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wienbarg_feldzuege_1834
1,090
Der Mutter, die uns Alle trug, Der Erde pflegen ſie und warten, Der Kaiſer ſelber lenkt den Pflug, Und um ihn bluͤht des Reiches Garten.
Der Mutter, die uns alle trug, der Erde pflegen sie und warten, der Kaiser selber lenkt den Pflug, und um ihn blüht des Reiches Garten.
wienbarg_feldzuege_1834
1,091
Dann Landesnoth und Kriegesjammer, Beweinte Braͤut' in oͤder Kammer, Und Unmuth, der die Saiten ſchlug, Heiligen Zorns Entflammer.
Dann Landesnot und Kriegesjammer, beweinte Bräute in öder Kammer, und Unmut, der die Saiten schlug, Heiligen Zorns Entflammer.
wienbarg_feldzuege_1834
1,092
Und den letzten Vers ſchließt Ruͤckert mit den tiefſinnigen Worten:
Und den letzten Vers schließt Rückert mit den tiefsinnigen Worten:
wienbarg_feldzuege_1834
1,093
Daß ihr erkennt:
Dass ihr erkennt:
wienbarg_feldzuege_1834
1,094
Weltpoeſie Allein iſt Weltverſoͤhnung.
Weltpoesie allein ist Weltversöhnung.
wienbarg_feldzuege_1834
1,095
Bleibe ich zum Schluß noch einige Augenblicke bei dieſem neugewonnenen Liederſchatze ſtehen und hebe eins derſelben heraus.
Bleibe ich zum Schluss noch einige Augenblicke bei diesem neugewonnenen Liederschatze stehen und hebe eins derselben heraus.
wienbarg_feldzuege_1834
1,096
Der bei weitem groͤßte Theil derſelben enthaͤlt Reklamationen des menſchlichen Gefuͤhls, Klagen und Proteſtationen, gegenuͤber dem ſtrengen Geſetz oder der willkuͤhrlichen Handhabung deſſelben.
Der bei weitem größte Teil derselben enthält Reklamationen des menschlichen Gefühls, Klagen und Proteste, gegenüber dem strengen Gesetz oder der willkürlichen Handhabung desselben.
wienbarg_feldzuege_1834
1,097
Nur der kleinſte Theil derſelben iſt ſervil und weihraͤuchert dem Kaiſer, der Regierung, den Sitten — im Gegentheil ſind manche ſogar gradezu revolutionair.
Nur der kleinste Teil derselben ist servil und weihräuchert dem Kaiser, der Regierung, den Sitten — im Gegenteil sind manche sogar geradezu revolutionär.
wienbarg_feldzuege_1834
1,098
Es iſt der Schmerz und Ruf der Natur unter dem Druck barbariſcher Geſetzkonſequenzen und als ſolches charakteriſirt ſich auch folgendes Lied eines Eunuchen, der ſeinen Fluch ausſpricht uͤber den Urheber ſeiner Schande, einen Verlaͤumder:
Es ist der Schmerz und Ruf der Natur unter dem Druck barbarischer Gesetzkonsequenzen und als solches charakterisiert sich auch folgendes Lied eines Eunuchen, der seinen Fluch ausspricht über den Urheber seiner Schande, einen Verleumder:
wienbarg_feldzuege_1834
1,099
Der ſein Zungenſchwert gewetzet Und zu Tod mich hat gehetzet, Gebet ihn den ſcharfen Tatzen Aller Leun und Tigerkatzen.
Der sein Zungenschwert gewetzt Und zu Tod mich hat gehetzt, Gebet ihn den scharfen Tatzen aller Leun und Tigerkatzen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,100
Wenn die Tiger und die Leuen Sich ihn anzugreifen ſcheuen, Bringet ihn hinauf nach Norden, Gebt ihn den Barbarenhorden.
Wenn die Tiger und die Leun sich ihn anzugreifen scheuen, bringt ihn hinauf nach Norden, gebt ihn den Barbarenhorden.
wienbarg_feldzuege_1834
1,101
Wenn die nordiſchen Barbaren Selber ihm das Leben ſparen, Gebet ihn der Hoͤlle hin Ihm zu thun nach meinem Sinn.
Wenn die nordischen Barbaren selber ihm das Leben sparen, Gebet ihn der Hölle hin ihm zu tun nach meinem Sinn.
wienbarg_feldzuege_1834
1,102
Ich Mong-Tſee, der dies Lied geſungen, Bin ein Opfer von Verlaͤumdungen, Im Pallaſt des Kaiſers ein Eunuch.
Ich Mong-Tsee, der dies Lied gesungen, bin ein Opfer von Verleumdungen, im Palast des Kaisers ein Eunuch.
wienbarg_feldzuege_1834
1,103
Die ihr hoͤret meinen Spruch, Gebet ihm, dem es gelungen Mich dazu zu machen, euren Fluch.
Die ihr hört meinen Spruch, Gebet ihm, dem es gelungen Mich dazu zu machen, euren Fluch.
wienbarg_feldzuege_1834
1,104
So weiß ſich ein chineſiſcher Eunuch in poetiſchem Zorn Luft zu ſchaffen, waͤhrend die geiſtigen Eunuchen unſerer ſchlaffen Zeit das Meſſer kuͤſſen, das ſie geſchaͤndet hat.
So weiß sich ein chinesischer Eunuch in poetischem Zorn Luft zu schaffen, während die geistigen Eunuchen unserer schlaffen Zeit das Messer küssen, das sie geschändet hat.
wienbarg_feldzuege_1834
1,105
Vielerlei ſind der Sprachen, Zungen und Charaktere auf der Welt, die einander nicht verſtehen; die Poeſie aber iſt die heilige Flammenzunge, die aus Aller Herzen zu Aller Herzen ſpricht und jeden Menſchen mit ſuͤßem Verſtaͤndniß bewegt.
Vielerlei sind der Sprachen, Zungen und Charaktere auf der Welt, die einander nicht verstehen; die Poesie aber ist die heilige Flammenzunge, die aus aller Herzen zu aller Herzen spricht und jeden Menschen mit süßem Verständnis bewegt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,106
Die Poeſie iſt die Natur, die urſpruͤngliche Menſchheit, die ſich mit jeder beſondern Erſcheinung der Menſchheit auf dem Felde der Geſchichte gattet und daher, ſo allgemein menſchlich ſie in ihrer Quelle iſt, doch jedesmal einer beſondern Menſchheit, einem gewiſſen Zeitalter eigenthuͤmlich angehoͤrt.
Die Poesie ist die Natur, die ursprüngliche Menschheit, die sich mit jeder besonderen Erscheinung der Menschheit auf dem Felde der Geschichte gattet und daher, so allgemein menschlich sie in ihrer Quelle ist, doch jedes Mal einer besonderen Menschheit, einem gewissen Zeitalter eigentümlich angehört.
wienbarg_feldzuege_1834
1,107
Man kann daher mit Recht von einer katholiſchen und griechiſchen Poeſie ſprechen, von einer romantiſchen und klaſſiſchen, nur wird man ſich huͤten, den Gegenſatz unmittelbar in das Weſen der Poeſie ſelbſt zu ſetzen, die Poeſie iſt nur die eine bei allen Voͤlkern, Zeiten und Zuſtaͤnden, aber der Strahl dieſer einen Sonne bricht ſich tauſendfach in der geiſtigen Atmoſphaͤre und verurſacht dadurch ein buntes Farbenſpiel von Weltpoeſien, deren Verſtaͤndniß, nach Ruͤckert's Ausdruck, allein zur Weltverſoͤhnung fuͤhrt.
