Goͤtterdaͤmmerung umher, vielfach geneckt von den raͤthſelhaften verzauberten Geſtalten, die nicht ſelten mit ſchelmiſcher Ironie ſich grade vor ſie hinſtellen, ſich geduldig entkleiden, befuͤhlen und betaſten laſſen, und dann auf einmal wie der Wind aus ihren Haͤnden entſchluͤpfen. | Dichter und Künstler sind darüber leicht zu trösten; allein Geschichtsforscher und Mythologen wandern verzweifelnd in der poetischen Götterdämmerung umher, vielfach geneckt von den rätselhaften verzauberten Gestalten, die nicht selten mit schelmischer Ironie sich gerade vor sie hinstellen, sich geduldig entkleiden, befühlen und betasten lassen, und dann auf einmal wie der Wind aus ihren Händen entschlüpfen. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 185 | Doch laͤßt man ſich auf die Laͤnge nicht abſchrecken. | Doch lässt man sich auf die Länge nicht abschrecken. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 186 | Man macht ſich an das Geſchaͤft, die fluͤchtigen Weſen, ſo gut es gehen will, zu klaſſifiziren, die einen nennt man religioͤſe, die andern naturhiſtoriſche, die dritten voͤlkerhiſtoriſche Mythen, die widerſpenſtigſten Schwaͤrmer laͤßt man laufen, hartnaͤckig widerſtrebende bringt man auf die Folter und von da zum Geſtaͤndniß, oder man bindet ihnen ſo triftige Argumente und eine ſo ſchwerfaͤllige Gelehrſamkeit ans Bein, daß ſie ſich ſeufzend und abgemattet in ihr Geſchick begeben. | Man macht sich an das Geschäft, die flüchtigen Wesen, so gut es gehen will, zu klassifizieren, die einen nennt man religiöse, die anderen naturhistorische, die dritten völkerhistorische Mythen, die widerspenstigsten Schwärmer lässt man laufen, hartnäckig widerstrebende bringt man auf die Folter und von da zum Geständnis, oder man bindet ihnen so triftige Argumente und eine so schwerfällige Gelehrsamkeit ans Bein, dass sie sich seufzend und abgemattet in ihr Geschick begeben. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 187 | Sie wiſſen, meine Herren, auch die roͤmiſche Urgeſchichte verlaͤuft ſich in Goͤtter- und Heroendunkel. | Sie wissen, meine Herren, auch die römische Urgeschichte verläuft sich in Götter- und Heroendunkel. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 188 | Bewunderungswuͤrdig iſt es zu ſehen, mit welchem Muth, welcher Ausdauer, welcher Vorund Umſicht unſer Niebuhr dies dunkle Gebiet durchirrt hat, mit wie ſcharfen, unverwandten Blicken er die kuͤmmerlichen Spuren verfolgt hat, die vor den Stadtthoren Roms an die Urſitze der italiſchen Volksſtaͤmme leiten, Spuren, die unaufhoͤrlich kreuz und quer von Goͤttertritten und Schweinepfoten, griechiſchen Fluͤchtlingen und ſaͤugenden Woͤlfinnen, Heroen und Banditen verwirrt und verwiſcht werden. | Bewunderungswürdig ist es zu sehen, mit welchem Mut, welcher Ausdauer, welcher Vorund Umsicht unser Niebuhr dies dunkle Gebiet durchirrt hat, mit wie scharfen, unverwandten Blicken er die kümmerlichen Spuren verfolgt hat, die vor den Stadttoren Roms an die Ursitze der italischen Volksstämme leiten, Spuren, die unaufhörlich kreuz und quer von Göttertritten und Schweinepfoten, griechischen Flüchtlingen und säugenden Wölfinnen, Heroen und Banditen verwirrt und verwischt werden. |
wienbarg_feldzuege_1834 | 189 | Ohne Glauben kommt man ihm nicht nach. | Ohne Glauben kommt man ihm nicht nach. |