Man kann daher mit Recht von einer katholischen und griechischen Poesie sprechen, von einer romantischen und klassischen, nur wird man sich hüten, den Gegensatz unmittelbar in das Wesen der Poesie selbst zu setzen, die Poesie ist nur die eine bei allen Völkern, Zeiten und Zuständen, aber der Strahl dieser einen Sonne bricht sich tausendfach in der geistigen Atmosphäre und verursacht dadurch ein buntes Farbenspiel von Weltpoesien, deren Verständnis, nach Rückerts Ausdruck, allein zur Weltversöhnung führt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,108
Die Geſchichte der Poeſie, dieſe Bluͤthe der Geſchichte der Menſchheit, lehrt uns, daß jene Gattung von Poeſie, welche man die epiſche nennt, bei allen Voͤlkern die urſpruͤnglichſte und aͤlteſte war.
Die Geschichte der Poesie, diese Blüte der Geschichte der Menschheit, lehrt uns, dass jene Gattung von Poesie, welche man die epische nennt, bei allen Völkern die ursprünglichste und älteste war.
wienbarg_feldzuege_1834
1,109
Fuͤr die griechiſche und indiſche Poeſie iſt dies außer allem Zweifel geſetzt; fuͤr die roͤmiſche hat Niebuhr es wahrſcheinlich gemacht, indem er die ganze ſogenannte aͤlteſte roͤmiſche Geſchichte, wie ſie im Livius vorliegt, auf einen dichteriſchen Sagenurſprung zuruͤckfuͤhrt und ſtellenweiſe in den Buͤchern des Livius noch die alten rythmiſchen Klaͤnge nachweiſt.
Für die griechische und indische Poesie ist dies außer allem Zweifel gesetzt; für die römische hat Niebuhr es wahrscheinlich gemacht, indem er die ganze sogenannte älteste römische Geschichte, wie sie im Livius vorliegt, auf einen dichterischen Sagenursprung zurückführt und stellenweise in den Büchern des Livius noch die alten rhythmischen Klänge nachweist.
wienbarg_feldzuege_1834
1,110
Auch die deutſche Poeſie verraͤth lhren epiſchen Urſprung, mag man dieſen in die aͤlteſte Zeit des Auguſtus und der Herrmannſchlachten oder in die ſpaͤtere der Voͤlkerwanderung verſetzen.
Auch die deutsche Poesie verrät Ihren epischen Ursprung, mag man diesen in die älteste Zeit des Augustus und der Hermannschlachten oder in die spätere der Völkerwanderung versetzen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,111
Von jener aͤlteſten iſt uns allerdings kein einziges Denkmal uͤbrig geblieben, allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germania uͤber die Poeſie der Deutſchen gibt und die Erwaͤhnung altdeutſcher Heldenlieder, welche Karl der Große zu ſammeln befahl, ſetzen es beinah außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil ſeine kuͤnſtliche Aeneis ſchrieb, das geſchichtliche Lied von den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgeſang in den Waͤldern Germaniens wiederhallte.
Von jener ältesten ist uns allerdings kein einziges Denkmal übrig geblieben, allein die Nachrichten, die Tacitus in der Germania über die Poesie der Deutschen gibt und die Erwähnung altdeutscher Heldenlieder, welche Karl der Große zu sammeln befahl, setzen es beinahe außer Zweifel, dass zur Zeit, als Virgil seine künstliche Aeneis schrieb, das geschichtliche Lied von den Taten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgesang in den Wäldern Germaniens widerhallte.
wienbarg_feldzuege_1834
1,112
Noch zweifelloſer iſt die epiſche Natur der deutſchen Poeſie, die ſich aus der Voͤlkerwanderung entwickelt hat und worauf ſich unſere heutige poetiſche Sprache, als auf ihre erſte erſichtliche Quelle zuruͤckfuͤhrt.
Noch zweifelloser ist die epische Natur der deutschen Poesie, die sich aus der Völkerwanderung entwickelt hat und worauf sich unsere heutige poetische Sprache, als auf ihre erste ersichtliche Quelle zurückführt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,113
Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die kuͤnſtleriſche Vereinigung aller jener epiſchen Mythenſtrahlen, welche ſeit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutſchen Himmel uͤberflogen, das Band der Rhapſodien, welche bis dahin, gleich den homeriſchen, von wandernden Saͤngern bei feſtlichen Gelegenheiten einzeln vorgetragen wurden.
Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die künstlerische Vereinigung aller jener epischen Mythenstrahlen, welche seit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutschen Himmel überflogen, das Band der Rhapsodien, welche bis dahin, gleich den homerischen, von wandernden Sängern bei festlichen Gelegenheiten einzeln vorgetragen wurden.
wienbarg_feldzuege_1834
1,114
Fragen wir nach der Urſache, warum eben die aͤlteſte Poeſie einen epiſchen Charakter trug, warum ein Homer fruͤher kommen mußte, als ein Sophokles?
Fragen wir nach der Ursache, warum eben die älteste Poesie einen epischen Charakter trug, warum ein Homer früher kommen musste, als ein Sophokles?
wienbarg_feldzuege_1834
1,115
Ich denke, wir koͤnnen uns auf folgende Weiſe uͤber dieſe Erſcheinung verſtaͤndigen.
Ich denke, wir können uns auf folgende Weise über diese Erscheinung verständigen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,116
Je weiter man den erſten Anfaͤngen einer Volksgeſchichte nachgeht, deſto lebhafter wird man angereizt durch einen ſtehenden Charakterzug, der die fruͤhere Menſchheit von der jetzigen unterſcheidet.
Je weiter man den ersten Anfängen einer Volksgeschichte nachgeht, desto lebhafter wird man angereizt durch einen stehenden Charakterzug, der die frühere Menschheit von der jetzigen unterscheidet.
wienbarg_feldzuege_1834
1,117
Man ſieht die Vorfahren und Stammvaͤter eines jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und Enkel, von einem gewiſſen einheitlichen Gefuͤhl des Lebens durchdrungen, das ſich nicht allein auf die Gegenwart erſtreckt, ſondern auf die Vergangenheit zuruͤckwirkt und dieſe mit jener in unmittelbare Verbindung ſetzt.
Man sieht die Vorfahren und Stammväter eines jeden Volkes weit mehr, als ihre Nachfolger und Enkel, von einem gewissen einheitlichen Gefühl des Lebens durchdrungen, das sich nicht allein auf die Gegenwart erstreckt, sondern auf die Vergangenheit zurückwirkt und diese mit jener in unmittelbare Verbindung setzt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,118
Bei uns iſt es anders.
Bei uns ist es anders.
wienbarg_feldzuege_1834
1,119
Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, ſondern unterhalten eine ſolche mittels der Geſchichte, welche uns die fruͤhern Zuſtaͤnde pragmatiſch-kritiſch vor Augen fuͤhrt.
Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, sondern unterhalten eine solche mittels der Geschichte, welche uns die früheren Zustände pragmatisch-kritisch vor Augen führt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,120
Allein es verhaͤlt ſich das, was wir Geſchichte nennen, zum Epos des Alterthums wie ein friſch bluͤhender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wiſſenſchaftlichen Naturforſchers liegt; oder, es verhaͤlt ſich die Kunde, welche das Alterthum von ſeiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von fruͤheren Dingen nimmt, wie die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare Anſchauung zum lebloſen Bilde.
Allein es verhält sich das, was wir Geschichte nennen, zum Epos des Altertums wie ein frisch blühender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wissenschaftlichen Naturforschers liegt; oder, es verhält sich die Kunde, welche das Altertum von seiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von früheren Dingen nimmt, wie die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare Anschauung zum leblosen Bilde.
wienbarg_feldzuege_1834
1,121
Wir ſtudiren die Geſchichte aus Buͤchern, der Eine weiß viel, ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wiſſen davon hat, hat eben auch nur ein ſolches Wiſſen, das ihm in ſeiner indifferenten Objectivitaͤt unendlich fern liegt vom wirklichen Leben, von ſeinen eignen Gefuͤhlen, Ueberzeugungen und Anſchauungen.
Wir studieren die Geschichte aus Büchern, der Eine weiß viel, ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wissen davon hat, hat eben auch nur ein solches Wissen, das ihm in seiner indifferenten Objektivität unendlich fernliegt vom wirklichen Leben, von seinen eigenen Gefühlen, Überzeugungen und Anschauungen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,122
Der fruͤhere Menſch aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit, er ſog die Vergangenheit ein mit der Muttermilch, ſie war ihm ein integrirender Theil ſeines Weſens und alle Erſcheinungen, Thaten, Gefuͤhle derſelben blieben ihm ſo verſtaͤndlich, wie die Erſcheinungen, Thaten und Gefuͤhle der Gegenwart ſelber.
Der frühere Mensch aber identifiziert die Vorzeit mit der Vergangenheit, er sog die Vergangenheit ein mit der Muttermilch, sie war ihm ein integrierender Teil seines Wesens und alle Erscheinungen, Taten, Gefühle derselben blieben ihm so verständlich, wie die Erscheinungen, Taten und Gefühle der Gegenwart selber.
wienbarg_feldzuege_1834
1,123
Was daher ein Dichter von der Gegenwart ſang, das ſang er im gewiſſen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachruͤhmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart.
Was daher ein Dichter von der Gegenwart sang, das sang er im gewissen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachrühmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart.
wienbarg_feldzuege_1834
1,124
Warum aber der Dichter am Liebſten die Thaten der Vergangenheit darſtellte, mit denen dann die Anſichten und Gefuͤhle der Gegenwart zuſammenſchmolzen, davon lag der Grund, wie es mir ſcheint, in der volkseinheitlichen, unperſoͤnlichen Richtung der Poeſie, welche den Dichter mit ſeinen individuellen Anſichten von Zeitcharakteren und Zeitereigniſſen ganz in den Hintergrund treten ließ und ſtatt deſſen nur den vollen, ungetheilten Strom der Volksſage in die Dichtung einleitete.
Warum aber der Dichter am liebsten die Taten der Vergangenheit darstellte, mit denen dann die Ansichten und Gefühle der Gegenwart zusammenschmolzen, davon lag der Grund, wie es mir scheint, in der volkseinheitlichen, unpersönlichen Richtung der Poesie, welche den Dichter mit seinen individuellen Ansichten von Zeitcharakteren und Zeitereignissen ganz in den Hintergrund treten ließ und stattdessen nur den vollen, ungeteilten Strom der Volkssage in die Dichtung einleitete.
wienbarg_feldzuege_1834
1,125
Die Poeſie verlangte eine gewiſſe Ferne, ein Laͤuterungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile und Nichtigkeiten beſchraͤnkter Anſichten von ſich abzuſcheiden, und nur die Stimme des Volkes, Gottes Stimme walten zu laſſen.
Die Poesie verlangte eine gewisse Ferne, ein Läuterungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurteile und Nichtigkeiten beschränkter Ansichten von sich abzuscheiden, und nur die Stimme des Volkes, Gottes Stimme walten zu lassen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,126
Der Dichter ſang nicht ſich, ſondern dem Volk und den Vorfahren zum Ruhm und daher ward auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk beruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied ſeine jetzige Geſtalt verdankt, gaͤnzlich unbekannt geblieben iſt, und wie ſelbſt Homer allem Vermuthen nach, erſt in ſpaͤterer Zeit ſeinen Ruf, ja ſeinen Namen erhalten hat.
Der Dichter sang nicht sich, sondern dem Volk und den Vorfahren zum Ruhm und daher wurde auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk berühmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied seine jetzige Gestalt verdankt, gänzlich unbekannt geblieben ist, und wie selbst Homer allem Vermuten nach, erst in späterer Zeit seinen Ruf, ja seinen Namen erhalten hat.
wienbarg_feldzuege_1834
1,127
Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des Epiſchen vor dem Lyriſchen hinlaͤnglich motivirt, weniger aber das Zuruͤckſtehen und das ſpaͤtere Hervortreten des Dramatiſchen.
Damit wäre nun freilich das Vorwalten des Epischen vor dem Lyrischen hinlänglich motiviert, weniger aber das Zurückstehen und das spätere Hervortreten des Dramatischen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,128
Warum iſt wie das Lyriſche, ſo auch das Dramatiſche in aͤlteſter Zeit nur ein Element des Epiſchen, ohne ſelbſtſtaͤndige Ausbildung, als Trauerſpiel oder Luſtſpiel?
Warum ist wie das Lyrische, so auch das Dramatische in ältester Zeit nur ein Element des Epischen, ohne selbstständige Ausbildung, als Trauerspiel oder Lustspiel?
wienbarg_feldzuege_1834
1,129
Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in der aͤlteſten Zeit die ganze ungetheilte Weltanſicht vorherrſcht, weil ſich darin keine Kraft des Geiſtes iſolirt, ſondern Empfinden, Wiſſen, Handeln harmoniſch zuſammenwirkt.
Ich antworte, weil im Epos, wie überhaupt in der ältesten Zeit die ganze ungeteilte Weltansicht vorherrscht, weil sich darin keine Kraft des Geistes isoliert, sondern Empfinden, Wissen, Handeln harmonisch zusammenwirkt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,130
In der Lyrik iſt die Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr das Leiden der Perſoͤnlichkeit uͤberwiegend, im Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleichſam durch den Stab des Rhapſoden um die Dichtung gezogen wird.
In der Lyrik ist die Empfindung, im Drama die Tat, oder vielmehr das Leiden der Persönlichkeit überwiegend, im Epos aber tritt beides in die gehörige Schranke zurück, in den Kreis, welcher der Erzählung gleichsam durch den Stab des Rhapsoden um die Dichtung gezogen wird.
wienbarg_feldzuege_1834
1,131
Das Drama ſondert einen Helden, eine Begebenheit aus dem Kreiſe der Helden und Begebenheiten ab, und gibt dadurch der einzelnen Darſtellung eine uͤberwiegende Wichtigkeit; das Epos laͤßt den Helden, ſeine Leiden und Thaten nur in einer ganzen Welt von Helden und Thaten zur Erſcheinung kommen.
Das Drama sondert einen Helden, eine Begebenheit aus dem Kreise der Helden und Begebenheiten ab, und gibt dadurch der einzelnen Darstellung eine überwiegende Wichtigkeit; das Epos lässt den Helden, seine Leiden und Taten nur in einer ganzen Welt von Helden und Taten zur Erscheinung kommen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,132
Das Epos iſt ſeiner Natur nach unendlich, wie die Geſchichte, das Drama hingegen begrenzt, wenn auch nicht mit innerer Nothwendigkeit ſo enge, daß eines Tages Sonne uͤber den Helden aufund untergehen muͤßte.
Das Epos ist seiner Natur nach unendlich, wie die Geschichte, das Drama hingegen begrenzt, wenn auch nicht mit innerer Notwendigkeit so enge, dass eines Tages Sonne über den Helden auf untergehen müsste.
wienbarg_feldzuege_1834
1,133
Es kommt hinzu, daß nach Goethe's Bemerkung das epiſche Gedicht vorzuͤglich den außer ſich wirkenden Menſchen darſtellt, Schlachten, Stuͤrme, Reiſen, jede Art von Unternehmungen, die eine ſinnliche Breite erfordern, das dramatiſche Gedicht aber mehr den nach Innen gefuͤhrten Menſchen, daher auch dieſes ſich in wenig Raum und Zeit zuſammendraͤngen laͤßt, ja wenn es echter Natur iſt und ſtreng in ſeinem Charakter gehalten wird, nur wenig Ortsveraͤnderungen und Zeitraͤume bedarf.
Es kommt hinzu, dass nach Goethes Bemerkung das epische Gedicht vorzüglich den außer sich wirkenden Menschen darstellt, Schlachten, Stürme, Reisen, jede Art von Unternehmungen, die eine sinnliche Breite erfordern, das dramatische Gedicht aber mehr den nach Innen geführten Menschen, daher auch dieses sich in wenig Raum und Zeit zusammendrängen lässt, ja wenn es echter Natur ist und streng in seinem Charakter gehalten wird, nur wenig Ortsveränderungen und Zeiträume bedarf.
wienbarg_feldzuege_1834
1,134
Auch dieſes lag gaͤnzlich in der Gemuͤthsart des Alterthums, es mußte den aͤußeren Beſtand, das Objekt der gemeinſamen Anſchauung, die That als den Vereinigungspunkt aller Meinungen uͤberwiegend darſtellen, und daher war eben jene alte Poeſie, die epiſche, ein Gemeingut der ganzen Nation, im hoͤhern Grade, als es je die lyriſche und dramatiſche werden konnte.
Auch dieses lag gänzlich in der Gemütsart des Altertums, es musste den äußeren Bestand, das Objekt der gemeinsamen Anschauung, die Tat als den Vereinigungspunkt aller Meinungen überwiegend darstellen, und daher war eben jene alte Poesie, die epische, ein Gemeingut der ganzen Nation, im höheren Grade, als es je die lyrische und dramatische werden konnte.
wienbarg_feldzuege_1834
1,135
Waͤhrend naͤmlich das Drama, die Ode auf einen einzigen Dramen- und Odendichter als Verfaſſer zuruͤckweiſt, hatte das Epos eine ganze Nation von Dichtern aufzuweiſen, wo keiner der Vorſaͤnger ſo kuͤhn ſein konnte, ſich allein mit dem Lorbeer zu ſchmuͤcken, der Allen gebuͤhrte.
Während nämlich das Drama, die Ode auf einen einzigen Dramen- und Odendichter als Verfasser zurückweist, hatte das Epos eine ganze Nation von Dichteren aufzuweisen, wo keiner der Vorsänger so kühn sein konnte, sich allein mit dem Lorbeer zu schmücken, der allen gebührte.
wienbarg_feldzuege_1834
1,136
Indem ich auf dieſe Weiſe verſucht habe, den Grund dafuͤr anzugeben, warum das Epos die aͤlteſte Gattung der Poeſie ſei, habe ich zugleich den Grund mit beruͤhrt, warum die ſpaͤtere Zeit nicht mehr im Stande ſei, ein echtes Epos zu ſchaffen.
Indem ich auf diese Weise versucht habe, den Grund dafür anzugeben, warum das Epos die älteste Gattung der Poesie sei, habe ich zugleich den Grund mit berührt, warum die spätere Zeit nicht mehr imstande sei, ein echtes Epos zu schaffen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,137
Der Verſuche freilich ſind bis auf die neueſte Zeit ſehr viele, noch vor einigen Jahren hat ein Landsmann von uns, der Buͤrgermeiſter Lindenhan, ein großes, epiſches Gedicht unter dem Namen Malta in die Welt geſchickt, wo es aber nicht ſehr weit hingekommen zu ſein ſcheint.
Der Versuche freilich sind bis auf die neueste Zeit sehr viele, noch vor einigen Jahren hat ein Landsmann von uns, der Bürgermeister Lindenhan, ein großes, episches Gedicht unter dem Namen Malta in die Welt geschickt, wo es aber nicht sehr weit hingekommen zu sein scheint.
wienbarg_feldzuege_1834
1,138
Selbſt ein bedeutenderes, ja das bedeutendſte dichteriſche Talent muß nothwendig an der Aufgabe ſcheitern, mit der Jliade oder den Nibelungen in die Schranken zu treten.
Selbst ein bedeutenderes, ja das bedeutendste dichterische Talent muss notwendig an der Aufgabe scheitern, mit der Iliade oder den Nibelungen in die Schranken zu treten.
wienbarg_feldzuege_1834
1,139
Ich erwaͤhne der Aeneide des Virgil nicht, denn ſie iſt eben nur einer dieſer verfehlten Verſuche, durch willkuͤhrlichen Entſchluß und mit perſoͤnlichem Talent die innere organiſche Nothwendigkeit einer Volksdichtung nachzuahmen.
Ich erwähne der Aeneis des Virgil nicht, denn sie ist eben nur einer dieser verfehlten Versuche, durch willkürlichen Entschluss und mit persönlichem Talent die innere organische Notwendigkeit einer Volksdichtung nachzuahmen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,140
Ein Epos im modernen Sinn, konzipirt von dem und dem namhaften Verfaſſer, iſt ſeinem Charakter nach das grade Widerſpiel vom alten echten Epos, und die Strafe, ſich an dieſem verſuͤndigt zu haben, folgt den Verfaſſern gewoͤhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr willkuͤhrliches Machwerk keine Seele erwaͤrmt und begeiſtert, ſondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewiſſe Menſchen bemuͤht ſind, ſich, zu Ehren der epiſchen, vaterlaͤndiſchen Muſe, daruͤber in Selbſttaͤuſchung zu erhalten.
Ein Epos im modernen Sinn, konzipiert von dem und dem namhaften Verfasser, ist seinem Charakter nach das gerade Widerspiel vom alten echten Epos, und die Strafe, sich an diesem versündigt zu haben, folgt den Verfassern gewöhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr willkürliches Machwerk keine Seele erwärmt und begeistert, sondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewisse Menschen bemüht sind, sich, zu Ehren der epischen, vaterländischen Muse, darüber in Selbsttäuschung zu erhalten.
wienbarg_feldzuege_1834
1,141
Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder patriotiſche Deutſche den Namen des Klopſtockiſchen Meſſias ſchimpfshalber mit einiger Entzuͤckung ausſprechen, mochte er den Meſſias geleſen haben oder nicht; gegenwaͤrtig, wo vielleicht kein Menſch in Deutſchland lebt, der ſich der vollſtaͤndigen Durchleſung der Meſſiade beruͤhmen kann, iſt es erlaubt, bei aller Achtung fuͤr die rieſenhafte Arbeit eines abſtrakten Dichtergenius, ſich deſſen nicht zu ſchaͤmen und jeder Anmuthung der Art durch ſchlagende Gruͤnde zu begegnen.
Noch vor einigen und dreißig Jahren musste jeder patriotische Deutsche den Namen des Klopstockischen Messias schimpfshalber mit einiger Entzückung aussprechen, mochte er den Messias gelesen haben oder nicht; gegenwärtig, wo vielleicht kein Mensch in Deutschland lebt, der sich der vollständigen Durchlesung der Messiade berühmen kann, ist es erlaubt, bei aller Achtung für die riesenhafte Arbeit eines abstrakten Dichtergenius, sich dessen nicht zu schämen und jeder Anmutung der Art durch schlagende Gründe zu begegnen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,142
Es iſt ausgemacht, daß jedes epiſche Gedicht neuerer Zeit, je laͤnger es gerieth, deſto langweiliger gerathen iſt, und daß nur die beſondere romantiſch-katholiſche Natur der Comoedia divina des Arioſt's und des befreiten Jeruſalems von Taſſo, dieſen epiſchen Gedichten einen Kreis gebildeter Leſer erhalten hat und erhalten wird.
Es ist ausgemacht, dass jedes epische Gedicht neuerer Zeit, je länger es geriet, desto langweiliger geraten ist, und dass nur die besondere romantisch-katholische Natur der Comoedia divina des Ariosts und des befreiten Jerusalems von Tasso, diesen epischen Gedichten einen Kreis gebildeter Leser erhalten hat und erhalten wird.
wienbarg_feldzuege_1834
1,143
Das Epos aber kann die Laͤnge und Ausfuͤhrlichkeit gar nicht vermeiden, denn ſie ſind ihm, wie ſchon bemerkt, weſentlich charakteriſtiſch, mag der Dichter ſich nun durch zwoͤlf, oder gar durch vierundzwanzig Geſaͤnge hindurchſchlagen.
Das Epos aber kann die Länge und Ausführlichkeit gar nicht vermeiden, denn sie sind ihm, wie schon bemerkt, wesentlich charakteristisch, mag der Dichter sich nun durch zwölf, oder gar durch vierundzwanzig Gesänge hindurchschlagen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,144
Dieſe Erbſuͤnde des modernen Epos:
Diese Erbsünde des modernen Epos:
wienbarg_feldzuege_1834
1,145
Langweiligkeit, entſprungen aus noͤthiger Laͤnge, hat Jean Paul ſehr humoriſtiſch dargeſtellt im folgenden Abſchnitt, der der Mittheilung bei dieſer Gelegenheit vorzuͤglich werth iſt.
Langweiligkeit, entsprungen aus nötiger Länge, hat Jean Paul sehr humoristisch dargestellt im folgenden Abschnitt, der der Mitteilung bei dieser Gelegenheit vorzüglich wert ist.
wienbarg_feldzuege_1834
1,146
Die Zeiten des Epos ſind voruͤber, an die Stelle des Epikers iſt der Romandichter getreten, der mit Entaͤußerung der epiſchen Maſchinerie und des Rythmus ſich im allerfreieſten Element bewegt und den in moderne Proſa, moderne Geſinnung uͤberpflanzten Epiker darſtellt.
Die Zeiten des Epos sind vorüber, an die Stelle des Epikers ist der Romandichter getreten, der mit Entäußerung der epischen Maschinerie und des Rhythmus sich im allerfreisten Element bewegt und den in moderne Prosa, moderne Gesinnung überpflanzten Epiker darstellt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,147
Wir laſſen aber die Charakteriſtik des Romans nicht unmittelbar auf das Epos folgen, ſondern behalten uns dieſelbe fuͤr die Darſtellung der Proſa vor.
Wir lassen aber die Charakteristik des Romans nicht unmittelbar auf das Epos folgen, sondern behalten uns dieselbe für die Darstellung der Prosa vor.
wienbarg_feldzuege_1834
1,148
Das Drama, deſſen wir ſchon im Gegenſatz des Epos erwaͤhnt haben, ging einſt unmittelbar, wie alle echte Poeſie, aus dem Schooß des Volks, des nationellen Geiſtes, der nationellen Sitte hervor.
Das Drama, dessen wir schon im Gegensatz des Epos erwähnt haben, ging einst unmittelbar, wie alle echte Poesie, aus dem Schoß des Volks, des nationalen Geistes, der nationalen Sitte hervor.
wienbarg_feldzuege_1834
1,149
Wie in Griechenland, ſo im Mittelalter entſprangen die erſten dramatiſchen Vorſtellungen aus religioͤſen Faſchings und gaben daher hier wie dort religioͤs-mythologiſche Handlungen zum Beſten, anfangs rein mimiſch, monologiſch, in der Folge dialogiſch, bis ſich auch ihr Gegenſtand und Inhalt veraͤnderte und an die Stelle der Goͤtter oder Heiligen, Koͤnige und Helden traten.
Wie in Griechenland, so im Mittelalter entsprangen die ersten dramatischen Vorstellungen aus religiösen Faschings und gaben daher hier wie dort religiös-mythologische Handlungen zum Besten, anfangs rein mimisch, monologisch, in der Folge dialogisch, bis sich auch ihr Gegenstand und Inhalt veränderte und an die Stelle der Götter oder Heiligen, Könige und Helden traten.
wienbarg_feldzuege_1834
1,150
Dies iſt die allgemeine aͤußere Geſchichte des Drama; allein jede Nation hat ihre eigene.
Dies ist die allgemeine äußere Geschichte des Drama; allein jede Nation hat ihre eigene.
wienbarg_feldzuege_1834
1,151
Das griechiſche bewahrte viel von ſeinem mythologiſchen Charakter und ließ Goͤtter und Goͤttinnen noch in ſpaͤteſter Zeit perſoͤnlich auf der Buͤhne erſcheinen; das ſpaniſche entwickelte ſich durchaus religioͤs und katholiſch-phantaſtiſch; das engliſche ſchwang ſich zuerſt zu reinmenſchlicher, politiſcher Hoͤhe hinauf, waͤhrend das franzoͤſiſche ein à Ia français zugeſchnittenes griechiſches blieb und die deutſche nachahmend mit dem engliſchen und griechiſchen wetteiferte.
Das griechische bewahrte viel von seinem mythologischen Charakter und ließ Götter und Göttinnen noch in spätester Zeit persönlich auf der Bühne erscheinen; das spanische entwickelte sich durchaus religiös und katholisch-phantastisch; das englische schwang sich zuerst zu reinmenschlicher, politischer Höhe hinauf, während das französische ein à Ja français zugeschnittenes griechisches blieb und die deutsche nachahmend mit dem englischen und griechischen wetteiferte.
wienbarg_feldzuege_1834
1,152
Mit Nachahmung engliſcher Stuͤcke machte man unter uns den Anfang, Gryphius und andere Dichter des 17. Jahrhunderts haben Vieles nur ſo vor der Hand uͤberſetzt, man ſtoͤßt in ihren Stuͤcken ſehr oft auf guten engliſchen Humor, der den Deutſchen in damaliger Zeit ganz ausgegangen zu ſein ſchien.
Mit Nachahmung englischer Stücke machte man unter uns den Anfang, Gryphius und andere Dichter des 17. Jahrhunderts haben vieles nur so vorderhand übersetzt, man stößt in ihren Stücken sehr oft auf guten englischen Humor, der den Deutschen in damaliger Zeit ganz ausgegangen zu sein schien.
wienbarg_feldzuege_1834
1,153
Das erſte Drama von Bedeutung, das ein Jahrhundert ſpaͤter aus dem Studium der engliſchen Buͤhne, zumal aber aus der Bewunderung des Shakſpeare entſprang, war Goethe's Goͤtz von Berlichingen, nach welchem einzigen Schauſpiel die ungeheure Fluth der Ritterromane ſich erhob, wie nach Schiller's erſtem Produkt, den Raͤubern, die eben ſo ſtarke Literatur der Raͤuberromane Deutſchland uͤberſchwemmte.
Das erste Drama von Bedeutung, das ein Jahrhundert später aus dem Studium der englischen Bühne, zumal aber aus der Bewunderung des Shakespeare entsprang, war Goethes Götz von Berlichingen, nach welchem einzigen Schauspiel die ungeheure Flut der Ritterromane sich erhob, wie nach Schillers erstem Produkt, den Räubern, die ebenso starke Literatur der Räuberromane Deutschland überschwemmte.
wienbarg_feldzuege_1834
1,154
Goethe's, des Dramendichters Wuͤrdigung, Goethe's Bedeutung fuͤr ſeine Zeit iſt es nun beſonders, was ich mir in dieſem Abſchnitt zur Aufgabe ſetze, der vom deutſchen Drama handelt: nicht vom Drama uͤberhaupt, noch von Voͤlkerdramen im Allgemeinen, noch einmal vom deutſchen Drama, als von einem Stuͤck und Fachwerk der ſchoͤnen deutſchen Literatur, ſondern vom deutſchen Drama, das nicht mehr iſt, das mit Schiller und Goethe zu den Schatten hinabgeſtiegen iſt, das mit Schiller, vornaͤmlich aber mit Goethe einer Zeit angehoͤrt, der wir nicht mehr angehoͤren koͤnnen, noch wollen.
Goethes, des Dramendichters Würdigung, Goethes Bedeutung für seine Zeit ist es nun besonders, was ich mir in diesem Abschnitt zur Aufgabe setze, der vom deutschen Drama handelt: nicht vom Drama überhaupt, noch von Völkerdramen im Allgemeinen, noch einmal vom deutschen Drama, als von einem Stück und Fachwerk der schönen deutschen Literatur, sondern vom deutschen Drama, das nicht mehr ist, das mit Schiller und Goethe zu den Schatten hinabgestiegen ist, das mit Schiller, vornehmlich aber mit Goethe einer Zeit angehört, der wir nicht mehr angehören können, noch wollen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,155
Wer klagt nicht uͤber den Tod des Schoͤnen auf der Erde, uͤber den Hingang vorleuchtender großer Koͤpfe, uͤber die Seltenheit, daß ſolche Verluſte bald durch aͤquivalente Anlagen erſetzt werden, wer klagt nicht daruͤber, daß Deutſchland keinen Schiller mehr hat, oder daß Goethe nicht ewige Jugend zu Theil wurde?
Wer klagt nicht über den Tod des Schönen auf der Erde, über den Hingang vorleuchtender großer Köpfe, über die Seltenheit, dass solche Verluste bald durch äquivalente Anlagen ersetzt werden, wer klagt nicht darüber, dass Deutschland keinen Schiller mehr hat, oder dass Goethe nicht ewige Jugend zuteilwurde?
wienbarg_feldzuege_1834
1,156
Wie willig ſtimme ich dieſer Trauer bei, die ich nur zu gerecht finde, da unſere dramatiſche Buͤhne heutiges Tags veroͤdet iſt und ein Raupach, ein Immermann ſtatt Schiller's und Goethe's auf dem deutſchen Kothurn einherſtolziren.
Wie willig stimme ich dieser Trauer bei, die ich nur zu gerecht finde, da unsere dramatische Bühne heutigestags verödet ist und ein Raupach, ein Immermann statt Schillers und Goethes auf dem deutschen Kothurn einherstolzieren.
wienbarg_feldzuege_1834
1,157
Allein man wuͤrde dieſen Verluſt nicht gehoͤrig wuͤrdigen, wenn man glaubte, es ſei wuͤnſchenswerth oder uͤberhaupt nur moͤglich, daß die kreiſende Zeit uns einen andern Schiller und Goethe gebaͤre.
Allein man würde diesen Verlust nicht gehörig würdigen, wenn man glaubte, es sei wünschenswert oder überhaupt nur möglich, dass die kreisende Zeit uns einen anderen Schiller und Goethe gebäre.
wienbarg_feldzuege_1834
1,158
Und hatten wir auch Dichter, ſo groß wie dieſe, wir hatten damit noch keine Schiller'ſche und Goetheſche Dramen.
Und hatten wir auch Dichter, so groß wie diese, wir hatten damit noch keine Schillersche und goethesche Dramen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,159
Zu jeder angebornen Kraft, die ſich naturgemaͤß aͤußern ſoll, gehoͤrt zweierlei, ein Raum, worauf ſie wirkt, eine Feder, die ſie ſpringen laͤßt.
Zu jeder angeborenen Kraft, die sich naturgemäß äußeren soll, gehört zweierlei, ein Raum, worauf sie wirkt, eine Feder, die sie springen lässt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,160
Beides fehlt in Deutſchland dem Dramendichter.
Beides fehlt in Deutschland dem Dramendichter.
wienbarg_feldzuege_1834
1,161
Jener rein poetiſche Schwung, der die Koͤpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und ſie erſt bei der Befreiung Deutſchlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geſchichte der Poeſie einzig in ſeiner Art, durchaus ohne Beiſpiel, wenn man nicht ungehoͤriger Weiſe das Auguſteiſche Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig ſchnell aufwachſende Literatur aufzuweiſen hat, die auf fremdem griechiſchen Boden entſproſſen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zuſammenhing, die aber ſich doch eines nationalen Sonnenſcheins erfreute, indem Rom, obgleich beherrſcht, Herrſcherin des Erdbodens war.
Jener rein poetische Schwung, der die Köpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und sie erst bei der Befreiung Deutschlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geschichte der Poesie einzig in seiner Art, durchaus ohne Beispiel, wenn man nicht ungehörigerweise das Augusteische Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig schnell aufwachsende Literatur aufzuweisen hat, die auf fremdem griechischen Boden entsprossen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zusammenhing, die aber sich doch eines nationalen Sonnenscheins erfreute, indem Rom, obgleich beherrscht, Herrscherin des Erdbodens war.
wienbarg_feldzuege_1834
1,162
Deutſchland hingegen fand ſich in Goethe's Jugend und Mannsalter in dem aufgeloͤſteſtem Zuſtande, es war in ſeinem politiſchen Vermoͤgen nach innen und außen paralyſirt, ohne Anregung durch Siege oder Niederlagen, die den Blick poetiſch zu erweitern im Stande geweſen, in welche Kategorie gewiß der ſiebenjaͤhrige Krieg nicht gehoͤrt, wie man an Gleim, Ramler, Kleiſt, den Dichtern deſſelben, zur Genuͤge erſieht.
Deutschland hingegen fand sich in Goethes Jugend und Mannsalter in dem aufgelöstestem Zustande, es war in seinem politischen Vermögen nach innen und außen paralysiert, ohne Anregung durch Siege oder Niederlagen, die den Blick poetisch zu erweitern imstande gewesen, in welche Kategorie gewiss der Siebenjährige Krieg nicht gehört, wie man an Gleim, Ramler, Kleist, den Dichteren desselben, zur Genüge ersieht.
wienbarg_feldzuege_1834
1,163
Es war jene Zeit fuͤr Deutſchland, in der man durchaus nichts that, nichts thun wollte, in der die Toͤchter der That, oder der Begeiſtrung fuͤr die That, die Dramen geboren wurden.
Es war jene Zeit für Deutschland, in der man durchaus nichts tat, nichts tun wollte, in der die Töchter der Tat, oder der Begeisterung für die Tat, die Dramen geboren wurden.
wienbarg_feldzuege_1834
1,164
Zu andern Zeiten und bei andern Nationen fachte der dramatiſche Dichter das Feuer ſeines Genies an durch den friſchen begeiſternden Athem, der durch die Gegenwart ging, das Volk ſpielte ſein Drama erſt ſelber auf dem Markt, ehe der Dichter es auf die Breter brachte; der Schwung der Geſinnung, die Groͤße der Ideen und Schickſale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Buſen des Dichters.
Zu anderen Zeiten und bei anderen Nationen fachte der dramatische Dichter das Feuer seines Genies an durch den frischen begeisternden Atem, der durch die Gegenwart ging, das Volk spielte sein Drama erst selber auf dem Markt, ehe der Dichter es auf die Bretter brachte; der Schwung der Gesinnung, die Größe der Ideen und Schicksale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Busen des Dichters.
wienbarg_feldzuege_1834
1,165
Allein gegen das Ende des 18.
Allein gegen das Ende des 18.
wienbarg_feldzuege_1834
1,166
Jahrhunderts ſchien es in Deutſchland, als ob die Poeſie ſich abgeloͤſt haͤtte von ihrem Stamm, als ob ſie ein ideelles Leben fuͤr ſich beginnen wolle, ohne Gemeinſchaft mit dem wirklichen.
Jahrhunderts schien es in Deutschland, als ob die Poesie sich abgelöst hätte von ihrem Stamm, als ob sie ein ideelles Leben für sich beginnen wolle, ohne Gemeinschaft mit dem wirklichen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,167
Ein Jahrhundert, das von Rechtswegen aller Poeſie und aller Poeten baar und ledig haͤtte ſein ſollen, war poeſie- und poetenreich, Dichter ſchoſſen an Dichtern empor und uͤberragend bluͤhten zwei maͤchtige Haͤupter mit den glaͤnzendſten Lorbeeren.
Ein Jahrhundert, das von Rechtswegen aller Poesie und aller Poeten bar und ledig hätte sein sollen, war poesie- und poetenreich, Dichter schossen an Dichteren empor und überragend blühten zwei mächtige Häupter mit den glänzendsten Lorbeeren.
wienbarg_feldzuege_1834
1,168
Der Eine von ihnen, Schiller, hat ſich ſein ganzes Leben hindurch in dieſer ideellen Richtung behauptet.
Der Eine von ihnen, Schiller, hat sich sein ganzes Leben hindurch in dieser ideellen Richtung behauptet.
wienbarg_feldzuege_1834
1,169
Geht man die ſchimmernde Reihe ſeiner Trauerſpiele durch, ſo findet man, die allererſten vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu welcher Zeit dieſelben entſtanden, oder vor welchem Publicum dieſelben aufgefuͤhrt, es ſind Kunſtdramen oder vielmehr es ſind keine Dramen, ſondern die Dramatik ſelbſt, von bald abſtrakten, bald hiſtoriſchen Perſonen aufgefuͤhrt.
Geht man die schimmernde Reihe seiner Trauerspiele durch, so findet man, die allerersten vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu welcher Zeit dieselben entstanden, oder vor welchem Publikum dieselben aufgeführt, es sind Kunstdramen oder vielmehr es sind keine Dramen, sondern die Dramatik selbst, von bald abstrakten, bald historischen Personen aufgeführt.
wienbarg_feldzuege_1834
1,170
Kann man nun wirklich behaupten, daß der Charakter der ganzen Zeit dieſelbe ideelle Richtung theilte, ſich in Abſtraktion und Hiſtorie vertiefte und die verfluͤchtigte Gegenwart und das leere fade Leben nicht daruͤber anſchlug, ſo mag wohl Schiller eher, denn Goethe, als dramatiſcher Repraͤſentant ſeiner Zeit aufgeſtellt werden.
Kann man nun wirklich behaupten, dass der Charakter der ganzen Zeit dieselbe ideelle Richtung teilte, sich in Abstraktion und Historie vertiefte und die verflüchtigte Gegenwart und das leere fade Leben nicht darüber anschlug, so mag wohl Schiller eher, denn Goethe, als dramatischer Repräsentant seiner Zeit aufgestellt werden.
wienbarg_feldzuege_1834
1,171
Allein beobachten wir einen Umſtand, eine Verſchiedenheit in beiden Produktionen mit gehoͤriger Schaͤrfe, ſo ſind wir, wie es ſcheint, nicht aufgelegt, dieſe Meinung zu beſtaͤtigen.
Allein beobachten wir einen Umstand, eine Verschiedenheit in beiden Produktionen mit gehöriger Schärfe, so sind wir, wie es scheint, nicht aufgelegt, diese Meinung zu bestätigen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,172
Es gibt keine Succeſſion in Schiller's Werken, keine andere, als die immer durchdachter und ſelbſtbewußter werdende Kunſt.
Es gibt keine Sukzession in Schillers Werken, keine andere, als die immer durchdachter und selbstbewusster werdende Kunst.
wienbarg_feldzuege_1834
1,173
Seine Dramen zeigen auf der einen Seite keinen innern Zuſammenhang, keine organiſche Einheit, keine durchlebte Geſchichte von Anſichten und Gemuͤthsſtimmungen, auf der andern Seite nach außen hin keinen Zuſammenhang mit den Gemuͤthsſtimmungen und Anſichten ſeiner Zeitgenoſſen.
Seine Dramen zeigen auf der einen Seite keinen inneren Zusammenhang, keine organische Einheit, keine durchlebte Geschichte von Ansichten und Gemütsstimmungen, auf der anderen Seite nach außen hin keinen Zusammenhang mit den Gemütsstimmungen und Ansichten seiner Zeitgenossen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,174
Dies iſt der Fall bei Goethe und dieſe Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn Schiller als Repraͤſentanten ſeiner Zeit zu betrachten.
Dies ist der Fall bei Goethe und diese Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn Schiller als Repräsentanten seiner Zeit zu betrachten.
wienbarg_feldzuege_1834
1,175
Ziehen wir zuerſt das beruͤhrte aͤußere Verhaͤltniß in Erwaͤgung, ſo finden wir, daß Goethe's dramatiſche Meiſterwerke, eben ſo wie deſſen Romane und Gedichte, mit der Zeit im innigſten Zuſammenhang ſtanden, in ſo fern ſie eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die ſich freilich zuletzt immer ins Abſtrakte oder Philiſterhafte, oder Laͤcherliche verlor), poetiſch, kraͤftig ausſprachen und fuͤr einen gewiſſen Zeitraum im Publikum allgemein machten.
Ziehen wir zuerst das berührte äußere Verhältnis in Erwägung, so finden wir, dass Goethes dramatische Meisterwerke, ebenso wie dessen Romane und Gedichte, mit der Zeit im innigsten Zusammenhang standen, insofern sie eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die sich freilich zuletzt immer ins Abstrakte oder Philisterhafte, oder Lächerliche verlor), poetisch, kräftig aussprachen und für einen gewissen Zeitraum im Publikum allgemein machten.
wienbarg_feldzuege_1834
1,176
Goethe's Berlichingen, Egmont, Fauſt, Meiſter und andere Dramen und Romane verrathen die Zeit ihrer Entſtehung, und ihre Schoͤpfung diente Goethe meiſtens als dichteriſches Beduͤrfniß, ſein Gemuͤth von einſeitig heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die verlorne poetiſche Freiheit wiederzugeben.
Goethes Berlichingen, Egmont, Faust, Meister und andere Dramen und Romane verraten die Zeit ihrer Entstehung, und ihre Schöpfung diente Goethe meistens als dichterisches Bedürfnis, sein Gemüt von einseitig heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die verlorene poetische Freiheit wiederzugeben.
wienbarg_feldzuege_1834
1,177
Denſelben geſchichtlichen Charakter findet man darum auch in perſoͤnlicher Beziehung darin.
Denselben geschichtlichen Charakter findet man darum auch in persönlicher Beziehung darin.
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1,178
Goethe's Werke und Dramen waren er ſelbſt zu irgend einer Zeit ſeines Lebens, als Juͤngling, Mann, Greis, als Ritter, Weltmann, Verliebter u. ſ. w. Jeder Deutſche, darf ich ferner behaupten, konnte ſich fuͤr ſeine einzelne Perſon in dieſen Werken ſpiegeln, ſeine Bildung ging denſelben Gang, wie die Goetheſche.
Goethes Werke und Dramen waren er selbst zu irgendeiner zeit seines Lebens, als Jüngling, Mann, Greis, als Ritter, Weltmann, Verliebter u. s. w. Jeder Deutsche, darf ich ferner behaupten, konnte sich für seine einzelne Person in diesen Werken spiegeln, seine Bildung ging denselben Gang, wie die Goethesche.
wienbarg_feldzuege_1834
1,179
Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwaͤrtig in der uͤberwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheſchen Werke, in dem etwas ſeit der Zeit, daß ſie geſchrieben, beſchleunigten und zuſammengedraͤngten Leben und Bildungslauf eines Deutſchen ſtudiren.
Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwärtig in der überwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der goetheschen Werke, in dem etwas seit der Zeit, dass sie geschrieben, beschleunigten und zusammengedrängten Leben und Bildungslauf eines Deutschen studieren.
wienbarg_feldzuege_1834
1,180
Was am Ende des vorigen Jahrhunderts ſich ſucceſſiver in Perioden von laͤngerer Dauer auf einander folgte, das ging nun eben ſo ſucceſſive in Perioden von kuͤrzerer Dauer vor ſich.
Was am Ende des vorigen Jahrhunderts sich sukzessiver in Perioden von längerer Dauer aufeinander folgte, das ging nun eben so sukzessive in Perioden von kürzerer Dauer vor sich.
wienbarg_feldzuege_1834
1,181
Jener Zeit in Deutſchland, als der Werther gedichtet wurde, als naͤmlich eine unbeſtimmte, ſchmachtende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnſucht ſich der jugendlichen Gemuͤther bemaͤchtigt hatte, entſprach und entſpricht der Zuſtand eines Schuͤlers, Primaners, der voll Sehnſucht und voll Hoffnungen ſteckt, ohne ſo recht eigentlich das Objekt dieſer Sehnſucht zu kennen, und ohne zu wiſſen, was er wuͤnſcht.
Jener Zeit in Deutschland, als der Werther gedichtet wurde, als nämlich eine unbestimmte, schmachtende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnsucht sich der jugendlichen Gemüter bemächtigt hatte, entsprach und entspricht der Zustand eines Schülers, Primaners, der voll Sehnsucht und voll Hoffnungen steckt, ohne so recht eigentlich das Objekt dieser Sehnsucht zu kennen, und ohne zu wissen, was er wünscht.
wienbarg_feldzuege_1834
1,182
Jener andern Zeit, als der Goͤtz von Berlichingen die uͤbermuͤthige, ritterliche Kraftperiode der deutſchen Literatur ausdruͤckte und repraͤſentirte, entſprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutſchen, wo er auf Univerſitaͤten ſich erſt zurechtfand, die Sporen klingen ließ, den Flammberg ſchwang, etwas alterthuͤmlich und ritterlich renommirte, und wenn es ihm wohl ward, das ſchoͤnſte Gefuͤhl in ſich, die angeborne Sehnſucht auf etwas Beſtimmtes, auf das kuͤnftige Vaterland zu fixiren kam.
Jener anderen Zeit, als der Götz von Berlichingen die übermütige, ritterliche Kraftperiode der deutschen Literatur ausdrückte und repräsentierte, entsprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutschen, wo er auf Universitäten sich erst zurechtfand, die Sporen klingen ließ, den Flammberg schwang, etwas altertümlich und ritterlich renommierte, und wenn es ihm wohl wurde, das schönste Gefühl in sich, die angeborene Sehnsucht auf etwas Bestimmtes, auf das künftige Vaterland zu fixieren kam.
wienbarg_feldzuege_1834
1,183
Der Zeit hingegen, als Goethe jene groͤßere Zahl von dramatiſchen und romantiſchen Gedichten ſchrieb, wo die Liebe zu einem Maͤdchen die Hauptrolle ſpielt, entſpricht dieſelbe Periode im Leben eines Deutſchen, die auf die ritterliche folgt, wo der eiſerne Goͤtz in Splittern zerſpringt und ſtatt deſſen ein ſchmachtender, ſanfter Liebhaber zum Vorſchein kommt, der uͤber ſein Maͤdchen Welt und Vaterland vergißt.
Der Zeit hingegen, als Goethe jene größere Zahl von dramatischen und romantischen Gedichten schrieb, wo die Liebe zu einem Mädchen die Hauptrolle spielt, entspricht dieselbe Periode im Leben eines Deutschen, die auf die ritterliche folgt, wo der eiserne Götz in Splittern zerspringt und stattdessen ein schmachtender, sanfter Liebhaber zum Vorschein kommt, der über sein Mädchen Welt und Vaterland vergisst.
wienbarg_feldzuege_1834
1,184
Was aber die groͤßte und letzte Reihe der Produkte Goethe's betrifft, dieſe Romane und Dramen, welche das Philiſterthum, das vornehme, wie das gemeinbuͤrgerliche nicht allein ertraͤglich und behaglich, ſondern auch poetiſch finden, ſo entſprechen ſie dem Deutſchen, der Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel bekommen hat und der mit einer gewiſſen vornehmen Ironie auf die Schwaͤrmereien ſeiner Jugend, auf Sehnſucht, Ritterthum, Vaterland, Jugendleben zuruͤckblickt, des Tags bei den Akten ſchwitzt, des Abends eine Partie L'hombre ſpielt und beim zu Bette gehen den Tag im Kalender durchſtreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staatsbuͤrger durchlebt hat.
Was aber die größte und letzte Reihe der Produkte Goethes betrifft, diese Romane und Dramen, welche das Philistertum, das vornehme, wie das gemeinbürgerliche nicht allein erträglich und behaglich, sondern auch poetisch finden, so entsprechen sie dem Deutschen, der Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel bekommen hat und der mit einer gewissen vornehmen Ironie auf die Schwärmereien seiner Jugend, auf Sehnsucht, Rittertum, Vaterland, Jugendleben zurückblickt, des Tags bei den Akten schwitzt, des Abends eine Partie L'hombre spielt und beim Zubettegehen den Tag im Kalender durchstreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staatsbürger durchlebt hat.
wienbarg_feldzuege_1834
1,185
So gleichen die Goetheſchen Schriften, beſonders ſeine Dramen, ihm ſelbſt und ſeiner Zeit; ſo wuͤrden ſie jeder Zeit geglichen haben, in welche Goethe hineingeboren waͤre; ſelbſt der groͤßten, von welcher nur die Geſchichte meldet.
So gleichen die goetheschen Schriften, besonders seine Dramen, ihm selbst und seiner Zeit; so würden sie jederzeit geglichen haben, in welche Goethe hineingeboren wäre; selbst der größten, von welcher nur die Geschichte meldet.
wienbarg_feldzuege_1834
1,186
Das aber iſt das Kennzeichen des echten Dramatikers, wie jedes großen Dichters, daß er der Zeit ein Spiegel iſt, worin ſie ſich ſelbſt erkennen mag.
Das aber ist das Kennzeichen des echten Dramatikers, wie jedes großen Dichters, dass er der Zeit ein Spiegel ist, worin sie sich selbst erkennen mag.
wienbarg_feldzuege_1834
1,187
Wie und warum dieſes nicht vom Fauſt gelten koͤnne, verdient eine beſondere Betrachtung, welche ich der naͤchſten Vorleſung aufſpare.
Wie und warum dieses nicht vom Faust gelten könne, verdient eine besondere Betrachtung, welche ich der nächsten Vorlesung aufspare.
wienbarg_feldzuege_1834
1,188
Wir haben in der vorigen Stunde die mancherlei Phaſen des Goetheſchen Geiſtes durchlaufen, die Erſcheinung des Fauſts aber als eine zu ſingulaire bezeichnet, um nicht aus der Reihe der uͤbrigen hervorzuragen.
Wir haben in der vorigen Stunde die mancherlei Phasen des goetheschen Geistes durchlaufen, die Erscheinung des Fausts aber als eine zu singuläre bezeichnet, um nicht aus der Reihe der übrigen hervorzuragen.
wienbarg_feldzuege_1834
1,189
Doch, ſo mannigfach und vielſeitig auch das Goetheſche Leben und die ſeinem Leben entſprechenden Dramen und Gedichte ſind, ſo laſſen ſich doch zwei große Partien und Abſchnitte deſſelben unterſcheiden, die den Hauptcharakter der zu ihnen gehoͤrigen dichteriſchen Produkte unverkennlich an ſich tragen, Goethe's Jugend und Goethe's Alter, die Jugend und das Alter ſeiner Zeitgenoſſen, ſeiner Zeit.
Doch, so mannigfach und vielseitig auch das Goethesche Leben und die seinem Leben entsprechenden Dramen und Gedichte sind, so lassen sich doch zwei große Partien und Abschnitte desselben unterscheiden, die den Hauptcharakter der zu ihnen gehörigen dichterischen Produkte unverkennlich an sich tragen, Goethes Jugend und Goethes Alter, die Jugend und das Alter seiner Zeitgenossen, seiner Zeit.